Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich ei-nige Mitteilungen zu machen: Der Kollege ManfredKolbe hat am 2. Oktober auf seine Mitgliedschaft imDeutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat deruns bereits aus früheren Jahren bekannte KollegeGerhard Schulz am 5. Oktober 2000 die Mitgliedschaftim Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den Kol-legen Schulz herzlich in diesem Hause.
Dem Kollegen Dr. Uwe Jens, der am 2. Oktober sei-nen 65. Geburtstag feierte, gratuliere ich nachträglich sehrherzlich.
Sodann sind einige Gremien neu zu besetzen: DieFraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin ReginaSchmidt-Zadel ihr Amt als Schriftführerin niedergelegthat. Ich danke der Kollegin für ihre langjährige Unter-stützung.
Als Nachfolgerin wird die Kollegin Ute Kumpf vor-geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Kumpf alsSchriftführerin gewählt.Die Fraktion der PDS teilt mit, dass der KollegeRoland Claus aus dem Gemeinsamen Ausschuss nachArt. 53 a des Grundgesetzes als stellvertretendes Mitgliedund aus dem Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Abs. 2des Wahlprüfungsgesetzes als beratendes Mitglied aus-scheidet. Für beide Gremien wird die Kollegin Dr. HeidiKnake-Werner als Nachfolgerin vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist die Kollegin Knake-Werner wie vorgeschlagenals stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus-schuss bestimmt bzw. als beratendes Mitglied in denWahlprüfungsausschuss gewählt.Des Weiteren teilt die Fraktion der PDS mit, dass derKollege Manfred Müller als ordentliches Mit-glied und der Kollege Wolfgang Gehrcke als stellvertre-tendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlungdes Europarates ausscheiden. Als Nachfolger werden dieKollegen Dr. Dietmar Bartsch als ordentliches undManfred Müller als stellvertretendes Mitglied vorge-schlagen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der Kol-lege Dr. Bartsch als ordentliches und der Kollege Müllerals stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Ver-sammlung des Europarates gewählt.Ferner ist interfraktionell vereinbart worden, die ver-bundene Tagesordnung zu erweitern. Die betreffendenPunkte gehen aus der folgenden Zusatzpunktliste hervor:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Unterschiedliche Vorschläge aus derKoalition, die Beiträge
3. Vereinbarte Debatte: Jüdisches Leben in Deutschland unter-stützen – Anschläge auf Synagogen in Deutschland ächten4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: JüdischesLeben in Deutschland – Drucksache 14/4245 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und Medien5. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuordnung der Versorgungsabschläge – Drucksache14/4231 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuss6. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Neuausrich-tung der Bundeswehr7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther FriedrichNolting, Hildebrecht Braun , Dirk Niebel, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Zukunftsfähigkeitder Bundeswehr sichern – Wehrpflicht aussetzen – Druck-sache 14/4256 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschuss11839
124. SitzungBerlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000Beginn: 9.00 Uhr
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesZweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeord-netengesetzes – Drucksache 14/4241 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
InnenausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU: Entwurf der Charta der Grund-rechte der Europäischen Union – Drucksache 14/4246 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und Medien10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Europä-ische Grundrechte-Charta als Eckstein einer europäischenVerfassung – Drucksache 14/4253 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und Medien11. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Unterglas-gartenbau in Deutschland sichern – Drucksache 14/4243 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, BirgitHomburger, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.: Anpassungsbeihilfen für Unterglas-Betriebeim Gartenbau – Drucksache 14/4257 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Haushaltsausschuss
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Kraftfahrzeug-steuer für schwere LKW auf EU-Niveau senken –Bedingungen am Güterkraftverkehrsmarkt harmonisieren– Drucksache 14/4254 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.Weiterhin ist vereinbart worden, die Tagesordnungs-punkte 10 – Gerichtskosten – und 13 – Wahlen inBelarus – zu tauschen. Außerdem sollen die Tagesord-nungspunkte 8 b – Steuer-Euroglättungsgesetz – sowie 16– Opferentschädigungsgesetz – heute ohne Debatte ver-handelt werden.Schließlich mache ich auf nachträgliche Überweisun-gen im Anhang zur folgenden Zusatzpunktliste aufmerk-sam:Die in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfezur Mitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Ute Vogt ,Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir,Marieluise Beck , weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-keit, Antisemitismus und Gewalt – Drucksache14/3516 –überwiesen:Innenausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussAntrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun
, Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen –Drucksache 14/3106 –überwiesen:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussDie in der 121. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlichdem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfezur Mitberatung überwiesen werden.Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau,Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der PDS: Handeln gegen Rassismus,Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse11840
raus resultierender Gewalt – Drucksache14/4145 –überwiesen:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussAntrag der Fraktion der CDU/CSU: NachhaltigeBekämpfung von Extremismus, Gewalt undFremdenfeindlichkeit – Drucksache 14/4067 –überwiesen:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zungAusschuss für Kultur und MedienSind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:ZP 3 Vereinbarte DebatteJüdisches Leben in Deutschland unterstüt-zen – Anschläge auf Synagogen in Deutsch-land ächtenZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion derCDU/CSUJüdisches Leben in Deutschland– Drucksache 14/4245 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS achtMinuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeSebastian Edathy, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Am 3. Oktober wurde ein Anschlag aufdie Düsseldorfer Synagoge verübt. Drei Tage späterdurchschlugen Pflastersteine die Fenster der Synagoge inBerlin-Kreuzberg. Bereits im April dieses Jahres war dieSynagoge in Erfurt attackiert worden. Diese Anschlägerichten sich der Form nach gegen Gebäude, tatsächlichaber gegen ein Fundament unserer Demokratie, nämlichgegen den Grundsatz des friedlichen Zusammenlebens inDeutschland.
Allein von Januar bis August dieses Jahres wurden ins-gesamt 596 antisemitisch motivierte Straftaten registriert.Ignatz Bubis hat im vergangenen Jahr als Präsident desZentralrates der Juden in Deutschland kurz vor seinemTod in einem Interview auf die Frage, was er in seinemAmt bewirkt habe, gesagt:Ich habe nichts oder fast nichts bewirkt.Er sagte weiter:Ich habe immer herausgestellt, dass ich deutscherStaatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wolltediese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden,weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst dues, dass die Menschen anders übereinander denken,anders miteinander umgehen. Aber nein, ich habefast nichts bewegt.Bubis sagte in diesem Interview ferner, dass er in Israelbegraben werden möchte, weil – ich zitiere ihn noch ein-mal –ich nicht will, dass mein Grab in die Luft gesprengtwird.Meine Damen und Herren, hätte man ihm im letztenJahr sagen können, wirklich sagen können, diese Be-fürchtung sei gegenstandslos? Videoüberwachung an Sy-nagogen, Polizeischutz an jüdischen Schulen, geschän-dete jüdische Friedhöfe – das ist ein Stück Realität inDeutschland; aber das ist ein Stück Realität, das wir nie-mals als Normalität betrachten dürfen.
Die 80 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glau-bens, die in diesem Land leben, haben wie alle Menschenin diesem Land einen Anspruch auf ein Leben ohne Angst.Wenn Paul Spiegel, der Nachfolger von Ignatz Bubis, indiesen Tagen die Frage gestellt hat, ob es richtig war, inDeutschland nach 1945 den Wiederaufbau der jüdi-schen Gemeinden zu betreiben, dann ist der darin deut-lich werdende Zweifel beschämend für unsere Gesell-schaft.Ich will zu Beginn der heutigen Debatte ganz deutlichsagen: Nicht unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdi-schen Glaubens stehen jenseits unseres Gemeinwesens,sondern vielmehr diejenigen, die ihnen die Zugehörigkeitzu unserer Gesellschaft absprechen.
Es ist nicht nur vor dem Hintergrund des zehnten Jah-restages der deutschen Einheit wichtig, sich und anderenklarzumachen, dass der Auftrag des Grundgesetzes – unddamit meine ich in erster Linie die Verteidigung undSicherung der Würde des Menschen – Tag für Tag zu er-füllen ist. Die Stärke und die Integrationskraft der Bun-desrepublik beruhen maßgeblich darauf, dass wederHerkunft noch Glauben die Teilhabe an unserem Gemein-wesen bestimmen, sondern dass die gemeinsame Aner-kennung unserer Verfassungsprinzipien das Band ist, dasuns miteinander verbindet und die gemeinsame Grund-lage dafür schafft, dass wir hier in Deutschland zwar mitKonflikten, aber friedlich miteinander leben können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse11841
Wer Minderheiten einzuschüchtern versucht, ihre Ein-richtungen bedroht oder attackiert, ja, wer meint, von denMinderheiten erwarten zu können, dass sie ihr Dazu-gehören zu dieser Gesellschaft rechtfertigen und legiti-mieren müssten, der verlässt diese gemeinsame Grund-lage unseres Zusammenlebens.Als ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde, habe ichmir nicht vorstellen können, heute Grund zu haben, überAnschläge auf Synagogen zu sprechen. Ich bin 1969 ge-boren und gehöre einer Generation an, für die gilt, dasswir mit der Nazizeit keine persönlichen Erlebnisse ver-binden. Wir tragen keine Schuld an dem, was an Verbre-chen an der Menschlichkeit auf deutschem Boden undvon deutschem Boden aus geschehen ist. Aber wir tragenVerantwortung dafür, dass Intoleranz und Verachtung,dass Rechtsextremismus und Antisemitismus in diesemLand nie wieder die Demokratie gefährden können.
Wir tragen Verantwortung dafür, dass deutsche Bürger imeigenen Land nie wieder zu Fremden erklärt werden kön-nen.Wir wissen: Die Grundsätze der Demokratie werdennicht vererbt. Nein, sie müssen von jeder Generation aufsNeue erlernt werden. Wir müssen gerade auch mit Blickauf die jungen Menschen in Deutschland vermitteln, dassniemand vor menschlicher Vielfalt Angst haben muss,wohl aber vor menschlicher Einfalt.
Es geht nicht nur darum, Taten zu ächten, sondern wirmüssen auch das Gedankengut ächten und bekämpfen,das zu solchen Taten wie Anschlägen auf Synagogenführt.Ich freue mich – man hat mir gesagt, dass er hier ist –,dass der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins,Andreas Nachama, heute auf der Tribüne der Debattefolgt.
Ich glaube, ich spreche im Namen aller Kolleginnen undKollegen dieses Hauses, wenn ich sage: Der DeutscheBundestag ist angesichts der Anschläge auf jüdische Ein-richtungen in Deutschland entsetzt und betrachtet dieseVorkommnisse als Anschlag auf das demokratischeDeutschland als Ganzes.
Die jüdischen Bürger in Deutschland sind Teil unsererGesellschaft. Wir werden nicht zulassen, dass man sie iso-liert. Wer sie angreift, der muss wissen: Er greift uns allean.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kolle-
gen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! 1949 kam HannahArendt erstmalig wieder nach Deutschland. Als Fremdeund zugleich als Einheimische fand sie in Deutschland einphysisch, moralisch und politisch fast völlig zerstörtesLand vor. Gleichzeitig erschrak sie angesichts der Apa-thie, des allgemeinen Gefühlsmangels, der Geschäftig-keit, die sie vorgefunden hat und die sie als Zeichen füreine Flucht aus der Wirklichkeit und aus einem verant-wortlichen Umgang mit der schrecklichen Vergangenheitempfunden hat, die erst wenige Jahre zurücklag. Wiesollte hier, so fragte sie sich selbst und andere, jemals wie-der eine gemeinsame Welt, ein wirklicher politischerRaum der Freiheit entstehen, wie jemals wieder ein Lebenvon Juden in Deutschland möglich sein?Heute, mehr als 50 Jahre später, können wir feststellen:Mitbürger jüdischen Glaubens haben in Deutschland eineneue Heimat oder wieder ihre Heimat gefunden. Ich finde,dies ist ein ermutigendes Zeichen und ein Glücksfall fürunser Land.
Es ist auch Ausdruck eines wieder entstandenen Ver-trauens in unsere Verfassung, in unsere freiheitliche De-mokratie und in die Menschen in unserem Land. Es istauch Anerkennung der Anstrengungen, die im Umgangmit dem dunkelsten und schrecklichsten Teil unserer Ge-schichte unternommen wurden. Meine Damen und Her-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen und wirwerden alles tun, damit dieses Vertrauen nicht enttäuschtwird.
Jüdische Gemeinden in Deutschland und deren reli-giöse Kultur sind eine Bereicherung für uns alle. Das se-hen wir nicht nur hier in Berlin, sondern auch überall dortin unserem Land, wo sich im Kleinen wie im Großen wie-der jüdische Gemeinschaften gebildet haben. Nirgendwo,so eine Studie des Jüdischen Weltkongresses aus demJahre 1998, wachsen die jüdischen Gemeinden so schnellwie in Deutschland. Gleichzeitig interessieren sich immermehr auch nicht jüdische Mitbürger für jüdische Kultur.Ich finde, auch dies ist eine positive Entwicklung.Die außerordentliche Entwicklung der Philosophie, derWissenschaft insgesamt, der Wirtschaft und der Kulturvor allem seit dem 18. Jahrhundert bis heute wären inDeutschland ohne die großartigen Beiträge jüdischer Mit-bürger nicht möglich gewesen.
Die Namen von Moses Mendelssohn, Ludwig Börne,Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger,Martin Buber, Leonard Cohen, Theodor Lessing oderWalther Rathenau mögen hier nur stellvertretend für vielegenannt sein. Sie machen schmerzlich deutlich, wie großder Verlust durch den Holocaust auch und gerade in die-sem Bereich gewesen ist.Wir wollen und müssen alles tun, damit diese Kulturihren Reichtum auch in Zukunft in Deutschland weiterund wieder voll entfalten kann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Sebastian Edathy11842
Jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die wie-der nach Deutschland zurückgefunden oder ihr Leben hieraufgebaut haben, sollen sich in ihrer Entscheidung be-stätigt fühlen können. Im wiedervereinten Deutschland– und damit auch im zusammenwachsenden Europa – ha-ben wir neue Chancen, gemeinsam Zukunft zu gestalten.Umso erschreckender sind die jüngsten Übergriffe aufjüdische Mitbürger, jüdische Gemeindezentren und jüdi-sche Friedhöfe. Kann man – so fragen viele – nach demZivilisationsbruch als Jude in Deutschland leben? DieseFrage, die so viele Juden nach 1945 umtrieb, wird ange-sichts der jüngsten Anschläge wieder gestellt. Es ist eineFrage nach dem Vertrauen darauf, in Deutschland sicher,frei und anerkannt leben zu können.Der Angriff auf jüdische Einrichtungen zielt in der Tatnicht nur auf die hier lebenden jüdischen Mitbürger, erzielt nicht nur auf die Minderheit der deutschen jüdischenBürger; er zielt auf uns alle. Es ist erschreckend und wirddaher völlig zu Recht von uns allen scharf verurteilt.
Es muss deshalb alles getan werden, dass diese feigenund hinterhältigen Straftaten mit allen Mitteln des Rechts-staats verfolgt und aufgeklärt werden. Die Täter sindstrafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen und künftigenAusschreitungen muss noch stärker als bisher vorgebeugtwerden.Allen Tendenzen von Antisemitismus, Extremismus,Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegen-über Minderheiten wollen wir mit deutlichem Protest hierim Bundestag wie überall im Land entgegentreten unddurch entschiedenes, mutiges Eintreten für den zivilisier-ten Umgang miteinander überwinden helfen.
Die Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen verur-teilen wir mit allem Nachdruck. Aber sie sind kein Spie-gelbild der deutschen Gesellschaft insgesamt; sie sindnicht gleichzusetzen mit unserem Land. Deutschland istund bleibt ein weltoffenes, tolerantes Land.
Deshalb bitten wir die jüdischen Mitbürger, trotz allerÄngste und Verunsicherung in diesen Tagen, die Einstel-lungen und unverständlichen Ressentiments von wenigennicht für die Einstellung aller in unserer Gesellschaft zuhalten. Die ganz große Mehrheit aller Deutschen ver-dammt solche Gewalttaten und Verbrechen. Die überwäl-tigende Mehrheit unserer Mitbürger will das Zusammen-leben mit Bürgern jüdischen Glaubens, ist solidarisch mitden jüdischen Gemeinden und ihren Mitgliedern. An-griffe auf jüdische Mitbürger und ihre Einrichtungenempfinden wir deshalb als Angriff auf uns alle.
Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass bildenoft einen Zusammenhang im Denken und Handeln vor al-lem von Rechtsextremisten. Deswegen müssen wir alldieses zugleich bekämpfen. Ich stimme deshalb dem Prä-sidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, PaulSpiegel, ausdrücklich zu, wenn er fordert:Es müssen überzeugende Zeichen gegeben werden,dass die Mehrheit der Gesellschaft Schulter anSchulter steht mit den jüdischen Gemeinden imKampf gegen Rechtsextremismus.Dies wollen wir tun und die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion setzt sich mit allen Kräften dafür ein.
Wir müssen zugleich sorgfältig überlegen, was gegenden Rechtsextremismus tatsächlich wirksam ist. Wir ha-ben in diesem Zusammenhang in den letzten Wochen eineintensive Diskussion über das Verbot der NPD begon-nen. Lassen Sie mich dazu zweierlei sagen: Erstens. DieInitiative zu einem Parteienverbot ist nicht in erster LinieSache eines Parlaments, sondern zunächst eine klassischeAufgabe der Exekutive, also der Bundesregierung, dienach gründlicher Prüfung aller nur ihr zur Verfügung ste-henden Informationen einen Verbotsantrag stellen kann,je nach Schwere der Vorwürfe im Einzelfall vielleicht so-gar stellen muss. Dann obliegt es aber dem Bundesver-fassungsgericht, die eigentliche Entscheidung zu treffen.Das sollten wir strikt beachten.Hinzu kommt, dass die Hürden für ein Parteienverbotsehr hoch liegen. Die Partei muss verfassungsfeindlichsein, das heißt aggressiv und kämpferisch gegen diefreiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen. Dasmuss durch die Bundesregierung sehr genau nachgewie-sen werden, damit es nicht zu Fehleinschätzungen mit fa-talen Konsequenzen kommt.Zweitens. Es ist in jedem Fall mindestens ebenso wich-tig, den Rechtsextremismus in unserem Land politisch zubekämpfen.
Es ist wichtig, geistigen Entwurzelungen durch geistigeOrientierung zu begegnen. Deswegen müssen wir all dieGemeinschaften stärken, in denen demokratische Werteund zivile Haltungen eingeübt werden: die Familien, dieSchulen, die Ausbildungsstätten und die Jugendeinrich-tungen.
Dazu gehört auch, jeder heranwachsenden GenerationWissen über die menschenverachtenden Diktaturen inDeutschland zu vermitteln und die Erinnerung an den Ho-locaust nicht verblassen zu lassen. Dazu gehört aberebenso – und das findet sich leider kaum in einem Schul-buch in Deutschland –, den außerordentlichen Beitrag zuvermitteln, den jüdische Mitbürger vor allem in wissen-schaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht inunserem Land und für unser Land geleistet haben. Auchdas gehört zu unserer Geschichte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Friedrich Merz11843
Um diesen Beitrag zu wissen bedeutet, dass jüdische Mit-bürger zu uns gehören. Es lässt sie spüren, dass sie gewolltsind und gewollt bleiben.
Wer die eigene Geschichte kennt und um diesen Beitragweiß, der ist auch eher zur Zivilcourage bereit. Dennmehr Zivilcourage im normalen Alltag trägt zu einemKlima der Ächtung antisemitischer, menschenrechts-feindlicher Äußerungen und Taten bei.Wenn wir mehr Zivilcourage im Alltag leben, dann istdas auch eine Antwort an unsere jüdischen Mitbürger: Ha-ben Sie weiter Vertrauen in die Deutschen und die deut-sche Demokratie! Die Förderung von Zivilcourage – da-von bin ich überzeugt – ist ein Schlüssel dafür, dassjüdisches Leben ohne Angst zu einer dauerhaften Norma-lität in Deutschland werden kann.Wir sagen deshalb klar: Antisemitismus, Extremismusund Gewalt dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platzhaben. Die Achtung der Menschenwürde und religiöseToleranz sind nicht nur Wesensmerkmale unserer frei-heitlichen Ordnung. Das Engagement der Bürger für dieVerfassung muss tagtäglich gelebte Realität sein. Dazugehören eine ständige Empfindsamkeit für die Verletzungvon Recht, die Ächtung von Gewalttaten und praktischeZeichen der Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgerndurch Gesten und Hilfsangebote.Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständi-gung und des Verstehensweiter ausbauen, in der das Zu-sammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubensals ganz natürlich gilt, und auch eine Kultur, in der jüdi-sche Mitbürger sich nicht mehr die Frage stellen müssen,wie sie als Juden in Deutschland leben können, weil einMiteinander selbstverständlich ist und Deutschland auchihre Heimat ist.Herzlichen Dank.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Synagogen habenin Deutschland eine große Symbolkraft. Jeder Anschlagauf ein jüdisches Gotteshaus und andere jüdische Ein-richtungen beschämt uns doppelt. Wir verabscheuen dieTaten und drücken allen Menschen, die sich durch dieseTaten bedroht fühlen, unser Mitgefühl aus. Die jüdischenGemeinden verdienen den Schutz der gesamten Gesell-schaft.
Wir reden heute über eines der wichtigsten innenpoli-tischen Themen der Bundesrepublik Deutschland. Es gehtum die Werte des Grundgesetzes, die es zu schützen gilt.Es geht um wichtige Grundwerte wie den Schutz derMenschenwürde, der Religionsfreiheit, der Meinungsfrei-heit, das Recht auf Leben und auf körperliche Unver-sehrtheit sowie die Freizügigkeit. Es handelt sich nicht umein Problem von Minderheiten, um es deutlich zu sagen,sondern es geht uns alle an, die wir in dieser Republik le-ben.
Es geht auch um die Frage, wie wir sicherstellen kön-nen, dass alle Menschen in Deutschland, egal, welcherReligionszugehörigkeit oder Hautfarbe, welcher sexuel-len Ausrichtung, in ihrem Land, in der BundesrepublikDeutschland, sicher leben können. Die Politik muss deut-lich sagen: In Deutschland leben Menschen unterschied-licher Religionen und Kulturen und das ist gewollt so. Wirfreuen uns darüber. Das ist gut so und dazu bekennen sichalle.
Deutsch sein heißt eben nicht mehr automatisch, derchristlichen Religionsgemeinschaft anzugehören. DasGrundgesetz garantiert Religionsfreiheit. Das heißt, es istvöllig unerheblich, ob jemand jüdischen, christlichen,muslimischen Glaubens oder gar ohne Glauben ist. Wennes so ist, wie ich es gerade gesagt habe, dann kann es nichtangehen, dass Politiker hier oder von anderer Stelle jüdi-schen Bürgern – Bürgern, nicht Mitbürgern –
sagen, dass sie in unserem Land leben können.Wenn man, wie es der bayerische StaatsministerGünther Beckstein hier am 28. September 2000 – sicher-lich gut gemeint – getan hat, erklärt: „Natürlich könnt ihrin unserem Land leben“, dann sagt man damit eben auch,dass es eine Grenze gibt, ein Wir und ein Ihr. JüdischeBürger leben aber in ihrem eigenen Land. Sie sind hiernicht Gast. Sie sind hier nicht nur geduldet, sondern siesind Bürger dieses Landes und gehören zu diesem Landdazu.
Sie haben hier, in dieser Republik, ein Recht auf freieReligionsausübung und ein Recht auf körperliche Unver-sehrtheit. Die Politik muss aufhören, von einem Wir undeinem Ihr zu reden. Sie muss vor allem aufhören, das Wirals christlich zu definieren. „Wir“ im Jahre 2000 in derBundesrepublik Deutschland heißt: Wer in dieser Repu-blik lebt und wer sich zu den Werten unseres Grundgeset-zes bekennt, der gehört zu dieser Gesellschaft.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Friedrich Merz11844
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf ein aktuel-les Thema einzugehen. Herr Merz, Sie haben vor mir ge-redet. Ich glaube, der Applaus hat gezeigt, dass das, wasSie hier gesagt haben, von allen geteilt wird. Aber ichmöchte Sie schon fragen, was denn die „deutsche Leit-kultur“ ist, die Sie jüngst wieder bemüht haben. Washeißt „deutsche Leitkultur“, an die sich die Zuwandereranschließen sollen?
Unser Land ist ein vielfältiges Land. Es ist ein Land, indem es verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensstile,verschiedene Religionen gibt. Wenn man suggeriert, dasses die eine Leitkultur gibt, dann darf man sich nicht wun-dern, wenn andere diese Aufforderung missverstehen undmeinen, sie anders umsetzen zu müssen. Auch für das,was wir sagen und worüber wir sprechen, haben wir eineVerantwortung.
Was wir, glaube ich, zukünftig nicht mehr durchgehenlassen dürfen, ist, dass man morgens im Frühstücksfern-sehen davon spricht, wie wichtig es ist, dass wir verschie-dene Kulturen im Land haben, im Mittagsmagazin nochden Antisemitismus und Rassismus verurteilt, aber dannabends in der Wahlkampfrede sagt, es dürfe keine Tabusmehr geben, man müsse auch über die Überfremdung re-den können, man müsse auch einmal über die Problemeder Nichtdeutschen reden dürfen. Das geht nicht, meineDamen und Herren! Das werden wir nicht durchgehenlassen.
Ich fordere alle Beteiligten auf, mit dem Zündeln auf-zuhören. Man kann auch mit Worten zündeln; das habendie letzten Jahre eindrücklich gezeigt.
Ich fordere – auch mit Blick auf den Wahlkampf – alle auf,zu rationalen Diskussionen, auch über die Einwande-rungsfrage, zurückzukehren. Ich bitte Sie alle, die Wahl-kämpfe – dieser Appell geht in alle Richtungen; daran ha-ben sich schon verschiedene Parteien probiert – nicht zumissbrauchen und auf dem Rücken von Minderheiten ver-meintliche Wahlschlachten auszutragen. Deutsche Leit-kultur – um diesen vielfach strapazierten Begriff noch ein-mal aufzunehmen – ist im Jahr 2000 auch Currywurst,Döner, koscheres Essen, gefillte Fisch.Ich lade alle ein, unser Land zu besuchen. Die Besu-cher werden dann feststellen, dass dieses Land ein ande-res ist als das der 50er- und 60er-Jahre. Der demokratischeGrundkonsens dieser Republik – den sollte jeder unter-schreiben können – sollte das, was ich eben gesagt habe,beinhalten.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Kultur,die Art, wie wir leben möchten, ist in unserem Grundge-setz festgeschrieben. Das ist die Geschäftsgrundlage, aufdie wir uns alle verständigen sollten. Dort heißt es inArt. 1:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichenGewalt.Da steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,nicht: Die Würde der Deutschen ist unantastbar, oder: DieWürde der Christen ist unantastbar. Alle Menschen habendas Recht darauf, dass die staatliche Gewalt ihre Würdeschützt, wenn sie in Deutschland sind.
Deswegen beschämt es uns alle – deswegen findetdiese Debatte auch statt –, dass es drei Monate, nachdemder Zentralrat der Juden in Deutschland sein 50-jährigesBestehen feiern konnte, einen Anlass für eine solche De-batte gibt. Diese Debatte muss zweierlei leisten: Sie mussklarmachen, dass wir uns solidarisch fühlen und auch so-lidarisch sind mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mit-bürgern in Deutschland und mit denen, die von Gewaltta-ten betroffen waren und die durch sie geschädigt wurden.Aber das Ziel dieser Debatte, glaube ich, wäre verfehlt,wenn wir der Öffentlichkeit nicht gleichzeitig auch eineAntwort auf die Frage geben, was wir in Zukunft bessermachen werden, um solche Ausschreitungen zu bekämp-fen.
Wir haben zuallererst Symbole und Signale der Soli-darität zu geben. Das ist weit mehr als Betroffenheits-kultur. Das ist das Kenntlichmachen von Solidarität. Ichhabe manche seltsame Reaktion erlebt, als unter Führungdes Bundestagspräsidenten Angehörige aller Parteien die-ses Hauses einen jüdischen Gottesdienst an einem Abendbesucht haben, obwohl zum Beispiel ich nicht jüdischenGlaubens, sondern christlichen Glaubens bin. Es wurdegefragt, warum man so etwas mache. Ich antworte: Dasmuss man deshalb machen, weil nur dann, wenn klarwird, dass eine große Solidarität in der Gesellschaft überdie Parteigrenzen hinweg besteht, auch klar wird, dass dieSteinewerfer nicht einmal mit einer schweigenden Billi-gung irgendwelcher Gruppen des Volkes rechnen können.Sie, die Steinewerfer, sind die Isolierten und nicht die jü-dischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Cem Özdemir11845
Wenn eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird,dann geht es nicht um 80 DM Sachschaden. Es geht auchnicht darum, dass irgendeine Schmiererei überpinseltwerden muss; vielmehr geht es darum, dass dann, wenneine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird, auch einStück unserer Verfassungskultur zerbrochen wird. JederStein, der auf eine Synagoge geworfen wird, ist ein Steinmitten in das Gesicht jedes aufrechten Demokraten inDeutschland.
Es heißt im Grundgesetz:Sie– die Würde des Menschen –zu achten und zu schützen ist Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt.Das ist nach meiner Meinung eine Frage der Präventionund der Repression.Zur Prävention. Ich habe nicht verstanden – das willich hier nicht verschweigen –, warum die Synagoge inDüsseldorf nicht rund um die Uhr beschützt wurde, ob-wohl aus den Reihen der jüdischen Gemeinde in Düssel-dorf mehrfach darum gebeten worden ist. Wir gehenselbstverständlich alle davon aus, dass es einen entspre-chenden Schutz von Einrichtungen gibt, nicht nur umunserer Wirkung im Ausland willen, sondern weil wir sel-ber merken, dass hier die Menschenwürde angegriffenwird. Ich möchte wissen, warum es bislang einen ent-sprechenden Schutz nicht gegeben hat. Das, was bisherdazu geäußert worden ist, finde ich nicht ausreichend.Meine Damen und Herren, bei der Prävention geht eszum Beispiel auch darum, wie wir in Zukunft politischeBildungsarbeit in Deutschland verstehen. Ich will dasnicht nutzen und will auch nicht so verstanden werden, alssei das ein Angriff auf die Bundesregierung, quasi partei-politische Münze. Aber die Tatsache, dass die Mittel fürdie Bundeszentrale für politische Bildung ebenso wie dieMittel für die politische Bildungsarbeit der Stiftungen seit1998 deutlich zurückgeschraubt worden sind, ist nichtvernünftig. Das müssen wir korrigieren.
Die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung sindvon 39 Millionen DM auf 29 Millionen DM zurückge-schraubt worden. Die Mittel für die politische Bildungs-arbeit der Stiftungen sind von 187 Millionen DM auf167 Millionen DM zurückgeschraubt worden. Eigentlichmüssten wir in solchen Zeiten genau die gegenteiligeTendenz in unseren Haushalten lesen können, dass näm-lich für politische Bildung mehr ausgegeben wird
und dass mehr getan wird, damit junge Menschen an dieDemokratie herangeführt werden, gerade wenn sie ver-führbar und in einem verführbaren Alter sind.Zur Prävention zählt meines Erachtens aber auch, dasswir uns in diesem Hause darüber im Klaren sind, dass mitbestimmten Stimmungen und Themen keine Wahl-kämpfe geführt werden. Das sage ich mit großer Klarheit.
Mir ist es völlig gleichgültig, wer sich darüber ärgert. DasThema Migration gehört nicht in die Wahlkämpfe.
Wir halten es am besten aus den Wahlkämpfen heraus, in-dem wir vor der Bundestagswahl eine klare Antwort desParlaments durch ein neues Gesetz geben.
Schließlich möchte ich zum Thema Repression eineSache klarstellen. Über die Parteigrenzen hinweg disku-tieren wir sehr kontrovers über das Verbotsverfahren ge-gen die NDP. Es gibt in allen Parteien Befürworter undSkeptiker. Ich möchte für meine Fraktion hier sagen: AusSicht der heutigen Lage, der Materialien, die wir kennen,ist es meine Befürchtung, dass ein NPD-Verbotsverfah-ren am Schluss eher eine Stärkung der rechtsradikalenSzene bewirkt als eine Schwächung. Meine Befürchtungist, meine Damen und Herren, dass die NPD vor dem Bun-desverfassungsgericht in Karlsruhe mit einem Verbots-verfahren überzogen wird. Den Erfolg wird man für offenhalten können. Wenn das Verfahren scheitert, bekäme dieNPD den TÜV aus Karlsruhe. Das wäre ein Desaster fürdie Demokratie.
Aber, meine Damen und Herren, es besteht eine nochviel größere Gefahr, auf die uns zum Beispiel Ute Vogt,die Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, hinge-wiesen hat. Es wird dann aufgeteilt in diejenigen, diequasi als verfassungsfeindliche Rechtsradikale verfolgtwerden, und in diejenigen, die damit das Gütesiegel derVerfassungsmäßigkeit inzidenter erhalten, nämlich dieDVU und die Republikaner. Ich sage Ihnen: Das möchteich auf gar keinen Fall. Der Rechtsradikalismus, gleich inwelcher Partei er sich organisiert, muss bekämpft werden.Ich möchte nicht, dass die Attacke gegen die NPD, diesinnvoll ist und politisch geführt werden muss, zumSchluss lediglich zu einer Adelung von DVU und Repu-blikanern in der täglichen Auseinandersetzung führt. Bittedenken Sie das zu Ende. Der Kampf gegen den Rechtsex-tremismus verbindet uns alle in diesem Hause.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Völlig zu Recht verurteilenwir Anschläge auf jüdische Bürgerinnen und Bürger, auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Guido Westerwelle11846
ihre Würde, ihre Kultur und ihre Religion in besondererWeise. Es ist gut und wichtig, dass wir dies im DeutschenBundestag im Einvernehmen tun. Wir wissen, der Holo-caust, die Schoah, war ein weltgeschichtlich einmaligesVerbrechen. Wir erinnern auch daran, dass der deutscheFaschismus ein in diesem Lande mehrheitlich geduldeterFaschismus war.Der Bundestag hat in dieser Legislaturperiode bereitsganz in diesem Sinne wichtige Zeichen gesetzt. Ich erin-nere an die Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal undauch – bei allen Differenzen und aller Kritik hier imHause – an die Entscheidung zur Zwangsarbeiterent-schädigung. Dies waren übrigens zwei Entscheidungen,bei denen alle Kolleginnen und Kollegen sehr wohl dieEnge von Fraktionen verlassen haben.Dazu passt allerdings nicht die Meldung von gestern,die Wirtschaft bringe das Geld für die Zwangsarbeiter-stiftung nicht auf, oder gar die Ankündigung von HerrnHenkel gestern Abend im Fernsehen – ich zitiere ihn wört-lich –: „Wir müssen das Gesetz noch einmal überarbei-ten.“ Das sollten wir als Parlamentarierinnen und Parla-mentarier so nicht hinnehmen.
Zum Glück gab es dazu klare Worte des Bundeskanzlers.Wir haben das wohl vernommen und unterstützen ihn.Aber auch hier sind der Platz und die Gelegenheit, diedeutsche Wirtschaft noch einmal aufzufordern, mit die-sem unwürdigen Verhalten Schluss zu machen. Ich habeden Eindruck, dass es hier nicht mehr nur um das Geld,sondern um etwas anderes geht; deshalb meine klare Auf-forderung.
Meine Damen und Herren, wir erleben heute eine sehrzwiespältige Gesellschaft. Auf der einen Seite sind wirdankbar, dass Jüdinnen und Juden wieder und weiter mitdeutschen Mitbürgern im eigenen Lande zusammenlebenund dass die jüdischen Gemeinden durch Zuwanderungaus Osteuropa Zuwachs bekommen. Auf der anderenSeite aber ist ein Ansteigen der Zahl der antisemitischenStraftaten festzustellen. Die Zahl der Schändungen jüdi-scher Friedhöfe hat sich im Vergleich der 90er-Jahre mitden 80er-Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl rechtsex-tremistischer Straftaten ist im Verhältnis der Jahre 2000 zu1999 um mehr als 30 Prozent angestiegen und hat sichvom Juli zum August dieses Jahres verdoppelt. Diese Zah-len ergeben sich aus Antworten der Bundesregierung aufentsprechende Anfragen. Noch schlimmer aber als diesestatistisch gezählten Fakten ist das Hinnehmen von Anti-semitismus im Alltag. Woher kommt es, wenn sich Zwölf-jährige auf einem Schulhof mit judenfeindlichenSchimpfwörtern titulieren? Hier stimmt doch etwas indieser Gesellschaft nicht.Nun gab es eine neue Dimension dieser Ereignisse imZusammenhang mit dem 10. Jahrestag der Vereinigung.Wir hatten eine Häufung antisemitischer Straftaten, soauch in meinem Wahlkreis in Halle. Wir kennen den Vor-gang, dass öffentliches Entsetzen über solche Straftatenoftmals nicht zur Abschreckung beiträgt, sondern zurNachahmung anregt. Trittbrettfahrer fühlen sich aufgeru-fen. Wir haben aber – das müssen wir uns vor Augen hal-ten – mit dem 3. Oktober eine neue Situation: Hier sind esnicht mehr nur Trittbrettfahrer gewesen, sondern das wareine organisierte Provokation an die ganze Gesellschaftgerichtet, und zwar eine Provokation von der schlimmstenArt, die wir nicht hinnehmen können.
Was können wir tun, meine Damen und Herren? Es istein Zusammengehen aller Demokratinnen und Demo-kraten in diesem Kampf gegen den Rechtsextremismusverlangt. Es muss Schluss mit der Ausgrenzung von De-mokraten in diesem Kampf sein. Auch ist es an der Zeit,den Begriff „Antifaschismus“ aus dem Verfassungs-schutzbericht heraus- und in die gesellschaftliche Werte-skala hineinzubringen.
Es ist an der Zeit, dass wir die Diskriminierung von jün-geren und älteren Bürgerinnen und Bürgern beenden, diesich früher als wir den Rechtsextremisten in den Weg ge-stellt haben.An die eigene Adresse sage ich: Die linke Bewegungist schlecht beraten, wenn sie ihre Wut und Empörung zurBeraterin macht. Wir brauchen in diesem Lande einen ge-winnenden, keinen ausgrenzenden Antifaschismus.
Ich will hier bei aller Kritik an und Auseinandersetzungmit der Bundesregierung sehr deutlich sagen: Ich will mitder Bundesregierung den Rechtsextremismus und nichtmittels des Themas Rechtsextremismus die Bundesregie-rung bekämpfen. So viel muss klar sein.
Kollege Claus, Ihre
Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Ende, HerrPräsident.Ich will ausdrücklich sagen: Das bedeutet für michauch – es geht um den Konsens der Demokraten –, die de-mokratische Konservative in Deutschland nicht außen vorzu lassen und alles dafür zu tun, dass sie sich an dieser Po-litik beteiligt. Ich weiß, dass ich der CDU keine Vor-schriften zu machen habe; aber eine Bitte kann ich äußern:In diesem Sinne bitte ich Sie wirklich, von der Kampagne,die auf eine Zuwanderungsbegrenzung zielt, Abstand zunehmen.Wir werden am 9. November dieses Jahres – das istbald – Gelegenheit haben, die Herausforderung und dieChance für den Bundestag wahrzunehmen, gemeinsamZeichen gegen den Rechtsextremismus zu setzen. Wir sa-gen deutlich: Antisemitismus und Faschismus, das sind
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Roland Claus11847
keine Meinungen, sondern Verbrechen. Wir sollten ge-nauso deutlich sagen: Bis hierher und nicht weiter!Ich danke Ihnen.
Ich erteile der Kolle-
gin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Anschläge aufSynagogen, die Schändung jüdischer Friedhöfe, dasSchmieren von Hakenkreuzen auf Gedenktafeln in ehe-maligen Konzentrationslagern, weitere Anschläge und dieBedrohung von Personen, all diese Taten sind in jedemFall abscheulich und durch nichts zu entschuldigen. Essind keine einfachen Beschädigungen an irgendwelchenGebäuden aus irgendeinem lapidaren Grund. Nein, es sindAnschläge gegen unsere jüdischen Mitbürger und Mit-bürgerinnen; sie zielen gegen unsere Demokratie und ge-gen unsere Gesellschaft.Anlässlich der Anschläge auf jüdische Einrichtun-gen schreibt Außenminister Joschka Fischer in seinemBrief an den Präsidenten des Zentralrats der Juden inDeutschland – ich zitiere –:Sie– die Anschläge –sind ein offener Angriff auf die deutsche Demokratieund auf den elementaren Grundsatz der Unantastbar-keit der Menschenwürde, auf dem unsere Demokra-tie aufbaut. Wir alle – Regierung, Justiz und Gesell-schaft – haben die Verpflichtung, uns diesem Angriffentschieden und mit aller Kraft entgegenzustellen.In den letzten Jahren sind die jüdischen Gemeindenwieder gewachsen. Wie die überwiegende Mehrheit derMenschen in unserem Land wollen sie in Freiheit, Friedenund Sicherheit hier leben, Verantwortung übernehmenund mitgestalten. Sie sind ein Teil der kulturellen und re-ligiösen Vielfalt in unserem Land und leisten eine unver-zichtbare Integrationsarbeit für die neu zugezogenen Bür-ger. Dafür möchte ich den jüdischen Gemeinden an dieserStelle meinen Dank aussprechen.
Es sind die rechten Gewalttäter und die rechten Ideo-logen, die unser friedliches Zusammenleben bedrohen.Dagegen brauchen wir den „Aufstand der Anständigen“,wie Bundeskanzler Schröder es formuliert hat. Viel zulange wurde die rechte Szene verharmlost und wurde da-rauf vertraut, dass mit den Ewiggestrigen auch die rechteIdeologie ausstirbt. Die Realität sieht anders aus.Nur ein Bündel von Maßnahmen wird dem rechtenSumpf den Boden entziehen. Ursachenforschung und-bekämpfung, Prävention und Repression, Aufklärungund Jugendarbeit, Bekämpfung von Jugendarbeitslosig-keit und sinnvolle Freizeitangebote, Opferschutz und Tä-terverfolgung, Integrationskonzepte, Stadtteilarbeit undgegebenenfalls ein Parteiverbot der NPD – das Verbot von„Blood & Honour“ ist schon vollzogen – sind ein ent-scheidender Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextre-mismus.Für die Bundesregierung und die sie tragenden Par-teien gehören die politische Auseinandersetzung mit demRechtsextremismus und seine Bekämpfung zu den wich-tigsten Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Extremisti-sche Aktivitäten sind keine vernachlässigbaren Randpro-bleme unseres Gemeinwesens. Sie speisen sich aus weitverbreiteten Vorurteilen, Ängsten und Ressentiments.Dem wollen wir das „Bündnis für Demokratie undToleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ entgegen-stellen. Es soll die Werte und Garantien unserer Verfas-sung offensiv vertreten. Das Bündnis verfolgt das Ziel,dem demokratischen Konsens sowie dem zivilen Engage-ment eine deutlichere Resonanz in unserer Gesellschaftzu verschaffen. Dazu wird es die vielen Aktivitäten derEinrichtungen und Initiativen, die sich gegen Rechtsex-tremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt wenden,zusammenführen und es wird weitere anregen. DurchAufklärungs- und Medienkampagnen soll die Öffentlich-keit gegen politischen Extremismus sensibilisiert werden.Neben der Geschäftsstelle für dieses Bündnis, die be-reits eingerichtet wurde, wurde als zentrales Gestaltungs-gremium ein Beirat eingesetzt. Der Beirat dieses Bündnis-ses setzt sich aus Vertretern aus Politik, der Polizei, vonjüdischen Gemeinden, Gewerkschaften, aus Arbeitgebernund Wissenschaftlern zusammen. Er wird am 23. Oktoberzusammentreten und über konkrete Aktivitäten beraten.Der Beirat organisiert mithilfe der Geschäftsstelle das ge-sellschaftliche Bündnis und wird prominente Persönlich-keiten um Unterstützung und Mitarbeit bitten.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei all de-nen bedanken, die bereits jetzt offensiv und öffentlich ge-gen Rechts eintreten, und bei all denen, die sich zuAktionen und Initiativen zusammengeschlossen haben.Einige Beispiele nur: das „Netz gegen Rechts“, zu demsich deutsche Zeitungen, Agenturen und Sender zusam-mengeschlossen haben; die Initiative „Mut gegen rechteGewalt“ der Zeitschrift „Stern“; die von Uwe-KarstenHeye, Paul Spiegel und Michel Friedman ins Leben geru-fene Aktion „Gesicht zeigen!“, in der sich zahlreiche Pro-minente gegen Rechts stellen. Mehr als 500 Prominentesowie Verbände und Organisationen haben Patenschaftenfür regionale Initiativen gegen Rassismus übernommen.Der Aufstand gegen Rechts wächst. Das ermutigt uns,weiterzumachen, noch mehr Menschen einzubinden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Politiker stehenwir in besonderer Verantwortung. Wer versucht, aus Stim-mungen Stimmen zu machen, darf sich nicht über Beifallvon der falschen Seite wundern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Roland Claus11848
und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Klima zuvergiften und denen Argumente zu liefern, die mit krimi-neller Energie gegen die demokratischen Grundwertekämpfen. Herr Merz, wie passt denn geistige Orientierungmit Ihrer Ankündigung zusammen, der nächste Wahl-kampf werde ein Ausländerwahlkampf werden?
Das Bündnis gegen Rechts braucht eine breite Veranke-rung in der Gesellschaft. Wir brauchen die wehrhafte De-mokratie.Lassen Sie mich mit einem Zitat von BundespräsidentJohannes Rau schließen:Ich wünsche mir ein vielfältiges und lebendigesDeutschland – friedlich und weltoffen. Daran zu ar-beiten, lohnt jede Mühe. Es kommt nicht auf die Her-kunft des Einzelnen an, sondern darauf, dass wir ge-meinsam die Zukunft gewinnen.Danke sehr.
Ich erteile nun dem
Kollegen Wolfgang Bötsch, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte,welche wir heute bestreiten, ist angesichts der jüngsten,schlimmen Ereignisse mehr als erforderlich. Ich möchtemich ausdrücklich bei den anderen Fraktionen dafür be-danken, dass sie unsere Anregung, diese Debatte heute zuführen, aufgenommen, akzeptiert und ihr zugestimmt ha-ben.
Waren schon die früheren antijüdischen Aktionen unddie diversen Anschläge auf jüdische Friedhöfe äußerstverwerfliche Niederträchtigkeiten, so haben wir mit denjüngsten Ereignissen, insbesondere mit den Anschlägenauf die Synagogen, die jüdischen Gotteshäuser, eine neueDimension erreicht. Ich bin sicher, dass die ganz großeMehrheit der Bevölkerung die jüngsten Vorgänge mitEmpörung und Wut über die Taten, mit Zorn und Verach-tung für die Täter und tiefer Trauer über den dabei zumAusdruck kommenden Verfall von Sitte, Anstand undMoral sieht.
Wir verurteilen diese Vorgänge aufs Schärfste und for-dern Polizei und Justiz auf, gegen die Täter mit aller ge-botenen Härte vorzugehen. Gleichzeitig möchte ich diesmit einem Appell an unsere jüdischen Mitbürger verbin-den: Lassen Sie sich nicht entmutigen, weiter in Deutsch-land zu leben! Halten Sie Ihre Entscheidung aufrecht, inunserem gemeinsamen Lande zu bleiben. Lassen Sie unsweiter teilhaben an Ihrem Leben, Ihrer Kultur und IhrerReligion und nehmen Sie teil am Leben in Deutschlandinsgesamt.
Herr Kollege Özdemir, ich weiß nicht, ob Sie gegen-über unserem Fraktionsvorsitzenden nicht einen falschenTon angeschlagen haben.
Ihre Angriffe – zumindest muss man sagen: Ihre Hinwei-se – waren doch etwas unangebracht. Sie sollten darübereinmal nachdenken.
Sie haben gesagt, es gebe kein „ihr“ und kein „wir“. Wenwollen Sie aber dann eigentlich willkommen heißen,wenn es kein „ihr“ und kein „wir“ gibt?Frau Fograscher, Sie haben den Bundespräsidenten zi-tiert. Auch ich will ihn in diesem Zusammenhang zitieren,nämlich aus seiner Berliner Rede vom 16. Mai, in der ersagte:Jeder weiß, dass die Zuwanderung bei vielen Men-schen starke Emotionen auslöst – gute und wenigergute. Gerade deswegen müssen wir darüber mög-lichst offen sprechen, möglichst unaufgeregt und re-alistisch.
Häufig bleibt zu vieles unausgesprochen.Mein besonderer Dank gilt der Vorsitzenden der jüdi-schen Gemeinde in München und Vizepräsidentin desZentralrats der Juden in Deutschland, Frau CharlotteKnobloch, die sich von den jüngsten Ereignissen in ihremBekenntnis zum Leben in Deutschland nicht erschütternließ, sondern sich ausdrücklich positiv dazu bekannt hat.
Jüdische Gemeinden in Deutschland gibt es wieder,wenngleich keinesfalls mehr in dem Umfang und mit derBedeutung, die sie in früheren Jahrhunderten hatten. AlsBeispiel möchte ich meine unterfränkische Heimat nen-nen. Gab es dort zu Beginn der 30er-Jahre etwa 600 jüdi-sche Gemeinden, so existiert dort heute nur noch eine jü-dische Gemeinde, nämlich in Würzburg. Diese Gemeindeist umso beispielhafter für jüdisches Leben, als dort be-reits unmittelbar nach dem Krieg wieder jeden SabbatGottesdienst abgehalten wurde. Zwar war die Gemeindedamals zahlenmäßig sehr gering, weil sich nur wenigejunge Menschen und auch nicht viel mehr ältere jüdischeMitbürger nach dem Krieg dort niedergelassen hatten. Sohatte das jüdische Altersheim zeitweise nur acht Bewoh-ner.Heute hat die jüdische Gemeinde in Würzburg wiedereinen Funktionszuwachs, nicht zuletzt auch durch Zu-wanderung von Juden aus Osteuropa. Mittlerweile ge-hören der jüdischen Gemeinde, welche Würzburg und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Gabriele Fograscher11849
ganz Unterfranken umfasst, nahezu 1 000 Mitglieder an.Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, als nach wis-senschaftlichen Erkenntnissen aus den 80er- und 90er-Jahren Würzburg im Mittelalter, zwischen 1147 und 1349,ein maßgebendes Zentrum für jüdisches Wissen und jüdi-sche Kultur war. Dies ergab sich aus der Freilegung von1 400 Grabsteinen im Jahre 1987, die von einem jüdi-schen Friedhof stammen, der im 16. Jahrhundert in frev-lerischer Weise wegen des Neubaus eines Spitals völligzerstört wurde. Die Bedeutung dieses Wissenschaftszen-trums war vergleichbar mit Marrakesch, wo ein Zentrumder jüdischen Kultur für den heutigen nordafrikanischenRaum und die ganze iberische Halbinsel existierte.Man versucht heute, an diese Tradition anzuknüpfen.Dem soll die Gründung eines jüdischen Kulturzentrumsmit dem Namen „Shalom Europa“ dienen. Dieser Namewurde deshalb gewählt, weil die Würzburger Wissen-schaftler mit vielen europäischen Zentren des Judentumseinen regen Erfahrungsaustausch pflegten. Solche Pro-jekte sind das, was wir brauchen, um jüdisches Leben inDeutschland bekannt und verständlich zu machen.
Es ist daher die Aufgabe von Bund, Ländern und Ge-meinden, solche Institutionen zu unterstützen.Die Bayerische Staatsregierung ist hier vorbildlichvorangegangen und hat durch Kabinettsbeschluss für der-artige Projekte in jüngster Zeit 23 Millionen DM bereit-gestellt:
der Großteil davon für ein jüdisches Kulturzentrum inMünchen und alleine 7 Millionen DM für „Shalom Eu-ropa“ in Würzburg.Ich appelliere an die Bundesregierung, sich diesemVorbild anzuschließen und ebenfalls Mittel für diese Pro-jekte bereitzustellen.
Die bisherige Sachbehandlung der Bundesregierung indieser Angelegenheit stellt sich allerdings, vorsichtig aus-gedrückt, etwas oberflächlich dar. So schreibt der Minis-t
Wenn auch die geplante Einrichtung in Würzburg in
der Bezeichnung den Begriff „Kulturzentrum“ führt,
so handelt es sich primär doch um eine Einrichtung
der jüdischen Gemeinschaft, und zwar – wie das
Konzept erkennen lässt – der orthodoxen Richtung.
Das Innenministerium ergänzt diese Stellungnahme mit
den Sätzen:
Zu Ihrer Bitte um Förderung des Aufbaus des jüdi-
schen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg
möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine solche Förde-
rung nicht möglich ist, da es dafür in meinem Minis-
terium keine Haushaltsmittel gibt. Das ... Kirchen-
bauprogramm des Bundes ist leider ausgelaufen.
Ich will das jetzt nicht als eine politische Entscheidung
werten, aber doch als eine sehr bürokratisch-oberflächli-
che.
Es genügt nicht, erschreckende Vorkommnisse zu bekla-
gen, sondern man muss auch gegensteuern.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, ihre bis-
herige ablehnende Haltung hinsichtlich der Förderung
solcher Projekte aufzugeben und einen erheblichen Be-
trag aus Bundesmitteln hierfür zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Anders als andere rechtsextreme Gewalttaten haben dieAngriffe auf Synagogen und die Schändungen jüdischerFriedhöfe eine bestürzende Symbolwirkung. Wir könnenuns nicht damit beruhigen, dass es isolierte Einzeltatenwären; denn das sind sie leider nicht. Das zeigen die Sta-tistiken, aber auch der Telefonterror, die zahlreichen Be-drohungen und Beleidigungen, auf die Herr Bubis undHerr Spiegel immer wieder hingewiesen haben. Ebensozeigen das Einstellungsuntersuchungen, bei denen eineantisemitische Einstellung bei 12 bis 15 Prozent der Be-völkerung festgestellt worden ist. Anhänger antisemiti-scher Weltverschwörungsmythen sind keineswegs nur inder rechtsextremen Szene zu finden.Die besondere Symbolwirkung liegt nach dem Holo-caust aufgrund der deutschen Geschichte auf der Hand. Inder Nachkriegszeit war die Bekämpfung des Antisemitis-mus eine Voraussetzung für die Rückkehr der Bundesre-publik in die internationale Gemeinschaft und zu Rechtgalt und gilt die besondere Aufmerksamkeit des Auslandsdem Antisemitismus in der Bundesrepublik. Die Aufar-beitung des Holocaust war darum immer auch mit einerTabuisierung und Verdrängung des gegenwärtigen Anti-semitismus verbunden.Wie dünn das Eis hier noch immer ist, hat sich in derDiskussion um die Wiedergutmachung, im Historiker-streit und zuletzt in der Goldhagen-Debatte sowie im Dis-put um die unsäglichen Äußerungen Walsers gezeigt. Inall diesen Auseinandersetzungen ist die Schlussstrich-mentalität ganz deutlich zu spüren. Aber einen Schluss-strich kann und darf es nicht geben.
Schon die neuerlichen Angriffe auf Synagogen und dieSchändungen von jüdischen Friedhöfen zeigen, wie aktu-ell Antisemitismus nach wie vor ist. Neben der Verpflich-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Wolfgang Bötsch11850
tung, Synagogen so gut wie irgend möglich durch Polizeiund öffentliche Aufmerksamkeit zu schützen, neben denZeichen, die der Bundeskanzler dankenswerterweise so-fort gesetzt hat, ist darum eine schonungslose Aufarbei-tung notwendig, die nicht an der Oberfläche verharrendarf.Diese Aufarbeitung muss in der Schule beginnendurch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, aberauch mit der Geschichte von Antisemitismus und Juden-verfolgung, die sich wie ein roter Faden durch die Jahr-hunderte zieht. Hierfür brauchen wir Erinnerungsarbeitund lebendige Gedenkstätten sowie mehr Raum in der Ju-gendarbeit und in den öffentlichen Debatten in Wis-senschaft und Politik.
Aber wir brauchen auch die Auseinandersetzung miteiner kollektiven Verdrängung im Nachkriegsdeutsch-land, die es bis heute ermöglicht, die Täter des DrittenReichs auf fremde Barbaren zu reduzieren und gleichzei-tig die Nachbarn, die bei der Versteigerung von jüdischemEigentum das Fahrrad ersteigert haben, nicht zur Kennt-nis zu nehmen, genauso wenig wie die Finanzbeamten,die nach Recht und Gesetz das Inventar der jüdischenWohnung registriert haben, deren Bewohner nachAuschwitz abtransportiert worden sind. Dieser Realität,die es nicht zulässt zu sagen: „Wir haben doch nichts ge-wusst“, müssen wir uns stellen.
Wir brauchen aber auch mehr alltägliche Berührungs-punkte, mehr Kommunikation über unterschiedliche ge-schichtliche Erfahrungen, religiöse Bindungen und kultu-relle Orientierung. Eine demokratische Gesellschaft lebtvon ihrer Vielfalt. Dabei sind die Menschen jüdischenGlaubens ein wesentlicher, ein unverzichtbarer Teil.
Ich erteile dem Kolle-
gen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Besucherinnen!Liebe Besucher! Wir haben in den letzten Jahren eineaußerordentlich erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen,die Tatsache nämlich, dass die Zahl unserer jüdischenMitbürgerinnen und Mitbürger wieder auf über 80 000 ge-stiegen ist. Es gibt in der Bundesrepublik eine Verdreifa-chung der Mitglieder jüdischer Gemeinden. Nach Ein-schätzung des Zentralrates der Juden in Deutschland wirddiese Zahl weiter zunehmen.Dass es in Deutschland wieder 83 jüdische Gemeindengibt, berührt mich sehr. Denn dies ist alles andere alsselbstverständlich, wenn man sich die Geschichte der Ju-den in Deutschland vor Augen hält. Die Tatsache, dassMenschen jüdischen Glaubens in großer Zahl Deutsch-land wieder als ihre Heimat wählen, ist ein enormer Ver-trauensvorschuss für unsere Gesellschaft, für ein Land, indem Juden noch vor wenigen Jahrzehnten Entrechtung,Enteignung, Terror und schließlich systematischem Morddurch die Nationalsozialisten ausgesetzt waren.Es stellt sich nun die Frage, ob und wie wir diesem Ver-trauensvorschuss gerecht werden können. Wir würdendiese Debatte heute nicht führen, wenn wir die Frage, obdas heutige Deutschland wirklich sicher und so etwas wieeine Heimat für Mitbürger jüdischen Glaubens gewordenist, ohne Befangenheit bejahen könnten. Die jüngsten An-schläge und Schädigungen jüdischer Einrichtungen inDüsseldorf, Potsdam, Halle und Berlin haben ein erhöh-tes Aufsehen erregt, weil die Öffentlichkeit gegenwärtigdurch die Diskussion über den Rechtsextremismus auchfür antisemitische Straftaten sensibler geworden ist.Diese Straftaten geschehen in Deutschland fast alltäg-lich. Über 1 000 Schändungen jüdischer Friedhöfe in denletzten Jahrzehnten sind beschämend. Antisemitismus istein fundamentaler Bestandteil rechtsextremistischer Ideo-logie und des Denkens rechtsextremer Gewalttäter. Anti-semitismus ist zudem in diesem Land in einem Ausmaß inden Köpfen ganz normaler Bürger verwurzelt, das be-sorgniserregend ist.
So müssen wir die Äußerungen von Paul Spiegel, demPräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland,sehr, sehr ernst nehmen, wenn er davon spricht, dass esihn angesichts des alltäglichen Antisemitismus inDeutschland schwer fällt, optimistisch zu bleiben.Die Diskussion der letzten Wochen hat eine Antwortauf die Frage gesucht, wie rechter Gewalt, wie Fremden-feindlichkeit und Antisemitismus zu begegnen ist. Es gibteinen breiten Konsens, eine treibende Kraft, das rechtsex-treme Spektrum mit den Mitteln des Rechtsstaates zubekämpfen. „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörungder Freiheit“, hat Karl Jaspers einmal gesagt. Deshalb be-grüßen wir den beabsichtigten Antrag auf ein Verbot derNPD, weil damit ein wichtiges politisches Signal gesetztwird, ein Signal der Entschlossenheit gegen den organi-sierten Rechtsextremismus.
Auf der anderen Seite brauchen wir aber auch die glei-che Entschlossenheit, gegen die Wurzeln rechtsextremis-tischer Einstellungen vorzugehen. Wir wissen, dassrechtsextremistische Straftaten überwiegend von Jugend-lichen oder jungen Erwachsenen begangen werden. Es istdeshalb unsere Aufgabe, Jugendliche besser als bisher ge-gen rechte Ideologien und rechte Rattenfänger resistent zumachen.Ich bin alarmiert, wenn ich feststelle, dass ganze Schul-klassen mit den elementaren Spielregeln und Grundwer-ten unserer Demokratie nicht vertraut sind. Wer die Grund-regeln und Zusammenhänge einer freien, pluralistischenund demokratisch verfassten Gesellschaft nicht kennt, der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Annelie Buntenbach11851
wird anfällig werden für einfache Lösungen rechtsextre-mer Rattenfänger. Auch dies lässt sich in Gesprächen mitJugendlichen immer wieder heraushören.Es ist deshalb eine ebenso dringliche wie langfristigeAufgabe, in den Schulen wieder intensiver demokrati-sches Verhalten einzuüben und der Vermittlung grundle-gender politischer und historischer Kenntnisse einen an-gemessenen Platz einzuräumen. Diese Aufgabe mussumfangreicher und sie muss verbindlicher als bisher inden Lehrplänen und Bildungskonzepten verankert wer-den. Nicht zuletzt gilt es auch diejenigen Elternhäuser mitin die Pflicht zu nehmen, die mit eigenen Vorurteilen undRessentiments dazu beitragen, dass Jugendliche sich alsvermeintliche Erfüllungsgehilfen der Eltern verstehenkönnen. Auch die Eltern auffälliger rechtsextremer Ju-gendlicher müssen stärker in die Verantwortung genom-men werden.Dies sind nur einige Maßnahmen, wie wir etwa imschulischen Bereich dafür sorgen können, dem Rechtsex-tremismus langfristig den Nährboden zu entziehen. Wirwerden darüber hinaus weiterhin dafür sorgen, dass Ju-gendliche auch eine ordentliche Ausbildung erhalten, eineChance auf einen guten Ausbildungsplatz und eine eigenegute Zukunft. Ich nenne beispielhaft unser JUMP-Pro-gramm, um Jugendarbeitslosigkeit gezielt zu bekämpfen.Wir brauchen eine Familienpolitik, die ebenfalls dafürsorgt, dass Konflikte innerhalb der Familie ohne Gewaltgelöst werden. Gewalt in der Familie ist ein wesentlicherGrund dafür, dass Gewalt auch in der Gesellschaft vor-kommt. Wir brauchen den „Aufstand der Anständigen“,wie von Bundeskanzler Schröder gefordert. Es mussSchluss sein mit dem Wegschauen. Die jüdischen Mitbür-gerinnen und Mitbürger sollen unsere Solidarität spürenund wir wollen ihnen das Gefühl vermitteln, nicht alleinzu stehen.„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit,sondern der Sittlichkeit“, hat Willy Brandt einmal gesagt.Dieses Verständnis von Demokratie müssen wir wiederverstärken und jungen Menschen vermitteln. Wenn unsdies gelingt, werden auch unsere jüdischen Mitbürger inDeutschland wieder ohne Angst in unserer Mitte lebenkönnen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! LieberRabbiner Andreas Nachama, ich danke Ihnen, dass Sieheute hier sind.Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen bedeutetfür mich, öffentlich einzugestehen, dass die Kräfte zuschwach waren, die seit dem 8. Mai 1945 in Wort undSchrift unermüdlich versucht haben, die Ursachen desAntijudaismus und Antisemitismus aufzudecken undüberwinden zu helfen. Wie kann es sonst sein, dass Anti-semitismus, der in Deutschland in der systematischen Ju-denvernichtung gipfelte, junge Menschen aufs Neue zuantisemitischen Ausschreitungen motiviert?Darum muss, wer jüdisches Leben in Deutschlandschützen will, nicht nur für sich persönlich die Frage derBerliner Lyrikerin Nelly Sachs stellen, die der aus deut-scher Arroganz beschlossenen Judenausrottung entkom-men ist und dann im rettenden Asyl fragte: „Warum dieschwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“Nach dem Holocaust muss dieses „Warum?“ in der Mut-tersprache Deutsch von jeder Generation beantwortetwerden – und das unabhängig von der Scheindebatte überKollektivschuld.Lessings Ringparabel als Unterrichtsstoff schafft ansich noch keine Toleranz. Wohlwollende Gleichgültigkeitverharmlost die bisher keineswegs überwundenen Trug-schlüsse des Antisemitismus und stützt vor allem die In-teressen derer, die diese Überzeugung immer noch undschon wieder vertreten.Die Tatsache, dass in Berlin dem prominenten Antise-miten Heinrich von Treitschke, Professor für Geschichtean der Berliner Universität, auch noch nach Auschwitzeine Straße in Steglitz gewidmet ist, halte ich für eine –wenn auch verdeckte – permanente Beleidigung nicht nurder Überlebenden des Holocaust, sondern erst recht dernach 1945 geborenen Juden, ist doch Treitschkes Satz„Die Juden sind unser Unglück“, ursächlich an der mör-derischen Geschichte von 1933 bis 1945 beteiligt. Solltenicht endlich der Bitte von Schülern des Steglitzer Fich-telberg-Gymnasiums gefolgt werden, die Straße einemanderen, zum Beispiel dem Berliner Bischof Kurt Scharf,der sich Zeit seines Lebens gegen den Antijudaismus inchristlicher Predigt verwahrt hat und ein Vater des jü-disch-christlichen Dialogs war, zu widmen? DieseSchüler sind nicht gleichgültig, wenn sie auf ihrem Schul-weg Geschichtskenntnisse beherzigen.Im Kontext neoliberaler Überzeugungsvielfalt ist An-tisemitismus nicht nur eine anachronistische Variante,sondern stellt die humanistische Wertegemeinschaft zu-tiefst in Frage und damit auch die moralische Qualität be-reitwilliger Unterstützung jüdischen Lebens in Deutsch-land.
Alle spontanen Aktivitäten, die durch Vermittlung besse-rer Kenntnisse über jüdisches Leben dumpfe Vorurteileentlarven helfen, sind dringend zu unterstützen.
In Deutschland ist in vier Jahrzehnten von jüdischenund nicht jüdischen Autoren eine umfassende kritischeLiteratur zum Verständnis für das Gelingen gemeinsamenLebens mit Juden in Deutschland entstanden. AberBücher brauchen Leser! Denn man kann nur unterstützenund schützen, was man selber versteht. Ächten kann nurderjenige, der das Judentum sachverständig achtet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Heinz Schmitt
11852
Lassen Sie uns aufstehen gegen die Gleichgültigkeitin unserem Alltag! Elie Wiesel, der uns am 27. Januar ver-gangenen Jahres so eindrücklich ermahnt hat, das Holo-caust-Denkmal nicht nur zum Alibi unseres schlechtenGewissens deutscher Geschichte werden zu lassen, erklärtaus seiner Sicht, wie jüdisches Leben und damit auch un-seres zu schützen ist. Er sagt:Ein Schlüsselwort meiner Weltanschauung ist derKampf gegen Gleichgültigkeit. Ich habe immer da-ran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nichtHass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteilvon Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondernGleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung istnicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleich-gültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, sie istdas Ende eines Prozesses. Wenn Sie die Wahl haben,zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zuwählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht dieGleichgültigkeit! Denn aus Verzweiflung kann eineBotschaft hervorgehen, aber aus der Gleichgültigkeitkann per definitionem nichts hervorgehen.Danke.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Guido Westerwelle das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe soeben von unserem ersten parla-
mentarischen Geschäftsführer erfahren, dass in dieser De-
batte kein Vertreter der Bundesregierung die Absicht hat
zu sprechen. Ich möchte für mich und auch für meine
Fraktion – ich weiß, dass es mehreren Kollegen genauso
geht wie mir – zum Ausdruck bringen, dass wir wissen
möchten, was die Bundesregierung tun will, um bei-
spielsweise jüdische Einrichtungen zu schützen. Wir wol-
len ihre Antwort im Hinblick auf die politische Bildungs-
arbeit hören. Ich möchte in diesem Hause etwas zu der
Frage der Verbotsverfahren und der Bekämpfung rechts-
extremer Gewalttaten hören. Meiner Einschätzung nach
ist es nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung in einer
solchen Debatte schweigen will.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Brandanschlag auf die Düssel-dorfer Synagoge kurz nach Rosch ha-Schana, dem jüdi-schen Neujahrsfest, und die weiteren Anschläge aufjüdische Einrichtungen haben uns entsetzt.
– Ich denke, auch das Parlament hat das Recht zu debat-tieren. Das ist heute meine erste Rede. Ich komme ausDüsseldorf, wo diese Anschläge passiert sind, und ichhoffe, Sie geben mir die Möglichkeit, dazu etwas zu sa-gen.
Düsseldorf ist innerhalb kurzer Zeit zum zweiten MalOrt eines Anschlags geworden, bei dem Personen jüdi-schen Glaubens bzw. ihre Einrichtungen getroffen wur-den. Die Anschläge auf Synagogen, Gedenkstätten undjüdische Friedhöfe gehen, wie wir wissen, erschrecken-derweise weiter.Es war einer engagierten Bürgerin zu verdanken, die inder Nacht die Molotowcocktails ausgetreten hat, dass ander Düsseldorfer Synagoge allein Sachschaden entstan-den ist. Doch dieser Sachschaden bedeutet weitaus mehr.Diese Anschläge sind Anschläge auf unsere Demokratieund auf das Miteinander in unserer Gesellschaft.
Es ist deshalb an der Zeit, deutliche Zeichen zu setzen.Die Bundesregierung hat das auch getan. Ich danke unse-rem Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich dafür,
dass er direkt am Tag nach dem Anschlag zusammen mitBundesinnenminister Schily, dem Ministerpräsidentenund dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalennach Düsseldorf gekommen ist.
Das sofortige Erscheinen an dem Ort dieses Anschlagswar deshalb ein wichtiges Zeichen, weil es zeigt, dass sichder Staat schützend auf die Seite der jüdischen Gemein-den und auf die Seite der potenziellen Opfer dieses An-schlages stellt.Als ich erst vor kurzem in den Deutschen Bundestagnachgerückt bin, habe ich nicht gedacht, dass ich meineerste Rede zu einem so schrecklichen Anlass haltenwerde. In meiner beruflichen Tätigkeit vor dem Einzug inden Bundestag habe ich oft mit der jüdischen Gemeindein Düsseldorf zusammengearbeitet und viele Mitgliederpersönlich kennen gelernt: alte Menschen, die Verfolgungund Konzentrationslager, Flucht in buchstäblich letzterMinute und die Ermordung ihrer Familien überlebt habenund die dennoch nach Deutschland zurückgekommensind, um in Deutschland – und in diesem Fall in Düssel-dorf – zu leben. Davor habe ich den allergrößten Respekt.
Ich habe junge Jüdinnen und Juden, die in Deutschlandgeboren sind und hier leben, und auch einige, die aus derehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Heinrich Fink11853
sind, kennen gelernt. Allein die Düsseldorfer Gemeinde,die heute die drittgrößte in der Bundesrepublik ist, ist vonetwa 1 500 Mitgliedern im Jahre 1989 auf heute über6 000 Mitglieder angewachsen. Das sind erstmals wiedermehr Mitglieder als vor dem Holocaust. Das heißt, jüdi-sche Gemeinden in Deutschland haben wieder eine Zu-kunft und eine Heimat und das soll auch so bleiben.
Gerade weil das so ist, müssen wir unsere Anstrengun-gen verstärken, um die Ursachen antisemitischen, rassis-tischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts einzudäm-men. Wir brauchen unmissverständliche und eindeutigeSignale, damit die Mitglieder jüdischer Gemeinden nichtweiter verunsichert werden.Ich denke, es ist auch unsere Aufgabe als Politikerin-nen und Politiker, dafür zu sorgen, dass die Schutzmauernum die jüdischen Kindergärten nicht noch höher werdenmüssen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jü-dische Jugendliche ohne Angst in Jugendzentren gehenkönnen, dass dort jüdische und nicht jüdische Jugendlichegemeinsam ihre Freizeit verbringen können. Denn die Er-fahrung zeigt: Begegnung ist der beste Ansatz gegen Ras-sismus und Minderheitenfeindlichkeit. Schule und politi-sche Bildung spielen hier eine Schlüsselrolle. Demokratieund Beteiligung setzen informierte Menschen voraus.Dies hilft gegen dumpfen Hass und Vorurteile.
Gerade für mich als eine Vertreterin der jüngeren Ge-neration ist es wichtig, den jüdischen Gemeinden Solida-rität und Unterstützung auszusprechen und ihnen deut-lich zu sagen, dass wir uns freuen, dass jüdischeGemeinden in Deutschland wieder wachsen und aktivsind. Seien Sie versichert, dass wir nicht hinnehmen wol-len und werden, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger inDeutschland bedroht werden.
Wir wollen, dass Juden in Deutschland leben und hierbleiben wollen. Sie sind Teil der Gesellschaft.Wir sollten daran arbeiten, dass deutsche Bürgerinnenund Bürger jüdischen Glaubens – wie sie sich selbst defi-nieren, nicht etwa als Juden in Deutschland oder alsMitbürger – zur Normalität gehören. Wir sollten daranarbeiten, dass junge Leute erleben, wie Menschenverschiedener Religionen, Herkunft oder Hautfarbe fried-lich miteinander leben.Als ich in den Tagen nach dem Anschlag mit Mitglie-dern der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gesprochenhabe, habe ich erfahren, dass die Erwartung groß ist, dassweitere Taten gegen den Rechtsextremismus auf allenEbenen folgen: auf der Ebene der Politik, der Justiz, desEngagements von Nachbarn, der Jugendarbeit, aber auchim Bereich der neuen Formen des Rechtsextremismus imInternet.Lassen Sie mich dazu noch einen Aspekt nennen – wirwerden das hier ja noch häufiger beraten –: Rechtsextre-mismus ist kein Problem, das sich allein auf Ostdeutsch-land oder auf Jugendliche abschieben ließe. Die Anführersitzen oft im Westen und sind nicht mehr jugendlich. Ge-rade deshalb müssen wir deutlich machen, dass dieRechtsextremen und ihre Argumente nicht hoffähig ge-macht werden dürfen.
Es darf nicht noch einmal passieren, dass zum Beispielim Rat der Stadt Düsseldorf eine Mehrheit mit der Stimmedes Ratsherrn der so genannten Republikaner zustandekommt. Man kann auch nicht gleichzeitig Ausländer-feindlichkeit beklagen, aber die Abwehr von Ausländernzum Wahlkampfthema erheben.
Rassistische Gewalttäter dürfen keine Stichworte be-kommen; denn das sind die Anfänge. Wir dürfen nichtwegschauen. Wir müssen handeln.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dies war die ersteRede der Kollegin Kerstin Griese. Dazu meine herzlicheGratulation.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4245 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und den Zusatz-punkt 5 auf:3. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Reform der Rentenwegen verminderter Erwerbsfähigkeit– Drucksache 14/4230 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Kerstin Griese11854
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Ver-sorgungsabschläge– Drucksache 14/4231 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-nister Walter Riester das Wort.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Wir haben im letzten Jahr zwei wichtigeEntscheidungen zur Sicherung der Renten umgesetzt. Wirhaben als Erstes die Rentenversicherung von versiche-rungsfremden Leistungen finanziell entlastet. Das warganz wichtig. Wir haben als Zweites sichergestellt, dassdie vom Gesetzgeber vorgesehene Rücklage in der Ren-tenversicherung um 8,4 Milliarden DM aufgestocktwurde und damit erstmals seit 1994 die Mindestreserve inder Rentenversicherung wieder vorhanden ist.
Wir treten heute in die erste inhaltliche Diskussion zurRentenreform, zur Reform unserer Alterssicherungssys-teme und damit zum größten Reformprojekt der Sozial-versicherung dieser Legislaturperiode ein. Wenn wir die-ses Reformprojekt abgeschlossen haben, dann – da bin ichmir sicher – wird die Alterssicherung zukunftssicher, so-zial und bezahlbar sein.
Wir wählen den Einstieg bewusst für die Menschen,die leistungsgemindert sind, die nicht in der Lage sind,ihren Beruf auszuüben, die voll erwerbs- oder teiler-werbsgemindert sind und die schwerbehindert sind; dennsie haben als Erste Anspruch darauf, zu wissen, wie ihresoziale Sicherung gestaltet wird. Bei den Schwerbehin-derten und bei den Erwerbsgeminderten geht es allerdingsnicht nur um Rentenfragen. Deswegen werden wir auchdie Frage des Arbeitsmarktes parallel dazu für diese Men-schen besser berücksichtigen.Ich komme zuerst zu den Menschen, die aufgrund ih-rer Leistungseinschränkungen teilweise oder ganz er-werbsgemindert sind. Menschen, die aufgrund gesund-heitlicher Einschränkungen nur noch weniger als dreiStunden arbeiten können, erhalten nach diesem Gesetzeine volle Erwerbsminderungsrente. Für die Menschen,die aufgrund von Leistungsminderungen nur noch weni-ger als sechs Stunden erwerbstätig sein können, wird er-gänzend zum Einkommen eine halbe Erwerbsminde-rungsrente gezahlt.Was sehr wichtig ist: Wir berücksichtigen die tatsäch-liche Situation am Arbeitsplatz. Heute ist es für viele die-ser Menschen kaum möglich, bei Arbeitslosigkeit einenArbeitsplatz zu finden, auf dem sie ihr Restleistungsver-mögen unterbringen können. Teilzeitarbeitsplätze sindMangelware. Teilzeitarbeitsplätze für Erwerbsgemindertesind kaum zu bekommen. Deswegen kündige ich, bevorich auf die Rentenfrage eingehe an, dass wir demnächsteine breite Initiative zur Ausweitung von Teilzeitmöglich-keiten im Bundestag anstoßen werden. Wir wollen einenRechtsanspruch für Menschen durchsetzen, eine Beschäf-tigung auch in Teilzeitarbeit auszuüben.
Bei aller notwendigen Disku ssion über die Gestaltungunserer Alterssicherungssysteme und des Rentenversi-cherungssystems: Die Problemlage ist breiter angelegt,sie bezieht sich nicht nur auf die Rentenversicherung.Entscheidend und neu ist aber: Wir wollen auf dieMenschen, die zwischen drei und sechs Stunden erwerbs-fähig, aber arbeitslos sind, nicht die Bürde des Arbeits-marktes abladen. Deswegen werden diese Menschen auchzukünftig eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDS-
Fraktion?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.
Herr Minister, vielen Dank,dass Sie mir die Frage gestatten. Ihre Ausführungen be-treffen genau das, was ich gerne wissen möchte. KönnenSie garantieren, dass Menschen, die erwerbsgemindertsind und nach medizinischen Gesichtspunkten – das findeich nicht so gut, aber na gut – noch bis zu sechs Stundenarbeiten können, solange sie keinen Arbeitsplatz haben,die volle Erwerbsminderungsrente bekommen?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ich war gerade bei diesem Punkt, HerrSeifert. Die Menschen, die sich in der von Ihnen be-schriebenen Situation befinden, bekommen die volle Er-werbsminderungsrente. Die finanziellen Lasten möchtenwir natürlich nicht bei der Rentenversicherung abladen.Deswegen der zweite Schritt: Die arbeitsmarktbedingtenMehrkosten der Rentenversicherung werden von derBundesanstalt für Arbeit erstattet. Wir möchten die Lastenalso nicht bei den Menschen abladen, sondern einen Las-tenausgleich zwischen den Institutionen vornehmen.Der sozialdemokratische Ansatz ist eine Erwerbsminde-rungsrente, welche die konkrete Situation am Arbeits-markt berücksichtigt.Ich komme nun zur Frage der Schwerbehinderten.Für viele schwerbehinderte, erwerbs- und berufsunfähigeMenschen ist es eine wichtige Botschaft, dass derjenige,der mit Verabschiedung dieses Gesetzes das 50. Lebens-jahr erreicht hat und bereits schwerbehindert ist, auchzukünftig mit 60 Jahren seine Altersrente ohne Rentenab-schläge bekommen wird. Das ist für viele Menschen, die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse11855
darum Sorge hatten, eine ganz wichtige und sehr gute Bot-schaft.Für die jüngeren Schwerbehinderten wird die Alters-grenze für eine abschlagsfreie Rente auf 63 Jahre ange-hoben. Gleichwohl wollen wir mit diesem Gesetz sicher-stellen, dass Rentenabschläge höchstens bis zu drei Jahren– mit 0,3 Prozent pro Monat – erfolgen. Wir werden mitdem Gesetz für die Frühinvaliden ebenfalls sicherstellen,dass die Jahre zwischen 55 und 60 so gewertet werden, alswären die Menschen in Arbeit gewesen. Es ist ganz wich-tig, dass auch in jungen Jahren vom Schicksal der Invali-dität getroffene Menschen anschließend nicht mit unzu-mutbaren Rentenabschlägen belastet werden.
Aber auch dies ist nicht nur ein Problem der Renten-versicherung. Wir haben deswegen in diesem Jahr ein Ge-setz verabschiedet und in vielen Gesprächen mit der deut-schen Wirtschaft, mit den Behindertenverbänden und denGewerkschaften eine Vereinbarung getroffen, die zumZiel hat, in zwei Jahren in der deutschen Wirtschaft50 000 zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten fürSchwerbehinderte zu eröffnen.
Wir haben zurzeit 178 000 arbeitslose schwerbehin-derte Menschen. Diesen schwerbehinderten Menschenmüssen vorrangig am ersten Arbeitsmarkt Beschäftigung,Arbeit, Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Wenn dasnicht gelingt, muss über das Rentenrecht sichergestelltwerden, dass ein Vertrauensschutz für die jetzt 50-jähri-gen und Älteren besteht und die anderen eine Rente be-kommen, die eben nicht harte Einschnitte mit sich bringt.
Ein weiterer Punkt ist der Berufsschutz im Renten-recht. Es ist natürlich richtig, dass der Berufsschutz imRentenrecht Probleme aufwirft, wenn er von Nichtfach-kräften finanziert werden muss. Ich halte es aber fürfalsch, wenn dieser Berufsschutz und damit die Berufs-unfähigkeitsrente fallbeilartig ausgesetzt wird. Aus die-sem Grund werden wir sicherstellen, dass 40-jährige undÄltere auch weiterhin einen Berufsschutz haben und da-mit eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten können.Das sind die drei großen Komplexe, die wir für Berufs-und Erwerbsunfähige und für Schwerbehinderte regeln.Das ist der von uns gewählte Einstieg in eine Rentenre-form, die vom Menschen ausgeht.Wir möchten nicht nur abstrakt sicherstellen, dass dieAlterssicherung zukunftssicher, sozial und bezahlbar ist.Wir wollen die Alterssicherung an die konkreten Lebens-lagen der Menschen anlehnen. Das bedeutet, dass wir dieSituation der jetzigen Rentner und rentennahe Jahrgängebei der Rentenreform insofern berücksichtigen, als ihrRentenniveau stabil bleibt. Das bedeutet, dass wir denJüngeren, auch denjenigen, die geringe oder mittlere Ver-dienste haben, insbesondere aber denjenigen, die Kinderhaben, die Chance geben, eine ergänzende Altersversor-gung aufzubauen. Es ist vorgesehen, ihnen dafür über Zu-lagen erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie wer-den – voll ausgeschöpft – pro Person einen Grundbetragvon 300 DM, für Verheiratete insgesamt 600 DM und zu-sätzlich pro Kind 360 DM umfassen. Das ist ein hervor-ragendes Vermögensprogramm zur Altersvorsorge, dasdie Menschen mit den kleinen und mittleren Einkommensowie Familien mit Kindern vorrangig berücksichtigt undsie erstmals in die Lage versetzt, eine ergänzende Alters-vorsorge zu betreiben.
Damit schließt sich der Kreis der Altersvorsorge zu einerGesamtversorgung, von der wir davon ausgehen können,dass sie bei normalen Erwerbsverläufen zu einer den Le-bensstandard sichernden Altersvorsorge führt.Nächster Punkt: Wir gehen bei der Rentenreform vonden Menschen aus und berücksichtigen, dass die Men-schen in zunehmendem Maße ihre Erwerbstätigkeit durchPhasen von Nicht- oder Teilzeitbeschäftigung unterbre-chen, was sich rentenmindernd auswirkt. Das betrifft vorallem Frauen. Deswegen wollen wir zukünftig sicherstel-len, dass nicht nur die Zeiten der Kindererziehung in derRentenversicherung voll gewertet werden, sondern dassbei der Verbindung von Kinderbetreuung und Erwerbs-tätigkeit in den ersten zehn Lebensjahren des Kindes dieErwerbstätigkeit rentenrechtlich um rund 50 Prozenthöher gewertet wird, und zwar bis zum Durchschnittsver-dienst des jeweiligen Jahres. Das ist eine ganz deutlicherentenrechtliche Verbesserung der Situation derer, dieKindererziehung mit Erwerbstätigkeit verbinden.
Es gibt aber auch Situationen, in denen Kindererzie-hung nicht immer mit einer Erwerbstätigkeit verbundenwerden kann. Das gilt insbesondere für diejenigen, diezwei oder mehr Kinder erziehen, sowie für diejenigen, diebehinderte Kinder erziehen. Deswegen werden wir vorse-hen, dass bei denjenigen, die zwei oder mehr Kinder er-ziehen und deswegen eine Erwerbstätigkeit nicht ausübenkönnen, die im Prinzip gleiche rentenrechtliche Höherbe-wertung erfolgt. Bei denjenigen, die die schwierige Auf-gabe der Betreuung und Erziehung behinderter Kinderübernehmen, werden wir die Zeiten bis zum 18. Lebens-jahr des jeweiligen Kindes rentenrechtlich höher bewer-ten.
Das sind Ansätze einer Rentenreform, die von der Si-tuation des Menschen ausgeht, die den zunehmenden Un-terbrechungen im Arbeitsleben gerecht wird und die ins-besondere das würdigt, was Menschen durch dieErziehung von Kindern sowie die Unterstützung und Er-ziehung behinderter Kinder leisten. Wir wollen aber auchberücksichtigen, dass es vielen jungen Menschen bei Be-ginn ihrer Erwerbstätigkeit aus unterschiedlichen Grün-den nicht möglich war, frühzeitig eine rentenversiche-rungspflichtige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Des-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Walter Riester11856
wegen werden wir diese Zeiten entsprechend berücksich-tigen und sie so in den späteren Rentenanspruch einrech-nen. Wir machen also heute den Einstieg bei der Renten-reform für Menschen, die aufgrund ihrer Leistungs-einschränkungen ihren Beruf nicht mehr ausüben können,die teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, sowie fürschwerbehinderte Menschen. Wir werden für sie das Ren-tenrecht so gestalten, dass ihre konkrete Situation und ihreMöglichkeiten am Arbeitsmarkt berücksichtigt werden,dass aber gleichzeitig eine Verschiebung der Lasten vonder Bundesanstalt für Arbeit zur Rentenversicherungnicht erfolgt. Das ist ein Ansatz, der die Bedürfnisse derMenschen aufnimmt und ihnen gerecht wird, gleichzeitigaber auch stabile Verhältnisse in der Rentenversicherungermöglicht.Ich denke, der Einstieg in diesen Bereich eignet sich inbesonderem Maße zu einem parteiübergreifenden Kon-sens. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Einstiegauch als ein unstrittiger Einstieg für Menschen, die unse-rer Unterstützung in besonderem Maße bedürfen, er-folgte. Ich möchte die Opposition gerne einladen, diesemGesetz zuzustimmen.Ich bedanke mich.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Mor-gen den Regierungsentwurf zur Neuregelung der Er-werbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Wir sind damit, sofinde ich, an einem sehr sensiblen Punkt der Rentenversi-cherung; denn in dem Bereich geht es darum, Menschenvor unabwägbaren Lebensschicksalen zu schützen, aufdie keiner von uns einen Einfluss hat. Deswegen ist esrichtig, dass eine solche Debatte an der Sache orientiertgeführt wird. Sie eignet sich überhaupt nicht dazu, dassvon verantwortungsbewussten Politikern Angst geschürtwird.
Aber klatschen Sie von der SPD nicht zu früh! Alles hateine Geschichte.Der Regierungsvorschlag, den Herr Riester gerade vor-gestellt hat, fußt natürlich in ganz wesentlichen Teilen aufder blümschen Rentenreform.
Deswegen gibt es auch viele Punkte, denen wir zustim-men werden. Aber ich kann nicht verstehen, dass wirChristdemokraten im Jahre 1998 von der SPD fast ge-lyncht worden sind,
weil wir das Alter, ab dem man als Schwerbehinderter inRente gehen kann, von 60 auf 63 Jahre angehoben haben.Sie haben damals in der Debatte draußen beim VDR undin vielen Versammlungen Angst geschürt. Jetzt schlagenSie es selber vor.
Ich kann nur sagen: Die SPD ist in der Wirklichkeit ange-kommen. Gut so!Nächster Punkt. Wir haben damals vorgeschlagen, eineTeilerwerbsminderungsrente einzuführen; ich nenne dazudie Zahlen drei und sechs Stunden. Diese Zahlen finde ichjetzt im riesterschen Entwurf wieder.
Damals haben Sie gesagt, es müssten vier und siebenStunden sein, alles andere sei nicht akzeptabel. Auch dahaben Sie Angst geschürt und haben dieses Thema imWahlkampf in unverantwortlicher Weise gegen die dama-lige Regierung und die damalige Sozialpolitik instrumen-talisiert.
Natürlich gebe ich zu, dass Sie mit der Einführungder arbeitsmarktbedingten Erwerbsminderungsrenteoder mit der Beibehaltung der konkreten Betrach-tungsweise eine richtige Entscheidung treffen. Sie ist imjetzigen Arbeitsmarkt gerade für Gehandicapte unabding-bar notwendig.
Deswegen sage ich Ihnen zu, dass wir dieses Gesetz so-wohl in der Anhörung am kommenden Freitag wie auchin den weiteren Ausschussberatungen konstruktiv beglei-ten werden. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir indieser Frage der Politik auch im Deutschen Bundestagzwischen CDU/CSU und SPD einen Konsens erzielenkönnen.Man sollte daraus aber nicht sofort auf die ganze Ren-tenreform schließen. In anderen Bereichen gibt es nachwie vor große Unterschiede. Herr Riester, wenn Sie eineRentenreform im Gesamtpaket mit den Stimmen derCDU/CSU verabschieden wollen, werden Sie nicht um-hinkommen, von Ihren jetzigen Anpassungsfaktoren Ab-stand zu nehmen.
Ich kann dazu nur Herrn Ruland zitieren, der gesagt hat:„Er gleicht nichts aus, er kürzt.“Im Übrigen ist ein Bestandteil Ihrer Rentenpolitik inden zwei Jahren, in denen Sie die Verantwortung getragenhaben, dass vieles nicht systematisch ist. Sie nehmen ir-gendwo Zahlen her und passen danach dann etwas an.
Zwei Millionen Einsprüche gegen die Rentenanpassungin diesem Jahr sind der schlagende Beweis dafür, dassauch der letzte Rentner im Land gemerkt hat, dass dieRentenerhöhung in diesem Jahr mit Systematik, mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Walter Riester11857
begründbaren Grundregeln und mit klaren, verlässlichenSpielregeln nun gar nichts zu tun gehabt hat.
Wenn wir eine neue Rentenformel für die Rentenan-passung einführen wollen, dann müssen wir darauf ach-ten, dass sie nachvollziehbar ist. Es darf keine aus der Luftgegriffene Zahl wie 0,3 Prozent sein.
Wir müssen auch an die Generationengerechtigkeitdenken, also daran, dass die Lasten nicht nur von den indie Rentenversicherung Einzahlenden getragen werdenkönnen. Wenn die Lasten auf mehrere verteilt werden,dann hätte das den Vorteil, dass die Abschläge niedrigerausfallen und dass das Rentenniveau am Ende sogar höherwäre.Damit bin ich bei einem weiteren Punkt angekommen,der für eine Rentenreform, über die im Parlament im Kon-sens entschieden werden soll, auch wichtig ist. Stellt euchvor: Wir haben im Parlament Konsens, aber in der Ge-sellschaft gibt es keinen Konsens. Das würden wir allenicht aushalten! Deswegen mache ich mir Sorgen, wenndie Regierung – wie in jüngster Zeit – mit vielen kon-struktiven Vorschlägen unsensibel umgeht.Zur riesterschen Rentenpolitik gehört auch die Ent-scheidung, dass Arbeitslosenhilfebezieher Beiträge zurArbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherungleisten müssen. Dadurch wird in Zukunft Altersarmut pro-duziert.
– Als Kommunalpolitiker muss ich Ihnen, Herr Dreßen,sagen: Mit der Grundsicherung, durch die Sie den Bun-deshaushalt entlasten, verschieben Sie die Lasten der Al-tersarmut in die Kassen der Kommunen, mit denen diese15 Jahre später fertig werden müssen.
Darüber sollten Sie einmal mit Ihren Gemeinderäten spre-chen. Die Gemeinden sind nicht in der Lage, wieder einneues, allgemeines Risiko zu übernehmen. Deswegenwerden wir auch über diese Frage miteinander reden müs-sen, wenn wir in der Rentenpolitik einen Konsens erzie-len wollen.Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Berufs- undErwerbsunfähigkeitsrenten zurückkommen. Ich wünschemir, dass auch die Kolleginnen und Kollegen des HohenHauses die Anhörungen und die Beratungen im Aus-schuss verfolgen, die immer meinen, die Rentenversi-cherung sei etwas Altmodisches und alles, was mit derPrivatversicherung zu tun hat, sei etwas Gutes. Ich binmir ganz sicher, dass die Debatte, die wir in den nächstenWochen über diesen Punkt der Reform führen werden,und dass der große Sachverstand, den wir dazu befragenwerden, klar zutage fördern werden, dass es zur Absiche-rung breiter Schichten eines Volkes gegen große Risikenund zu einer solidarischen, umlagefinanzierten Sozialver-sicherung keine Alternative gibt.
Ich bin gespannt, wie sich die Lebensversicherer sowiedie Vertreter der Banken, der Investmentfonds und derKapitalfonds in dieser Debatte einlassen werden, zu wel-chen Konditionen sie bereit sind, EU- und BU-Problemeabzusichern. Ich freue mich auch auf diese Debatte, weilich zu den Politikern in diesem Hause gehöre, die zutiefstdavon überzeugt sind, dass die deutsche Sozialversiche-rung nichts Altmodisches ist und dass sie dem Grundge-danken der Solidarität folgen muss, auf den auch noch, sohoffe ich, meine Kinder in ihrem Leben vertrauen können.Ich lade vor allen Dingen die so genannten Ord-nungspolitiker ein, die Debatte, die wir in den nächstenzwei Wochen unter Fachleuten führen werden, einmal inRuhe zu verfolgen.Schönen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
mit der heutigen Diskussion über die Reform der Erwerbs-unfähigkeitsrenten in die Debatte über die große Renten-reform ein. Wir tun das sicherlich – das wurde schon ge-sagt – mit sehr viel Konsens und wenig Verunsicherung.Ich finde, wir sollten die alten Schlachten, für die ichdurchaus Verständnis gehabt habe, geschlagen sein lassenund in dieser Debatte damit beginnen, gemeinsam überdas zu reden, was wir wirklich wollen. Wir sollten nichtmehr über das reden, was irgendwann einmal gewesen ist.Ich möchte zwar nicht das wiederholen, was hier schoninhaltlich zu den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrentengesagt worden ist. Aber ich möchte zwei Dinge heraus-greifen, die uns besonders wichtig sind:Der eine Punkt bezieht sich auf die Frage der Einbe-ziehung der Arbeitsmarktlage.Hier gab es vielleicht nureinen Dissens. Solange die Arbeitsmarktlage nicht so ist,wie wir uns das alle wünschen, können wir denje-nigen, die für ihre Situation nichts können – HerrLaumann hat es gerade erwähnt – und die sich auf dieseSituation nicht vorbereiten konnten, nicht zumuten, einerverminderten Versorgung ausgesetzt zu sein. Wir findenes daher besonders wichtig, dass die Arbeitsmarktlageberücksichtigt wird.Der andere Punkt, den ich ansprechen möchte, beziehtsich auf die Berufsunfähigkeitsrente, die wir in dieserForm nicht mehr weiterführen wollen. Aus unserer Sichtwaren dies Prestigerenten, die besonders Akademiker undAkademikerinnen bevorteilt haben. Ich finde es richtig,dass die Erwerbsunfähigkeitsrente besteht; das hat auchder Bundesrechnungshof gesagt. Es kann aber im solida-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Karl-Josef Laumann11858
rischen System nicht weiter für jemanden gesorgt werden,der berufsunfähig wird.Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der ganzzentraler Bestandteil dieser Debatte ist. Wir müssen unsdarüber verständigen, was das eigentlich kostet. Wennwir heute eine Reform diskutieren wollen, die 0,1 oder0,2 Beitragspunkte ausmacht, dann müssen wir das indem Gesamtkonzept der Rentenreform berücksichtigen,weil wir es nicht hinnehmen können – das ist der erklärteWille der Regierung und ihrer Koalition –, dass wir imVorfeld Dinge beschließen, die wir nicht bezahlen kön-nen. Deswegen geht dieser Teil der Reform auch hin-sichtlich der Kosten in die Gesamtreform ein.
Herr Laumann, liebe Kolleginnen und Kollegen, ichmöchte noch einmal auf drei Punkte eingehen, die wir inBezug auf die Reform diskutieren wollen.Der erste Punkt betrifft die Frage der Generationen-gerechtigkeit. Ich sehe ein, dass wir ein System gefundenhaben – das war sicherlich nicht leicht –, das auf den ers-ten Blick so aussieht, als würden alle gleich behandelt.Aber die Belastungen, die zum einen durch die Demogra-phie und zum anderen durch andere Lebensrealitäten ent-standen sind, sind nicht gleich. Deswegen haben wir ge-sagt: Wir schaffen einen so genannten doppeltenGenerationenfaktor. Dies bedeutet, dass jede Generationnach ihren Möglichkeiten zu dieser Reform beiträgt. Wassind diese Möglichkeiten? Die heute Älteren tragen dazuüber die modifizierte Nettoanpassung bei. Ich glaube, dasist gerechtfertigt. Etwas Ähnliches hatten Sie mit dem de-mographischen Faktor vorgeschlagen.
– Das ist überhaupt nicht willkürlich. Wir legen hier etwassehr Reales zugrunde. Von der Union habe ich gehört,dass sie der Meinung ist, dass wir eine private oder be-triebliche Zusatzvorsorge brauchen; bei Ihnen hat es sicheben etwas anders angehört. Das bedeutet, dass das Geld,das die Leute für diese Vorsorge benötigen, ihnen nettonicht zur Verfügung steht. Deswegen ist es richtig zu sa-gen, dass das bei der Rentenanpassung nicht berücksich-tigt wird. Das ist der Beitrag der älteren Generation und erist bei weitem nicht geringer als der Beitrag der jungenGeneration. Eine Reform einseitig zulasten der jüngerenGeneration wäre mit uns, Bündnis 90/Die Grünen, nichtzu machen gewesen.Lassen Sie mich etwas zum Beitrag der jüngeren Ge-neration sagen. Die jüngere Generation hat über einenAusgleichsfaktor, einen Generationenfaktor, ein sinken-des Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherunghinzunehmen. Auch das finde ich richtig, weil es möglichist, private Vorsorge zu treffen. Es ist aber nicht so – daswill ich in aller Klarheit sagen –, dass die Bundesregie-rung die private oder betriebliche Vorsorge einführt. Dasentspricht nicht der Realität. Was machen wir? Wir er-möglichen denjenigen, die es sich bis jetzt leisten konn-ten, weil sie zu geringe Einkommen haben, zusätzlicheine private Vorsorge zu treffen. Das ist gerade für die Be-zieher niedriger Einkommen auch nur gerecht.
Lassen Sie mich nun etwas zur Belastung sagen: Wirkönnen die Beiträge für die gesetzliche Rentenversiche-rung nicht in die Höhe schnellen lassen. Wir haben unshinsichtlich der Beiträge festgelegt, übrigens fast gemein-sam, denn die 20 und 22 Prozent, die in Rede stehen, wer-den, soweit ich sehe, von Ihnen nicht grundsätzlich be-stritten.Was kommt dann an zusätzlicher Belastung? Zunächstkommt eine zusätzliche Belastung für die private Vor-sorge, die wir einführen wollen. Wir wollen sie nicht er-zwingen, aber wir empfehlen sie. Diese zusätzliche Be-lastung beträgt allerdings nicht 4 Prozent. 4 Prozent sinddas, was für jeden angelegt werden soll. Durch die staat-lichen Hilfen, die Steuererleichterungen oder direkten Zu-schüsse, geben wir Erhebliches hinzu. Das heißt, der oderdie Einzelne muss nicht 4 Prozent beitragen, sondern we-niger. Wer ein geringes Einkommen bezieht, muss bei-spielsweise nur 1 Prozent beitragen. Das ist ein richtiggutes Angebot und ermöglicht den Menschen mit gerin-gem Einkommen, in eine Zusatzvorsorge einzuzahlen –heute können es viele noch nicht –, sodass ihr Lebens-standard im Alter gesichert ist. Das ist das Entscheidende,das wir wollen.
Nun noch zur Frage des sozialen Ausgleichs: Sie ha-ben die Hinterbliebenenversorgung angesprochen und da-bei auf die Frage der Kinder abgehoben. Mit unserer Re-form sind wir sehr differenziert auf die neuenLebensrealitäten von Familien eingegangen, indem wirMenschen, die Kinder erziehen, in der Rentenversiche-rung besonders unterstützen. Deswegen werten wir dieRentenbeiträge aus Teilzeitarbeit bei Kindererziehungauf, deswegen machen wir etwas bei den Kindererzie-hungszeiten und deswegen haben wir die Steuererleichte-rungen und Zuschüsse für die private Vorsorge stark andie Kindererziehung gekoppelt. Sie von der CDU/CSUhaben das auch gewollt; ich glaube, wir sind uns hier in-haltlich sehr nahe gekommen. Wenn wir der Auffassungsind, dass die Erziehung von Kindern für die gesamte Ge-sellschaft wichtig ist, dann muss sich das natürlich in ei-nem Sozialversicherungssystem widerspiegeln. Wir ha-ben das in einer Art und Weise gemacht, die der Realitätentspricht, dass Frauen heute berufstätig sind und Kinderhaben.Des Weiteren ändert sich für diejenigen nichts, dieheute kurz vor der Rente stehen oder in Rente sind und aufHinterbliebenenversorgung angewiesen sind, weil ihreLebensrealität so aussah, dass sie vor allen Dingen Kin-der erzogen und weniger im Beruf gearbeitet haben. Auchdas ist aus meiner Sicht gerechtfertigt.Nun komme ich zur Frage der Altersarmut. HerrLaumann, wenn Sie sich ansehen, wie im Rahmen dieserReform gerade die Verbindung von Familie und Beruf,über die ich eben gesprochen habe, aufgewertet wird,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Katrin Göring-Eckardt11859
dann können Sie realistischerweise nicht mehr davonsprechen, dass hier Altersarmut produziert werde.
– Nein, wird sie nicht, weil wir nämlich nicht mehr alleinauf Beitragsjahre setzen, sondern einen Ausgleich für Fa-milienarbeit schaffen, der insbesondere Frauen zugutekommen wird.
Daher ist aus meiner Sicht – das will ich hier klar sa-gen; in den Fachdiskussionen hören wir das auch immerwieder – die ideologisierte Debatte um das Rentenniveau,die ich aus historischen Gründen ja verstehen kann, heuteeine falsche Debatte.
– Damit haben wir keinen Wahlkampf geführt.
Hinsichtlich der verschämten Altersarmut wird IhreEinlassung aus der Sicht eines Kommunalpolitikers denMenschen nicht gerecht.
Man darf hier nicht nur die Kasse der Kommunen, son-dern muss auch die Menschen sehen, die nicht in An-spruch nehmen, was ihnen zusteht. Ich finde es richtig,dass alte Menschen unabhängig vom Geldbeutel ihrerKinder das Recht auf eine Versorgung haben, die ihnenein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Daher kann ich Sie nur herzlich bitten, diese Frage nocheinmal zu überdenken. Es geht ja nicht darum, dass dieseMenschen mehr als etwa Familien bekommen sollen, dievon Sozialhilfe abhängen. Aber es muss Schluss damitsein, dass sich viele Menschen, insbesondere ältereFrauen, nicht trauen, zum Sozialamt zu gehen.
Zum Schluss möchte ich auf die Frage des Konsenseszurückkommen. Die Angelegenheit hat inzwischen einelange Geschichte. Wir hatten viele Verhandlungsrunden.Manchmal frage ich mich schon, was eigentlich hinter Ih-rer Strategie steht. Alle sagen immer wieder, der Konsenssei richtig. Auch ich halte ihn nach wie vor für zentral. Ichtue das nicht, weil es dann leichter wird, sondern weil dieMenschen das Vertrauen in die Politik brauchen, dass derauf einen Zeitraum von 30 Jahren ausgerichtete Blickernst genommen und die gemeinsame Verabredung ein-gehalten wird.Ich fordere Sie auf, in dieses Reformwerk zu schauenund festzustellen, wie viel von dem, was Sie vorgeschla-gen und unterstützt haben, in ihm enthalten ist. Sie wer-den verstehen, dass wir keine Rentenreform durchführenwerden, die nur aus solchen Punkten besteht, die für dieUnion wichtig sind.
– Das finde ich gut. – Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-men, dass wir uns an sehr vielen Punkten einig sind unddass wir Ihnen an sehr vielen Punkten entgegengekom-men sind. Ziehen Sie dann bitte einen Schlussstrich. Zwarkann man immer wieder neue Forderungen stellen undsagen: „Wir möchten das noch ein bisschen anders ge-stalten“ – wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit –, aberwir sind grundsätzlich nicht dazu bereit, wieder so zu tun,als ob man mit weniger Beiträgen mehr Rente erreichenkönnte; in der Diskussion tut man manchmal so, als ob dasmöglich wäre.Wir sind ausschließlich zu einer Rentenreform bereit,die die Situation der verschiedenen Generationen nichtnur berücksichtigt, sondern auch dafür sorgt, dass es eineneue Gerechtigkeit zwischen den Generationen gibt.Dazu gehören der Blick auf die 30 Jahre, die Beitragssta-bilität, soweit sie angesichts der demographischen Ent-wicklung zu gewährleisten ist, und der soziale Ausgleich.
Ich bitte Sie: Ziehen Sie einen Schlussstrich und kom-men Sie an den Verhandlungstisch! Führen Sie mit uns ge-meinsam eine mutige und ehrliche Reform durch, mit derin aller Klarheit die Realitäten zum Ausdruck gebrachtwerden!Vielen Dank.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der größte Teil des-sen, womit sich die Redner heute beschäftigen, ist imvorliegenden Gesetzentwurf gar nicht enthalten. Heutegeschieht in der Tat das, was wir mit den Rentenkon-sensgesprächen eigentlich vermeiden wollten: eine Ren-tenreform als Stückwerk.Dafür tragen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU – das muss ich leider sagen –, nicht unerheblichVerantwortung, weil Sie sich über Monate nicht einigenkonnten, was Sie eigentlich wollen sollten. Auch die Redevon Herrn Laumann hat heute wieder klargemacht, dassSie bereit sind, ständig Forderungen – versetzt mitgehöriger Polemik – nachzuschieben.
Wir können uns lange darüber unterhalten, wie Alters-armut zu definieren ist; aber über eines sollten wir unsdoch nun wirklich nicht mehr streiten: Das Ziel dessen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Katrin Göring-Eckardt11860
was wir bisher diskutiert haben, ist, dass der Lebensstan-dard im Alter nicht mehr allein durch die gesetzlicheRentenversicherung gedeckt wird, weil sie es nicht mehrleisten kann; vielmehr muss durch den Aufbau einer pri-vaten Altersvorsorge mit ausreichender Förderung durchden Staat und durch die betriebliche Altersvorsorge einBetrag erwirtschaftet werden, durch den der Lebensstan-dard im Alter gesichert wird.
Wenn Sie sagen, dass das nicht geht, dann entgegne ichIhnen: Schon in den bisherigen Konsensgesprächen ha-ben wir etwas anderes errechnet und außerdem werdenwir uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch da-rüber unterhalten.Herr Riester, auch Sie tragen ein bisschen die Verant-wortung dafür, dass wir heute den Gesamtentwurf derRentenreform noch nicht debattieren können. Sie habensich offensichtlich etwas zu oft mit Herrn Seehofer untervier Augen unterhalten und das geglaubt, wovon er be-hauptet hat, dass er es in seiner Fraktion durchsetzenkönne. Das war anscheinend nicht der Fall. Merke also:Wer parlamentarische Verfahren durch die Absprachenzwischen zwei Verhandlungsführern ersetzen will, der er-leidet Schiffbruch.
Nun wird uns der Hauptteil der Rentenreform frühes-tens im November vorliegen, da er noch nicht einmal vomKabinett beschlossen worden ist. Die Position der F.D.P.für diesen Entwurf und für die weiteren Beratungen istganz klar.Der Beitragssatz, der von Ihnen, Herr Riester, vorgese-hen ist – dagegen habe ich noch keinen Widerspruch derCDU/CSU gehört –, ist für uns nicht akzeptabel, nämlichinsgesamt 26 Prozent im Jahre 2030:
22 Prozent in der gesetzlichen Rentenversicherung und4 Prozent für die private Versicherung. Dies ist ein klarerVerstoß gegen die Generationengerechtigkeit.
Wir werden im weiteren Gesetzgebungsverfahren versu-chen, Sie davon zu überzeugen.Wir wollen auch, dass wieder ein Demographiefaktoreingeführt wird. Wir halten ihn nämlich für besser und ge-rechter als das, was jetzt vorgesehen ist.
Das können Sie nachlesen, das steht schon in vielenvon mir gehaltenen Reden. Außerdem wollen wir, dassder Katalog von Anlagemöglichkeiten zur privaten Vor-sorge erweitert wird.
Dieser ist derzeit viel zu eng gefasst. Auf jeden Fall mussauch das selbst genutzte Eigenheim als Vorsorgemöglich-keit berücksichtigt werden.
Immerhin bietet ein selbst genutztes Eigenheim nach heu-tigen Werten eine Ersparnis von durchschnittlich 740 DMmonatlich an nicht zu zahlender Miete.Heute aber, meine Damen und Herren, geht es um denEntwurf des Gesetzes zur Reform der Renten wegenverminderter Erwerbsfähigkeit. Damit dieser Teil am1. Januar 2001 in Kraft treten kann, wird die F.D.P. an demGesetzgebungsverfahren, bei dem uns die Regierungunter sehr großen zeitlichen Druck setzt, konstruktiv mit-arbeiten. Im Prinzip sind wir bereit, diesem Gesetz zuzu-stimmen, weil sowieso das meiste aus dem Rentenre-formgesetz 1999, das die alte Koalition vorgelegt undbeschlossen hatte, übernommen worden ist. Da aber diejetzt neu aufgenommenen Regelungen mehr Kosten beider Rentenversicherung verursachen, werden wir spezielldiese Aspekte im Gesetzgebungsverfahren noch einmalprüfen müssen.Lassen Sie mich festhalten, was aus dem alten Gesetzübernommen worden ist:Erstens das so genannte Stufenmodell: Es soll die bis-her geltende Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente durcheine zweistufige Rente bei verminderter Erwerbsfähigkeitersetzt werden, nämlich volle Rente für Behinderte, dieein Restleistungsvermögen von weniger als drei Arbeits-stunden pro Tag haben, und halbe Erwerbsunfähigkeits-rente bei einem Restleistungsvermögen von drei bis untersechs Stunden. Gleichzeitig entfällt die Rente für diejeni-gen, die noch mehr als sechs Stunden arbeiten können.Zweitens ist der Rentenabschlag von maximal10,8 Prozent bei vorzeitigem Rentenbezug übernommenworden.Drittens wurde die stufenweise Anhebung der ab-schlagsfreien Altersgrenze für Schwerbehinderte vom 60.auf das 63. Lebensjahr übernommen.Es ist schon richtig, dass Sie die Wahl 1998 in nichtunerheblichem Maße durch Polemik gegen diese Rege-lungen gewonnen haben. Jetzt sind Sie in der Realität an-gekommen. Das begrüßen wir. Deswegen kann ich fest-halten: Offensichtlich waren auch unsere damaligenÜberlegungen nicht völlig falsch.Im Gesetzgebungsverfahren müssen wir noch zweiDinge prüfen, nämlich die Verschiebung der Lasten vonder Bundesanstalt für Arbeit auf die Rentenversicherungund die Vertrauensschutzregelung.Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen, dass wir esbegrüßen, dass nur noch Selbstständige den Anspruchauf eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.
Ich möchte auch noch den Hinweis anschließen, dasses nun umso wichtiger wird, sich zu überlegen, wie mansich anderweitig, als es bisher der Fall war, gegen das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Irmgard Schwaetzer11861
Risiko der Berufsunfähigkeit absichern kann, um zumBeispiel die eigene Familie zu schützen.Ich danke Ihnen.
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert für die PDS-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren aufder Tribüne! In Anbetracht der Tatsache, dass heute ei-gentlich nur die Erwerbsminderungsrente auf derTagesordnung steht – Frau Kollegin Schwaetzer wiesschon darauf hin –, muss man sagen, dass wir eine ziem-lich breite Debatte über die Rentenreform haben. Leidergibt es dazu im Parlament keine einzige Vorlage. Refe-rentenentwürfe und sonstige Papiere schwirren zwar so-zusagen in der Gegend herum,
aber es sind keine Vorlagen für das Parlament. Eines lässtsich aber heute schon sagen: Die privaten Rentenversi-cherungsträger reiben sich bereits jetzt die Hände, weilbei ihnen die Kassen klingeln. Frau Schwaetzer, Ihr letz-ter Werbeblock hat sicherlich dazu beigetragen.
Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, überdas wir heute reden wollen! Ich habe hier in der Debatteaus der Rede des Ministers immerhin gelernt, dass die Re-gierung durchaus gewillt ist, bestimmte Aspekte einesLeistungsgesetzes – sie nennt es nur nicht so – einzu-führen. Wir finden es gut, dass sich, wie Sie sagen, die In-stitutionen, aber nicht die Menschen streiten sollen unddass es leistungsrechtliche Dimensionen gibt.Trotzdem müssen wir einmal Klartext reden und sagen,worum es eigentlich geht. Sie versuchen, das Rentenre-formgesetz der alten CDU/CSU- und F.D.P.-geführtenRegierung in einer leicht abgewandelten Form einzu-führen. Deswegen wundert es mich nicht, dass die F.D.P.zustimmen will.Die einzige wirklich sichtbare Veränderung ist, dassSie eine konkrete Betrachtungsweise in Bezug auf dietheoretisch mögliche Arbeitszeit von drei bis sechs Stun-den einführen wollen. Das heißt: Wenn man keine Arbeithat, bekommt man trotzdem die volle Erwerbsminde-rungsrente. Das ist sehr positiv – keine Frage. Aber wasist denn mit denjenigen, die in Zukunft in diese Situationkommen? Für diese Menschen wird es wesentlich schwie-riger. Ihre konkrete Betrachtungsweise ist für die unter40-Jährigen, für die es keinen Bestandschutz gibt, we-sentlich weniger wirkungsvoll.Sie schaffen die Berufsunfähigkeitsrente ab und FrauGöring-Eckardt bemerkt dazu, dass das nur den Akade-mikern helfen würde. Wo, bitte schön, sind wir denn hin-gekommen, wenn erworbene Qualifikationen und erwor-bene Fähigkeiten in diesem Land der Facharbeiterinnenund Facharbeiter nichts mehr wert sind? Wo kommen wirdenn da hin?
Wenn jemand – beispielsweise ein Bergarbeiter, einBäcker oder eine hoch qualifizierte Sekretärin – einen Un-fall hat, berufsunfähig wird und anschließend diesen Be-ruf nicht mehr ausüben kann: Wollen Sie allen Ernstes,dass diese Menschen von vornherein zur Aufnahme einerTätigkeit mit geringerer Qualifikation gezwungen wer-den? Oder wollen Sie, dass diese Menschen in einem an-deren Beruf eine Tätigkeit mit derselben Qualifikationausüben können? Die Menschen sind dazu fähig. Hem-men Sie sie also nicht, indem Sie ihnen die Möglichkeitnehmen, gemäß ihrer Qualifikation beruflich tätig zu sein!Besonders „originell“ ist Ihr Argument von der sozia-len Symmetrie, die Sie einführen wollen, indem Sie dasAlter für den Eintritt in die Altersrente für schwerbe-hinderte Menschen von 60 auf 63 Jahre erhöhen. Wassoll denn das? Jeder, der sich im Lande ein bisschen um-schaut, weiß, dass Frauen und Männer, die berufs- odererwerbsunfähig oder die – wenn man dieses Wort benut-zen darf – Invalide sind, in einem wesentlich jüngeren Al-ter in Rente gehen, nämlich zwischen 51 und 53 Jahren.Jetzt wollen Sie das Renteneintrittsalter mit dem Argu-ment von der „sozialen Symmetrie“ erhöhen. Das istdoch – Entschuldigung, dass ich dieses harte Wort benut-zen muss – menschenverachtend; denn die soziale Sym-metrie ist bei der Arbeitslosigkeit von Schwerbehindertenauch nicht gegeben. Alle die Maßnahmen, die Sie, HerrMinister, genannt haben und die dafür sorgen sollen, dassMenschen mit Behinderung besser in Arbeit kommen,müssen Sie durchführen, bevor Sie das Renteneintrittsal-ter erhöhen.
Momentan ist es so, dass die allgemeine Erwerbslosigkeitbei etwa 10 Prozent liegt, die der schwerbehinderten Men-schen bei 18 Prozent. Wo ist denn da soziale Symmetrie?In diesem Fall kräht kein Hahn danach. Ich bitte Sie, sol-che Verschlechterungen für Menschen, die es im Lebenohnehin etwas schwerer haben, zu vermeiden.Als Letztes möchte ich sagen: Machen Sie Ihre Gesetzetransparenter und durchsichtiger! Ich möchte Ihnen einBeispiel nennen, das hanebüchener nicht sein kann. Eineso genannte geistig behinderte Frau erhielt zu DDR-Zei-ten ab dem 18. Lebensjahr eine Invalidenrente, die nach1990 in eine Erwerbsunfähigkeitsrente umgewandeltwurde. Sie bekam damals 681 DM. Anfang 1997 wurdediese Rente, Bezug nehmend auf § 315 a SGB VI, auf431,87 DM abgesenkt. Die Frau bekam natürlich keineUnterstützung vom Sozialamt, weil ihr allein erziehenderVater – ihre Mutter war inzwischen gestorben – ein klei-nes bisschen mehr Einkommen hatte, als es der Sozialhil-fesatz zulässt.Diese Familie war nun ganz verzweifelt und hat sich anHinz und Kunz gewandt, am Ende auch an mich. Es kanndoch nicht sein, dass erst ein Bundestagsabgeordneter anden Präsidenten der BfA schreiben muss, damit dessenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter merken, dass diese Frau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Irmgard Schwaetzer11862
sich mit einem Betrag von weniger als 3 000 DM hättenachversichern können! Nachdem sie das getan hat, stehtihr nun eine Rente von über 1 000 DM zu.Wenn es Gesetze gibt, die so undurchsichtig sind, dassdie Beamten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derRentenversicherungsträger nicht in der Lage sind, denMenschen zu sagen, was ihnen zusteht, dann haben wir et-was falsch gemacht. Ich bitte Sie: Machen Sie Gesetze,die man versteht und die den Menschen helfen! Dann wer-den Sie uns auf Ihrer Seite haben; aber nicht, wenn Sie et-was machen, was nur CDU/CSU- und F.D.P.-light ist.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe aufgute Diskussionen.
– Herr Laumann, wenn es so ist, wie Sie sagen, dass Siedafür sind, dass die Rentenversicherung für alle ist, dannbin ich auf Ihrer Seite. Aber machen Sie das erst einmalIhrer Partei klar!
Ich gebe nun der Kol-
legin Erika Lotz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Natürlich gibt es Unterschiede und man-che mögen sie als klein bezeichnen; aber sie sind fein unddas ist wichtig. Auch wenn der Gesetzentwurf zur Neu-ordnung der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten demKonzept, das 1997 unter Blüm verabschiedet wurde, inseinen Grundzügen sehr ähnlich ist, kommt es doch aufdie Details an, die für die Betroffenen eben nicht kleinsind.Herr Laumann, ich stimme Ihnen zu: Die Rente ist einsensibler Bereich, der seine Geschichte hat. Aber es ist dasböse Wort vom „Lynchen“ gefallen. Da muss ich sagen:Dass die Anzahl der Vertreter von CDU/CSU und F.D.P.hier geringer geworden ist, liegt nicht daran, dass Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten einige von Ihnengelyncht hätten; die Wähler haben das entschieden und esgab gute Argumente dafür.
Nun komme ich auf das Thema zurück, über das wirheute reden. Frau Schwaetzer hat beklagt, dass wir nichtüber die Erwerbsminderungsrente sprechen, sondern denZustand der Rente insgesamt beklagen. Ich hatte das Ge-fühl, Frau Schwaetzer, dass auch Sie sich davon haben lei-ten lassen. Aber ich sage einmal: Trotz der erfreulichenVerbesserungen der Beschäftigungssituation auf dem Ar-beitsmarkt ist es doch unerlässlich, bei der Entscheidung,ob bei einer nur teilweisen Erwerbsminderung weiterhineine volle Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt wer-den kann, die Kapazitäten des Arbeitsmarktes zuberücksichtigen. Denn das alleinige Abstellen auf den Ge-sundheitszustand, wie Sie das gemacht haben, ignoriertdie Realität des Arbeitsmarktes.Auch der Große Senat des Bundessozialgerichts hatbereits 1969 und auch 1975 entschieden, dass die Fähig-keiten und Möglichkeiten der Versicherten, ihre Restleis-tungen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich zu verwerten,von entscheidender Bedeutung sind. Das – wie auchmanch anderes –, Herr Laumann, haben Sie bei Ihrer Re-form im Jahre 1999 ganz einfach ignoriert.Wir wollen keine alten Schlachten schlagen; das istrichtig. Aber man muss schon einmal an sie erinnern: Ein-malzahlungen, während Ihrer Regierungszeit beschlos-sen, sind jetzt Belastungen. Weitere Schlagwörter in die-sem Zusammenhang sind die Rentenüberleitung fürehemals Zusatzversorgte der DDR und die Behandlungvon Kriegsopfern in der Krankenversicherung Ost. Auchan die notwendig gewordene Erhöhung des Kindergeldesmöchte ich erinnern. Das alles sind Belastungen, die Sieuns hinterlassen haben. Sie haben die Lage damals schön-gerechnet. Die Mittel für die genannten Maßnahmenkommen zu den 1,5 Billionen DM Schulden hinzu, die Sieuns hinterlassen haben und von denen Sie offensichtlichnichts mehr wissen wollen.
Nun möchte ich darauf eingehen, warum wir das Ren-tengesetz ändern wollen. Was nützt es einem Versicherten,dass er theoretisch noch drei bis sechs Stunden arbeitenkönnte, er aber in der Praxis keinen Teilzeitarbeitsplatzfindet? Denn die Flexibilität der Arbeitgeber lässt in die-ser Hinsicht leider noch sehr zu wünschen übrig. Da müs-sen wir realistisch bleiben.Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann hätte einVersicherter, der noch vier Stunden täglich arbeitsfähigist, der aber am Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist, einehalbe Erwerbsminderungsrente bekommen. Das heißt,das Arbeitsmarktrisiko, welches jetzt noch von der ge-setzlichen Rentenversicherung getragen wird, wäre dannallein dem Versicherten zugemutet worden, obwohl erletztendlich für beide Sozialversicherungszweige Bei-träge leistet. Dies wollen wir nicht; dies halten wir fürnicht gerechtfertigt.
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zumRentenreformgesetz 1992 eine sachgerechte und sozialausgewogene Risikoabgrenzung zwischen der Renten-und der Arbeitslosenversicherung gefordert. Wir kommendieser Forderung jetzt insofern nach, als die Bundesan-stalt für Arbeit an den Kosten der Erwerbsminderungs-rente zur Hälfte beteiligt wird. Das heißt, die Bundesan-stalt erstattet der Rentenversicherung pauschal die Hälfteder Aufwendungen für Renten wegen verminderterErwerbsfähigkeit. Dies umfasst auch die in diesem Zeit-raum anfallenden Beiträge zur Kranken- und Pflegever-sicherung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Ilja Seifert11863
Damit wird bei der Bundesanstalt ein Stück weit derAnreiz geschaffen, Menschen mit verminderter Erwerbs-fähigkeit, die noch Teilzeit arbeiten können, zu vermit-teln. Das ist notwendig und das erreichen wir über diesenWeg.
Wir wollen nicht, dass die Versicherten mit verminderterLeistungsfähigkeit keine Chancen haben. Auf dem der-zeitigen Arbeitsmarkt haben sie aber keine Chancen; beiVollbeschäftigung wäre das natürlich anders. Deshalb istdas große Ziel all der Reformen, die wir betreiben, wiedermehr Arbeitsplätze zu schaffen. Aus diesem Grunde müs-sen wir diese Reform betreiben.
Mit der Neuordnung der Renten wegen verminderterErwerbsfähigkeit stellen wir uns der Lebenswirklichkeitund übernehmen wir Verantwortung. Wir wollen, dasskeine Sicherungslücken entstehen.Wegen der demographischen Veränderungen ist je-doch die Altersgrenze bei der Rente heraufgesetzt wor-den. Ab dem Jahre 2005 liegt die Regelaltersgrenze bei65 Jahren. Ich denke schon, dass es nicht von der Hand zuweisen ist, dass Einzelne versuchen werden, eine Rentewegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu erhalten, um so-mit eine Rente ohne Abschläge zu bekommen. Deshalb– auch der Arbeitsminister hat dies angesprochen – solldie Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die vorzeitigin Anspruch genommenen Altersrenten angeglichen wer-den. Der bei den Altersrenten vorgesehene monatlicheAbschlag von 0,3 Prozent soll für die Erwerbsminde-rungsrenten auf maximal 10,8 Prozent begrenzt werden.So erreichen wir bei dieser Maßnahme Sozialverträglich-keit.Gleichzeitig wird die Wirkung dieser Schutzmaß-nahme dadurch abgefedert, dass die Zeit zwischen dem55. und dem 60. Lebensjahr höher bewertet wird – so, alsob der Versicherte erwerbstätig gewesen wäre. Im ur-sprünglichen Gesetz wurde dieser Zeitraum nur zu einemDrittel angerechnet; Blüm wollte die Anrechnung aufzwei Drittel erhöhen. Nach unserem Konzept dagegenwird die Zeit voll angerechnet.
Ganz wichtig ist uns, das Vertrauen unserer Versi-cherten in unsere Rentenpolitik wiederherzustellen. Da-mit hat es die alte Regierung, auch wenn Sie jetzt noch sosehr polemisieren, leider nicht so genau genommen.
Ich nenne dafür ein Beispiel: Mit dem Rentenreformge-setz 1999 sollte der Berufsschutz mit sofortiger Wirkung,ohne Übergangsregelung, abgeschafft werden, obwohlinsbesondere ältere Arbeitnehmer darauf vertraut hatten,im Falle von Berufsunfähigkeit eine Rente zu erhalten.Schon damals gab es eine Reihe kritischer Stimmen, dassdie Übergangsfristen zu kurz seien. Deshalb halte ich esfür richtig und wichtig, all jenen, die bei In-Kraft-Tretender Reform das 40. Lebensjahr bereits vollendet haben,diesen Berufsschutz auch weiterhin zu gewähren. Glei-ches gilt bezüglich der Anhebung der Altersgrenze fürSchwerbehinderte.Meines Erachtens, liebe Kolleginnen und Kollegen, istes uns gelungen, das Konzept für die Neuordnung derRenten wegen Erwerbsminderung, das im Rentenreform-gesetz 1999 formuliert war, sinnvoll zu ergänzen und wei-terzuentwickeln. Die Beibehaltung der Berücksichtigungder Arbeitsmarktsituation macht diese Reform sozial ver-träglicher. Durch die Vertrauensschutzregelungen beimBerufsschutz und bei der Anhebung des Rentenalters fürSchwerbehinderte schaffen wir Rechtssicherheit für dieVersicherten; das sind wir ihnen, den Bürgerinnen undBürgern, auch schuldig.Die Rente ist ein sehr sensibler Bereich, der Reformennur in einem breiten Konsens zulässt. Ich meine, das dar-gestellte Konzept ist konsensfähig und ein wichtiger Bei-trag zur Zukunftsfähigkeit unserer Rentenversicherung.Ich freue mich auf weitere Gespräche. Allerdings: DieQuadratur des Kreises ist nicht möglich: Beitragssatzsta-bilität und niedrige Beiträge – nach Möglichkeit nichthöher als 20 Prozent – und gleichzeitig Ausweitung vonLeistungen.
Wir müssen uns schon auf das einigen, was möglich ist,letztendlich zugunsten der zukünftigen Rentnerinnen undRentner und heutigen Beitragszahler.Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wol-len, dass die Verunsicherung der Rentner nicht weiterwächst. Vor allem diejenigen, die nicht mehr erwerbstätigsein können, brauchen Klarheit. Deshalb möchte ich Ih-nen, Herr Arbeitsminister, nach diesem Gesetzgebungs-verfahren eine Zustimmung in diesem Bereich in Aussichtstellen. Dies entspricht unserer Linie, die wir angekündigthaben und der wir treu bleiben, wann immer es möglichist, verantwortungsbewusst zu gemeinsamen Entschei-dungen zu kommen. Die wichtige Einzelregelung Reformder Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten ist natürlichnur ein Teil der gesamten Rentenkonzeptes. Wenn wirdies diskutieren, können wir nicht das andere außer Achtlassen.Gerade ist schon die Frage der Verunsicherung derRentner aufgeworfen worden. Ich sage Ihnen eines: Das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Erika Lotz11864
Vertrauen der Rentner haben Sie massiv beschädigt. DerVertrauensverlust hat auch einen Namen: Das ist nicht sosehr der Name des Bundesarbeitsministers als vielmehrder Name des Bundeskanzlers.
Wir und auch die Rentner in Deutschland erinnern unsnoch genau daran, dass er vor mehr als einem Jahr ver-sprochen hat: Ich stehe dafür, dass die Renten auch in Zu-kunft so steigen werden wie das Nettoeinkommen der Ar-beitnehmer; das ist ein Prinzip, das wir nicht antasten.
Das hat er nach der Wahl gesagt und 126 Tage später hater erklärt: Wir haben die Nettoformel für die nächstenJahre nur ausgesetzt, um wieder dauerhafte Sicherheit indie Rente zu bringen. – Das war der entscheidende Anstoßdafür, dass das Vertrauen in die Rentenversicherungmassiv beschädigt worden ist.
Das hat sich fortgesetzt. Ich nenne das StichwortÖkosteuer. Sie haben versprochen, die Einnahmen ausder Ökosteuer – bis zum Jahre 2004 etwa 33 Milliar-den DM – vollständig für die Finanzierung der Renten zurVerfügung zu stellen. Heute wissen wir, dass allenfalls dieHälfte davon zur Senkung der Rentenversicherungs-beiträge verwendet wird.
Die Kette der Unsauberkeiten setzt sich fort. Natürlichsind die Menschen in Deutschland verunsichert, wenn Siejetzt einen neuen, den vierten Entwurf für ein Rentenkon-zept vorlegen –
– beruhigen Sie sich und hören Sie zu – und ausnahmslosalle Verbände in Deutschland schwerwiegende Kritiküben und Mängel auflisten.
Noch nie war die Front der Ablehnung bei Rentenplä-nen so groß und so geschlossen wie bei den Plänen, dieSie vor kurzem mit einem Diskussionsentwurf vorgestellthaben.
Der Geschäftsführer des Verbandes der DeutschenRentenversicherungsträger, Prof. Dr. Ruland, sagt zu Ih-rer Reform: Letztlich ist nur die blümsche Reform durchdie riestersche Reform ausgetauscht worden – allerdingsmit einem Ergebnis, das weder für die Versicherten undihre Hinterbliebenen noch für die Rentenversicherungbesser ist.Der Präsident des VdK, Herr Hirrlinger, bedauert, dassdie Bundesregierung an ihrem Kurs festhält, und erteiltder Einführung einer sozialen Grundsicherung eine klareAbsage.
Lutz Freitag, Vorstandsmitglied der DAG, warf vorkurzem der rot-grünen Regierung „soziale Demontage“vor. Der Deutsche Städtetag lehnt Ihre Pläne rundweg ab.Möchten Sie noch mehr Stimmen hören? Ich kann Ihnennoch eine liefern.
Die DGB-Vizechefin Engelen-Kefer kritisiert empört:Diese Entwürfe sind das Gegenteil von Generationenge-rechtigkeit.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie unsschon nicht glauben, dann glauben Sie doch zumindestden kompetenten Experten, die sagen, dass die vorliegen-den Pläne nicht in Ordnung sind.
Ich nenne Ihnen in aller Kürze einige Probleme, dienoch nicht einmal in Ansätzen gelöst sind. Es gibt das Me-gaproblem Bevölkerungsentwicklung. Wenn man ver-schiedene Umstände bewertet – die Frage ist: WelcheEntwicklungen werden die Rente massiv und welche wer-den sie weniger massiv beeinflussen? –, dann wird dasMegaproblem Bevölkerungsentwicklung den größtenEinfluss ausüben. Das Gleichgewicht zwischen den Ge-nerationen wird kippen. Sie müssen darauf reagieren.Wenn die Zahl der Menschen der nachwachsenden Ge-neration um ein Drittel kleiner ist, dann muss man aufdiese Tatsache reagieren. Eine Reaktion heißt: Wir müs-sen Renten- und Familienpolitik vernetzt sehen. Dieeine ist ohne die andere nicht möglich.
Deshalb bestehen wir darauf, dass die zugesagten19,5 Milliarden DM für eine bessere Förderung von Fa-milien mit Kindern auch wirklich bei den Menschen an-kommen. Das ist uns ganz wichtig.Der Ausgleichsfaktor in der jetzigen Form ist einKürzungsfaktor und kann so nicht Bestand haben. IhrePläne führen zu der absurden Konsequenz, dass es in ei-nem bestimmten zeitlichen Fenster umso günstiger für je-manden wird, je früher er in Rente geht. Das hat einenachhaltige Vertrauensschwächung zur Folge. DieseÜberlegungen müssen vom Tisch.
– Hören Sie genau zu! Dabei können Sie noch etwas ler-nen, Herr Dreßen.Ein entscheidender Schwachpunkt ist die noch nichtgefundene Balance zwischen den Generationen. Sie wis-sen selbst, dass Sie das nicht gelöst haben. Wir könnenIhnen nicht zustimmen, wenn Sie einen Punkt, der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Johannes Singhammer11865
entscheidend für die Gewinnung des Vertrauens der jetzi-gen und künftigen Beitragszahler in die Generationenge-rechtigkeit ist, nicht zufrieden stellend regeln.Der nächste Punkt betrifft die so genannte Nettofor-mel, die Sie jetzt neu geschaffen haben. Diese „Nettofor-mel neu“ ist nicht die „Nettoformel alt“, sondern sie ist fürviele Rentnerinnen und Rentner eine Nettoverschlechte-rungsformel. Auch deshalb können wir Ihnen nicht dieHand reichen.
Der nächste Punkt betrifft die soziale Grundsiche-rung. Es geht einfach nicht, dass derjenige, der jahrzehn-telang seine Beiträge gezahlt hat – Versicherung bedeutetLeistung und Gegenleistung –, in einem bestimmten Be-reich schlechter als derjenige behandelt wird, der dieseBeiträge nicht gezahlt hat. Auch dies bewirkt einen Ver-trauensverlust der Rentenversicherungen und ist das Ge-genteil dessen, was wir uns wünschen.Lassen Sie mich noch einen anderen Sachverhalt an-sprechen. Wenn Ihnen wirklich an einem Konsens mitden Oppositionsparteien gelegen ist, dann unterlassen Siees, neue Hürden aufzubauen, die die Konsensbindung er-schweren. So bringen Sie zum Beispiel – unabhängig vonIhren Rentenplänen – einen Antrag ein, der eine gleicheBehandlung von homosexuellen Partnerschaften und vonEhe und Familie vorsieht.
Nun wissen Sie ganz genau, dass wir einem solchen Plannicht zustimmen werden. Warum bringen Sie dann diesenAntrag ein? Warum machen Sie das?
Angesichts all der schwierigen Fragen ist es doch nichtdie Existenzfrage der Rentenversicherung, ob es für denÜberlebenden in einer homosexuellen Partnerschaft einekleine oder eine große „Witwenrente“ gibt. Dies ist für dieLösung der Rentenproblematik nicht von entscheidenderBedeutung. Sie haben dies eingeführt, um von sich ausneue Hürden zu schaffen. Ich sage Ihnen: Wenn Ihnen aneinen Kompromiss gelegen ist, dann ziehen Sie diesenAntrag sofort zurück. Damit erleichtern Sie die Konsens-findung.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Die heutige Rentendebattegibt uns Gelegenheit, in aller Kürze auf Parallelproblemeder Beamtenversorgung hinzuweisen, was wahrschein-lich auch weniger Emotionen auslösen wird.
Es gibt vor allem Gelegenheit, auf eine Tatsache auf-merksam zu machen, die erstaunlicherweise in der Öf-fentlichkeit kaum wahrgenommen worden ist.Die alte Koalition hat in der letzten Legislaturperiodedurch Einführung der so genannten VersorgungsrücklageVorsorge für die Bewältigung der steigenden Pensions-zahlungen getroffen. Diese Versorgungsrücklage habenSie bei Ihrer Regierungsübernahme belassen. Das warklug.
Es ist Ihr gutes Recht, dass Sie nun versuchen, mit demGesetzentwurf, der heute auf der Tagesordnung steht, anDetails nachzubessern. Aber was gut gemeint ist, ist nichtimmer gut. Dies trifft leider häufig auf Ihre Politik zu.Dies trifft aber auch auf den Gesetzentwurf zur Neuord-nung der Versorgungsabschläge zu, den Sie heute einge-bracht haben.
Die F.D.P.-Fraktion begrüßt es zwar, wenn dienst-unfähige und schwerbehinderte Beamte bei vorzeitigerInanspruchnahme der Versorgung besser gestellt werdensollen als bisher. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelungbevorzugt aber die bereits in jungen Jahren ausgeschiede-nen Beamten zulasten derjenigen, die über JahrzehnteDienst getan haben. Wenn Ihre Regelung Gesetz würde,wäre folgende Situation denkbar: Derjenige, der zum Bei-spiel fünf Jahre nach Eintritt in das Beamtenverhältnisdienstunfähig wird, wird durch fiktiv hinzugerechneteDienstjahre bis zum Pensionseintrittsalter besser gestelltals derjenige, der sich mit Ende 50 frühpensionieren las-sen und deshalb Versorgungsabschläge hinnehmen muss.Das finden wir ungerecht.
Wir schlagen daher einen anderen Lösungsansatz vor,nämlich den Ausbau des Instituts der Teildienstfähigkeit.Mit der Versorgungsreform in der letzten Legislaturperi-ode ist dieses Institut eingeführt worden. Wir haben dieBundesregierung damals zugleich ermächtigt, durchRechtsverordnung die Gewährung eines Zuschlags zu denDienstbezügen in diesen Fällen der Teildienstfähigkeit zuregeln.Hier müsste die rot-grüne Regierung endlich tätig wer-den, um dieses Institut attraktiv zu gestalten. Das würdenämlich sehr wahrscheinlich die Zahl der Frühversor-gungsfälle senken und den Beamten, die noch, wenn auchvermindert, in ihrem Beruf tätig sein wollen, eine Per-spektive geben. Vielleicht können wir Sie in den Aus-schussberatungen davon überzeugen, diesen Weg anstelleder von Ihnen heute vorgeschlagenen ungerechten Rege-lung zu wählen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Johannes Singhammer11866
Ich erteile dem Kol-
legen Hans-Peter Kemper für die sozialdemokratische
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stadler hat ge-rade darauf hingewiesen, dass es neben den Veränderun-gen in der Rentenversicherung auch noch Veränderungenin der Beamtenversorgung gibt. Er hat den vorliegendenGesetzentwurf kritisiert. Lieber Max Stadler, unser vor-liegender Gesetzentwurf ist nicht nur klug, wie Sie fest-gestellt haben, sondern er ist auch sozial ausgewogen, undzwar wesentlich ausgewogener als der, den Sie in der letz-ten Legislaturperiode vorgelegt haben.
Die Beamtenversorgung steht in einem ähnlichen Um-fang wie die anderen Alterssicherungssysteme vor demProblem steigender Kosten. Deswegen ist – das kann ichauch kurz abhandeln – eine zeitgleiche und inhaltsähnli-che Übernahme der Regelung bei der Rentenversicherungangestrebt. Die Gründe sind klar: die demographischeEntwicklung, die seit geraumer Zeit sehr stark anstei-gende Zahl von Frühpensionierungen und die starke Per-sonalvermehrung in den 60er- und 70er-Jahren. Die Be-amten, die damals eingestellt worden sind, nähern sichjetzt – mit erheblichen Belastungen für Bund, Länder undKommunen – dem Pensionierungsalter.Wir haben die Regelung zur Beamtenversorgung – sieerfolgte in enger Anlehnung an Bestimmungen in derRentenversicherung –, die 1998 beschlossen worden ist,für zwei Jahre ausgesetzt, um dienstunfähige undschwerbehinderte Beamte zu schützen. Das war richtig.Diese Regelung musste ausgesetzt werden, weil die vonder damaligen Regierung vorgelegte Regelung eine er-hebliche soziale Schieflage beinhaltete. Diese Aussetzungläuft Ende des Jahres aus. Wir hatten vor der Wahl ver-sprochen, Ungerechtigkeiten in dem erwähnten Gesetzzurückzunehmen und ein eigenes, sozial ausgewogenesGesetz vorzulegen. Wie in anderen Bereichen auch: DieseKoalition löst nach der Wahl ein, was sie vor der Wahl ver-sprochen hat.
Die Beamtenversorgung wird damit in einem wichti-gen Bereich an die rentenrechtlichen Regelungen ange-glichen. Das ist nach meinem Dafürhalten ein Stücksoziale Gerechtigkeit. Ich will nur die wichtigsten Eck-punkte noch einmal ansprechen. Ohne Zweifel ist es not-wendig, den Trend der Frühpensionierung zu stoppen. Eswäre unehrlich, wenn so getan würde, als wenn dabeiKostenüberlegungen im Hintergrund ständen. Sie gibt es;das ist klar. Die Einsparungsbemühungen finden statt. Wirbegrüßen sie. Auch begrüßen wir es, wenn die Bundes-regierung mit diesen Maßnahmen den Einsparungs-bemühungen etwas näher kommt.Ein richtiger Schritt könnte sicherlich sein, Versor-gungsabschläge einzuführen, und zwar nicht im Sinne ei-ner Bestrafung von frühpensionierten Beamten, sondernim Sinne eines Ausgleichs für die längere Laufzeit derPensionszahlungen bei Frühpensionierten.Ich will noch mal auf die Anrechnungsverbesserungenzu sprechen kommen, die Herr Stadler gerade erwähnthat. Um bei jungen Beamtinnen und Beamten mit wenigDienstjahren, die dienstunfähig oder schwerbehindertwerden, oder bei Hinterbliebenen von frühzeitig verstor-benen Beamten die Versorgungsabschläge zu mildern,wird die Zurechnung deutlich verbessert. Das ist nichtfalsch. Wir sind stolz darauf; denn das ist eine sozialeKomponente, die wir in unser Gesetz eingebaut und dieSie damals vergessen haben.Diese Abschlagsregelung gilt nicht bei Dienstunfällen.Das ist nicht erforderlich, weil bei Dienstunfällen über-haupt keine Abschläge erfolgen. Wir haben eine Über-gangsregelung eingebaut. Neben der zweijährigen Aus-setzung für lebens- und dienstältere Beamte werdenAngehörige der Jahrgänge von 1938 bis 1941 ausgenom-men. Wenn sie 40 Dienstjahre oder mehr gearbeitet haben,dann greifen die Versorgungsabschläge bei ihnen nicht.Bei den Schwerbehinderten ist es ebenso. Diejenigen, die50 Jahre alt sind und zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretensdes Gesetzes schon schwerbehindert waren, genießen ei-nen Vertrauensschutz. Ich denke, das ist auch im Sinne dersozialen Gerechtigkeit und des Behindertenschutzes sehrwichtig.
Wir haben einen wichtigen zusätzlichen Punkt einge-bracht, der in der Vergangenheit immer wieder zu Är-ger geführt hat: Wir wollen Anreize schaffen, die esfrühzeitig pensionierten Beamten ermöglichen, aus demvorgezogenen Ruhestand in den aktiven Dienst zurück-zukehren. Bei reaktivierten Beamten wird in Zukunft si-chergestellt, dass sie im Falle einer erneuten Zur-Ruhe-Setzung mindestens das früher bezogene Ruhegehalterhalten. Damit wird das Risiko einer erneuten Dienst-unfähigkeit nicht einseitig bei den gutwilligen und ar-beitsbereiten Beamten abgeladen. Das ist auch eine Maß-nahme zur Kostenvermeidung, eine Maßnahme, die derFrühpensionierung entgegen wirken kann.Der vorliegende Gesetzentwurf enthält erste Schrittezur wirkungsgleichen Übernahme von Rentenstruktur-reformen bei der Beamtenversorgung. Wir werden auch inZukunft dafür sorgen, dass weitere Schritte weitgehendim Gleichklang der Systeme erfolgen, wenngleich unsklar ist, dass es systembedingte Unterschiede gibt, die wirberücksichtigen werden.Die einzelnen Maßnahmen, nämlich Aussetzung fürzwei Jahre, die Herausnahme der dienst- und lebensälte-ren Beamtinnen und Beamten, die Sonderregelungen fürSchwerbehinderte im Alter von mindestens 50 Jahren undder verbesserte Schutz bei der Wiedereinstellung reakti-vierter Beamter, machen aber eins deutlich: SchwierigeStrukturveränderungen sind möglich, wenn sie sozial aus-geglichen und gerecht gestaltet werden. Das unterscheidetunseren heutigen Gesetzentwurf von dem Gesetzentwurf,den Sie in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11867
All das wird auch in Zukunft die Leitlinie unseres Han-delns sein.Vielen Dank.
Als letzter Rednerdieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kol-lege Gerald Weiß.Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letz-ter Redner dieser Debatte will ich einige Aspekte der Vor-rednerinnen und Vorredner aufgreifen.Frau Schwaetzer, Ihrer Kritik ist zuzustimmen: Es istfür das parlamentarische Verfahren unangenehm undnicht zu akzeptieren, dass die Rentenreform im Parlamentin Stücken abgeliefert wird. Das ist nicht in Ordnung. Fürdieses missglückte Timing und diese missglückte Steue-rung des Reformprozesses sind die Regierung und die Ko-alition verantwortlich.
Wer hat denn das sehr brauchbare Rentenreformgesetz1998/1999 ausgesetzt?
Wer hat sich ein unglaubliches Rentenhickhack und einenwillkürlichen Zickzackkurs von in keiner Weise zu ak-zeptierenden Hilfs- und Notmaßnahmen – wie Anpassungder Rente nach der Inflationsrate – geleistet? Das wardoch diese Regierung.
Das hat mindestens zwei Jahre Zeit, auf jeden Fall aberunglaublich viel Vertrauen in der Republik, gekostet.
Jetzt wird uns zugemutet, ein Teilstück, das wichtig ist,zu bewerten, ohne dass wir die Chance haben, das Ganzeim Nebel der Nachbesserungen, der Diskussionsentwürfeund der vielfältigen, immer wieder neuen Konzepte – beiRiesters siebtem Entwurf habe ich aufgehört mitzuzäh-len – hinreichend zu erkennen.
Dieses Teilstück wird uns inhaltlich wahrscheinlich nichtso viel Ärger machen; denn Sie haben ja mit Recht fest-gestellt: In den Grundzügen ist das Gesetz ähnlich demblümschen Reformansatz zur Erwerbs- und Berufsun-fähigkeit.Warum haben Sie denn damals auf totale Blockade undSabotage geschaltet,
wenn man heute alles akzeptieren kann, was Blüm ge-macht hat, nämlich eine Differenzierung der Rente ange-sichts der modernen Strukturen mit ihren verändertenMöglichkeiten bei Arbeit, Rehabilitation und Kommuni-kation vorzusehen und eine gestaffelte Erwerbsminde-rungsrente zu schaffen? Sie haben damals hinsichtlich derDifferenzierungen, die Blüm vorgesehen hatte, den Un-tergang des Sozialstaates ausgerufen und jetzt nehmen Siegenau diese Staffelung, diese Differenzierung vor, dieBlüm gewollt hat. Ihre Politik entlarvt sich somit imNachhinein.Wenn Sie jetzt sagen, es gebe Unterschiede in wichti-gen Details, so stimmt das. Wir sind bereit, weiter zu dis-kutieren und das Konzept weiterzuentwickeln. Wenn ichmir ansehe, was Sie heute hinsichtlich der Abschläge al-les machen, weil unser Rentensystem neu justiert werdenmüsse und eine neue Altersschwelle berücksichtigt wer-den müsse, dann muss man doch erkennen, dass auch dieübrigen Renten auf diese neue Altersgrenze justiert wer-den müssen. Jetzt, weil es Ihre Regierung macht, ist esnicht mehr des Teufels. Sie gestehen auch zu, dass die Ver-sicherten die volle EM-Rente erhalten, wenn sie selbst-ständig waren, sowie vieles andere mehr. Sie haben sichbewegt; – das erkennen wir an. Diese jetzt vorliegendeReform ist in den wesentlichen Bausteinen von der vonBlüm vorgelegten kaum mehr zu unterscheiden. Das be-friedigt uns, es befriedigt uns aber nicht, dass wir Jahre imDissens gestritten haben, und dieser Baustein jetzt imKonsens eingefügt wird.
Frau Schwaetzer, ich möchte einen von Ihnen ange-sprochenen Aspekt aufgreifen. Wenn Sie einen Beitrags-satz von 18 Prozent fordern – ich gebe ja zu, dass 18 Pro-zent für Sie eine magische Zahl zu sein scheinen –,müssen Sie aber auch sagen, was das für das Rentenni-veau bedeutet. Das hätte eine Rente zur Folge, die sichvon der Sozialhilfe kaum mehr unterscheiden würde. Ichfrage mich, ob dann nicht viele Menschen die beitragsloseForm der Alterssicherung, nämlich die Sozialhilfe,wählen und nicht mehr die Rente, die auf lebenslanger Ar-beit und lebenslanger Beitragszahlung fußt. Das ist docheine unglaubliche Weichenstellung in Richtung auf Al-tersarmut. Das ist genauso wenig akzeptabel, wenn mannur auf das andere Ende schaut.
Wir sagen: Beides muss stimmen. Der Alterslohn mussleistungsgerecht sein und sich deutlich von der Sozialhilfeunterscheiden, er ist durch Lebensleistung gedeckt. Aberauch die Beitragsleistungen der Aktiven müssen in Bezugauf die Belastung gerecht sein. Beides muss stimmen, dassind die entscheidenden Weichenstellungen der Reform.Frau Göring-Eckardt, ich möchte auf Ihre Ausführun-gen zur Anpassungsformel eingehen: Wenn Sie sagen, inder neuen Rentenformel sei die neue Nettobasis der Bei-trag der Alten und der Ausgleichsfaktor sei der Beitrag derJungen, muss ich Ihnen vorhalten: Diese verminderte Net-tobasis wird sich doch später in dem gesamten Systemfortsetzen. Die heute Jungen, die im Jahre 2030 verrentetwerden, werden nach Ihrem Konzept noch ein Renten-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Hans-Peter Kemper11868
niveau von durchschnittlich 61 Prozent haben. Das istdoch völlig inakzeptabel, wenn die Jungen unser solidari-sches Rentensystem weiter unterstützen sollen.
Dieser Ausgleichsfaktor – er ist willkürlich – und dieneue Rentenerrechnungsbasis sind reine Rechengrößen.Man hatte ein Ziel und hat sich dort hingerechnet. Das,was Blüm – vielleicht wird sich diese große Rentenreformden von Blüm aufgestellten Grundzügen wieder annä-hern – vorgesehen hat, hat seine systematische Grundlageim demographischen Faktor gehabt. Der Demographie-faktor war an die Lebenserwartung gekoppelt. Ein länge-res Leben hat einen längeren Rentenbezug und damitmehr Lebensrente zur Folge. Der Beitrag der Älteren war,dass ihre Renten etwas langsamer ansteigen, aber dochdeutlich an die Löhne gekoppelt bleiben, sodass die Jun-gen nicht überfordert werden. Das war generationenge-recht. Das müssen wir wieder einführen, wenn die Reformgerecht und akzeptabel sein soll.Frau Lotz, wenn Sie sagen, Sie hätten eine guteÜbergangsfrist und eine Vertrauensschutzregelung für dieBerufsunfähigkeitsrente geschaffen,
muss ich Ihnen vorhalten, was in der gleichen DebatteFrau Göring-Eckardt gesagt hat. Sie hat das als Prestige-rente, die wir jetzt abschaffen werden, bezeichnet. DieÜbergangsregelung, die Sie einführen, bedeutet, dass es25 bis 30 Jahre lang drei Renten in diesem Teil der Al-terssicherung geben wird, nämlich die volle Erwerbsmin-derungsrente, die halbe Erwerbsminderungsrente und da-neben noch, auslaufend über drei Jahrzehnte, dieBerufsunfähigkeitsrente.Es ist nur ein halber Vertrauensschutz. Sie wollen dieHöhe der Berufsunfähigkeitsrente auf zwei Drittel sen-ken. Dann wird sie ihre Funktion verlieren und es wirdkein voller Vertrauensschutz mehr sein. Deshalb sagenwir: Gehen wir auf die volle Höhe, machen wir den Über-gang kürzer. Das wäre ein qualifizierter Vertrauensschutz.Ich sehe, meine Redezeit ist zu Ende. Ich rufe Ihnen,Herr Minister, nur noch eines zu: Ordnen Sie die Rah-menbedingungen für die betriebliche Alterssicherung so,dass sie wieder attraktiver wird. Was bisher vorgelegtwurde, taugt nicht sehr viel.
Wir müssen dazu kommen, dass mehr Betriebsrenten ge-zahlt werden können. Das wäre für den Fall der Erwerbs-unfähigkeit ein zusätzliches Sicherungselement.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/4230 zur federführenden Beratung an denAusschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitbe-ratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaftund Forsten, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauenund Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, denRechtsausschuss, den Finanzausschuss und, gemäß § 96der Geschäftsordnung, den Haushaltsausschuss zu über-weisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4231 soll an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-wiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? – Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie dieZusatzpunkte 6 und 7 auf:4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulBreuer, Ulrich Adam, Georg Janovsky, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUZukunft der Bundeswehr– Drucksache 14/3775 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Soldatengesetzes und andererVorschriften
– Drucksache 14/4062 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidiLippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSZukunft durch Abrüstung – Für eine grund-legende Reform der Bundeswehr– Drucksache 14/4174 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussZP 6 Abgabe einer Erklärung der BundesregierungNeuausrichtung der BundeswehrZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
der Fraktion der F.D.P.Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern –Wehrpflicht aussetzen– Drucksache 14/4256 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschuss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Gerald Weiß
11869
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungeineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unmittelbarnach meinem Amtsantritt habe ich eine umfassende Be-standsaufnahme bei der Bundeswehr veranlasst. DieseBestandsaufnahme hat ein klares Ergebnis. Ich kleide die-ses Ergebnis in ein Zitat:Diese Entwicklung würde es den Streitkräften immerschwerer machen, ihre sich aus der NATO-Strategieergebenden Aufgaben in der Zukunft zu erfüllen. Siewürden daher, wenn nichts geändert würde, in Zu-kunft ihrer sicherheitspolitischen Aufgabe nichtmehr genügen können. Um die Struktur der Bundes-wehr an die NATO-Strategie anzupassen, ihre heuti-gen Schwächen zu beseitigen und künftigen Ent-wicklungstendenzen Rechnung zu tragen, warendaher Grundsatzentscheidungen für eine neue Wehr-struktur zu treffen und Maßnahmen zu ihrer Reali-sierung einzuleiten.Das sagte der damalige Bundesminister der Verteidigung,Georg Leber, in der Sitzung des Deutschen Bundestagesam 29. November 1973.Wir stehen heute vor der gleichen Herausforderung.Die Bestandsaufnahme hat nämlich ergeben, dass dieBundeswehr in ihrem geltenden konzeptionellen undstrukturellen Rahmen kein Entwicklungspotenzial mehrhat. Sie ist falsch strukturiert. Sie kann ihre bisherigenAufgaben nicht vollständig erfüllen;
geschweige denn kann sie die neuen Fähigkeiten erwer-ben, die sie auf der Grundlage fortlaufender Auslands-einsätze und auf der Grundlage der sicherheitspolitischenVerpflichtungen im Bündnis und in Europa und gegen-über den internationalen Organisationen besitzen muss.Die Entwicklung der letzten zehn Jahre ist Folge einerPolitik, die mit „Strecken, Schieben, Streichen“ eherbemäntelt als beschrieben ist. In der Zeit zwischen 1994und 1998 sind der Bundeswehr auf der Grundlage des28. Finanzplans aus dem Jahre 1994 gegenüber der Fi-nanzplanung insgesamt 4,2Milliarden DM entzogen wor-den. Auf der Grundlage des 29. Finanzplanes, beschlos-sen 1995, sind der Bundeswehr im Vergleich zwischenFinanzplanung und Haushalts-Ist 5,7 Milliarden DM ent-zogen worden.Die Investitionen in die Ausrüstung der Bundes-wehr waren in den Jahren 1996, 1997 und 1998 uminsgesamt 6,1 Milliarden DM niedriger, als es in denHaushalten für 1999 und 2000 eingeplant und im Haus-haltsansatz für 2001 vorgesehen war. Im Zeitraum von1990 bis 1998 sank der Anteil der investiven Ausgaben imVerteidigungshaushalt auf 23,7 Prozent. Das ging zulas-ten der notwendigen Modernisierung der Ausrüstung derStreitkräfte. Hinzu kommt die Tatsache, dass vieleGroßprojekte wie insbesondere der Eurofighter zum Zeit-punkt der Beschaffungsentscheidung nicht wirklich be-schaffungsreif waren. Deshalb müssen wir uns allein indiesem Bereich mit einem erheblichen finanziellen Risikoherumschlagen.Ergebnis: Die Bundeswehr hat von ihrer Substanz le-ben müssen. Sie verfügt in manchen Bereichen über eineveraltete Ausrüstung. Sie hat nur eine mangelnde Attrak-tivität für den von ihr benötigten Nachwuchs. Deshalbwurden die letzten zwei Jahre genutzt, um eine umfas-sende Reform der Bundeswehr auf gesicherter Grund-lage in Gang zu setzen. Die Bundesregierung hat am14. Juni 2000 die Eckpfeiler für eine Erneuerung der Bun-deswehr von Grund auf verabschiedet. Die Entschei-dungsgrundlagen wurden systematisch, aber auch zügigund im Rahmen eines breit angelegten Ansatzes bis zumgenannten Entscheidungsdatum erarbeitet, und zwar aufder Grundlage einer Bestandsaufnahme. Die Streitkräftewerden wie die Wehrverwaltung von Grund auf erneuert.
Sie werden personell, strukturell und materiell auf dieAufgaben der nächsten 10 bis 15 Jahre ausgerichtet. Dasliegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
Auch die Bundeswehr muss in der Lage sein, den Ver-pflichtungen der Bundesrepublik Deutschland in Europa,im Bündnis und gegenüber den internationalen Organisa-tionen, namentlich den Vereinten Nationen, gerecht zuwerden. Dafür werden die Streitkräfte auf ihre Kernfähig-keiten konzentriert und gleichzeitig ihre Effizienz undWirtschaftlichkeit mit Blick auf die Erfüllung ihrer Auf-gaben nachhaltig erhöht.Mit dem Bundesminister der Finanzen ist eine Verein-barung getroffen worden, die nicht nur den Haushalt 2001betrifft, sondern auch die mittelfristige Finanzplanung.Der Verteidigungshaushalt wird im nächsten Jahr auf46,8 Milliarden DM ansteigen.
– Verehrter Herr Kollege Nolting, Sie nennen das Umbu-chungen.
Ich möchte Ihnen wie schon gestern im Verteidigungs-ausschuss sagen
– natürlich, das weist auf eine gewisse Unbelehrbarkeithin –:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters11870
Sie haben eine Haushaltspolitik zu verantworten, in derenRahmen 1998 für den damals laufenden Einsatz in Bos-nien im Verteidigungshaushalt 50 Millionen DM einge-plant wurden, und zwar mit der Maßgabe, dass alle Mittelfür diesen Einsatz erwirtschaftet werden mussten.
Das hat dazu geführt, dass aus dem laufenden Einzel-plan 14 weit über 400 Millionen DM erwirtschaftet wer-den mussten.
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass die Kos-ten für solche Einsätze in den Haushaltsansätzen 1999und 2000 gesondert veranschlagt worden sind und dassdadurch der laufende Betrieb der Bundeswehr nicht be-lastet wurde.
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass aus diesenHaushaltsansätzen auch Investitionen für weitere Aus-landseinsätze getätigt werden konnten. Ich halte es im In-teresse von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheitauch für einen großen Fortschritt, dass die für die damali-gen Einsätze veranschlagten 2 Milliarden DM jetzt voll-ständig dem Bundesministerium für Verteidigung zur ei-genständigen Bewirtschaftung zurückgegeben werdenund dass der Bundeswehr dadurch folglich mehr Pla-nungssicherheit und mehr finanzielle Bewegungsfreiheitgegeben wird als vorher.
Im Übrigen halte ich es auch für einen großen Fort-schritt, Herr Kollege Nolting, dass die Bundeswehr 1999das erste Mal ein Haushaltsjahr erlebt hat, in dem die Aus-gaben des Einzelplanes 14 über dem vom Parlament be-schlossenen Haushaltssoll gelegen haben, und zwar dankder beschlossenen Rückeinnahmevermerke und Verstär-kungsmöglichkeiten für den Einzelplan 14. Das unter-scheidet sich fundamental von der Haushaltspolitik undvon der Sicherheitspolitik, die Sie in den 90er-Jahren be-trieben haben.
Sie haben die Bundeswehr immer wieder mit Haus-haltszahlen bedient, die in der Realität zu keinem einzigenZeitpunkt eingehalten worden sind.
Wir haben der Bundeswehr im Haushaltsplan 1999 insge-samt 47 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Durch dieVerstärkungsmöglichkeiten haben wir tatsächlich 48 Mil-liarden DM verfügbar gemacht. Das wird auch in dennächsten Jahren fortgesetzt. Es ist das Ergebnis der Ver-einbarungen mit dem Finanzminister, über die ich sprach.Konkret bedeutet das: Die Effizienzgewinne aus höhe-rer Wirtschaftlichkeit, aus der Zusammenarbeit mit derWirtschaft und aus gesenkten Betriebskosten bleiben zu100 Prozent im Einzelplan 14. Die Ergebnisse der Nut-zung neuer Spielräume durch neue Finanzierungsartenbleiben zu 100 Prozent im Verteidigungshaushalt. Alleindie Summe aus diesen beiden Maßnahmen wird im Jahre2001 vermutlich in einer Größenordnung von 500 bis600Millionen DM liegen, die zusätzlich erschlossen wer-den können.Die Einnahmen aus Erlösen durch Vermietung, Ver-pachtung oder Verkauf bleiben zu 80 Prozent im Etat desBundesministers der Verteidigung. Ich sage im Rahmendieser Regierungserklärung: Ich lehne es ab, aus Haus-haltsgründen möglichst schnell möglichst viel zu ver-äußern. Ich halte es für wirtschaftlich wesentlich ver-nünftiger, nachhaltig die Kostenstrukturen innerhalb derBundeswehr zu verbessern, die Kooperation mit der Wirt-schaft auszubauen und dauerhaft eine solide Grundlagefür die Bundeswehr, auch in finanzieller Hinsicht, zu ge-währleisten, als durch hektische Verkaufspolitik schein-bare Erfolge kurzfristig zu erzielen, die keinen nachhalti-gen Charakter haben. Darauf wird bei der Frage derEinlösung dieser Vereinbarung sorgfältig geachtet wer-den.Da Sie immer wieder Zweifel daran äußern, ob das al-les finanziell seine Richtigkeit hat, will ich Sie mit Fol-gendem vertraut machen. Ausweislich des Finanzberich-tes der Bundesregierung sind seit 1991 Liegenschaften imWert von fast 22 Milliarden DM veräußert worden. Eingroßer Teil dieser 22 Milliarden DM – 15 Milliarden DMim Westen, knapp 7 Milliarden DM im Osten – entstandaus frei gewordenen Liegenschaften der Bundeswehr.Wenn Sie damals mit dem Finanzminister eine Vereinba-rung gehabt hätten, so wie sie jetzt besteht, dann wäre esim laufenden Haushaltsvollzug nicht notwendig gewesen,der Bundeswehr immer wieder Mittel zu entziehen. Dannwären diese Lücken nicht entstanden. Das ist der eineHinweis, den ich Ihnen geben möchte.Der zweite Hinweis, den ich Ihnen geben möchte: ImLaufe der nächsten zehn Jahre ist nach geltender Finanz-planung im Bereich der Informationstechnologie alleindurch reine Kommunikationskosten ein Betrag von 10 bis11 Milliarden DM in den Betriebskosten, in den Ausga-ben veranschlagt worden. Wer mit Unternehmen aus die-sem Sektor redet, weiß, welche Rationalisierungspoten-ziale hier liegen. Uns liegen Angebote auf dem Tisch, diein die Richtung von mindestens 2,5 Milliarden DM senk-barer Betriebskosten gehen.Dritter Hinweis. Im Bereich der Bekleidungswirtschaftder Bundeswehr sind für die nächsten zehn Jahre Ausga-ben von 5 bis 6 Milliarden DM geplant. Jeder, der mit Un-ternehmen aus diesem Bereich redet, ob das die Logistik,die Bekleidungswirtschaft oder andere sind, sagt Ihnen,dass Einsparungen von mindestens 10, vermutlich sogar20 Prozent erzielbar sind. Bezogen auf die Gesamtausga-ben in den nächsten zehn Jahren reden wir also über Be-träge im informationstechnischen Bereich von mindes-tens 2,5 Milliarden DM zu senkender Betriebskosten, imBereich der Bekleidungswirtschaft von mindestens 500bis 600 Millionen DM zu senkender Betriebskosten.Welchen Unsinn Sie betrieben haben, will ich Ihnen aneinem vierten Beispiel verdeutlichen. Sie hatten geplant,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Rudolf Scharping11871
für die Bundeswehr Bürstenwaschanlagen zu bauen. Dassind jene Anlagen, die man von den Tankstellen kennt.Das Dumme ist: Sie haben übersehen, dass die Fahrzeugeder Bundeswehr in der Regel Aufbauten und anderes ha-ben, sodass sie durch eine normale Bürstenwaschanlagenicht durchgefahren werden können. Ergebnis: Weit über50 Prozent des Fahrzeugbestandes der Bundeswehr müs-sen trotzdem weiterhin von Hand gewaschen werden.
Sie haben damit Investitionen in fast dreistelliger Millio-nenhöhe sinnlos in den Sand gesetzt.
Sie haben in Kauf genommen, dass eine Auslastung vongerade einmal 20 Prozent erfolgt. Deshalb habe ich im In-teresse einer nachhaltigen Modernisierung der Streit-kräfte gesagt: Diesen Quatsch werden wir nicht fortset-zen. Die 276 Millionen DM, die damals von Ihnen imZusammenhang mit diesem Kuriosum eingeplant waren,sind schlicht gestrichen. Sie werden in die Modernisie-rung der Streitkräfte gesteckt, anstatt durch solchen be-triebswirtschaftlichen Unsinn verschleudert zu werden.
Unter dem Strich gewinnen wir mit diesen Maßnahmen ab2001 finanzielle Gestaltungsspielräume in erheblichemUmfang. Wir werden sie, wie gesagt, vollständig für dieErneuerung der Ausrüstung nutzen.Die Grobausplanung, die von den Streitkräften vor-genommen worden ist, wurde mir in ihrer abschließendenForm zu Beginn dieser Woche vom Generalinspekteurvorgelegt. Die wesentlichen Ergebnisse sind in einer klei-nen Broschüre zusammengefasst, die präzise dem Inhaltder Unterrichtung des Kabinetts entspricht. Diese Infor-mationen sind gestern allen Abgeordneten des DeutschenBundestages zugeleitet worden. Mit Blick auf diese In-formationen beschränke ich mich auf einige ergänzendeHinweise.Die Organisation des Bundesministeriums der Ver-teidigung wird durch die Einführung eines Einsatzratesund eines Rüstungsrates unter dem Vorsitz des Generalin-spekteurs sowie mit dem Aufbau eines Leistungscontrol-lings und mit der bereits erfolgten Bestellung eines IT-Di-rektors deutlich verbessert. In der neuen Streitkräftebasiswerden künftig alle den Teilstreitkräften gemeinsamenAufgaben wahrgenommen. Querschnittaufgaben undAusbildung werden zusammengefasst, der Sanitätsdienstgrundlegend umgestaltet.Entgegen mancher Vermutung – auch heute in derPresse – füge ich hinzu: In der Streitkräftebasis und mitBlick auf die logistischen Systeme der Bundeswehr wer-den zwei Missstände beseitigt. Der eine Missstand bestehtin 360 unterschiedlichen informationstechnischen Inseln,die ich alle vorgefunden habe. Sie sind betriebswirt-schaftlich unverantwortlich teuer und sorgen leider auchnoch dafür, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben nicht effi-zient wahrnehmen können. 360 informationstechnischeInseln haben wir identifiziert!
Wir brauchen aber eine gemeinsame informationstech-nische Grundlage.Herr Kollege Schmidt, wenn Sie dazwischenrufen „Fürjeden Tag eine“, dann fordere ich Sie auf, sich mit den fürdie Bundeswehr leider sehr nachteiligen Ergebnissen Ih-rer Regierungspolitik etwas seriöser als mit einem sodümmlichen Zwischenruf auseinander zu setzen.
Als Beispiel für einen zweiten Missstand verweise ich da-rauf, dass wir auch in der Logistik höchst unterschiedli-che Systeme haben, die teuer, unwirtschaftlich und imRahmen der Aufgabenwahrnehmung ineffizient sind.Vor diesem Hintergrund werden wir in der Streitkräfte-basis und gemeinsam mit der Gesellschaft für Entwick-lung, Beschaffung und Betrieb all das identifizieren, wasnicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört. Das, wasnicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört, wird– einschließlich der Wahrnehmung logistischer Aufga-ben – der Kooperation mit derWirtschaft geöffnet.
Deshalb verhandeln wir zurzeit mit dem Bundesverbandder Deutschen Industrie und mit dem Transportgewerbeüber einen gemeinsamen Transport- und Logistikverbundfür die Bundeswehr in Kooperation mit der Wirtschaft.Deshalb verhandeln wir mit der Wirtschaft über dieWahrnehmung gemeinsamer Aufgaben im Bereich der in-formationstechnischen Ausbildung und werden bis Mittedes nächsten Jahres mindestens fünf Kompetenzzentrenfür Informationstechnik gemeinsam mit der Wirtschaftgebildet haben. Deshalb verhandeln wir mit der Wirt-schaft über gemeinsame Betriebsgesellschaften von derInformationstechnik über Bekleidung bis hin zu anderenThemen. Wir tun dies immer mit dem Ziel, die Wirt-schaftlichkeit, die Effizienz und die Kostengunst in derBundeswehr zu erhöhen, bestimmte Aufgaben gemein-sam mit der Wirtschaft wahrzunehmen und unseren Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern sichere, hoch qualifizierteund mit besseren beruflichen Perspektiven verseheneArbeitsplätze bieten zu können.
Im Übrigen erhalten Heer, Luftwaffe und Marineschlanke Führungsstrukturen; sie werden auf die Wahr-nehmung der Einsatzaufgaben konzentriert.Meine Damen und Herren, der Präsenzumfang derStreitkräfte wird 258 000 Soldaten betragen. Hinzukommen 22 000 Dienstposten für ausschließlich zivilbe-rufliche Qualifizierung und 2 000 Wehrübungsplätze, de-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Rudolf Scharping11872
ren Zahl im Zuge der Feinausplanung noch im Einzelnenzu überprüfen und danach detailliert festzulegen seinwird.Der Präsenzumfang wird sich aus Einsatzkräften undeiner militärischen Grundorganisation zusammensetzen,die im Verbund auch die Aufwuchsfähigkeit für Landes-und Bündnisverteidigung sicherstellen kann und Bünd-nisaufgaben wahrnimmt. Die bisherige Trennung zwi-schen Krisenreaktionskräften und Hauptverteidigungs-kräften wird aufgehoben. Sie ist unzweckmäßig.
Die Zahl der Einsatzkräfte wird auf 150 000 Soldatenerhöht und damit im Vergleich zu heute fast verdreifacht.Mindestens jeder zweite – nicht wie bisher nur etwa jedersechste – Soldat wird also für Einsatzaufgaben unmittel-bar zur Verfügung stehen.Im Rahmen dieser Struktur wird die Bundeswehr künf-tig 200 000 Berufs- und Zeitsoldaten haben, also 12 000mehr als zurzeit. Durch diese neue Zielgröße werden wireinen kontinuierlichen Aufwuchs erreichen und im Übri-gen 80 000 Dienstposten für Grundwehrdienstleistendehinzufügen, was im Ergebnis jährlich zu mehr als100 000 Einberufungen führen wird. Damit beträgt derFriedenspersonalumfang der Bundeswehr 360 000 Men-schen, einschließlich der in der neuen Struktur für not-wendig gehaltenen 80 000 bis 90 000 Dienstposten – dasWort „Dienstposten“ verwende ich ausdrücklich – für zi-vile Mitarbeiter.Damit wird die Bundeswehr in die Lage versetzt, diefür die Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Ver-pflichtungen innerhalb der NATO und der Europä-ischen Union wirklich zu erfüllen. Der Schwerpunkt, wasdie Verbesserung der Ausrüstung angeht, liegt auf denSchlüsselfähigkeiten. Das sind strategischer Transport,strategische Aufklärung, Kommunikations- und Füh-rungsfähigkeit.Dazu hat die Rüstungskonferenz wesentliche Akzentegesetzt und die Priorisierung der Vorhaben vorgenom-men. Zwischenzeitlich ist ein neues Regelwerk für die Be-schaffung und die Entwicklung von Wehrmaterial einge-führt worden. Damit werden die Beschaffungszeitenhalbiert und das Entwicklungsrisiko wird reduziert. DieSoldaten werden über moderne Ausrüstung schneller ver-fügen, als es in der Vergangenheit möglich war.
Im Übrigen machen diese Bemerkungen deutlich, dassdie Reform in die Bündnisinitiativen und die wachsendeeuropäische Integration konsequent eingebettet ist. Bei-des, die Bündnisinitiativen wie die wachsende europä-ische Integration, eröffnet Wege, Kosten zu sparen. Ich er-wähne die von Deutschland ausgegangene und mitFrankreich gemeinsam ergriffene Initiative für ein euro-päisches Lufttransportkommando. Ich erwähne den ge-meinsamen satellitengestützten Aufklärungsverbund, dasgemeinsame Transportflugzeug, die Europäische Rüs-tungsagentur und die jüngst mit den Niederlanden getrof-fene Grundsatzvereinbarung über den Aufbau gemeinsa-mer Transportkapazitäten der See- und Luftstreitkräfteunter gemeinsamer Führung, mit gemeinsamer Nutzungund mit gemeinsamer Finanzierung. Es ist sicherheitspo-litisch ein echter Durchbruch, dass sich zwei Nationen da-rauf verständigen, gemeinsame Kapazitäten integriert zuentwickeln und im Übrigen auch gemeinsam zu finanzie-ren.Die politische Führung und die militärische Führungder Bundeswehr sind sich einig: Die Reform der Bundes-wehr muss bei den Menschen ansetzen. Sie stellen dasgrößte Kapital der Streitkräfte dar. Das führt zur Beibe-haltung der allgemeinen Wehrpflicht, freilich untergeänderten Rahmenbedingungen. Die Wehrdienstdauerwird, wie bekannt, im Jahre 2002 auf neun Monate ver-kürzt. Die Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistungdes Wehrdienstes wird eingeräumt.Die Bundeswehr braucht aber über die Wehrpflichtigenhinaus sehr gut ausgebildete, hoch motivierte Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter im militärischen wie im zivilenBereich. Wer will denn schon in einem Unternehmen ar-beiten, das nicht in der Lage ist, seine Mitarbeiter leis-tungsgerecht zu bezahlen, weil die erforderlichen Plan-stellen fehlen? Wer will denn in einem Unternehmenarbeiten, das hohe Mobilität und Abstriche im privatenBereich fordert, während es gleichzeitig mit einer Ein-stiegsbesoldung lockt, die im Vergleich zu allen Sicher-heitsberufen die schlechteste ist? Wer will denn schon ineinem Unternehmen arbeiten, das eine zeitlich befristeteArbeitsplatzsicherheit gibt, aber nur unzureichend organi-sierte und manchmal zufällige berufliche Qualifizie-rungsmöglichkeiten für die problemlose Wiedereinglie-derung in das zivile Erwerbsleben bietet? Das ist dergegenwärtige Zustand. Er muss und wird verändert wer-den. Wir werden die Attraktivität des Dienstes erhöhenund damit die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr undihre Nachwuchsgewinnung sichern.
Die akademische Ausbildung der Offiziere wird durcheine qualifizierte Berufsausbildung in allen anderen Lauf-bahnen ergänzt werden. Das werden wir in enger Zusam-menarbeit mit Industrie, Wirtschaft und Handwerk be-werkstelligen. Ich will den Deutschen Bundestag darüberinformieren, dass wir mittlerweile fast alle Industrie- undHandelskammern und fast alle Handwerkskammernebenso wie über 300 Unternehmen für diese Kooperationgewinnen konnten. Jeder länger dienende Soldat wird inZukunft in den Streitkräften die Möglichkeit haben, seinezivilberufliche Qualifikation zu verbessern: Wer als Ge-selle kommt, kann Meister werden. Wer als Facharbeiterkommt, kann Techniker werden. Wer als Hauptschulab-gänger ohne Berufsabschluss kommt, kann eine einfachezivilberufliche Qualifikation erwerben.
Wie ernst und wichtig diese Aufgabe ist, das wird fürjedermann in der genannten Zahl von 22 000 Dienststel-len für zivilberufliche Qualifikationen, für Berufsförder-maßnahmen und anderes sichtbar. Ich jedenfalls kenne
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Rudolf Scharping11873
kein anderes Unternehmen in der BundesrepublikDeutschland, das ständig 8 Prozent seiner Mitarbeiterfreistellt und in deren berufliche Qualifizierung investiert.Im gleichen Geiste werden wir die Unteroffizierlaufbahnneu ordnen und den Bewerbern ein maßgeschneidertes,auch auf ihre persönlichen Vorstellungen abgestimmtesAngebot unterbreiten können.Wir werden die militärischen Besoldungs- und Lauf-bahnstrukturen reformieren und damit dafür sorgen,dass der Arbeitsplatz Bundeswehr für junge Menschen at-traktiv bleibt. Das geschieht durch die Erhöhung derEingangsbesoldung auf A 3, das geschieht durch die Do-tierung der Einheitsführer nach A 12. Mit diesen und an-deren Maßnahmen werden wir den Anschluss an das Be-soldungsniveau des übrigen öffentlichen Dienstes wiederherstellen.
Ich hoffe, das Parlament wird auch den erforderlichenMaßnahmen zur Beseitigung des Beförderungs- undVerwendungsstaus zustimmen. Wir haben über8 000 Menschen in der Bundeswehr auf Dienstposten, dienicht die Bezahlung erhalten, die mit dem Dienstposteneigentlich verbunden sein müsste. Deshalb müssen immittleren und im gehobenen Dienst 200 Stellen gehobenwerden. Deshalb bedürfen wir der Umwandlung der zeit-lich befristet zur Verfügung gestellten circa 900A 9- bzw.A 9+Z-Stellen. Deshalb bedürfen wir der insgesamt etwa2 400 Stellenanhebungen, um die Laufbahn der Unterof-fiziere und Feldwebel attraktiv zu gestalten und den Be-förderungsstau, den die damalige Regierung und damitSie zu verantworten haben, endlich auflösen zu können.Deshalb bedürfen wir der fast 1 800 Stellen im Bereichder Offiziere, um dort das Gleiche zu tun.Ich kann hier nur schildern, dass ich einen Zustand vor-gefunden habe, den ich in keiner Weise mehr für verant-wortbar hielt.
Es sind nicht nur 8 000 Menschen unterwertig bezahltworden, sondern weitere 8 000 Menschen befanden sichin einem personellen Überhang, der ebenfalls abgebautwerden muss und mit der wachsenden Zahl von Berufs-und Zeitsoldaten harmonisiert werden muss.Ich will hier zum Schluss erwähnen, dass wir die Streit-kräfte in ihrer ganzen Vielfalt auch für Frauen öffnen,und zwar für den freiwilligen Dienst, ohne irgendeinenVerwendungsbereich auszuschließen, sondern aus-schließlich an Eignung, Leistung und Befähigung orien-tiert.
Das, meine Damen und Herren, bedeutet: Die Bundes-wehr der Zukunft wird nicht nur durch moderne Ausrüs-tung und Ausstattung geprägt sein, sondern sie wird auchdurch modernste Managementmethoden, durch Kosten-und Verantwortungsbewusstsein und ein hohes Innovati-onspotenzial geprägt sein. Sie wird sich durch gut ausge-bildete und hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter als der wichtigsten Ressource in einer modernenWissens- und Informationsgesellschaft auszeichnen. ImÜbrigen wird sich die Bundeswehr durch ein hohes Maßan Motivation auszeichnen, die sie ja auch in den vergan-genen Jahren trotz der erheblichen strukturellen Mängelbewiesen hat.Wir haben vor wenigen Tagen an „10 Jahre Armee derEinheit“ erinnert. Wer die Leistungsfähigkeit der Bun-deswehr und der dort versammelten Menschen betrach-tet, ob das der Einsatz im Oderbruch, in Bosnien, im Ko-sovo, in Osttimor, in Mosambik, wo auch immer inDeutschland oder draußen war, muss feststellen: DieMenschen der Bundeswehr haben nicht nur Worte desDankes und der Anerkennung verdient, sondern auch Ta-ten, in denen sich diese Anerkennung ausdrückt.
Im Übrigen: Nie zuvor ist in so kurzer Zeit und auf sosolide Weise eine Grobausplanung für die Streitkräftenicht nur abgeschlossen, sondern auch dem Parlament of-fen vorgestellt worden. Auch das ist neu. Ich halte es fürrichtig und notwendig, dass wir darüber hier diskutieren.Ich hoffe sehr, dass bei allen legitimen und notwendi-gen Debatten der parteiübergreifende Konsens hinsicht-lich dieser historischen Reform der Bundeswehr imVordergrund steht. Diese Reform befähigt unsere Streit-kräfte – multinational eingebettet – zur gemeinsamenFriedenssicherung in der NATO und in der EuropäischenUnion und führt sie wieder auf das Maß an Leistungsfä-higkeit zurück, das unsere Bündnispartner von der Bun-desrepublik Deutschland zu Recht verlangen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Herr Minister, die Planung, die Sie vorlegen, ist unseriösund unlauter.
Ich will Ihnen das an Beispielen aufzeigen.Als wir noch Verantwortung getragen haben, betrugder Haushalt 48,4 Milliarden DM. Als Sie 1999 Verant-wortung trugen, waren es 47,3 Milliarden DM. ImJahre 2001 wird der Haushalt mit 44,8 Milliarden DM zuBuche stehen. Dabei sind jeweils die 2 Milliarden DM fürdie Auslandseinsätze nicht enthalten. Sie reduzieren dannnoch einmal um 1,1 Milliarden DM. Wir haben also eineReduzierung um insgesamt 4,7Milliarden DM. Das heißt:In diesem Zeitraum entziehen Sie dem Haushalt insge-samt 18 Milliarden DM. Sie können diese Zahlen heute inder „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nachlesen. Ichdenke, die dort aufgeführten Zahlen sind richtig.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Rudolf Scharping11874
Außerdem haben Sie die alte mittelfristige Finanzpla-nung völlig über den Haufen geworfen. An dieser Finanz-planung orientieren Sie sich also nicht mehr. Ebenso istIhre Einschätzung hinsichtlich der Einnahmeseite unse-riös. Sie gehen von Erlösen und Gewinnen aus, die imMoment überhaupt noch nicht feststehen. Hier herrschtalso das Prinzip Hoffnung.Wie unrealistisch und unseriös Ihre Planung ist, zeigtsich an dem von Ihnen angeführten lächerlichen Beispielder Bürstenwaschanlage.
Wenn Sie danach Ihre Reform ausrichten, dann scheint esdamit wirklich nicht zum Besten gestellt zu sein.Ich will Ihnen ein zweites Beispiel für Ihre unseriösePlanung nennen. Sie haben gerade die Anhebung der Ein-gangsbesoldung nach A 3 angeführt. Diese Anhebung istrichtig und wird von uns unterstützt. Sie haben ferner er-klärt, Sie wollen weitere Anhebungen bei den Planstellenfür Unteroffiziere und Offiziere. Dem stimmen wir eben-falls zu.
Sie wollen die Ausrüstung und die Bewaffnung moderni-sieren. Auch dem stimmen wir zu. Aber ich frage Sie: Wo-mit wollen Sie das finanzieren? Ihnen fehlt doch das Geld.Auch an dieser Stelle verweise ich noch einmal auf die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ von heute.Ich nenne Ihnen ein drittes Beispiel für Ihre unlauterePlanung. In Ihrem Papier schreiben Sie – wir haben es imGegensatz zur Presse erst heute Morgen bekommen; dasist nicht der Stil, in dem man mit dem Parlament um-geht –,
dass die Aufträge der Bundeswehr eine Einsatzorientie-rung bereits im Frieden erfordern, dass auf Grundwehr-dienstleistende dafür jedoch nicht zurückgegriffen wer-den kann. Ich frage Sie: Warum halten Sie dann noch ander Wehrpflicht fest? Sie greifen doch ohne Begründungmassiv in die freie Lebensplanung der jungen Männer ein.
Die Ableistung des Wehrdienstes ist ein weiteres Ku-riosum.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum
Schluss. – Das ist Wehrdienst nach Beliebigkeit.
Herr Minister, Sie
haben die Möglichkeit zu antworten. – Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nolting, nachdem Sie mit Ihrer Kurzinter-vention zumindest den Verdacht genährt haben, dass Sieder Rede Ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden nicht sorecht trauen,
möchte ich Sie zunächst einmal in der Sache auf Folgen-des hinweisen. Sie haben von 48,4 Milliarden DM ge-sprochen. Das war die Planzahl für 1998. Ich beziehemich aber nicht auf Planzahlen, sondern auf tatsächlicheZahlen. Das ist der einzige sinnvolle Maßstab.1995 wurden 47,5 Milliarden DM, 1996 47,2 Milliar-den DM, 1997 46,2 Milliarden DM, 1998 46,8 Milliar-den DM ausgegeben.
Verglichen mit dem 28. Finanzplan waren das in derSumme 4,2 Milliarden DM weniger, als Sie selbst be-schlossen hatten;
verglichen mit dem 29. Finanzplan, also dem für 1995– er ist ja ein bisschen realitätsnäher, jedenfalls hinsicht-lich der Jahreszahl –, waren es in der Summe 5,7 Mil-liarden DM weniger.In die Investitionen für die Bundeswehr flossenwährend Ihrer Regierungszeit 1996 5,6 Milliarden DM,1997 5,3 Milliarden DM, 1998 6,5 Milliarden DM; in derSumme 6,16 Milliarden DM weniger als in den Haus-haltsjahren, die wir zu verantworten haben.
Damit ist das, was Sie hier zu suggerieren versucht haben,zumindest als ziemlich oberflächlich zu charakterisieren.
Sie können gerne weiter argumentieren, dass dieFinanzplanungszahlen des Jahres 1998 einen Vergleichmit dem erlauben, was diese Regierung und diese Koali-tion zu verantworten haben. Ich sage Ihnen: Durch diesehier eindeutig nachprüfbaren, in der Realität verankertenZahlen ist bewiesen, dass Ihre Finanzplanungszahlenkeine seriöse Grundlage waren und folglich als Ver-gleichsbasis untauglich sind.
Sie haben der Bundeswehr allein in den Haushaltsjah-ren zwischen 1994 und 1998 durch globale Minderaus-gaben und andere Eingriffe in den laufenden Haushaltüber 4 Milliarden DM entzogen. Es ist besonders schäd-lich, in einen beschlossenen Haushaltsplan zum Teil mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Günther Friedrich Nolting11875
Reduzierungen um mehr als 1 Milliarde DM pro Jahr ein-zugreifen.
Auch das haben Sie zu verantworten.Was ich zu verantworten habe, sind zunächst die Zah-len des Jahres 1999. Ich habe, auch innerhalb der Koali-tion, heftige Auseinandersetzungen bestehen müssen; dasweiß jeder. Das hat dazu geführt, dass die Haushaltsan-sätze von 47,05 Milliarden DM im Jahr 1999 durch dietatsächlich getätigten Ausgaben von über 48 Milliar-den DM um mehr als 1 Milliarde DM übertroffen wordensind. Es ist ein fundamentaler, grundlegender, zugunstender Bundeswehr erreichter Unterschied, dass die Haus-haltszahlen nicht mehr unterboten, sondern übertroffenwerden und dass die Ausgaben für die Ausrüstung derBundeswehr alleine in den drei Haushaltsjahren, über diewir hier reden, um über 6 Milliarden DM höher liegenwerden als in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungs-tätigkeit.
Das alles sind Realitäten, über die es sich zu reden lohnt.Noch zwei kurze Bemerkungen, zunächst zur Vertei-lung der Broschüre. Ausweislich des Eingangsstempelsder Poststelle des Deutschen Bundestages waren alle er-forderlichen Exemplare gestern um 16.13 Uhr in der Post-stelle des Deutschen Bundestages abgeliefert.
Damit erledigt sich meine Verantwortung. Ich habe, wieSie sehr genau wissen, gestern um 17 Uhr mit der Pressezusammengesessen.Wichtiger ist, was Sie zu den Grundwehrdienstleis-tenden gesagt haben. Diejenigen, die den Grundwehr-dienst in seiner gesetzlich festgelegten Form leisten, kön-nen zu Auslandseinsätzen nicht herangezogen werden;das ist richtig. Diejenigen, die sich freiwillig bereit erklä-ren, beispielsweise wegen eines Auslandseinsatzes ihreWehrdienstzeit zu verlängern, werden dazu herangezo-gen.Ich mache dazu nur folgende Hinweise. Von2 700 Mannschaftsdienstgraden im Kosovo sind1 600 Wehrdienstleistende. In den betroffenen Einheitenmit der Frage konfrontiert, ob sie ihren Wehrdienst wegender Einsatznotwendigkeit freiwillig verlängern, habensich 85 Prozent der Befragten, die zurzeit zehn MonateWehrdienst ableisten, bereit erklärt, diesen Einsatz mitihren Kameraden zu bewältigen und deshalb ihre Wehr-dienstzeit freiwillig zu verlängern.Sie schlagen den jungen Männern ins Gesicht, die einsehr hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft undKameradschaft zeigen, und zwar nur deshalb, weil Sieeine ideologische Position zum Wehrdienst begründenwollen, die sich übrigens auch in Ihrer Partei hier und daals umstritten herausstellt und die sich bei dem einen oderanderen mit einer Geschwindigkeit geändert hat, dienachzuvollziehen mir bei der mir nachgesagten Lang-samkeit leider nicht gelingt.
Ich gebe nunmehr
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen
Ruprecht Polenz.
– Er spricht als General-Sekretär zur Bundeswehr.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschusshat gestern sieben Stunden getagt. Herr Minister, Sie ha-ben es nicht für nötig gehalten, den Kolleginnen und Kol-legen in dieser Sitzung Ihr Papier vorzustellen. Das habenSie dann am Nachmittag einigen Journalisten gegenübergetan. Herr Minister, ich halte es für ein starkes Stück, denAusschuss im Ungewissen zu lassen, obwohl IhreHochglanzbroschüre bereits gedruckt war.
Erst spätabends – Sie brauchen in diesem Zusammen-hang nichts von Posteingangsstempeln zu erzählen – gingIhr dickes Papier dann über die Postverteilstelle an dieAbgeordneten. Sie wussten ganz genau, dass viele unse-rer Kollegen dieses Papier nicht rechtzeitig zur heutigenDebatte erhalten würden. Herr Minister, das ist eine Miss-achtung des Parlaments, eine Missachtung der Abgeord-neten. Sie hätten besser daran getan, sich heute dafür zuentschuldigen, als sich in dieser fadenscheinigen Weise zurechtfertigen.
Ihre Broschüre heißt im Untertitel „Grobausplanung.Ergebnisse und Entscheidungen“. Im militärischenSprachgebrauch bedeutet „Ausplanung“:
Verlust des Dienstpostens, Streichung aus der Liste derMobilmachungsbeorderten, Abgabe des Seesacks undEntgegennahme der gelochten Kampfstiefel, der Sockenund der Unterwäsche. Ist das Ihre Zukunftsvorstellungvon der Bundeswehr, Herr Minister? Unsere jedenfalls istes nicht.
Nun zu Ihrem Papier, zur „umfassendsten Reform derBundeswehr seit ihrem Bestehen“, wie Sie schreiben.
Wir dürfen Sie jetzt also den umfassendsten Reformatoraller Zeiten nennen, Herr Minister.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Rudolf Scharping11876
Ihr Konzept – jetzt werde ich ernster – wird von dem Prin-zip Hoffnung gespeist. Es enthält zwar einen Fahrplan.Aber Lokomotive und Kohlen sind nicht in Sicht.Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, Ihr Papier zulesen. Vieles darin liest sich nicht schlecht. Auch wir sindfür eine Strukturreform der Bundeswehr. Aber wir nennendafür klare Bedingungen. Sie lassen wichtige Fragen wei-ter offen. Sie schweigen sich über die Standortfragenaus; Sie machen keine genauen Angaben über die Strei-chung oder Verschiebung der Beschaffungsmaßnahmen.Es gibt keinerlei Angaben über Prioritätensetzungen inIhrem Papier. Und vor allem: Wo sind die Angaben zu Ih-rer Haushaltsplanung? Davon ist in Ihrer gesamten Grob-ausplanung kein Wort zu lesen. Ihre Neuausrichtung istein gut gemeintes Konstrukt, eine Wunschliste ohne jedenfinanziellen Bezug zur Realität. Mit einer verantwor-tungsvollen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat dasnichts zu tun. Herr Minister, Sie lassen sich die Realitätschönschreiben. Das Schlimme ist, dass Sie selber daranglauben.In der letzten Debatte zu diesem Thema im Juni diesesJahres haben wir Ihnen eine faire, konstruktive Ausspra-che zur Zukunft der Bundeswehr angeboten. Dieses An-gebot haben Sie ausgeschlagen. Statt das Gespräch mituns zu suchen, setzen Sie Ihren unverantwortlichen Kür-zungskurs fort, der unsere Streitkräfte immer mehr aus-zehrt. Denn es ist ausgeschlossen, dass die Bundeswehrden wachsenden verteidigungspolitischen Aufgaben beieinem ständig weiter sinkenden Verteidigungsetat gerechtwerden kann.
Herr Minister, es gibt eine gewaltige Lücke zwischenden Bedrohungsszenarien, die auch Sie anerkennen, undden Mitteln, die die Regierung für die Bundeswehr be-reitstellt.
Nur wenn wir eine breite Debatte über die sicherheitspo-litischen Herausforderungen führen, wird es gelingen,dass die notwendigen Finanzmittel für eine wirksame Si-cherheitsvorsorge bereitgestellt werden. Warum verwei-gern Sie diese sicherheitspolitische Debatte? Aus Angstvor den Grünen, aus Angst vor Finanzminister Eichel odersogar schon aus Rücksichtnahme auf die PDS?
Herr Minister, auf der internationalen Bühne haben Sieselbst doch das strategische Konzept der NATO von1999 unterschrieben. Dort werden die neuen Risiken dochin aller Deutlichkeit benannt: die Verbreitung von Mas-senvernichtungswaffen, ethnische oder religiöse Kon-flikte und der Zerfall von Staaten wie jetzt auf dem Bal-kan. Sie haben versprochen, 18 000 deutsche Soldaten fürdie schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union zurVerfügung zu stellen. Wir begrüßen diese Entscheidungausdrücklich, Herr Minister; denn sie beruht auf der zu-treffenden Erkenntnis, dass Europa sicherheitspolitischmehr tun muss, nicht weniger.Auf dem internationalen Parkett geben Sie Verspre-chungen ab. Wenn es aber darum geht, diese Verspre-chungen auch tatsächlich einzulösen, können Sie sich imKabinett nicht durchsetzen.Sie erzählen gerne, Herr Minister, dass Ihre Pläne in-ternational gelobt würden. Da muss ich bei der letztenWehrkundetagung in München auf einer anderen Ver-anstaltung gewesen sein als Sie.
Dort wurde der Verteidigungsbeitrag Deutschlands vonallen Bündnispartnern als zu gering eingeschätzt. NATO-Generalsekretär Robertson und US-Verteidigungsmi-nister Cohen haben den sinkenden VerteidigungsetatDeutschlands mit deutlichen Worten kritisiert. Diese Kri-tik war und ist berechtigt.
Um es kurz zu sagen: Durch die Unterfinanzierung ge-fährden Sie die Bündnis- und Europafähigkeit der Bun-deswehr. Denn es gibt schon jetzt erhebliche Defizite imBereich Aufklärung und Kommunikation. Bisweilen sindunsere Einheiten international nicht mehr kooperations-fähig.
Die Bundeswehr hat erhebliche Probleme, ihren Ver-pflichtungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovonachzukommen.
Doch zugleich kommen neue Aufgaben hinzu.Wie gesagt: Wir unterstützen die Schaffung einerschnellen Eingreiftruppe der EU; doch fordern wir auch,dass Sie dafür die notwendigen Mittel bereitstellen. Siehaben angekündigt, 73 Airbus-Transportflugzeuge zubeschaffen. Aber die Mittel dafür stellen Sie im Verteidi-gungshaushalt nicht ein.
Unsere Partner fragen sich, ob Deutschland zu seinen Zu-sagen steht oder nicht. Deutschland wird schon jetzt zu ei-nem Unsicherheitsfaktor für seine Partner.
Wie Sie diese international gemachten Versprechungeneinhalten wollen, bleibt Ihr Geheimnis.Diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeitkennzeichnet allerdings nicht nur die Verteidigungs- undSicherheitspolitik. Mehr Schein als Sein ist das traurigeMarkenzeichen der Außenpolitik insgesamt geworden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ruprecht Polenz11877
Das Auswärtige Amt ist chronisch unterfinanziert; Kon-sulate, Botschaften und Goethe-Institute mussten ge-schlossen werden.
Wie Sie deutsche Interessen im Ausland so durchsetzenwollen, bleibt ein Rätsel.Sie sprechen vollmundig von Krisenprävention und in-ternationaler Verantwortung – und kürzen bei der Ent-wicklungshilfe. Sie sprechen von einem neuen Stellen-wert der Menschenrechte – und kürzen bei den politischenStiftungen, die in vielen schwierigen Ländern Rechts-staatlichkeit und Demokratie fördern.
Sie sprechen vom Gewicht Deutschlands im Bündnis –aber mit einem Anteil von 1,1 Prozent am Bruttoinlands-produkt wird Deutschland im kommenden Jahr bei denVerteidigungsausgaben der NATO auf den vorletztenPlatz zurückfallen. Sie sprechen vom deutschen Einflussin der Europäischen Union – aber bald stellt Deutschlandnur noch einen der einflussreichen Generaldirektoren inder Europäischen Kommission; vor wenigen Jahren wa-ren es noch fünf.Wir verlieren unter dieser rot-grünen Bundesregierungan Gewicht und Einfluss.
Aber Sie träumen von einem ständigen Sitz im Sicher-heitsrat und reden von einer führenden Rolle Deutsch-lands in Europa. Wenn die Bundesregierung solche voll-mundigen Sprüche einlösen wollte, müsste Deutschlandin der Verteidigungspolitik Vorbild sein und nicht Nach-hut und Schlusslicht.Der von Ihnen, Herr Minister, geplante Umbau derBundeswehr ist unterfinanziert und der Verteidigungs-haushalt sinkt bis zum Jahre 2003 weiter, trotz Ihrer Bu-chungstricks. Sie haben ja schon 2 Milliarden DM für dieAuslandseinsätze in Bosnien-Herzegowina und im Ko-sovo aus dem allgemeinen Haushalt in den Verteidi-gungsetat verschoben – und trotzdem sinkt dieser Etat von46,7Milliarden DM im Jahr 1998 auf 45,7Milliarden DMim Jahr 2003. Die Folge: angesichts steigender Personal-kosten ein dramatisches reales Absinken des Verteidi-gungsetats.
Das Ziel, eine Investitionsquote von 30 Prozent zu errei-chen, rückt so in weite Ferne.Außerdem rechnen Sie sich reich. Die von AnnetteFugmann-Heesing geleitete Gesellschaft für Entwick-lung, Beschaffung und Betrieb der Bundeswehr soll imkommenden Jahr 1 Milliarde DM durch Privatisierungs-erlöse und durch Kooperationen mit der Wirtschaft erzie-len. Das ist eine völlig unrealistische Summe; denn bis-lang hat die Gesellschaft noch nicht einmal angefangen zuarbeiten und ihr Hauptzweck ist doch wohl eher, altge-diente Sozialdemokraten mit hoch dotierten Jobs zu ver-sorgen.
Beim Großen Zapfenstreich im Schlosspark Sans-souci vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Minister – Siehaben gerade noch einmal daran erinnert –, ausdrücklichgewürdigt, dass die Bundeswehr in den vergangenen zehnJahren Großartiges geleistet hat.Die Bundeswehr– ich zitiere Sie gern –war in vielerlei Hinsicht auch ein Schrittmacher derEinheit und des Zusammenwachsens im Innern.In der Tat: Die Bundeswehr ist die Armee der Einheit.Das ist aber auch eine große Leistung von GerhardStoltenberg und Volker Rühe, denen ich an dieser Stellefür ihre Arbeit als Verteidigungsminister ausdrücklichdanken möchte.
Es ist nicht damit getan, die großen Leistungen derBundeswehr vor der historischen Kulisse Sanssoucis zuwürdigen. Den schönen Worten und Bildern müssen Ta-ten folgen. Herr Scharping, Sie sind jetzt zwei Jahre alsVerteidigungsminister im Amt und trotzdem – heute ha-ben Sie es wieder getan – wiederholen Sie gebetsmühlen-artig die Vorwürfe gegen Ihre Vorgänger.
Sie tun gerade so, als hätte sich Rot-Grün seinerzeit, alsSie in der Opposition waren, die Finger wund geschrie-ben, um eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts zufordern.
Aber wir haben Frau Matthäus-Maier nicht so verstanden,als hätte sie mehr Eurofighter gefordert. Im Gegenteil: Inden Jahren 1991 bis 1996 haben Sie für den Verteidi-gungshaushalt Kürzungsanträge in Höhe von 14 Milliar-den DM gestellt. Die Zahlen in den Anträgen der Grünenhaben wir nicht zusammenaddiert; aber die Summe warsicher doppelt so hoch.
Wir bieten Ihnen trotz Ihrer gestrigen Spielchen, HerrMinister, den Dialog über die Zukunft der Bundeswehran. Dafür muss aber Schluss mit der Geheimniskrämereisein. Lassen Sie uns die Debatte da führen, wo sie hinge-hört, nämlich im Parlament, statt die Verantwortung anKommissionen abzuschieben. Lassen Sie uns dabei dieSoldaten einbeziehen, die mehr und mehr das Gefühl be-kommen, dass vollkommen willkürlich über ihren Kopfhinweg entschieden wird. Die Art und Weise, in der SieGeneralinspekteur von Kirchbach gefeuert haben, zeigt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ruprecht Polenz11878
nur zu deutlich, dass Sie den Kontakt zur Truppe mehrund mehr verlieren.
Sie verunsichern die Soldaten und die Zivilbeschäftig-ten der Bundeswehr mit Ihrem Führungsstil. Sie kündigenReformen an, treffen aber keine klaren Entscheidungen.Sie nehmen die Menschen nicht mit, Sie entscheiden ohnedie Soldaten statt mit ihnen. Für jeden Soldaten ist die per-sönliche Lebensplanung derzeit vollkommen ungewiss.Sie, Herr Minister, sagen den Soldaten nicht, welche kon-kreten Ziele Ihre so genannte Reform wirklich verfolgt.Das, was wir über Ihre Pläne erfahren haben, gibt An-lass zur Sorge. Ihre Pläne gefährden die Wehrpflicht unddie Wehrgerechtigkeit. Sie wollen die Zahl der Wehr-dienstleistenden drastisch verringern. Zugleich reduziertdie Bundesregierung die Zahl der Zivildienstplätze, ob-wohl die Jahrgangsstärken bis zum Jahre 2008 anwach-sen. Die Folge wird sein, dass es im Laufe der nächstenJahre eine große Anzahl von jungen Männern geben wird,die nicht einberufen werden können.Auch die CDU/CSU-Fraktion tritt für die Flexibilisie-rung derWehrpflicht ein,
aber das, was Sie vorschlagen, sorgt nur für mehr Büro-kratie. Wir sind uns im Grundsatz einig, dass wir aus si-cherheits- und gesellschaftspolitischen Gründen an derWehrpflicht festhalten wollen. Doch wer die Wehrpflichtwill, darf nicht so handeln wie Sie, Herr Minister.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat unter der Fe-derführung von Paul Breuer ein geschlossenes Reform-konzept für die Bundeswehr vorgelegt, nachdem wir in-tensiv mit den betroffenen Soldaten und Zivilbe-schäftigten der Bundeswehr diskutiert hatten.
Wir fordern: Der Verteidigungshaushalt darf nicht wei-ter absinken; mittelfristig sollte er auf 50 Milliarden DMsteigen, damit wir die notwendigen Investitionen in neuesGerät leisten können.
Schon im Jahre 2001 brauchen wir zusätzlich 2,2 Mil-liarden DM als Anschubfinanzierung für Modernisie-rungsmaßnahmen. Wenn Sie uns das nicht glauben, glau-ben Sie wenigstens der Weizsäcker-Kommission, dieIhnen das ins Stammbuch geschrieben hat. Aber offen-sichtlich haben Sie das in den Papierkorb geworfen.
Wenn Sie schon bei Ihrem Kanzler, Ihrem Finanzmi-nister und bei Ihrem Koalitionspartner keinen Rückhaltfinden, so verspreche wenigstens ich Ihnen unsere Unter-stützung, wenn Sie endlich das Notwendige und Richtigetun: wenn Sie mehr Geld für einen nicht immer populärenZweck, nämlich für die Erhöhung des Verteidigungsetats,fordern.Auch in der Welt des 21. Jahrhunderts bleibt eine Poli-tik der Stärke als Rückversicherung gegen mögliche Be-drohungen entscheidend.
Die Welt ist auch nach dem Fall der Mauer nicht ohne Ri-siken. Es geht um unsere Sicherheit. Werden Sie IhrerVerantwortung gerecht, Herr Verteidigungsminister!
Für die SPD-Frak-tion spricht der Kollege Peter Zumkley.Peter Zumkley (von Abgeordneten der SPDmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Ich möchte schon eine Vorbemerkung machen,Herr Kollege Polenz. Ihren Soupçon bezüglich Besol-dungen, die irgendwo eingeführt worden sind, fand ich füreinen Generalsekretär nicht angemessen. Sonst reden Siehier weder als General noch als Sekretär. Ich fand dies einbisschen primitiv.Die Bundesregierung hat mit ihrem Beschluss vom14. Juni dieses Jahres die Reform der Bundeswehr einge-leitet. Die Reform ist systematisch, mit großer Sorgfaltsowie der gebotenen Präzision vorbereitet und ausgeplantworden.
Unmittelbar nach Amtsantritt hat der Bundesminister derVerteidigung eine umfassende Bestandsaufnahme vorge-nommen. Das Ergebnis wurde Anfang Mai 1999 dem Par-lament und der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Bestands-aufnahme hat gravierende Schwächen unserer Streitkräftein der Ausrüstung und ihren Strukturen aufgedeckt. Ursa-che dafür – auch ich kann es Ihnen, meine Damen undHerren von der Opposition, nicht ersparen – waren unteranderem die jahrelangen Versäumnisse der Vorgängerre-gierung. Das steht zweifelsfrei fest.
Die anschließend eingesetzte Expertenkommissionunter Vorsitz von Altbundespräsident Richard vonWeizsäcker hat die wesentlichen Grundlagen für dasvorliegende Reformkonzept geliefert.
Mit großer Sorgfalt wurden die Vorschläge erarbeitet, diesich zum überwiegenden Teil im Eckwertepapier desBundesministers der Verteidigung wiederfinden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ruprecht Polenz11879
Auf der Basis der Ministerweisung vom 29. Juni die-ses Jahres hat der Generalinspekteur der Bundeswehrseine Weisung zur Ausplanung der Streitkräfte erlas-sen.
Seit gestern liegt für alle, Herr Kollege Nolting, auch dieGrobausplanung vor. Sie lässt keinen Zweifel daran, dasses sich hier nicht nur um eine Reform, sondern auch umeine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr han-delt. Mit dieser – wie wir meinen – systematischen Vor-gehensweise wurden solide und fundierte Grundlagen ge-schaffen, damit zum 1. April nächsten Jahres mit derUmsetzung der Planungsergebnisse begonnen werdenkann.Mit dem Haushaltsentwurf 2001 gibt es zudem auchKlarheit über die Finanzierung der Reformvorhaben. Diein 2001 zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel in Höhevon bis zu 47,8Milliarden DM – ob wir sie ganz erreichenwerden, werden wir sehen; das ist schwierig –
machen eine intelligente Finanzierung der Bundeswehrmöglich. Der Verteidigungsminister erhält beachtlichezusätzliche Finanzspielräume innerhalb des vorgegebe-nen Budgets. Die Bundeswehr bekommt somit auch eineverlässliche finanzielle Planungssicherheit. Die Reformkann und wird in den nächsten Jahren nur schrittweise,aber zügig umgesetzt werden. Die jeweiligen Reform-schritte sind solide finanziert.
Herr Kollege Polenz, ein paar Bemerkungen zu dem,was Sie ausgeführt haben: Eine Unterfinanzierung erken-nen wir nicht. Wir sehen aber natürlich auch Gefahren undwir müssen gemeinsam aufpassen – hier lassen wir unsvon niemandem überbieten –,
dass diese Gefahren nicht Wirklichkeit werden, nämlichdass es nicht zu einer Unterfinanzierung kommt.Zuweilen hatte ich den Eindruck, Herr Kollege Polenz,dass Sie den Zustand der Streitkräfte richtig beschriebenhaben, aber für die Zeit, als Sie die Regierungsverant-wortung hatten, nicht für jetzt.
Man muss sehen, wie sich die Streitkräfte entwickelt ha-ben.Im Übrigen ist die Stellung der Bundeswehr im Bünd-nis hoch anerkannt. Sie brauchen nur in die internationa-len Stäbe in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo zugehen. Es gibt in diesem Detail keine Zweifel an der Leis-tungsfähigkeit der Bundeswehr. Wir müssen sie nur wei-ter fördern.
Herr Kollege Polenz, Sie haben von den Kürzungengesprochen. Ich muss Ihnen erneut sagen, weil Sie es wie-der vorgetragen haben: Das ist so nicht richtig.
Die CDU hat von 1994 bis 1998 5,6 Milliarden DM beider Bundeswehr gekürzt.
– Ja, es gab Kürzungsanträge der SPD-Fraktion, und zwarin Höhe von 1,88 Milliarden DM. Wären damals nur1,88 Milliarden DM bei der Bundeswehr gekürzt worden,stünden wir heute viel besser da. Daran lässt sich nichtrütteln.
Wir freuen uns über die Bemerkung, die Sie über dieUnterstützung gemacht haben. Ich möchte sie gerne auf-greifen. Wir glauben, dass die Bundeswehr die Unterstüt-zung aller demokratischen Parteien braucht und dass wiruns bemühen müssen, dies über unterschiedliche Auffas-sungen hinweg tragfähig zu machen. In diesem Sinnestimme ich Ihnen zu. Aber vergessen Sie doch nicht, dasses sich hier um eine Grobausplanung handelt und dass dieFeinausplanung noch aussteht. Ebenso ist es mit der Stand-ortplanung. Ende des Jahres wird ein Konzept vorliegen.Das alles ist bisher im Zeitplan. Daher ist es nicht ge-rechtfertigt, vom Verteidigungsminister schon jetzt Ein-zelheiten zur Reform und zur Umstrukturierung zu ver-langen.
Seit wir in der Regierungsverantwortung sind, werdendie Finanzpläne eingehalten. Dies war in der Vergangen-heit nicht immer der Fall. So möchte ich an dieser Stelledaran erinnern, dass zu Zeiten der CDU/CSU-Regierung,genau wie es der Minister schon ausgeführt hat, gegen-über dem 28. Finanzplan 4,2 Milliarden DM und gegen-über dem 29. Finanzplan 5,7 Milliarden DM in den lau-fenden Haushaltsjahren eingespart wurden. Die Planung,Herr Kollege Nolting, ist leider keine Realität. Das wirdauch so bleiben. Wir werden immer den Soll-Ist-Vergleichmachen müssen. Aber wenn wir uns mit Zahlen beschäf-tigen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, dann müs-sen wir uns an den Ist-Zahlen orientieren und nicht an demZiel, das man einmal angestrebt hat.
Die Bundeswehr wird kleiner. Die Zahl der Offiziereund Unteroffiziere wird aber insgesamt um 12 000 Per-sonen erhöht. Dies ist im Hinblick auf die gewandeltenAnforderungen für moderne und leistungsfähige Streit-kräfte unumgänglich. Wir begrüßen das. Zur Umsetzungder Reform brauchen wir gut ausgebildete, leistungs-fähige und motivierte Soldaten und zivile Mitarbeiter. Mitihrem Engagement wird die Neuausrichtung der Bundes-wehr maßgeblich mitgestaltet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Peter Zumkley11880
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Aber gerne.
Vielen Dank, Frau
Präsidentin.
Herr Kollege Zumkley, Sie haben zu Beginn Ihrer
Rede von der Besoldung gesprochen und wollten damit
unseren Generalsekretär diffamieren.
Sie sind jetzt mit Ihrer Rede weit fortgeschritten. Auch
der Bundesminister der Verteidigung hat bisher nicht mit
einem Wort die Unterschiede in der Besoldung zwischen
den Ost- und den Westsoldaten angesprochen.
Ich muss Ihnen sagen: Ich halte es schon für proble-
matisch, dass Sie auf diesen Punkt überhaupt noch nicht
eingegangen sind und auch im künftigen Haushalt dafür
keine Titel vorsehen. Wie sehen Ihre Planungen dazu aus?
Die Soldaten warten auf eine Antwort.
Herr Kollege, warten Sie bitte
bis zum Ende meiner Rede. Vielleicht komme ich noch
darauf, durch Ihren Redebeitrag mit Sicherheit. Aber ei-
nes möchte ich von vornherein klarstellen: Es geht hier
nicht um die Diffamierung des Generalsekretärs. Ich habe
mich über eine Bemerkung geärgert. Das gebe ich zu. Da-
bei bleibe ich.
Die Umsetzung der Reform braucht, wie gesagt, das
Engagement unserer Soldaten. Das bewährte Prinzip des
Staatsbürgers in Uniform und die Grundsätze der inne-
ren Führung mit dem wichtigen Element der politischen
Bildung bleiben wie bisher eine der bedeutendsten Vo-
raussetzungen für die Leistungs- und Einsatzbereitschaft
unserer Soldaten. Wir dürfen die Reform und die Um-
strukturierung nicht nur technokratisch sehen, sondern
müssen diesen Gedanken immer wieder mit der Bundes-
wehr zusammen diskutieren. Nur auf diese Weise werden
die Streitkräfte in unserer Gesellschaft so, wie wir sie
benötigen.
In diesem Zusammenhang setzen wir unsere Be-
mühungen um soziale Verbesserung für die Menschen,
die in der Bundeswehr dienen, kontinuierlich fort. Unser
Ziel bleibt es, den Beförderungsstau, der sich wegen der
jahrelangen Untätigkeit der jetzigen Opposition hat ent-
wickeln können, in den nächsten zwei Jahren spürbar ab-
zubauen.
Die Bundeswehr wird für Frauen weiter geöffnet – da-
rauf werden meine Kolleginnen Frau Wohlleben und Frau
Brandt-Elsweier nachher ausführlich eingehen; ich er-
spare mir dazu deshalb weitere Ausführungen.
Der Kollege Dehnel hat mir die Frage gestellt, wie es
mit der Ost-West Anpassung ist. Wir wollen diese An-
passung im Verteidigungsbereich. Sie kennen aber die
Probleme: Die Soldaten müssen wie Beamte im öffentli-
chen Dienst angesehen werden. Es sind doch gerade
CDU-geführte Regierungen in den neuen Ländern, die sa-
gen: Wir können es uns nicht erlauben, dass wir mit dem
öffentlichen Dienst voranschreiten, während die anderen,
die ja letztlich auch zum Steueraufkommen beitragen,
weiter hinterherhinken.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die ganze Sache ist schon am
Anfang verkorkst worden, nämlich beim Einigungsver-
trag. Daran waren nicht wir, sondern Sie beteiligt. Es hat
übrigens den Vorschlag gegeben, die Soldaten aus der
Regelung herauszunehmen; das ist ausdrücklich abge-
lehnt worden.
Ich sage Ihnen ganz deutlich, dass wir diese Angleichung
möchten.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?
Jetzt will ich erst einmal demKollegen Siemann sagen, dass wir dazu natürlich auch dieUnterstützung des Bundesrates und der Länder brauchen,die unter dem Ganzen mehr leiden als der Bund. – Nein,ich gestatte keine Zwischenfrage, sondern will meineRede im Zusammenhang fortführen.Die Ausrüstung der Bundeswehr muss modernisiertwerden. Hohe Priorität hat die Fähigkeit zum Lufttrans-port, zur strategischen Aufklärung und modernen Kom-munikation; darauf ist hingewiesen worden. Gleichzeitigwird überflüssig gewordenes Material weiter abgebaut.Die Abläufe bei Entwicklung und Beschaffung von Wehr-material werden gestrafft und werden damit schneller undkostengünstiger, was wir begrüßen. Dafür wird auch dieGesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betriebihren wesentlichen Beitrag leisten.Wir sind sehr damit einverstanden, dass Umfang undStruktur der Bundeswehr endlich auf die neue Aufgaben-stellung ausgerichtet werden; die überholte Trennung vonHauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräften gehörtdazu. Die Einsatzkräfte werden nahezu verdreifacht, dasheißt, auf 150 000 Soldaten erhöht, und die militärischeGrundorganisation auf 108 000 Soldaten reduziert. Dashalten wir für richtig, um die Aufgaben der Bundeswehrauch in Zukunft effektiv gestalten und erledigen zu kön-nen.Es bleibt bei der allgemeinen Wehrpflicht als Sicher-heitsvorsorge. Sie wird auf die Dauer von neun Monaten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11881
reduziert. Die Wehrgerechtigkeit werden wir erhaltenkönnen; das werden wir ja gemeinsam begleiten können.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Bundeswehrwird ihre veränderten Aufgaben bei der Landesverteidi-gung, ihren Beistandsleistungen im Rahmen des Bündnis-ses sowie bei internationalen Einsätzen zu Krisenverhü-tung und Krisenbewältigung zukünftig zusammen mitunseren Partnern leisten können. Damit sind wir außeror-dentlich zufrieden. Wir werden den weiteren Gang derBundeswehr positiv und konstruktiv begleiten.
Jetzt erhält der
Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren Kollegen! Wir debattieren übereine äußerst wichtige Angelegenheit in Gesellschaft undDemokratie, nämlich über eine Armee in einer Demokra-tie. Wir stehen jetzt an einem Punkt, bei dem uns der Bun-desverteidigungsminister in Grundzügen sein neues Kon-zept vorgestellt hat. Im Verlauf der Debatte werden wiruns entscheiden müssen. Meine Fraktion und ich sind derÜberzeugung, dass sein Konzept und die in ihm liegendeUnterfinanzierung die Wehrpflichtarmee an die Wandfährt.Man kann sich für das Prinzip der Wehrpflichtarmeeentscheiden. Die Wehrpflichtarmee hat viele gewichtigeVorteile, die für ihre Beibehaltung sprechen.
Sie bringt Transparenz in die Armee, führt zu einerFührungskultur, schlägt den Bogen zur Gesellschaft undkann leichter Führungsnachwuchs rekrutieren. Das istganz eindeutig. Sie war im Übrigen auch die richtige Ent-scheidung für die Bundeswehr zum Zeitpunkt ihrer Grün-dung und in den Folgejahren. Die Bundeswehr ist eine er-folgreiche Armee gewesen und wir haben den Soldaten zudanken. Das sollte am Beginn stehen.
Wenn man sich, Herr Bundesverteidigungsminister,für eine Wehrpflichtarmee entscheidet, muss man dieserWehrpflichtarmee auch die ausreichende Kraft geben,ihre Aufgaben wahrnehmen zu können. Die Wehrpflicht-armee Bundeswehr, wie wir sie heute haben, hat immernoch die Kernaufgabe Landesverteidigung. Wir wissenaber alle, dass sich diese Aufgabe gewandelt hat, der alteKernauftrag Landesverteidigung höchst unwahrschein-lich ist, er in einer Mischung sehr stark zur Bündnisver-teidigung übergeht und dass Einsätze in Krisenregionendieser Welt sehr viel wahrscheinlicher und – global be-trachtet – auch notwendig sind, um die Sicherheit freierGesellschaften und auch der unseren zu garantieren. Dasist die Lage.Herr Bundesverteidigungsminister, wenn Sie diese Si-tuation sehen – das sieht ja wohl auch der Mitarbeiterstab,über den Sie verfügen, sowie jeder vernünftig denkendeMensch so –, dann kommen Sie in dieser Frage nicht umdie Klärung der Haushaltsansätze herum. Lassen Siemich das nur kurz streifen, Das Ganze mag im Haushalts-ausschuss und im Verteidigungsausschuss näher debat-tiert werden. Hier aber hilft es nicht sehr viel weiter, wennSie vortragen, bei der früheren Regierung habe es im Ver-teidigungsetat über die Jahre hinweg einen Entzug inHöhe von 4 Milliarden DM gegeben. Ich lese in der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Artikel einesMannes, der wesentlich mehr von Verteidigungspolitikversteht als viele von uns, Sie entzögen nach wirklichenHaushaltsdaten in den nächsten Jahren dem Verteidi-gungsetat 18 Milliarden DM. Sie vertrösten uns mit demHinweis, Sie hätten intelligente Finanzierungssysteme,und unterlegen den wirklichen Entzug so mit einer un-wirklichen Annahme; denn nichts spricht dafür, dass Siedas erwirtschaften können.
Sie sagen also jetzt der Bundeswehr, die im Beförde-rungsstau steht, die teilweise überaltertes Gerät hat unddie ihre Strukturen verändern muss: Über intelligente Fi-nanzierungssysteme werde ich das alles auffangen kön-nen. – Das können Sie in Deutschland erzählen, wem Siewollen, aber erzählen Sie es bitte nicht im Deutschen Bun-destag. Sie werden nicht in der Lage sein, 18 Milliar-den DM durch intelligente Finanzierungssysteme, überHaushaltspositionen und Verschiebebahnhöfe der eigent-lichen Aufgabe zuzuführen.
Wenn Sie aber eine Wehrpflichtarmee mit den strukturel-len Problemen, die Sie festgestellt haben und die Sie be-wältigen wollen, nicht ausreichend finanzieren könnenbauen Sie uns hier ein potemkinsches Dorf.
Zur Weizsäcker-Kommission. Sie hatten uns allen– das darf nicht in Vergessenheit geraten –, quer über dieFraktionen hinweg, seinerzeit vorgetragen, Sie setzteneine Kommission ein, Sie haben die Mitglieder dieserKommission mit den Fraktionsführungen abgestimmt undhaben es für gut befunden, dass die Kommission zunächstin aller Ruhe arbeiten kann und wir später in aller Ruheeine Generaldebatte führen, in deren Verlauf eine Vorlagevon Ihnen hier zur Entscheidung geführt werden kann. Sietragen die Verantwortung dafür, dass das alles ganz andersgekommen ist. Dies war letztlich nicht zielführend. Alsdie Weizsäcker-Kommission noch in ihrer Arbeit steckteund Sie geahnt haben, dass diese möglicherweise etwasandere Ergebnisse produziert, als Sie sie für wünschens-wert halten, haben Sie den Generalinspekteur ganz ur-plötzlich mit einem eigenen Konzept beauftragt, einTempo vorgelegt, das eigentlich eine nicht souveräne Be-wertung der Weizsäcker-Kommission bedeutete, unddann den Mann auch noch mit Dank für seine Arbeit ent-lassen. Ich fand das nicht außerordentlich günstig für dieBeratungen im Parlament.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Peter Zumkley11882
Selbst die Weizsäcker-Kommission, die Ihnen in IhremGedankengut hinsichtlich des Festhaltens an einer Wehr-pflichtarmee entgegenkommt, hat Ihnen nachdrücklichins Stammbuch geschrieben, man bräuchte bei einemFesthalten an der Wehrpflichtarmee, weil man sie gesell-schaftspolitisch möchte, für die Strukturreformen eineAnschubfinanzierung. Die Weizsäcker-Kommission hatfür eine kleinere Größenordnung der WehrpflichtarmeeBundeswehr mehr Geld für notwendig gehalten, als Sieim Haushalt für die größere Formation Wehrpflichtarmeevorgesehen haben.
Deshalb ist der Hinweis, Sie hätten das alles im Griff,nicht richtig.Ich zitiere einmal zur grundsätzlichen Fragestellungder Wehrpflicht den früheren Bundeskanzler HelmutSchmidt. Man kann sich ja gerne zu einer Wehrpflichtar-mee bekennen, muss eine Wehrpflichtarmee aber immermit Wehrgerechtigkeit nach innen und der sicherheitspo-litischen Lageanalyse nach außen legitimieren. HelmutSchmidt sagte: Die politisch-psychologische Vorbe-dingung für die Beibehaltung des Wehrpflichtprinzips istein hohes Maß an Wehrgerechtigkeit.Die Weizsäcker-Kommission hat eigentlich einen Aus-wahlwehrdienst vorgeschlagen. Das ist für mich keineWehrpflichtarmee.
Wer von der jungen Generation nur einen Teil einziehenwill und das mit dem Hinweis begründet, es sei nichtzulässig, in einer freiheitlichen Gesellschaft mehr Wehr-pflichtige einzuziehen, als man unbedingt benötige, denkann ich nur auffordern, sich vor eine deutsche Schul-klasse zu stellen und ihr das zu erklären; denn in dieserSchulklasse werden sich Jugendliche befinden, die einge-zogen werden, und Jugendliche, die sofort ins Be-rufsleben eintreten. So kann man eine Wehrpflichtarmeenicht legitimieren. Wenn Wehrpflicht, dann Wehrgerech-tigkeit!
Nun zu Ihrem Konzept. Sie haben etwas über 70 000Haushaltsstellen für Wehrpflichtige. Können Sie mir ein-mal erklären, wie Sie mit dieser Anzahl an Haushaltsstel-len für Wehrpflichtige – wir hatten bisher über 100 000Stellen – Ihre Wehrpflichtarmee mit Wehrgerechtigkeitverbinden wollen? Sie kommen doch um die Diskussionnicht herum, Herr Verteidigungsminister, dass auch Siebei einer Wehrpflichtarmee auf das Prinzip der Wehrge-rechtigkeit achten müssen. Das muss auch im Verfolg derHaushaltsansätze, die Sie für eine Wehrpflichtarmee ha-ben, diskutiert werden.Die konkrete sicherheitspolitische Herausforderung,vor der unser Land steht – damit habe ich begonnen –,macht in diesem begonnenen Jahrtausend eine Wehr-pflichtarmee nicht unbedingt notwendig. Die Wehpflicht-armee ist ein wichtiger, überzeugender Abschnitt in derGeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in der alten,bipolaren weltpolitischen Situation gewesen. Im Übrigenfordert die NATO von der Bundesrepublik Deutschlandhohe Einsatzbereitschaft ihrer Armee, ausreichende Ver-legefähigkeit, Kompatibilität der Führungssysteme undmoderne Ausrüstung und Bewaffnung. Sie fordert vonuns keine bestimmte Wehrform. Ich glaube, dass auch inder Bundesrepublik Deutschland die Wehrform diskutiertwerden kann. Es gibt NATO-Mitglieder, die – so wie wirals Freie Demokraten das vorschlagen – die Wehrpflichtausgesetzt haben. Auch sie sind nicht der Auffassung ge-wesen, dass sie ein für alle Mal die Wehrpflicht abschaf-fen sollten; Sicherheitslagen kann man nicht für alle Zei-ten geschichtlich für erledigt erklären. Deshalb ist einesolche Ebene bei der Diskussion zur Bundeswehrreformnotwendig. Das Aussetzen der Wehrpflicht würde eineandere Gestalt der Bundeswehr bringen.Es kann aber ein Ansatz beibehalten werden, der eineWehrpflichtarmee immer sehr attraktiv gemacht hat: näm-lich Haushaltsstellen für zwölfmonatige oder zweijährigeVerpflichtung zur Verfügung zu stellen. Dadurch wirdder jungen Generation die Chance gegeben, in die Bun-deswehr hineinzusehen und ihre Berufsentscheidungdann zu treffen. Das wäre ein attraktiver Gesichtspunkt ineiner sehr, sehr guten Kombination.Was meine Fraktion und was ich am bisherigen Verlaufder Diskussion so zu kritisieren haben, Herr Bundesver-teidigungsminister, ist die Kurzsichtigkeit des gedankli-chen Ansatzes. Ich wage die Prognose, dass Sie mit IhremWehrpflichtarmeekonzept, mit der dünnen Finanzie-rungsdecke und mit der Vertröstung auf Ihre intelligentenFinanzierungssysteme die ernsthaften heute vorhandenenStrukturprobleme nicht lösen, Wehrgerechtigkeit ad ab-surdum führen und damit die Motivation in der Truppe zu-nichte machen. Dann haben Sie eine Wehrpflichtarmee,die ihre Pflichten nicht richtig erfüllen kann.
Deshalb wäre es besser, eine offenere, klarere Diskussionüber die Zukunft der Bundeswehr zu führen und zu einerpolitischen Entscheidung darüber zu kommen, in welcherGestalt wir die Bundeswehr haben wollen. Wird dieseEntscheidung getroffen, dann darf sich die Diskussionüberhaupt nicht in Haushaltsfragen erschöpfen; vielmehrmuss dann völlig klar sein, dass keiner der von Ihnen vor-gelegten Haushaltsansätze so bestehen bleiben kann, egal,für welche Wehrform auch immer wir uns entscheiden.Gehen Sie davon aus, dass wir in den Ausschussbera-tungen und auch in den weiteren Plenarberatungen gernemit Ihnen diskutieren, aber dass wir grundsätzlich überdie Zukunft der Bundeswehr diskutieren wollen, und zwarunter längerfristigen Gesichtspunkten und nicht unterkurzfristigen, so wie Sie das hier getan haben.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurz-intervention erhält in diesem Fall der Abgeordnete RudolfScharping das Wort.
– Kurzinterventionen sind Abgeordnetenrecht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Wolfgang Gerhardt11883
Herr Kollege Gerhardt, da
Sie sich auf den Artikel von Herrn Feldmeyer, der in der
heutigen Ausgabe der „FAZ“ erschienen ist, beziehen, un-
terstelle ich, dass Sie dem folgenden Satz zustimmen wer-
den:
Die schwerwiegendste Auswirkung der auf die Ära
Kohl zurückgehenden Politik ständiger finanzieller
Eingriffe ist, dass die Bundeswehr ihre Verbände
nicht mehr auf dem gleichen Ausrüstungsniveau hal-
ten kann.
– Es ist für die Glaubwürdigkeit des Redenden in einer
Debatte schon von Interesse.
Angesichts Ihrer Argumentation bezüglich der Wehr-
pflicht möchte ich Sie auf zwei Dinge hinweisen:
Erstens. Wenn dem von Ihnen unterstützten Beschluss
gefolgt würde, nämlich dass die Bundeswehr 250 000 Be-
rufs- und Zeitsoldaten haben soll, dann würde das finan-
zielle Mehraufwendungen bedeuten, die Sie mit 50 000
mal 60 000 berechnen müssten. Das wären, wenn ich rich-
tig gerechnet habe, gut 3 Milliarden DM an Mehrkosten.
Zweitens. Wenn Sie der Auffassung sind, dass das zu
viel ist und mit der geltenden Finanzplanung oder mit dem
Prinzip finanzieller Solidität nicht in Einklang zu bringen
ist, und wenn Sie deswegen wie der Kollege Polenz auf
den Punkt der Wehrgerechtigkeit ausweichen, dann
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der
Grobplanung für die Streitkräfte im Jahr 2002 99 000
Plätze für Wehrdienstleistende, im Jahr 2003 95 600, im
Jahr 2004 86 500, im Jahr 2005 85 500 und im Jahr 2006
84 400 zur Verfügung stehen werden. Das bedeutet, dass
bei einer Wehrdienstzeit von neun Monaten – nach Abzug
der Zahl derjenigen, die freiwillig länger Dienst leisten –
jährlich über 100 000 junge Menschen einberufen werden
können.
Der Zielbereich 100 000 bis 105 000 wird im Jahr 2010
erreicht, genau in jenem Jahr, in dem sich der Rückgang
der Jahrgangsstärken voll auswirkt, die von heute 450 000
auf etwa 350 000 ab dem Jahr 2008 sinken werden. Das
muss bei jeder sorgfältigen Bundeswehrplanung berück-
sichtigt werden. Das ist auch geschehen.
Sie haben wie der Kollege Polenz auch die Frage der
Standorte angesprochen. Hier möchte ich Sie darauf auf-
merksam machen, dass ich – anders, als es in Ihrer Re-
gierungszeit der Fall war – Standortentscheidungen erst
nach Abschluss der militärischen Planungen treffen werde
und dass ich Standortüberlegungen nicht zum Gegenstand
der militärischen Planungen machen werde. Ansonsten
entstehen unausgewogene, teure und betriebswirtschaft-
lich unsinnige Strukturen, wie sie bereits in der Vergan-
genheit festgestellt wurden. Ich halte es für richtig und
sinnvoll, das so zu machen, wie ich es Ihnen hier geschil-
dert habe.
Schließlich: Wenn die Debatte über die Standorte, an
der bestimmte politische Kräfte nicht völlig unbeteiligt
sind, darauf hinausläuft – ich habe das schon im Verteidi-
gungsausschuss gesagt; ich wiederhole das auch im Ple-
num des Deutschen Bundestages –, dass ich zwischen
dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
und der Fürsorgepflicht für die Angehörigen der Bun-
deswehr abwägen muss, dann dürfen Sie sicher sein, dass
ich die Fürsorgepflicht in den Vordergrund stellen
werde. Ich werde dann die Befriedigung des öffentlichen
Erörterungsbedarfs zurückstellen und die Entscheidungen
im Zweifel schneller fällen, als es eine sorgfältige Erörte-
rung mit den Landesregierungen erfordert. Sie können
von mir als Dienstherrn nicht erwarten, dass ich mich bei
der Abwägung zwischen den Fürsorgepflichten, die ich
gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr habe, und
dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
zulasten der Fürsorgepflicht entscheide. Das werde ich
nicht tun. Das möchte ich ausdrücklich ankündigen.
Das Wort zur Er-
widerung hat der Kollege Wolfgang Gerhardt.
Herr KollegeScharping, ich möchte kurz erwidern. Ich nehme zwar andem Schlagabtausch über das, was die frühere Regierungversäumt hat, gern teil; das gehört zum normalen parla-mentarischen Debattenritual dazu. Aber das hilft uns bei-den nicht sehr viel weiter, wenn wir eigentlich über dieZukunft der Bundeswehr reden wollen. Jetzt haben Sie dieVerantwortung, und jetzt müssen Sie die Fragen zumHaushalt und zur Bundeswehrstruktur beantworten.
Sie können das noch eine Weile abwehren, aber am Endemüssen Sie über die Gestalt der Bundeswehr Auskunft ge-ben.Ich bin nicht der Überzeugung, dass die Zahl der Stel-len, die Sie in den nächsten Haushalten für die Wehr-pflichtigen haben werden, das Prinzip der Wehrgerech-tigkeit manifestiert. Das wird nicht der Fall sein.
Das ist aber der Kernpunkt der notwendigen Grundle-gung einer Wehrpflichtarmee: die außenpolitische Sicher-heitslage und die Wehrgerechtigkeit nach innen. DieseWehrgerechtigkeit schleift schon seit Jahren. Ich weißgar nicht mehr, wann Willi Weiskirch, ein verehrter Kol-lege, Wehrbeauftragter war. Er hat schon seinerzeit dieSchrammen festgestellt, die dieses Prinzip in Deutschlanderleidet.Sie wissen, dass jeder Strukturreform Ihrer wie auch ei-ner Freiwilligenarmee eine heftige Auseinandersetzungan den Standorten der Garnisonen in Deutschland folgenwürde. Dabei ist es egal, welchen Reformansatz manwählt. Aber bitte hören Sie auf, der Öffentlichkeit zu er-zählen, Ihr Reformansatz könnte über die Schließung von166 Kleinststandorten möglicherweise abgewickelt wer-den, sodass die Bundeswehr so breit wie möglich in derFläche vertreten sei. Aus vielerlei auch logistischen Grün-den werden Sie noch nicht einmal die 166 Standorteschließen können. Dann bleiben immer noch 50 000 Sol-daten übrig, denen Sie eine Antwort geben müssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011884
Ich mache diese Bemerkung deshalb, weil ich alleFraktionen dieses Hauses bitten möchte, sich nicht in ei-nen Standortwettbewerb zu begeben. – Etwas Ähnlicheshabe ich bei der Rentendiskussion in deutschen Altenhei-men erlebt. Dort wurde die Frage gestellt: Wer bietetmehr? – Ich erwarte vom Bundesverteidigungsministereine ehrliche Antwort. Sie werden sagen müssen, welcheStandorte geschlossen werden. Sie können sich um eineAntwort nicht mit einer Klein-Standort-Diskussion he-rumdrücken. Darauf kommt es an. Das möchte ich Ihnenin aller Kollegialität entgegnen. Vielleicht denken Sie mitIhren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Wehr-pflicht hoch schätzen, noch einmal konkret darüber nach,ob in der Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflichtmit der Wehrgerechtigkeit noch in Einklang zu bringenist. Geben Sie sich selbst ehrliche Antworten und tragenSie nicht nur ein Prinzip vor sich her, dass in der heutigenZeit in Mitleidenschaft gezogen wird. In den nächstenfünf Jahren sehen wir uns öfter. Ich glaube, dass Sie danneher meiner Meinung zuneigen werden.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich auch im Namen meiner Fraktion bei Vertei-
digungsminister Rudolf Scharping für die Vorlage der
Grobplanung zu einer Neuausrichtung der Bundeswehr
bedanken. Damit ist die Reform einen Schritt weiter vo-
rangekommen. Allerdings bedauere auch ich, dass die
Vorlage gestern Abend kurzfristig erfolgt ist, sodass eine
ausführliche Prüfung bis zur heutigen Debatte nicht mög-
lich war.
Wir werden das im Verteidigungsausschuss nachholen.
Es ist an der Zeit, eine grundsätzliche Debatte über die
Zukunft der Bundeswehr zu führen. Vor einem so wich-
tigen und gewaltigen Schritt, wie ihn die rot-grüne Koali-
tion mit der Bundeswehrstrukturreform beschlossen hat,
sollten wir uns noch einmal der Umstände vergewissern.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?
Nein. – Diese Reform wird nicht nur die Organisation derBundeswehr verändern, sondern sie wird mit unserenaußen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen und Vor-haben kompatibel sein müssen, das heißt, Politik, politi-sche Begriffsbestimmungen, Werte und Ziele sind dieEckpunkte, unter denen die Bundeswehrreform stattfin-det. Beides muss miteinander vereinbar sein. Deswegenwar es so notwendig, dass wir das Flickwerk Ihrer Regie-rung endlich beendet haben. Das war der Grund, warumwir die Kommission zur Zukunft der Bundeswehr ein-gesetzt haben. Die Kommission hat eine in sich sehrschlüssige Konzeption für die Bundeswehr erarbeitet, de-ren Ausgangspunkt eine Analyse der sicherheitspoliti-schen Situation ist.Bevor ich auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedin-gungen eingehe, Herr Gerhardt, mit Verlaub: Es ist rich-tig, dass wir Debatten führen müssen. Auch ich fordere sieein. Ich frage mich aber, aus welchem Grunde und vor al-len Dingen zu welchem Zeitpunkt welche Debatte losge-treten wird. Sie haben 16 Jahre lang die Reform der Bun-deswehr verhindert.
Sie haben eine Kommission immer abgelehnt. Wir woll-ten als Opposition eine Kommission durchsetzen. Da ha-ben Sie gesagt: Eine Kommission? Wozu? Wir machenweiter wie bisher! – Dann haben wir, als wir in der Re-gierung waren, die Kommission eingesetzt. Sie haben imAusschuss nicht einmal an den Vorstellungen zur Reformder Bundeswehr mitgearbeitet.
Heute, nachdem die Eckpunkte beschlossen sind und dieGrobplanung vorliegt, veranstalten Sie einen Sonderpar-teitag und fordern die Flexibilisierung der Wehrpflichtbzw. ihre Aussetzung. Das bedeutet ihre Abschaffung; wirwollen hier einmal Klartext reden.
Sie müssen irgendwann die Frage beantworten, in wessenInteresse Sie zu welchem Zeitpunkt anfangen, über dieReform der Bundeswehr und die Wehrform in Deutsch-land zu diskutieren. Ich glaube, Sie tun das nicht aus In-teresse für die Bundeswehr, die Soldaten, die Jugendli-chen, sondern aus rein parteitaktischem Kalkül, um sichvon den früheren Fehlern zu distanzieren. Das ist dane-ben.
Herr Polenz, ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: DieReform der Bundeswehr ist doch kein technokratischerProzess. Sie ist ein gesellschaftlich höchst brisanter Pro-zess.
Wir öffnen alle Bereiche der Bundeswehr für die Frauen.Sie haben diese Frage ignoriert.
Wir haben uns auf eine Grundgesetzänderung geeinigt,um auszuschließen, dass Frauen zu Kampfeinsätzen ge-zwungen werden können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Wolfgang Gerhardt11885
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ich
möchte das jetzt ausführen. Ich weiß, dass das wehtut.
Aber Sie müssen irgendwann einmal lernen zuzuhören.
Weil das kein technokratischer Prozess ist, werden wir
weiter über die Wehrpflicht und den Zivildienst diskutie-
ren müssen. Das ist doch richtig. Wir haben eine Freiwil-
ligkeit und einen Zwang. Wir haben ein Bundesverfas-
sungsgericht, das in absehbarer Zeit wieder entscheiden
wird. Wir haben den ehemaligen Präsidenten Herzog, der
sehr kluge Fragen zur Berechtigung des Festhaltens an ei-
nem Zwangsdienst, der Wehrpflicht, geäußert hat. Natür-
lich werden wir diese gesellschaftliche Debatte führen.
Aber ich möchte, dass Sie berücksichtigen, dass es um das
Interesse der Bundeswehr und der Soldaten geht, wenn
wir über die Bundeswehrreform streiten.
Wir haben uns geeinigt, dass die kommunale Betäti-
gung der Soldaten nicht generell eingeschränkt wird,
sondern allenfalls in Ausnahmefällen. Das finde ich gut.
Jede Beliebigkeit bei dieser Entscheidung wird ausge-
schlossen, weil sie beim Bundesminister der Verteidigung
liegen wird. Es ist wichtig, diese Debatte zu führen, weil
wir mit der Reform der Bundeswehr den Staatsbürger in
Uniform stärken wollen. Deshalb gibt es einen Konsens
im Haus, dass die kommunale Tätigkeit von Bundes-
wehrangehörigen in keiner Form angetastet werden darf.
Zu diesen Themen hätte ich gern etwas von Ihnen gehört.
Frau Kollegin,
es liegt eine weitere Zwischenfrage vor. Gestatten Sie
überhaupt keine Zwischenfragen? Es gab mehrere Wün-
sche. Ich muss das jetzt irgendwie klären.
Doch, ich gestatte Zwischenfragen. Aber man muss auch
einmal einen Gedanken ausführen können.
Liebe Frau Kollegin Beer, ich
habe drei ganz konkrete Zwischenfragen,
die ich kurz fasse.
Erstens. Gilt das Magdeburger Wahlprogramm noch,
nach dem die Grünen die Bundeswehr abschaffen wollen?
Wenn nein, wann haben Sie es korrigiert?
Zweitens. Sind Sie immer noch eine Verfechterin der
Freiwilligenarmee als Wehrform? Oder haben Sie Ihre
Meinung geändert? Wenn ja, aus welchem Grund?
Drittens. Können Sie mir ein einziges Datum nennen,
an dem Sie sich ganz persönlich für die Frauen in der Bun-
deswehr öffentlich stark gemacht haben?
Nur damit wir
uns darüber klar sind: Normalerweise stellt man nur eine
Zwischenfrage.
HerrKollege, es ist schade, dass Sie die letzten Debatten of-fensichtlich nicht aufmerksam verfolgt haben. Ich sagedas, weil Sie immer die gleichen Zwischenfragen stellen.Ich sage Ihnen noch einmal: Im letzten Parteitagspro-gramm – ich glaube, es ist das von 1987 – war von der Ab-schaffung der Bundeswehr die Rede. Inzwischen habenwir aufgrund der sehr schwierigen Entwicklungen, wasdie europäische Sicherheit angeht – ich erinnere an dieKonflikte auf dem Balkan –, nach einer sehr schmerzhaf-ten, aber auch sehr guten Diskussion die Bundeswehr ansich als Instrument der Politik anerkannt.Die grüne Position ist allerdings nach wie vor: Wirwollen die Freiwilligkeit auch für Männer, gerade dort,wo Frauen den Dienst freiwillig leisten dürfen. Nach un-serer Wahrnehmung läuft die gesellschaftliche Entwick-lung in genau diese Richtung; deswegen kann ich Ihnendas ganz ruhig darstellen.Über die vertraulichen Gespräche, die ich in der letztenWoche mit weiblichen Angehörigen der Bundeswehr,zum Beispiel in Makedonien oder im Kosovo, geführthabe, werde ich hier im Plenum, also in der Öffentlichkeit,kein Zeugnis ablegen, weil es auch ein Vertrauensverhält-nis zwischen Politik und Soldatinnen gibt. Wir werden dieDiskussion in Fachdebatten weiterführen.Ich kann Ihnen nur sagen, dass mich das Konzept vonRudolf Scharping im Hinblick auf die Gewährleistung,dass Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in der Bundes-wehr nicht diskriminiert werden, und all die anderen kon-zeptionellen Maßnahmen, die von der Führungsebene derBundeswehr vorgelegt worden sind, optimistisch stim-men. Frauen werden den Dienst in den Streitkräften sehrselbstbewusst und ohne Benachteiligungen leisten kön-nen.
Ich möchte zu den sicherheitspolitischen Rahmenbe-dingungen zurückkommen. Es gilt zu konstatieren, dasswir uns nach Ende des Ost-West-Konfliktes in einer si-cherheitspolitisch vollkommen neuen Situation befinden.Die nukleare Bedrohung, die Gefahr einer gegenseitigenzivilisatorischen Zerstörung, die uns jahrelang geprägthat, besteht nicht mehr. Die russische Armee wird ihreStreitkräfte reduzieren. Die Gewalt – das gilt es als Tatsa-che anzuerkennen – äußert sich derzeit international in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011886
Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen, die denFrieden regional so weit bedrohen, dass selbst unser Si-cherheitsinteresse davon berührt sein kann.Deutschland befindet sich daher in einer anderen Ver-antwortung. Die Handlungsspielräume für deutscheAußenpolitik haben sich erweitert. Wir sind bereit, dieseim Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zunutzen. Wir sollten dies vor dem Hintergrund der gutenErfahrungen mit integrierter und multilateral angelegterPolitik, wie sie seit der Gründung der BundesrepublikDeutschland praktiziert worden ist, sehen.Wir haben unsere Ziele und Werte – die Friedenspoli-tik und die Achtung der Menschenrechte – sehr eindeutigformuliert. Deshalb müssen und werden wir unsere kon-krete Politik daran messen, wieweit wir diesen An-sprüchen gerecht werden und ob wir uns diesen Zielennähern. Wenn wir in der NATO und in der EuropäischenUnion Einfluss nehmen wollen, dann müssen wir die Bun-deswehr als Mittel der Politik natürlich akzeptieren. DieFrage ist, ob es uns gelingt, dieses Mittel in unserem Sinn,das heißt zur Unterstützung von Friedenspolitik und zurDurchsetzung der Menschenrechte, anzuwenden. Daskann kein Freibrief sein; deswegen will ich diese Werte-diskussion.Wir wissen doch: Es besteht ein unauflösbares Span-nungsverhältnis zwischen den friedens- und menschen-rechtspolitischen Zielen und einem Mittel, das durch denEinsatz oder durch die Androhung von Gewalt definiertist. Alles andere wäre eine unzulässige Beschönigung.Gerade aus diesen Gründen müssen doch alle Fraktionen,also diejenigen, die politisch zu entscheiden haben, wannSoldaten eingesetzt werden, besonders sorgfältig überle-gen, ob und wann sie dieses Mittel anwenden.Ich glaube, wir müssen dazu Kriterien entwickeln, dieuns in Einzelfallentscheidungen ein tragfähiges Beurtei-lungsraster geben. Daher begrüße ich es sehr, dass zumBeispiel die katholische Kirche gerade jetzt die Frage derhumanitären Intervention auf die Tagesordnung gesetzthat und im Sinne äußerer Zurückhaltung einen ganz wich-tigen Beitrag zu einer solchen Diskussion geliefert hat.Unsere Vorstellungen sind klar: Der Gewalteinsatzmuss an Prävention, Einhegung und Minimierung vonGewaltandrohungen und Gewaltanwendungen in interna-tionalen Beziehungen orientiert sein. Im Einzelfall kanndies zu einem Dilemma zwischen Gewaltverbot und demSchutz der Menschenrechte führen. Auf die damit ver-bundenen Fragen gibt es keine generelle Antwort. Ichglaube aber, eine präventive Außen- und Sicherheits-politik mit nicht militärischen Mitteln liegt aus diesemGrunde im Interesse unseres Landes, dessen internationa-les Gewicht primär und anerkanntermaßen ökonomischund nicht militärisch begründet ist, was auch so bleibensollte.Deshalb ist es Bestandteil unserer Politik und unsererÜberlegungen, den Mitteln der Prävention, der Gewalt-vermeidung und der zivilen Konfliktbearbeitung Prioritätzukommen zu lassen. Das sind keine Hohltitel, HerrPolenz, sondern diese Mittel haben Eingang in die prakti-sche Politik unter Rot-Grün gefunden. Ich sage Ihnenauch noch, warum: Erst wenn all diese Mittel der nichtmilitärischen Krisen- und Konfliktprävention eingesetztwurden, aber nicht gewirkt haben, ist der Zeitpunkt ge-kommen, den Einsatz von Militär in Erwägung zu ziehenund darüber zu entscheiden. Wir sind es auch unseren Sol-daten schuldig, erst dann diese Entscheidung sehr verant-wortungsbewusst und vollkommen unpolemisch zu tref-fen.Wir definieren unsere Ziele und Interessen nicht natio-nal, sondern im Kontext der europäischen und globalenInstitutionen. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist ininternationale Zusammenhänge und Institutionen wie dieUNO, die OSZE, die NATO und die sich entwickelnde eu-ropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik inte-griert. Deshalb sind wir für die Integration der Bundes-wehr in multilaterale Gefüge. Das ist ein Beitrag zurlangfristigen Entnationalisierung von Sicherheit. Es gibtheute immer mehr Risiken und Sicherheitsgefährdungen,die national nicht mehr bewältigt werden können. WennSie, Herr Kollege Polenz, an dieser Stelle relativ pole-misch versuchen, uns an den Fragen Haushaltsmittel undUnzuverlässigkeit im Rahmen der europäischen Zusam-menarbeit
zu packen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben nicht getrof-fen, Sie haben – Entschuldigung – voll daneben gelangt,
vor allen Dingen mit dem von Ihnen angeführten Zitat vonGeneralsekretär Robertson. Ich könnte Ihnen da ein sehrviel besseres anbieten.
Generalsekretär Robertson hat unsere Konzeption eu-ropäischer Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen befür-wortet und uns ermutigt, unseren Beitrag zu leisten. Andie Europäer gerichtet hat er gesagt: Es ist nicht die Frage,ob mehr Geld ausgegeben wird, sondern die Frage lautet,ob vorhandenes Geld richtig ausgegeben wird. Das, HerrPolenz, hat Ihre Regierung über Jahre nicht geschafft. Wirhaben uns vorgenommen, das anders zu machen. Genaudas hat auch der Verteidigungsminister vorhin dargestellt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Lehre ausdem Kosovo hat sich die Europäische Union mit den Be-schlüssen von Köln und Helsinki klare Vorgaben gegeben,wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik inden Dimensionen ziviler und militärischer Sicherheit wei-terentwickelt werden soll. Wir haben während des Krie-ges gegen Jugoslawien die Erfahrung gemacht, dass dieeuropäischen Fähigkeiten nicht ausreichend, die Europäergerade im Vorfeld der Auseinandersetzungen nicht einiggenug und unsere Möglichkeiten und unser Einfluss engbegrenzt waren. Deshalb sollten wir gemeinsam Ansätzeentwickeln, auch in Form einer zuverlässigen Planung fürdie europäischen Partner. Ich meine damit zum Beispieldie Frage nach Instrumenten zur Aufklärung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Angelika Beer11887
Eine weitere Erfahrung aus dem Kosovo, und zwarnicht während des Krieges selber, ist für unsere Regie-rung – ich habe das hier schon häufig gesagt –: Wennrechtzeitig Mittel zur Prävention zur Verfügung gestelltworden wären, hätte vielleicht alles besser laufen können.Die Lehre muss doch sein, dass wir spätestens jetzt – icherinnere nur an diese Tage der Spannung und der Unsi-cherheit, wie sich Jugoslawien weiterentwickeln wird,was in Montenegro passieren wird und was in Südserbienpassieren wird – auch andere Elemente wie den Stabili-tätspakt, diplomatische Verhandlungen und Unterstüt-zung der Opposition in dieses Paket von Sicherheitspoli-tik ohne Militär integrieren müssen. Dazu gehört auch einweiterer Ausbau des Instruments der OSZE-Mission undeine Stärkung der Vereinten Nationen.Deswegen haben wir die Kooperation mit den zivilenFriedensdiensten sowie deren Ausbau und die Koopera-tion mit den internationalen Polizeikräften, die für die Ge-staltung eines Friedensprozesses so wichtig sind, weil siedas Militärische entlasten können, intensiviert. Neu istauch, dass diese Regierung unter Federführung zweierMinister, nämlich Innenminister Otto Schily und Vertei-digungsminister Rudolf Scharping, diese Konstrukte zu-sammengeführt hat, um Stabilität zu schaffen. Diese Ele-mente gehören immer dazu, wenn wir heute über dieReform der Bundeswehr diskutieren.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein schwie-riges Unterfangen. Ich appelliere an Sie, die Bundes-wehrreform nicht aus parteipolitischem Kalkül zumSpielplatz für Profilierungen und Taktierereien zu benut-zen.
Ich habe das vorhin am Beispiel der so genannten libera-len Partei ausgeführt.
Ich möchte, dass trotz verschiedener Differenzen die Dis-kussion in verantwortlicher Weise geführt wird, um derBundeswehr die notwendige Planungssicherheit zu ge-ben.
Wir sollten gemeinsam versuchen, die schwierigen Auf-gaben der Zukunft mithilfe dieser Reform zu meistern. Esist möglich und machbar. Dazu brauchen wir aberschnelle und klare Entscheidungen.Ich sage Ihnen zum Schluss ganz deutlich: Sie machendas Gleiche wie früher Volker Rühe: Sie instrumentalisie-ren bestimmte Themen und richten sich nicht nach denInteressen der Soldaten und der Zivilangestellten derBundeswehr. Sie beginnen stattdessen eine Standortdis-kussion.
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden uns dafür einset-zen – das ist meine herzliche Bitte an den Bundesministerder Verteidigung –, die Eckplanungen schnellstmöglichso zu konkretisieren, dass wir die Fakten benennen kön-nen. Wir müssen dies noch schneller als geplant durch-führen, weil Sie eine Verunsicherungskampagne vonNord nach Süd und von Ost nach West auf dem Rückender Soldaten betreiben. Das können wir nicht zulassen.Jede Reform muss logischerweise mit Standortschließun-gen verbunden sein. Wir werden daher versuchen, in die-sem Punkt schnellstmöglich Klarheit zu schaffen. Siekönnen dann Ihre Munition woanders verschießen.Ich würde mir wünschen, dass Sie die Blockade – vor-hin wurde in diesem Zusammenhang schon der KollegeBreuer zitiert – beenden und ansatzweise einen Dialogführen, von dem alle profitieren und der im Interesse derGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist.Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Rossmanith das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach-dem die Frau Kollegin Beer meine Zwischenfrage nichtzugelassen hat, muss ich zu dem Mittel der Kurzinterven-tion greifen.Frau Kollegin Beer, ich bin über den Weg schon sehrerstaunt, den Sie innerhalb von zwei Jahren beschrittenhaben. Sie haben sich zu Beginn – das habe ich überhauptnicht verstanden – als Abgeordnete dieses Hauses und alsMitglied des Verteidigungsausschusses beim Bundesmi-nister der Verteidigung dafür bedankt, dass er den Vertei-digungsausschuss missachtet hat und dessen Mitgliederam gestrigen Tage – ich darf schon sagen – desavouierthat.Ich empfinde es als eine Beleidigung dieses Gremiumsdurch den Bundesminister der Verteidigung – Sie bedan-ken sich auch noch für diese Beleidigung –, dass um16.13 Uhr eine Broschüre bei der Poststelle des Deut-schen Bundestages abgegeben wurde, während wir bisnach 15 Uhr im Verteidigungsausschuss saßen
und es selbst auf meine Bitte und auf Antrag derCDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion nicht mög-lich war, diese Broschüre bis zu diesem Zeitpunkt denMitgliedern des Verteidigungsausschusses zur Verfügungzu stellen. Wir konnten dann heute Morgen eine Glanz-broschüre in den Händen halten, die schon länger fertiggedruckt sein musste, obwohl man den Mitgliedern desVerteidigungsausschusses gesagt hatte, erst Montagabendseien die abschließenden Gespräche beendet worden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Angelika Beer11888
Dafür kann ich mich als Parlamentarier nicht bedan-ken, sondern dafür muss ich den zuständigen Bundesmi-nister, der das alleine zu verantworten hat, rügen. Ichnehme ausdrücklich seine Mitarbeiter aus;
denn er kann und muss die entsprechende Anweisung ge-ben. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist.
Herr Bundesminister Scharping, der Konsens, den wiralle im Interesse der Sicherheits- und Verteidigungspoli-tik über Jahrzehnte – egal ob in Regierungsverantwortungoder in der Opposition – mit getragen haben, wurde vonIhnen am gestrigen Tage aufgekündigt.
Das müssen wir Ihnen vorwerfen.Zu Ihrer so genannten Grobausplanung kann ich nur ei-nen Satz sagen: Das ist keine Grobausplanung, sonderndas ist ein grobes Aus für die Bundeswehr.
Herr
Kollege Rossmanith, erstens ist es schlichtweg Fakt, dass
wir die bisherige Praxis Ihrer damaligen Regierung ver-
ändert haben. Sie haben von Jahr zu Jahr Einzelpläne vor-
gelegt nach dem Prinzip: schieben, strecken, streichen.
Dazu braucht man nicht viel Zeit; man muss nur ein paar
Zahlen verändern und das war es. Dazu braucht man auch
nicht viel Vorbereitungszeit. Wir haben nicht nach diesem
Prinzip gehandelt. Das Bundesverteidigungsministerium
hat im Auftrage der rot-grünen Koalition ein Konzept zur
Reform der Bundeswehr vorgelegt, das – ich hoffe, das ist
auch für Sie nachvollziehbar – etwas mehr Arbeit, Fein-
planung und konzeptionelles Denken erfordert hat.
Insofern habe ich Verständnis dafür, wenn die eine oder
andere Vorlage etwas später erscheint. Es ist mir aber lie-
ber, sie erscheint später, als den gleichen Mist wie von Ih-
nen und Herrn Rühe weiter zu bekommen – um das ein-
mal ganz deutlich zu sagen.
Zweitens – ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen,
und appelliere an die Souveränität des Parlaments –: Ich
habe vorhin kritisiert, dass die Vorlage so spät gekommen
ist und ich deswegen heute nicht auf konkrete Einzelhei-
ten eingehen kann.
– Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden! – Ich gebe durch-
aus zu, dass ich heute mit Interesse sämtliche deutschen
Zeitungen gelesen habe, um über die wichtigsten Punkte
der Grobausplanung informiert zu sein, weil ich heute
Morgen nicht die 40 Seiten der Vorlage durcharbeiten
konnte. Aber weil wir das Parlament sind, wird dies nicht
die letzte Debatte, sondern nur eine der Debatten sein, die
die weitere Reform begleiten. Wir werden diese Diskus-
sion im Ausschuss und mit Sicherheit auch im Deutschen
Bundestag weiter führen. Deswegen habe ich mit dem
ganzen Prozedere kein Problem.
Ich habe mich, auch im Auftrag der Fraktion, dafür be-
dankt, dass diese Grobplanung, wie angekündigt, vorge-
legt worden ist und wir jetzt eine weitere, detaillierte
Grundlage haben, um die Reform der Bundeswehr zügig
und konsequent umzusetzen. Bei diesem Dank bleibe ich
und ich unterstreiche ihn.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehr-lich sagen: Diese Danksagungen kenne ich noch ausfrüheren Zeiten, in denen jede Rede damit angefangenwerden musste, einem Generalsekretär zu danken. Kön-nen wir das nicht lassen und ein bisschen vernünftiger undpolitisch miteinander umgehen?
Das gehört auch zum Stil.Die rot-grüne Bundesregierung – das erkenne ich neid-los an – kann inzwischen ganz gut auf verschiedenen Kla-vieren spielen und sie hat für jeden eine eigene Melodie.In der Debatte um die Bundeswehrreform verkauft sie kri-tischen Geistern den Umbau der Armee als Abrüstung; dieBundeswehr, die um ihren Status fürchtet, beruhigt sie mitder Aussicht auf viel größere und wichtigere Aufgaben.Die Grünen schlüpfen einmal mehr in die Rolle – die in-zwischen zu ihrer zweiten Natur geworden ist –, nachaußen zu sagen: „Wir würden ja gerne“ – in diesem Falle:abrüsten – „wenn die SPD uns ließe“, während sie nachinnen so tun, als ob sie die Bundeswehr erfunden hätten.
Ich glaube, diese Art und Weise der Doppelstrategie kannman einfach nicht durchgehen lassen.
Im Unterschied zu den Kolleginnen und Kollegen derF.D.P. glaube ich Ihnen, Frau Beer, Ihren Gesinnungs-wechsel zum Militärischen hin. Daran habe ich keinenZweifel, wenn ich Ihnen zuhöre. Das Schlimme ist nur:Sie glauben schon wieder, dass Sie das mit der gleichen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Kurt J. Rossmanith11889
Inbrunst verkünden müssen, mit der Sie es vorher kriti-siert haben.
Etwas nachdenklicher, nüchterner, sachlicher könnten wirmit den eigenen Entwicklungen ruhig umgehen.Aus meiner Sicht markiert die Bundeswehrreform inWahrheit den Abschied von einer Verteidigungsarmeeund den Beginn einer Armee, die zur weltweiten Inter-vention fähig ist. Das ist hier nicht bestritten worden. Ichwill festhalten, dass das der entscheidende Einschnitt ist.Das ist ein historischer Einschnitt und eine völlig neueKonzeption. Darin, diese umzusetzen, ist sich offensicht-lich nicht nur die Regierung, sondern sind sich auchCDU/CSU, F.D.P. und in diesem Falle leider auch dieWeizsäcker-Kommission einig.Sie nennen das Modernisierung. Wir haben dazu ein al-ternatives Konzept vorgelegt. Wir nennen es „Zukunftdurch Abrüstung“. Modernisierung klingt harmlos, klingtwie ein Weichspüler. Ich finde, dass wir uns gerade in die-ser Frage nicht weich spülen lassen sollten.Der Kern der Differenz, den wir hier auszutragen ha-ben, betrifft den Auftrag der Bundeswehr. Das Regie-rungskonzept zur Reform der Bundeswehr ist die deut-sche Übersetzung der neuen NATO-Strategie. Diesebesagt: Für die NATO sind weltweite Militäreinsätze auchohne UNO-Mandat möglich. Sie besagt: Der Zweck derNATO ist nicht mehr die territoriale Verteidigung, son-dern die Erfüllung von Bündnisinteressen – ein Begriff,der so vage wie dehnbar ist. Zu den Bündnisinteressenkann gehören, die deutsche Wirtschaft mit Rohstoffen zuversorgen. Die Möglichkeit, dass dafür auch die Bundes-wehr eingesetzt werden könnte, hat Verteidigungsminis-ter Scharping am 24. Mai 2000 auf einer Pressekonferenz,die vom Fernsehsender Phoenix übertragen worden ist,ausdrücklich genannt.Das so genannte Reformkonzept entspricht darüber hi-naus passgenau der militärischen Formation, die sich dieEuropäische Union schaffen will. Danach sind exakt jene150 000 Menschen vorgesehen, die die BundesrepublikDeutschland zu den europäischen Krisenreaktionskräftenbeisteuern soll. Da drängt sich doch die Frage auf: In wel-che Kriege sollen deutsche Soldaten künftig geschicktwerden? In den Kaukasus? Nach Afrika? Wenn ja, aufwelcher Grundlage?Dem neuen Auftrag der Bundeswehr entspricht ihreneue Bewaffnung. Sie braucht Hightech. Diese Umrüs-tung kostet viel Geld. Was uns von der rot-grünen Bun-desregierung unter dem Titel „Reform“ vorgelegt wird, istdas qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland. Das muss manhier festhalten und das muss man auch draußen sagen.
Daran mäkelt jetzt – das begreife ich eigentlich nicht –die CDU/CSU herum. Herr Kollege Polenz, Ihre Redefand ich ziemlich zahnlos und ohne Biss. Ich habe darü-ber nachgedacht, woran das liegen könnte. Ich glaube, dasliegt daran, dass Sie die jetzige Entwicklung der Bundes-wehr eigentlich bejahen und dass deswegen Ihre Kritik,die Sie aufgrund Ihrer Position üben müssen, etwas klein-lich ist. Das, was Sie ärgert, ist, dass Rot-Grün das durch-setzt, was Schwarz-Gelb schon immer wollte.
Nur, die Kohl-Regierung hat es nicht geschafft. Siemusste zu Recht die gesellschaftliche Opposition fürch-ten, zu der damals im weitesten Sinne auch die heutigenRegierungsparteien SPD und Grüne gehörten.
Die hätten damals nämlich nicht mitgespielt und das wuss-ten Sie. Was das bedeutet, das wusste Helmut Kohl zu ge-nau. Zu präsent war die Erinnerung an die Volksbewe-gung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Eine ähnlicheKraftprobe hat sich die alte Bundesregierung kurz nachder deutschen Einheit nicht zugetraut. Diese politischenSkrupel allerdings hat Rot-Grün heute nicht mehr; auchdas muss hier ausgesprochen werden.
Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Bun-desrepublik Deutschland nur noch von Freunden undPartnern „umzingelt“. Dies ist eine einzigartige Chancezur Abrüstung. Die Bundesregierungen sagten bislang:Wir können die Chancen leider nicht nutzen, solange inSüdosteuropa blutige Bürgerkriege toben. Die Dekade derBalkankriege ist aber jetzt aus und vorbei. Jedenfallsstellte das gestern die Bundesregierung in der Debatte be-züglich der Entwicklungen in Jugoslawien fest. Wenn daswirklich so ist, dann könnten Sie endlich loslegen: Siekönnten abrüsten. Sie tun es aber nicht. Warum tun Sie esdenn nicht? Die Regierung beantwortet solche Fragennicht.Auch aus unserer Sicht gibt es nach Ende der Bal-kankriege noch Risiken wie den Terrorismus, die Weiter-verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die organi-sierte Kriminalität, innerstaatliche Konflikte und Bürger-kriege. Aber all diese Risiken entziehen sich ihrer Naturnach militärischen Lösungen. Sie müssen vielmehr sozialund humanitär ausgeglichen und gedämpft werden. Dasist die eigentliche Aufgabe. Diese Konflikte können unddürfen nicht militärisch gelöst werden.
Adäquate Mittel wären wirtschaftliche Unterstützung,politische Hilfen und eine friedliche Zusammenarbeit.Neue militärische Interventionskräfte der EuropäischenUnion, eine kriegerischere Bundeswehr sind eine völligfalsche Antwort auf neue Problemlagen der Welt. Deswe-gen meinen wir, deutsche Streitkräfte müssen sich striktauf den Verteidigungsauftrag beschränken. Dafür wären100 000 Soldatinnen und Soldaten mehr als genug.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einenknappen Satz zu der Debatte um die Angleichung der Be-soldung in Ost und West sagen. Wenn Herr Bundesminis-ter Scharping von der Armee der Einheit gesprochen hat,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Wolfgang Gehrcke11890
sollte damit nicht nur eine Einheit im Dienen, dann mussdamit auch eine Einheit im Verdienen gemeint sein.
Alle Argumente, die wir von Herrn Zumkley gehört ha-ben, waren nicht besonders überzeugend. Das ging einbisschen nach dem Motto: Wasch meinen Pelz, aber ichwill es nicht bezahlen.Lassen Sie mich abschließend noch die Problematikder Wehrpflicht ansprechen. Die PDS tritt für die Ab-schaffung der Wehrpflicht ein. Ein erster Schritt dazukann die Aussetzung der Wehrpflicht sein, weil die Wehr-pflicht im Grundgesetz als Kannbestimmung verankert istund die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ände-rung des Grundgesetzes hier leider nicht zusammen-kommt. Aber es ist besser, sie auszusetzen, als sie weiter-zuführen. Das hat übrigens die F.D.P. auf ihrem Parteitagbeschlossen, wenn auch mit anderen Argumenten und an-deren Zielen als die PDS. Ich möchte daher im Interesseder F.D.P. und der PDS deutlich sagen: Von den Zielen herunterscheiden wir uns auch in dieser Frage völlig. Siewollen im Kern ebenfalls eine Kriseninterventionsarmee.Dass die Grünen so auf diesem Beschluss herumhacken,spricht wiederum nur für das schlechte Gewissen der Grü-nen, das sie gerade in dieser Frage haben.Die PDS dagegen hält daran fest: Armeen, Aufrüstung,Rüstungsexport und Zwangsdienste sind vollständig zuüberwinden. Das wird sicherlich ein langer Weg sein. Ermuss gegangen werden, bis er eine Mehrheit in der Be-völkerung findet. Wir haben unsere Alternativen in diesergrundsätzlichen Frage der Bundeswehrreform deutlichaufgezeigt. Wir halten Abrüstung auch in diesem Parla-ment nicht für ein Fremdwort. Wir wollen endlich, dasskonkret deutlich abgerüstet wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Polenz und Herr
Gerhardt, Sie haben zur Zukunft der Bundeswehr gespro-
chen. So, wie Sie das dargestellt haben, soll sich eigent-
lich nichts verändern; die veralteten Strukturen der Bun-
deswehr sollen beibehalten werden.
– Ich hatte zumindest diesen Eindruck. Ich sage Ihnen
auch, warum ich diesen Eindruck hatte:
Frauen sind bei Ihnen überhaupt nicht vorgekommen. Es
ist Ihnen wohl entgangen, dass es in der Zukunft Frauen
in der Bundeswehr gibt.
Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Nein, in Anbetracht der
Zeit gestatte ich keine Zwischenfragen. Außerdem hat
Herr Nolting am Anfang schon genügend Gelegenheit ge-
habt, hier zu sprechen – wenngleich er nicht auf der Red-
nerliste stand.
„Frauen erobern die Bundeswehr, ehrgeizig und nicht
weniger hart im Nehmen als ihre männlichen Kollegen“,
so war es dieser Tage in einer Tageszeitung zu lesen. Da-
mit geht ein langer Weg der Irreführung zu Ende, der bis
zum Europäischen Gerichtshof führte. Jetzt wird einer der
letzten Steine zur Gleichstellung von Mann und Frau aus
dem Weg geräumt. Wir können stolz sein; denn das Mär-
chen vom schwachen Geschlecht ist jetzt korrigiert.
Damit die Realisierung nun wirklich ohne Hindernisse
auf den Weg gebracht werden kann, bedarf es der Anpas-
sung des Soldatengesetzes.
– Lieber Kurt, halt Dich zurück, bitte nicht wieder dieses
Thema! – Die vorgesehenen Änderungen des Soldatenge-
setzes, was den Dienst für Frauen anbelangt, sind gelun-
gen und entsprechen den Notwendigkeiten voll und ganz.
Weibliche Soldaten im Sanitätsdienst gibt es bei der
Bundeswehr schon lange. Deshalb war bei mir in Roth,
wo Sanitäter ausgebildet werden, die Aufregung nicht
sehr groß, als das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
vorlag. Nun werden alle Teilstreitkräfte der Bundeswehr
für Bewerberinnen offen stehen. Die Frau als Sonderfall
bei der Bundeswehr wird es daher nicht mehr geben.
Ein Oberfeldarzt aus meinem Wahlkreis sagte mir, er
sei es gewohnt, dass es bei seiner Truppe in Roth inzwi-
schen mehr Frauen als Männer gebe. Sonderbehandlun-
gen oder reine Frauengruppen haben sich nicht bewährt;
am besten lässt sich eine Truppe führen, in der Männer
und Frauen in etwa gleichstark vertreten sind – so sagen
mir die Fachleute. Frauen müssen auch die gleichen Ein-
stellungsvoraussetzungen wie ihre männlichen Kollegen
erfüllen. Dass von etwa 100 Offiziersanwärtern durch-
schnittlich nur etwa sieben die schweren Prüfungen zum
Flugzeugführer schaffen, ist völlig normal. Diese Quote
wird ganz sicher auch von Frauen erreicht werden.
In drei bis vier Jahren – da bin ich mir sicher – fliegen die
ersten Pilotinnen bei der Luftwaffe.
Herr Kollege
Braun, Frau Wohlleben gestattet Ihre Zwischenfrage
nicht.
Frauen werden alle Lauf-bahnen offen stehen. Dies und vieles mehr ist nun imSoldatengesetz geregelt worden. Dafür danken wir demBundesminister. Dass auch die Umsetzung dieser hervor-ragenden Regelung exakt und schnell vonstatten geht,dessen sind wir uns sicher. Dann können wir Frauen, aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Wolfgang Gehrcke11891
auch die Männer zufrieden sein. Herr Minister, ichglaube, wir werden zufrieden sein.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die grundlegendeNeuausrichtung der Bundeswehr sowie der Beginn einerstrategischen Partnerschaft mit derWirtschaftmarkie-ren einen Umbruch hinsichtlich der bisherigen Zusam-menarbeit, aber auch einen Umbruch dahin gehend, dassBerufs- und Zeitsoldaten nach ihrem Ausscheiden ihre Er-fahrungen möglichst unkompliziert in die Arbeitswelteinbringen können. Das ist sehr wichtig, damit sie durchihr Ausscheiden aus der Bundeswehr nicht sofort aufsgeistige Altenteil geschickt werden und wichtige Erfah-rungen und intelligentes Humankapital brachliegen. Dassdas so noch nicht in § 20 a des Soldatengesetzes ge-schrieben werden konnte, nehmen wir zur Kenntnis.Dass eine Veränderung des § 25 a notwendig ist, stehtaußer Frage. Wir sind endlich erwachsen geworden, undwenn ich „erwachsen“ sage, dann meine ich damit, dasswir wie unsere internationalen Partner Pflichten über-nommen haben, die über die Kernaufgabe der Landesver-teidigung hinausgehen. Wir sind künftig in der Bündnis-verteidigung und im internationalen Management mehrgefordert.Da darf ein kommunales Ehrenamt nicht im Wegestehen. Das, was in der freien Wirtschaft gang und gäbeist, muss auch für unsere Soldaten gelten. Selbstverständ-lich wollen wir unsere Soldaten auch in kommunalenEhrenämtern sehen.
Sie sollen weiterhin kandidieren und auch gewählt wer-den; denn wir sind stolz auf diese praktizierte Form desStaatsbürgers in Uniform.
Dieses Amt darf aber nicht dazu benutzt werden, sichvor Auslandseinsätzen zu drücken.
– Bisher ist dies nur in einem Fall versucht worden, HerrNolting. Das könnte sich aber fortsetzen. Deswegen ist esnotwendig, eine Veränderung im Soldatengesetz vorzu-nehmen. Auch hier wird uns sicher ein annehmbarerWortlaut vorliegen, über den wir beraten werden und denwir sicher alle miteinander tragen können.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir laden Sie zurkonstruktiven Mitarbeit ein, damit wir diese Reform,diese Veränderungen im Soldatengesetz auf den Wegbringen können. Die Zeit dafür ist reif. Erinnern Sie sichdoch: Wann gab es die letzte erfolgreiche Reform? – Ver-teidigungsminister Helmut Schmidt war der Initiatior.
Er hat eine weitsichtige, zukunftsfähige Reform der Bun-deswehr konzipiert – das lässt sich nachlesen, hören Siegut zu – und auf den Weg gebracht. Die Verteidigungsmi-nister Georg Leber und Hans Apel haben dieses wichtigeWerk in die Tat umgesetzt und Sie, meine sehr verehrtenHerren und Damen von der Opposition, haben davon16 Jahre lang gelebt. So einfach ist das.
Das sind Tatsachen und Fakten. Lesen Sie es in der Be-standsaufnahme nach.
Von Ihnen kam keine Erneuerung, Sie haben die Truppeund die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur verunsi-chert.Bitte vergessen Sie einmal für einen Augenblick IhreOppositionsrolle und denken Sie an die Menschen in derBundeswehr, die nicht wie Schachfiguren beliebig aufdem Felde hin und her geschoben werden können, so wieSie es bisher getan haben. Die Zeiten dafür sind Gott seiDank vorbei. Die Bundeswehr vertraut dieser Regierungund dieses Vertrauen wissen wir zu schätzen.
Wir werden diese Menschen nicht enttäuschen, weil nurwir nachweisbar die Kompetenz dazu haben, unsere Bun-deswehr zukunftsfähig zu reformieren.
Wir danken dem Bundesminister der Verteidigung.
Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diehervorragende Arbeit und wir danken den Soldatinnenund Soldaten dafür, dass sie bereit sind, diesen Reform-weg mitzugehen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Nolting das Wort.
Frau KolleginWohlleben, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass dieF.D.P. bereits im Jahre 1987, also vor 13 Jahren, be-schlossen hat, dass sich die Bundeswehr für Frauen in allden Bereichen öffnen soll, in denen Frauen mitarbeitenwollen? Können Sie sich daran erinnern, dass die F.D.P.hierzu im Bundestag Vorstöße unternommen und Anträgeeingebracht hat, die regelmäßig von allen Fraktionen ab-gelehnt wurden, auch von der SPD-Fraktion? Können Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Verena Wohlleben11892
sich auch daran erinnern, dass uns die Grünen, vor allemdie Kollegin Beer, aufgrund unserer Forderung ständigdie Militarisierung der Gesellschaft vorgeworfen haben?Heute wird dies als Sieg der Gleichberechtigung darge-legt.
Vielleicht können Sie sich an diese erst wenige Jahrezurückliegenden Ereignisse erinnern. Ich freue mich, dassSie das, was wir als F.D.P. vor 13 Jahren beschlossen ha-ben, jetzt endlich übernehmen.Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben hier im Rahmender Diskussion über das Ehrenamt geäußert, dieses Amtdürfe nicht dazu benutzt werden, dass sich Soldaten vorAuslandseinsätzen drücken. Sind Sie sich eigentlich be-wusst, was Sie damit sagen? Sie verunglimpfen die Sol-daten im Einsatzgebiet, Sie verunglimpfen die Soldaten,die hier vor Ort ihren Dienst tun, und Sie verunglimpfendie Soldaten, die in dieser Demokratie und für diese De-mokratie in den Kommunalparlamenten arbeiten, wennSie hier einen einzigen Fall pauschal vortragen, um dannzu einer solchen Aussage zu kommen. Sind Sie sich darü-ber im Klaren? – Ich glaube nicht.
Sie könnten auf diese Frage antworten, um das richtig zustellen.Vielen Dank.
Möchten Sie
antworten? – Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans Raidel
das Wort.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau KolleginWohlleben, wer keine Selbstzweifel hat, macht nach alterLebenserfahrung im Leben viele Fehler. Ich hoffe, dassSie davor bewahrt bleiben.
Herr Minister, das war heute keine große Rede, das warkein großer Wurf. Vieles ist im Dunkeln geblieben. Neueskam nicht so richtig zum Tragen. In meinem Wahlkreisgibt es ein Sprichwort dafür: „Der Berg kreißte, eine Mausward geboren.“Liebe Freunde, die Bundeswehr muss reformiert wer-den. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel. Nach al-lem, was bisher bekannt ist, kann jedoch von einer durch-gängigen, klaren und konsequenten Planung auf derGrundlage einer soliden Finanzierung für die Bundes-wehr nicht die Rede sein. Herr Minister, Sie predigen mitmissionarischem Eifer von der Attraktivität, von der Qua-lität und von der Motivation. Aber Ihr Dilemma ist dochersichtlich: Ihre Regierung will all das, was Sie vorschla-gen, nicht bezahlen. Strecken, Schieben, Streichen ist out,erklärten Sie bei Ihrem Amtsantritt.
Dies war aus heutiger Sicht vielleicht ein bisschen vorei-lig. Ich sage: Strecken, Schieben, Streichen ist nach wievor in. Das zeigt ein Blick in den Haushalt 2001, in diemittelfristige Finanzplanung und in die Investitionspla-nung. Dies ist für jeden Fachkundigen ersichtlich.Jeder weiß, dass die Reduzierung der Truppenstärke,die Steigerung der Attraktivität, eine moderne Ausrüstungund die Erfüllung internationaler Verpflichtungen ersteinmal zusätzlich Geld kosten. Doch die notwendige An-schubfinanzierung für die Bundeswehrreform ist vomTisch. Der Wehretat sinkt. Das sind die Fakten.Herr Minister, am Ende zählt nicht, ob Sie vielleichtdie richtigen Ideen vorgetragen haben, sondern nur das,was diese Regierung und Rot-Grün daraus gemacht ha-ben.
Warum scheuen Sie den erneuten Kampf um mehr Geld?Nach allen Meinungsumfragen bejaht die Bevölkerungdie Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Wehrpflichtund will eine moderne Bundeswehr. Seit 14 Uhr tagen dieZuständigen in den Reihen der SPD über die Verteilungzumindest der Zinsen aus den UMTS-Milliarden. Wo istIhre Forderung, wenigstens 1 Milliarde DM von diesemKuchen zu bekommen? Wir wissen es: Herr Schröder undHerr Eichel wollen nicht, die Grünen wollen nicht, auchnicht die Linken in der SPD. Sie stehen mit dem Rückenzur Wand. Das ist die Wahrheit. Ideologie geht vor Rea-lität.
Ein Wort zur Wehrpflicht.Wir wollen die Wehrpflicht.Die CDU/CSU ist und bleibt der Garant für die Wehr-pflicht. Wir dürfen es gemeinsam nicht zulassen, dasshier über die Aussetzung und über die Abschaffung derWehrpflicht geredet wird und vielleicht sogar Beschlüssedazu gefasst werden. In Richtung der F.D.P. sage ich:Es darf nicht sein, dass der Zeitgeist der„Möllemänner“ über die Vernunft der Sachkundigen tri-umphiert. Revidieren Sie diesen Parteitagsbeschluss! Unddie Grünen sollten sich an das erinnern, was sie früher ge-sagt haben. Sie sollten ein klares Bekenntnis zur Wehr-pflicht ablegen.Die Ausübung des passiven Wahlrechts soll für Sol-daten eingeschränkt werden. Den Fall, den Sie zitiert ha-ben, sollten Sie bitte einmal nachlesen. Es ist nur peinlich,was hier passiert ist. Gerade wir Parlamentarier dürfennicht zulassen, dass diese Rechte eingeschränkt werden.Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Minister: StreichenSie diese Vorschrift aus dem Gesetz! Sie ist für die prak-tische Handhabung nicht notwendig, sie ist überflüssig.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Günther Friedrich Nolting11893
Ich will noch etwas zur Standortfrage sagen. Wir wis-sen, dass die Präsenz in der Fläche notwendig ist. Wir wis-sen, wie sehr die Bundeswehr mit ihren Standorten beiLand und Leuten verwurzelt ist. Das muss natürlich auchkünftig so bleiben. Es ist auch darauf hinzuweisen, dassdies einen Ausbildungs- und Wirtschaftsfaktor darstellt.Wir treten daher für den möglichst vollständigen Erhaltder Bundeswehrstandorte ein. Herr Minister, Ihre diesbe-zügliche Aussage ist nicht schlüssig: Sie wollen das Per-sonal um rund 60 000 Personen reduzieren, aber nurKleinststandorte schließen. Rechnet man das einmalnach, ergibt sich, dass das nicht geht. Das bedeutet, dasseine Standortschließungswelle bevorsteht. Ich sage Ihnenklipp und klar: Wir sind nicht für diesen Weg. Wir habenin unseren Vorstellungen dargelegt, wo für uns bei derStruktur und beim Personal die Unterkante liegt. Wir ma-chen Sie von diesem Platz aus für die Standortfrage ver-antwortlich. Sie, Rot-Grün, sind für diese Themen verant-wortlich.Sie wollen aus dem Verkauf von Liegenschaften undveraltetem Wehrmaterial Geld erwirtschaften. Grundsätz-lich ist diese Idee richtig. Aber wenn Sie davon ausgehen,dass hier schnelles Geld – vor allem in ausreichendemUmfang – erzielt werden kann, dann haben Sie diese The-men nicht richtig durchleuchtet, weil das in der Praxis mitSicherheit nicht passieren wird.Was wird passieren? Sie werden entweder die Soll-stärke weiter nach unten fahren oder viele Projekte ausdem Haushalt streichen müssen. Das ist es eben: Ver-schieben, Strecken, Streichen. In allen Fällen wird die Un-ruhe und Unzufriedenheit in der Truppe zunehmen. Voneiner attraktiven Armee kann überhaupt keine Rede mehrsein. Unsere Verbündeten sind bereits enttäuscht bzw.werden enttäuscht sein. Deutschland wird seinen Ver-pflichtungen nicht gerecht.Die Reformüberlegungen sind auf Rand genäht. Esgeht nur nach der Kassenlage und nicht nach dem Bedarf.Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge, wie sie derzeit aufdem Tisch liegen, ab. Sie sind für die Bundeswehr in die-ser Form nicht zumutbar.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Scharping das Wort.
Herr Kollege Raidel, daSie sich wie auch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion re-gelmäßig wiederholen, ohne auf Zahlen einzugehen,möchte ich Sie zunächst fragen, welchen Ihrer Finanz-pläne ich eigentliche zugrunde legen soll.
Für das Jahr 1997 haben Sie in diversen Finanzplänenvorgesehen: 47,5 Milliarden DM, 47,9 Milliarden DM,48,4 Milliarden DM, 46,5 Milliarden DM, 46,3 Mil-liarden DM – das nenne ich eine solide Finanzplanung.Tatsächlich ausgegeben haben Sie 46,2 Milliarden DM.1998 haben Sie in diversen Finanzplänen 48,4 Mil-liarden DM, 48,9 Milliarden DM, 46,9 Milliarden DM,46,7 Milliarden DM, 46,7Milliarden DM vorgesehen. ImJahr 1999 – das sage ich jetzt nur zur Verdeutlichung – hatdiese Koalition für die Bundeswehr 47,05 Milliarden DMund im Einzelplan 60 rund 600 Millionen DM eingeplant;das macht rund 47,6 Milliarden DM. Ausgegeben hat sie48,1 Milliarden DM. Genauso wird es übrigens im Jahre2000 laufen. Das ist der erste Punkt.Zweiter Punkt. Sie sagen, Einsparungen bis zu 1 Milli-arde DM seien unrealistisch. Ich sage Ihnen – das habe ichschon im Verteidigungsausschuss und an anderer Stellegesagt; aber so ist es dann auch im Protokoll des Deut-schen Bundestages –: Wir rechnen mit sinkenden Be-triebskosten in einer Größenordnung von 200 bis 250Mil-lionen DM. Wir haben im Haushaltsentwurf 2001 dasBeschaffungsvolumen, das handelsüblich abgewickeltund marktüblich finanziert werden kann, mit einerGrößenordnung von 370 Millionen DM identifiziert.
– Was hat der denn damit zu tun? Sie sind jetzt wirklichauf dem falschen Dampfer, Herr Kollege Nolting.Im Übrigen hat Ihre Tätigkeit dazu geführt, dass Lie-genschaften frei geworden sind, die von der Wehr- undvon der Bundesvermögensverwaltung folgendermaßenbewertet worden sind: geschätzter Verkehrswert für dasJahr 2001 370 Millionen DM. Ich sage Ihnen das nur; Siewerden ja über den Haushaltsvollzug unschwer kontrol-lieren können, ob diese Ziele erreicht werden.Letzter Hinweis. Was die internationale Anerkennungangeht, beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl. Allemeine Kollegen Verteidigungsminister begrüßen die Re-form der Bundeswehr; das haben sie ausdrücklich gesagt.Alle in der Wirtschaft begrüßen die Reform der Bundes-wehr und die Einführung moderner Managementmetho-den, die Kooperation mit der Wirtschaft. 85 Prozent derAngehörigen der Streitkräfte – herausgefunden durch eineUmfrage von Emnid, durchgeführt mit 12 000 Angehöri-gen der Streitkräfte – begrüßen die Reform der Streit-kräfte. Die einzigen, die nörgeln, sind Sie.
Sie sagen übrigens weder zu den Besoldungsverbesse-rungen noch zur Neuordnung der Laufbahn Nein.
Sie sagen auch nicht Nein zur Neustrukturierung vonHeer, Luftwaffe und Marine. Sie sagen nicht Nein zurStreitkräftebasis. – Das alles scheint Ihnen doch offenbarrecht zu sein.Wenn sich also der Dialog darauf begrenzt, die Fragezu stellen, ob eine richtige Vorstellung auch finanziertwerden kann, dann bin ich bereit – längs der Zahlen, dieich Ihnen gerade noch einmal genannt habe –, in diesenDialog einzutreten. Sie werden mir dann erläutern müs-sen, auf welcher Grundlage ich vergleichen soll, was Siebisher geplant hatten; denn ich habe für jedes Haushalts-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Hans Raidel11894
jahr mindestens fünf Zahlen vorliegen und sie lauten im-mer anders – vor allen Dingen anders als die Realität.
Herr Kollege
Raidel, bitte.
Herr Minister, erst einmal
vielen Dank, dass Sie mich zur Erwiderung auserkoren
haben.
Wer sich ständig nur auf die Vergangenheit beruft, hat
kaum ein ausreichendes Konzept für die Zukunft.
Das ist das große Problem der gesamten Planung, die Sie
vorlegen. Die Planung ist nicht ausgegoren – das sagen
hinter vorgehaltener Hand selbst Ihre eigenen Leute. Ori-
entieren Sie sich doch an unserem letzten Finanzplan, der
einen Aufwuchs bis 50 Milliarden DM vorgesehen hat.
Wir begrüßen alle modernen Ideen für eine Umplanung,
für eine moderne Armee. Da gibt es überhaupt keinen
Zweifel. Was in der Wirtschaft, mit der Wirtschaft, für die
Wirtschaft und für die Bundeswehr getan wird – –
– Scheinbar habe ich Sie doch ziemlich getroffen. Sie
können so schön emotional sein.
– Es sind keine falschen Zahlen. In meinem ganzen Kon-
zept sind kaum Zahlen vorgekommen, also können Sie
sich bei mir auch nicht auf falsche Zahlen berufen.
Ich sage Ihnen nur: Orientieren Sie sich am 32. Finanz-
plan! Gehen Sie schrittweise auf die 50 Milliarden DM
zu! Sehen Sie zu, dass Sie das Geld, das gerade verteilt
wird, auch für die Bundeswehr nutzbar machen können,
und legen Sie uns bitte alle Unterlagen rechtzeitig vor, so-
dass wir Ihre Ideen, Gedanken und Modelle in allen Ein-
zelheiten prüfen können! Wenn etwas Vernünftiges dabei
sein sollte – das habe ich Ihnen auch schon einmal per-
sönlich gesagt –, werden meine Kollegen und ich das auch
gerne unterstützen. Wenn aber alles so unverbindlich wie
derzeit formuliert wird, wenn alles im Dunkeln bleibt,
können Sie von uns nicht erwarten, dass wir diesen Weg
ins Dunkle mit Ihnen gehen werden. Sie sind aufgefor-
dert. Sie haben hier die Bringschuld, und zwar nicht nur
gegenüber uns, sondern gegenüber dem ganzen Parla-
ment, der Bundeswehr und der Öffentlichkeit.
Es gibt noch
zwei Redewünsche. Aber ich darf nicht zulassen, dass aus
den Kurzinterventionen sozusagen eine Nebendebatte
wird. Insofern werde ich in der Reihenfolge der Wort-
meldungen fortfahren.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anni Brandt-
Elsweier.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Die Zukunft der Bundeswehrwird auch weiblich sein. Das wird mit dem vorliegendenGesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sichergestelltund das ist auch gut so. Nach Öffnung der Bewerberin-nenlisten für die Bundeswehr haben sich bis Ende Augustimmerhin 1 641 Frauen in diese Listen eingetragen. Dasist nicht gerade ein Ansturm, aber am 2. Januar nächstenJahres treten die ersten freiwillig dienenden Soldatinnenihre Unteroffiziers- und Mannschaftslaufbahn beim Bundan, am 1. Juli folgen dann die ersten angehenden weibli-chen Offiziere. Wie viele es letztlich auch sein mögen, dieBundeswehr wird ihr Gesicht verändern und manche Vor-urteile dürften fallen.Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass ich michzu Beginn der Debatte sehr schwer mit dem Gedanken ge-tan habe, Frauen den freiwilligen Zugang zur Bundeswehrzu ermöglichen. Ich bin Jahrgang 1932 und die Erin-nerung an den letzten Krieg macht es mir nicht leicht, die-ser Idee völlig unverkrampft gegenüberzustehen. Aber ichhabe mich in zahlreichen Gesprächen, insbesondere mitjungen Frauen, die dieses Thema bedeutend lockerer se-hen als meine Generation, überzeugen lassen. Für sie istdie Bundeswehr zunächst ein Arbeitsmarkt wie jeder an-dere, eine Gelegenheit, um auch, wie die Männer, eineAusbildung zu erhalten und Karriere machen zu können.Dieser Aspekt ist richtig und wichtig und doch geht es ummehr.Der Zugang der Frauen zur Bundeswehr ist einwichtiger Schritt auf dem Weg zu einem gleichberechtig-ten Miteinander. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ichbin nicht der Ansicht, dass gerade eine Zivilgesellschaftwie die in der Bundesrepublik ausgerechnet das Militärbenötigt, um die Gleichberechtigung voranzubringen.
Es muss noch viel getan werden, um zum Beispiel dienach wie vor existierende Diskriminierung der Frauen imErwerbsleben weiter zurückzudrängen. Wir werden des-wegen in Kürze ein Gleichstellungsgesetz vorlegen, dasdie Chancen für Frauen, auch in die Chefetagen dergroßen Unternehmen vorzustoßen, erheblich verbessernwird.
Aber machen wir uns doch nichts vor: Die Bundeswehrist eine der letzten Bastionen der Männer, der „kriegeri-sche Männerbund“ ist identitätsstiftend für die Männlich-keit an sich. Wer hat sie nicht vor Augen, die amerikani-schen oder auch die deutschen Kriegsfilme, in denenMänner – mehr oder weniger heroisch – ihr Leben fürVolk und Vaterland einsetzen? Frauen sind da meist aufdie Rolle der bangenden Gattin und der helfenden Kran-kenschwester beschränkt. Und deswegen gehören Frauenauch in die Armee, nämlich um die Geschlechterrollenaufzubrechen, um das Bild des Mannes als Krieger und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Rudolf Scharping11895
Beschützer und das der passiven, hilflosen Frau endgültigzu verdrängen, damit Frauen an den wichtigen Entschei-dungen in unserem Land auch wirklich teilhaben.
Deswegen begrüße ich ausdrücklich die Entscheidungunseres Verteidigungsministers Rudolf Scharping, Frauennicht von vornherein von irgendwelchen Verwendungenin der Armee auszuschließen. Keine Sonderregelung,keine Quote, kein Bonus – allein Leistung, Eignung undBefähigung sind die ausschlaggebenden Kriterien für denEinsatz der Frauen.Sie werden eine Bereicherung für die Bundeswehrsein. Die ersten Einstellungstests der Bundeswehr lieferneinen eindeutigen Befund: Die so genannte Ausschöp-fungsquote ist bei den Frauen wesentlich höher als bei denMännern. Das heißt im Klartext: An den Eingangshürdenscheitern prozentual viel mehr Männer als Frauen. ImVergleich zu den männlichen Kandidaten sind Frauenmeist eloquenter, haben die besseren Kenntnisse überBundeswehr und Politik
und sind, wie zum Beispiel die Erfahrungen in der israe-lischen Armee zeigen, den Männern in der Logistik über-legen.Wundert uns das wirklich? Dass Frauen beruflich bes-ser qualifiziert sind, ist hinlänglich bekannt. Dass sie ihreFähigkeiten zum Positiven einbringen werden, bezweifeltsicherlich auch niemand ernsthaft. So haben bereits dieErfahrungen der sanitätsdienstlichen Unterstützung derVereinten Nationen in Kambodscha gezeigt, dass die hoheLeistungsbereitschaft der Sanitätssoldatinnen einen starkmotivierenden Einfluss auf männliche Kameraden aus-üben kann. Aber auch hier machen wir uns bitte nichtsvor: Es wird nicht leicht werden für die jungen Frauen.Die Stellungnahme der Frauenbeauftragten desBundesverteidigungsministeriums, Frau Rita Scholz-Villard, spricht eine deutliche Sprache – ich zitiere –:In der Armee herrscht nach wie vor ein überkomme-nes Rollenverständnis. Bei der Bundeswehr treffenFrauen von heute auf Männer von gestern.
Werbekampagnen für Frauen bei der Bundeswehr hältFrau Scholz-Villard für Lippenbekenntnisse; in Wahrheitstünden die Männer nicht dahinter.Der „Spiegel“ hat sich in seiner Ausgabe vom 1. Sep-tember 2000 ausführlich mit diesem Thema beschäftigt.Die Zitate manch männlicher Angehöriger der Bundes-wehr lassen den Schluss zu, dass Frau Scholz-Villard mitihrer Meinung Recht hat. Dort wird ein bayerischer Ober-stabsarzt mit den Worten zitiert:Wir haben nichts gegen Frauen – nur sagen lassenwollen wir uns von denen nichts.
Zu den Vorzügen der traditionellen Männergesellschaftbekennt sich auch der Kommandeur des Jägerbataillonsim sächsischen Marienberg:Ein weiblicher Kampfoberst wäre das Letzte, wasmir fehlt.
Unter diesen Aspekten begrüße ich ausdrücklich, dassunser Verteidigungsminister bereits reagiert hat und durchdas Zentrum für Innere Führung in Koblenz so genannteGender-Trainings für Kompaniechefs und Kommandeureanbietet, um „Verhaltenssicherheit“ im Umgang mitFrauen zu gewinnen.
Frau Scholz-Villard beklagt zudem auch die Mühen,Frauen auf Beförderungsposten zu bekommen. Anlässlicheiner Reise des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend nach Israel konnten wir feststellen,dass dieses Problem kein spezifisch bundesdeutsches ist.Dort ist der Dienst Pflicht, für Frauen wie für Männer. Ander Spitze aber ist die israelische Armee ein frauenfreierVerein; denn die Toppositionen sind nur Männern vorbe-halten, jedenfalls noch heute. Aus diesem Grunde ist auchder inzwischen erstellte zweite Frauenförderplan desBundesverteidigungsministeriums von großer Wichtig-keit. Wir müssen jedoch darauf achten, dass er in die Rea-lität umgesetzt wird; sonst ist er das Papier nicht wert, aufdem er geschrieben steht.Es sind also Vorsicht und Wachsamkeit geboten. Vorallem sollten wir die jungen Frauen nicht unvorbereitet inden Militärdienst schicken. Männer haben immerhin dieMöglichkeit, während ihres Wehrdienstes zu erkunden,ob sie sich eine berufliche Zukunft in der Bundeswehrvorstellen können. Frauen sind allein auf die Informatio-nen der Anwerber angewiesen. Entscheiden sie sich fürdie Armee, werden sie bereits nach drei Tagen vereidigtund müssen dann die gesamte Zeit ableisten. Aus diesemGrunde sollte man Frauen die Möglichkeit eines Prakti-kums bei den Streitkräften einräumen.
Dann hätten beide Seiten die Chance, sich zu orientierenund falsche Vorstellungen im Vorfeld zu beseitigen.Ich bin der Überzeugung, dass uns auch hier die Praxisund die entsprechenden Erfahrungen den richtigen Wegweisen werden, so wie die Integration der Frauen in Poli-zei und Bundesgrenzschutz nach anfänglichen Schwie-rigkeiten ja auch gelungen ist.Lassen Sie mich abschließend betonen: Frauen wollengleichberechtigt sein. Natürlich muss ihnen schon auf-grund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes derfreiwillige Zugang zur Bundeswehr ermöglicht werden.Soldatinnen werden das Gesicht der Truppe verändern.Veränderung bedeutet Fortschritt und Erneuerung.Bei allen Bedenken und Problemen: Die Bundeswehrbraucht Soldatinnen, um eine fortschrittliche und mo-derne Armee zu sein, die auch für die Anforderungen derZukunft gerüstet sein wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Anni Brandt-Elsweier11896
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Rauber.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Scharping,Maßstab für die Auseinandersetzungen im Parlament sinddie vom Parlament verabschiedeten Haushaltspläne; dennsie haben dem Gebot der Haushaltswahrheit und Haus-haltsklarheit zu genügen.
An dem werden wir uns orientieren. Dementsprechendhaben Sie zukünftig nicht mehr, sondern weniger Geld zurVerfügung. Verwechseln Sie bitte nicht brutto mit netto!1998 standen auf dem Balkan 2 700 Soldaten. Ein Jahrspäter waren es schon über 9 000. Dazwischen lag einKrieg, der sehr viel Geld gekostet hat.Mich wundert schon, wie Sie von der SPD hier auftre-ten. Sie, Herr Verteidigungsminister Scharping, warenvier Jahre Fraktionsvorsitzender. Nennen Sie uns ein ein-ziges Großprojekt, das Sie von der SPD beantragt und daswir von der CDU/CSU abgelehnt hätten! Sie haben nurKürzungsanträge gestellt. Wer dies tut, hat heute keinRecht, sich über Defizite zu beklagen.
Noch ein Satz zu den personellen Überhängen: Wir ha-ben die Stärke der Bundeswehr in acht Jahren um200000 Personen reduziert. Keine Regierung der Weltwürde dies ohne strukturelle Verwerfungen schaffen. Diesbitte ich anzuerkennen. Sie haben eine Bundeswehr über-nommen, die sich sowohl ausrüstungs- als auch ausbil-dungsmäßig vor keiner Armee dieser Welt zu versteckenbrauchte. Unsere Armee leistete und leistet auf dem Bal-kan, aber auch zu Hause hervorragende Arbeit. Dafür sa-gen wir allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch derenFamilien ein herzliches Dankeschön.
Es ist unserer Politik zu verdanken, dass unter demMotto „Frieden schaffen mit weniger Waffen“ eine Frie-densdividende von jährlich 50 Milliarden DM entstan-den ist. Ohne diese enorme Friedensdividende wäre esnicht möglich gewesen, allein zwischen 1991 und 1998,also in unserer Regierungszeit, 1 370 Milliarden DM– das ist das 30fache des Verteidigungshaushalts – in dieneuen Bundesländer fließen zu lassen. 70 Prozent dieserLasten hat allein der Bund getragen. Hier liegt der Grund,warum auch bei der Bundeswehr gespart werden musste.
Geschätzte Kollegin Wohlleben – ich sage das nichtironisch; ich meine es wirklich ehrlich –, die größte undtiefgreifendste Reform, die es je gab, war die Schaffungder Armee der deutschen Einheit.
Wir waren gezwungen, zwei Armeen, die unterschiedli-cher nicht sein konnten, zusammenzuführen. Dies ist unsauch gelungen. Hierbei möchte ich unterstreichen – dieGründe sind auch schon genannt worden –, dass es nachwie vor unser gemeinsames Ziel sein muss, aus 86,5 Pro-zent Ostlohn 100 Prozent Westlohn zu machen.Herr Minister Scharping, es waren nicht Sie, sondernes war Ihr Vorgänger, der die Bundeswehr auf neue Auf-gaben ausgerichtet hat. Petersberg ist nicht nur ein Hotelund ein Ort, sondern ist auch das Synonym für eine neueAußenpolitik. Nur, Petersberg war 1992. Sie von der SPDhaben noch 1994 mit einer Klage vor dem Bundesverfas-sungsgericht verhindern wollen, dass deutsche Piloten inden AWACS-Flugzeugen mitfliegen bzw. dass sich unsereMarine an der Überwachung des Waffenembargos in derAdria beteiligt. Das waren klassische Petersberger Aufga-ben.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Bundeswehr bis 1990eine Armee des Kalten Krieges war und dass wir uns erstnach 1990, also nach dem Zusammenbruch des War-schauer Paktes, verstärkt den Frieden schaffenden undfriedenserhaltenden Maßnahmen zuwenden konnten.Dies erfordert eine neue Bundeswehr. Wir sind bereit, die-sen strukturellen Wandel zu begleiten. Dazu gehört auch,dass die Frauen in der Bundeswehr angemessen beteiligtwerden. Für die CDU/CSU werden die Frauen in der Bun-deswehr keine Belastung. Ganz im Gegenteil, sie werdeneine Bereicherung sein.
Wenn Sie von der SPD heute den Eindruck erwecken,als sei Sparen Ihre Erfindung, so liegen Sie auch in die-sem Punkt falsch. Flexible Budgetierung, Market-Testingoder auch Kosten-Leistungs-Verantwortung sind von uns– ich unterstreiche dies – erfolgreich eingeführt worden.Wir tragen jede Effizienzsteigerung mit, wenn sie sicher-heitspolitisch vertretbar ist.Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Die Gesetze desabnehmenden Grenzertrages werden Sie nicht außer Kraftsetzen können.Was wir weiter kritisieren, ist, dass bei der ganzen De-batte nicht deutlich genug herausgestellt wird, welchenBeitrag die Bundeswehr zur Einlösung elementarer deut-scher Interessen leistet. Die Bundeswehr war und bleibtein Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik.Dies heißt, dass sich die Bundeswehrstruktur nicht alleinvon der aktuellen oder latent vorhandenen Bedrohungssi-tuation ableiten lässt, sondern auch von der Frage, inwie-weit die Bundeswehr unseren Interessen dienen sollte.Deutsche Interessen sind in der Masse nicht exklusiv, son-dern die Schnittmenge der Interessen vieler Staaten.Die Unversehrtheit des jeweiligen Staatsgebietes, die Be-wahrung von Frieden und Freiheit, nicht nur an der Lan-des- und Bündnisgrenze, sondern weltweit, sind solche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Anni Brandt-Elsweier11897
Schnittmengen. Nur wo Frieden herrscht, blüht der Han-del, und nur wo Frieden herrscht, bleiben die Zugänge zuden Rohstoff- und Absatzmärkten offen.Kein Industriestaat dieser Welt ist so abhängig vom Ex-port und auch vom Import wie die BundesrepublikDeutschland. Deshalb trägt eine friedenssichernde undFrieden schaffende Bundeswehr entscheidend zur materi-ellen Sicherung unseres Wohlstandes bei.Diese Art von Diskussion müssen wir führen, denn sieerhöht das Selbstverständnis unserer Soldatinnen undSoldaten. Wir bleiben allerdings dabei, dass die Reduzie-rung von 340 000 im Soll auf 277 000 als Präsenzumfangzu tief greifend ist. Wir reden hier über eine Streichungvon insgesamt vier Divisionen à 15 000 Mann.Herr Minister Scharping, ich war über das erstaunt,was Sie in dieser Woche im „Spiegel“ erklärt haben. Dortist nachzulesen: Rein ökonomisch betrachtet müssten ei-gentlich 350 Standorte dichtgemacht werden. Ich wäreauf Ihr Theater gespannt gewesen, wenn einer von unseine solche Zahl in den Mund genommen hätte. Sie brau-chen sich nicht zu wundern, dass die Diskussionen überdie Standortschließungen nicht mehr so schnell vom Tischkommen.
Die entscheidende Schwäche Ihres Konzeptes – Siekönnen sich drehen und wenden, wie Sie wollen – istschlicht und einfach die Finanzierung. Sie haben nochnicht einmal das Geld für Instandsetzungsfirmen, dieschon heute Aufträge für die Bundeswehr erledigen. DieRechnungen schleppt man bis in das nächste Jahr. Das istnicht gerade ein Zeichen einer hohen Liquidität.Wir kritisieren nicht nur, sondern wir nennen auch ei-nige positive Punkte. Dazu zählt das Bekenntnis der SPDzur Wehrpflicht, auch wenn wir bei der Umsetzung er-hebliche organisatorische Probleme sehen.Wir begrüßen des Weiteren die versprochenen sozialenVerbesserungen, die allerdings auch eingehalten werdenmüssen. Die Anhebung der Zahl der Wehrübungsplätze,die in diesem Jahr von 2 500 auf 1 500 gekürzt wurde, se-hen wir ebenfalls als einen positiven Ansatz, wobei wir al-lerdings großen Wert darauf legen, dass das ursprünglicheNiveau auch erreicht wird.Als Präsident des Reservistenverbandes bedanke ichmich ausdrücklich für die bisherige Unterstützung sowohldurch das Ministerium als auch durch die Bundeswehrinsgesamt.Die CDU/CSU ist an einer Konsenslösung interessiert,die aber den zwingenden Erfordernissen einer zukunfts-weisenden Außen- und Sicherheitspolitik genügen muss.Die jetzige Konzeption erfüllt diese Anforderungen nochnicht.
Jetzt hat der Ab-
geordnete Rainer Arnold das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolle-ginnen! Werte Kollegen! Die heutige Regierungs-erklärung, aber auch unsere Debatte zur Zukunft derBundeswehr zeigen: Anspruchsvoll ist das Anforderungs-profil der Bundeswehr für die Zukunft. Anspruchsvollwerden deshalb in Zukunft auch die Konzepte sein, die dieBundeswehr fit für ihr verändertes Aufgabenspektrummachen.Es besteht überhaupt kein Zweifel: BundesministerScharping hat uns heute mit der Grobplanung einen wei-teren wichtigen Baustein für den Umbau der Bundeswehrvorgelegt. Wir sind überzeugt, dass die Bundeswehr hier-mit die größte Umwälzung in ihrer Geschichte gut beste-hen wird. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass vonder Reform nicht nur die Bundeswehr, sondern unsere Ge-sellschaft insgesamt einen großen Vorteil haben wird.
Die Debatte zeigt mir allerdings auch: Die Oppositionsetzt sich nicht wirklich mit den Inhalten dieser Reformauseinander. Als ich heute Herrn Polenz zuhörte, ist miretwas passiert, das ich mir nie vorstellen konnte: Ich be-kam Sehnsucht nach Paul Breuer.
Wir wünschen ihm von hier aus gute Besserung.
Sie operieren hier mit halbwahren Zahlen.
Die letzten Jahre haben doch gezeigt, dass Ihre Finanz-planungen Märchenbücher waren. Das haben wir bei derBundeswehr ebenso wie in anderen Bereichen erlebt.
Im Übrigen, wer glaubt, dass man immer nur mehr Geldin das System Bundeswehr geben müsse, der irrt. Wirbrauchen Geld, und wir haben da auch einiges getan. Abermehr Geld alleine würde nicht zu einer moderneren Bun-deswehr führen.Sie haben den internationalen Vergleich genannt.Man kann mit dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen.Man sollte dann aber wenigstens die bereinigten NATO-Zahlen nehmen. Das wäre ein ehrlicher Vergleich. Wirkönnen allerdings auch die absoluten Zahlen anschauen.Im letzten Jahr hat Frankreich 40Milliarden Dollar, Groß-britannien 36 Milliarden Dollar und Deutschland knapp33Milliarden Dollar ausgegeben. Das ist die Spitze in Eu-ropa, und dann kommt lange nichts. Solche Zahlenspiel-chen muss man schon genauer betrachten. Gerade in einerVolkswirtschaft, die in den letzten zwei Jahren dank un-serer Regierung stark wächst, ist das Bruttoinlandspro-dukt nicht die einzige Messgröße, die gilt.Nachdem ich den Verteidigungsexperten Ihrer Fraktionheute genau zugehört habe, habe ich den Eindruck, dassSie eigentlich merken, dass die Reform richtig und not-wendig ist. Ich bitte Sie dringend: Beugen Sie sich dannum Himmels willen nicht dem Diktat Ihrer Fraktions-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Helmut Rauber11898
führung, die Konfrontation in jedem Themenfeld und of-fensichtlich um jeden Preis will!
Machen Sie Herrn Merz klar, dass die Arbeit der Men-schen in den Streitkräften mit ihrer hohen Motivation zuwichtig ist, als dass sie auf dem Altar parteitaktischerSpielchen geopfert werden dürfte!
Ich bin ziemlich gelassen, weil ich aus meinen Ge-sprächen an den Standorten weiß: Ihre Strategie verfängtbei den Soldatinnen und Soldaten nicht. Die Gesprächezeigen mir: Sie verbinden mit dieser Reform Hoffnungauf moderne Ausrüstung,
auf eine effizientere Organisation, auf ausreichend Perso-nal für die Einsätze, damit die Belastungen auf mehrSchultern verteilt werden können, und auf Chancen zubesserer Qualifizierung. Auch Sie wissen, dass der Wegaufgezeichnet ist, den Soldatenberuf sozial attraktiver zumachen.Ich will aber nicht verschweigen: Gelegentlich werdenauch kritische Fragen gestellt. Eine ist die Frage nach denStandorten. Ich finde es aber gut, dass der Minister sehrzügig und mit einem genauen Zeitplan diesen Punktklären wird. Die Soldatinnen und Soldaten werden zu Be-ginn des nächsten Jahres wissen, woran sie sind.Das Zweite ist noch viel wichtiger: Er fährt eben nicht,wie Sie hier kurz angedeutet haben, mit einem Rasen-mäher über die Standorte. Nein, in seine Planungsanwei-sung ist bereits eingebaut, dass nicht nur militärische Not-wendigkeiten, sondern auch strukturelle Überlegungen,die Einbindung in das gesellschaftliche Umfeld und Fra-gen der Nachwuchsgewinnung zu bewerten sind. Deshalbkönnen die meisten Standorte auch dieser Diskussion mitgroßer Gelassenheit begegnen.Außerdem wird immer wieder nach dem Geld gefragt.Ich muss daran erinnern – es wurde heute wiederholt ge-sagt –: Nicht der Haushaltsplan mit seinen schöngerech-neten Zahlen, auf den Sie sich berufen, sondern der Voll-zug im Finanzplan ist letztlich entscheidend. Wenn mandas berücksichtigt, dann waren es im Rahmen Ihrer letz-ten Finanzplanung eben 5,7 Milliarden DM weniger. Daseigentliche Problem Ihrer Art von Finanzpolitik ist ein an-deres; Sie haben nämlich die Einsparpotenziale, die esnatürlich gab und gibt, nicht strukturell klug genutzt, son-dern ziemlich kopf- und konzeptionslos unter großem fi-nanziellen Druck immer wieder gestrichen.Wir alle kennen die Geschichten, die uns die Soldatenerzählen: Auf der einen Seite gibt es einen Bedarf anwichtigen Ausrüstungsgütern – sie sind teilweise gar nichtso teuer –, die nicht beschafft werden konnten, weil dasGeld angeblich fehlt; andererseits stapeln sich bestimmteWaren in den Depots, die vielleicht nur deshalb beschafftwurden, weil irgendein Beschaffer zur betreffenden Zeitschneller als ein anderer war. Das nennen Sie eine sinn-volle Sparpolitik? Das darf ja wohl wirklich nicht wahrsein.
Wir haben jetzt eine realistische Finanzplanung. Es be-steht die Chance, das Ergebnis noch innerhalb dieses Jah-res zu verbessern. Vor allen Dingen haben wir die Chance,die Erlöse tatsächlich zu behalten. Die Wende ist tatsäch-lich erreicht – das ist eindeutig; Sie können es nachle-sen –: Es ist nicht nur mehr Geld vorhanden, sondern eswird in diesen Jahren wieder mehr investiert. Das ist derSchlüssel zur modernen Bundeswehr. Wir wissen, dassdies alles aber nicht reichen wird. Effizienz und betriebs-wirtschaftliche Grundsätze werden nicht nur innerhalbder Bundeswehr, sondern vor allen Dingen durch denProjektrahmenvertrag mit der Industrie zum Tragenkommen müssen.Wir wissen genau: Das derzeitige Haushaltsrecht unddie Haushaltsordnung blockieren gelegentlich innovativeIdeen. Wir sollten miteinander den Mut aufbringen, dasHaushaltsrecht dort zu entrümpeln, wo Chancen dazu be-stehen. Die Gründung der Gesellschaft für Beschaffungund Betrieb hilft bei den damit verbundenen Fragen eingutes Stück weiter. Die Pilotprojekte, die dort ausprobiertwerden, sind sehr gut. Es geht nicht darum, plump outzu-sourcen; es geht vielmehr darum, wie man die Fähigkei-ten der Wirtschaft mit den Anforderungen an die Soldatenund mit ihren Fähigkeiten besser verzahnen kann. Aufzwei dieser Pilotprojekte möchte ich eingehen.Erstes – einfaches – Beispiel: Es liegt doch nun wirk-lich auf der Hand, dass es keinen Sinn macht, zivile Fahr-zeuge, vom Golf bis zum Omnibus und zum Lastwagen,zu kaufen, investive Mittel zu binden und die Fahrzeugedann 12 oder 15 Jahre in den Kasernen stehen zu lassen.An diesem Punkt kann man wirklich von der Industrie ler-nen. Im Übrigen braucht man das Rad nicht neu zu erfin-den. Andere Streitkräfte sind bereits so weit, dass sie dasFlottenmanagement nach außen verlagert haben. Ihre Kri-tik, Leasing sei auf Dauer nicht billiger, stimmt nur dann,wenn Sie tatsächlich nur die Investitionszahlen, die Zin-sen und die Leasingraten vergleichen. Sie sollten schoneinmal genau überlegen, was es uns an logistischem undan Sachaufwand kostet, diese alten Fahrzeuge nach 12oder 15 Jahren überhaupt noch instand zu halten.
Insofern ist es besser, diese Praxis zu beenden und dafürzu sorgen, dass jedes oder jedes zweite Jahr ein neuesAuto auf dem Kasernenhof steht.Zweites Beispiel – es ist viel komplizierter; für michstellt es eigentlich die größte Herausforderung dar –: Wirwissen, dass wir die Kommunikations- und Datennetzedringend modernisieren und leistungsstärker machenmüssen. Wir brauchen auch eine ausreichende Zahl vonEndgeräten; das ist ebenso wichtig. Wir müssen mit denbereits angesprochenen Insellösungen Schluss machen.Es ist doch klar: Dies wird die öffentliche Verwaltung,auch die der Bundeswehr, allein kaum schultern können.Dies hat die Vergangenheit gezeigt. Deshalb ist der Weg
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
RainerArnold11899
richtig, dass sich große deutsche Unternehmen zusam-mentun, um möglichst gemeinsam mit der öffentlichenHand eine neue Gesellschaft zu gründen, und diese Auf-gabe angehen.An diesem Beispiel sieht man: Es geht nicht nur darumzu sparen. Jedes Jahr werden mehrere Hundert Milli-onen DM zu ersparen sein. Aber bei dem Projektrahmen-vertrag ist natürlich die Steigerung der Qualität der Aus-rüstung für die Bundeswehr noch wichtiger. Dies steht imMittelpunkt.Ich will nicht verkennen: Wir Parlamentarier werdenbei diesem Prozess sehr genau darauf achten müssen, dassder Mittelstand nicht unter die Räder kommt und dass dieChancen, sozial abgesichert zu bleiben, für die Beschäf-tigten tatsächlich größer werden, wenn sie von den Fir-men übernommen werden. Wir werden auch darauf ach-ten, dass diese Entwicklung nicht der parlamentarischenDebatte entzogen wird.Ich komme zum Schluss: Die wenigen Beispiele alleinzeigen schon: Die Reform der Bundeswehr ist auf einemguten Weg.
Der Weg wird noch schwierig und steinig sein. Er ist nichteinfach. Man wird auch Zeit und einen harten und langenAtem brauchen, um ihn zu bewältigen. Die Soldaten undZivilbeschäftigten bei den Streitkräften – das merken wirjeden Tag – gehen diesen Weg engagiert mit und bringendabei kreative Ideen ein. Das ist wichtig. Sie, meine Kol-leginnen und Kollegen von der Opposition, müssen nochdie Entscheidung treffen, ob Sie diesen Weg mitgestaltenoder ob Sie weiterhin schmollend in der Ecke stehen blei-ben wollen.Schönen Dank.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3775, 14/4062, 14/4174 und
14/4256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Aufgrund von Sondersitzungen von Fraktionen unter-
breche ich jetzt die Sitzung für kurze Zeit. Wir werden um
ungefähr 15.00 Uhr wieder beginnen. Ihnen wird per
Klingelzeichen Bescheid gegeben.
Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 g sowieZusatzpunkt 8 auf:21. a) Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung der Grenze des Freihafens Emden– Drucksache 14/4223 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung derGrenze des Freihafens Bremen– Drucksache 14/4224 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Zusammenlegung des Bundesamtes fürWirtschaft mit dem Bundesausfuhramt– Drucksache 14/3951 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überFunkanlagen und Telekommunikationsend-einrichtungen
– Drucksache 14/4063 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Mediene) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Ausprägung einer 1-DM-Goldmünzeund die Errichtung der Stiftung „Geld undWährung“– Drucksache 14/4225 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
SportausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOf) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Bundesarchivgesetzes– Drucksache 14/3830 –Überweisungsvorschlag:Innenausschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun
, Rainer Brüderle, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P. MutigeEU-Reform als Voraussetzung für eine er-folgreiche Erweiterung– Drucksache 14/3522 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
RainerArnold11900
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 8 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahrenErste Beratung des von den Fraktionen SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Ge-setzes zur Änderung des Abgeordnetenge-setzes– Drucksache 14/4241 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
InnenausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 22 abis 22 k, 8 b und 16. Es handelt sich um die Beschluss-fassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.Tagesordnungspunkt 22 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaftder Republik Polen, der Tschechischen Repu-blik und der Republik Ungarn in der Westeu-ropäischen Union– Drucksache 14/3076 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 14/3860 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Eberhard BrechtChristian Schmidt
Christian SterzingUlrich IrmerWolfgang GehrckeDer Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache14/3860, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmenvon SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.gegen die Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 22 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom6. März 1997 zwischen den Parteien des Nord-atlantikvertrages über den Geheimschutz– Drucksache 14/3457 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/4228 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Peter KemperHartmut Büttner
Cem ÖzdemirDr. Edzard Schmidt-JortzigUlla JelpkeDer Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4228,den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen dieStimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 22 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung verkehrswegerechtlicher Vor-schriften
– Drucksache 14/3646 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/4221 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Börnsen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/4221, den Gesetzentwurfunverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen dieStimmen der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvorangenommen.Tagesordnungspunkt 22 d:Zweite und dritte Beratung des von den FraktionenSPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Begriffs „Erziehungsurlaub“– Drucksache 14/4133 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse11901
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 14/4266 –Berichterstattung:Abgeordnete Hildegard WesterMaria EichhornIrmingard Schewe-GerigkIna LenkeIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.Tagesordnungspunkt 22 e:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. undPDSEinsetzung eines Sonderausschusses „Maßstä-begesetz/ Finanzausgleichsgesetz“– Drucksache 14/4251 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen. Der Sonderausschussist damit eingesetzt.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Tagesordnungspunkt 22 f:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 195 zu Petitionen– Drucksache 14/4155 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Stimm-enthaltungen? – Die Sammelübersicht 195 ist bei Enthal-tung der PDS mit den Stimmen des sonstigen ganzen Hau-ses angenommen.Tagesordnungspunkt 22 g:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 196 zu Petitionen– Drucksache 14/4156 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 22 h:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 197 zu Petitionen– Drucksache 14/4157 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 22 i:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 198 zu Petitionen– Drucksache 14/4158 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmender SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS ge-gen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenom-men.Tagesordnungspunkt 22 j:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 199 zu Petitionen– Drucksache 14/4159 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 22 k:Beratung der Beschlussempfehlung desPetitionsausschusses
Sammelübersicht 200 zu Petitionen– Drucksache 14/4160 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmendes Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 8 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umrechnung und Glättung steuerlicher
– Drucksache 14/3554 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
– Drucksache 14/4277 –Berichterstattung:Abgeordnete Lydia WestrichHans MichelbachCarl-Ludwig Thiele
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Präsident Wolfgang Thierse11902
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/4288 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerDr. Günter RexrodtHeidemarie Ehlert.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 16:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Opferentschädigungsgeset-zes und anderer Gesetze– Drucksache 14/4054 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4275 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Vielleicht hat sich das Wagnis auch insoweit ausge-zahlt, als die Charta in einer Sprache verfasst ist, die nicht,wie es in vielen europäischen Dokumenten der Fall ist,verschachtelt und schwer verständlich ist, sondern auchvon Normalbürgern, die nicht juristisch vorgebildet oderverbildet sind, verstanden wird. Was die Sprache angeht,haben wir uns im Konvent nach der von Roman Herzogso genannten „Als-ob-Theorie“ gerichtet, das heißt, wirhaben jeden einzelnen Artikel so formuliert, dass er ohneVeränderung rechtskräftig werden kann. Das hat unsereArbeit ganz wesentlich bestimmt.Im Rahmen des Auftrags, der uns vom EuropäischenRat in Köln erteilt worden war, sollten wir versuchen, einDokument aus der gemeinsamen Verfassungstraditionder Mitgliedstaaten zu entwickeln. Das war eine span-nende Aufgabe, die alle Delegierten dazu veranlasst hat,nicht nur aus der Sicht der eigenen Verfassung zu argu-mentieren, sondern sich auch in die Rechtskultur und dieWertvorstellungen unserer Nachbarn hineinzudenken undhineinzufühlen. Ich hoffe, dass diese Arbeit nicht nur dieDelegierten, sondern auch unsere Völker ein bisschennäher gebracht hat.Bevor ich auf den Inhalt der Charta eingehe, will ich,weil ich das für sehr wichtig halte, Dank sagen. Ichmöchte zunächst einmal der Bundesregierung danken, diediese Arbeit im vergangenen Juni überhaupt erst ermög-licht und den Durchbruch auf dem Weg zur Grundrechte-Charta erzielt hat.Ich danke stellvertretend dem Herrn AußenministerFischer, der nachher noch seine Sicht der Dinge darlegenund uns sagen wird, wie es nach Nizza weitergehen soll.Darauf bin ich gespannt. Ich danke der Justizministerin,Frau Dr. Däubler-Gmelin,
die mit großem Engagement in der Zeit vor dem Europä-ischen Rat in Köln mit Erfolg für die Grundrechte-Chartageworben hat, sodass in Köln der Durchbruch erzielt wer-den konnte. Dieser war in erster Linie das Werk von Bun-deskanzler Gerhard Schröder. Ich denke, ihm können wirund auch Sie, die Sie in der Rolle der Opposition sind,heute fairerweise danken.Die Präambel des Chartaentwurfs beginnt mit den fol-genden Sätzen:Die Völker Europas sind entschlossen, auf derGrundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zu-kunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer enge-ren Union verbinden.In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sitt-lichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilba-ren und universellen Werte der Würde des Menschen,der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.Diese Sätze machen deutlich, dass Aufgabe des Kon-vents die Formulierung einer Wertegemeinschaft in Eu-ropa war, die aus meiner Sicht nicht nur genauso wichtig,sondern eigentlich bedeutender ist als die Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft, über die bisher vor allemdiskutiert worden ist.
Wir haben dann mit den folgenden Artikeln – an dieserStelle möchte ich meinem Stellvertreter Peter Altmaierund Herrn Jürgen Gnauck, dem Delegierten des Bundes-rates, für die faire Zusammenarbeit danken –
den Versuch unternommen, so etwas wie eine europäischeIdentität zu beschreiben. Dabei sind wir von der Frageausgegangen, die auch Helmut Schmidt in seinem neues-ten Buch über die „Die Selbstbehauptung Europas – Per-spektiven für das 21. Jahrhundert“ formuliert, nämlich, obes nicht an der Zeit ist, neben unserer jeweiligen nationa-len Identität auch eine gemeinsame europäische Iden-tität zu definieren und sie in unser Bewusstsein aufzu-nehmen.Helmut Schmidt schreibt dazu – ich zitiere –:Tatsächlich gibt es seit langem eine sehr weit rei-chende gemeinsame Identität. Sie ist für Menschenaus anderen Erdteilen oftmals allerdings leichter zuerkennen als für uns Europäer selbst. Sie bezieht sichzunächst auf die Kultur im engeren Sinne: Religion,Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Ar-chitektur, Malerei. Sodann umfasst sie die politischeKultur, basierend auf den Idealen der Würde und derFreiheit der Person sowie gleicher Grundrechte. Esist die Kultur der demokratischen Verfassungen, desRechtsstaates mit geordnetem privaten und öffentli-chen Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicherMacht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrts-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Jürgen Meyer
11904
staates und des Willens zu sozialer Gerechtigkeit.Die gemeinsame Identität umschließt die wirtschaft-liche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmersoder Kaufmanns, des freien Marktes, der freienGewerkschaften, des zuverlässigen Geldwertes unddes gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Ar-beitnehmer durch Arbeitgeber und der Verbraucherdurch Kartelle oder Monopole.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie die Chartalesen, werden Sie feststellen, dass in den 54 Artikeln derCharta versucht wird, genau dieses, nämlich eine europä-ische Identität, erstmals in einem umfassenden Dokumentzu beschreiben. Dabei können Sie auch entdecken, dassdie Entschließung des Deutschen Bundestages vom Maidieses Jahres, in der wir viele Wünsche in Bezug auf dieCharta geäußert haben, zu mehr als 90 Prozent in dieCharta Eingang gefunden hat.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Präambelmachen. Erstmals in einem europäischen Grundrechtstexthat die Solidarität als unteilbarer und universeller Werteinen gleichen Rang wie die Würde des Menschen, Frei-heit und Gleichheit und einen gleichen Rang wie Demo-kratie und Rechtsstaat. Ich finde, dies ist ein Mehrwertdieser Charta, den man hervorheben sollte. Soziale Ge-rechtigkeit, abgeleitet aus dem Grundsatz der Solidarität,ist das Charakteristische des europäischen Modells, daswir in der Charta beschrieben haben.
Nun erlaubt es die Redezeit nicht, in meinem Arbeits-bericht über alle spannenden Fragen der vorgelegten 54Artikel zu sprechen. Ich kann nur Schlaglichter werfen,eine Auswahl treffen, die vielleicht Neugier und Interesseweckt, den einen oder anderen Artikel zu lesen oder nocheinmal zu lesen. Ich hoffe, dass mir dies mit den wenigenHinweisen, die ich zu den einzelnen Kapiteln der Chartageben werde, gelingt.Kap. I trägt die Überschrift „Würde des Menschen“.Grundlage nicht nur dieses Kapitels, sondern der gesam-ten Charta, ist also die Unverletzlichkeit der Menschen-würde. Sie ist ebenso – wie Sie alle wissen – in unseremGrundgesetz Ausgangspunkt und Grundlage aller Men-schenrechte. Dies wird für die Charta nicht nur durch diePräambel, sondern auch durch den ersten Artikel derGrundrechte-Charta deutlich gemacht. Das ist nicht zu-letzt eine Absage an ein Übel, über das wir in diesen Ta-gen zu diskutieren haben, nämlich den Rechtsextremis-mus, der dadurch charakterisiert ist, dass er nicht diegleiche Würde und den gleichen Wert aller Menschen be-jaht, sondern von ihrer Ungleichwertigkeit ausgeht undim Übrigen für vertretbar hält, dass man zur Durchsetzungeigener Überzeugungen Gewalt anwendet. Der Grundsatzvon der Unverletzlichkeit der Menschenwürde ist eineAbsage an den Rechtsextremismus. Das sollte man an die-ser Stelle sehr deutlich sagen.
Aus Kap. I will ich noch auf Art. 3 hinweisen, in demwir den Versuch gemacht haben, erste Grundsätze derBioethik zu formulieren, zum Beispiel das Verbot des re-produktiven Klonens von Menschen und das Verbot, denmenschlichen Körper oder Teile davon, etwa genetischesMaterial, zur Geschäftemacherei zu nutzen. Hier kannman einwenden, dass dies nur ein ganz vorsichtiger, ers-ter Ansatz ist, bioethische Grundsätze zu formulieren. Ichvertraue darauf, dass der Europäische Gerichtshof, demdie Aufgabe der Konkretisierung zukommt – ähnlich wiedas Bundesverfassungsgericht es bei uns seit 1949 getanhat –, aus dem Muttergrundrecht der Unverletzlichkeit derWürde des Menschen auch weitere Konkretisierungen imBereich der Bioethik entwickeln wird. Wir sollten also mitdem, was wir formuliert haben, nicht unzufrieden sein.Kap. II trägt die Überschrift „Freiheiten“. Ich freuemich sehr, dass auch dem Wunsch des Deutschen Bun-destages entsprochen wurde und es gewissermaßen inletzter Minute gelungen ist, in den Artikel über Gewis-sensfreiheit das Grundrecht auf eine Wehrdienstverwei-gerung aus Gewissensgründen aufzunehmen. Das ist eineaktueller werdende Forderung, weil es in naher Zukunfteventuell Eingriffstruppen der Europäischen Union inKrisengebieten geben könnte.Nach längerer Debatte haben wir uns geeinigt, in ei-nem weiteren Artikel auch die Freiheit von Forschungund Kunst und die Achtung der akademischen Freiheit,wozu selbstverständlich die Freiheit der Lehre gehört, zugarantieren. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank andiejenigen Delegierten aussprechen, die zunächst gezö-gert haben, weil in den Verfassungen ihrer Länder ein sol-ches Grundrecht nicht enthalten ist. Ich will aber ganz be-sonders den britischen Delegierten danken, die dengrößten Sprung machen mussten, weil sie keine geschrie-bene Verfassung mit ausformulierten Grundrechten ha-ben. Dass sich alle Delegierten auf diesen gemeinsamenund keineswegs kleinsten Nenner geeinigt haben, dassollten wir auch von unserer Seite gegenüber den Dele-gierten der anderen Länder ausdrücklich anerkennen.
Was das Recht auf Bildung angeht, so gehört es ausmeiner Sicht eher zu den sozialen Grundrechten, nach derMaxime, dass die Bildungschancen eines Menschen nichtvom Geldbeutel der Eltern abhängen dürfen. Aber wichti-ger finde ich, dass dieses Grundrecht auf Bildung in dieCharta aufgenommen worden ist, und zwar in das Kapitelüber Freiheiten.Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Grund-recht auf Eigentum.Hier wage ich die Behauptung, dasses in der Charta teilweise fortschrittlicher als in Art. 14unseres Grundgesetzes formuliert ist. Manche von Ihnenerinnern sich vielleicht, dass wir vor etwa drei Jahren inder Debatte über die Abschöpfung von Gewinnen ausorganisierter Kriminalität die Forderung der Sozialdemo-kraten diskutiert haben, einen Satz einzufügen, der klar-stellt: Kriminell erzielte Gewinne und kriminell erworbe-nes Eigentum sind nicht geschützt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Jürgen Meyer
11905
Das ist damals vor allem von dem amtierendenInnenminister, Herrn Kanther, mit der Begründung abge-lehnt worden,
er könne nicht einsehen, dass womöglich demnächst Geld-wäscheverfahren wegen, wie er es genannt hat, „hunds-gemeiner Steuerhinterziehung“ durchgeführt würden.
Ich habe das damals überhaupt nicht verstanden, währendes heute leicht verständlich ist. Aber ich stelle gerne fest,dass der Art. 17 der EU-Grundrechte-Charta nun den weit-gehenden Satz enthält, dass sich der Schutz der Charta nurauf rechtmäßig erworbenes Eigentum bezieht.Aus Kap. III über die Gleichheit will ich nur, und zwarmit Freude, auf den Art. 23 hinweisen, der unter den bis-herigen europäischen Grundrechtstexten die modernsteFormulierung des Gebots der Gleichstellung von Män-nern und Frauen enthält. Das entspricht einem Antrag derweiblichen Delegierten im Konvent. Aber ich kann be-richten, dass fast alle männlichen Delegierten dem gernezugestimmt haben.
Kap. IV ist das Kapitel, zu dem ich die meisten Anträgeeingebracht habe und das nunmehr Formulierungen ent-hält, die ich Ihnen in einer früheren Debatte vorgetragenhabe. Es trägt die Überschrift „Solidarität“. Es geht alsoum soziale Grundrechte. Sie erinnern sich vielleicht – umein Beispiel zu nennen –, dass ich zum Recht der Arbeitvorgetragen hatte, dass man richtigerweise nicht „Rechtauf Arbeit“ formuliert, weil dies das Missverständnis her-vorruft, es gebe den Anspruch auf einen individuell ein-klagbaren Arbeitsplatz. Das gibt es in keinem Land derWelt, in dessen Verfassung das Recht auf Arbeit steht.Aber die Charta enthält das Recht zu arbeiten. Das stehtin Art. 15, der die Berufsfreiheit garantiert. Im Kapitel„Solidarität“ sind der Schutz des Arbeitenden vor will-kürlicher Kündigung und auch die Förderung von Arbeitdurch kostenlose Arbeitsvermittlung geregelt. Das sindalles Forderungen, denen Sie in einer früheren Debatte zu-gestimmt haben und die nun in der Charta stehen.
Man könnte in diesem Zusammenhang kritisch anmer-ken, dass manche sozialen Grundrechte – zum Beispieldas Recht auf Gesundheit, Umwelt- und Verbraucher-schutz – sehr allgemein formuliert sind. Ich hoffe und ver-traue darauf, dass die konkretisierende Rechtsprechung,aber auch die wissenschaftliche und die politische Dis-kussion aus diesen sehr allgemein gehaltenen Artikelnkonkrete Folgerungen ableiten.
Das gilt auch für einen Artikel, den ich hier noch er-wähnen will. Art. 36 nennt das Recht auf Dienstleistungenvon allgemeinem wirtschaftlichen Interesse; dazu gehörtbekanntlich auch die Daseinsvorsorge. Meine Überzeu-gung ist, dass in der aktuellen Debatte über Daseinsvor-sorge die Kommission, deren Kompetenzen wir mit derCharta bekanntlich zu begrenzen versuchen, nicht mehrallein die Aspekte „freie Marktwirtschaft“ und „fairerWettbewerb“ berücksichtigen darf. Vielmehr muss sieauch das Recht auf Dienstleistungen von allgemeinemwirtschaftlichen Interesse berücksichtigen. In der Verfas-sungsrechtsprechung des Karlsruher Gerichtshofes nenntman diese Aufgabe: Herstellung praktischer Konkordanzzwischen Grundsätzen, die in einem Spannungsverhältnisstehen. Ich bin gespannt, wie diese Aufgabe in der politi-schen Diskussion und gegebenenfalls in der Rechtspre-chung des EuGH zur Daseinsvorsorge gelöst werdenwird.Kap. V regelt die Bürgerrechte, neben dem Wahlrechtund der Freizügigkeit auch das interessante Recht auf guteVerwaltung. Mit diesem Recht möchte der Konvent derKommission und den Behörden der Europäischen Uniongerne ein bisschen Feuer unter dem Stuhl machen; ichfinde das eigentlich ganz zweckmäßig.
Kap. VI enthält die justiziellen Grundrechte: längstVertrautes wie die Unschuldsvermutung und den Grund-satz des Rechtes auf anwaltlichen Beistand. Hier willich beispielhaft betonen, dass wir uns weitgehend umeine Übernahme der wichtigen und durch Rechtspre-chung weiterentwickelten Grundsätze der Europä-ischen Menschenrechtskonvention als einer der großenSäulen dieser Charta bemüht haben.Von zentraler Bedeutung ist das siebte und letzte Kapi-tel. Dazu möchte ich auf drei Punkte hinweisen, die in derDiskussion bisher nicht ausreichend berücksichtigt wer-den. Art. 51 regelt zunächst einmal, dass sich die Chartagegen die EU-Organe richtet; sie sind der Adressat.In diesem Zusammenhang kann ich eine Episode er-zählen. Romano Prodi hat die Charta bei einem Empfangfür den Konvent Ende Juni sehr gelobt und gesagt, sie seidie künftige Seele der Europäischen Union. RomanHerzog hat in der ihm eigenen souveränen Art RomanoProdi gedankt und gesagt, es sei sehr anzuerkennen, dasser die Charta so lobe, denn er wisse doch, dass sich dieCharta gegen ihn richte.Das ist eine wichtige Aussage des Art. 51, der im Übri-gen besagt, dass die Charta auch bei der Anwendung eu-ropäischen Rechts in den Mitgliedstaaten zu beachten ist.In Abs. 2 wird außerdem klar gesagt: Die Charta begrün-det keine neuen Kompetenzen der Europäischen Union.– Herr Kollege Gnauck, Sie nicken. – Ohne diesen zwei-ten Absatz wäre die Charta überhaupt nicht zustande ge-kommen.Weil es gelegentlich Befürchtungen gibt, der nationaleGrundrechtsschutz könnte durch die Charta abgesenktwerden, zum Beispiel das in Art. 16 verankerte Asylrecht,weise ich auf die klare Regelung in Art. 53 hin, wonach esdurch die Charta keine Absenkung des Schutzniveaus dernationalen Verfassungen gibt; deren Adressat sind die na-tionalen Behörden, in unserem Fall bis hin zur Bundesre-gierung. Adressat der Charta sind jedoch die EU-Organe.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Jürgen Meyer
11906
Also: Nationale Verfassungen werden in ihrem Schutzni-veau durch die Charta keineswegs abgesenkt.Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemer-kung zum weiteren Verfahren machen. Dazu liegen jaauch Erschließungsanträge vor, neben denen der Koaliti-on und der F.D.P. auch ein Entschließungsantrag derCDU/CSU-Fraktion. Ich stelle eine große Übereinstim-mung in diesem Hause hinsichtlich des Wunsches fest,dass wir die frühestmögliche Aufnahme der Charta indie europäischen Verträge im Anschluss an die bevor-stehende feierliche Proklamation in Nizza wollen.Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass daseinfach sein wird. Es wird Mitgliedstaaten geben, diezwar die Proklamation wollen, aber nicht mehr. Ich denkeaber, auch in diesem Punkt hat Roman Herzog Recht:Wenn es richtig ist, dass die Charta inhaltlich überzeugt,wird sie ihren Weg machen und auch den Weg in die Ver-träge finden.Es gab in den letzten Tagen eine teilweise kontroverseDiskussion über das Inkraftsetzen der Charta durch einunionsweites Referendum. Ich will hier ohne jede Ein-schränkung sagen, dass ich dies für den besten und über-zeugendsten Weg halte, um die Charta in Kraft zu setzen.
Wenn man überhaupt einen Volksentscheid will, wäre dieCharta das Herzstück einer späteren Verfassung der mitAbstand geeignetste Gegenstand. Durch ein solches Re-ferendum würden die Legitimität der Europäischen Unionund das Gewicht der Charta gewinnen.Außerdem gibt es noch eine ganz praktische Erwä-gung: Wer hier im Plenarsaal und wer von den Menschen,die uns zuhören, kennt eigentlich schon den Inhalt derCharta? Wir müssen diese Charta bekannt machen unddazu wären die politischen Parteien in der Kampagne, diedem Referendum vorausgeht, verpflichtet. So könntenwir es schaffen, dass die Charta die Köpfe und die Herzender Menschen erreicht.Ich will gleich hinzufügen: Die Alternative ist selbst-verständlich das herkömmliche Verfahren der Ratifika-tion und wir haben es nicht allein in der Hand, ein Refe-rendum herbeizuführen. In diesem Zusammenhang wie-derhole ich den Satz, den Gerhard Schröder gestern imEuropaausschuss formuliert hat. Er hat gesagt, das Ziel,nämlich die Verbindlichkeit der Charta, sei noch wichti-ger als der Weg. Also: Wenn die Verbindlichkeit – ichsage: leider – nur über das übliche Verfahren der Ratifi-kation erreichbar wäre, müsste man diese Chance nutzen.Aber ich wiederhole: Der überzeugendste und beste Weg,die Charta in Kraft zu setzen, ist ein unionsweites Refe-rendum.Nun habe ich noch eine kleine Bitte an die Bundesre-gierung, die nachher durch zwei Minister zu Wort kom-men wird: Ich vertraue darauf, dass die Bundesregierungdie Klugheit besitzt, die Erfahrungen mit dem Konvent,der ja auch von der Bundesregierung schon gelobt wordenist, zu nutzen und mit positiver Einstellung zu prüfen, obnicht die weiteren Teile einer europäischen Verfassung,also der Kompetenzkatalog und auch die klare Regelungder Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union,von einem Gremium ähnlich dem Konvent vorbereitetwerden sollten. Die Einbeziehung der nationalen Parla-mente sowie des Europäischen Parlaments und der Öf-fentlichkeit bedeutet nämlich, dass die Demokratie in Eu-ropa gestärkt wird, und das wollen wir doch alle.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktionbegrüßt den vorliegenden Entwurf der Grundrechte-Charta und stimmt ihr ausdrücklich zu.
Wir glauben und sind davon überzeugt, dass es sich umein großes, ein historisches Projekt der europäischenIntegration handelt, das sich in Projekte wie den europä-ischen Binnenmarkt, die Abschaffung der Grenzkontrol-len, die Schaffung der Währungsunion und die Osterwei-terung einfügt. Es ist ein Projekt, das sich auch in diegroße Tradition der deutschen Europapolitik aller bisheri-gen Bundeskanzler, von Konrad Adenauer bis HelmutKohl, einfügt.Es ist auch ein gemeinsames Projekt, das alle Parteienbzw. alle Fraktionen in diesem Haus gemeinsam vorange-trieben haben. Ich möchte ausdrücklich der Bundesregie-rung für die wirklich weise und vernünftige Entscheidungdanken, Roman Herzog als Präsident dieses Konventesvorzuschlagen, weil ich glaube – es ist bisher nicht gesagtworden –, dass es durch die Persönlichkeit von RomanHerzog, durch seine Kompetenz und durch seine unbe-strittene Autorität möglich gewesen ist, das Zustande-kommen dieser Charta in einer sehr kurzen Zeitspanne zuermöglichen. Deshalb möchten wir Roman Herzog fürdieses Engagement und diesen Einsatz nachdrücklichDankeschön sagen.
Diese Charta – Kommissionspräsident Prodi hat es ge-sagt – bildet nicht mehr und nicht weniger als die künftigeSeele der Europäischen Union. Gerade am Vorabendwichtiger Entscheidungen – Regierungskonferenz in Niz-za mit wichtigen Vertragsänderungen, die Aufnahme vonbis zu 20 neuen Mitgliedstaaten in die EuropäischeUnion – ist es wichtig, dass wir uns über das Wertefun-dament, auf dem wir stehen, Klarheit verschaffen. Des-halb ist es entscheidend und keine Nebensächlichkeit,dass wir uns in der Präambel zu dieser Charta eindeutigzur zentralen Rolle der Menschenwürde, zur zentralenRolle der Person und zum Prinzip der Subsidiaritätbekennen. Das ist ein Bekenntnis zum europäischen Men-schenbild, das auf der christlichen Tradition, auf derTradition der Aufklärung fußt. Es ist vor allem eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Jürgen Meyer
11907
eindeutige Absage an jede Form von Intoleranz, Totalita-rismus oder spätsozialistischer Heilslehre.
Es war auch richtig – darin stimme ich dem KollegenMeyer ausdrücklich zu –, dass wir diese Charta durch ei-nen Konvent ausgearbeitet haben, der zu zwei Drittelnaus Parlamentariern der nationalen Parlamente und desEuropäischen Parlaments bestand. Es war auch für michpersönlich eine faszinierende Erfahrung, mitzuerleben,wie sich in diesem Gremium, das aus 60 völlig verschie-denen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern– von Skandinavien bis nach Portugal und Griechenland –mit unterschiedlichen Rechtstraditionen, unterschiedli-chem Grundrechteverständnis, unterschiedlichen Verfas-sungstraditionen und den unterschiedlichsten politischenAuffassungen bestand, die Mitglieder Schritt für Schrittzusammengerauft haben, wie sich eine gemeinsame Ar-beitskultur herausgebildet hat und wie man sich schließ-lich auf gemeinsame Positionen verständigt hat.Genauso faszinierend war es, mit anzusehen, wie indiesem Grundrechtekonvent aus anfänglichen Skeptikernund Gegnern der Grundrechte-Charta nach und nach über-zeugte Anhänger und Befürworter wurden, wie sich über-haupt einmal mehr die Erfahrung bestätigt hat, dass im-mer dann, wenn man sich intensiv und ernsthaft mit derMaterie beschäftigt, kein Raum mehr für dumpfen Skep-tizismus und Europafeindlichkeit bleibt.
Die Erfahrung des Konvents zeigt auch, dass es in derEuropäischen Union bei aller notwendigen Unterschied-lichkeit, bei allen gegensätzlichen Auffassungen zu Ein-zelfragen eben doch mehr Gemeinsames als Trennendesgibt. Diese Erfahrung sollten wir bei den Debatten in dennächsten Jahren nicht vergessen.
Auch wenn die Ausarbeitung der Charta – zum Bedau-ern des Kollegen Meyer und vielleicht mancher anderen –nicht jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen standund die Abendnachrichten im Fernsehen beherrscht hat,glaube ich, dass das Verfahren, das wir gewählt haben,mehr Transparenz und Beteiligung derÖffentlichkeit er-möglicht hat, als es jedes andere Projekt der europäischenIntegration in der Vergangenheit getan hat.
Meine Damen und Herren, das Ergebnis des Konvents,die Charta, kann sich sehen lassen. Wir haben – das wirdvon so unabhängigen und renommierten Persönlichkeitenwie dem ehemaligen Richter am Europäischen Gerichts-hof in Luxemburg und jetzigen Präsidenten des Bundes-gerichtshofs, Herrn Hirsch, und vielen anderen bestätigt –einen Chartaentwurf vorgelegt, der in einer positiven Artund Weise das zusammenfasst, was Grund- und Men-schenrechtsschutz in Europa seit vielen Jahrzehnten be-deutet. Diese Charta ist wahrscheinlich das beste Instru-ment modernen Grund- und Menschenrechtsschutzes, daswir in Europa und in der Welt haben. Ich bin davon über-zeugt, dass diese Charta für viele Verfassungen, für vieleGrundrechtskapitel in Verfassungen osteuropäischer Län-der, in Ländern auf dem Balkan, in jungen Demokratienin der Dritten Welt Pate stehen wird.Von dieser Charta wird auch die Signalwirkung ausge-hen, dass die Europäische Union mehr ist als eine Frei-handelszone und ein Binnenmarkt, nämlich vor allem eineWertegemeinschaft, die auf dem Prinzip der Demokratiegegründet ist.
Diese Charta ist auch deshalb ein Erfolg geworden,weil sich die Mitglieder im Konvent in weiser Selbstbe-scheidung dazu verstanden haben, die Charta nicht mit al-len möglichen Wunschvorstellungen zu überfrachten, dieman aus der nationalen politischen Debatte selbstver-ständlich in diese Charta hineintragen kann. Es gibt ebenkein Recht auf Arbeit; es gibt kein Recht auf Wohnung. Essind auch manch andere Blütenträume zerstoben, undzwar auf beiden Seiten des Hauses. Aber gerade weil es soist, ist es eine Grundrechte-Charta geworden, mit der alleleben können und die alle akzeptieren können. Das istauch ein Beweis dafür – wenn ich das so sagen darf –, dassauch in Gremien etwas Gutes entstehen kann, was nichtnur von sozialdemokratischen Regierungen in den Hin-terzimmern von Regierungskonferenzen verhandelt wor-den ist.
Die Grundrechte-Charta hat selbstverständlich auchDefizite. Ich persönlich hätte mir, lieber Kollege MichaelRoth, gewünscht, dass wir beispielsweise vor dem Hin-tergrund der Erfahrungen mit dem Balkan, mit dem Ko-sovo und mit Bosnien und der ungeklärten Lage vonMinderheiten in vielen Staaten Osteuropas und der ehe-maligen Sowjetunion auch den Mut gehabt hätten, Grup-pen- und Minderheitenrechte in diese Charta hineinzu-schreiben,
wie zum Beispiel ein Verbot der Vertreibung und einRecht auf Heimat.
– Ja, aber nicht nur die Franzosen. Ich hätte mir auch ge-wünscht – ich habe zusammen mit anderen entsprechendeAnträge im Konvent eingebracht –, dass die deutscheBundesregierung dies vielleicht ein bisschen engagierterunterstützt hätte, und zwar so, wie sie es bei anderen Fra-gen ja auch getan hat.Trotz dieses Defizits und manch anderer Defizite, diesich in dieser Charta identifizieren lassen – wir werdenzum Beispiel über die Fragen der Biomedizin in Europanoch lange diskutieren müssen, bevor wir zufrieden stel-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Peter Altmaier11908
lende und endgültige Regelungen erreicht haben –, lässtsich am Erfolg dieser Charta nicht deuteln. Sie wird vorallen Dingen ein Katalysator für den weiteren Prozess dereuropäischen Integration sein. Diese Charta hat Wirkun-gen, die weit über das Anliegen des Grund- und Men-schenrechtsschutzes hinausgehen. Sie wird uns auf demWeg zu einer europäischen Verfassungsgebung weitervoranbringen. Das folgt schon daraus, dass diese Grund-rechte-Charta festschreibt, dass die bisherigen Zuständig-keiten der Europäischen Union nicht ausgeweitet werdendürfen, dass vielmehr ihre Anwendung und Ausübungbesser kontrolliert und überwacht werden.Nur, wir haben ein Problem: Die Zuständigkeitsver-teilung ist an vielen Stellen des EU-Vertrags bisher nichteindeutig und klar geregelt. Deshalb ist es notwendig,dass wir, von dieser Charta ausgehend, eine Diskussionüber die Fragen in Gang setzen: Wer macht was in Eu-ropa? Was macht die Europäische Union, was machendie Mitgliedstaaten? Es ist ja erfreulich, dass die Forde-rung nach Kompetenzabgrenzung, die ursprünglich vonSchäuble und Lamers in der Debatte erhoben worden ist,inzwischen parteiübergreifend Anhänger und Unterstüt-zer findet, und zwar bis hin zum französischen Staatsprä-sidenten Jacques Chirac, der das vor wenigen Wochenvon gleicher Stelle aus im Deutschen Bundestag gesagthat.Heute habe ich vernommen, dass sich sogar der ehe-malige Bundeskanzler Helmut Schmidt für eine Kompe-tenzabgrenzung innerhalb der Europäischen Union starkmacht. Wenn er davor warnt, dass die Staats- und Regie-rungschefs andernfalls das Projekt Europa möglicher-weise verpfuschen könnten, dann ist das allerdings eineWortwahl, die ich mir nicht unbedingt zu Eigen machenmöchte, weil wir bei allem, was wir sagen, aufpassenmüssen, ob wir nicht das Gespenst der Europafeindlich-keit, das wir eigentlich bannen möchten, heraufbe-schwören und erst richtig zum Leben erwecken.Weil die Grundrechte-Charta den europäischen Bür-gern konkrete Rechte gibt, die eines Tages einklagbar seinkönnen, und weil sie dazu führt, dass das Handeln der eu-ropäischen Organe so überprüft werden kann wie dasHandeln der nationalen Organe, das seit jeher an strengenMaßstäben gemessen wird, wird sie auch die Diskussionüber ein weiteres wichtiges Thema vorantreiben, dasAngela Merkel in einer Rede, die sie vor wenigen Tagenim „Tränenpalast“ gehalten hat, angesprochen hat, näm-lich das Projekt der Demokratisierung der Europä-ischen Union.Neben den Fragen: „Wie soll die Europäische Unionhinsichtlich ihrer Zuständigkeiten und Kompetenzen ge-staltet werden? Wie viele Mitgliedstaaten sollen der Eu-ropäischen Union angehören?“ wird in den nächsten Jah-ren auch die entscheidende Frage auf der Tagesordnungstehen: Wie schaffen wir es, die Europäische Union so zuorganisieren, dass sie genauso demokratisch ist wie dasVerfassungsleben in jedem einzelnen unserer Mitglied-staaten? Es ist ein Problem, dass die europäischen Bürgerüber ihre Regierungen zum Beispiel in Frankreich, Eng-land und Deutschland entscheiden können, dass sie abernicht darüber entscheiden können, wer sie in Europa re-giert, und dass sie die Zusammensetzung der Kommissionund die Person des Kommissionspräsidenten einfach hin-nehmen müssen, und zwar als Ergebnis dessen, was imMinisterrat hinter verschlossenen Türen verhandelt wor-den ist. Ich bin überzeugt, dass die Grundrechte-Chartaauch hier eine Bresche schlagen wird und dass sie deshalbein Instrument ist, das die europäische Integration nichtverlangsamt, sondern was sie beschleunigt.Meine Damen und Herren, zur Offenheit der Debattegehört allerdings auch, dass wir uns darüber Klarheit ver-schaffen, dass die Charta einen wichtigen Schönheitsfeh-ler hat: Sie ist bislang rechtlich unverbindlich. Sie ist – da-ran werden nach allem, was wir wissen, weder Biarritznoch Nizza etwas ändern –, zum gegenwärtigen Zeitpunktfür keinen Bürger als unmittelbar geltendes Recht ein-klagbar. Deshalb glaube ich, dass wir unsere Arbeit nichtmit diesem Konvent beenden dürfen, dass wir uns nichtnur mit der heutigen Bundestagsdebatte für die vielen An-hörungen und Debatten loben dürfen, sondern dass wirdaran weiterarbeiten müssen, dass diese Charta mit ihrenGrundrechten Rechtsverbindlichkeit erlangt.
Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, bei allemVerständnis für die Schwierigkeiten, die es bei Regie-rungskonferenzen und europäischen Gipfelkonferenzengibt: Versuchen Sie, in Nizza und in Biarritz wenigstenseinen Fahrplan zu schaffen, der es regelt, dass die Grund-rechte-Charta eines Tages in die europäischen Verträgeaufgenommen wird – nicht eines fernen Tages, sondernbei der nächsten großen anstehenden Vertragsrevision,und zwar gemeinsam mit den Kompetenzabgrenzungenund mit dem, was wir als Kernelemente einer europä-ischen Verfassung bezeichnen. Wenn diese Charta ir-gendwo in den Aktenschränken des Auswärtigen Amtesund des Justizministeriums verschwinden würde, hättenwir eine große Chance vertan. Deshalb sollten wir allestun, damit die Charta die Wirksamkeit entfalten kann, diesie auch verdient hat.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurfder Charta wird nicht in irgendwelchen Aktenschränken,weder in Berlin noch in Brüssel oder anderen Hauptstäd-ten, verschwinden, weil ich der festen Überzeugung bin,dass der Integrationsprozess im Interesse aller beteiligtenMitgliedstaaten und auch der Beitrittskandidaten liegtund dass dieser Integrationsprozess nicht am Sankt-Nim-merleins-Tag, sondern in einer für uns überschaubarenZeit der Regelung dringender Fragen bezüglich der indi-viduellen Rechte der einzelnen EU-Bürgerinnen und Bür-ger wie auch der institutionellen Fragen bedarf. Ich kannes mir nicht anders vorstellen, als dies in einem verfas-sungsähnlichen Vertrag, am besten in einer Verfassung, zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Peter Altmaier11909
regeln. Insofern ist der Entwurf der Charta der Grund-rechte der Europäischen Union für mich ein Meilensteinin der Geschichte der europäischen Einigung. Der Kon-vent, der diesen europäischen Rechte- und Wertkanon inbemerkenswerter Einigkeit formuliert hat – diese Einig-keit wurde im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet –, hatdie Erwartungen bei der Formulierung dieser Initiativeauf dem Europäischen Rat in Köln deutlich übertroffen.Deswegen möchte ich ganz besonders – das wurde schonangesprochen – dem Bundespräsidenten a. D. RomanHerzog danken, der hier eine herausragende Arbeit ge-leistet hat, eine souveräne Leistung des Konvents. Gestat-ten Sie mir aber, dass ich auch allen anderen Mitgliederndes Bundestages und des Bundesrates für ihre sehr gute,für ihre konstruktive Mitarbeit danke.
Es ist auch wichtig, dass wir die Form ansprechen. Ichwarne allerdings davor, hier eine Entgegensetzung zwi-schen dem Konvent und den geheimen Hinterzimmern ei-ner Regierungskonferenz zu machen. Es sind keine Hin-terzimmer; zumindest war das 16 Jahre lang nicht der Fall.Sie werden es auch in Zukunft nicht sein, und wir solltendas nicht dem Konvent entgegensetzen. Ich bin der Mei-nung – das sage ich als überzeugter Integrationist –, dasswir mit dem Konvent eine neue Tür aufgestoßen haben.Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen Verfas-sungsvertrag nicht mehr in der alten Form der Regie-rungskonferenz bekommen werden.
Insofern kann ich Ihnen als Haltung der Bundesregie-rung sagen: Die Bundesregierung hat dafür gekämpft,diese Initiative auf den Weg zu bringen, bei der alle so her-vorragend zusammengearbeitet haben. Wir sind ein Stückweit stolz darauf und begreifen es als ein implizites Lob,dass dies unter der deutschen Präsidentschaft in Köln ge-lungen ist. Aber auch die Form – dass das Europaparla-ment und die nationalen Parlamente eingebunden waren,dass es einen transparenten Prozess gegeben hat, was Kol-lege Meyer zu Recht angesprochen hat – ist für die weite-ren Integrationsfortschritte sehr wichtig.
Mit der Charta, der gestern das Bundeskabinett zuge-stimmt hat und die wir am Wochenende in Biarritz disku-tieren wollen, unterstreicht die EU ihren Anspruch alsWertegemeinschaft über einen gemeinsamen Markt undeine gemeinsame Währung hinaus. Das ist ebenfalls einsehr wichtiger Gesichtspunkt.Erlauben Sie mir aber, mich in dieser Aussprache nichtauf die verfassungsrechtlichen Substanzfragen zu kon-zentrieren – das wird die Kollegin Justizministerin tun –,sondern auf einige europapolitische Anmerkungen zu dennächsten Schritten.Ich habe mir zum Prinzip gemacht, wenn ich Haupt-städte in der Europäischen Union besuche und Zeit habe,auch die Diskussion mit den Mitgliedern der Europaaus-schüsse der nationalen Parlamente zu suchen. Dabeimusste ich feststellen, dass die einhellige Zustimmung,die wir hier im Haus Gott sei Dank über fast alle Frakti-onsgrenzen hinweg haben
– über alle –, mitnichten in allen Mitgliedstaaten der Fallist,
und zwar aufgrund höchst unterschiedlicher Traditionen.Die nordischen Länder werfen zum Beispiel immer dieFrage auf, wie sich die Grundrechte-Charta zur Europä-ischen Menschenrechtskonvention verhalten wird. Dielangjährigen Nicht-EU-Mitglieder haben natürlich eineandere Tradition der Kooperation mit dem Europarat undsehen hier eine andere Gewichtung.Es ist aber auch festzustellen, dass der Kontext diesesEntwurfes, nämlich die Frage, wie sehr weitere Fort-schritte in der Integration gewollt werden, entscheidendist. Nicht die Sache ist in anderen Mitgliedstaaten teil-weise hoch dissent oder wird, um es noch krasser zu sa-gen, dort breit abgelehnt, sondern die Frage, ob manSchritte zu einer vollen politischen Integration gehen will,was hier im Hause Konsens ist. Das sollte uns nicht ent-mutigen. Es ist unser Auftrag, dafür zu werben, dass die-ser Entwurf nicht nur bei der beschränkten Zahl der Kon-ventsmitglieder aufgrund ihrer Erfahrungen, sondernauch in den nationalen Parlamenten insgesamt, in denendie Skepsis bislang überwiegt, mehrheitsfähig wird.Aber ich kann da dem Bundeskanzler nur zustimmen:Wichtig ist, dass wir diesem Entwurf möglichst schnellVertragscharakter geben können.
Wir sollten deshalb alles unterlassen, was dies gefährdenkönnte. Selbst wenn wir – auch ich – uns aus demokratie-theoretischen Überlegungen eine Volksabstimmung wün-schen würden, können wir uns die Realitäten nicht malen,wie man sie gerne hätte. Vielmehr muss man die Dinge re-alistisch sehen. Für mich ist die Überführung dieses her-vorragenden Entwurfes, für den wir dankbar sind, in dieeuropäischen Verträge wichtiger als die Hoffnung auf eineeuropäische Volksabstimmung, die ich bedauerlicher-weise so noch nicht sehe.
Wenn wir das gemeinsam so sehen, finde ich das sehrgut. Ich glaube, dass die nationalen Parlamente die wich-tige Aufgabe haben, diesen Entwurf gerade bei denen, dieihm skeptisch gegenüberstehen, mehrheitsfähig zu ma-chen – ohne dass die Bundesregierung sich damit aus ih-rer Verantwortung zurückziehen wollte. Ich möchte nurdazu auffordern und dafür werben.Ich will auf den zweiten Punkt antworten, den Sie an-gesprochen haben. Biarritz wird eine Vorklärung mit sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Joseph Fischer11910
bringen; das ist ein informeller Europäischer Rat, der dieWeichen für den Abschluss der Arbeit in Nizza stellt. ÜberNizza hinaus ist natürlich der Zusammenhang mit derErweiterung zu sehen. Die Erweiterung wirft zwei ent-scheidende Fragenkomplexe auf.Der erste sind die institutionellen Fragen. Die institu-tionellen Fragen führen direkt in die Verfassungsdebatte;denn mit dem fortschreitenden Integrationsprozess, deneine EU der 27 notwendig macht, wird man um eine Be-antwortung nicht nur der Fragen von Individualrechten,sondern auch der institutionellen Verfassungsfragen nichtherumkommen. Andernfalls wird man eine Stagnationoder gar einen Rückschritt verzeichnen.Der zweite Komplex betrifft Finanzfragen. Ich haltedie Erweiterung zum schnellstmöglichen Zeitpunkt fürunverzichtbar. Daraus ergibt sich – natürlich unter Ein-haltung der Reihenfolge –, dass wir mit dem Fortschrei-ten der Integration – aus der Erweiterung ergibt sich dieVertiefungsnotwendigkeit – auch eine entsprechende Dy-namik bei den Verfassungsfragen brauchen. Ich finde diebegonnene Debatte mit höchst unterschiedlichen Positio-nen sehr wichtig; sie führt über Nizza hinaus. Aber die Vo-raussetzung ist, dass der erste Schritt in Nizza gelingt.Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir uns eingeste-hen, dass wir bereits dort wesentliche konstitutionelleFragen zu bewältigen haben. Es handelt sich um konsti-tutionelle Fragen, die etwa die Institution und das Ver-hältnis der großen zu den kleinen Ländern betreffen. Esgeht um die Repräsentanz einer sich erweiternden Unionin der Kommission. Die Größenordnung der Kommissionund die Anzahl der Kommissare betreffen das Verhältnisvon großen zu kleinen Mitgliedstaaten. Die Stimmenge-wichtung ist ebenfalls eine konstitutionelle Frage. All diesgilt nicht für den Teil der Konstitution, der die individuel-len Grundrechte behandelt, sondern für den institutionel-len Teil. Es ist von zentraler Bedeutung. Selbstverständ-lich geht es auch um die Frage, inwieweit und mitwelchem Quorum das Mehrheitsprinzip angewandt wer-den wird.
– Das hängt mit der Stimmengewichtung wiederum sehreng zusammen. Aber das muss ich Ihnen, Herr Altmaier,nicht erklären. – Darüber hinaus geht es um die nicht inden Verfassungsrahmen hineinführende Frage der ver-stärkten Zusammenarbeit. Ich bin optimistisch, dass wirauch hierbei einen substanziellen Fortschritt erzielenwerden.Ich sage Ihnen: Nach Nizza werden wir nicht nur überdie Überführung dieses Teils einer Verfassung, des Grund-rechtsschutzes, in die europäischen Verträge zu diskutie-ren haben; vielmehr werden wir auch – ich gehe fest da-von aus, Herr Meyer – die Vertiefungsdebatte unterAusklammerung der institutionellen Verfassungsfragenführen müssen. Die Frage danach, wer was macht, istzwar einfach formuliert; aber in Wirklichkeit zielt man indas Zentrum des institutionellen Bereichs, der im Rahmeneiner zukünftigen europäischen Verfassung zu klärenist.Insofern hoffe ich, dass wir eine entsprechende Zu-stimmung finden können und den vor uns liegenden Wegin den Konklusionen wiederfinden werden. Die Bundes-regierung wird sich dafür einsetzen, dass wir zu Formu-lierungen kommen, die uns nicht nur die Tür öffnen, son-dern auch ein Stück weit durch diese Tür hindurchführen.Das heißt, es geht auch darum, die Richtung zu beschrei-ben. In dieser Art und Weise haben wir in Köln begonnen.Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen: Wirhaben mit dieser Methode sehr viel erreicht, nämlicheinen Entwurf der Grundrechte-Charta, auf die wir zuRecht stolz sein können.Ich bedanke mich.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt sehr, dassheute der Entwurf der Grundrechte-Charta des Konventsin dieser Form zur Beratung und zur Meinungsbildung an-steht; denn wir haben uns immer für eine Entwicklung derEuropäischen Union hin zu einem föderalen vereinigtenEuropa auf der Grundlage einer europäischen Verfassungeingesetzt.
Früher war es Vision und Ziel und heute wird es etwasmehr Realität, dass sich die Europäische Union in genaudiese Richtung, von einer Wirtschafts- und Währungsge-meinschaft – wir waren die entscheidenden Vorkämpferfür die gemeinsame Währung – hin zu einer zunehmendstaatlich verfassten Wertegemeinschaft, entwickelnmuss. Deshalb sind wir froh, dass wir heute über einenganz wichtigen Eckpfeiler dieser europäischen Entwick-lung beraten können.Wie die Vorredner danken wir den Mitgliedern desKonvents – einige sind aus dem Bundestag – und beson-ders dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog,der einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, dasses über unterschiedlichste Verfassungsvorstellungen undRechtstraditionen hinweg zu einem Konsens und zu ei-nem Kompromiss gekommen ist.
Aber auch die Mitglieder des Bundestages und insbe-sondere die des Europaausschusses sollten ihr Licht nichtso ganz unter den Scheffel stellen.Uwe Hiksch [PDS]: Sehr richtig!)Wir haben im April dieses Jahres zusammen mit demBundesrat eine Anhörung durchgeführt, die sich mit allenwichtigen Fragen und Problemen der EuropäischenGrundrechte-Charta befasst hat. Ich glaube, das war eineder Hilfestellungen, um Ihnen, Herr Meyer, und auch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Joseph Fischer11911
Ihnen, Herr Altmaier, dann die Arbeit im Konvent etwaszu erleichtern. Sie haben da ja schon gesehen, in welcheRichtung die Vorstellungen der Abgeordneten aus denjeweiligen Ausschüssen gehen.Die Grundrechte-Charta ist wirklich ein Projekt, dasweit über das hinausgeht, was uns in den letzten Jahrenauf den jeweiligen Gipfeln und bei den Europäischen Rä-ten beschäftigt hat.
Für uns ist die Grundrechte-Charta immer schon einSchritt hin zu einer europäischen Verfassung gewesen. Ichfreue mich, dass sich die Kollegen hier im Bundestag überalle Fraktionen hinweg jetzt endlich nicht mehr scheuen,dieses Wort auch in den Mund zu nehmen.
Wir hätten die Rede von Präsident Chirac hier im Bun-destag nicht hören müssen, um die Grundrechte-Charta inden Zusammenhang mit einer Verfassung einzuordnen.Herr Meyer wurde erst richtig ermutigt, dieses in einengrößeren Kontext zu stellen, als auch Herr Chirac voneiner Verfassung sprach.
Lassen Sie mich zu einigen wenigen inhaltlichen Punk-ten der Charta etwas sagen. Es ist für uns ja ganz selbst-verständlich und entscheidend, dass der Schutz der Men-schenwürde als Fundament aller Grundrechte an ersterStelle steht. Damit kommt der Menschenwürde und ihrerUnantastbarkeit eine Leitbildfunktion zu; dieser wichtigeWert strahlt so auf alle anderen Grundrechte aus.Wir begrüßen es auch, dass in dem Artikel über denSchutz der Unversehrtheit der Person das Verbot des re-produktiven Klonens von Menschen aufgenommenworden ist. Ich denke, das kann nur der Anfang sein. Wirmüssen jetzt die Debatte darüber führen, was wir im Be-reich des therapeutischen Klonens zulassen wollen undwie weit wir hier notwendiger technischer Entwicklungden Raum öffnen wollen, den sie braucht, aber auch da-rüber, wo wir Grenzen einziehen wollen. Ich denke, es istgut, dass hier ein erster Schritt gemacht worden ist.
Zum Diskriminierungsverbot und zu anderen Dingenbrauche ich nichts weiter zu sagen, da wir das natürlichunterstützen.Leider ist es den Verfassern trotz des eindeutigen Auf-trages des Europäischen Rates in Köln nicht gelungen,sich ausschließlich auf diejenigen Rechte zu beschränken,die nicht lediglich Handlungsziele der Union darstellen.Ich weise darauf hin, dass manches – Interessierte sollteneinmal die Artikel über Umweltschutz, Verbraucher-schutz und Gesundheitspolitik lesen – mehr in den Be-reich der Lyrik und der Prosa gehört denn in den Bereich,den wir mit einer Grundrechte-Charta verbinden.Lassen Sie mich auf ein Problem aufmerksam machen,das nicht nur ein sprachliches ist: In vielen Artikeln wirdselbst nach vielen Beratungen im Konvent der Begriff„Achtung von Rechten“ – ich erinnere dabei an Art. 11„Medienfreiheit“ – verwandt, und zwar als Ergebnis einesDiskussionsprozesses im Konvent, der zum Ziel hatte,den Schutz auf ein etwas niedrigeres Niveau zu senken.Wir sollten bei aller grundsätzlichen Zustimmung zumEntwurf dieser Grundrechte-Charta sehr wohl sehen, dassin manchen Bereichen ein Schutzniveau erreicht ist– natürlich wegen des notwendigen Kompromisses –, dasunter dem liegt, was wir uns aus unserem Verständnis he-raus gewünscht hätten und auch wünschen.Einen Artikel sehe ich mit großer Sorge: Es ist Art. 18der Charta, der beim Recht auf Asyl auf die GenferFlüchtlingskonvention verweist und sich damit auf ein in-stitutionelles Recht bezieht. Ich sehe sehr realistisch, dassanderes nicht machbar war. Ich sage an dieser Stelle aberauch: Ganz entschieden werden wir all denjenigen entge-gentreten, die das zum Anlass nehmen zu sagen: Weilnicht mehr in der Europäischen Grundrechte-Charta ver-ankert ist, muss jetzt auch in Deutschland die Debatte übereine Änderung des Grundrechtes auf Asyl in Art. 16 aGrundgesetz geführt werden.
Solch eine Sogwirkung darf von Art. 18 der Charta nichtausgehen.Das Kapitel Solidarität ist nach unserer Einschätzungsehr vom Realitätssinn der Mitglieder des Konvents ge-prägt. Man hat der Versuchung widerstanden – ich denke:richtigerweise –, ein Recht auf Arbeit und Wohnung hieraufzunehmen. Einige dieser immer gerühmten sozialenGrundrechte sind schon in der Sozialcharta und in ande-ren Konventionen verankert. Herr Meyer, ich weiß, diesesKapitel lag und liegt Ihnen sehr am Herzen; Sie haben sichsehr dafür eingesetzt. Aber realistisch gesehen muss mansagen, dass es sich mehr oder weniger um Selbstver-ständlichkeiten handelt, die dort verankert sind.Lassen Sie mich ein Wort zu den Art. 51 ff. sagen, näm-lich den horizontalen Bestimmungen der Grundrechte-Charta. Ich denke, es ist gut, dass man hier ein Mindest-niveau eingeführt hat. Man darf nicht hinter dieEuropäische Menschenrechtskonvention und andereRegelungen zurückfallen.Aber ich betrachte den Art. 52; der die allgemeinenSchranken für die Eingriffe in die Grundrechte formuliert,mit Sorge. Diese Eingriffsmöglichkeiten müssen sein;aber sie sind so allgemein formuliert – sie orientieren sichan den allgemeinen Zielsetzungen des Gemeinwohls –,dass ich nur sagen kann: Dadurch werden Spielräumeeröffnet, bei denen man nur hoffen kann – ich sage diesmit Blick auf das Verständnis, das wir im Bundestag mitdieser Charta verbinden –, dass nicht in einer Art undWeise in die Grundrechte eingegriffen wird, wie es auchdie Verfasser nicht wollen. Man sollte immer wieder be-tonen, dass diese Möglichkeiten nicht das Einfallstor fürsolch weit gehende Eingriffe werden dürfen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger11912
Neben diesen Punkten – man hätte die Charta inhalt-lich zwar besser ausfüllen können; aber insgesamt be-grüßen wir es, dass sie vorliegt – möchte ich noch eine Be-merkung zu dem weiteren Verfahren machen; denn das istim Moment der entscheidende Punkt. Wir fordern, dassnach den Beratungen am Wochenende in Biarritz spätes-tens auf dem Gipfel in Nizza der Entwurf dieser Chartapolitisch angenommen und damit beschlossen wird. Dasist aber das absolute Minimum; dabei darf es auf keinenFall bleiben. Deshalb fordern wir in unserem Antrag dieBundesregierung auf, alles für das Ziel zu tun, dass dieserEntwurf einer Grundrechte-Charta in die europäischenVerträge aufgenommen, also verbindlich gemacht wird,
und in diesem Verfahren eine Beteiligung der Bürge-rinnen und Bürger in Form einer Volksabstimmung vor-zusehen.Ich verstehe zwar die Zurückhaltung des Außenminis-ters, wenn er in dieser Funktion hier redet. Aber ich denke,er gibt damit überhaupt nicht den Willen der Fraktionenvon SPD und Grünen wieder. Herr Sterzing, mich hatheute Morgen wirklich erstaunt, dass ich in der „Süddeut-schen Zeitung“ lesen konnte, dass Frau Roth, Frau Künastund Sie eine Volksabstimmung fordern. Nehmen Sie die-sen Punkt doch in Ihren Antrag auf und sprechen nicht nurlasch davon, dass geprüft werden soll, ob eine Volksab-stimmung durchgeführt werden kann!
Setzen Sie sich dafür im Bundestag ein und wecken Sienicht nur entsprechende Erwartungen in der Öffentlich-keit! Der Grund für Ihre Zurückhaltung kann doch nichtin der Angst des Außenministers liegen, dies nicht durch-setzen zu können. Ich kann mich noch an ganz andereDebatten im Bundestag erinnern, als es um das ThemaVolksabstimmung und Bürgerbeteiligung generell ging.Wir befürchten überhaupt nicht, dass die Bürger inEuropa die Grundrechte-Charta geschlossen ablehnenkönnten; denn es ist keine Abstimmung, die morgen statt-findet. Wir eröffnen jetzt die öffentliche Debatte, die Ver-ständnis für das wecken soll, was hier festgelegt wurde.Vor dem Hintergrund einer solchen Debatte bin ich sehrzuversichtlich, dass es eine breite Zustimmung gebenwird.Wollen wir denn ängstlich sein und uns nicht trauen,bei einer so grundlegenden Verfassungsfrage die Bürge-rinnen und Bürger zu beteiligen? Alle Fraktionen und Par-teien haben sich doch in den letzten Monaten mit derFrage befasst: Wie können wir eine stärkere Bürgerbetei-ligung ermöglichen? Nun gibt es zum ersten Mal einenkonkreten Anlass, bei dem wir diesen Prozess der Beteili-gung einleiten können. Ich muss Ihnen aber sagen: Ichhabe kein Verständnis dafür, dass nur verschämte Ansätzeseitens der Mehrheitsfraktionen vorhanden sind. Dennochhoffe ich, dass wir Ihnen Mut machen können, noch ener-gischer aufzutreten.In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerk-samkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Meine Fraktion wertet die Tatsa-che, dass der Konvent die Europäische Charta der Grund-rechte in großer Einmütigkeit verabschiedet hat, alsBeweis dafür, dass die Mitglieder dieses Gremiums, dasEuropäische Parlament und zahlreiche nationale Parla-mente, darunter auch der Deutsche Bundestag, es als rich-tig erkannt haben, dass Europa nicht auf einem Defizitvon Rechten seiner Bürgerinnen und Bürger aufgebautwerden kann. Eine Charta der Grundrechte, die auf denPrinzipien von Menschenwürde, Selbstbestimmung undGleichheit gründet, musste eine notwendige Antwort aufdie Weiterentwicklung der wirtschaftlichen und mo-netären Integration sein und auch ein deutliches Signalan die beitrittswilligen Länder setzen.
Ich möchte hervorheben, dass viele Veränderungen,die als Ergebnis der Anhörungen und durch die Mitglie-der des Konvents selbst am Chartatext vorgenommenwurden, für uns grundsätzlichen Charakter tragen und vonuns sehr positiv bewertet werden.Die Fraktion der PDS und die Abgeordneten der PDSim Europaparlament, namentlich Frau Kaufmann, habensich von Anfang an gemeinsam mit den Fraktionen diesesHauses, namentlich vertreten durch den hoch geschätztenKollegen Meyer und den Kollegen Altmaier, kritisch undkonstruktiv an der Diskussion und der Arbeit an derCharta beteiligt und sie durch das Einbringen eigener Po-sitionen mitgeformt.Mit Befriedigung können wir feststellen, dass eineReihe unserer Essentials vom Konvent geteilt und in dervorliegenden Endfassung berücksichtigt wurden. OffeneProbleme und kritische Punkte werde ich später benen-nen.Wichtig war für uns, dass der Chartaentwurf nicht hin-ter die Europäische Menschenrechtskonvention und be-reits bestehende nationale Grundrechtsstandards zurück-fällt, sondern teilweise sogar darüber hinausgeht. DieFraktion der PDS begrüßt den vom Konvent verabschie-deten Entwurf und zollt ihre Anerkennung all denen, diesich an der Ausarbeitung einer Europäischen Charta derGrundrechte engagiert beteiligt haben. Der Chartaentwurfwie auch sein Entstehungsprozess sind ermutigende Zei-chen für die Bürgerinnen und Bürger Europas, dass derIntegrationsprozess voranschreitet, dass die Möglich-keiten der demokratischen Mitbestimmung erweitert undnicht vermindert werden, dass die Grundrechte und Frei-heiten aller Bürgerinnen und Bürger auf hohem Niveaugeachtet und geschützt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger11913
Auf der Grundlage des Entwurfs können die Grund-rechte der Menschen in der Europäischen Union vertei-digt werden und die Charta kann zu einem Gegengewichteiner allein marktwirtschaftlich ausgerichteten Gestal-tung Europas werden.
Die Offenheit und Transparenz der Arbeit des Kon-vents sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Einflus-snahme auf den Erarbeitungsprozess durch Bürgerinnenund Bürger, die Gewerkschaften, Verbände, Institutionenund Organisationen über Anhörungen oder über das In-ternet gelten zu Recht als vorbildlich und nachahmens-wert für wichtige Entscheidungen auf europäischerEbene.Unsere Anerkennung gilt ganz besonders ProfessorRoman Herzog als dem Vorsitzenden des Konvents. Diebreite demokratische Diskussion unter seiner Leitungführte dazu, dass der nun vom Konvent verabschiedeteEntwurf weitgehend im Konsens getragen werden kannund in vielen Bereichen das Machbare darstellt.Wie gesagt, es gibt einige gravierende Verbesserungengegenüber früheren Entwürfen. Ich will mich da kurz fas-sen; vieles ist bereits gesagt worden. In Art. 1 wird die Un-antastbarkeit der Würde des Menschen garantiert. Werweiß besser als die Beteiligten, welchen Prozess das er-fordert hat! Ich verweise auch auf die Wehrdienstver-weigerung und auf die Bedeutung der Aufnahme einesspeziellen, bemerkenswert untersetzten Antidiskriminie-rungsartikels 21. Einmalig und vorbildlich für alle euro-päischen Staaten sind die Aussagen zur Gleichstellungvon Mann und Frau, wie sie in Art. 23 vorgenommen wor-den sind. Dabei ist die Gleichstellung bei der Beschäfti-gung, der Arbeit und dem Arbeitsentgelt explizit auf-geführt. Das stellt auch für unser Land eine große He-rausforderung dar.
Einen Durchbruch bedeutete es, dass das Streikrecht inArt. 28 als Teil der möglichen kollektiven Maßnahmender Arbeitnehmer garantiert wird. Dies aufzunehmen be-deutete einen ähnlich schwierigen Prozess wie im Falledes Art. 1.Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass es mit dieserCharta auf der europäischen Ebene erstmals gelungen ist,den untrennbaren Zusammenhang zwischen den politi-schen und den sozialen Grundrechten herzustellen undletztlich trotz etlicher Widerstände durchzusetzen.Wir betrachten diesen Prozess als längst nicht abge-schlossen – da stimmen wir mit manchem Vorredner über-ein – und werden weiterhin auch auf der europäischenEbene darum ringen, einen hohen Standard konkreter so-zialer Grundrechte für die Union als Ganzes und nichtmindere nationalstaatliche Regelungen zu erreichen.
Wie auch andere Fraktionen dieses Hauses mussten wirim Verlauf der Diskussion über die Charta zur Kenntnisnehmen, dass die Bereitschaft einiger Regierungen zurVerbindlichkeit eindeutig formulierter sozialer Rechtegegenwärtig noch nicht vorhanden ist. So sind die ein-schränkenden Formulierungen im Text, die gerade beivielen der sozialen Rechte das Subsidiaritätsprinzip heiligsprechen und auf nationale Regelungen verweisen, einRelikt der Vergangenheit oder ein Zugeständnis an dieKonsensfähigkeit.
Die mangelhafte Ausgestaltung vieler sozialer Rechte alsIndividualrechte bleibt ein Hauptmangel der Charta undlegt die Unausgewogenheit von bürgerlichen und sozialenRechten offen.
Es ist selbstverständlich eine bedeutsame Entwick-lung, wenn jetzt das Recht zu arbeiten vorgesehen ist.Dies ist jedoch kein Äquivalent zum Recht auf Arbeit. Derin Lissabon einmütig verabschiedeten Zielsetzung einesEuropas der Vollbeschäftigung hätte als Ergänzung undindividuelle Entsprechung das Recht auf Arbeit zugestan-den. Das hätte die Bürger in die Lage versetzt, eines derobersten Menschenrechte garantiert zu bekommen. Dasgilt übrigens auch für das Recht auf Wohnen.
Kollege Altmaier, dies sind keine Blütenträume, sonderndie grundlegendsten Menschenrechte.
Zu begrüßen ist, dass das Recht auf Arbeitsvermittlungmit dem Zusatz „unentgeltlich“ versehen wurde. Ich sagedas mit Blick auf die private Arbeitsvermittlung.Die Charta findet keine Lösung für die Personengrup-pen, die ihre Rechte nur bedingt wahrnehmen können,zum Beispiel für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozial-hilfeempfänger, Arme oder auch Arbeitslose etwa im Be-reich Freizügigkeit und Meldepflichten; ich will das nichtweiter ausführen.Demgegenüber steht das wahrlich seltsam anmutendeRecht auf unternehmerische Freiheit in Art. 16, daseben jenes Recht auf Arbeit verhindert. Erneut werdenalso auch in dieser Charta Arbeitgeber und Arbeitnehmerungleich behandelt. Dem wird das Sozialstaatsprinzip ge-opfert, wenn auch im Schlussentwurf auf nationaleRechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird.Nicht aufgenommen wurde in die Charta so etwas wiedas individuelle Recht auf Asyl. Auch das wäre ein Fort-schritt gewesen.Die Fraktion der PDS tritt dafür ein, auf dem Gipfel inNizza die Charta der Grundrechte rechtsverbindlich inden Verträgen zu verankern. Auch die Verabschiedung derCharta in Form einer feierlichen Proklamation kann fürdie Rechtsprechung der europäischen Gerichte einenhohen Richtwert haben.Es muss den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeitgegeben werden, sich mit dem Gehalt der Charta vertrautzu machen, weitere Veränderungen am Text vorzuneh-men, eine breite Aussprache zu führen, Engagement undVision im Hinblick auf die Ausgestaltung der Europä-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Klaus Grehn11914
ischen Union einzubringen und die demokratische Mitbe-stimmung und Transparenz gerade angesichts weitererSchritte bei der Vergrößerung der Union zu erhöhen. AmEnde eines solchen Prozesses sollte im Jahr der Wahlenzum Europaparlament, im Jahre 2004, eine Volksab-stimmung zur Annahme der Charta stehen.
Ich darf mit der Feststellung schließen, dass die Bun-desregierung erklärt hat, dass sie nicht hinter den Entwurfzurückgehen wird, auch wenn es auf dem Gipfeltreffen inBiarritz entsprechende Anträge geben wird. Wir begrüßendiese Erklärung.
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-
Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Bekenntnis zu den Grundwerten – die Grund-
rechte-Charta wird der Europäischen Union den Weg wei-
sen“. So lautete in den vergangenen Tagen die Überschrift
über einem großen Artikel in der „Frankfurter Allgemei-
nen Zeitung“. Dies ist eine geradezu euphorische Würdi-
gung der Grundrechte-Charta, über die wir heute spre-
chen. Diese, wie ich finde, richtige, aber euphorische
Würdigung stammt von einem an sich sehr nüchternen
Mann, von Günter Hirsch, der früher Richter am Europä-
ischen Gerichtshof war und jetzt Präsident des Bundesge-
richtshofes ist. Er hat völlig Recht.
In allen heutigen Debattenbeiträgen zu diesem Thema
ist angeklungen, dass dies so ist. Auch das Wort „Ge-
meinsamkeit“ stand sehr deutlich über allem und war in
den gesamten Beiträgen zu spüren – Gemeinsamkeit aller
Fraktionen im Hinblick darauf, dass uns dieses Projekt
weiterführt. Wir haben zwar drei unterschiedliche An-
träge – einen von der Koalition und zwei weitere –, diese
aber deuten in allen zentralen Punkten in die gleiche Rich-
tung; und das ist gut.
Gemeinsamkeit ist in der deutschen Politik im Hin-
blick auf die Frage, welchen Weg Europa nehmen soll, mit
welchem Ziel wir Europa weiterentwickeln und gestalten
wollen, offensichtlich sehr wohl vorhanden. Ich stelle das
an dieser Stelle mit besonderer Freude fest, weil man ja
gelegentlich aus der einen oder anderen, mehr kurzfristig
und vielleicht interessenbehafteten Äußerung von Partei-
politikern, die sich draußen im Blätterwald wieder findet,
anderes schließen könnte.
Gemeinsamkeit steht über dem Projekt Europäische
Grundrechte-Charta, so wie wir es angelegt haben. Lassen
Sie mich allen sehr deutlich sagen, die sich schon in der
früheren Regierung darum bemüht haben, das Projekt der
Grundrechte der Europäischen Union auf den Weg zu
bringen: Verbal wie in der Sache gab es nie sehr viele Un-
terschiede; die Tatsache, dass es die rot-grüne Bundesre-
gierung war, die dieses Projekt in der deutschen Präsi-
dentschaft auf den Weg gebracht hat, erfreut mich
allerdings mit Genugtuung und mit Fröhlichkeit. Wenn
ich Herrn Altmaier sehe, dann weiß ich, dass er das im
Grund genommen genauso meint, ich sage es auch!
Wir können also feststellen: Wir sind jetzt an einer
Stelle angekommen, wo wir nicht nur über unsere Wün-
sche reden müssen, sondern wo wir sagen können: Ja-
wohl, wir haben das auf den Weg gebracht, und zwar – er-
innern wir uns an die Zeit vor eineinhalb Jahren – trotz
zum Teil großer Skepsis, gegen manche Kritik, gegen viel
Ängstlichkeit. Deswegen fand ich das, was Sie gerade ge-
sagt haben, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
so liebenswürdig. Wir haben nicht nur geredet, sondern
gehandelt und stellen jetzt fest: Jawohl, wir sind nicht nur
auf dem Weg in die richtige Richtung, sondern haben
tatsächlich eine Menge hinbekommen.
Übrigens war es die Bundesregierung, die das gute
Konzept eines offenen Konventes nicht nur überlegt,
sondern vertreten und durchgesetzt hat. Es war selbstver-
ständlich dieser Deutsche Bundestag, der stolz darauf sein
kann, dazu beigetragen zu haben, mit allen seinen kon-
struktiven Beiträgen, seien es Anhörungen oder Debatten,
sei es der persönlichen Mitarbeit oder der Diskussion in
den Ausschüssen. Es war auch das Europäische Parlament
und insbesondere Professor Herzog, den der Bundeskanz-
ler zum Regierungsbeauftragten gemacht hat. – Das alles
gehört zusammen. Die Freude, dass es gelungen ist, diese
Stufe des Erfolgs zu erreichen, gebührt uns allen. Ich be-
tone noch einmal: Es war die Gemeinsamkeit aller.
Mich freut auch, dass wir hier alle feststellen – noch
vor einigen Tagen gab es diesbezüglich die eine oder an-
dere Kritik –: Das ist ein guter Text, und zwar nicht nur,
wenn man es pragmatisch sieht und danach fragt, was
denn eigentlich möglich war, sondern auch, wenn man
sich Fragen stellt wie: Weist die Charta in die richtige
Richtung? Sind die Schritte, die gemacht werden, groß
genug, um nicht als ängstlich, sondern als durchaus mutig
zu erscheinen? – Der Text ist gut, er führt weiter, er ist
modern. Er bringt uns in der Tat ein Stück weiter, auch in-
soweit, als er die allgemeine Zustimmung zu Grundrech-
ten oder die Formulierung, dass der Mensch im Mittel-
punkt stehen müsse, weit überschreitet.
Frau Ministerin,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich siegerne erst später zulassen, weil ich das jetzt noch im Zu-sammenhang darlegen möchte.Der Text der Charta bringt uns sehr viel weiter, er kon-kretisiert die Gemeinsamkeiten und erschöpft sich nichtin der extrem wichtigen und deshalb von allen immer wie-der betonten Tatsache, dass der Mensch im Mittelpunktauch dieser Charta steht.Einen großen Schritt weiter sind wir auch in der Be-antwortung der Fragen: Was alles gehört eigentlich zu den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Klaus Grehn11915
individuellen Freiheitsrechten? Gehören nur sie zu denGrund- und Bürgerrechten oder gehören nicht auch die so-zialen Grundrechte heute unwiderruflich dazu?
Die Charta sagt ja: Auch das gehört zu den Gemeinsam-keiten. Dafür bin ich dankbar.Es ist zudem völlig richtig, dass wir auch in den Fra-gen, die man unter dem Begriff der „modernen Bürger-rechte“ zusammenfassen kann – seien das Fragen des Da-tenschutzes oder der Biomedizin – in Europa sehr vielweiter gekommen sind, auch wenn wir noch über vieleDetails reden müssen. Auch im Hinblick auf ihre Bedeu-tung möchte ich eine Gemeinsamkeit in der Bewertungerwähnen, dass diese Charta gut ist.Nun zur Verbindlichkeit. Sie haben völlig Recht – ichglaube, auch hier besteht kein Streit –: Alle – sowohl ichals auch der Außenminister, vor allem aber der Bundes-kanzler und Professor Herzog – sagen immer wieder, dassdie juristische Verbindlichkeit das ist, was wir – mitaller Klugheit – wollen und anstreben. Gestatten Sie mirzu sagen: Wir möchten über die Charta nicht nur redenmüssen oder dürfen, sondern wir möchten sie in Europaauch durchsetzen. Deswegen ist es ganz gut, dass mansich auch über den richtigen Weg Gedanken macht. Dassaber die juristische Verbindlichkeit, die Einbeziehung indie Verträge, zu den integralen Zielen gehört, ist völlig un-bestritten.Wir wollen dies schon deswegen, weil wir aus unserereigenen Erfahrung aus den vergangenen 50 Jahren deut-scher Geschichte wissen, dass die Formulierung vonGrundrechten und deren ganz praktische Durchsetzbar-keit mithilfe der Gerichte die Identität in unserem Landund das Bewusstsein, dass wir in einer rechtsstaatlichenund sozialen Demokratie leben, sehr gestärkt haben. Auchauf diese Weise wurde der Stolz der Bürgerinnen und Bür-ger der Bundesrepublik Deutschland auf das, was wir hiererreicht haben, mitgeschaffen. Das Gleiche wollen wir fürEuropa. Wir wollen die juristische Verbindlichkeit als in-tegralen Bestandteil. Wir wollen sie bald. Darüber gibt eskeinen Streit.Meine Damen und Herren, dass wir die in Biarritz undNizza noch nicht erreichen werden, das sollte uns nichtgrämen. Zwar soll man nie Nie sagen, aber wahrschein-lich werden wir sie dort noch nicht erreichen. Bitte lassenSie uns die politische Verbindlichkeit dieses Dokumentsnicht selbst kleinreden oder kleinreden lassen. Die politi-sche Verbindlichkeit eines solchen Dokuments, das ge-eignet ist, den Verträgen ohne Änderungen hinzugefügt zuwerden und sofort ein juristisch für alle verbindlicher Textzu sein, das ist ein enormer Fortschritt.Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Vor einein-halb Jahren hätte wohl auch nicht jeder, der sich heutesehr stolz äußert, geglaubt, dass dieser politische Text bisheute erzielbar sei, und zwar einfach deswegen, weil un-sere Verfassungstraditionen unterschiedlich sind und weildie Diskussion über Leitziele – wir würden sie beiuns Staatsziele nennen –, Programmsätze, individuelleGrundrechte und soziale Grundrechte in Europa damalsnoch nicht geführt war.Es ist eines der wirklich erstaunlichen Phänomene, diewir mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, dass sich indiesem knappen Jahr das wiederholt hat, was sich in denJahren 1948/49 im Parlamentarischen Rat ereignet hat.Das heißt: Wenn man sich einig ist, dass man ein Europader Bürgerinnen und Bürger, ein Europa der Werte und einEuropa der Bekenntnisse zu Grundwerten will, dann kannman in diesem Europa der Sechzehn über alle bestehen-den Unterschiede und Schwierigkeiten vieles erreichen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hinzufügen,es geht nicht nur um das Europa der Sechzehn. Vielmehrspielen in weiten Bereichen auch die Verfassungsstaatenin Mitteleuropa, also unsere östlichen und südöstlichenNachbarn, eine Rolle. Es war ja nicht so, dass der Kon-vent oder auch Einzelne aus dem Konvent ausschließlichinnerhalb der EU-Mitgliedstaaten diskutiert, für Öffent-lichkeit gesorgt und Interesse geweckt hätten. Vielmehrhaben alle selbstverständlich – angefangen mit der deut-schen Präsidentschaft in der ersten Hälfe des Jah-res 1999 – auch die Beitrittskandidaten einbezogen. Wirhaben das deswegen gemacht, weil wir wissen, dass sichdieses Europa der Grundwerte nicht – weder jetzt nochspäter – alleine auf die jetzige EU begrenzen darf. Esmuss selbstverständlich als politischer Acquis Communi-taire das weitere Europa, das wir anstreben, mit einbe-ziehen.
Meine Damen und Herren, heute wird auch viel überweitere Punkte wie Verfassung oder Kompetenzabgren-zung gesprochen. Auch wir kennen diese Aspekte undsind uns im Prinzip einig. Die Unterschiede liegen nichtso sehr in unterstellter Ängstlichkeit, sondern sie liegenvielleicht darin, dass wir sagen: Der eine oder andere auchvon Ihnen könnte selbst noch mehr tun, um die Ängst-lichkeit vor dem kontinental-europäischen Begriff derVerfassung, die in gewissen Ländern Europas noch vor-handen ist, zu überwinden. Darum geht es.Mir ist diese Ängstlichkeit übrigens verständlich; ge-rade unsere englischen Freunde – übrigens aller politi-schen Parteien – haben in Diskussionen immer wiederdeutlich gemacht, dass sie von einer anderen Verfas-sungssituation und einem anderen Verständnis ausgehen.Sie haben enorme Leistungen vollbracht. Lassen Sie unsdas auch würdigen. Im Oktober sind zum Beispiel die Eu-ropäische Menschenrechtskonvention und ihre Instru-mente in das völlig andere britische System inkorporiertworden. Dies ist ein Fortschritt, der uns nur nicht so auf-fällt, dass wir diesen Weg schon längst gegangen sind.Aber angesichts dessen, dass der Weg zum gemeinsamenWerteeuropa von unterschiedlichen Ausgangspunktenausgeht, dürfen wir nicht übersehen, welche enorme undgeschwinde Leistung nicht nur von uns, sondern auch vonanderen erbracht wurde und wird. Deswegen meine Bitte:Lassen Sie uns in diesem Bereich, wo nicht wir ängstlichsind, sondern das, was wir können und was möglich ist,schnell und zügig tun, darüber reden, wo in Europa viel-leicht noch Überzeugungsarbeit geleistet werden kann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin11916
Ich möchte zu dem, was vor uns steht, drei Zitate an-führen. Der juristische Grundbestand an Verfassungsele-menten ist viel größer, als bisher geglaubt wurde. Es gibtdazu viele Untersuchungen, die uns das alles zeigen.Peter Häberle, der sich lange mit den Verfassungen Eu-ropas beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es„vor allem einzelne Verfassungsprinzipien wie Men-schenrechte, Demokratie und Selbstverwaltung sowieStaatszwecke wie Rechts- und Sozialstaat“ sind, die „ge-meineuropäisches Verfassungsrecht greifbar werden las-sen, ohne schon einen europäischen Staat zu schaffen“.Häberle fügt hinzu – auch da hat er Recht –: „NationaleVarianten bleiben, aber ein gemeinsamer Kernbestandliegt schon vor.“
Um uns das Ziel auf dem Weg nach Europa vor Augenzu halten und als Inspiration trage ich vor, was CarloSchmid gesagt hat: „Wir alle irren, wenn wir glauben, wirkönnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen.Wenn Europa werden soll, muss man aufs Ganze gehen,dann muss man Europa zu einer ökonomischen, zu einerpolitischen, zu einer konstitutionellen Einheit machen.“Europa der Wirtschaft, symbolisiert durch Europa desEuro, Europa der politischen und konstitutionellen Ein-heit, in Zukunft symbolisiert durch die EuropäischeGrundrechte-Charta, ist das, was Carlo Schmid meint undwohin er den Weg weist.Eine dritte Aussage – ebenfalls zur Inspiration – sei voneinem nüchternen Realist und Pragmatiker und demjeni-gen hinzugefügt, der als Politiker dafür zu sorgen hat, dassnicht nur die Wünsche, sondern auch die Umsetzung aufden Weg gebracht wird, Paul-Henri Spaak. Er sagte:Entmutigt werden können nur diejenigen, die sicheinbilden, Europa lasse sich durch ein „Sesam, öffnedich!“ oder durch eine riesige Welle des Enthusias-mus schaffen. Nichts dergleichen wird geschehen.Ein organisiertes und vereinigtes Europa wird dasErgebnis langer und mühevoller Anstrengungensein.So ist es, aber es lohnt sich. Lassen Sie uns das heute fest-stellen. Ich glaube, das ist ein guter Tag.Herzlichen Dank.
Nun erteile ich dem
Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in der
Staatskanzlei des Landes Thüringen, Herrn Jürgen
Gnauck, das Wort. Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank,sehr verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Ich freue mich, dass wir die Chartadebattefortsetzen können. Wir haben es heute Nachmittag bereitsgehört: Der Chartaentwurf steht. Nach 18 Sitzungen einesKonvents in Brüssel liegt nun ein wohl ausgewogenes Pa-pier vor, das am Wochenende Gegenstand der Beratungenin Biarritz sein wird.Ich freue mich, dass das Hohe Haus, wie ich gehörthabe, übereinstimmend den Entwurf als gut bezeichnet.Er ist in der Tat ein geglückter Kompromiss, um mit denWorten meines Kollegen Friedrich zu sprechen, der diesals respektables Ergebnis bezeichnet hat. Insbesondere –das klang in den Beiträgen des Kollegen Meyer bereitsan – findet man ein ausgewogenes Ergebnis zwischen denwirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und dem,was unter sozialen Rechten auf der anderen Seite bespro-chen worden ist, wohl ausgeformt in dem Grundsatz derSolidarität.Erfreulicherweise – dafür möchte ich sprechen – sindauch zahlreiche Forderungen der deutschen Länder inden Chartaentwurf eingeflossen. Von den Anliegen, diewir im Verlauf der letzten Monate vorgetragen haben,sind – so kann man sagen – etwa zwei Drittel tatsächlichim endgültigen Entwurf der Charta umgesetzt. Das darfman ohne jegliche Übertreibung durchaus als Erfolg fürdie deutschen Bundesländer werten.
Ich möchte einige Beispiele kurz herausgreifen. Einesklang bereits an: Die deutschen Länder sahen mit Sorgedas Risiko, dass die Charta zu einer Kompetenzauswei-tung führen könnte. Ich denke, das darf man hier undheute deutlich sagen: Dieser Gefahr ist mit einer Reihevon Schutzklauseln begegnet worden. Es wäre äußerstvermessen, sie als bloße Feigenblätter zu bezeichnen. Ichmöchte darauf hinweisen, dass der Grundsatz der Subsi-diarität im Text zweimal genannt worden ist.Wichtiger für mich ist allerdings noch, dass eine so ge-nannte Querschnittsklausel im Text ausdrücklich klar-stellt, dass weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufga-ben für Gemeinschaft und Union begründet werden.Gerade an den Verträgen und an den Zuständigkeiten sollnichts geändert werden. Es finden sich zudem noch inzahlreichen Einzelartikeln Verweise auf die einzelstaatli-chen Vorschriften. Dabei handelt es sich um einen weite-ren Schutz.In verschiedenen Beiträgen klang bereits die Freudedarüber an, dass ausdrücklich festgehalten worden ist,dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Eng da-mit verbunden sind noch einige Einzelartikel, die in die-ser Charta Gott sei Dank ihren Niederschlag gefunden ha-ben. Ich erinnere – leider – an die Notwendigkeit, dasVerbot des Menschenhandels in Art. 5 Abs. 3 zu normie-ren. Das ist ein Problem, das bedauerlicherweise auchnoch zu unserer Zeit anzutreffen ist.In den letzten Wochen wurde sehr erfolgreich dafür ge-worben, das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Ge-wissensgründen aufzunehmen, die Kunstfreiheit zu nor-mieren und auch noch die Freiheit der Wissenschaft in denEntwurf aufzunehmen. Beim Umweltschutz, der sichin diesem Haus ganz offensichtlich nicht der unein-geschränkten Begeisterung sicher sein kann, hat sichzumindest die Umweltministerkonferenz sehr darüber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin11917
gefreut, dass man das hohe Niveau im Chartaentwurf fest-geschrieben hat. Auch frauenpolitische Belange findensich wieder. Ich denke, das alles sind wesentliche Ele-mente unserer europäischen Identität.
Quasi in den letzten Stunden, nämlich in der nächtli-chen Beratung, wurde – auch das klang bereits an – mitArt. 11 Abs. 3 eine zentrale Vorschrift zur Medienfreiheitüberarbeitet. Dort heißt es nicht mehr: „Die Freiheit derMedien und ihre Pluralität werden gewährleistet“, son-dern es heißt nun: „Die Freiheit der Medien und ihre Plu-ralität werden geachtet.“ Man befürchtete, dass sich hierneue Kompetenzen in Richtung Europäische Union ein-schleichen könnten. Dem wollte man einen Riegel vor-schieben. Wichtig war, dass das hohe Schutzniveau derMedienfreiheit in Deutschland unangetastet blieb. Hierteile ich, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nicht ganzIhre Ausführungen. Es soll gerade keine Absenkung durchverschiedene Vorschriften in der Charta vorgenommenwerden. Gerade Art. 53 des Entwurfes stellt dies aus-drücklich klar.Noch nicht gesagt worden ist, dass quasi in allerletzterSekunde ausdrücklich ein neuer Art. 25 aufgenommenworden ist, der den Schutz der Senioren regelt.Wo viel Licht ist, ist allerdings auch Schatten. Es klangbereits an: Auf der einen Seite haben wir die Unterschei-dung zwischen den individuell einklagbaren Rechten undauf der anderen Seite haben wir die Zielbestimmungenoder auch Grundsätze leider nicht durchgängig realisiert.Auch der bloße Abwehrcharakter der sozialen Rechtelässt sich vom ungeübten Leser nicht automatisch erken-nen.Leider ist der Minderheitenschutz nicht so ausgefal-len, wie es sich mein Kollege Schelter in Brandenburggewünscht hätte. Auf der anderen Seite sind die Kultus-minister hocherfreut darüber, dass es in Art. 22 heißt: DieUnion achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen undSprachen.Besonders besorgt bin ich aber nach wie vor über dieFassung von Art. 36; denn ich habe Angst, dass er zu ei-ner Fehlinterpretation bei der Europäischen Kommissionführen könnte. Es ist schon angesprochen worden: Es han-delt sich um den Artikel zu den Dienstleistungen von all-gemeinem wirtschaftlichen Interesse. Die Kommissionversucht, offensichtlich auf Initiative der französischenSeite, hieraus Honig zu saugen, wie man der Kommissi-onsmitteilung vom 20. September dieses Jahres unschwerentnehmen kann.Wir haben an die Vertreter der Bundesregierung dieausdrückliche Bitte – ich habe in diesem Sinne noch ein-mal direkt an sie geschrieben –, klarzustellen, dass hiernicht eine Daseinsvorsorge zugunsten der Kommissionangenommen werden darf, die in Wahrheit gar nicht be-steht. Dies, meine ich, sollte man sowohl in Biarritz alsauch in Nizza noch einmal deutlich zu Protokoll geben.
Der Konvent hat sich selbstverständlich – auch das hatKollege Meyer gesagt – von dem Gedanken leiten lassenund alle haben sich bemüht, so zu formulieren, als ob esgeltendes Recht wäre. Gott sei Dank ist der Gedanke desKollegen Goldsmith verworfen worden, eine Verfassungfür Nichtjuristen und eine für Juristen zu verfassen; daswürde das Ehrverständnis der Juristen sehr trüben.Es klang bereits an: Ich halte es eingedenk der Leis-tungen von Roman Herzog für ein kleines Wunder, dasses uns in der Kürze der Zeit gelungen ist, ein Papier miteiner solch hohen Qualität zustande zu bringen. Vereinzeltklang Kritik an, man habe binnen der neun Monate, in de-nen man an diesem Projekt gearbeitet hat, die Bevölke-rung nicht genügend beteiligt. Ich teile diese Auffassungausdrücklich nicht. Nach meinem Verständnis über dasModell eines Konventes bestand erstmals die Möglich-keit, auch via Internet auf verschiedene Passagen Einflusszu nehmen. Ich weiß, dass davon entsprechend Gebrauchgemacht worden ist; das ist ebenfalls eine wegweisendeEntwicklung.
Wir sollten auf das Erreichte stolz sein, aber wir soll-ten auch die Gelegenheit nutzen, denjenigen zu danken,die aus Sicht der Länder eine ganz hervorragende Arbeitgeleistet haben. Ich möchte die beiden Kollegen hier ausdem Bundestag noch einmal beglückwünschen: Ihnen istes genauso wie uns gelungen, bis zum Schluss partei-übergreifend einen breiten Konsens zu halten. Ich denke,das ist einer der Gründe dafür, dass wir in Europa deut-sche Interessen mit Anstand haben durchsetzen können,ohne die anderen Nationen zu kränken oder zu verletzen.
Ich war skeptisch – das will ich gestehen –, ob der Kon-vent innerhalb der Kürze der Zeit seine Arbeit würde er-ledigen können. Ich teile die Einschätzung des Bundes-außenministers: Das Modell hat sich bewährt und sollteund dürfte Vorbild für künftige Arbeiten sein. Ich denke,es ist durchweg gelungen, in einer Mischung aus Kom-missionsvertretern, Regierungsvertretern, Abgeordnetendes Europäischen Parlamentes und der nationalen Parla-mente, aber auch mithilfe von Juristen und Wissenschaft-lern eine entsprechende Arbeit zu leisten. Es könnte eineSteilvorlage für die Zukunft sein.Zum Abschluss erlaube ich mir noch folgende Anmer-kung: Die Charta beruft sich in ihrer Präambel auf die na-tionale Identität der Mitgliedstaaten und auf die Organi-sation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionalerund lokaler Ebene. Dies stellt einen wichtigen Hinweis füreine zukünftige europäische Kompetenzordnung dar. Eserscheint wesentlich, die Frage der Kompetenzabgren-zung und die Entscheidung über die Aufnahme der Chartain das EU-Vertragswerk miteinander zu verknüpfen.Beide Elemente – Kompetenzkatalog und Grundrechte-katalog – könnten aus meiner Sicht den Kern eines künf-tigen europäischen Verfassungsvertrages darstellen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Jürgen Gnauck, Minister
11918
Ich bedanke mich noch einmal bei den Abgeordnetenfür die vertrauensvolle Zusammenarbeit und wünschemir, dass wir uns vielleicht in einem anderen Konvent ein-mal wieder sehen.Vielen Dank.
Der Kollege Seifert
wollte eine Kurzintervention an Frau Bundesministerin
Däubler-Gmelin richten. Möchten Sie sie trotz des Tête-
à-tête noch machen? – Bitte sehr, Herr Kollege. – Frau
Ministerin, Sie können dann darauf antworten.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich möchte zu der Rede von Frau Ministerin Däubler-
Gmelin gern eine Bemerkung machen, die mir wichtig ist,
obwohl wir schon kurz miteinander geredet haben. Leider
ging sie in ihrer Rede nicht darauf ein, dass es in der jet-
zigen Fassung der Grundrechte-Charta im Prinzip um den
Schutz von Personen geht. In Art. 1 steht – das begrüßen
wir sicherlich alle –: Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar. Das ist sehr wichtig. Von Art. 2 an geht es aber nur
noch um den Schutz der Personen.
Jeder, der sich ein bisschen mit der philosophischen
Diskussion der Gegenwart befasst, weiß, dass in der
bioethischen Diskussion zwischen Mensch und Person
unterschieden wird: Man muss sich das Recht, Person zu
sein, erst erwerben und kann es auch wieder verlieren.
Das heißt, dass kürzlich geborene Säuglinge oder auch
Menschen in hohem Alter, die sich ihrer eigenen Ge-
schichte nicht mehr bewusst sind, unter Umständen zu
Nicht-Personen erklärt werden können, sodass sie dann
nicht mehr den Schutz der körperlichen Unversehrtheit
usw. genießen können.
Ich denke, es wäre wichtig, vom Deutschen Bundestag
und von der Bundesregierung aus deutlich zu machen,
dass es uns darum geht, keine Unterscheidung zwischen
Mensch und Person zu treffen, und zwar in dem Sinne,
dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Demzu-
folge muss das in den weiteren Artikeln auch so beschrie-
ben werden. Leider ist es momentan mit „Person“ um-
schrieben. Die Gefahr, dass tendenziell bestimmte
Menschen, zum Beispiel geistig oder körperlich schwer
behinderte Menschen aus der Wahrnehmung von Grund-
rechten ausgeklammert werden, ist vorhanden, und ich
bitte darum, dass die Frau Ministerin hier noch einmal
deutlich die Position der Regierung dazu darlegt, wie die-
ser Schutz sicherzustellen ist.
Danke schön.
Frau Dr. Däubler-
Gmelin, wollen Sie antworten? – Bitte schön.
Herr Kollege
Seifert, Sie haben natürlich völlig Recht. Ich muss mich
dafür entschuldigen, dass ich am Schluss meiner Rede
nicht nochmals zu Ihnen herübergesehen habe. Sie hatten
ja gesagt, Sie würden gerne eine Frage stellen, und wenn
diese wichtige Frage jetzt im Raume stehen bliebe, wäre
das sicherlich nicht gut.
Wir alle kennen die sehr merkwürdige Philosophie, ei-
nen Unterschied zwischen Menschen und Personen zu
machen, wobei einige die Auffassung vertreten – Peter
Singer ist einer der Vertreter dieser Auffassung –, Person
sei weniger als Mensch und daher weniger schutzbedürf-
tig oder schutzfähig.
– Ja nun, ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Peter Singer
hält am Personenbegriff fest.
– Wenn Sie es sich noch einmal überlegen, werden Sie se-
hen, dass es ganz einfach so ist: „Mensch“ ist der umfas-
sende Begriff, der die menschliche Würde einschließt, die
in unserem Grundgesetz steht und die wir auch in der
Grundrechte-Charta in Kap. I als Art. 1 als zentralen Be-
griff stehen haben.
Die Charta spricht – das war der Grund für die Frage
des Kollegen Seifert – von der Person, wenn es um das
Recht auf körperliche Unversehrtheit und Ähnliches geht.
Die Befürchtung ist nun, dass – der Philosophie von Sin-
ger folgend – durch dieses Wort zumindest ein gewisses
Maß an Unklarheit bestehen könnte, dass der Schutz der
Person weniger weit reicht, als der Schutz des Menschen
reicht.
Lassen Sie mich ganz klar sagen – ich bin sehr dank-
bar, dass Sie die Frage gestellt haben –: Wir sehen das
nicht so und ich habe mich gerade noch einmal sowohl bei
dem Kollegen Professor Meyer als auch beim Kollegen
Altmaier, die beide im Konvent tätig waren, vergewissert:
Gerade in Bezug auf die Fragen, die Sie hier angeschnit-
ten haben, gibt es einen Unterschied zwischen Mensch
und Person nicht und sollte es auch nicht geben. Lassen
Sie mich das sehr deutlich feststellen. Den Unterschied
zwischen Schutz bzw. Recht von Mensch und Person gibt
es in diesen Fragen nicht. Das wird im Übrigen durch die
englische Fassung der Grundrechte-Charta, in der von
„everyone“ die Rede ist, bestätigt.
Ihnen kam es darauf an, eine klare Meinung zu hören,
und ich glaube, ich habe meine Auffassung sehr deutlich
gemacht. Daran war mir auch sehr gelegen.
Vielen Dank.
Das hat nun HerrnHintze ermuntert, eine Kurzintervention zu machen. Bittesehr, Herr Hintze.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Jürgen Gnauck, Minister
11919
– Das geht. Das ist Ausdruck der Lebendigkeit des Parla-ments. Wenn er jetzt spricht, sehen Sie, dass es geht. Beidieser Frage lasse ich eine Zwischenfrage zu, weil ich eswirklich wichtig finde, dass wir das klären. Herr Hintze,bitte sehr.
Frau Präsidentin, ich be-
danke mich für die souveräne Sitzungsführung. – Ich
wollte in dieser elementaren Frage nur unterstreichen,
dass ich zwar die Anfangsbegründung der Frau Ministe-
rin, die als Abgeordnete gesprochen hat, nicht teile, aber
das Ergebnis voll teile.
Es gibt einen Unterschied zwischen Mensch und Per-
son, wir sprechen aber jedem Menschen das Personsein
zu, und zwar unabhängig von der Fähigkeit des Men-
schen – sei es als Säugling, Embryo, alter Mensch oder
schwer kranker Mensch –, die im Personenbegriff liegen-
den Eigenschaften auch selber auszuüben. Ich freue mich,
dass in diesem Haus eine große Übereinstimmung darü-
ber besteht, dass – im Ergebnis sind wir uns wieder einig –
„Mensch“ und „Person“ identisch ist und die Menschen-
würde jeder Person zugesprochen wird, egal, in welcher
Entstehungs- oder Lebensphase er oder sie sich befindet.
Ich wollte das nur noch einmal klarstellen.
Nun erteile ich dem
Kollegen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorneun Monaten hätte wohl niemand gedacht, dass wirheute über ein solches Ergebnis debattieren können. Esgab gegenüber dem Projekt einer Grundrechte-Chartaviele Skeptiker und Bedenkenträger.Ich glaube, es gibt im Wesentlichen drei Gründe fürden Erfolg dieses Konvents. Der erste Grund ist die Zu-sammensetzung dieses Konventes, der – das wurdeschon erwähnt – mehrheitlich mit Parlamentariern desEuropaparlaments und der nationalen Parlamente besetztwar. Es hat sich hier eine Eigendynamik entwickelt, diemeiner Ansicht nach wesentlich zu diesem positiven Er-gebnis beigetragen hat. Wir waren durch die Abgeordne-ten Meyer und Altmaier vertreten. Sie haben gezeigt, dasssie kompetent und engagiert mitgearbeitet haben. Dafürsollten wir ihnen an dieser Stelle herzlich danken.
Die kompetente und engagierte Mitarbeit so vieler Par-lamentarier in diesem Konvent hat viele Vorurteile Lügengestraft. Sie hat nämlich gezeigt, dass auch Parlamenta-rier effizient arbeiten können, manchmal sogar effizienterals eine Konferenz von Regierungsbeauftragten, die Der-artiges in einer solchen Zeitspanne wohl kaum zustandegebracht hätte. Insofern sollte das Schule machen. Das isteine Parlamentarisierung des Integrationsprozesses. Da-ran sollten wir festhalten.Der zweite Grund für den Erfolg liegt in der Präsi-dentschaft dieses Konvents; das wurde schon häufig er-wähnt. Roman Herzog mit seiner ihm eigenen Art hat er-heblich zu diesem Erfolg beigetragen. Den Dank will ichan dieser Stelle gern wiederholen.Der dritte Grund ist das Verfahren des Konvents. Ichglaube, auch das ist ein Erfolgsgeheimnis. Die Transpa-renz ist für einen solchen Prozess einmalig. Sie ist in die-sem Maße gerade für einen europäischen Prozess einma-lig. Das hat wohl auch dazu beigetragen, dass sich dieseEigendynamik entwickelt hat, dass die Beteiligungsmög-lichkeiten von Verbänden, von Initiativen, von Gruppenund Institutionen genutzt worden sind. Insofern ist hiereine Debatte entstanden, die sich zwar noch in einem be-grenzten Raum bewegt, die aber wohl alle als fruchtbarempfunden haben.Das sind die drei wesentlichen Gründe, die wir nennenkönnen.Was das Ergebnis angeht, so möchte ich zunächst deut-lich feststellen, dass auch wir der Meinung sind, dass hiereiner der modernsten Grundrechtskataloge, auf inter-nationaler Ebene wahrscheinlich der modernste Grund-rechtskatalog, entstanden ist.Darin wird erstens die Unteilbarkeit der Menschen-rechte dokumentiert, und zwar in einem Dokumentpolitisch-bürgerliche sowie wirtschaftliche und sozialeRechte.Zweitens haben die so genannten neuen oder modernenGrundrechte ihren Niederschlag gefunden, zum Beispielder Umweltschutz, der Datenschutz und der Verbraucher-schutz.Drittens ist die neue Generation von Grundrechten auf-genommen worden. Ich nenne in diesem Zusammenhangdas Thema Bioethik und das Thema Antidiskriminierung.Man kann, glaube ich, viertens auch deutlich festhal-ten: Es ist ein Grundrechtskatalog, der durchweg ge-schlechtsneutral formuliert worden ist.Schließlich sei erwähnt, dass die Kürze, die Knappheitund die Lesbarkeit dieses Grundrechte-Chartaentwurfsihn in besonderer Weise auszeichnen. Auch daran solltenwir Parlamentarier uns, wenn wir am Grundgesetz arbei-ten, ein Beispiel nehmen.Insofern liegt in dieser Grundrechte-Charta wirklichein europäischer Mehrwert. Es ist deutlich geworden,dass auf dem Weg von der Europäischen Wirtschaftsge-meinschaft zur politischen Union, zur Wertegemein-schaft, das Wertefundament, das Grundrechtsfundamenthiermit gelegt worden ist.Ich kann natürlich nicht auf alle Einzelheiten eingehen.Ich will für unsere Seite nur feststellen, dass wir eineganze Reihe unserer grundrechtlichen Vorstellungen indiesem Katalog nicht realisiert sehen. Der Umweltschutzist ungenügend geregelt. Gerade Art. 3 mit der Problema-tik der Bioethik ist unzureichend. Der Tierschutz fehlt.Das Thema Asylrecht wurde bereits angesprochen. DesWeiteren sind die Defizite beim Minderheitenschutz unddie Schrankenproblematik zu nennen. Das ist eine Reihe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs11920
von Defiziten. Meine Aufzählung der Kritikpunkte ist al-lerdings nicht vollständig.Gleichwohl würdigen wir das, was an Fortschritten zuverzeichnen ist, so etwa den umfassenden Antidiskrimi-nierungsartikel, die Formulierungen in dem Artikel zumSchutz von Ehe und Familie, die Absicherung der Gleich-stellung, der Frauenförderung. Zu nennen ist auch dasKriegsdienstverweigerungsrecht, das in letzter Minutenoch eingefügt worden ist.Wir wissen zwar, wie strittig viele dieser Formulierun-gen im Konvent waren, aber der Entwurf belegt: Hier istnicht minimalistisch um den kleinsten gemeinsamenNenner, sondern hier ist sehr engagiert um den größtengemeinsamen Nenner gerungen worden. Insofern glaubeich, dass dieser Prozess vor dem Hintergrund der unter-schiedlichen verfassungsrechtlichen Traditionen in Eu-ropa nicht unterschätzt werden darf. Integrationspolitischist dieser Prozess schon an sich mindestens genauso wich-tig wie sein Ergebnis.Die Frage ist natürlich: Wie geht es weiter? Lassen Siemich kurz ein paar Stichworte nennen. Rechtsverbind-lichkeit: Sie sollte - darüber sind wir uns alle einig –frühestmöglich herbeigeführt werden.Klagemöglichkeit – das ist das nächste Stichwort –:Wir müssen einen Weg finden, wie wir im Rahmen einerVertragsreform ein Verfahren entwickeln können, das esden Bürgern möglich macht, ihre Grundrechte einzukla-gen; denn Grundrechte ohne Grundrechtsschutz verdie-nen auf Dauer ihren Namen nicht.Schließlich sind wir uns auch weitgehend über die Not-wendigkeit und die Sinnhaftigkeit eines Referendums ei-nig. Nur, wir sollten auch nicht einfach über den Zielkon-flikt hinwegreden, der zwischen einer möglichst rasch zuverwirklichenden Rechtsverbindlichkeit des Dokumentsauf der einen Seite und einem Referendum auf der ande-ren Seite besteht, für das die Voraussetzungen erst nochgeschaffen werden müssen. Wir glauben insofern, dassder so genannte Post-Nizza-Prozess eine wichtige Gele-genheit bietet, um die Grundrechte-Charta spätestens zudiesem Zeitpunkt zu einem Teil eines – wie immer mandas nennen wird – Verfassungsvertrages zu machen. Inder anstehenden Verfassungsdebatte wird sich, so hoffeich, das konkretisieren, was es aber noch gegen viele Wi-derstände, Vorbehalte und Bedenken durchzusetzen gilt.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Wir haben im Zusammenhang mit der Grundrechte-
Charta vielfach von einem Meilenstein gesprochen. Auch
ich glaube, sie ist ein Meilenstein. Aber wir sollten gleich,
nachdem wir diesen Meilenstein passieren, die nächsten
Meilensteine des Integrationsprozesses in den Blick neh-
men. Diese liegen mit Nizza und mit dem Post-Nizza-Pro-
zess, in dessen Rahmen über eine Verfassung zu diskutie-
ren sein wird, unmittelbar vor uns.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die europäische Eini-gung ist eine der größten politischen Erfolge der Ge-schichte unseres Kontinents. Die Völker waren im letztenJahrhundert in zwei großen Kriegen untereinander zer-stritten. Sie haben sich dann in der zweiten Hälfte diesesJahrhunderts zusammengefunden, haben die europäischeEinigung auf den Weg gebracht und die Grundlage dafürgeschaffen, dass wir in Frieden, Freiheit und Wohlstandmiteinander zusammenleben können.Es gab im Laufe der Zeit Institutionen, die ein Eigen-leben entwickelt haben, ohne richtig demokratisch legiti-miert zu sein. Deshalb geht es darum, dass wir sobald wiemöglich einen Verfassungsvertrag schaffen, in dem dieKompetenzen zwischen der Union auf der einen und denMitgliedstaaten auf der anderen Seite ganz klar abge-grenzt sind. Es geht darum, dass in einem Verfassungs-vertrag die Grundrechte niedergelegt werden, die in derCharta entwickelt worden sind.
Wir begrüßen die Arbeit des Konventes, weil wir mitihm in vielen Punkten übereinstimmen können. Es gibtauch Kritikpunkte; das ist zweifellos richtig. Die Chartaist vielleicht mit zu vielen Programmsätzen überfrachtet.Das sollte man bedenken, wenn man die Grundrechte indem zukünftigen Verfassungsvertrag verankert.Es gibt in der Charta sicherlich auch Einzelnormen,die ganz automatisch zu einer Kompetenzausweitungführen, obgleich in der Charta ausdrücklich erklärt wird,dass keine Kompetenzausweitung durch die Charta ge-wünscht wird. Aber die Kompetenzausweitung ist in die-sen Normen unter Umständen schon angelegt. Deswegenmüssen wir unser Augenmerk gerade auf solche Pro-grammsätze richten, die unter Umständen geeignet sind,kompetenzansaugend zu wirken, und die auf diese Weisedafür sorgen können, dass wir mehr und mehr in einenZentralstaat hineinrutschen, den wir überhaupt nicht wol-len. Im künftigen Europa müssen die Nationalstaatenselbstständig bleiben. Die Kompetenzkompetenz mussbei ihnen verbleiben.Ich will ein Wort zu der Debatte sagen, die sich vorhinüber die Begriffe Mensch und Person entfacht hat. Das istein wichtiger Punkt. Die Charta nimmt in ihrer PräambelBezug auf das geistig-religiöse Erbe der europäischenKultur.Das ist für mich ein sehr wichtiger Satz. Ich weiß,dass dieser Satz umstritten gewesen ist und dass es denMitgliedern des Konvents aus Deutschland, insbesondereden Mitgliedern der Unionsfraktion, zu verdanken ist,dass dieser Satz Niederschlag in der Präambel gefundenhat. Wenn man eine solche Präambel formuliert, dann istes gut, sich auf die Wurzeln unserer Kultur zu besinnen.Wir sagen ja immer, Europa solle eine Wertegemeinschaftsein. Dann muss man aber auch wissen, auf welchen Wur-zeln diese Werte beruhen.Es gibt sicherlich viele Wurzeln der europäischen Kul-tur, aber drei tragende Wurzeln sind besonders zu beto-nen: Erstens ist die griechische Tradition zu nennen: die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christian Sterzing11921
Beschäftigung des Menschen mit der Wissenschaft undmit der Philosophie. Wenn wir heute an Gerechtigkeitdenken, dann denken wir genauso wie die Griechen.Zweitens ist die römische Kultur mit ihrem Recht zu nen-nen. Unsere ganze Rechtskultur baut auf dem römischenRecht auf. Drittens – das möchte ich herausstellen – ist diejüdisch-christliche Tradition zu nennen. Das ist die wich-tigste Wurzel der europäischen Kultur. Unser Abendlandist ohne jüdisch-christliche Religion undenkbar.
Man braucht nur durch europäische Städte zu gehen, umdas festzustellen. Man muss nur einen Augenblick darü-ber nachdenken, wie es wäre, wenn es das Christentum inEuropa nicht gäbe. Das ist völlig unvorstellbar.Gerade aus dieser jüdisch-christlichen Traditionkommt der Begriff der Person. Person bedeutet das Un-wiederholbare, die Einmaligkeit des Menschen; Personbedeutet unverletzbare Würde des Menschen. Das verste-hen wir, wenn wir an das christliche Abendland denken,unter Person.
Deswegen hat Herr Kollege Hintze Recht, wenn er fest-stellt, dass in unserem abendländischen Verständnis zwi-schen den Begriffen Mensch und Person kein Unterschiedbesteht. Da mag Singer kommen und einen Unterschiedmachen,
aber nach unserem abendländischen Verständnis bestehtzwischen Mensch und Person kein Unterschied.Um das klarzumachen, haben wir in unseren Antragaufgenommen, dass jeder Mensch das Recht auf Lebenhat, so wie jedem Menschen das Recht auf Würde zusteht.Wir machen hier keinen Unterschied. Deswegen könnenwir diesen Begriff in der Charta akzeptieren, ohne dasswir uns über Singer Gedanken machen müssen. Wir müs-sen, weil die Charta auf die europäischen Werte Bezugnimmt, an dem christlich-abendländischen Menschenbildfesthalten. Deswegen kann es kein Abweichen zwischenMensch und Person geben.Nun mögen viele glauben, es sei nicht mehr so wich-tig, überhaupt an das christliche Abendland zu erinnern.Das sei eine verflossene Sache und wir würden einerneuen Zeit entgegengehen. Hegel hat schon vor 200 Jah-ren gesagt, dass sich die christliche Religion in ihrenWertvorstellungen in Europa zweifellos durchgesetzthabe und dass die europäischen Institutionen diese Wert-vorstellungen so verinnerlicht hätten, dass das Christen-tum insofern überflüssig geworden sei. Ein solches Den-ken übersieht aber, dass solche Institutionen immer vonhandelnden Menschen bestimmt sind. Wenn aber diehandelnden Menschen nicht mehr die den Institutionengemäßen Überzeugungen haben, wenn sie also wegge-brochen sind, dann dauert es nur noch kurze Zeit, bis auchdie Institutionen wegbrechen.Deshalb kommt es, wie ich meine, ganz entscheidenddarauf an, dass in der Charta auf das christlich-abendlän-dische Erbe Bezug genommen wird. Ich danke denjenigenganz herzlich, die dies durchgesetzt haben.Danke schön.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich entnehme der Redefolge, dass zu die-
sem Thema auch der Bundesaußenminister gesprochen
hat. Ich freue mich, dass die Frau Justizministerin unter
uns weilt, und wünschte, dass auch der Außenminister
nach seiner Rede hier geblieben wäre. Ich habe noch nicht
herausfinden können, Herr van Essen, ob Dispens erteilt
worden ist.
– Er ist ihm erteilt worden. Aber dann könnte wenigstens
ein Staatsminister hier sitzen. Wir alle legen sicherlich
Wert darauf, dass sich die Bundesregierung dem Dialog
mit dem Parlament stellt.
Nun hat die Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen!Die Ausarbeitungen des Konvents spiegeln natürlich ei-nen Prozess postnationaler Konstellation wider unddrücken Konsens über gemeinsame Werte aus. Ich möchtemich auf einen Aspekt konzentrieren, auf eine, wie wiralle wissen, Zukunftsfrage: die Definitionskraft der Ga-rantie der Menschenwürde im Zeitalter der Bio- und Gen-technologie.Für mich war von zentraler Bedeutung, dass sich dieEnquete-Kommission „Recht und Ethik der modernenMedizin“ des Deutschen Bundestags sofort mit dieserFrage befasst und eine Definition des Menschenbildesund Menschenrechts in der EU-Grundrechte-Charta erar-beitet hat. Wir haben dem Konvent Empfehlungen gege-ben, in denen es heißt:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zuachten und zu schützen.Diese Formulierung war vorher nicht im Entwurf derCharta enthalten. Ferner machte die Enquete deutlich,dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Des Weiterenempfahl sie, in Art. 3 die Nichtdiskriminierung, insbeson-dere das für die Zukunft sehr wichtige Verbot der Diskri-minierung wegen genetischer Merkmale, aufzunehmen.Schließlich empfahl die Mehrheit der Enquete, dass dasRecht auf Unversehrtheit ein Verbot von fremdnützigerForschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen um-fasst.Das Klonen sowie Eingriffe in die menschliche Keim-bahn sind verboten; das ist außerordentlich wichtig. Eben-so kann nicht darauf verzichtet werden, dass das Recht aufWissen und das Recht auf Nichtwissen gerade mit Blickauf die genetischen Daten zum unverzichtbaren Bestand-teil einer zeitgemäßen Grundrechte-Charta wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Norbert Geis11922
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Frau Kollegin Knoche,
ist Ihnen bewusst, dass der Text der Grundrechte-Charta
das Klonen von Menschen nicht grundsätzlich verbietet,
sondern nur das reproduktive Klonen? Das heißt, dass das
Schaffen von Embryonen, um sie als „Ersatzteillager“ zu
nutzen, nicht ausdrücklich verboten ist.
Herr Kollege Hüppe, ich werde mich in den wenigen Mi-
nuten Redezeit, die mir verbleiben, dieser Fragestellung
zuwenden. Ich hoffe, Sie können akzeptieren, dass ich mit
meiner Rede fortfahre und Ihre Frage im weiteren Verlauf
beantworte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede und je-
der von uns weiß oder spürt, dass neue Definitionen vom
Beginn und Ende des menschlichen Lebens unterlegt wer-
den, wenn es um Interessen am zellulären Sein des Men-
schen geht. Dazu gehört der massive Versuch, den außer-
halb eines Frauenkörpers erzeugten Embryo für
Stammzellforschung und Klonierung, also für fremde
Zwecke verwenden zu können. Das zeigt, dass die Bio-
medizin und die Forschung vielfach über das individuelle
Subjekt hinaus auf die Verfasstheit des Menschen
schlechthin greifen.
Die Grundrechte-Charta muss auch die unantastbare
Würde des Menschen als Gattungswesen garantieren. An-
gesichts der unvergleichlichen Gefährdungslage sind die
Werte, auf denen unsere Kultur beruht, nur wachstums-
fähig, wenn diese Normen nicht verlassen werden. Der
Prozess im Konvent zeigt, dass es möglich ist, zu Werte-
übereinstimmungen beim Begriff vom Menschen zu kom-
men.
Wenn es heute heißt „Die Würde des Menschen ist un-
antastbar“ und in Art. 2 von „Jeder Mensch hat das Recht
auf Leben“ die Rede ist, so ist das eine große Leistung.
Um keine Missverständnisse zu nähren: Die Sinnbestim-
mung von Mensch, die wir in unserem deutschen Text ha-
ben, ist die, die wir in der eigenen Grundrechtedogmatik
haben. Auch das ist ein sehr wichtiger Erfolg und eine
gute Grundlage für die künftige Debatte.
Noch ein Hinweis. Unser Grundrechtsverständnis ver-
langt von uns, unbedingt Sorge dafür zu tragen, dass das
bestehende Verbot eugenischer Praktiken zwingend auf
die eugenische Selektion durch Präimplantationsdiagno-
stik erweitert wird. Die Charta sieht heute lediglich vor,
das reproduktive Klonen von Menschen zu verbieten. Das
ist jedoch vollkommen ungenügend. Sie muss auf das
Verbot des Klonens für jedwede Zwecke erweitert wer-
den; denn das, woraus ein Mensch entstehen kann, darf
niemals ein „verzweckbares“ Objekt werden.
Gerade in dem, was in diesem Grundrechtsartikel, be-
zogen auf das Feld der modernen Medizin, fehlt, offenba-
ren sich die Nichtübereinstimmungen im wertedifferenten
System Europa. Mit Blick auf Art. 3 kann die heute zu be-
wertende Fassung sicherlich nicht die letzte für eine eu-
ropäische Verfassung sein. Da bleibt ein Gestaltungsauf-
trag. Wir sollten ihn wahrnehmen, auch über den Gipfel
von Nizza hinaus.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4246 und 14/4253 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damitsind die Überweisungen so beschlossen.Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4269soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss fürdie Angelegenheiten der Europäischen Union und zurMitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innen-ausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Ar-beit und Sozialordnung, den Ausschuss für Umwelt, Na-turschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss fürMenschenrechte und humanitäre Hilfe und an den Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen wer-den. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungWohngeld- und Mietenbericht 1999– Drucksache 14/3070 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Regelung der Miethöhe– Drucksache 14/871 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11923
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 14/3896 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeWolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen! Meine Herren! Der Wohngeld- und Mietenbe-richt 1999 verkündet sozusagen eine frohe Botschaft,
zumindest auf den ersten Blick: Mietenanstieg auf einemTiefststand – ich glaube, seit 1962 –; ein deutlich gerin-gerer Anstieg der Nebenkosten; insgesamt eine Entspan-nung auf dem Wohnungsmarkt. Ich ahne, dass Sie sichheute kräftig auf die Schulter klopfen wollen.
Auf den zweiten Blick allerdings erkennt man auch indiesem Wohngeld- und Mietenbericht Ihre Fehler und Ver-säumnisse der Vergangenheit. Das wird besonders imWohngeldteil deutlich,
weil trotz des Wohngeldes eine hohe Mietbelastung vonimmerhin 30 Prozent des verfügbaren Einkommens inden alten Bundesländern und von immer noch 23 Prozentdes verfügbaren Einkommens in den neuen Bundeslän-dern festgestellt werden muss. Daran wird deutlich, dassüber Jahre versäumt worden ist, beim Wohngeld etwas zutun, und dass trotz des Wohngeldes die Mietbelastung beiden einkommensschwachen Haushalten exorbitant ist.Auf diesen zweiten Blick stellt sich auch der Woh-nungsmarkt etwas anders dar. Entspannung ja, aber nichtin einem ganz wichtigen Bereich, nämlich im so genann-ten preiswerten Marktsegment.
Der aktuelle Wohnungsmarktbericht des Landes Nord-rhein-Westfalen bestätigt noch einmal wachsende – wohl-gemerkt: wachsende – Engpässe beim Angebot preisgüns-tiger Wohnungen besonders in den Großstädten, obwohlwir in Nordrhein-Westfalen mittlerweile eine Leerstands-quote von 1 Prozent haben.Im Zusammenhang mit dem Stichwort Leerstand darfich einen kleinen Schlenker zu Ihrem Entschließungsan-trag machen. Sie weisen ja auf diese Leerstandsproble-matik hin, die im Wohngeld- und Mietenbericht 1999noch nicht so ganz die Rolle spielt, die sie heute in der Tatin den neuen Bundesländern einnimmt. Ich kann ja ver-stehen – das ist ja auch nicht unberechtigt –, wenn Sie hierauf die Fehler der Vergangenheit, also die der DDR hin-weisen. Zur Redlichkeit gehört aber auch zu sagen, dassin den Jahren nach der Wende in den neuen Bundeslän-dern, gerade was die Wohnungspolitik betrifft – zumin-dest im Nachhinein ist das offensichtlich –, schwere Feh-ler gemacht worden sind.
Ich erinnere an den Grundsatz „Rückgabe vor Ent-schädigung“. Ich erinnere an die Lösung der Altschulden-hilfe. Ich erinnere daran, dass wir in fünf bzw. sechs Jah-ren über 40 Milliarden DM an Steuersubventionen in zumTeil unsinnige Projekte – als Ostwestfale sage ich das ein-mal ganz platt – verballert haben. Allein diese drei Fehlerzusammengenommen haben die Situation in den neuenBundesländern verschärft und mit dazu beigetragen, dasswir heute vor diesem gewaltigen Leerstandsproblem ste-hen.
Ich glaube, das muss man nüchtern feststellen.
Ich gebe gerne zu – das habe ich einmal aus Ihren Rei-hen gehört –, dass man die Wiedervereinigung vorhernicht üben konnte. Es gehört aber, wie ich glaube, zurRedlichkeit, dass man einfach feststellt, hier sind von An-fang an die Weichen falsch gestellt worden. Die Auswir-kungen dieser Fehler bekommen wir heute zu spüren undwir haben sie heute zu lösen.Der Wohngeld- und Mietenbericht ist leider nur eineMomentaufnahme. Inzwischen stellen wir fest: Die Mie-ten steigen leicht an. Die Wohnkosten zum Beispiel imLand Nordrhein-Westfalen betragen zurzeit im Durch-schnitt rund 30 Prozent des verfügbaren Einkommens.Außerdem haben wir, wenn man den Preisindex heran-zieht, im September dieses Jahres im Vergleich zum Sep-tember vorigen Jahres im Bereich Wohnen und all dem,was damit zusammenhängt, eine Preissteigerungsrate von4,3 Prozent gegenüber einem allgemeinen Preisanstiegvon lediglich 2,5 Prozent. Selbstverständlich gehen Sie inIhrem Entschließungsantrag darauf ein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs11924
Sie sagen dort: Schuld daran ist selbstverständlich dieBundesregierung als „Preistreiber Nummer 1“ – mansollte besser sagen: Preistreiberin – mit ihrer Ökosteuer.Diese muss wieder einmal herhalten, um diesen Preisan-stieg zu begründen.
Ein Blick auf die Fakten belehrt uns eines anderen. Wirhatten 1998 eine Mineralölsteuer von 10 Pfennigen je Li-ter Heizöl vorgefunden. Im April 1999 haben wir einma-lig 4 Pfennige Ökosteuer draufgeschlagen. Von Septem-ber 1999 bis September 2000 haben wir allerdings eineSteigerung des Heizölpreises von über 80 Prozent zu ver-zeichnen, allein in den Monaten August und Septemberdieses Jahres von 30 Prozent. Beim Erdgas verhält es sichähnlich. Es ist also eine Legende, dass die Ökosteuer dieHeizölkosten und damit den Preisanstieg im BereichWohnen mit verursacht hat.
– Das ist schlicht und einfach eine Legende.Im Übrigen wundere ich mich darüber, dass Sie denvon uns geplanten Heizkostenzuschuss für Einkom-mensschwache, mit dem wir etwas zur Abmilderung die-ses Preisanstieges tun wollen und den wir morgen imDeutschen Bundestag beraten und beschließen werden –damit ist er natürlich endgültig noch nicht unter Dach undFach –, infrage stellen und möglicherweise mithelfenwerden, ihn im Bundesrat zu blockieren. Das kann ichwirklich nicht verstehen. Wenn an irgendeiner Stelle derVorwurf der sozialen Kälte angebracht ist, dann glaubeich, dass er an dieser Stelle erhoben werden muss.
Der Heizkostenzuschuss ist eine Maßnahme, deneinkommensschwachen Haushalten zu helfen. DasWohngeld ist eine weitere. Wir werden zum 1. Januar2001 rund 1,4Milliarden DM mehr für das Wohngeld aus-geben; das ist eine gezielte Hilfe gerade für die einkom-mensschwachen Haushalte. Im Durchschnitt sind das im-merhin 80 DM mehr. Das bedeutet eine Steigerung umrund 50 Prozent gegenüber dem jetzigen Wohngeld.
Eine zusätzliche Erleichterung, die damit zusammen-hängt, ist, dass von den knapp 1 300 Kommunen in mei-nem Lande – ich komme ja aus Ostwestfalen – immerhinrund 350 in der Mietenstufe heraufgesetzt werden; denndort hatten wir in den letzten Jahren eine sehr starke Zu-wanderung. Allein in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit68 000 Einwohnern, gab es einen Zuwachs um rund 8 000Einwohner, im Wesentlichen Aussiedlerinnen und Aus-siedler. Sie können sich denken, dass die Mietenstufen infast jeder Kommune heraufgesetzt werden. Auch dadurchwerden Verzerrungen auf dem Wohnungsmarkt ein Stückweit beseitigt.
Es ist schon nahezu dreist, wenn Sie in Ihrem Ent-schließungsantrag behaupten, wir hätten die Wohngeld-novelle hinausgezögert und die Erhöhung sei zu gering.
Herr Dr. Kansy, ich weiß noch, wie oft Herr Töpfer imBundestag eine Verbesserung des Wohngeldes angekün-digt hat. Sie haben es – trotz des letzten Rettungsver-suches von Herrn Oswald – schlicht und einfach nicht ge-schafft.Wenn Sie davon sprechen, die Erhöhung sei zu gering,dann muss ich sagen, dass Sie redlich bleiben sollten. Ichhabe in diesem Parlament, aber auch im Bundesrat keineneinzigen Antrag von Ihnen gesehen, in dem steht: Wirwollen eine Mietsteigerung nicht nur von 20 Prozent, son-dern von 36 Prozent auffangen. Diesen Eindruck er-wecken Sie aber und machen uns im Entschließungsan-trag einen entsprechenden Vorwurf. Ich glaube, das istunredlich. Wenn Ihnen diese Erhöhung so sehr am Herzengelegen hat: Warum haben Sie diese nicht im Bundestagoder im Bundesrat – vielleicht durch Ihren hessischen Mi-nisterpräsidenten; der weiß ja, wie man mit Geld umgeht– durchgesetzt?
Zur Lösung der Probleme auf dem Wohnungsmarktgehört natürlich auch die Reform des sozialen Woh-nungsbaus. Sie mahnen sie an, was ja in Ordnung ist. Wirsind uns in den Zielen weitgehend einig. Manchmal habeich das Gefühl, wir singen irgendwann gemeinsam dasLied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ “.
– Ich will jetzt nicht, wenigstens in meinem Fall, über Ju-gendsünden reden. – Es ist ja vielleicht auch gut, dass wiruns in diesen wichtigen wohnungspolitischen Angele-genheiten einmal einig sind.Ich gebe gerne zu: Die Mittel sind reduziert worden,was Sie uns ebenfalls vorwerfen. Aber auch hier mussman ganz nüchtern fragen, wie eigentlich die Nachfragein den Bundesländern bezüglich des Neubaus im Bereichdes sozialen Wohnungsbaus ist. Man muss feststellen: invielen Bereichen Fehlanzeige. Deshalb ist es ganz wich-tig, dass wir diese Reform auf den Weg bringen. Dann ha-ben wir eine solide Grundlage, mehr Geld bereitzustellen.Hilfreich ist auch die Reform des Mietrechts; dennsie hilft, die Schwächen auf dem Wohnungsmarkt, die esnach wie vor im Falle einkommensschwacher Haushaltegibt, ein Stück weit zu beseitigen. Ich denke in diesem Zu-sammenhang nur an die Kappungsgrenze.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Wolfgang Spanier11925
An dieser Stelle eine kurze Bemerkung zum Gesetz-entwurf der F.D.P. Die alte Koalition hat es nicht ge-schafft, das Mietrecht zu reformieren.
Die Gründe sind klar: Die Koalition war zerstritten. Ichhabe ein bisschen das Gefühl, dass die F.D.P. das, was sieursprünglich einmal wollte, aus der Schublade geholt hat.
So sieht es jedenfalls aus. Ich kann im Nachhinein dieCDU/CSU voll verstehen, dass sie das nicht mitmachenwollte. Aber über die Reform des Mietrechts werden wiran anderer Stelle noch ausgiebig diskutieren. Ich habemich ein bisschen gewundert, dass Sie dieses Thema andie Debatte über den Wohngeld- und Mietenberichtgehängt haben. Es wäre ein bisschen schade, wenn dasThema untergehen würde. Wir werden zu gegebener Zeitauf die Einzelheiten Ihres Gesetzentwurfes sicherlichnoch eingehen.Ein weiterer Punkt ist die Altbaumodernisierung.Auch dies ist ein Stück weit Hilfe für einkommensschwa-che Haushalte, die nach wie vor in dem unteren Preisseg-ment auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben.Immerhin wird das Altbaumodernisierungsprogramm,das wir mit dem Haushalt 2001 auf den Weg bringen, zurSenkung von Verbrauch und Kosten bei der Raumwärmeführen. Das ist eine Hilfe bezüglich des exorbitantenPreisanstiegs, den wir in den letzten Monaten zu ver-zeichnen hatten.
Ein weiterer Punkt ist – ich will ihn nur stichwortartigansprechen – das Programm „Soziale Stadt“. Es ist ja keinZufall und für uns durchaus ermutigend, dass Baden-Württemberg Spitzenreiter bei der Nachfrage nach die-sem Programm ist. Auch Bayern steht dem nicht nach.Das Programm ist also ein voller Erfolg, den wir gemein-sam begrüßen sollten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt ein-gehen, der mir persönlich – ich betone bewusst: persön-lich; er hat sich hoffentlich wie ein roter Faden durch mei-nen Beitrag gezogen – am Herzen liegt, weil diejenigen,die Schwierigkeiten haben, sich auf dem Wohnungsmarktselbst zu versorgen, im Mittelpunkt unseres Augenmerksstehen sollten. Wir sollten uns als Wohnungspolitiker ander Diskussion um die Rentenreform beteiligen. HerrDr. Kansy, auch Sie haben letztens im Ausschuss eine sol-che Anmerkung gemacht; ich habe das für zutreffend ge-halten. Die zusätzliche Säule der privaten Altersvor-sorge wird einen Teil des Einkommens abschöpfen. Dasgeht möglicherweise zulasten der Sparrate, vielleichtauch zulasten des Bausparens. Das wäre sicherlich fatal.Deswegen meine ich: Wir müssen Lösungen finden, umso etwas wie eine Quadratmeterrente – so nennt man dasbei uns in Ostwestfalen – zu schaffen, also auch das selbstgenutzte Wohneigentum in die Altersvorsorge einzube-ziehen.
Ich denke da allerdings in erster Linie an die Mieter-privatisierung, um den Schwellenhaushalten zu Eigentumund damit gleichzeitig zu einem Stück privater Altersvor-sorge zu verhelfen. Das halte ich für einen ganz wichtigenWeg. Wenn wir auch da Seit’ an Seit’ schreiten und ge-meinsam überlegen – das ist ja eine knifflige Sache –, wiewir das erreichen können, dann wäre ich ganz zufriedenund dann sähe ich auch über den Ton Ihres Ent-schließungsantrags ein Stück weit hinweg. Das ist so eineArt populistischer Rundumschlag. Vielleicht hat Ihnendas ja Herr Merz aufgeschrieben.Schönen Dank.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Dietmar Kansy für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol-lege Spanier, wenn Sie es noch einmal erwähnt hätten,hätte ich Schwierigkeiten gehabt, nicht anzufangen zusingen: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“. Aber viel-leicht sollten wir mit einem gemeinsamen Abendessen inder Gegend des Gendarmenmarktes beginnen, der zurzeit„in“ ist. Dabei könnten wir dann einige wohnungspoliti-sche Fakten abklopfen.
Aber, Herr Kollege Spanier, Sie als alter, erfahrenerund mir persönlich auch sympathischer Kollege habennatürlich präventiv schon richtig vermutet, dass die Vor-lage des Wohngeld- und Mietenberichts an diesem heuti-gen Tage nicht gerade eine Sternstunde der Regierungs-fraktionen bedeutet, und zwar aus mehreren Gründen.Zunächst einmal müssen Sie nämlich – die Regierung hatdas auch ordnungsgemäß getan, weil man über Zahlen jaschlecht streiten kann – lobend herausstellen, dass in demBerichtszeitraum 1998/99, in dem im Wesentlichen nochwir regiert haben, eine Entspannung auf den deutschenWohnungsmärkten eingetreten ist, die nicht vom Him-mel gefallen, sondern Ergebnis einer konsequenten Woh-nungsbaupolitik der alten Koalition war, welche es in derKombination von Angebots- und Nachfragepolitik ge-schafft hat, die so genannte Wohnungsnot innerhalb vonwenigen Jahren in einem Umfang zu beheben, dass heutekeiner in diesem Lande mehr ernsthaft von Wohnungsnotredet.
600 000 Neubauten Mitte der 90er-Jahre und ein imBericht als historischer Tiefstand der Mietindexsteige-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Wolfgang Spanier11926
rung von 1,1 Prozent im Jahr 1999 genannter Prozentsatz –nie hat eine neue Bundesregierung in einer so zentralenFrage wie dem Thema Wohnen, das alle Menschen be-wegt, eine so günstige Ausgangssituation vorgefundenwie die Regierung Schröder nach unserer Regierungszeitin den letzten Jahren.
– Es hilft doch alles nichts: Lesen Sie in Ruhe und ganzfreundlich, Seit’ an Seit’ sozusagen, den Bericht durch.Dass Ihnen das schwer fällt, ist verständlich; denn meinehemaligerKollege als baupolitischer Sprecher, Großmann,heute Staatssekretär, hat noch im Entschließungsantragzum Wohngeld- und Mietenbericht 1997 – das war imFrühsommer 1998 – der damaligen Bundesregierung„eine Euphorie über Entspannungstendenzen auf demWohnungsmarkt“ vorgehalten. Jetzt benutzen Sie die Er-gebnisse unserer Wohnungspolitik für einen sichtbarenAttentismus in diesem Ministerium. Wenn Sie Pech ha-ben, provozieren Sie erneut den Schweinezyklus in derWohnungspolitik, sprich: das Auf und Ab zwischen Über-angebot und Wohnungsnot, was eine der schlimmsten po-litischen Fehlentscheidungen sein kann – wenn man über-haupt Wohnungspolitik macht, was ich langsam bestreite.
Sie holt zum Zweiten eine ganze Kette von Wahlver-sprechen wieder ein.
Ich will mich auf zwei Zitate aus der Debatte zum Wohn-geld- und Mietenbericht 1997 am 7. Mai 1998, die nichthier, sondern damals noch in Bonn stattgefunden hat, be-schränken. Mit starken Worten sagte der Hamburger Bau-senator Wagner in Wahlkampfmanier im Bundestag,1,3 Milliarden DM Wohnungsbaumittel im laufendenJahr – so waren damals die Zahlen im sozialenWohnungsbau – seien „ein weiterer Beweis dafür, dasssich die jetzige Bundesregierung“ – also die damalige –„in Wahrheit aus der Verantwortung seitwärts in die Bü-sche stiehlt“. – Sehr prosaisch, für einen Hamburger so-wieso. Binnen drei Jahren, im letzten Regierungsjahrnämlich, sind diese 1,3 Milliarden DM, sind die damali-gen Ansätze für den sozialen Wohnungsbau auf ganze0,45 Milliarden DM heruntergefahren bzw. – um beimHamburger Sprachbild zu bleiben – aus den Büschen indie Wüste gejagt worden.
Angesichts dessen, dass der schon angesprochene Kol-lege Großmann in der damaligen Debatte vom Rednerpultaus versprach, eine SPD-geführte Bundesregierungwerde – übrigens im Einklang mit dem damaligen Wahl-kämpfer Schröder, was in der „Mieter-Zeitung“ nachzule-sen war – dafür sorgen, dass die Zahl der sozialen Woh-nungen wieder steigt, ist zu fragen: War es nicht eineWählertäuschung, wenn ein Ansteigen prophezeit wurde,der soziale Wohnungsbau nun jedoch um zwei Drittel re-duziert worden ist? – Das sind die Fakten in der Mitte die-ser Legislaturperiode.Zum Dritten halte ich – Sie wissen ja, dass dies einHobby von mir ist – die Zusammenlegung des Bundes-verkehrsministeriums mit dem Ministerium für Raum-ordnung, Bauwesen und Städtebau mit dem groß an-gekündigten Ziel angeblicher Synergieeffekte aus Sichtder Wohnungswirtschaft für einen Flop.
Denn ein Bundesbauminister hat immer mehr getan, alssein Ressort nur zu verwalten. Es gibt heute unter der rot-grünen Koalition keine abgestimmte Wohnungspolitikmehr. Im Grunde ist der Wohnungsbau zum fünften Radam Wagen geworden. Wenn Sie sich ansehen, wo nebenden für die Altbausanierung im Osten vorgesehenen aner-kennenswerten 400 Millionen DM die Milliardenbeträgeaus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen bleiben, wer-den Sie feststellen, dass für den Verkehr achtmal so vielMittel vorgesehen sind wie für den Baubereich. Das ist dieWahrheit in der Mitte dieser Legislaturperiode.Meine Damen und Herren, der Bundesbauministerfährt den sozialen Wohnungsbau zurück, sein Kollege Fi-nanzminister verschlechtert über das Steuerrecht die Rah-menbedingungen für den frei finanzierten Wohnungsbauund reduziert gleichzeitig die Eigenheimzulage und dieBundesjustizministerin – sie war bis eben anwesend; jetztist sie weg – legt einen investitionsfeindlichen Mietrechts-entwurf vor und stellt ihn anschließend – zumindest inTeilbereichen – wieder infrage, sodass sich die letztennoch nicht entmutigten Investoren so langsam fragen, obder Staat überhaupt noch Interesse daran hat, dass in die-sem Lande Wohnungen gebaut werden.Die Ergebnisse dieser Politik kann man an Zahlen ab-lesen, wenn auch im Wesentlichen nur auf der Ebene derFachpolitikerinnen und Fachpolitiker: Die Zahl von600 000 Wohnungsbaugenehmigungen war natürlichder absolute Höchststand. 1999 ist diese Zahl auf 438 000zurückgegangen. Im ersten Halbjahr 2000 ist ein weitererRückgang auf 181 000 – Hamburg ist dabei noch nichtberücksichtigt, da es noch keine Meldung abgegeben hat –zu verzeichnen. Das Institut für Städtebau erwartet in die-sem Jahr höchstens 380 000 Baugenehmigungen. Damitwürde angesichts von fast 38 Millionen Wohnungen indiesem Land erstmals seit vielen Jahren die Ersatzbaurateunterschritten.Nach Angaben des Verbandes Deutscher Hypotheken-banken – das ist ein noch besserer Gradmesser als die Zahlder Baugenehmigungen; in diesem Zusammenhang kannman sich selbst etwas in die Tasche lügen; aber abgeholteKredite lässt man normalerweise nicht in der Schubladeliegen –
ging im ersten Halbjahr das neue Geschäft für Woh-nungsfinanzierungen noch weitgehender, ja schon fastdramatisch, um 40 Prozent zurück. Der Eigenheimbereichist mit 49 Prozent am stärksten betroffen.Wenn ich jetzt einmal diese ganze Politik resümiere,muss ich feststellen: Betroffen sind natürlich auch dieMieter, und zwar in ganz wesentlichem Umfang. Dies istvon Herrn Spanier schon vorsichtig angedeutet worden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr.-Ing. Dietmar Kansy11927
aber ich will einmal Klartext reden. In der Marktanalysedes Ringes Deutscher Makler vom August dieses Jahresheißt es: Der durchschnittliche Rückgang der Mieten fürneu abgeschlossene Verträge – übrigens ein Ergebnis un-serer Wohnungspolitik nach dem Motto „Bauen ist derbeste Mieterschutz“ – ist deutlich abgeschwächt. DieMieten in vielen Großstädten und in weiten BereichenSüddeutschlands sowie generell die Erstvertragsmietenfür Neubauten sind eindeutig wieder ansteigend.Zu den Mietrechtsvorlagen im Detail wird noch meinKollege Pofalla Stellung nehmen. Aber eines, meine Da-men und Herren – ob Rechts- oder Baupolitiker – der Ko-alition, muss ich noch sagen: Die Linie der Union istklar – das ist von Ihnen, Herr Kollege Spanier, richtig an-gesprochen worden – zur Vereinfachung ein klares Ja,zum Verschieben des in langen Jahren Gesetzgebung undRechtsprechung gefundenen ganz sensiblen Gleichge-wichtes zwischen Mietern und Vermietern ein klaresNein.Dort sitzt ein weiterer Kronzeuge: Wir haben uns alsRegierungsfraktion tatsächlich der F.D.P. verweigert– das ist die historische Wahrheit –, das Gleichgewicht zu-lasten der Mieter zu verschieben. Aber, meine Damen undHerren, die CDU/CSU wird sich heute nicht dazu drängenlassen, dieses Gleichgewicht jetzt zulasten der Vermieterund Investoren zu verschieben. Das ist wirklich Politikder Mitte.
Fast noch mehr als der Gesetzentwurf der Regierungselbst waren für mich Äußerungen der Justizministerinverblüffend. Eine weitere Kollegin, Präsidentin undKronzeugin, war wie ich bei der Veranstaltung des Deut-schen Mieterbundes am 12. September hier in Berlin.Dort kündigte die Ministerin an, dass in der Gesetzgebungnoch die weitere Absenkung der Kappungsgrenze auf15 Prozent, die Absenkung der asymmetrischen Kündi-gungsmöglichkeiten für Mieter von sechs auf drei Mo-nate, der Verzicht auf Zustimmungsbedürftigkeit von qua-lifizierten Mietspiegeln durch die Vermieterseite und eineganze Reihe weiterer, im Gesetzentwurf der Regierungenthaltener Ankündigungen geprüft werden sollen. Ichfrage mich: Was gilt denn nun eigentlich bei der Koali-tion?Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wir sind es ja fast ge-wohnt und würden es vermissen, wenn Sie nicht, nach-dem ein Regierungsvorschlag vorgelegt wird, rufen wür-den: Das war doch gar nicht so mit uns abgestimmt! Siehaben am 14. September in der „Berliner Zeitung“ wiedergeklagt, die Bundesregierung habe wichtige Punkte nichtin den Entwurf aufgenommen, den Sie mit ihr und denLändern abgesprochen hätten. Das steht zumindest in derZeitung. Vielleicht sind mal wieder die Journalistenschuld; ich weiß es nicht. Man braucht sich jedenfallsnicht über Attentismus im Baubereich zu wundern, wennmit einem so sensiblen Thema wie der Mietenpolitik indiesem Land so umgegangen wird.
Es sind noch einige Worte zum Thema Wohngeld fäl-lig. Die sparsame, aber immerhin drei Jahre früher inKraft getretene Novelle – noch von Oswald – ist daran ge-scheitert, dass Sie sie mit der Blockadepolitik Lafontainesim Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau ver-knüpft haben. Ich erspare es mir aus Zeitgründen, weiterdarauf einzugehen. Ich erinnere Sie daran, dass Sie einGesetz vorgelegt hatten, das wir in der Substanz unter-stützen. Aber hätten wir es durchgehen lassen, insbeson-dere im Bundesrat mit den von der Union geführten Län-dern, dass Sie Wohltaten auf Kosten von Ländern undGemeinden spenden, wäre dieses Wohngeldgesetz einVerschiebebahnhof von 2,5 Milliarden DM geworden.Das haben wir verhindert, nicht nur die Wohngelder-höhung vor einigen Monaten.
Wenn man sich die Sache genauer anschaut – das wer-den wir im Ausschuss noch machen –, merkt man, dass esda wirklich tolle Sachen gibt. Wir können in diesem Jahrein Ausgaben-Ist von 3,4 bis 3,6 Milliarden DM erwarten.Der Haushaltsansatz für nächstes Jahr beträgt aber nur4,0 Milliarden DM. Es ist ja fast ein Wunder, wenn manangeblich das Wohngeld um 1,5 Milliarden DM erhöht,aber nur eine knappe halbe Milliarde mehr im Haushalthat. Der Trick ist ganz einfach: Durch die Deckelung despauschalierten Wohngeldes durch Einziehung der Ein-kommensgrenzen werden wieder 650 Millionen DM inRichtung Gemeinden abgeschoben. Das sind wieder dieWohltaten auf Kosten anderer.Da Sie die Themen Warmmieten und Ökosteuerschon angesprochen haben, Herr Spanier – ich hätte eswahrscheinlich gar nicht getan –, muss ich sagen: Es istdoch unsinnig zu behaupten, das hätte damit überhauptnichts zu tun.
Schauen Sie sich den Mietenindex doch einmal an! ImJahre 1998 betrug die Steigerung der Bruttowarmmietenoch 0,9 Prozent. Zu der Zeit, als der Wohngeld- und Mie-tenbericht geschrieben wurde, also im Frühjahr diesesJahres, betrug sie schon 2,9 Prozent, im August 3,1 Pro-zent und im September 4,3 Prozent. Meine Damen undHerren, Sie können sagen, was Sie wollen, aber wenn Siedie nächste Stufe der Ökosteuer einführen – wenn diesauch die Kosten für Heizöl nicht betrifft –, wird die Stei-gerung – unter anderem aufgrund des Euro-Kurses –schnell bei 5 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit in die-sem Land.
Deshalb fordern wir Sie auf: Denken Sie in der Woh-nungspolitik um! Hören Sie mit der Demontage der Ei-genheimzulage auf! Bringen Sie endlich den seit Jahrenversprochenen Gesetzentwurf zur Verbesserung des so-zialen Wohnungsbaus ein und erhöhen Sie dort insbeson-dere wieder die Etatansätze! Bringen Sie von den Wind-fall Profits im Handybereich wenigstens ein kleinesbisschen mit ein! Diese Windfall Profits heißen ja deswe-gen Windfall Profits, weil Sie sie für eine Entscheidungvon uns, die Sie damals leidenschaftlich bekämpft haben,kassieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr.-Ing. Dietmar Kansy11928
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spanier?
Frau Präsiden-
tin, das tue ich deswegen gerne, weil sonst meine Rede-
zeit abgelaufen wäre.
Da haben Sie Recht.
Aber heute sind wir ja großzügig. – Herr Kollege, bitte.
Genau das ist mein Anlie-
gen: Ihre Redezeit zu verlängern.
Ich möchte auf Ihre Bemerkungen zu den Themen
Warmmiete und Anstieg der Heizkosten eingehen. In der
Tat ist es in den letzten zwölf Monaten zu einem Anstieg
der Heizölkosten von 80 Prozent gekommen; das ist rich-
tig. Für unseren Raum ist das rund 1 DM. Es ist aber auch
richtig, dass wir die Ökosteuer lediglich einmalig, näm-
lich im April 1999, in einer Größenordnung von 4 Pfen-
nig auf Heizöl erhoben haben. Von allen weiteren Stufen
der Ökosteuer ist das Heizöl ausgenommen. Ähnliches
gilt beim Gas. Hier beträgt die Erhöhung durch die Öko-
steuer 0,32 Pfennig.
– Das ist die Wahrheit. – Wenn man dies zueinander in Re-
lation setzt, dann ist doch völlig klar, dass die Ökosteuer
für diese eklatante Preissteigerung, die viele Mieterinnen
und Mieter belastet – das ist unstrittig –, nicht ver-
antwortlich gemacht werden kann und dass Ihr Hinweis
darauf, wie sich dies in den weiteren Stufen der Ökosteuer
auswirken möge, an der Sache vorbeigeht.
Herr Kollege
Spanier, zwar wäre es zweckmäßig, wenn Sie stehen blei-
ben würden, aber wir können uns auch so verständigen.
Nein, das geht nicht.
Er muss stehen bleiben.
Frau Präsiden-
tin, vielen Dank. – Ich habe ja ausdrücklich gesagt, es
wäre unsinnig, sich bei der Suche nach den Gründen für
diese Entwicklung nur auf ein Thema zu versteifen. Aber
es ist doch richtig, in einer Debatte über Wohnkosten und
Strom zu sagen, dass eine Politik, die durch unbedachte
Bemerkungen den Euro herunterredet
und dadurch die Importkosten für Öl erst in diesem Um-
fang in die Höhe getrieben hat, zu der jetzigen Situation
beigetragen hat. Es gibt keinen Bereich der Politik – auch
nicht in der Wohnungswirtschaft –, in dem man nicht
durch fahrlässiges Gerede und selbst durch falsches Han-
deln in Kleinigkeiten falsche Weichenstellungen vor-
nimmt, aus denen dann andere ihre falschen Schlüsse zie-
hen. Das ist der Jammer der Ökosteuer – egal, ob mit oder
ohne Bruttowarmmiete.
Meine Damen und Herren, betreiben Sie also die Woh-
nungspolitik in diesem Land etwas intensiver! Sonst geht
dieses Thema in diesem Superministerium unter.
Vielen Dank.
Herr Kollege, es gibt
noch eine Zwischenfrage. Wir verlängern Ihre Redezeit
noch einmal. Herr Kollege Grehn hat eine Zwischenfrage.
– Bitte sehr.
Gerne. Dies-
mal aber nicht Seit‘ an Seit‘.
– Frau Ostrowski, Sie sind ja gleich noch eine Weile dran.
Jetzt hat der Kollege
Grehn das Wort zu einer Zwischenfrage.
Darauf bezog sich meine
Frage nicht. Meine Fragestellung ist folgende: Können
Sie meine Auffassung zur Wahrheit und nichts als der
Wahrheit teilen, dass 17 Pfennig von den 80 Prozent bzw.
der 1 DM Steigerung der Heizkosten Mehrwertsteuer
sind?
Die Ökosteuer
führt automatisch zu zusätzlicher Mehrwertsteuer. Aber
ich möchte das jetzt nicht unnötig verkomplizieren. Ein
Teil der Erhöhung der Bruttowarmmiete ist durch staatli-
ches Handeln verursacht.
Es ist unseriös, Kommissionen einzusetzen, um die
Wohnnebenkosten zu senken, und anschließend eine Po-
litik zu betreiben, die die Bruttowarmmieten erhöht.
Nun hat die KolleginFranziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.
Kollegen! Lieber Herr Kollege Kansy, ich verstehe,dass Sie Sehnsucht nach einem einfachen Weltbild ha-ben. Nach meiner Erinnerung bestand bis zum Septem-ber 1998 Ihr wohnungs- und mietenpolitisches Weltbild
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11929
immer darin zu sagen: Der Wohnungsmarkt ist so wun-derbar entspannt und bei den Mieten ist alles so harmlos,die steigen fast gar nicht. Seit dem Regierungswechsel,der übrigens nicht erst 1999, sondern schon 1998 war,dramatisieren Sie und sagen: Die Mieten- und die Wohn-kostenentwicklung sind so schlimm. Was passiert denn danur? An allem – auch hier haben Sie die Sehnsucht nachdem einfachen Weltbild – ist diese fürchterliche rot-grüneKoalition schuld.
Von einem so gestandenen Marktwirtschaftler erwarteich schon, dass er weiß, inwieweit das Kosten-Nutzen-Verhältnis durch die Marktwirtschaft oder durch die Poli-tik beeinflusst wird.
Dies hatte ich von dem altgedienten Kollegen Kansy ei-gentlich erwartet.Aber ich denke, wir sollten etwas ehrlicher sein undden Wohnungsmarkt etwas differenzierter betrachten. Wirwissen alle sehr genau, dass es Regionen gibt, in denender Wohnungsmarkt wirklich enorme Probleme auf-wirft. Ich nenne nur die Regionen München, Stuttgart,Frankfurt usw. Dann gibt es Regionen, in denen der Woh-nungsmarkt entspannt ist. Dies trifft insbesondere aufgroße Bereiche von Nordrhein-Westfalen zu. Dort fangendie Wohnungsbaugesellschaften an, tatsächlich so etwaswie Leerstandsprobleme zu bekommen, wovon man sonstnur im Zusammenhang mit dem Osten redet. Ferner ha-ben wir die Probleme im Osten – wir haben dies hierschon mehrfach diskutiert –, wo der Leerstand ein zentra-les Problem ist. Ich bitte also alle Beteiligten – wir ken-nen uns nun lange genug und wissen, wie wir fachlichmiteinander diskutieren können –, dementsprechend dif-ferenziert an die Wohnungsmarktsituation heranzugehen.
Tatsache ist, dass wir natürlich auch bei entspanntenWohnungsmärkten enorme Probleme aufgrund der Mie-tenentwicklung haben. Die Koalition ist weit davon ent-fernt, das zu leugnen. Im Gegenteil, wir machen uns Sor-gen darüber, weil wir wissen, dass viele HaushalteProbleme aufgrund der Miethöhen haben. Ich nenne nureinen der Werte aus dem Wohngeld- und Mietenbericht:Haushalte mit einem Nettoeinkommen bis zu 2 500 DMhaben eine Wohnkostenbelastung in Höhe von 38 Prozent.
Das ist eine enorme Belastung. Weil wir uns diese Sorgenmachen, die Sie damals meinten, beiseite schieben zukönnen, haben wir die Wohngeldreform nicht nur aufden Weg gebracht, sondern werden sie zum 1. Januar 2001auch realisieren.
Es wird eine Wohngelderhöhung von im Durchschnitt83 DM geben. Für Familien wird sie im Durchschnitt so-gar 120 DM betragen. Ich denke, das ist eine großartigeLeistung. Dazu sollten Sie auch nicht ständig sagen, wirhätten das verzögert. Wir haben endlich das geschafft, wasSie jahrelang nicht auf den Weg gebracht haben. Ichdenke, allein dies ist schon eine wohnungspolitische Leis-tung.
Wir bringen jetzt auch die Heizkostenpauschale, ge-koppelt mit der Entfernungspauschale, auf den Weg. Wirmachen dies nicht, weil wir der Meinung sind, die Öko-steuer sei schuld an der Erhöhung der Heizkosten. Dazuhat schon der Kollege Spanier zur Genüge gesprochen.Wir machen dies vielmehr, weil die Heizkosten aufgrundder marktwirtschaftlichen Entwicklung so enorm gestie-gen sind, wir uns aber trotzdem politisch verantwortlichfühlen. Das ist ein kleiner Unterschied zu dem, was Siegesagt haben.Lassen Sie mich noch auf den Gesetzentwurf derF.D.P. eingehen. Herr Funke und die anderen Damen undHerren von der F.D.P., ich muss schon sagen, dieser Ge-setzentwurf erschreckt mich eigentlich zutiefst,
weil er zeigt, dass die F.D.P. nach wie vor nur eine Seiteunserer Gesellschaft sieht und meint, dass es zu den Auf-gaben der Politik gehört, einseitig für eine Interessen-gruppe Politik zu machen und für diese ein Mietrecht aufden Weg zu bringen.Sie wollen mit Ihrem Mietrechtsentwurf die Kap-pungsgrenzen ersatzlos abschaffen. Sie wollen willkürli-che Mieterhöhungen bis zur Mietspiegelgrenze möglichmachen. Sie wollen den Mietwucher nicht mehr verbietenund Änderungskündigungen wieder einführen. Hier zeigtsich ganz deutlich, für wen die F.D.P. Politik machen will.Sie wollen ein Mietrecht für Eigentümer, und zwar fürsolche, die die Sozialpflichtigkeit des Eigentums über-haupt nicht kennen. Das halte ich für skandalös. Was Sieuns hier vorlegen, geht politisch in eine unmögliche Rich-tung und ist typisch für die Partei der Besserverdienenden,die meint, die anderen sozialen Verantwortlichkeiten exis-tieren nicht.
Das ist nicht das Mietrecht, das wir für richtig und erstre-benswert halten.
Wir werden stattdessen ein Mietrecht auf den Wegbringen, das nicht einseitig ist, sondern das sehr verant-wortungsvoll die Bedürfnisse und Interessen der Mieterund der Vermieter austariert, die in ihrer Hausbewirt-schaftung verantwortlich umgehen müssen. Es ist unserAnspruch, ein solches Mietrecht zu gestalten. Das werdendie Koalitionspartner solidarisch beschließen. So habenwir das auf den Weg gebracht.Ich werbe sehr dafür, in der Form Politik zu gestalten,dass wir nicht mehr eine eindimensionale Politik betrei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Franziska Eichstädt-Bohlig11930
ben, sondern ein mehrdimensionales Austarieren zwi-schen einander widerstrebenden Interessen vornehmen.Ich denke, das sollte unser aller Ziel sein, nicht nur derKoalition, sondern auch der Opposition.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
Bitte sehr, Frau Kol-
legin.
Ich habe noch eine Frage
zur Nichteinseitigkeit des Mietrechts. Frau Eichstädt-Bohlig,
wir waren alle gemeinsam im Forum im Rathaus Charlot-
tenburg. Dort ist vonseiten der Ministerin der Justiz deut-
lich ausgedrückt und vom Geschäftsführer des Mieter-
bundes bestätigt worden, dass von den Vorschlägen, die
einerseits von der Vermieterseite und andererseits von der
Mieterseite kamen, nur einer der Mieterseite berücksich-
tigt wurde, aber etliche der Vermieterseite. Dazu wollte
ich Ihre Meinung hören; denn das hat doch mit Ausgegli-
chenheit nichts zu tun.
es sind sehr viele mieterfreundliche Ziele in dem Gesetz-
entwurf enthalten. Ich nenne als ersten Punkt die Absen-
kung der Kappungsgrenze auf 20 Prozent; das ist ganz
entscheidend. Ich nenne als zweiten Punkt das asymme-
trische Kündigungsrecht; auch das ist wichtig. Drittens
wird der qualifizierte Mietspiegel künftig zum vorrangi-
gen Beweismittel; das ist ein weiterer Punkt.
Ich will Ihnen jetzt, um die Redezeit insgesamt nicht zu
sehr zu strapazieren, keine weitere Lektion in diesem Be-
reich geben. Aber ich bin sicher, dass im Mietrecht we-
sentlich mehr Punkte der Mieterseite positiv zu Buche
schlagen. Auch der Geschäftsführer des Mieterbundes
wird im Endeffekt dieser Bilanz zustimmen.
Das wollen wir jetzt
nicht mehr so genau festhalten. – Nun hat der Kollege
Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich bin zunächst einmal den Geschäfts-führern ganz dankbar, dass sie den Wohngeld- und Mie-tenbericht 1999 mit dem Gesetzentwurf der F.D.P. zumMietrecht verbunden haben. Das zeigt sehr deutlich, dassfür den gesamten Wohnungsmarkt das Mietrecht eine ent-scheidende Rahmenbedingung ist.Der Bericht der Bundesregierung zum Wohngeld undzu den Entwicklungen der Miete weist – das ist schon aus-geführt worden –, für 1998 und 1999 wirklich erfolgrei-che Zahlen auf. Danach war bei den Mieten in den Jahren1998 und 1999 der geringste Anstieg seit der Einführungdes Mietenindexes im Jahre 1961 zu verzeichnen. DieseZahlen belegen deutlich die Entspannung auf dem Woh-nungsmarkt und bedeuten, dass Angebot und Nachfrageam Wohnungsmarkt weitestgehend ausgeglichen sind.Dabei verkenne ich jedoch nicht, dass diese Ausgewo-genheit in einzelnen Gebieten – Sie haben es erwähnt,Herr Spanier – nicht besteht. Aber insgesamt haben wir inder Bundesrepublik einen ausgeglichen Markt.Es ist weiterhin festzustellen, dass die Einführung desVergleichsmietensystems in den neuen Bundesländerngenauso wie der Fortfall der gespaltenen Kappungs-grenze in keiner Weise zu irgendwelchen Schwierigkei-ten in den neuen Bundesländern geführt hat, ganz anders,als Sie es uns noch in Ihrer Oppositionszeit vorausgesagthaben. Schließlich ist der Markt noch immer ein besseresRegulativ als der Eingriff durch gesetzliche Regulierun-gen;
und wir wollen den Markt entscheiden lassen, auch beiWohnungen und Mieten.
Unter diesen Umständen ist davor zu warnen, in dasbewährte Mietrecht gravierend einzugreifen. Das sozialeMietrecht hat sich grundsätzlich bewährt, muss denMarktverhältnissen jedoch schrittweise angepasst wer-den.Das soziale Wohnraummietrecht muss für Mieter undVermieter wieder überschaubar, transparent und vor allemverständlich sein. Durch die vielfältigen Änderungen inder Vergangenheit ist das Mietrecht im BGB unübersicht-lich gegliedert und darüber hinaus in mehrere Gesetzezergliedert werden. Das führt heutzutage dazu, dass dasMietrecht sowohl für Mieter als auch für Vermieter kaumnoch handhabbar ist. Ich bin selber in einer Gesellschafttätig, die Wohnungen vermietet. Ich kann daher nur ap-pellieren: Wir müssen endlich wieder zu einem Mietrechtkommen, das handhabbar ist, und zwar sowohl für Mieterals auch für Vermieter.
Der Entwurf der F.D.P.-Fraktion bemüht sich daher, einausgewogenes Verhältnis der Interessen von Mieterund Vermieter herzustellen. Unser Entwurf bemüht sichum eine klare, verständliche Sprache; das ist auch derWunsch des Entwurfes des Justizministeriums. Wir wol-len das Mietrecht wieder zum Bürger bringen. Es soll ver-sucht werden, das Mietrecht im BGB in systematischerWeise zusammenzufassen. Besonders wichtig ist mir da-bei, dass der Rechtsfriede zwischen Mietern und Vermie-tern gewahrt bleibt. Durch klare gesetzliche Regelungensollen Rechtsunsicherheiten vermieden werden. Mieterund Vermieter sollen sich wie echte Vertragspartner ver-stehen. Eingriffe in das Mietverhältnis durch staatliche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Franziska Eichstädt-Bohlig11931
Regulierungen sollten so weit wie möglich vermiedenwerden.
Dass es sich um einen modernen und ausgewogenenGesetzentwurf handelt, möchte ich kurz anhand einigerBeispiele darstellen. Bei der Frage der Mieterhöhung be-halten wir das Vergleichsmietensystem, für das es bisherkeine echte Alternative gibt, bei. Besonders wichtig wares uns aber, bei der Einbeziehung von Wohnraum in dieVergleichsmieten diejenigen Mieten außer Acht zu lassen,die sozusagen politisch beeinflusst werden.Wir haben die Kappungsgrenze bewusst gestrichen;denn es ist ein ausgeglichener Wohnungsmarkt vorhan-den. Wenn ich mir den Mietenbericht ansehe, so ist esnur konsequent, sie komplett zu streichen und die ortsüb-liche Vergleichsmiete als alleinige Obergrenze für Miet-erhöhungen anzusetzen. Die Kappungsgrenze – wie imRegierungsentwurf vorgesehen – abzusenken zeigt nurden Wunsch nach politischer Einflussnahme auf denWohnungsmarkt. Das lehnen wir ab.Bei der Begründung derMieterhöhung ist die F.D.P.zur Nutzung moderner Instrumente, wie der Mietdaten-bank, bereit. Beim Mietspiegel gehen wir einen eigenenWeg. Nach unserer Ansicht reicht es für den Mietspiegel,der als Basis für die Erhöhung dient, aus, wenn sich Mie-ter- und Vermieterverbände geeinigt haben; denn das istdie vertragliche Ebene.Die Umstellung der Mietkaution von Nettomonats-mieten auf Bruttomonatsmieten ist nach unserer Ansichtdringend notwendig; denn die steigenden Nebenkostenmüssen sich auch insoweit niederschlagen.Bei der Staffelmiete und der Indexmiete halten wireine zeitliche Beschränkung von zehn Jahren für über-flüssig und antiquiert. Wir müssen die Vertragsformen andie jeweiligen Notwendigkeiten der Lebensbedingungenanpassen, die heutzutage weit stärker variieren als nochvor zehn Jahren.Wir wollen einen echten Zeitmietvertrag.Wir trauenden Mietvertragsparteien zu, dass sie über ihre jeweiligenLebensverhältnisse selber entscheiden können und nichtstaatliche Regulierungen benötigen.Bei der Modernisierungsumlage behalten wir wie dieBundesregierung den 11-prozentigen Umlagesatz bei.
Ich glaube, alles andere würde der Bauwirtschaft undauch der Investitionsbereitschaft der Vermieter schaden.Wir sind anders als die Bundesregierung der Auffas-sung, dass asymmetrische Kündigungsfristen keinen Sinnmachen. Auch das widerspricht dem Prinzip der vertrag-lichen Ebene. Das heißt: Wir wollen, dass Mieter und Ver-mieter gleiche Rechte und keine unterschiedlichen Rechtehaben.
Die verbesserte Lesbarkeit des Gesetzes hilft denMietern bei der Stärkung ihrer Position. Ich glaube, dasswir auf diese Weise eher den Rechtsfrieden herstellenkönnen, als wenn wir durch unklare Gesetze, wie wir siejetzt leider haben, für die Vertragsparteien den Anreiz bie-ten, zu den Gerichten zu rennen, die damit überlastetwären. Das von uns vorgeschlagene Eintrittsrecht fürHaushaltsangehörige des Mieters bei dessen Tod garan-tiert langjährigen Mitbewohnern eine Sicherheit, die sieim Fall des Todes des Mieters bisher nicht hatten. Auchdas ist ein Teil unseres sozialen Mietrechts.Lassen Sie mich, Herr Dr. Kansy, noch ein Wort zu demsagen, was wir in der letzten Legislaturperiode – Sie ha-ben es selber angesprochen – gemeinsam vorgehabt ha-ben. Wir haben gemäß dem Koalitionsvertrag gemeinsamdaran gearbeitet und nur ein Veto aus München hat unsdaran gehindert, dieses Gesetz einzubringen. Wir hattengemeinsam einen vernünftigen Entwurf vorbereitet, derdann von Herrn Stoiber und Herrn Beckstein verhindertworden ist. Ich will das nur noch einmal der Wahrheit we-gen erwähnen. Es wäre besser gewesen, wenn wir diesesMietrecht in der letzten Legislaturperiode beschlossenhätten, denn dann würde dieser unsinnige Gesetzentwurf,der jetzt von der rot-grünen Koalition eingebracht undwahrscheinlich in den nächsten Monaten beraten wird –man ist offensichtlich noch nicht ganz so weit –, am Endenicht im Bundesgesetzblatt stehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat die Kollegin
Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Sie gestatten, dass ich etwas proble-matisiere:Erstens. Selbst bei dem entspannten Wohnungsmarktim Jahre 1998 betrug die Differenz zwischen Haushal-ten und Wohnungen nach dem Statistischen Bundes-amt – Sie können es sich auf der Homepage selbst anse-hen – rund 1 Million. Das heißt: es fehlten 1 MillionWohnungen – vorrangig im Westen –, und zwar trotz sin-kender Bevölkerung bereits im Jahre 1998 und trotz einesgroßen Leerstandes im Osten.Zweitens. Die Bautätigkeit nahm schon damals ab.Jetzt greift der Trend vom Mietwohnungsbau auf den Ei-genheimbau über, der Markt zieht an, die Mieten steigenund das Bauen ist bereits unter den Ersatzbedarf gesun-ken; Herr Dr. Kansy, da haben Sie vollkommen Recht.Das ist die nüchterne Lage.Die Ursache ist nun nicht nur – wie Sie es im Berichtschreiben – die Entspannung auf dem Wohnungsmarkt,die Ursache liegt vielmehr in dem Rückzug aus der Fi-nanzierung, in der Streichung steuerlicher Vorteile beigleichzeitigem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau.Ich werfe Ihnen wahrhaftig nicht die eine oder andereMaßnahme vor – es sind auch viele gute dabei –, aber ichmuss Ihnen schon vorwerfen, dass Ihre Gesamtpolitik auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Rainer Funke11932
eine neue Wohnungsknappheit hinausläuft. Dies sagenauch alle Experten und ich denke, man kann sich das aus-rechnen.Drittens. Der Wohnungsmarkt ist zweigeteilt; auch daswird in dem Bericht verniedlicht. Während im WestenWohnungen fehlen, haben wir im Osten über 1 MillionWohnungen leer stehen, und dieser Leerstand erhöht sichdefinitiv weiter, weil die Sterberate die Geburtenrate deut-lich übersteigt. Sie haben außer einer der Situation nichtadäquaten Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes seithernichts unternommen, und zwar überhaupt nichts. Es stelltsich uns allen die Frage: Entweder wird der Osten dasAltersheim mit zerfallenden Städten oder Sie entschließensich zu einem geordneten Umbau, und dieser ist nur miteinem hohen Subventionsaufwand zu haben. Diese Ent-scheidung müssen Sie treffen.Viertens. Es ist richtig: Der Mietindex war kurze Zeitauf einem historischen Tiefststand. Man sollte aber nichtvergessen, dass in all den Jahren, selbst auf dem tiefstenPunkt, der Mietindex immer über dem Lebenshaltungs-kostenindex lag und dass gegenwärtig der Mietindex ge-genüber den Lebenshaltungskosten um das Doppeltesteigt.In dem Index sind die Heizkosten noch nicht einmalenthalten. Es ist schon gesagt worden, dass dadurch einfalsches Bild entsteht. Im letzten Jahr stieg der Preis fürHeizöl um fast 80 Prozent, der für Gas um 20 Prozent undder für Zentralheizung und Fernwärme um 26 Prozent.Auch die Mietbelastung steigt und steigt. ImJahre 1998 machte sie bei einem Durchschnittshaushaltein Viertel aus. Sie marschiert in raschen Schritten auf einDrittel zu. Ganz besonders betroffen sind Bezieher vonNiedrigeinkommen. Wer unter 1 000 DM Einkommenhat, gibt heute schon zwei Drittel seines Einkommens fürWohnen aus. Bei denjenigen, die ein Einkommen vonmehr als 5 000 DM haben, liegt der Anteil bei weit untereinem Fünftel.Ich weiß nicht, wo diese Entwicklung noch hinführensoll. Der Mensch muss auf alle Fälle wohnen. Er mussessen und sich kleiden können. Er kann vielleicht auf an-dere Dinge verzichten.
Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann muss etwasgeschehen; denn man darf die Augen vor einer solchenEntwicklung nicht verschließen.Sie verschließen – wie die Vorgängerregierung – dieAugen auch vor der Entwicklung der Nebenkosten. Ichdenke, Sie kratzen an der Oberfläche. Sie setzen auf derEbene des Mieters an – der Mieter soll sparen – und Siesetzen richtigerweise bei der Wärmedämmung der Ge-bäude an. Infolge dessen sollen die Kosten sinken. Die ei-gentlichen Kostenverursacher aber sind die jeweiligenVer- und Entsorgungsbetriebe. In der Bundesrepublik giltdas Kostendeckungsprinzip. Egal, wie teuer oder ineffizi-ent der jeweilige Betrieb produziert: Der Mieter muss dieKosten über die Gebühr decken.
Wenn Sie nicht die Bedingungen schaffen, durch die einekostengünstige Arbeit der Ver- und Entsorgungsbetriebeerzwungen wird, dann werden wir es zukünftig mit Ne-benkosten zu tun haben, gegenüber denen die jetzigen einKlacks sind.
Zum Wohngeld. Auch hierbei lasse ich alles Ober-flächliche beiseite. Beim Wohngeld zeigt sich ein in ei-nem Besorgnis erregenden Ausmaß steigender Trend. Dasist so, seit es eingeführt wurde; seit Anfang der 90er-Jahregibt es einen besonders starken Knick nach oben. Da kannman sagen: Es ist toll und wunderbar, wie der Staat hilft.Man kann aber auch auf die Defizite gucken. Offensicht-lich ist die Gesellschaft so gestrickt, dass immer mehrMenschen das Wohnen nicht mehr aus eigenem Einkom-men bestreiten können. Im Osten sind es 11 Prozent, imWesten 7 Prozent. Das Spannende ist, dass das trotz einerWohnungsförderung passiert, deren Ziel es ist, bezahl-bares Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung zusichern. Obwohl also Milliarden über Milliarden jahr-zehntelang in die Förderung gegangen sind, sind dieWohngeldausgaben rasant gestiegen und ein Ende istnicht abzusehen. Das heißt: Die Förderung des Woh-nungsbaus hat offensichtlich ihr Ziel – bezahlbares Woh-nen für breite Schichten – verfehlt. Heute müssen breiteSchichten zusätzlich über das Wohngeld gefördert wer-den. Das ist ein Widerspruch in sich. Ich sage das so nach-drücklich, damit Sie sich nicht in eine Reform des Sozial-wohnungsbaus stürzen, ohne sich dieses Widerspruchsbewusst zu sein.Die Lage, meine Damen und Herren, ist sehr viel kriti-scher, als es im Bericht zum Ausdruck kommt. Ich weiß,dass Sie nicht gern auf meine Ratschläge hören. Ich gebeIhnen dennoch zum Schluss den Ratschlag: Reden Siesich die Welt nicht schön! Analysieren und problematisie-ren Sie die realen Prozesse; denn nur so werden Sie zu ei-ner sachgerechten und gerechten Politik kommen! Einausreichender Wohnungsbestand ist immer noch der besteMieterschutz. Für den Fall, dass es so weit kommen sollte,dass Sie mit Ihrer Politik in Richtung einer Verstetigungsteuern, möchte ich darauf hinweisen, dass das Mietrecht,zu dem ich aus Zeitgründen nicht sprechen kann, dannflankierend seinen Beitrag zum sozialen Wohnen leistenmuss.
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
A
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wohngeld-und Mietenbericht bietet immer die Chance – das habenwir auch an dem gemerkt, was Herr Kansy hier vorgetra-gen hat –, nicht nur über den Bericht selbst zu sprechen,sondern auch ein bisschen Fazit dessen zu ziehen, waswohnungs- und städtebaupolitisch in den letzten Jahrengeschehen ist. Ich denke, es macht Sinn, nicht nur über dieZahlen zu sprechen – die Zahlen sind schon fast Vergan-genheit –, sondern auch darüber zu reden, was nach die-sem Wohngeld- und Mietenbericht auf der Tagesordnung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christine Ostrowski11933
steht und wie sich die Wohnungspolitik weiterentwickelnwird.Zunächst einmal muss man einiges zurechtrücken,Herr Kansy. Sie haben gesagt, noch keine Regierunghätte, was den Wohnungsbau anbetrifft, eine so glänzendeAusgangsposition gehabt. Ich hatte heute Morgen die Ge-legenheit, auf dem Verbandstag des Bundesverbandesdeutscher Wohnungsunternehmen genau diese Bilanzaufzumachen, nämlich die Eröffnungsbilanz, die wir ma-chen mussten, als wir die Regierung übernommen haben.Wohngeld? – Nicht reformiert! Sozialer Wohnungsbau? –Nicht reformiert! Überforderte Nachbarschaften? – Nichtangepackt! Altschuldenhilfe-Gesetz? – Nicht novelliert!Leerstand? – Kopf in den Sand gesteckt! Mietrecht? – Inder Schublade geblieben! Steuerliche Abschreibungen? –Nach wie vor bei Luxusmodernisierungen möglich!Das war die Eröffnungsbilanz, die wir aufmachenmussten, als wir die Regierung übernommen haben.
Wir haben dann relativ schnell begonnen, diesen Re-formstau aufzudröseln und abzubauen. Wenn man sich dieKoalitionsvereinbarung einmal anschaut – man kann jetztdie Halbzeitbilanz dieser Legislaturperiode ziehen –,dann wird einem relativ schnell auffallen, was wir allesabgearbeitet haben. Ich kann Ihnen das vorbuchstabierenund möchte das auch bei den wichtigsten Punkten tun,weil ich das für notwendig erachte.Wir haben gesagt: Wir verstärken die Städtebauförde-rung.Diese wird durch das Programm „Die soziale Stadt“ergänzt, das für die Förderung von Stadtteilen, Innenstäd-ten, Großsiedlungen und Stadtteilzentren mit besonderemEntwicklungsbedarf gedacht ist. Dieses Programm habenwir aufgelegt. Wenn man sich den nächsten Haushalt unddie damit zusammenhängende mittelfristige Finanzpla-nung anschaut – das sind insgesamt sechs Jahre –, dannwird man feststellen, dass wir zusammen mit der Kofi-nanzierung der Länder und Gemeinden 1,8 Milliarden DMfür die Förderung benachteiligter Stadtteile zur Verfügungstellen. Das ist ein großartiger Erfolg für eine Wohnungs-und Städtebaupolitik in diesem Lande.
Hinzu kommen noch die Mittel aus anderen Ressorts.Das betrifft sowohl die Mittel der Bundesressorts als auchdie der Länderressorts und auch die Mittel der Europä-ischen Union. Wir sorgen durch Vernetzung, wissen-schaftliche Begleitung und „benchmarking“, dass die bis-herigen Erfahrungen auch an die Stadtteile vermitteltwerden, die noch nicht unmittelbar in das Programm ein-bezogen worden sind – immerhin gibt es schon 210 Pro-jekte in 157 Gemeinden –, sodass auch diese Stadtteile dieChance haben, von dem bisher gewonnen Fachwissen zuprofitieren und mit ihrer Arbeit anzufangen.Der nächste Punkt betrifft den sozialen Wohnungs-bau. Die alte Koalition hatte die Eckwerte überhauptnicht mit den Ländern abgesprochen. Wir sind den umge-kehrten Weg gegangen: Wir haben uns zunächst mit denLändern zusammengesetzt und haben gesagt: So sehenunsere Vorstellungen aus! Daraus haben sich nicht nur dieEckwerte ergeben, sondern auch Zielvorstellungen ent-wickelt.Herr Kansy, Sie haben immer gefragt: Wo bleibt dieseit Jahren versprochene Reform des sozialen Wohnungs-baus? Wir sind doch schon mitten in der wohnungspoliti-schen Diskussion. Wir haben im vergangenen Dezemberdie Eckwerte vorgelegt. Ich habe Ihnen darüber immerBericht erstattet. Im März hat die Arbeitsgruppe, die zu-sammen mit den Ländern die Eckwerte zu Papier gebrachthatte, ihre Arbeit beendet. Im Mai fand eine Sitzung derArgebau, die Konferenz der Bauminister, statt. Ebenfallsim Mai haben wir im Ausschuss gesagt: Jetzt arbeiten wirunmittelbar an dem Gesetzentwurf. Wir werden AnfangNovember einen entsprechenden Referentenentwurf vor-legen und werden dann diese wichtige Reform auf denWeg bringen.Dass wir hinsichtlich der Finanzierung des sozialenWohnungsbaus noch nicht so weit gekommen sind, wiewir kommen wollten, liegt an einer anderen Altlast, diewir von Ihnen übernommen haben, nämlich an demWohngeld, das zehn Jahre lang nicht reformiert wordenist. Angesichts der Tatsache, dass der Staat 1 500 Milliar-den DM Schulden hat und wir deshalb einen Konsolidie-rungskurs verfolgen müssen, mussten wir uns entschei-den, wo wir beginnen wollen. Wir mussten – das wareindeutig – beim Wohngeld beginnen; denn tatsächlichgab es nur noch – auch eine Hinterlassenschaft der altenRegierung – 2 Millionen Wohnungen mit Sozialbindung.Da wir den tatsächlichen Bedarf nicht allein durch Bau-maßnahmen befriedigen können, mussten wir den Men-schen, deren Einkommen aufgrund des nicht angehobe-nen Wohngeldes de facto über den Einkommensgrenzenlagen, deshalb keine Sozialwohnung bekamen unddadurch wirklich sozial ungerecht behandelt wurden, dieMöglichkeit geben, eine vernünftige Wohnkaufkraftnachzuweisen, damit sie auch eine Wohnung bekommenkönnen, die nicht in der Bindung ist. Deshalb stand dieReform des Wohngeldes eindeutig auf Platz eins der Pri-oritätenliste. Diese greift zum 1. Januar 2001.
– Herr Kansy, da Sie die Kürzungen ansprechen, möchteich Ihnen vorrechnen: Sie haben in den letzten vier Jah-ren, in denen Sie die Regierungsverantwortung hatten, dieMittel für den sozialen Wohnungsbau von 3,9 Milliar-den DM auf 1,3 Milliarden DM gekürzt. Sie haben alsoum 2,6 Milliarden DM gekürzt. Dafür sind Sie verant-wortlich! Wir haben – das tut uns weh – die Mittel von1,2 Milliarden DM auf 0,45 Milliarden DM – das sind750 Millionen DM – gekürzt. Das ist schon ein kleinerUnterschied.
Die Leute merken, wer mit der Sense gekürzt hat. Wir sor-gen zusammen mit den Finanzministern aller Bundeslän-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Achim Großmann11934
der dafür, dass durch die Reform, die wir jetzt auf Kiellegen, wieder mehr Geld zur Verfügung steht.
Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass wir dieSchwierigkeiten der Wohnungsbauunternehmen in denneuen Bundesländern gut im Griff haben. Wir haben dasAltschuldenhilfe-Gesetz novelliert. Wir haben dieRechtsverordnung nach § 6a AHG so weit ausgearbeitet,dass wir sie bald in den Ausschuss geben können. WeitereEinzelheiten kann ich mir ersparen, weil wir am Freitagder letzten Sitzungswoche die Möglichkeit hatten, sehr in-tensiv über das Problem des Wohnungsleerstands in denneuen Bundesländern zu sprechen.Fazit: Wir haben uns nach der sehr negativen Eröff-nungsbilanz im Bereich des Wohnungs- und Städtebausauf den Weg gemacht, den Reformstau zu lösen. Wir ha-ben beim Wohngeld, beim sozialen Wohnungsbau undbeim Wohnungs- und Städtebau in den neuen Bundeslän-dern deutliche Fortschritte gemacht. Wir sind auf dieHalbzeitbilanz dieser Legislaturperiode sehr stolz.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege
Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Mietrecht ist und bleibteines der unübersichtlichsten und am stärksten von ab-weichenden Einzelfallentscheidungen geprägten Rechts-gebiete. Kaum ein anderes Rechtsgebiet betrifft die Bür-ger dabei so unmittelbar. Nahezu jeder wird in seinemLeben mit den Wägbarkeiten, man müsste besser formu-lieren: mit den Unwägbarkeiten dieser Materie konfron-tiert. Insbesondere die Höhe der Mieten beeinflusst dasLeben und die Lebensführung eines Großteils der Bevöl-kerung ganz direkt.Der notwendig Spagat zwischen den Vermieter- undden Mieterinteressen im Wohnraummietrecht macht eineausgewogene Neuregelung des Mietrechts besondersschwierig. Sich hier nicht von Gruppeninteressen beein-flussen zu lassen und eine wirklich gerechte Lösung zufinden muss das Ziel sozialen Wohnraummietrechts sein.Diesem Ziel werden nach unserer Überzeugung beidevorliegenden Gesetzentwürfe nicht ganz gerecht.
Der Entwurf des Bundesrates über ein ZweitesGesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung derMiethöhe, dessen Regelungsziel darin besteht, eine be-schleunigte Mietpreisentwicklung bei Sozialwohnungenim mittleren Preissegment zu verhindern, bevorteilt denMieter nach unserer Überzeugung zu stark. Dies wird ins-besondere daran klar, dass die Kappungsgrenze lediglichim Preisbereich unterhalb der Vergleichsmiete wirkt.Die bisher niedrige Kappungsgrenze von 20 Prozent indrei Jahren für den Wohnraum, der vor 1981 errichtetwurde und dessen Quadratmeterpreis über 8 DM liegt,macht das Heranführen billigen Wohnraums an die Ver-gleichsmiete zu einem sehr langwierigen Unterfangen.Der private Vermieter wird genötigt, mit Mieterhöhungenmöglichst an der Vergleichsmiete zu bleiben. Eine nied-rige Kappungsgrenze fordert den Vermieter geradezu he-raus, jede mögliche Mieterhöhung mitzunehmen, um nurnicht von der Vergleichsmiete abgehängt zu werden.
Denn versäumt er – zum Beispiel aus persönlichen Grün-den – an sich zulässige Mieterhöhungen über längere Zeit,dann ist es für ihn äußert schwierig, wieder an die Ver-gleichsmiete heranzukommen. Angesichts der moderatenMietpreisentwicklung – sie betrug im letzten Jahr 1,1 Pro-zent; das haben wir gerade mehrfach gehört – spielt dieKappungsgrenze in der Praxis nur eine geringe Rolle.Hier mag es regionale Unterschiede geben, doch imGroßen und Ganzen ist eine Neuauflage der zum 1. Sep-tember 1998 ausgelaufenen Regelung abzulehnen.Auch der Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachungdes Mietrechts der F.D.P.-Fraktion bevorteilt eine derInteressengruppen zu stark. Im Falle dieses Entwurfes istdies natürlich die Vermieterseite; das kann nicht überra-schen. Zwar fußt der Gesetzentwurf im Wesentlichen aufden Vorschlägen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ausdem Jahre 1996/97, doch sind hier wesentliche Punkte desEntwurfes aufgrund eines nicht gelungenen Interessen-ausgleichs zwischen Mieter und Vermieter abzulehnen.Zu nennen sind hier insbesondere die Einführung einesallgemeinen, fristlosen, zu Gunsten des Vermieters zuweit gehenden Kündigungsrechts und die Einführung ei-ner zeitlich unbegrenzten Zulässigkeit der Staffelmiete,die einem Missbrauch Tür und Tor öffnen könnte; auchdie vorgesehene Zulässigkeit der Indexmiete ohne Ge-nehmigungspflicht durch die Landeszentralbanken in derNeufassung des § 560 b BGB des Entwurfes erscheintzumindest bedenklich.Eine zwar mieterfreundliche, jedoch aus anderenGründen zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnende Regelungdes Gesetzentwurfs ist die Erweiterung des Eintritts-rechts im Haushalt des Mieters lebender Personen beiVersterben des Mieters. Dieses Eintrittrecht soll laut Ge-setzentwurf für all diejenigen Personen gelten, die, ob un-terschiedlichen Geschlechts oder nicht, zuvor auf Dauerin einem Haushalt mit dem Mieter gelebt haben. Damitich nicht falsch verstanden werde, füge ich hinzu: Ich binnicht der Auffassung, dass diese Regelung in der Sachefalsch sei. Nur glaube ich, dass wir die Debatte über die-sen Punkt nicht an dieser Stelle unter mietrechtlichen Ge-sichtspunkten führen sollten, sondern im Zusammenhangmit den mittlerweile schon in der Detailberatung befind-lichen Entwürfen zur Frage gleichgeschlechtlicher Le-bensgemeinschaften. Ich halte eine isolierte Debatte untermietrechtlichen Gesichtspunkten für falsch.
Anhand der letzten zwei von mir noch zu erwähnendenPunkte möchte ich jedoch noch einmal die übertriebeneVermieterfreundlichkeit des F.D.P.-Gesetzentwurfs auf-zeigen. Da ist zum einen die Verkürzung des Kündi-gungsschutzes nach Umwandlung der Mietwohnung in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Achim Großmann11935
eine Eigentumswohnung auf drei Jahre. Noch weiter gehthier sogar die Regelung, der zufolge der Vermieter sofortund fristlos kündigen kann, wenn er vergleichbarenWohnraum in der Nähe anbietet und die Umzugskostenerstattet.Zum anderen ist die Aufhebung des § 5 des Wirt-schaftsstrafgesetzes vorgesehen, wodurch eine strafbareHandlung bei Missbrauch der Vermieterstellung und-rechte nur noch dann vorläge, wenn § 291 des Strafge-setzbuches, Wucher, einschlägig wäre. Dies bedeuteteeine erhebliche Erhöhung der Eingriffsschwelle, durchdie wiederum dem Missbrauch Tür und Tor geöffnetwürde.Angesichts der eben angeführten zahlreichen Beden-ken kann diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Formnicht zugestimmt werden.
Die Bevorzugung des Vermieters ist nach unserer Über-zeugung unübersehbar. Ich weise hier noch einmal daraufhin, dass ein ausgewogener Mittelweg gefunden werdenmuss. Die grundsätzlich vorgesehene Vereinfachung undbessere Transparenz, die durch die geplante einheitlicheZusammenfassung des Mietrechts im BGB erreicht wird,ist zu begrüßen.Für meine Fraktion biete ich an, dass wir uns an denBeratungen auch vor dem Hintergrund eines möglichenRegierungsentwurfes konstruktiv beteiligen werden. Wirwerden allerdings einer einseitigen Bevorzugung der Ver-mieter- oder der Mieterseite im Plenum des DeutschenBundestages keinesfalls die Zustimmung geben können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kol-lege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., auf derersten Seite Ihres Antrags haben Sie Recht: Das Mietrechtbedarf der Novellierung und Vereinfachung. Sie schrei-ben:Kein anderes Rechtsgebiet ist für weite Teile der Be-völkerung von so großer Bedeutung für das täglicheLeben wie das Mietrecht.Richtig!Mit der hohen Bedeutung des sozialen Wohnraum-mietrechts geht jedoch bisher keine entsprechendeÜberschaubarkeit, Transparenz und Verständlichkeiteinher.
Richtig! Da sind wir uns absolut einig.Vielmehr ist das Mietrecht unübersichtlich geglie-dert und auf mehrere Gesetze verteilt.Auch das ist richtig.Diese gegenwärtige Zersplitterung des Mietrechtesist das Ergebnis jahrzehntelanger unsystematischerGesetzesänderungen.Richtig!
– Gut, Sie erinnern sich also.Wer aber war in den letzten Jahren an der Regierung?Sie hatten dies zusammen mit der CDU/CSU in den ver-gangenen Legislaturperioden zu verantworten. Geradedeswegen arbeitet die Regierungskoalition an einemneuen Mietrecht. Gerade deshalb hat die Bundesregierungüber den Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, derdiesem Missstand endlich abhelfen soll.Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie habenaber meines Erachtens nicht mehr Recht, wenn Sieschreiben:Bei beiden Gesetzentwürfen– also auch bei dem der Bundesregierung –ist bereits jetzt zu erkennen, dass hier einseitig ziel-gerichtet die Rechte des Vermieters geschwächt unddie Rechte des Mieters gestärkt werden sollen.Gerade bei einer Rechtsproblematik, die im täglichen Le-ben in die Interessen- und Betroffenheitssphäre vielerBürger weitreichend eingreift,
ist zwingend geboten, die beiderseitigen Interessen abzu-wägen. Dies tut der Entwurf der Bundesregierung.Interessanterweise kommen auch Sie in Ihrem Entwurfin einer Reihe von Punkten zu ähnlichen Regelungen wieder Regierungsentwurf. Dort aber, wo soziale Gesichts-punkte eigentlich höherrangig zu werten wären, stehenbei Ihnen wirtschaftliche Interessen manchmal doch zusehr im Vordergrund. Namentlich möchte ich hier benen-nen – ich fand es interessant, dass auch die Kollegen vonder CDU zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind –:Erstens: die völlige Abschaffung der Kappungsgren-zen. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie sich inIhrer Fraktion selber nicht ganz einig waren; denn in derÜberschrift Ihres § 561 steht interessanterweise noch dasWort „Kappungsgrenze“. Es mag sein, dass Mieten ohne-dies durch die örtlichen Vergleichsmieten nach oben ge-deckelt sind; dennoch sollten Mieter in den wenigen Fäl-len, in denen die Vergleichsmieten um mehr als ebendieseKappungsgrenze höher liegen, vor zu hohen Preissprün-gen geschützt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ronald Pofalla11936
Zweitens: Erleichterung der Verwertungskündigung,§ 575 Ihres Entwurfs. Liebe Kolleginnen und Kollegen,an diesem Punkt sollten Sie sich tatsächlich noch einmalüberlegen, ob Sie das wirklich wollen.
Denn nach dem Wortlaut Ihres Entwurfs genügt jeder,aber wirklich jeder noch so kleine Vorteil, um Mieter aufdie Straße zu setzen.
Wollen Sie wirklich die Voraussetzung des erheblichenNachteils entfallen lassen?Drittens: Aushöhlung des Mieterschutzes bei Um-wandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen.Es gibt wirklich Städte mit besonders hohem Mietwoh-nungsbedarf – die Auswahl können wir getrost den Län-dern überlassen –, in denen drei Jahre viel zu kurz sind.Viertens: Aufhebung des § 5 des Wirtschaftsstrafgeset-zes. Die darin vorgesehene Sanktion gegenüber unver-hältnismäßig hohen Mieten hat in erster Linie eine wich-tige Appell- und Präventivfunktion und entfaltet eineunverzichtbare Schutzfunktion im Einzelfall. Ich meine,dabei sollten wir es wirklich belassen.
Ich verstehe natürlich, dass Sie vorrangig die Interes-sen Ihrer Hauptwählerschichten vertreten.
Soziale Aspekte lässt der Antrag in manchen Punktendoch vermissen.
Frau Kollegin,
„Quatsch“ ist nicht so ganz parlamentarisch.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sie werden sicherlich Verständnis dafür ha-
ben, dass ich den Regierungsentwurf für den ausgewoge-
neren und sachgerechteren halte.
Zum Abschluss hat
der Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Etwas ist natürlich erstaunlich: Es wurde sehr vielüber den Regierungsentwurf gesprochen, der heute ei-gentlich noch gar nicht zur Debatte steht.
Herr Funke, Sie wissen, er ist auf einem guten Wege.Er geht den verfassungsgemäß vorgezeichneten Weg.Jetzt nimmt der Bundesrat Stellung. Der Bundesrat hatsich mit diesem Entwurf bekanntlich vor kurzem be-schäftigt, mit zum Teil sehr überraschenden Ergebnissen,die wir einmal gemeinsam analysieren sollten. Der Ge-setzentwurf wird dann, wenn der Bundesrat Stellung ge-nommen hat, dem Bundestag zugeleitet. Danach wird dieDebatte in den zuständigen Gremien, in den Ausschüssen,beginnen. Ich finde, es ist durchaus erfreulich, dass dieseDiskussion bereits jetzt begonnen hat. Wir können uns ei-gentlich nichts Besseres wünschen, als dass frühzeitig undin aller Öffentlichkeit über ein wichtiges Thema diskutiertwird. Deswegen bin ich sehr froh, dass unser Gesetzent-wurf schon in der Debatte ist.Dass wir damit übrigens einem Auftrag des Bundesta-ges folgen, den er 1974 formuliert hat, ist ebenfalls be-merkenswert. Die Jubiläumszahl von 25 Jahren, ist schonüberschritten. Dass diese Bundesregierung es geschaffthat, innerhalb einer, wie ich finde, kurzen Zeit einen Ge-setzentwurf vorzulegen, ist durchaus beachtlich.
Meine Damen und Herren, wir haben ja heute zweimietrechtliche Anträge: einmal den Gesetzentwurf desBundesrates, zum anderen den Gesetzentwurf der F.D.P.Bei der Vorlage des Bundesrates fällt mir auf, dass hier-mit eigentlich wieder ein Rückfall in eine alte Regelungvorgeschlagen wird, nämlich die Wiedereinführung einergespaltenen Kappungsgrenze, die wir bis September1998 hatten. Mit Verweis auf den Regierungsentwurfkann ich da nur sagen: Wir halten eine unterschiedlicheKappungsgrenze bei Altbaubeständen, die entweder voroder nach einem bestimmten Jahr errichtet wurden, nichtfür angemessen, sondern aus Gründen der Vereinfachung,Rechtssicherheit und Klarheit muss es eine einheitlicheKappungsgrenze geben.
Dazu werden wir eine Grenze von 20 Prozentpunkten vor-schlagen.
Ein anderer Punkt ist, dass nach unserem Konzept dasMiethöhegesetz ins BGB einbezogen werden soll. Dasdient der Klarheit, der Verständlichkeit und der Transpa-renz des Mietrechtes. Ich glaube, dass das ein richtigerAnsatz ist. Es ist in der Tat so, dass wir von einer Verein-fachung und Klarstellung des Mietrechtes erwarten, dasses wesentlich weniger Rechtsstreitigkeiten als bisher gibt.Es gibt rund 300 000 Mietrechtsstreitigkeiten pro Jahr.Wenn es uns gelingt, einen Teil davon – ich bin da nichtso pessimistisch – zu vermeiden, ist das schon ein Erfolgeiner Mietrechtsnovelle.Mit dem Entwurf des Bundesrates kann sich die Bun-desregierung deshalb natürlich nicht anfreunden. Es wirdin unserem Gesetzentwurf zudem zu einer Einbeziehungdes Miethöhegesetzes in das BGB kommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Helmut Wilhelm
11937
Nun zum Antrag der F.D.P. – dazu wurde schon einigesgesagt –: Es ist richtig, dass dieser Entwurf auf den Er-gebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe fußt. Ohne ir-gendeinen Anflug von Unbescheidenheit kann man sa-gen: Es ist gut, dass man sich der damaligen Ergebnissedieser kundigen Kommission bedient. Das tun ja alle: derBundesrat, die Bundesregierung und auch einzelne Frak-tionen. Hier ist sicher eine sehr gute Vorarbeit geleistetworden. Aber es kommt auch darauf an, wie man diese Er-gebnisse fortschreibt und wo Akzente gesetzt werden. BeiIhnen, Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., werdensie einseitig zugunsten der Investoren gesetzt.
Insofern hat der Entwurf nicht die soziale Symmetrie, dieSie sonst stets von uns einfordern.
Sie wollen die Kappungsgrenze ersatzlos streichen.Diese Methode können wir nicht gutheißen. In weiten Be-reichen gibt es sicherlich einen entspannten Mietmarkt.Aber gerade dort, wo der Mietmarkt noch angespannt ist,nämlich in den Großstädten, sind noch immer erheblicheSprünge bei den Mieten von Wohnungen festzustellen, dieaus der Mietpreisbindung herausfallen. Diese könnenleicht 20 oder 30 Prozent betragen, ohne dass sie dieortsübliche Vergleichsmiete erreichen. Hier ist die Kap-pungsgrenze ein Regulativ und hat auch einen gewissenAppell-Effekt. Das will ich nicht verschweigen.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie nun eine Zwischenfrage?
D
Ja, natürlich.
Bitte schön, Frau Kol-
legin.
Herr Staatssekretär, ich wehre
mich als F.D.P.-Bundestagsabgeordnete dagegen, dass Sie
die gleiche Behauptung, wie sie auch dauernd aus dem
Kreise Ihrer Fraktion kommt, aufstellen, nämlich wir
würden nur die „Reichen“ berücksichtigen. Ich möchte
Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob nicht auch Sie mit mir
der Meinung sind, dass wir die Interessen der Kapitalan-
leger auch auf den Mietwohnungsbau lenken sollten. Die-
ses Interesse verfolgen wir mit unserem Entwurf. Es nützt
nämlich den Wohnungssuchenden überhaupt nichts, wenn
die Kapitalanleger keinerlei Interessen haben, ihr Geld in
den Mietwohnungsbau zu stecken. Wenn Sie selber ein-
mal in diesem Bereich nicht auf der Seite der Mieter, son-
dern auf der anderen Seite betroffen sein würden, wüssten
Sie, dass es in diesem Bereich nicht nur positive Beispiele
gibt. Das kann ich Ihnen sagen.
D
Frau Kollegin, wenn Sie zugehört
haben,
dann wissen Sie, dass ich kritisiert habe, dass dieser Ent-
wurf einseitig zugunsten der Investoren formuliert ist.
Das ist an dem Beispiel der Kappungsgrenze deutlich zu
erkennen.
Es kommt in der Tat darauf an, dass wir eine ausgewo-
gene Regelung finden.
Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, dass unser Entwurf so-
wohl von der Mieterseite als auch von einem Verband wie
Haus & Grund kritisiert wird, dann können Sie erkennen,
dass es sich um eine ausgewogene Regelung handelt, mit
der wir versuchen, auch die Interessen der Wohnungsei-
gentümer und der Grundeigentümer, die wir nicht ver-
schweigen wollen und die wir nicht negieren können, zu
berücksichtigen.
Sie wissen, dass wir etwa bei der Frage der Moderni-
sierungsumlage einen besonderen Wert gerade auf die In-
vestitionsfähigkeit der Wohnungsbauunternehmen gelegt
haben. Deswegen behalten wir auch mit dem Regierungs-
entwurf die bisherige Regelung bei.
Wir werden einen Entwurf vorlegen, über den wir in
diesem Hause noch lang und breit diskutieren werden. Ich
lade Sie alle ein, sich an diesem Diskussionsprozess zu
beteiligen.
In diesem Sinne: Schönen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/3070, 14/871 und 14/3896 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Weiterhin wird vorgeschlagen, den Entschließungsan-trag auf Drucksache 14/4248 zu überweisen zur feder-führenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Rechts-ausschuss. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenJohannes Singhammer, Horst Seehofer, Karl-JosefLaumann, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätig-keit– Drucksache 14/3778 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
InnenausschussSportausschuss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick11938
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMatthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heutediskutieren wir in erster Lesung den von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines Geset-zes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit.Ehrenamt ist gelebte Demokratie. Es basiert auf Frei-willigkeit, Gemeinwohlorientierung und ist nicht auf ma-teriellen Gewinn ausgerichtet. Auf diese Kriterien hat sichder Deutsche Bundestag bei der Einberufung der En-quete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen En-gagements“ 1999 parteiübergreifend verständigt.Es gibt in Deutschland über 2,5 Millionen offiziell be-kannte ehrenamtlich Tätige. Darüber hinaus gibt es einMillionenheer von Menschen, die sich sozial, kulturelloder ökologisch für Gotteslohn und gegen eine geringeAufwandsentschädigung engagieren.Ein Schlag gegen das Ehrenamt ist aber die neue Rege-lung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
So werden die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Feuerwehr,in Sportvereinen, in den Kirchen und sogar die Tätigkeitder Versicherungsältesten immer öfter als sozialversiche-rungspflichtig eingestuft. Das Ehrenamt und den Bezugeiner pauschalen Aufwandsentschädigung mit einer be-ruflichen Tätigkeit gleichzusetzen ist der Gipfel des Un-sinns rot-grüner Politik.
Es geht nämlich hierbei nicht um Gewinnerzielung undnicht um den Verdienst für den Lebensunterhalt. Es gehtvielmehr darum, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Frei-zeit, ihr Talent und ihr Wissen einbringen, um sich in derGemeinde zu engagieren. Dieses Engagement bestraft dieBundesregierung mit einem Wust an Bürokratie und Son-derabgaben.
Wir von der CDU/CSU wollen eine klare Abgrenzungzwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit. Wir wol-len das Ehrenamt stärken und nicht in bürokratischemWust ersticken.
Wir wollen den Missbrauch bei den Billigjobs und nichtdas Ehrenamt bekämpfen und wir wollen durch die Auf-wertung des Ehrenamtes die kulturelle Vielfalt unsererVereine fördern.Mit unserem Gesetzentwurf zur Förderung ehrenamt-licher Tätigkeit stehen wir an der Seite der Menschen, diesich täglich für das Ehrenamt engagieren.
Wir wollen die Versöhnung von Ehrenamt und Beruf.Dazu gehört aber auch, die Unterschiede klarzumachen.Auch für die Unternehmen und die Verwaltungen sinddie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zusätzlich eh-renamtlich aktiv sind, ein Aktivposten, ein Gewinn an so-zialer Kompetenz,
an Teamfähigkeit und an Zuverlässigkeit. Es sind in derRegel diejenigen, die auch im Beruf hoch motiviert arbei-ten und engagiert sind.
Wer Übungsleiter in einem Sportverein ist, kann bei ent-sprechendem Fachwissen auch eine Abteilung oder eineGruppe in einem Betrieb leiten, weil er durch die täglichePraxis gelernt hat, Menschen zu motivieren und anzure-gen.Wir brauchen die großen sozialen Netze, wir brauchenaber auch die kleinen Netze, die Netze vor Ort. Sie gebender Solidarität in unserer Gesellschaft ein Gesicht, einenNamen; ja, sie sorgen für die soziale Wärme in unseremLand, ohne die eigentlich nichts geht. Wirtschaft und so-ziales Engagement stehen nicht gegeneinander; sie be-dingen einander. Das sollte unsere gemeinsame Botschaftaus dieser ersten Lesung sein.Das Ehrenamt darf nicht durch einen Wust an bürokra-tischen Regelungen überflutet werden. Nach dem Ord-nungsprinzip der christlichen Soziallehre, der Subsidia-rität, hat die kleine Einheit Vorrang vor der nächst-größeren Einheit. Kommt private Initiative vor staatlicherInitiative, ist jedoch der Staat zur Hilfe zur Selbsthilfe ver-pflichtet, wenn sie benötigt wird.Die rot-grüne Bundesregierung hat hier etwas falschverstanden. Sie leistet keine Hilfe zur Selbsthilfe. Siepraktiziert mit ihren neuen bürokratischen Reglementie-rungen Hilfe zur Abhilfe des Ehrenamtes.
Die Gleichsetzung von pauschalen Aufwandsentschä-digungen für Ehrenämter mit kommerziellen Einnahmenist ein Irrweg. Sie geben den Millionen EhrenamtlichenSteine statt Brot.
Sie rauben ihnen wertvolle Zeit, in der sie sich mit demFinanzamt oder den Sozialversicherungsträgern abgebenmüssen, und Sie rauben ihnen die Kraft, die sie besser fürdas Gemeinwohl als zur Abwehr bürokratischer Fesselneinsetzen sollten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs11939
Wenn Sie schon auf diesem Irrweg weitergehen wol-len, dann müssten Sie konsequenterweise von den Sport-vereinen den Mutterschutz für Übungsleiterinnen ein-fordern. Rot-Grün verwischt die natürlichen Grenzenzwischen dem Ehrenamt und einem normalen Beschäfti-gungsverhältnis. Damit schaden Sie dem Ehrenamt. Es istgerade für einen Arbeitnehmervertreter schwer nachvoll-ziehbar, wieso im Rahmen der Steuerreform große Kapi-talgesellschaften privilegiert werden, während im Sozial-versicherungsrecht und teilweise auch im Steuerrechtkleine Zeitungsboten, die ihr Taschengeld aufbessernwollen, und Ehrenamtliche mit der vollen Beitrags- undSteuerkeule getroffen werden.
Ich frage: Wie selbstvergessen ist die heutige SPD, dasssie diesen Kurs der Umverteilung von unten nach obeneinfach nur abnickt?
Ich fordere Sie auf: Stellen Sie die pauschale Auf-wandsentschädigung für Ehrenamtliche generell von derSozialversicherungspflicht und der Lohnsteuer frei. Be-enden Sie die schreiende Ungerechtigkeit, die Sie mit derNeuordnung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-nisse den Millionen ehrenamtlich Tätiger angetan haben.Das Beispiel der Enquete-Kommission „Zukunft des Bür-gerschaftlichen Engagements“ zeigt doch, dass eineparteiübergreifende Verständigung über die Kriterien derAbgrenzung des Ehrenamtes zu einem normalen Be-schäftigungsverhältnis möglich ist.Zu einer solchen Gemeinschaft will der heutige Antragder CDU/CSU-Bundestagsfraktion anregen.
Gehen Sie mit uns gemeinsam diesen Weg, um das Ehren-amt in Deutschland wieder zu stärken!Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Kollege Strebl, ich habe dieVermutung, dass Sie jedes Thema nach folgender Me-thode angehen: Der Elefant hat einen Rüssel und dieserRüssel sieht aus wie ein Wurm, wobei es Spulwürmer, Re-genwürmer und sonstige Würmer gibt. Denn Sie fangenimmer ganz groß an und landen dann ständig bei den 630-Mark-Verhältnissen. Das ist allmählich ein bisschen ein-fältig.
Ich würde gerne bei dem Thema bleiben, das wir ei-gentlich zu behandeln haben. Sie haben heute einen Ge-setzentwurf vorgelegt, mit dem die Aufwandsentschädi-gungen, die an ehrenamtlich Tätige gezahlt werden, vonder Sozialversicherungspflicht freigestellt werden sollen.Die Bayern haben bereits vorgegriffen und im Juni diesesJahres im Bundesrat einen gleich lautenden Gesetzent-wurf eingebracht.Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich angesichts desMengenproblems und der Vielfältigkeit des ehrenamtli-chen Engagements bewusst sind, welche KonsequenzenIhr Gesetzentwurf hat und was er vor allem auch finan-ziell bedeuten würde. Im Gegensatz zu vielen Behaup-tungen sind wir nicht auf dem Weg zu einer Gesellschaftvon „Ichlingen“. Vielmehr gibt es bei uns in der Bundes-republik sehr viele bürgerschaftlich engagierte Menschen– auch Sie kennen die Zahlen –: 34 Prozent der Bevölke-rung in der Bundesrepublik sind in irgendeiner Form eh-renamtlich engagiert. Das sind, wenn man dies hochrech-net, 22 Millionen Bürgerinnen und Bürger.Diese sind organisiert in Vereinen, Verbänden, Ge-werkschaften, Parteien, Kirchen, in religiösen Vereini-gungen, Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekten wiedem der lokalen Agenda und in der Stadtteilplanung.
– Moment, dazu komme ich noch. – Sie nehmen öffentli-che Ämter wahr, sind Gemeinderäte, Stadträte, Schöffenund Arbeitsrichter oder übernehmen Ämter in der Selbst-verwaltung des Arbeitsamtes und der Krankenkassen, beider Feuerwehr und anderen traditionellen Formen derVereinsarbeit. Es gibt Menschen, die sich im Sport enga-gieren, die einen Gymnastikkurs oder eine Fußballkinder-abteilung leiten, die für das Vereinsfest Kuchen backenoder Prüfungen für das Deutsche Sportabzeichen abneh-men.
Oder es sind Menschen, die sich um ihre Kinder küm-mern. Dies sind Eltern, Väter oder Mütter, die in denSchulen oder in den Kindergärten Elternarbeit überneh-men, Fördervereine gründen und sogar die Schulkantine –meistens handelt es sich dabei um Frauen – ehrenamtlichbetreiben. Dies geht noch weiter: zum Beispiel dieSchatzmeisterin im Seniorenverein. Man kann diesebunte Aufzählung ewig weiterführen und in diesem Zu-sammenhang gibt es auch kein Nord- und Südgefälle.Was Sie und wir alle nicht tun dürfen – dies sollte unsallen klar sein –, ist, dieses Engagement sozusagen alsNotstromaggregat für die Erwerbsgesellschaft zu miss-brauchen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Matthäus Strebl11940
Denn oft wird so vorgegangen, dass wir angesichts des-sen, dass wir zu wenig Geld haben, entstehende Bedürf-nisse über das Ehrenamt oder irgendwelche sonstigeTätigkeiten befriedigen und dass wir nicht für die Schaf-fung entsprechender Arbeitsplätze sorgen.Ein Amerikaner – der müsste auch der CDU/CSUgeläufig sein – hat unser reges Treiben in dieser Land-schaft einmal so beschrieben: Die deutsche Gesellschaftist wie ein dreibeiniger Hocker, dessen Beine dermarktwirtschaftliche Bereich, der staatliche Bereich undder sozial-gemeinnützige Bereich sind.
Das erste Bein schafft wirtschaftliches Kapital, das zweiteöffentliches und das dritte soziales Kapital. Bürger-schaftliches Engagement ist die zentrale Quelle diesessozialen Kapitals, das wir schützen, pflegen und fördernmüssen.
– Tun wir. Dazu komme ich noch.Wir freuen uns über Signale aus den Chefetagen – diesmöchte ich angesichts dessen, dass dieser Zuruf aus IhrerEcke kam, besonders hervorheben –, die, an sich selbstgerichtet, besagen – das konnte man in der „Wirtschafts-woche“, im „Spiegel“ und in der „Zeit“ nachlesen –, dieWirtschaft müsse Flagge zeigen, wenn es um bürger-schaftliches Engagement in Unternehmen geht. Dort setztsich allmählich die Einsicht durch: Gutes tun schadetnicht, sondern lohnt und rechnet sich sogar.
Inzwischen sind die Verbände, also BDI, BDA undDIHT, sogar so weit gegangen, dass sie gemeinsam einenPreis spendieren, mit dem Unternehmen ausgezeichnetwerden sollen, die sich im eigenen Betrieb und allgemeinum bürgerschaftliches Engagement kümmern.Jetzt noch eine Bemerkung dazu, wie ernst es uns alsSPD ist, bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Wirhaben es bereits unter Beweis gestellt. Sie haben 16 Jahrelang wenig getan. Ich jedenfalls habe nichts davon gehört.
In dieser Zeit war ich selber noch nicht in diesem HohenHause, sondern ehrenamtlich und bürgerschaftlich unter-wegs.Was haben wir denn getan? Wir haben die Übungslei-terpauschale um 50 Prozent angehoben. Jetzt beträgt sie3 600 DM.
Wir haben auch den Personenkreis erweitert. Außerdem– das ist an Ihnen irgendwie vorbeigegangen – ist mit die-ser Steuerfreiheit zugleich auch die Sozialversicherungs-freiheit verknüpft worden. Insgesamt macht das 300 DMaus.Wir haben im Steuerrecht wesentliche Erleichterungenfür die Gründung von Stiftungen geschaffen.Wir haben endlich erreicht, dass Spendenbescheini-gungen ausgestellt werden dürfen – wobei mich etwasverwundert, dass die Vereine sich jetzt beklagen, dass wirdas tun, was sie seit 20 Jahren fordern.Wir können inzwischen wieder Selbsthilfegruppen imGesundheitswesen fördern. Sport – in den Reihen derCDU/CSU sind viele Vertreter des Sports – kann inzwi-schen wieder als Prävention gefördert werden.Wir haben hier ein Bündnis für das Ehrenamt einge-bracht, das den Interessen der verschiedenen Vereine undVerbände Rechnung trägt. Die Bundesregierung wirdnächstes Jahr, im „Internationalen Jahr der Freiwilligen“,eine große Kampagne durchführen, unterstützt auch vonuns selbst.Außerdem haben wir die Enquete-Kommission „Zu-kunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ einge-setzt. Die Enquete-Kommission hat sich mit dieserschwierigen Materie auseinander zu setzen und politischeStrategien zu entwickeln, wie wir dem freiwilligen,gemeinwohlorientierten, bürgerschaftlichen Engagementauf die Sprünge helfen und die notwendigen steuerrecht-lichen, sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen Rahmen-bedingungen schaffen können. Wir werden dann aufGrundlage dieser Arbeit die entsprechenden Handlungs-empfehlungen formulieren. Man muss vielleicht auch einbisschen mehr Zeit und Intellekt investieren, damit wir einvernünftiges Gesetz in den verschiedensten Ebenen ha-ben. Wir wollen ein solides Konzept. Das erfordert vielArbeit, viel Gründlichkeit und auch etwas Geduld. DieserAufgabe wollen wir uns stellen.
– Nein, nein. So ist es nicht.Ich bin bei den Feuerwehren und bei den Sportvereinenunterwegs. Wenn ich dort vermittle, dass wir eine solideLösung wollen, dann wird das mitgetragen.Wir hatten diese Woche ein Gespräch mit Vertreternder kommunalen Spitzenverbände in Baden-Württem-berg. In dem Gespräch haben Gemeinderäte und ehren-amtliche Bezirksvorstände gesagt – sie sind nämlich auchbetroffen –: Macht lieber ein schlüssiges Konzept, keinenSchnellschuss. Ansonsten tauchen irgendwann an andererStelle wieder Probleme auf. So einfach können Sie dasnicht machen.
Wir kennen die Diskussionen und die Klagen, dass dieehrenamtlich Tätigen die Steuer- und Sozialversiche-rungspflicht als Belastung empfinden. Wir wollen dies
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ute Kumpf11941
aber umfassend, konkret und seriös regeln. Ihr Gesetzent-wurf hat Schwachstellen und ist ein Schnellschuss. Ichdenke, wir wollen kein Gesetz, das durch die Hintertürüber das Ehrenamt wieder sozialversicherungsfreie Be-schäftigung ermöglicht. Diese Gesetzeslücke haben wirgerade mit dem 630-Mark-Gesetz geschlossen. Wir wol-len nicht wieder eine Fallgrube für nicht abgesicherteBeschäftigungstypen ausheben.Wir wollen auch zur Kenntnis geben – es ist erfreulich,dass Sie das inzwischen auch selbst in Ihrem Antrag zurKenntnis genommen haben –: Die Vorstellung, das Eh-renamt bedeute im Kern unentgeltliche Arbeit, hat sichgewandelt. Die Zahlung eines geringen – ich betone aus-drücklich: geringen – Ausgleichs für den erlittenen Ver-lust an Freizeit wird in manchen Bereichen des freiwilli-gen Engagements als Selbstverständlichkeit angesehen.Dabei fällt auf, dass anscheinend vor allem die Männer er-warten, dass man dabei entsprechend entlohnt wird. Eswird dagegen oft als ganz selbstverständlich angesehen,dass Engagement von Frauen unentgeltlich zu leisten ist.Es gibt aber nicht nur den Unterschied zwischen Männernund Frauen, sondern es gibt auch den Unterschied zwi-schen Nord und Süd oder, je nach Bundesland, Ehrenamt„light“ und Ehrenamt „S-Klasse“.Jetzt kommen wir zu den Feuerwehren, wegen dererdas Ganze anscheinend erst ins Rollen gekommen ist. InSchleswig-Holstein zum Beispiel werden, je nach Auf-gabe, einer Feuerwehrführungskraft Entschädigungenzwischen 95 und 925 DM gezahlt.
In Bayern rechnet sich ein solches Amt anscheinendmehr: Für entsprechende Tätigkeiten erhält ein ehrenamt-licher Feuerwehrmann in Bayern mehr als das Doppelte,nämlich 210 bis 2 000 DM.
Die Diskrepanz ist auffallend. Stuttgart ist ganz beschei-den: Dort bekommen die ehrenamtlichen Feuerwehrmän-ner bloß 12 DM pro Stunde und entsprechend auch einengeringeren Beitrag über das Jahr gerechnet.Das heißt: Manche Landesregierung müsste sich dochtatsächlich fragen, welchen Begriff sie vom Ehrenamt hatund was sie wirklich regeln möchte.Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Redevor dem Deutschen Feuerwehrtag am 24. Juni dieses Jah-res erklärt,
dass Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätig-keiten künftig bis zu einer bestimmten Höhe steuer- undsozialversicherungsfrei gestellt werden. Das hat er gesagt.Dabei hat er aber auch betont, dass eine solide, tragfähigeLösung wichtiger sei als eine schnelle Lösung.
– Genau, danke.
– Herr Riegert, er hat aber nicht in Aussicht gestellt, dass –was mancher im Sportverein gerne erzählt und was dannspäter als „Lübecker Erklärung“ irgendwo kursiert – dasEhrenamt generell von der Sozialversicherungspflichtauszunehmen ist.In der Enquete-Kommission haben wir zu genau die-sem Problem ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.Daher wundert es mich schon – denn es sind einige Mit-glieder der Enquete-Kommission anwesend, zum Bei-spiel Frau Dött; Herr Riegert, Sie sind ja selbst Stellver-treter –, dass Sie jetzt nicht abwarten, zu welchemfundierten Ergebnis wir gelangen und zu welchen Rege-lungsvorschlägen wir aufgrund der Zusammenstellungen,auch von Professor Igel, schließlich kommen. Das könnenSie offenbar nicht abwarten, weil es Ihnen vielleicht un-bequem ist.
Wir wollen das aber abwarten. Denn wir geben nicht um-sonst Hunderttausende von DM für ein Rechtsgutachtenaus.
Man braucht schon gewissen Sachverstand, um in diesemBereich Arbeitsrecht, Sozialrecht, Zivilrecht und Europa-recht unter einem Dach abwickeln zu können.
Nun komme ich ganz konkret zu Ihrem Gesetzentwurf,damit Sie nicht sagen können, wir machten es uns zuleicht. Ich nenne einfach ein paar Beispiele für Ihre hand-werklichen Mängel: Sie wollen in Ihrem Entwurf durchschriftliches Verlangen möglich machen, dass die Tätig-keit des ehrenamtlich Tätigen als Beschäftigung behan-delt wird. Es ist ganz neu, dass man selbst bestimmenkann, was eine Tätigkeit und was eine ehrenamtlicheTätigkeit ist.
Das gab es im Sozialversicherungsrecht bislang noch nie.
Soll man sich nun darüber freuen? Welche Vorstellungenhaben Sie hierzu? Ich weiß nicht, wie Sie schäumen wür-den, wenn sich die Gewerkschaften zu Wort meldeten.Ihr Gesetzentwurf soll es ferner ermöglichen, dass dieLänder bestimmen, was Ehrenamt ist und wer als ehren-amtlich Tätiger einzustufen ist. Ich kann mir vorstellen,welch inflationäre Ausmaße die Definition des Ehrenam-tes und die entsprechende Abrechnung als ehrenamtlichTätiger dadurch je nach Bundesland annehmen. Das Glei-che gilt für die Koppelung der Höhe des Entgelts an dasVorliegen einer Beschäftigung. Sie haben wahrscheinlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ute Kumpf11942
noch immer nicht begriffen, dass eine Beschäftigung da-von abhängt, ob Weisungsgebundenheit und dieEingliederung im Betrieb vorliegen. Dabei geht es weni-ger um die Höhe des Entgelts. Auch hierzu müssten Sievielleicht noch ein paar Nachhilfestunden nehmen, umdies richtig einordnen zu können.Ich frage mich: Wie wollen Sie einer Verkäuferin odereiner Krankenschwester, die halbtags arbeitet, um Zeit fürdie Betreuung ihrer Kinder zu haben, und die sich viel-leicht auch noch im Elternverein engagiert, erklären, dassein nebenberuflich tätiger Feuerwehrmann, der 2 000 DMerhält, keinen Pfennig an Sozialversicherungsbeiträgenzahlt?Wie wollen Sie erläutern, dass eine Entschädigung von17DM in der Stunde – das ist bei der Feuerwehr gar nichtsSeltenes – mit einer Bezahlung nichts zu tun haben sollund somit auch nicht herangezogen wird? Sie haben da-rüber hinaus vergessen, das Steuerrecht in Ihren Gesetz-entwurf mit einzubeziehen.Ich habe genügend Belege dafür aufgezeigt, dass die-ser Gesetzentwurf mit heißer Nadel gestrickt wurde. Un-ter uns heißt es, Sie wollten nach dem Deutschen Feuer-wehrtag wahrscheinlich nur die Lufthoheit über dieStammtische gewinnen, damit Sie hier entsprechendPunkte machen können. So geht es nicht.
Ich habe nichts gegen die Feuerwehr. Auch ich werde,wie alle anderen, eingeladen, wenn Feuerwehrfeste statt-finden.
– Ich bin gerne dabei, und die Leute sprechen sogar mitmir.Ich möchte aber auf einen anderen Bereich hinweisen– ich möchte die Feuerwehrleute gar nicht diskreditieren;mir geht es um eine sachgerechte und sozial gerechte Be-handlung dieses Themas –: Es gibt sehr viele Beschäf-tigte, die in karitativen und gemeinnützigen Einrichtun-gen ehrenamtlich tätig sind und die auf den sozial-versicherungspflichtigen Schutz warten, weil sie sichRentenpunkte erarbeiten möchten. Ein Großteil dieserBeschäftigten sind Frauen. Wir werden immer wieder, ge-rade von diesen Frauen, mit Forderungen konfrontiert,dass hier eine Verbesserung der sozialversicherungsrecht-lichen Absicherung vorgenommen werden muss, damitsie vor allem im Hinblick auf die Alterssicherung Punktemachen können. Auch dieses Anliegen müssen wir bei ei-ner Neuregelung berücksichtigen.Ich komme zum Schluss zu dem, was wir wollen:
Ihren Entwurf wollen wir nicht – das kann ich jetzt schonsagen –, weil er einfach zu kurz greift. Wir wollen als SPDeine Lösung für bürgerschaftliches Engagement, durchdie zunächst einmal die Engagierten geschützt werden.
Sie kennen die Haftpflichtprobleme und all die anderenProbleme, die mit der ehrenamtlichen Tätigkeit zusam-menhängen. Dies sind auch die Anliegen, die die Enga-gierten an uns herantragen. Wir wollen natürlich, dass die-jenigen, die sich engagieren, keinen Nachteil erleidenoder sogar noch Geld mitbringen müssen. Dies müssen sieaber in manchen Vereinen. Dies ist ganz unabhängig vonIhrer Geschichte mit der Feuerwehr.Wir wollen dafür Sorge tragen, dass derjenige, der sichehrenamtlich betätigt, eine entsprechende Anerkennungerfährt. Wir wollen auch Formen der Anerkennung undder Förderung entwickeln. Ein türkischer Kollege hat zumir einmal gesagt: Ute, die Medaille, die ich bekommenhabe, ist für mich eine seelische Streicheleinheit. Anderehaben gesagt: Nein, ich will lieber ein Mittag- oderAbendessen mit meinem OB oder vielleicht auch mitGerhard Schröder. Die Formen der Anerkennung könnensehr unterschiedlich sein. Daran müssen wir arbeiten. Ge-rade in Baden-Württemberg haben wir schon sehr viel indieser Richtung entwickelt.Wir arbeiten in der Enquete-Kommission an einer um-fassenden und fundierten Lösung. Auch – hören Sie gutzu, das gilt auch für die linke Seite des Hauses – der Bun-deskanzler arbeitet an einer Lösung. Er hat ja auch etwasversprochen.
Im Bundeskanzleramt wird auch entsprechend an Lösun-gen gearbeitet. Es werden Dialoge mit den Verbänden ge-führt,
damit man an dieser Stelle vorankommt.Sie sind herzlich eingeladen,
in der Enquete-Kommission auf einer fundierten, auf Gut-achten beruhenden Basis an einer sachgerechten und se-riösen Lösung für ehrenamtlich Tätige zu arbeiten. Dassind wir alle diesen Menschen schuldig.Willy Brandt hat einmal gesagt, dass die Menschen einRecht darauf haben, mit Liebe und Sorgfalt behandelt zuwerden. Das würde ich mit unserer Partei auch gerne ma-chen.Danke schön.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ute Kumpf11943
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kumpf,Sie haben gerade von dem Gesetzentwurf als einem Ge-setzentwurf geredet, der mit heißen Nadeln gestricktwurde. Ich erinnere mich an ein Gesetz, das mit sehrheißen Nadeln gestrickt wurde. Darauf beruht doch derganze Schlamassel, über den wir hier diskutieren.
Wir erinnern uns alle noch sehr gut daran, wie dieseNeuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-nisse zustande kam, welches Chaos das damals war. AmAnfang dieser Debatte muss man festhalten: Hätten Siediesen Unsinn nicht gemacht, müssten wir darüber jetztnicht diskutieren. Wir diskutieren heute nur über einekleine Facette des gesamten Problems.
Angesichts Ihrer Zwischenrufe und Reaktionen frageich mich, ob Sie überhaupt schon einmal mit Vertreternder Vereine draußen geredet haben,
ob Sie wissen, was dort im Augenblick los ist.
– Ihr Verhalten ist schon faszinierend und ich frage mich,was die Betroffenen, die diese Debatte sehen, davon hal-ten werden. Wenn ich in die Vereine – egal, ob Musik-oder Sportvereine – komme, sagen mir die ehrenamtlichTätigen ständig: Ich mache das nicht mehr, weil der büro-kratische Aufwand zu groß geworden ist, weil niemandmehr durchblickt.
– Herr Kollege Dreßen, Sie können ruhig dazwischen ru-fen, aber es wäre vielleicht vernünftiger, wenn Sie bei derSache bleiben
und auch darüber reden würden, was auf Vereinsseite ei-gentlich los ist. Wenn ich zu Vereinen komme, ist die ersteAufforderung, wenn es um politische Maßnahmen geht,immer die nach der Aufhebung der 630-Mark-Regelung.Sie sagen: Wir können nicht mehr, wir können diesenbürokratischen Aufwand nicht mehr bewältigen.
Jetzt müssen wir dies in einen breiteren Rahmen stel-len. Wir reden viel über bürgerschaftliches Engagement.
Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir verschiedeneBlickrichtungen haben. Es gibt im Augenblick eine Ent-wicklung, die in erster Linie von Ihnen ausgeht, nämlicheine Verlagerung weg von der institutionellen Förderunghin zur Projektförderung. Beides ist ehrenamtliches En-gagement. Beides ist wichtig. Aber wenn wir dort kappen,wo Strukturen bestehen, wenn wir in Sport-, in Musikver-einen und anderen Bereichen eingefahrene Strukturennicht mehr unterstützen und mit solchen Gesetzen nocherschweren, dann werden wir wesentlich mehr kaputtma-chen als auf der anderen Seite gewinnen.Ich nenne Ihnen einen zweiten Punkt. Frau KolleginKumpf, Sie haben von der Enquete-Kommission geredet.Sie wissen wohl auch, dass einige Verbände für die An-hörung mit Mehrheit wieder gestrichen wurden. Hier wirdgrüne Klientel bedient. Hier macht man eine Gruppenthe-rapie.
– Schauen Sie sich doch einmal an, wen Sie gestrichenhaben. Sie haben zum Beispiel die großen Musikver-bände nicht eingeladen. Das sind 20 000 Orchester und50 000 Chöre. Diese werden in der Anhörung nicht zuWort kommen. Sie sind nicht einmal bereit, deren Pro-bleme zur Kenntnis zu nehmen. Das ist doch der Fakt, umden es hier geht.
Ich halte gerade in der heutigen Zeit Vereine für wich-tiger, als es jemals der Fall war. Vereine erfüllen Aufga-ben, die niemand sonst erfüllen kann. Dabei geht es um ei-nen Bereich des Ehrenamts und des bürgerschaftlichenEngagements, der bei Ihnen in der Diskussion viel zu kurzkommt. Dort werden junge Leute integriert. Dort lernenjunge Leute, wie man Kompromisse schließt, wie man zuEntscheidungen kommt und wie man sich einfügt.Fragen Sie doch die Sportvereine, die Musikvereineund andere kulturelle Einrichtungen. Diese werden Ihnendann sagen: Wir haben mehr und mehr Nachwuchspro-bleme, und zwar nicht in der Ausübung von Sport oderMusik. Dort haben wir eine riesige Bewegung und einengroßen Zuwachs an Jugendlichen. Aber wir haben Pro-bleme in dem Bereich, in dem es um Funktionen geht. Esfehlen ein Kassierer und ein Vorstand, weil die Leute sa-gen: Diesen Zauber mache ich nicht mehr mit.Das ist eine Tatsache. Ich finde es schon seltsam, FrauKumpf, dass Sie über diesen Bereich überhaupt nicht re-den. Das trifft natürlich auch auf Organisationen wie diefreiwillige Feuerwehr zu. Ich sage Ihnen: Es wird dieFeuerwehr sehr trösten, wenn Schröder kommt und ver-spricht, etwas zu tun. Dann können sie ein, zwei oder dreiJahre warten. Das Haus brennt bereits. Jetzt müssen Sielöschen und nicht erst dann, wenn alles niedergebrannt ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011944
– Herr Dreßen, ich frage mich wirklich: Mit wem redenSie und mit wem reden wir?
Sie von der Enquete-Kommission haben Fragebögenauch an die Verbände verschickt, die Sie nicht anhörenwollen. Ich war zum Teil dabei. Ich habe mir Fragebögenangeschaut. Der erste Punkt, der bei der Beantwortung derFragebögen von allen genannt wurde, war die 630-DM-Regelung.
– Das ist ein Problem. Selbstverständlich stimmt das.Schauen Sie sich das bitte einmal an. Aber Sie wollen dieVerbände ja noch nicht einmal anhören.Ich komme zum Antrag der CDU/CSU.
Herr Kollege
Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Kumpf?
Aber selbstverständlich,
gerne.
Herr Kollege Burgbacher, sind Sie
bereit, damit Sie auf dem neuesten Informationsstand sind
und damit Sie wissen, was in der Enquete-Kommission
passiert und welche Anhörungen wir am 12. und 13. No-
vember dieses Jahres durchführen, zu gewährleisten, dass
die F.D.P. parlamentarisch entsprechend vertreten ist?
Frau Kollegin Kumpf,
ich rede nicht von der F.D.P., sondern von den großen Ver-
bänden. Diese Verbände, die zum Teil auf der Liste waren,
sind von Ihnen mit Mehrheit gestrichen worden. Darum
geht es. Das sind Verbände, die über 1 Million Mitglieder
und zigtausend ehrenamtlich Tätige repräsentieren.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Kumpf?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie auf dem ak-
tuellen Stand darüber, dass am 12. und 13. Novem-
ber 2000 die Enquete-Kommission eine Anhörung mit
ganz traditionellen und klassischen Verbänden durch-
führt? Zweite Frage: Wissen Sie auch, dass ein Fragebo-
gen an – ich weiß es nicht genau – 300 Verbände ver-
schickt wurde
– 140? Ich habe eine größere Zahl im Kopf –, die ihre Be-
dingungen darstellen können, wie sich das Ehrenamt
strukturell entwickelt und wie die Zukunft ist? Haben Sie
davon vielleicht schon gelesen? Diese Unterlagen müss-
ten Ihrer Faktion vorliegen. Wenn ja, dann könnten Sie
nämlich die Behauptung, die Sie aufstellen, nicht machen.
Lesen können Sie doch, oder?
Verehrte Frau Kollegin
Kumpf, ich kenne diese Fragebögen. Ich habe gerade ge-
sagt: Ich war bei ihrer Beantwortung zum Teil dabei und
habe mir die Antworten angeschaut. Ich bin nämlich
– vielleicht im Gegensatz zu Ihnen – im Verbandswesen
ziemlich engagiert.
Mein Verband hat auch einen solchen Fragebogen be-
kommen. Ich sage Ihnen aber auf der anderen Seite auch,
dass Sie zum Beispiel große Verbände der Laienmusik mit
der Mehrheit von Rot-Grün gestrichen haben; unsere
Fraktion hatte deren Anhörung beantragt. Das ist Fakt und
das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
– Ja, das ist der aktuelle Stand und ich kenne die Frage-
bögen natürlich sehr gut.
Ich bitte, hier in diesem Hause zu einem Konsens zu
kommen. Wir sind im Augenblick dabei, durch die Rege-
lungen, die Sie gemacht haben, die Arbeit vieler ehren-
amtlicher Bereiche erheblich zu erschweren. Die CDU hat
hier einen Antrag vorgelegt. Ich sage noch einmal un-
missverständlich: Unsere Linie war immer: Die 630-
Mark-Geschichte muss weg. Da ich aber weiß, dass bei
der rot-grünen Mehrheit die Meinung vorherrscht „Augen
zu und durch“ und keine Chance besteht, diese Meinung
zu ändern, werden wir den Antrag der CDU unterstützen.
Wir sehen das als einzige Möglichkeit, in diesem Punkt
weiterzukommen und die Vereine ein Stück weit zu entlas-
ten. Wir müssen die Menschen wieder motivieren, in den
Vereinen Verantwortung zu übernehmen. Hier sehe ich in
vielen Bereichen – mir tut es Leid, wenn Sie die Erfah-
rung nicht haben; dann sind Sie in Vereinen nicht aktiv
tätig – erhebliche Schwierigkeiten. Ich bitte Sie von Rot-
Grün wirklich herzlich, diese Tatsache wenigstens einmal
zur Kenntnis zu nehmen.
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! „Ehrenamt“ steht über dem Antrag, aber wir habenwieder gehört: „630 DM“ ist drin. Ich denke, es ist einfach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Ernst Burgbacher11945
Etikettenschwindel, unter dem diese Debatte hier geführtwird.
Zum wiederholten Male mit dem gleichen Inhalt dasgleiche alte Spiel: Sie wollen mit einem populistischenAufhänger wieder gegen das 630-Mark-Gesetz vorgehen.Der Auslöser ist die Frage, ob zum Beispiel die freiwilligeFeuerwehr ihre Aufwandsentschädigungen, die zum Teilbis zu 2 000 DM im Monat umfassen,
sozialversicherungspflichtig machen soll oder nicht. Dasist die Frage, um die es geht.
Ich sage das noch einmal ganz deutlich an Ihre eigenenReihen; denn offenbar wissen die Kollegen von derCDU/CSU noch gar nicht, dass es sich beispielsweise umGrößenordnungen von bis zu 2 000 DM handelt, über diewir hier reden. Ich denke, in diesem Zusammenhang istschon die Frage zu stellen, ob das Ganze sinnvoll und ge-recht ist.
Wir müssen uns – die Frage wurde hier zu Recht aufge-worfen – der Auseinandersetzung stellen, was zum Bei-spiel eine Verkäuferin mit einem gleichen Einkommen zudiesem Sachverhalt sagen würde.Es ist richtig, dass die Unterscheidung zwischen einerBerufstätigkeit, einer sozialversicherungspflichtigen Tä-tigkeit und dem Ehrenamt an vielen Stellen eine sehrschwierige Unterscheidung ist. Aber es muss eindeutigklar sein, dass wir nicht von der subjektiven Befindlich-keit der betroffenen Personen abhängig machen können,ob eine Tätigkeit sozialversicherungspflichtig ist odernicht und wie man sich selber in der Frage einschätzt, eh-renamtlich tätig zu sein oder nicht. Aber genau das ver-langen Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Ich finde, das gehtvollständig an der Realität vorbei. Dem können wir beimbesten Wissen und Gewissen nicht folgen.Natürlich ist es so, dass die Definition des modernenEhrenamtes und vor allen Dingen die Suche nach einerAbgrenzung, um die Förderung des bürgerschaftlichenEngagements voranzubringen, eine ganz zentrale sozial-politische Aufgabe ist. Es ist eine zentrale Frage, wie weites uns in Zukunft gelingt, bürgerschaftliches Engagementvoranzutreiben, das wir für einen lebendigen Sozialstaatbrauchen. Aber genau diesem Problem, meine Damen undHerren von der CDU, wird Ihr Antrag, der sich allein umdie Problematik der 630-DM-Beschäftigungsverhältnisserankt, nicht gerecht. Sie bieten keine Lösung an, sondernmöchten eine populistische Debatte, auf die wir uns nichteinlassen wollen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die grundsätzli-che Frage, ob es einen Sinn macht, bürgerschaftliches En-gagement grundsätzlich von der Sozialversicherungs-pflicht zu befreien, wie Sie es hier fordern, oder ob esnicht möglicherweise viel sinnvoller, unterstützender undAnerkennung bringender für die Betroffenen ist, wennauch diese Tätigkeiten einem sozialen Schutz unterliegen.Diese Diskussion müssen wir führen. Ich will die Fragehier nicht beantworten; denn so schnell, wie Sie mit derLösung bei der Hand sind,
sind diese Probleme nicht zu lösen. Es sind vielleichtandere Personengruppen, über die wir reden; es isteben nicht der Feuerwehrkommandant mit monat-lich 2 000 DM, sondern es sind andere Personengruppenmit anderen Beschäftigungsverhältnissen. Diese Fragenmüssen geklärt werden und sie lassen sich nicht so einfachmit einem Schnellschuss klären, wie Sie es mit Ihrem An-trag versucht haben. Wir müssen sie in der Enquete-Kom-mission klären und deswegen ist diese auch eingerichtet.Die Diskussion um das 630-DM-Gesetz hilft uns hierüberhaupt nicht weiter. Gleichwohl haben wir in diesemZusammenhang etwas getan, was Sie in der Vergangen-heit nicht in Angriff genommen haben: Wir habenbeispielsweise die Übungsleiterpauschale auf 3 600 DMheraufgesetzt
und Sie wissen ganz genau, dass damit Hunderttausendenvon ehrenamtlich Tätigkeiten in sehr vielen Vereinen undOrganisationen aus den Bereichen des Sports, der Kirche,der Jugendarbeit, der Arbeit mit Kindern, des Katas-trophenschutzes, des Umweltschutzes, des Tierschutzesund überall ein großer Dienst erwiesen und eine große Er-leichterung verschafft wurde. Sie dagegen kümmern sichmit Ihrem Ansatz um eine bestimmte Gruppe, insbeson-dere um die Feuerwehr
und die Bürgermeister. Ich finde, das wird der Thematikin keiner Weise gerecht.
Man muss sich wirklich die Frage stellen – man mussdas Problem auch offen diskutieren –: Wann steht dieHöhe einer Aufwandsentschädigung noch im vernünfti-gen Verhältnis zu dem geleisteten Aufwand? Ich finde, esliegt auf der Hand, dass ab einer bestimmten Höhe nichtvorschnell von einem Anerkennungsobolus gesprochenwerden kann, wie Sie das tun. Das kann man nicht und daswird auch der Arbeit der freiwilligen Feuerwehr über-haupt nicht gerecht. Deswegen sollten wir uns ganz ge-lassen und ruhig der schwierigen Arbeit der Enquete-Kommission stellen und die vielen Anhörungen, die dort
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Thea Dückert11946
in Zukunft stattfinden werden, auswerten, bevor wir sol-che kleinen Kurzlösungen für einen Teilbereich zur De-batte stellen.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich verstehe die Hektik und
die Aufgeregtheit nicht. Ich stelle mir vor, was geschähe,
wenn 22 Millionen ehrenamtlich Tätige mit ihren Proble-
men so hektisch umgehen würden. Wir hätten in unserem
Land ein Chaos.
Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf und hatten im
April einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Über-
schrift „Belastung für das Ehrenamt zurücknehmen“ vor-
liegen; der Inhalt war in beiden Fällen der gleiche. Wir
hatten einen Antrag der Bayerischen Staatsregierung vom
Juli zum gleichen Thema und haben jetzt wieder einen
Gesetzesentwurf in diesem Bereich. Ich gebe den Kolle-
gen Recht, die gesagt haben, Sie würden die Steine ei-
gentlich auf das 630-DM-Gesetz werfen. Dann werfen Sie
doch die Steine und stellen Sie einen entsprechenden An-
trag, nehmen Sie aber nicht das Ehrenamt dafür als
Ausfallbürgen.
Wissen Sie, ich habe mit dem Inhalt Ihres Antrags in-
sofern kein Problem, als ich meine, dass die Forderung,
das Ehrenamt zu stärken, in die richtige Richtung geht.
Aber das, was Sie vorgelegt haben, wird doch dem Eh-
renamt nicht gerecht. Sie haben diejenigen im Auge, die
eine Aufwandsentschädigung bekommen. Ich hingegen
habe die Mehrheit der Ehrenamtlichen vor Augen, die gar
nichts erhalten. Wir müssen uns einmal Gedanken darü-
ber machen, was wir mit denen machen. Sie wollen denen,
die schon etwas erhalten, mehr geben, und diejenigen, die
nichts haben, sollen weiterhin nichts erhalten.
Die Arbeit der Enquete-Kommission spielt eine wich-
tige Rolle. Ich glaube, dass damit deutlich geworden ist,
welchen Stellenwert die jetzige Regierungskoalition dem
Ehrenamt einräumt. Die Enquete-Kommission hat eine
große Bedeutung. Sie hat hart gearbeitet – das kann ich sa-
gen –, auch wenn die Ergebnisse noch nicht vorliegen;
aber sie kommen.
Lassen Sie beispielsweise einmal die Dialogveranstal-
tung, die wir durchgeführt haben, Revue passieren. Dort
haben Vertreter von Arbeitslosenorganisationen gespro-
chen. Da erhält das Gros Lohnersatzleistungen, sprich: 53
bis 67 Prozent. Sie erhalten keine Aufwandsentschädi-
gung. Sie fahren im ländlichen Bereich herum, um ihre
ehrenamtliche Tätigkeit auszuüben, und bezahlen das al-
les aus eigener Tasche. Sie können das Ehrenamt gar nicht
bezahlen. Daher müssen Sie sich einmal fragen, wie das
differenziert werden kann. Gebe ich den Feuerwehrleuten
mit einem Einkommen von 3 000 DM
noch die Möglichkeit einer Steuerentlastung, oder muss
nicht irgendwo eine Linie eingezogen werden, die deut-
lich macht, dass Aufwandsentschädigungen – die durch-
aus berechtigt sind; damit habe ich kein Problem – nicht
zum Verschiebebahnhof für nicht gezahlte Steuern aus an-
deren Bereichen werden?
Die Abgrenzung ist durchaus schwer; das gebe ich zu.
Es ist nicht von heute auf morgen möglich – wir befassen
uns ja damit –, zwischen 630-Mark-Jobs und Ehrenamt in
jedem Falle eine deutliche Unterscheidung zu treffen.
Kollege Strebl, ich schätze Sie ja. Aber zu sagen, den
Ehrenamtlichen würden Steine statt Brot gegeben, ist
nicht die richtige Antwort auf die anstehende Frage. Wenn
wir etwas verbessern wollen, dann braucht es viel Geduld,
weil die Lösung immerhin 22 Millionen Menschen dieses
Landes betrifft. Wenn wir dabei daneben tappen, dann ha-
ben wir es wahrscheinlich mit sehr viel größeren Proble-
men zu tun, als wenn wir die Leute noch ein halbes Jahr
lang mit der weniger befriedigenden Lösung leben lassen.
Lassen Sie uns also in den Ausschüssen darüber reden,
in welcher Weise der von Ihnen vorgelegte Entwurf so
weiterentwickelt werden kann, dass er dem Anliegen,
dem wir alle folgen – ich unterstelle Ihnen, dass Sie etwas
Gutes für das Ehrenamt wollen, dass Sie es schützen wol-
len –, gerecht wird. Der nunmehr vorgelegte Entwurf wird
dem Anliegen aber nicht gerecht.
Sie müssen, wie gesagt, klar und deutlich definieren,
ob die Regelung, die Sie angeführt haben, nämlich ein
Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialge-
setzbuch IV, das Nonplusultra ist oder nicht. Darüber
muss man einmal reden. Genauso müssen wir einmal über
andere Methoden sprechen – es sind schon ein paar ge-
nannt worden, etwa der Rentenpunkt –, durch die erreicht
werden kann, dass das Ehrenamt nicht nur im ideellen,
sondern auch im materiellen Bereich den ihm gebühren-
den Stellenwert erhält. Dazu brauchen wir etwas mehr
Zeit, als Sie sich genommen haben. Sie hatten Zeit. Aber
Sie haben die Zeit nicht genutzt, um neue Ansätze zu fin-
den; vielmehr haben Sie die Zeit darauf verwandt, sich zu
wiederholen, und wenn man sich wiederholt, wird es nicht
besser.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Thea Dückert11947
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Es geht überhaupt nicht um das 630-Mark-Gesetz.Es geht Ihnen auch nicht um das Ehrenamt. Ihnen geht esdarum, das deutsche Sozialversicherungsrecht aus-zuhöhlen.
Das ist das, was hinter diesem Antrag steckt.Das wird dem Engagement der mehr als 22 MillionenMenschen in Deutschland überhaupt nicht gerecht, die inihrer Freizeit Dienst für die Gesellschaft leisten und damitzu einer der wichtigsten Säulen unserer demokratischenStruktur geworden sind. Wir können auf den Einsatz die-ser Menschen nicht verzichten. Wir müssen ihnen heuteAbend auch einmal ein großes Dankeschön für ihren Ein-satz und für ihre Arbeit sagen.
John F. Kennedy hat einmal gesagt: „Wer Verantwor-tung für die Gesellschaft übernehmen will, muss bereitsein, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.“
Deswegen komme ich auf das zurück, was die ehemaligeBundesregierung auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion 1996 geantwortet hat:Die fließenden Übergänge zwischen unbezahlter eh-renamtlicher und bezahlter Arbeit, das heißt, zwi-schen Ehrenamt und nebenberuflicher bzw. haupt-amtlicher Tätigkeit, ... führen bei der Beantwortungeinzelner Fragen zu Unschärfen.Recht hat sie; es führt zu Unschärfen.Weiter hat die damalige Bundesregierung in ihrer Ant-wort ausgeführt:Insgesamt ergibt die Auswertung der Umfrage beiden Trägern ehrenamtlicher Arbeit, dass in der Frageder Erstattung Unterschiede bestehen, dass aber derweitaus überwiegende Teil der Ehrenamtlichen ohnejegliches Entgelt oder mit nur geringen Kostenerstat-tungen oder Aufwandsentschädigungen arbeitet.Meist decken diese Erstattungen den Kostenaufwandnur zum Teil ab.
Ich habe vor gut einem Jahr mit einer Gruppe ehren-amtlich tätiger Bürgerinnen und Bürgern, die als Besu-chergruppe zu mir in den Bundestag gekommen waren,über dieses Thema sehr ergiebig diskutiert. Wir haben amBeispiel einer ehrenamtlichen Führungskraft der freiwil-ligen Feuerwehr genau über diese Frage diskutiert, die Siejetzt so in den Mittelpunkt stellen. Nach 20 Minuten sagtejemand von der „Tafel“, also von einer Vereinigung, dieLebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist,einsammelt, um sie an Bedürftige zu verteilen: Momentmal! Worüber reden wir eigentlich? Wir machen alles frei-willig, und zwar ohne Bezahlung. Wieso streiten wir unsdann darüber, ob es dafür Geld geben soll? Damit wurdendas Spannungsfeld und die großen Unterschiede deutlich,die es zwischen den auf verschiedene Art und Weise eh-renamtlich tätigen Menschen gibt.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal aufdie Antwort der ehemaligen Regierung auf die Große An-frage der CDU/CSU-Fraktion zurückkommen:Kostenerstattungen oder Aufwandsentschädigungenstehen der Ehrenamtlichkeit grundsätzlich nicht ent-gegen. Es entstehen jedoch Abgrenzungsprobleme,zum Beispiel wenn die finanzielle Anerkennung eh-renamtlicher Arbeit ein Ausmaß erreicht, bei demnicht mehr von Unentgeltlichkeit gesprochen werdenkann, sondern von nebenberuflicher Erzielung vonEinkünften. Insbesondere die Unentgeltlichkeit machtden Wert des Ehrenamtes aus. Die fließenden Über-gänge zwischen unbezahlter ehrenamtlicher und be-zahlter Arbeit, das heißt zwischen Ehrenamt undnebenberuflicher bzw. hauptamtlicher Tätigkeit, aberauch die fließenden Grenzen zwischen Selbsthilfeund Ehrenamt führen bei der Beantwortung einzelnerFragen eben wieder zu Unschärfen.Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Dieses Problem lässtsich nicht so einfach lösen. Sie müssen zur Kenntnis neh-men, dass sich die Sozialversicherungspflichtigkeitdanach bestimmt, ob sich eine Tätigkeit nach dem Sozial-versicherungsrecht als Beschäftigung gegen Entgelt dar-stellt. Die Beurteilung obliegt den Sozialversicherungs-trägern und richtet sich nach der Rechtsprechung in derBundesrepublik Deutschland und nach den Kriterien, dieden Begriff des Beschäftigungsverhältnisses definieren.Wie sieht die Realität in diesem Land aus? Es gibtÜbungsleiter, die nach dem Sozialversicherungsrecht alsnicht selbstständig Tätige angesehen werden, und es gibtÜbungsleiter – jene, die im Verein nicht mehr als sechsStunden unterrichten – die nach dem Steuerrecht alsselbstständig Tätige angesehen werden. Eine einheitlicheBehandlung im Sozialversicherungsrecht und im Steuer-recht wollen auch wir. Wir arbeiten an diesem Fall.Nun zu den ehrenamtlichen Führungskräften der frei-willigen Feuerwehr: Die Spitzenverbände der Sozialver-sicherung sagen – unter Bezugnahme auf die Führungs-kräfte der bayerischen Feuerwehren –, diese seien nach§ 7 Abs. 1 SGB IV sozialversicherungspflichtig, weil sieBeschäftigte der Kommunen sind.Es gibt die ehrenamtlich Tätigen in der Kommunal-politik, zum Beispiel die ehrenamtlich tätigen Bürger-meister, die eine Aufwandsentschädigung erhalten. Dazusagt zum Beispiel die Landesversicherungsanstalt Schles-wig-Holstein: Die hauptamtlich tätigen Bürgermeistermachen überwiegend Verwaltungsarbeit. Deshalb ist das,was sie bekommen, sozialversicherungspflichtig. Aberdie ehrenamtlich tätigen Bürgermeister üben überwie-gend repräsentative Tätigkeiten aus. Deshalb ist das, wassie bekommen, sozialversicherungsrechtlich freigestellt.Gleichzeitig geben alle Beteiligten zu: Bei den Amtsvor-stehern haben wir das noch nicht so genau geklärt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011948
Das alles führt dazu, dass die Fragen der Sozialversi-cherungspflichtigkeit und des Steuerrechts, die sich in denunterschiedlichen Bereichen der ehrenamtlichen Tätig-keit stellen, bei denen, die über sie entscheiden müssen,strittig sind. Darüber gehen Sie mit Ihrem Antrag einfachhinweg und tun so, als wenn Sie die Weisheit gefundenhätten.Über welche Begriffe reden wir? Wir reden überselbstständige und nicht selbstständige Beschäftigung,über steuerpflichtige und nicht steuerpflichtige Auf-wandsentschädigung, über Kostenerstattung, überÜbungsleiterpauschalen und – das ist der Gipfel – sogarüber Anerkennungshonorare. Dagegen kann eigentlichniemand etwas haben. Aber Honorare haben immer etwasmit Bezahlung zu tun: An dieser Stelle kann ich Sie des-wegen nur daran erinnern, dass es die jetzige Koalitionwar, die mit dem 630-DM-Gesetz festgelegt hat, dassim Sozialversicherungsrecht Aufwandsentschädigungenüberhaupt beitragsfrei sind. Das wissen Sie ganz genau.Versuchen Sie nicht, hier einen Popanz aufzubauen!
Ich komme nun zu Ihren Vorschlägen, die Sie nieder-geschrieben haben. Erstens. Sie sagen, was eine ehren-amtliche Tätigkeit sei, solle auf Länderebene geregeltwerden. Was hat das für Folgen? – Das führt in den ein-zelnen Ländern von Schleswig-Holstein bis nach Bayernzu Unterschieden in der Behandlung, wer ehrenamtlichtätig ist und wer nicht. Eine solche Rechtszersplitterung indiesem Lande kann doch keiner wollen. Dies würde zu-nehmend Gefahren der rechtlichen Auseinandersetzungbergen; das wollen wir nicht. Sie bieten damit eineScheinlösung.
Zweitens. Sie wollen, dass sogar Tätigkeiten in Par-teien, in Gewerkschaften, in karitativen Organisationen,im kirchlichen Bereich von dieser Verpflichtung befreitsind. Der begünstigte Personenkreis ist dann sogar sogroß – daran will ich Sie erinnern –, dass im Zweifelsfalljemand, der für Scientology oder für die NPD als Partei-funktionär ehrenamtlich tätig ist, von der Sozialversiche-rungspflicht freigestellt wird. Das ist eine Scheinlösung.
Drittens. Sie fordern, dass der Einzelne ein Wahlrechthaben soll, wann die ehrenamtliche Tätigkeit versiche-rungsfrei und wann versicherungspflichtig ist. Das kannman doch nicht dem Einzelnen überlassen. Dafür habenwir in Deutschland geltende Regelungen. Das wider-spricht dem System, dass nach dem Sozialversicherungs-recht bestimmt wird, was sozialversicherungspflichtig istund was nicht. Das, was Sie in diesem Bereich anbieten,ist eine Scheinlösung.Viertens. Sie geben die Parallelität zwischen Steuer-recht und Sozialversicherungsrecht auf. Sie versuchen,sich auch hier zu verabschieden und bieten nichts anderesals eine Scheinlösung.Wegen all diesen Punkten habe ich durchaus Verständnisdafür, dass die deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbändemit über 2 Millionen Ehrenamtlichen und 380 000 Haupt-amtlichen das ablehnen und sagen, Ihre Regularien führ-ten im Gegenteil dazu, dass – 630 DM plus 300 DMÜbungsleiterpauschale – am Ende im NiedriglohnbereichBilligarbeit ohne Sozialversicherungspflicht möglichwird. Auch das ist eine Scheinlösung.
Abschließend möchte ich sagen: Meine KolleginKumpf hat deutlich formuliert, was alles geleistet wordenist. Es ist erreicht worden, dass ehrenamtliche Tätigkeitbei den Übungsleitern und bei einem erweiterten Perso-nenkreis steuerlich wieder so begünstigt wird – dieGrenze stieg von 2 400 DM auf 3 600 DM–, dass man denAnsprüchen der Ehrenamtlichen in diesem Hause erst-mals wieder ein Stück weit gerecht geworden ist.Das, was Sie vorgelegt haben, produziert lediglichneue Ungerechtigkeiten. Es ist unpräzise, es ignoriert gel-tendes Recht. Ich sage es noch einmal: Ich werde den Ver-dacht nicht los, als sollten hier bayerische Pfründe gesi-chert werden und als würde hier der Schwanz mit demHund wedeln oder, besser gesagt, die CSU mit der CDU.Das lassen wir mit uns nicht machen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. – Die meisten Ehrenamtli-
chen lassen sich von der Politik, die Sie machen, nicht be-
einflussen. Ich möchte Ihnen nur mit Ihrer Antwort auf die
Große Anfrage antworten:
Die Bundesregierung ist der Überzeugung
– so lautet der letzte Satz der Anfrage –
dass eine Diskussion über eine finanzielle Förderung
des Ehrenamtes am Ende dem Ehrenamt sogar scha-
det. Diese Auffassung wird von vielen Verbänden
und Organisationen ausdrücklich geteilt. Es darf
nicht die Erwartung geweckt werden, als wäre am
Ende die bezahlte ehrenamtliche Arbeit möglich. Eh-
renamtliche Arbeit muss mehr Anerkennung finden.
Dem kann ich nur Recht geben und schließe mit den
Worten von John F. Kennedy: „Frag nicht, was das Land
für dich tun kann, frage, was du für das Land tun kannst.“
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Franz Thönnes11949
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der vergange-
nen Woche hier im Reichstagsgebäude eine hervorra-
gende Veranstaltung mit ehrenamtlich tätigen Bürgerin-
nen und Bürgern durchgeführt. Es war beeindruckend, mit
welchem Engagement diese Bürgerinnen und Bürger zur
Sache sprachen. Ihr Engagement und ihre Fähigkeit, sich
für andere und für die Gemeinschaft einzusetzen, waren
förmlich spürbar. Es waren vornehmlich Ehrenamtliche,
die in kleinen Einheiten, also eigenverantwortlich und
ohne Unterstützung durch einen großen Apparat, tätig
sind. Es war beschämend zu hören, dass oftmals nicht ein-
mal ein Dankeschön für ihr Engagement übrig blieb. Es
war bedrückend zu hören, welchen bürokratischen Auf-
wand sie in ihrer Freizeit erledigen, wie viel Zeit sie für
Bürokratie aufwenden müssen.
Diese Zeit möchten sie lieber in ihr Engagement investie-
ren. Hier müssen wir helfen.
Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte
Gesetzentwurf zielt auch in diese Richtung: Entbürokra-
tisierung durch Befreiung der Aufwandsentschädigung
ehrenamtlicher Tätigkeit von der Sozialversicherungs-
pflicht. Ehrenamtlich Tätige haben kein Verständnis,
wenn sie für eine pauschale Aufwandsentschädigung von
monatlich 20, 30 oder 100 DM von den Sozialversiche-
rungsträgern zur Kasse gebeten werden.
Sie wollen nicht, dass ihr ehrenamtliches Engagement mit
einer auf Einkommenserzielung ausgerichteten Tätigkeit
gleichgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, ich unterstelle, dass wir alle in diesem Haus die eh-
renamtlich Tätigen stärken wollen. Wir mögen in etwa
dieselbe Zielrichtung haben und nur unsere Wege mögen
sich unterscheiden. Doch wir von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion unternehmen etwas. Wir fordern Sie
durch unsere parlamentarischen Initiativen zur Diskus-
sion heraus. Sie aber stellen sich dieser Diskussion nicht,
Sie weichen ihr aus und verharren vor dem Finanzminis-
ter wie das Kaninchen vor der Schlange, obwohl Sie ge-
nau wissen, dass es Handlungsbedarf gibt.
Aber wenn Sie etwas tun, dann zum Schaden des Eh-
renamts: 630-Mark-Gesetz, Scheinselbstständigkeit und
Ökosteuer.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Nein, ich möchte im Zu-sammenhang ausführen.
Dies alles war für unsere gemeinnützigen Vereine unddie dort ehrenamtlich Tätigen Murks. Das hat zu Belas-tungen und Verärgerungen geführt. Sie wissen das, tunaber kaum etwas, und wenn, dann halbherzig. Wir be-grüßen die Anhebung des steuerlichen Freibetrags aufjährlich 3 600 DM. Doch damit können Sie die Unsittendes 630-Mark-Gesetzes nicht wettmachen.
Sie enttäuschen mich zwischenzeitlich. In den letztenDebatten haben Sie wenigstens noch dazwischengerufen:Was hat denn das 630-Mark-Gesetz mit dem Ehrenamt zutun? Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Ihr bürokratischesMonstrum führt bei den gemeinnützigen Vereinen und Or-ganisationen erstens zu enormen Kostensteigerungen undmacht zweitens ein kompliziertes Lohnbürowissen erfor-derlich. Dies halsen Sie den Ehrenamtlichen auf.
Der ehrenamtliche Vorsitzende, der ehrenamtliche Ge-schäftsführer, der ehrenamtliche Kassierer muss das allesbewältigen und dann auch noch die Kosten dafür auftrei-ben. Das belastet die Ehrenamtlichen.
Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede am 29. Junivon dieser Stelle aus mehr Gemeinsamkeiten in Sachenehrenamtliches Engagement eingefordert. Wir wollendas. Wir sind dabei. Aber – Herr Kollege Schmidt kommtja schon gar nicht mehr zu den Debatten – wie sollen wirzu Gemeinsamkeiten kommen, wenn Sie nichts tun?
– Wilhelm Schmidt war nicht da
und hat auch nicht geredet.Sie haben heute die Gelegenheit, Ihr Angebot in diePraxis umzusetzen. Lehnen Sie nicht einfach ab, stimmenSie zu!
Unser Gesetzentwurf ist gut; die Verbände haben uns dasin der Anhörung bestätigt.
Er kostet Sie wenig. Fast alle Abkassierten haben bereitseinen Schutz durch die Sozialversicherungspflicht. Siewollen keinen zusätzlichen Anspruch erwerben.Wenn wir es mit der großen Bedeutung des ehrenamt-lichen Engagements für unsere Gesellschaft ernst meinen,wenn wir ehrenamtliches Engagement als Fundament un-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011950
serer Gesellschaft verstehen, dann brauchen wir das En-gagement mehr denn je. Unser Fraktionsvorsitzender,Friedrich Merz, hat in einer richtungweisenden Rede zumehrenamtlichen Engagement
von starken Bürgern, von einem starken Staat, von starkengesellschaftlichen Organisationen und von starken Unter-nehmen gesprochen.Stärke des Staats zeigt sich nicht in einem ständigenRegulierungsdrang. Das machen totalitäre Regime, umBürgerinnen und Bürger zu entmündigen. Ein Staat iststark, wenn er die Regelungskräfte den Bürgerinnen undBürger anvertraut, die Bürgerinnen und Bürger ermutigt,mehr Verantwortung zu übernehmen, und wenn er Initia-tiven und freie Vereinbarungen von Bürgerinnen undBürger unterstützt. Deshalb müssen wir bei allen gesetz-lichen Regelungen darauf achten, ob ehrenamtlichesEngagement tangiert wird. Das war eines unserer Anlie-gen beim Einsetzungsbeschluss hinsichtlich der Enquete-Kommission.
Doch auch in diesem Punkt fehlt Ihnen die Entschluss-kraft, das umzusetzen und die Bundesregierung zu for-dern. An dieser Stelle hat diese Bundesregierung nur ne-gative Markierungen gesetzt. Sie belastet ehrenamtlichesEngagement durch eine Fülle kleinkarierter Vorschriften.
Diese Bundesregierung hat sich bis heute nicht zu ge-setzlichen Initiativen zu Aussetzungen der Neuregelun-gen der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbstständigkeit,zumindest für gemeinnützige Vereine, entschließen kön-nen. Diese Bundesregierung hat bis heute nicht darübernachgedacht, wie die Belastungen durch die Ökosteuerfür ehrenamtlich Tätige gemindert werden können. DieseBundesregierung hat bis heute nichts vorgelegt, was Auf-wandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige von derSozialversicherung freistellt.
Aber diese Bundesregierung hat all diesen Unsinn ange-richtet.
Zu unseren Initiativen sagen Sie immer Nein. Odersind Sie etwa der Auffassung, unser Staat könne sich dieseEntlastung nicht leisten? Dann müssen Sie sich aber dieFrage gefallen lassen, wie teuer es für den Staat wird,wenn ehrenamtlich Tätige ihr Engagement einstellen.Dies könnte sich der Staat fürwahr nicht leisten.
Unsere Gesellschaft wäre in der Tat ärmer, vor allem anWärme und Mitmenschlichkeit.Unser rühriger Bundeskanzler hat doch stets ein offe-nes Ohr, wenn dies Schlagzeilen macht: Für den Profi-fußball gibt es sofort einen Termin, für Schumacher sofortein Telegramm, für Holzmänner prompt Millionen. AberEhrenamtliche sind offensichtlich nicht schlagzeilenver-dächtig genug.
Frau Kumpf, Sie haben schöne Reden gehalten, vor Ortden Ehrenamtlichen Versprechungen gemacht. Die Vor-sitzenden der Sportvereine in unserem Kreis warten nochheute auf die von Ihnen versprochenen Verbesserungen.Auch der Bundeskanzler hat beim Feuerwehrtag in Augs-burg Versprechungen gemacht. Bis heute hat er nichts,aber auch gar nichts vorgelegt.
Anhand des Beispiels Feuerwehr möchte ich das erläu-tern. Wir haben soeben einen Feuerwehrkommandantenim Wahlkreis des Kollegen Norbert Barthle angerufen undihn gefragt, mit welcher Aufwandsentschädigung er aus-gestattet werde. Er hat gesagt, dass er als Feuerwehr-kommandant in einer Gemeinde mit 6 000 Einwohnern800 DM bekomme.
– Im Jahr! – Im Jahr bekommt er 800 DM und Sie wollenihm noch die Sozialversicherungspflicht auferlegen.
Ich sage Ihnen noch eines: Ich war in der vergangenenWoche in Schleswig-Holstein, im Bereich Ihres Landes-verbandes, Herr Thönnes.
Dort habe ich mit den Feuerwehren diskutiert. Sie müsseneinfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass es vordergrün-dig vielleicht um die 200, 300 oder 400 DM Aufwands-entschädigung für die ehrenamtlichen Führungskräfte beider Feuerwehr Schleswig-Holstein geht. Aber auch alljene bei der freiwilligen Feuerwehr in Schleswig-Hol-stein, die für ihren Dienst keine einzige Mark bekommen,nehmen diese Diskussion zur Kenntnis und fragen sich:Was ist das für eine Anerkennungskultur, wenn sich unserKommandant, der sich Tag und Nacht oder am Wochen-ende mit Leib und Leben für Retten, Bergen, Löschen ein-setzt, von Ihnen anhören muss, dass es Feuerwehrleutegibt, die mit 2 000 DM im Monat entschädigt werden?Wir werden dies dem Feuerwehrverband mitteilen undwerden uns vortragen lassen, in wie vielen Fällen ein Feu-erwehrmannkommandant 2 000 DM im Monat bekommt.Ich kann Ihnen heute schon garantieren, das werden nichtviele sein.Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Erweiterung desPersonenkreises sagen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Klaus Riegert11951
der in den Genuss der Übungsleiterpauschale kommt. Dahaben Sie die Verantwortungsträger schlichtweg verges-sen. Je höher die Verantwortung, desto seltener kommt dieÜbungsleiterpauschale in Anwendung. Präsidenten, Vor-sitzende von Vereinen, Geschäftsführer, die ihre Tätigkeitehrenamtlich ausüben, Schatzmeister und auch Feuer-wehrkommandanten haben Sie schlichtweg vergessen.Zur Gesundheitsförderung, Frau Kumpf, hat Ihnen IhrMitarbeiter nicht das Richtige aufgeschrieben. Im § 20SGB IV haben Sie ein 5-DM-Limit eingeführt. Zwi-schenzeitlich wird über Verwaltungsvorschriften dieSchwelle so hoch gelegt, dass ein Übungsleiter ein Hoch-schulstudium braucht, um überhaupt die Präventionsvor-schriften erfüllen zu können.Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zu derAuseinandersetzung in der Enquete-Kommission bezüg-lich der Einladung von Verbänden sagen. Es ist doch be-zeichnend, dass Sie zum einen sagen, Sie wollten im Kon-sens handeln, und alle Unterverbände von Dachver-bänden, die schon eingeladen wurden, von den Listenstreichen, Sie aber zum anderen sagen, die DAG bleibedrin, weil sie nicht im DGB sei, während Sie den Christ-lichen Gewerkschaftsbund aber mit Ihrer Mehrheit vonden Listen gestrichen haben.
In gleicher Weise sind Sie mit dem Bund der Vertriebenen,mit dem Kolpingwerk und mit den Musikverbänden ver-fahren.
Zuerst reden Sie von Konsens, dann kicken Sie Ihnennicht genehme Verbände heraus!
Ich fordere Sie deshalb heute noch einmal auf: ZeigenSie endlich einmal Kraft und Stärke. Verhandeln Sie mituns in den Ausschüssen über unseren Entwurf. Das würdedas ehrenamtliche Engagement wirklich stärken. FolgenSie den Vorschlägen in unserem Gesetzentwurf!
Herr Kollege
Bürsch, die Redezeit war schon überschritten, deswegen
konnte Ihre Zwischenfrage nicht mehr berücksichtigt
werden. Außerdem haben wir noch zwei Kurzinterventio-
nen. Zunächst erteile ich das Wort dem Kollegen Grehn,
danach folgt die Abgeordnete Barbara Hendricks. Außer-
dem können Sie, Herr Riegert, auf beide Interventionen
antworten.
Herr Kollege Riegert, rein
sachlich: Ich weise Ihre Aussagen, dass in diesem Parla-
ment nichts für das Ehrenamt getan wird, mit Nachdruck
zurück. Ich selber arbeite in der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ mit. Ich
behaupte, dass sich alle Mitglieder – einschließlich der
Mitglieder aus Ihrer Fraktion – in dieser Enquete-Kom-
mission, die eine Einrichtung dieses Hohen Hauses ist, er-
hebliche Arbeit machen und Sorge dafür tragen, dass das
bürgerschaftliche Engagement vorwärts gebracht wird
und die Bedingungen für die Engagierten so weit wie
möglich erleichtert werden. Ich lasse nicht zu, dass deren
Arbeit diskreditiert wird. Ich erwarte von Ihnen eine Ent-
schuldigung.
Jetzt eine Kurz-
intervention der Kollegin Hendricks.
Herr Kollege Riegert!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion! Sie sind natürlich frei, jederzeit jeden Gesetz-entwurf einzubringen, jederzeit jeden Antrag in diesemHause zu stellen, jederzeit jede Rede in diesem Hause zuhalten. Gleichwohl wäre es manchmal hilfreich, wennman sich, bevor man an das Pult dieses Hohen Hausesschreitet, ein wenig sachkundig machen würde.
Sie, Kollege Riegert, haben in Ihrer Rede zum Beispielbehauptet, dass jemand, der 20 oder 30 DM im Monat be-kommt, dadurch sozialversicherungspflichtig würde. Dasist barer Unsinn.
– Das hat er gerade gesagt. Darum weise ich das zurück. –Die Sozialversicherungspflicht fängt ungefähr bei ei-nem Verdienst von 90 DM im Monat an. Wenn wir von de-nen reden – um im Bereich Ihres Antrages zu bleiben –,die schon eine Beschäftigung haben und außerdem ehren-amtlich tätig sind, wäre die Bagatellgrenze der Sozialver-sicherung natürlich überschritten, weil ja ein anderes Ein-kommen da ist.Reden wir jetzt aber einmal von den Einkünften im Eh-renamt. Als Randbemerkung möchte ich hinzufügen: Esgibt gesellschaftlich anerkannte und gesellschaftlich not-wendige Tätigkeiten, die aufgrund der Einkünfte, diedafür bezogen werden, als gesellschaftlich notwendigeNebentätigkeiten und nicht mehr als Ehrenamt bezeichnetwerden sollten. Insofern müssten wir vielleicht noch ein-mal über die Definition des Ehrenamtes reden. Es gibt inder Tat Unterschiede bei den einzelnen Tätigkeiten. Esgibt gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, die zwarneben dem Beruf ausgeübt werden, aber für ein erstaun-lich hohes Entgelt. Man muss fragen, ob dies noch mit derDefinition des Ehrenamtes vereinbar ist.Wenn wir über das Ehrenamt im engeren Sinne reden,dann muss man feststellen, dass es zwei steuerliche Re-gelungen gibt, die begünstigend wirken und die zugleichdie Sozialversicherungsfreiheit bedingen. Es gibt zum ei-nen die Aufwandspauschale mit der so genannten Drit-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Klaus Riegert11952
telungsregelung, die bis zu 300 DM im Monat ausmachenkann. Es gibt zum anderen die Übungsleiterpauschale,die zum Beispiel Feuerwehrleute, die zugleich ausbildendim Feuerwehrverband tätig sind, geltend machen können.Diese Regelungen gelten kumulativ. Das heißt, neben ei-nem regulären Einkommen aus einer Hauptbeschäftigungsind so bis zu 600 DM im Monat steuerfrei und sozial-versicherungsfrei.Der Popanz, den Sie aufbauen, entspricht einfach nichtden Tatsachen. Wenn in Zwischenrufen behauptet wurde,dass Feuerwehrleute bis zu 2 000 DM im Monat bekom-men – der Kollege Jochen-Konrad Fromme aus Nieder-sachsen hat in dem Punkt widersprochen; auch ich kanndas für Nordrhein-Westfalen nicht bestätigen –, dannmuss man wissen, dass es in Bayern in der Tat Gemein-defeuerwehrhauptbrandleute gibt, die mit bis zu 2 000DMim Monat entschädigt werden. Das entspricht dem Ein-kommen einer hauptberuflich tätigen Verkäuferin. Han-delt es sich dann wirklich noch um ein Ehrenamt, dessenEntschädigung man steuerfrei stellen kann? Mindestens300 DM und – wenn man zudem als Übungsleiter tätigist – kumulativ bis zu 600 DM können steuerfrei sein. Ir-gendwann muss aber mal Schluss sein. Es geht auch umGerechtigkeit in dieser Gesellschaft.
Frau Staatssekretärin, ich
habe in meiner Rede in der Tat von einem überschießen-
den Betrag in Höhe von 20, 30 oder 100 DM gesprochen.
Wenn man eine Sozialversicherungspflicht von 20 Pro-
zent unterstellt, dann kann man sich leicht ausrechnen,
dass man für Einnahmen von 4, 6 oder 20 DM aufgrund
der Sozialversicherungspflicht einen großen bürokrati-
schen Verwaltungsaufwand betreiben muss.
Das wissen Sie ganz genau.
Sie haben gewisse Regelungen betrachtet, die kumula-
tiv zur Anwendung kommen können. Ihre Kollegen haben
von einem Entgelt von 2 000 DM bei Feuerwehrleuten
gesprochen. Dieser Betrag ist noch von den 3 000 DM ge-
toppt worden, die die Kollegen der Fraktion der PDS zur
Sprache brachten. Ich sage Ihnen dazu: Das ist nicht die
Realität bei der Feuerwehr. Diese Fälle werden durch un-
seren Gesetzentwurf auch nicht erfasst. Dazu habe ich
eindeutige Ausführungen gemacht.
Was die Erweiterung des Personenkreises anbelangt,
ist es in der Tat so, dass diejenigen, die ausbilden, durch
die Erweiterung der Regelungen hinsichtlich der Betreu-
ung besser gestellt wurden. Auch das habe ich ausgeführt.
Es gibt aber eine Antwort der Bundesregierung, nach der
Sie bei Verantwortungsträgern, also zum Beispiel bei Feu-
erwehrkommandanten, davon ausgehen, dass dieser Be-
reich der Tätigkeit nur 60 Prozent der Zeit in Anspruch
nimmt und 40 Prozent der Zeit am Schreibtisch verbracht
werden.
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Sie können un-
möglich wollen, dass alle Ehrenamtlichen dieser Repu-
blik jedes Telefongespräch, jede Briefmarke, jeden gefah-
renen Kilometer und alle anderen Aufwendungen, die sie
haben, mit bürokratischem Aufwand aufführen, um Ihren
Regelungen gerecht zu werden. Dazu dient die pauschale
Aufwandsentschädigung. Sie darf deshalb nicht besteuert
werden.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Simmert.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Riegert, ich gehe nur kurz aufIhre Ausführungen ein. Ein bisschen mehr Gelassenheitund Sachkenntnis und eine verstärkte Teilnahme an denSitzungen der Enquete-Kommission würde Ihnen viel-leicht ganz gut tun. Dann könnten Sie den Stand der Dis-kussion in der Enquete-Kommission besser zur Kenntnisnehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU trägtden Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ehren-amtlicher Tätigkeit“. Wenn wir uns aber den Gesetzent-wurf anschauen, dann stellen wir fest, dass Sie, meine Da-men und Herren von der Opposition, die Förderung desfreiwilligen Engagements allein auf die Sozialversiche-rungspflicht reduzieren. Das haben wir gerade wiedereindrucksvoll bewiesen bekommen. Die Förderung desbürgerschaftlichen Engagements insgesamt ist jedochweitaus mehr und das sollte auch die CDU/CSU-Fraktionzur Kenntnis nehmen.
Wahrscheinlich – was sage ich? Nach dieser Debattewürde ich eher sagen: definitiv – geht es Ihnen nicht umden angekündigten Titel; es geht Ihnen um die Aushebe-lung der 630-Mark-Regelung durch die Hintertür. Ichsage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen.
Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Wir wollendiesen Etikettenschwindel nicht. Wir wollen eine Stär-kung des bürgerschaftlichen Engagements, des frei-willigen Engagements insgesamt.
Deswegen diskutieren wir mit Ihnen auch in der Enquete-Kommission. Ich hoffe, dass wir dort zu einer gemeinsa-men Lösung kommen.Aus Sicht der Arbeit der Enquete-Kommission gibtes weitaus größere Herausforderungen hinsichtlich der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Barbara Hendricks11953
Unterstützung des freiwilligen Engagements. Es ist diegesellschaftliche Anerkennung auch im traditionellenEngagement für das Gemeinwohl, die wir begrüßen undnatürlich fördern müssen. Doch sollten wir dies nichtblind tun. Mit einer bloßen Änderung des SGB IV ist esda nicht getan. Die Enquete-Kommission hat einen we-sentlichen Schwerpunkt – auch das hat die KolleginKumpf vorhin gesagt – auf die rechtlichen Rahmenbedin-gungen gelegt. Seien Sie sicher: Wir werden hier relativsauber arbeiten und wenn Sie kommen, können Sie mit-arbeiten.Allerdings – das wiederhole ich an dieser Stelle – frageich mich bei Aufwandsentschädigungen im Bereichder freiwilligen Feuerwehr in Bayern von bis zu rund2 000DM monatlich zusätzlich zum sonstigen Erwerbsein-kommen – das ist vorhin angeklungen –: Ist das wirklichdas einzige Problem der staatlichen Rahmenbedingungen,dass derart hohe Summen sozialversicherungsfrei blei-ben? Ich glaube das nicht. Wenn wir sehen, dass im Bun-desrat ein ähnlicher Antrag aus Bayern anhängig ist, dannwissen wir, aus welcher Richtung da ein entsprechendesInteresse bekundet wird.Wir sollten uns der Diskussion weitaus differenzierterstellen, als das der Antrag der CDU/CSU-Fraktion tut.Was ist bürgerschaftliches Engagement, was nicht? In-wiefern wird den Engagierten mehr Trennschärfe dienen?Wie kann freiwilliges Engagement anerkannt und geför-dert werden? Hier muss auch Anerkennung in immateri-eller Art und Weise eine wichtige Rolle spielen. Es wäresicherlich auch wünschenswert, wenn man sich bei denEhrenamtlichen nicht nur auf beinahe ausschließlich vonMännern ausgeführte Tätigkeiten konzentrieren würde.Vielleicht werden auch Sie, Herr Riegert, dann zur der Er-kenntnis kommen, dass es einige Menschen gibt, für dieSozialversicherungspflicht eher ein Vorteil wäre.Genau diesen Fragen werden wir in der Enquete-Kom-mission nachgehen müssen. Darüber hinaus will ich andieser Stelle vor allen Dingen die Rolle neuer Initiativenbetonen, von denen in dieser Diskussion bis jetzt vonder rechten Seite des Hauses – anders bei der KolleginKumpf – überhaupt nicht die Rede war. Sie haben immervon Verbänden gesprochen, von den traditionellen Tan-kern. Es gibt aber auch noch andere. Es gibt Selbsthilfe-gruppen, Freiwilligenagenturen, Bürgerinitiativen oderauch die kommunalen Prozesse im Rahmen der lokalenAgenda 21. Das sind nur einige Beispiele, die ebenfallsFormen der Förderung benötigen.
Gerade mit Blick auf die Stärkung der Zivilgesellschaftgilt es, neue Ansätze bürgerschaftlichen Engagements zustärken, auch und vor allem im Hinblick auf Zivilcouragegegen Rechts und damit für die Demokratisierung in un-serem Land.Zum Schluss möchte ich noch eines unterstreichen.Die klassischen Ehrenamtskarrieren gibt es immer weni-ger, Formen so genannter neuer Ehrenamtlichkeit sindimmer attraktiver, gerade für junge Menschen. JungeMenschen bezeichnen dies selber eher als freiwilliges En-gagement, nicht als Ehrenamt. Für viele junge Menschenist dieses Engagement wichtiger Bestandteil ihres Le-benslaufes, zum Teil begleitend, zum Teil konzentriert imRahmen eines freiwilligen Dienstes im In- und Ausland.Hier müssen wir die rechtlichen Rahmenbedingungenwesentlich verbessern; hier müssen wir Rechte absichern.Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil zur Förderungehrenamtlicher Tätigkeit.Lassen Sie uns also eine breit gefächerte Diskussionum die Förderung des freiwilligen Engagements führen,die nicht nur auf den Blickwinkel der Sozialversicherungeingeengt ist. Hier gilt auch der Satz: Vielfalt statt Einfalt.Danke.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 14/3778 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-
– Drucksache 14/4217 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOEs ist interfraktionell vereinbart, die heutige Tagesord-nung um die Beratung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU mit dem Titel „Mittelstand entlasten – Steu-ersenkungsgesetz nachbessern“ auf Drucksache 14/4285zu erweitern und den Antrag zusammen mit diesem Ta-gesordnungspunkt zu beraten. – Ich sehe, Sie sind damiteinverstanden. Dann ist so beschlossen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – KeinWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Die Kollegin Barbara Höll hat gebeten, ihre Rede zuProtokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir auch so.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derHerr Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christian Simmert11954
*) Anlage 2
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Am 14. Juli diesesJahres hat der Bundesrat dem vom Bundestag beschlosse-nen Steuersenkungsgesetz seine Zustimmung gegeben.Dieses Steuersenkungsgesetz bringt die größte Steuerent-lastung, die es je in der Geschichte der Bundesrepublikgegeben hat.
Es führt ab dem Jahre 2005 zu einem Entlastungsvolumenvon 93 Milliarden DM. Die größte Entlastungsstufe wirdab dem 1. Januar 2001 45 Milliarden DM betragen.Dieses Steuersenkungsgesetz repräsentiert, verbundenmit dem Steuerentlastungsgesetz, die Steuerpolitik derBundesregierung für diese und die nächste Wahlperiode.In der Auswirkung verteilt sich das Entlastungsvolumenso, dass 65 Milliarden DM nachhaltig bei den privatenHaushalten und 30 Milliarden DM bei den kleinen undmittleren Unternehmen ankommen, während die Kombi-nation von Entlastungsgesetz und Steuersenkungsgesetzbei den großen Unternehmen zu einem Minus von 1 bis2 Milliarden DM führt. Die großen Unternehmen ihrer-seits hatten jedoch niemals eine hohe Steuerlast. Vielmehrwar für sie das bisherige, nicht wettbewerbsfähige Steu-errecht eine Last. All dies haben wir gelöst.Voraussetzung für die Einbringung des Entwurfes ei-nes Steuersenkungsgesetzes war die Einleitung einer Stra-tegie der Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Dennnur dann, wenn man seine Ausgaben im Griff hat, nurdann, wenn man einen Weg verfolgt, der aus der Staats-verschuldung herausführt, kann man glaubwürdig, solideund seriös an Steuersenkungen herangehen.
Wer seinen Haushalt nicht in Ordnung hat, wer fort-während neue Schulden macht, wer Steuersenkungen so-gar auf Pump macht, der wird in Wirklichkeit für dienächsten und übernächsten Jahre Steuererhöhungen vor-bereiten.
Dies beides gehört zusammen. Das ist der Sachverhalt.Das Problem ist, dass Sie die Staatsverschuldung in dieHöhe getrieben haben. Aus dieser Ecke müssen wir he-raus.
Nun hat der Bundesrat, als er dem Steuersenkungsge-setz mehrheitlich zugestimmt hat, dies mit der Erwartungverbunden – dies hat er in einer Resolution niedergelegt –,dass noch an zwei Stellen Änderungen vorgenommenwerden: Die eine betrifft die Absenkung des Spitzen-steuersatzes von 43 auf 42 Prozent im Jahre 2005 ab ei-nem zu versteuernden Einkommen von 102 000 DM. Dieswird in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf umge-setzt.Damit ist übrigens der obere Grenzsteuersatz inDeutschland der niedrigste, den es im Rahmen der Euro-päischen Union gibt. Zwar gibt es noch zwei Länder, dietarifär niedriger liegen, nämlich das Vereinigte König-reich und Portugal. Sie haben einen oberen Grenzsteuer-satz von jeweils 40 Prozent. Der greift aber wesentlichfrüher: in Portugal bei einem Einkommen von 60 000 DMund in Großbritannien bei einem Einkommen von66 000 DM. Bei uns greift der obere Grenzsteuersatz von42 Prozent bei einem Einkommen von 102 000 DM.Damit befinden wir uns, wie wir es immer angestrebthaben, nicht nur aufgrund eines außerordentlich hohensteuerfreien Existenzminimums und eines niedrigen Ein-gangssteuersatzes europaweit am unteren Ende und sindvorbildlich. Wir sind in der Tat auch beim oberen Grenz-steuersatz – das war nicht die ursprüngliche Absicht derBundesregierung und auch nicht meine; das will ich aus-drücklich betonen – das Land mit der niedrigsten Steuer-belastung. Das war Ergebnis des Vermittlungsverfahrens.Aber, meine Damen und Herren: besser diesen Kompro-miss geschlossen als die Steuerreform auf die lange Bankgeschoben, was insbesondere die Opposition im Deut-schen Bundestag gewollt hat.
Die zweite Erwartung, die der Bundesrat an sein zu-stimmendes Votum geknüpft hatte, war eine zusätzlicheMittelstandskomponente: die Wiedereinführung deshalben Steuersatzes bei Betriebsveräußerungen. Aberum zu verhindern, dass daraus wieder ein Steuer-schlupfloch würde, gilt dies nur einmal im Leben undauch erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres.
Das hat den Hintergrund, dass das dann wirklich eine Be-triebsveräußerung sei, mit deren Ergebnis man dann Al-tersvorsorge betreiben könne. Das Gesamtvolumen dieserEntlastung, die ebenfalls im Gesetz vorgesehen ist, be-trägt rund 7 Milliarden DM. Damit ist – das war von un-serer Seite her selbstverständlich – die Erwartung desBundesrates erfüllt. Dies schlagen wir Ihnen vor.Ich will dem Bundesrat und der Mehrheit der Länder,die diese Entscheidung herbeigeführt haben, ausdrücklichdanken.
Es waren die Länder, die sich bereits im Vermittlungsaus-schuss intensiv um das Zustandekommen eines Vermitt-lungsergebnisses bemüht haben, zum Beispiel die großenKoalitionen und auch die sozialliberale Koalition inMainz. Ich sage ausdrücklich auch Dank an die F.D.P., indiesem Fall vermittelt über Herrn Brüderle, dass sie – unddamit die Mainzer Landesregierung – sich entschiedenhat, mit der Zusage dieser Änderungen dem Steuersen-kungsgesetz zuzustimmen. Denn es war für alle klar: Ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11955
rein parteitaktisches Spiel, die Steuerreform über dieSommerpause zu ziehen, wäre für die deutsche Wirt-schaft, für unser Ansehen in der Welt und für die weiterekonjunkturelle Entwicklung im Lande Gift gewesen.
– Es wäre weder gut für die Steuerzahler gewesen, HerrRauen, noch für die Bürger.Sie wissen es doch genauso gut wie ich: Das Entlas-tungsvolumen ist jetzt an der Grenze des Möglichen. Wirsind nicht, wie ich ausdrücklich sage, mit einem so hohenEntlastungsvolumen in die Steuerreformdebatte hineinge-gangen, und zwar mit Blick auf die Haushalte der Länderwie auch auf den des Bundes. Jedenfalls – Sie konnten dasja auch sehen – hat das die große Mehrheit der Länder bisan die Grenze des finanziell Möglichen strapaziert. Des-wegen waren alle anderen Reden und alle anderen Vor-schläge niemals realistisch; denn die große Mehrheit derLänder im Bundesrat hätte ihnen niemals zugestimmt.Das haben Sie in Ihrer Strategie von vornherein verfehlt.Sie können nicht die bayerische Strategie zur Mehrheits-strategie der deutschen Länder machen.
Übrigens sind auch die Bayern froh, dass es nicht zu demgekommen ist, was sie selber vorgeschlagen haben.Deswegen sage ich noch einmal ausdrücklich Dank andie Ländermehrheit. Unter dieser Voraussetzung ist esdann auch selbstverständliche Pflicht, das, was die Län-dermehrheit mit ihrer Resolution als ihre Voraussetzungfür die Zukunft artikuliert hat, nun im Gesetzgebungsver-fahren zu vollziehen. Ich bitte Sie daher um die Zustim-mung zu diesem Steuersenkungsergänzungsgesetz.
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Fromme.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werwäre nicht für Steuersenkungen? Insofern verspricht derTitel Ihres Gesetzes zunächst einmal etwas Positives.
Da steht nicht nur „Senkung“, da steht sogar „Ergän-zung“. Sie wollen also deutlich machen, dass Sie etwasPositives fortsetzen.
Aber wie so oft bei Ihnen stimmen Überschrift und In-halte nicht überein.
Ihre Ökosteuer ist weder „öko“ noch „logisch“.
Der Mittelstand wird von der Steuer nachteilig getroffen;denn zunächst einmal muss er 15 Milliarden DM vorfi-nanzieren. Die Erleichterung kommt dann vielleicht2005.
Der Montagearbeiter wird bei Ihrem Progressionsverlaufbei der letzten Mark fast so besteuert wie der Millionär.Das kann doch wohl nicht richtig sein.
In Wahrheit handelt es sich bei diesem Gesetz doch umein Reparaturgesetz. Die Kette Ihrer Reparaturen wirdimmer länger. Sie mussten die Zinssteuerregelung korri-gieren. Sie müssen am Freitag die Ökosteuer korrigieren,weil Sie sonst Schwierigkeiten bekommen.
– Weil Sie die Kilometerpauschale als Reparatur ein-führen müssen. – Sie müssen für die Kirchen eine zweiteBemessungsgrundlage einführen, um großen Schadenvon ihnen abzuwenden.
Die nächste Reparatur des Steuerentlastungsgesetzes stehtins Haus. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen deutlichins Stammbuch geschrieben, dass die Regelung in Bezugauf die Verlustverrechnung verfassungswidrig ist. Wirwerden uns hier demnächst wieder damit beschäftigen. ImUrteil heißt es: „Im Streitfall liegt eine derartige Un-gleichbehandlung auf der Hand.“ Das ist verfassungswi-drig.Meine Damen und Herren, diese Regelung haben Siewährend des Verfahrens eingeführt und abgeändert, weilIhnen alle Experten zu der ersten Regelung gesagt haben,dass das so nicht läuft. Wir wollten eine zweite Anhörungdurchführen, weil wir von Anfang an – wie die ganzeFachwelt – Bedenken hatten. Sie haben sie vom Tisch ge-wischt. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen jetzt erklärt,dass es doch besser gewesen wäre, auf uns zu hören.Dafür werden Sie die Quittung bekommen.
Es ist ja bemerkenswert, wie Sie Ihre Positionen ver-ändern. Vieles von dem, was jetzt Gesetz ist, haben Sie1996 ohne Alternative einfach vom Tisch gewischt. Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Bundesminister Hans Eichel11956
haben durch das Steuerentlastungsgesetz viele sinnvolleRegelungen gegen unsere Ratschläge aus dem Steuerge-setz gestrichen.
Dann haben Sie Teile – ich betone ganz besonders: Teile –unseres Konzeptes übernommen. Dadurch, dass Sie nurTeile übernommen haben, ist jetzt eine Schieflage ent-standen, wie sie schlimmer nicht sein kann.
– Nein, schönen Dank.Das Ganze hätten wir vor vier Jahren gemeinsam um-setzen können. Wer jetzt sagt, die Steuerreform schaffeArbeitsplätze, der ist verantwortlich dafür, dass dieseArbeitsplätze nicht schon in den letzten vier Jahrengeschaffen worden sind.
Ihnen fehlt der Mut zu einer richtigen, kurzfristigenSteuerentlastung. Sie entlasten in Raten bis zum Jahr 2005oder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie hätten sich einBeispiel an den stoltenbergschen Steuerreformen nehmensollen. Damals haben wir mit einer kräftigen, kurzfristi-gen Absenkung am Ende mehr Geld in der Kasse gehabt.
Am Ende gab es sogar mehr sozialversicherungspflich-tige Beschäftigte. Das war beispielhaft.
An diesem Kurs und an dem Konzept, das wir 1996 vor-gelegt haben, hätten Sie sich ein Beispiel nehmen können.Ihre Steuerreform ist unausgegorenes Stückwerk. Siewurschteln sich zwar weiter vorwärts und ein Stück weitin die richtige Richtung, aber eben immer nur ein Stückweit, weil Sie nur schrittweise vorgehen. Sie wurschtelnsich nach wie vor durch. In dem Antrag des Bundesrates,in dem das Wort „Wiedereinführung“ geschrieben steht,wird beispielsweise hinsichtlich der Veräußerungsge-winne der Eindruck erweckt, es würde das wieder herge-stellt, was einmal war, weil es richtig war.
Wenn man aber genau hinsieht, stellt man etwas anderesfest.
Wie sieht es denn mit den Versprechungen von gesternaus? Bei Ihnen zählt das Wort von gestern nichts.
Ich darf an die Überschrift in der „Bild am Sonntag“ vom6. September 1999 erinnern. Da der Benzinpreis um6 Pfennig gestiegen war, sagte Gerhard Schröder: „Das istdas Ende der Fahnenstange.“ Schauen Sie sich nun einmalan, wo wir gelandet sind.
Am 17. Februar 1999 sagte Gerhard Schröder: „Ich stehedafür, dass die Renten wie die Nettolöhne steigen.“ MeineDamen und Herren, sehen Sie sich das Ergebnis an.
Nach unserer Auffassung ist dieses Gesetz, damit eseine wirklich runde Steuerreformwird, in folgenden fünfPunkten ergänzungsbedürftig:Erstens: Wiedereinführung des halben Steuersatzes beiBetriebsveräußerungen ohne den von Ihnen vorgesehenenMindeststeuersatz und rückwirkend ab dem 1. Januar1999.
Zweitens: zusätzliche Verbesserungen für den Mittel-stand durch die steuerneutrale Umstrukturierung von Per-sonengesellschaften. Auch diese hatten Sie abgeschafft.Aber wir sollten sie wieder aufnehmen.
Außerdem sollten Gewinne aus Anteilsverkäufen in dieReinvestitionsbegünstigung nach § 6 b EStG wieder auf-genommen werden. Auch das hatten Sie gestrichen.
Drittens: stärkere und frühere Senkung des Einkom-mensteuerspitzensatzes.
Viertens: Wiedereinführung des halben Steuersatzesauch für Entschädigungen bei Arbeitnehmerabfindungenund Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter.
Fünftens: Wir brauchen kurzfristige Korrekturen, weilSie Frankfurt als Handelsplatz für Wertpapiere gefährden.Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebrachtund werden sehen, wie Sie sich dazu verhalten.Es ist völlig unverständlich, dass Sie Arbeitnehmerab-findungen und Ausgleichszahlungen an Handelsvertreterjetzt der Steuer unterwerfen und die Kapitalgesellschaftenfreistellen. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel aus meinemWahlkreis nennen.
Die Preussag hat für 400 Millionen DM Wohnungen ge-kauft, die sie jetzt für 1 Milliarde DM verkauft. Das istnach Ihrem Recht steuerfrei. Aber der Handelsvertreter,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Jochen-Konrad Fromme11957
der in den Ruhestand geht, muss jede Mark versteuern.Das kann doch wohl nicht richtig sein.
Wie unsozial Ihre Steuerreform ist, konnten wir auchbei der Anhörung der Kirchen hören. Die Kirchen habenganz deutlich gesagt, dass mit dem Halbeinkünfteverfah-ren die Menschen nicht mehr nach ihrer Leistungsfähig-keit besteuert werden, weil die Hälfte der Einkommennicht mehr bei der Progression berücksichtigt wird. Nurdas Vollanrechnungsverfahren, das schließlich unter IhremBundeskanzler Schmidt eingeführt worden ist, stellt si-cher, dass auf der personalen Ebene gerecht besteuertwird. Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen.Sie entlasten nicht. In Wahrheit sind Sie die Partei derSteuererhöhungen.
– Hören Sie sich die Zahlen einmal an. – Im Jahre 1999ist das Bruttosozialprodukt um 2,3 Prozent gestiegen. DieSteuern sind um 6,3 Prozent gestiegen.
– Das ist das Dreifache.
Also muss doch, da wir ja 1999 eine ganz geringe Inflati-onsrate hatten, eine Steuererhöhung dahinter stecken.Selbst wenn ich die Ökosteuer herausrechne, weil das eineandere Entwicklung gewesen ist, sind die Steuern immernoch mehr als doppelt so stark gestiegen wie das Brutto-sozialprodukt. Deswegen sind Sie die Partei der Steuerer-höhungen.
– Herr Minister Eichel, wenn ich die herausrechne, wirdes noch schlimmer, weil dann die übrigen Steuern nochstärker gestiegen sind.
Es bleibt dabei: Sie sind die Partei der Steuererhöhungen.
– Sie hören das so gerne; deswegen habe ich es noch ein-mal wiederholt.
Herr Kollege
Fromme, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit ab-
läuft.
Jawohl.
Dann versuchen Sie, mit Reparaturmaßnahmen wie bei
der Ökosteuer und mit einem Riesenbürokratieaufwand
das, was Sie vorne falsch gemacht haben, hinten wieder
geradezubiegen. Das wird Ihnen aber nie gelingen; denn
Sie werden durch diese Bürokratie niemals Gerechtigkeit
schaffen. Vielmehr schaffen Sie eine Vergrößerung des
Staatskuchens. Das entspricht auch Ihrer Ideologie. Sie
entmündigen die Bürger, weil Sie ihnen das Geld weg-
nehmen und sie nicht mehr die eigene Entscheidungsfrei-
heit haben.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istschade, dass gerade die CDU, die immer den Anspruchhat, zukunftsorientiert zu sein
– den Anspruch –,
wenn es darauf ankommt, in der Regel nach hintenblickt – verletzt, beleidigt, mit Neid benetzt,
wenn sie sieht, welche hervorragende Steuerreform wirvonseiten der Regierungsparteien auf den Weg gebrachthaben. Genau das ist Ihr Problem.
Wenn wir uns anschauen, welche Forderungen Siejetzt stellen, kann man sagen: Es ist wieder das alte Lied.Es sollen möglichst alle Steuerschlupflöcher aufgemacht,möglichst alle Vergünstigungen wieder eingeführt wer-den, außerdem sollen die Steuersätze niedrig sein. Wie daszu finanzieren ist, ist Ihnen ziemlich wurscht.
Das ist Ihre Strategie, obwohl Sie ganz genau wissen,dass kein einziges Land, weder Baden-Württemberg nochBayern noch Hessen noch das Saarland noch die rot-grünregierten Länder – von den neuen Bundesländen brauchenwir gar nicht zu reden –, es akzeptieren würde, dass dieSteuerausfälle, die Sie mit Ihren Forderungen produzie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Jochen-Konrad Fromme11958
ren, auch die Länderhaushalte letztendlich belasten wür-den. Sie könnten überhaupt nicht zustimmen, weil siedie verfassungsgemäße Gestaltung ihrer Länderhaushaltenach den Maastricht-Kriterien, die wir zu erfüllen haben,nicht gewährleisten könnten. Deswegen ist es reiner Po-pulismus, wenn solche Forderungen vonseiten der CDUaufgefahren werden.
Das ist besonders vor dem Hintergrund interessant,dass dies gerade von einer der Parteien kommt, die diesenSchuldenberg mit zu verantworten hat. Wir haben mittler-weile, wenn man alles zusammenrechnet, einen Schul-denberg – mit dem müssen wir umgehen – in einerGrößenordnung von 2,3 Billionen DM. Das sind2 300 Milliarden DM. Davon entfallen 1,5 Billionen bzw.1 500 Milliarden DM auf den Bund. Es ist eine hervorra-gende Leistung, dass es diese Regierung in Anbetrachtdieser äußerst schwierigen Rahmensituation schafft – dassage ich ganz klar –, einen soliden Haushalt vorzulegen,einen Konsolidierungskurs einzuschlagen und heute einInvestitionsprogramm im Hinblick auf die UMTS-Erlösemit ökologisch wunderbaren Effekten vorzustellen.
Gleichzeitig legen wir das vorliegende Steuersenkungs-programm auf.
Wir haben – das kann man an den Zahlen klar sehen –eine Steuerquote, die in unserer Zeit erstmals wieder ge-senkt wird. Herr Fromme, wenn Sie sagen, es gebe eineSteuerentlastung, die in Wirklichkeit eine Steuerbelas-tung bedeutet, dann kann ich Sie nur darauf hinweisen:Die Steuerquote ist gesunken. Die gesamte Steuernetto-entlastung seit Beginn dieser Regierung bis zur letztenStufe wird sich in einer Größenordnung von über 90 Mil-liarden DM bewegen.
Es gab in der gesamten Geschichte der BundesrepublikDeutschland noch niemals eine solch hervorragende Steuer-entlastungspolitik, wie wir sie vonseiten dieser Regierungjetzt machen.
Wir haben – auch das muss man klar sehen – besonde-ren Wert darauf gelegt, dass die zusätzliche Entlastungdurch die Reformschritte der breiten Masse der Steuer-zahler und Steuerzahlerinnen zugute kommt. Die Maß-nahmen, die Sie mit Ihren Anträgen hier immer wiedervorstellen, nutzen sehr wenigen. Sie begünstigen in derRegel diejenigen, die sehr hohe Einkommen haben, damitsie möglichst – das sieht man an Ihren Vorschlägen in Hin-sicht auf den § 34 EStG, also zur Betriebsaufgabe – ihrenSteuergestaltungsspielraum nutzen können, um ihre Steuer-schuld fast auf null zu rechnen.
Das ist genau das, was wir vermeiden wollen. Wir wollenmit niedrigen Tarifen alle vernünftig entlasten. Dazu pas-sen keine Schlupflöcher in dieser Größenordnung.
Wir haben gerade bei dem Punkt, der die Länder be-trifft, in der Beratung des Gesetzentwurfs klar gemacht,dass wir keine weiteren Steuerausfälle verkraften können.Minister Eichel hat darauf hingewiesen, dass sich das,was im Bundesrat letztendlich hinzugekommen ist, in ei-ner Größenordnung von rund 7 Milliarden DM an zusätz-licher Nettoentlastung bewegt. Das ist das, was man in ei-ner verantwortlichen Finanzpolitik für Bund und Ländergerade noch verkraften kann.Man muss auch sehen, dass wir im Zusammenhang mitder gesamten Entwicklung der kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen sehr viele Maßnahmen ergriffenhaben, die bereits im letzten und in diesem Jahr zum Tra-gen gekommen sind.
Wir haben bei einer Betriebsaufgabe den Freibetrag von60 000 auf 100 000 DM erhöht. Sie hatten ihn seiner-zeit auf 60 000 DM abgesenkt, um das noch einmal inErinnerung zu rufen. Wir haben ihn wieder angehoben.Auch haben wir gesagt, dass wir alternativ zu dem durch-schnittlichen halben Steuersatz, der ab dem 1. Januar 2001mit den begleitenden Maßnahmen ab dem 55. Lebensjahroder bei Berufsunfähigkeit gelten wird, die so genannteFünftelungsregelung, die wir schon beschlossen haben,beibehalten werden.Diese Regelung rechnet sich für kleine Unternehmen,wenn keine zusätzlichen Jahreseinkünfte in einer Größen-ordnung gegeben sind, die über dem Existenzminimumliegen, besser, als wenn man den durchschnittlichen hal-ben Steuersatz nimmt. Aber das wissen Sie sehr gut.Wir sind angetreten, die Steuersätze nachhaltig zu sen-ken. Wir sind angetreten, um gleichzeitig Steuervergüns-tigungen abzubauen und mit einer verantwortlichen Fi-nanzpolitik das zu beheben, was Sie jahrelang in IhrerVerantwortung – ich sage jetzt einmal ganz bewusst – ver-murkst haben. Es ist ein großer Schritt, der jetzt zum Endegebracht wird; es ist das, was an Ergänzungen zur Steuer-reform 2000 nach der Bundesratsentscheidung notwendiggeworden ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christine Scheel11959
Noch einmal kurz zu Ihrem Antrag: Ich gehe davonaus, dass Sie das ein oder andere nicht so ernst nehmenkönnen.
Ich gehe auch davon aus, dass Sie sehr genau wissen, dassdie Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1 Pro-zent notwendig ist, um aufgrund der Strukturumstellun-gen eine missbräuchliche Gestaltung im Rahmen des Halb-einkünfteverfahrens und damit unkalkulierbare Steuer-ausfälle zu verhindern. Es ist zwingend, um das Ganzeauch weiterhin verantwortbar zu gestalten.
Ich gehe weiter davon aus, dass Sie genau wissen, dassIhr Antrag natürlich nicht angenommen werden kann,weil Ihre eigenen Länder diesen Antrag nie unterstützenkönnten. Das wäre mehr als peinlich.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wortvorab zu Ihnen, Frau Scheel. Ihre Pirouetten sind manch-mal schon tief beeindruckend;
denn wenn ich mich daran erinnere, dass Sie und der Kol-lege Metzger in der letzten Wahlperiode gegen die Steu-erreform mit dem Argument votiert haben, Sie treten ge-gen eine Nettoentlastungslüge ein, weil der Staat nichtentlastet werden darf, dann können Sie heute nicht sagen:Endlich haben wir die Nettoentlastung erreicht, die Sievorher bekämpft haben. Das passt überhaupt nicht zu-sammen.
Der zweite Punkt. Die Veräußerungen der UMTS-Li-zenzen und der Segen für den Hans im Glück –, kann ichan dieser Stelle wohl sagen –, sind nur der Erfolg einer be-herzten Privatisierungspolitik, die sich für Wettbewerb inunserer Gesellschaft einsetzt, und zwar für einen Wettbe-werb als Entdeckungsverfahren: Das beste System wirdsich durchsetzen. Da müssen wir Freiraum schaffen.
Ich beglückwünsche Sie, dass Sie momentan Profiteur derEntscheidungen sind, die wir in der letzten Wahlperiodegetroffen haben.
Zu diesem Gesetz konkret. Für die F.D.P. begrüßen wir,dass es in Deutschland endlich zur ersten Stufe einer Steu-erreform gekommen ist, wobei insbesondere bei dieserReform gilt: Nach der Reform ist vor der Reform. Mitdem Steuersenkungsergänzungsgesetz, welches wir heutebehandeln, soll eine weitere Entlastung der steuerpflichti-gen, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft be-schlossen werden. Hierauf hat die F.D.P. gedrängt.
Es ist gut, dass dieses Steuersenkungsergänzungsgesetzeine höhere Nettoentlastung, eine weitere Senkung desSteuertarifs, eine Absenkung des Spitzensteuersatzes so-wie die Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei Be-triebsaufgaben vorsieht. Diese Verbesserungen hat dieF.D.P. durchgesetzt, um die Diskriminierung von Rot-Grün gegen den Mittelstand an diesen Stellen zu beseiti-gen.
Die F.D.P. hatte sich schon zu Beginn der letzten Le-gislaturperiode für eine durchgreifende Vereinfachungdes Steuerrechtes, für mehr Gerechtigkeit, für ein Sinkender Steuersätze mit dem Eingangssteuersatz von 15 Pro-zent und einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent und vorallem für eine deutliche Nettoentlastung der Bürger ein-gesetzt.
Dieses Ergebnis hätten wir haben können, wenn es nichtblockiert worden wäre.Lassen Sie uns doch noch einmal in Erinnerung rufen,was Sie, Frau Scheel, und Rot-Grün eigentlich beschließenwollten. Es war eine reine Unternehmensteuerreform, dieausschließlich die Kapitalgesellschaften entlasten sollte.
Das war der Auftrag, den die Sachverständigenkommis-sion von Ihnen erhalten hat. Dass wir nicht nur da gelandetsind, sondern bei einer Senkung des Einkommensteuertari-fes und einer Senkung der Belastung aller Steuerzahler– die aus Sicht der F.D.P. nach wie vor zu niedrig ist –, ha-ben Sie nur dem beständigen Drängen der Opposition zuverdanken. Sie waren überhaupt nicht auf dem Trip.
Die Ideologie, Unternehmen in Deutschland müssenentlastet werden, Unternehmer nicht, verkennt total diegesellschaftliche Wirklichkeit in unserem Lande. Ja, werschafft denn die Arbeitsplätze in unserem Lande? Dassind die Selbstständigen, die Freiberufler sowie die Mit-telständler. Und gerade diese sollten nicht entlastet wer-den. Das war überhaupt nicht hinnehmbar.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christine Scheel11960
Die Härte ist, dass Sie das Ganze mit den Stimmen vonRot-Grün im Finanzausschuss und im Plenum des Deut-schen Bundestages vor der Öffentlichkeit dadurch ka-schieren wollten, dass Sie eine Optionslösung aufgebauthaben. Die Optionslösung ist von Ihnen gekommen.Als wir das Thema im Deutschen Bundestag nach demEnde der Beratungen unter Ihrem Vorsitz und mit IhrerStimme im Finanzausschuss behandelt haben, waren wirfür den Bereich der Einkommensteuer bei einem Spitzen-steuersatz von 45 Prozent. Das war Ihre Leistung und in-sofern finde ich es ganz erstaunlich, wie Sie den Weg zuden 42 Prozent mühelos zurücklegen. Die Aussage, derTarif sei von Ihnen gesenkt worden, entspricht nur leidernicht den Tatsachen,
denn unter Ihrem Vorsitz und mit Ihren Stimmen lag er bei45 Prozent und auch der Tarif bewegte sich in dieserGrößenordnung, sodass die Nettoentlastung bei Ihnen vielniedriger war, als sie jetzt von uns beabsichtigt ist.
Angesichts der morgigen Sitzung des Finanzaus-schusses und angesichts der Erfahrungen im parlamenta-rischen Verfahren zu dieser Steuerreform im Finanzaus-schuss appelliere ich an Sie, zu einem Minimum anparlamentarischen Gepflogenheiten zurückzukehren. DieBegrenzung der Zahl der Sachverständigen, wie es bei derAnhörung zur Steuerreform der Fall war, war sehr dumm;denn wenn Sie meinen, Ihre Reform ist gut, dann lassenSie doch die Sachverständigen kommen. Die jubeln Ihnendoch allen zu.
Man hat vielmehr den Eindruck, Sie hätten etwas zuverstecken. Das ist ja vermutlich auch der Grund – das,Herr Finanzminister Eichel, verstehe ich nicht; vielleichtkönnten Sie darüber einmal mit Ihren Kolleginnen undKollegen Abgeordneten reden –, warum morgen bei derAnhörung zum Steuersenkungsergänzungsgesetz dieZahl der Sachverständigen auf 15 beschränkt werden soll.
Das ist doch eine reine Jubelnummer, die hier stattfindet.Wenn es wirklich so ist, dass alle den Entwurf toll finden,frage ich mich: Warum lassen Sie nicht einfach mehrLeute jubeln und die sagen, das sei alles eine tolle Ge-schichte?
Aus Sicht der F.D.P. muss man in diesem Verfahrenjetzt darauf achten, dass über die Abgrenzungsproblemein diesem Bereich bezüglich der Arbeitnehmer, vor allemaber auch der Handelsvertreter, in Ruhe diskutiert wird.Wir haben darauf einen Anspruch. Ich kann noch nichtvoraussagen, wie es ausgeht, aber ich glaube, wir sind esden Betroffenen schuldig, diesen Punkt in Ruhe zu be-raten. Wenn dazu Sachverstand beiträgt, bitte ich Sie, die-sen Sachverstand zuzulassen. Wie die Entscheidung dannam Ende ausfällt – ob mit einer breiten Mehrheit oder miteiner knappen Mehrheit –, ist dann Sache der Politik. Esist aber im Grunde genommen unter Niveau, den Sach-verstand vorher auszubremsen, weil er nicht opportun ist.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Herr Fromme: Ich bin wirk-lich ein bisschen enttäuscht, weil Sie die uralten Debattenhier wiederholen, deren Resultate in der Praxis längstüberholt worden sind.
Frau Scheel hat Ihnen dies deutlich vorgerechnet. Ichhätte auch erwartet, dass gerade eine christliche Partei mituns bei der Bekämpfung von Steuermissbrauch und demStopfen von Steuerschlupflöchern auf dem Vormarsch istund an unserer Seite kämpft.
Unbelehrbarkeit ist allerdings eine Eigenschaft, die fürdie heutigen Anforderungen der Politik gänzlich untaug-lich ist.Herr Thiele, eines muss ich Ihnen sagen: Da ich Sieschon länger kenne, weiß ich, dass Sie aus allen DingenHonig saugen können,
egal, ob Sie etwas dafür können oder nicht. Wir sind abergroßzügig und wenn Sie im Endeffekt nach einer sachli-chen Beratung zustimmen, werden wir das toll finden undkönnen uns auf dieser Basis verständigen.Es ist richtig, Herr Fromme, die Bezeichnungen Steu-ersenkungsergänzungsgesetz und Steuer-Euroglättungs-gesetz sind technische Begriffe, unter denen sich außer-halb der Fachwelt kaum jemand etwas vorstellen kann. Esist doch viel verständlicher, wenn Sie zum Beispiel in derOktoberausgabe 2000 der Zeitschrift der Stiftung Waren-test lesen: „Steuerveränderungen 2001, da bleibt was hän-gen!“ und im „Handelsblatt“ nachlesen, bei wem etwashängenbleibt. Da ist das aufgelistet.
Dort, Herr Rauen und Herr Michelbach, steht in der Aus-gabe vom 25. September: „Steuerbelastung sinkt kräftig,Steuerreform im Praxistest, Mittelstand wird nicht be-nachteiligt.“ Sie als Mittelständler sollten sich diesen Ar-tikel mit den Beispielrechnungen ganz genau ansehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Carl-Ludwig Thiele11961
Er bestätigt das, was wir von Anfang an gesagt haben: DerMittelstand wird kräftig entlastet.
Wenn Sie sich, meine Damen und Herren, die kleine,aber ökonomisch effiziente und unternehmerisch voraus-schauende Mühe gemacht hätten, die Auswirkungen derneuen Bestimmungen, die Sie in harter Arbeit – wie wirsie im Finanzausschuss immer leisten – zwar nicht zu-stimmend, aber doch Halbsatz für Halbsatz mitbegleitetund mitdiskutiert haben, einmal auf Ihre eigenen mittel-ständischen Unternehmen hochzurechnen und Vergleichezwischen 1997 und 1998 sowie 1999 bis 2005 anzustel-len, dann müssten Sie heute aufstehen – Herr Michelbach,Sie können das noch tun – und wie das „Handelsblatt“ sa-gen: Alle Unternehmen, selbst mein eigenes, werden un-abhängig von der Rechtsform durch diese Steuerreformentlastet.
Sie müssten hier stehen und offen bekennen –, wie das„Handelsblatt“, dessen Meinung vorher auch ganz anderslautete –: Es haben sich Vorurteile in unseren Köpfen fest-gesetzt, diese müssen wir nach dem praktischen Umgangmit dieser Gesetzgebung heute relativieren. Aber wie ichSie kenne, werden Sie die höheren Gewinne nach Steuerneinstecken – diese gönnen wir Ihnen natürlich; denn wirhaben die Entlastungen der mittelständischen Unterneh-men bewusst durchgeführt – und hier – lernunfähig wiedie Dinosaurier – weiterhin verkünden, wie schlecht dieSteuerreform gewesen ist. In unserer offenen demokrati-schen Gesellschaft ist Lernunfähigkeit allerdings keinGrund, jemanden von den erwünschten positiven Erfol-gen unserer hervorragenden Finanz- und Wirtschaftspoli-tik auszuschließen.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenwissen, dass Mittelständler wie Sie und viele Tausend an-dere Arbeitsplätze bzw. Ausbildungsplätze sichern, dieBedürfnisse der Bevölkerung im Konsum- und Dienst-leistungsbereich abdecken und innovativ und flexibel diesich schnell verändernden Bedingungen in der Wirtschaftmitgestalten oder gar vorantreiben. Deswegen fällt derAnteil unserer seriös finanzierten Entlastungsmasse aufdiese Leistungsträger.
Dass wir es im Prinzip geschafft haben, Herr Dautzenberg,alle Steuerzahler zu entlasten, kommt nochmals den mit-telständischen Unternehmen zugute, was sich jetzt dieF.D.P. auf ihre Fahnen schreiben will.
Sie werden mit Ihren pessimistischen Voraussagen,Herr Rauen, und Ihrem ständigen Jammern eines wirklichnicht verhindern können: Die Inlandsnachfrage bleibt ro-bust.
Es werden neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben mitdem Steuersenkungs- und dem Steuersenkungsergän-zungsgesetz den Menschen so viel Geld in die Hand ge-geben, dass sie
sich endlich die Investitionen leisten können, auf die siein den Jahren Ihrer Regierungszeit lange verzichten muss-ten.
– Da können Sie gespannt sein, Herr Seiffert. Wir freuenuns gemeinsam darauf; einigen wir uns so.Eine Verkäuferin zum Beispiel wird im Jahre 2005 einViertel ihrer Lohnsteuersumme übrig behalten. Ein Fami-lienvater mit zwei Kindern zahlt bei 60 000 DM Jahres-einkommen nur noch 60 Prozent seiner jetzigen Steuern.Selbst der Zahnarzt mit 250 000 DM Jahreseinkommenwird 10 Prozent seiner bisherigen Steuerbelastung übrigbehalten. Das sind Ihre potenziellen Kunden. Davon wer-den unser Handwerk, unsere Dienstleister, unser Handelin hohem Maße profitieren. In Zukunft werden wir allemehr in unseren Portemonnaies haben. Das gilt vor allemfür diejenigen, die jetzt nicht den Spitzensteuersatz zah-len. Das ist die Quintessenz aus dem Steuersenkungs- undSteuersenkungsergänzungsgesetz mit der weiteren Mit-telstandskomponente.
Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen aus derCDU/CSU, liest sich wieder einmal wie ein Forderungs-katalog des BDI. Ich habe die Schreiben der letzten Wo-chen durchgesehen und festgestellt, dass keine der Forde-rungen aus diesen Schreiben in Ihrem Antrag ausgelassenworden ist.
– Das Abschreiben von Forderungskatalogen, HerrFromme, ersetzt wirklich kein gutes, neues Steuerkon-zept. Das ist aber Ihre Art, Politik zu machen.
Die abenteuerlichen Vorschläge, die ich aus Ihrer Frak-tionssitzung höre, zur weiteren Senkung des Spitzensteu-ersatzes zeigen,
Herr Rauen, die von Ihnen leider seit vielen Jahren geübtePraxis einer unsoliden Haushaltsführung. Ihre Politik, fik-tive Einnahmen schon vorher zu verbraten, hat uns einenSchuldenberg beschert, den wir jetzt langsam abtragen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Lydia Westrich11962
müssen. Die jetzige Bundesregierung und die Fraktionender SPD und des Bündnis 90/Die Grünen haben – Gott seiDank – ein anderes Verständnis von solider Haushalts-führung. Wir unterscheiden zwischen frommen Wün-schen und verantwortungsbewusstem Handeln. Vielleichtkommen Sie irgendwann auch noch dahin. Letzteresbleibt auch die Maxime unseres Handelns.Das gilt auch für das Steuer-Euroglättungsgesetz.Hier gehen die Bundesregierung und die sie tragendenKoalitionsfraktionen – ich hoffe, auch alle anderen Frak-tionen werden das tun – mit bestem Beispiel voran. Wirdürfen das Vertrauen der Bevölkerung in den Euro nichtleichtsinnig zerstören. Deshalb bemühen wir uns gemein-sam, die Umstellung der Freibeträge in den verschiedens-ten Gesetzen so vorzunehmen, dass wiederum eine sehrpositive Wirkung für die Bürger eintritt, und zwar sowohlbei den Erbschaftsteuerfreibeträgen als auch bei den Sparer-freibeträgen und auch bei der Freigrenze für Sachbezügevon Arbeitnehmern, deren Verdoppelung gleichzeitig einewunderbare Verwaltungsvereinfachung mit sich bringtund die den Arbeitnehmern am Arbeitsplatz auch einmalden privaten Blick ins Internet steuerneutral erlaubenwird.
Auch hier sorgen wir dafür – ich hoffe: gemeinsam –, dassmehr als 350 Millionen DM in die Taschen der Menschenzurückfließen werden.Allerdings verbinden wir – ich denke, das können wirgemeinsam auch fordern – mit diesem Verfahren derEuro-Umrechnung auch die Erwartung, dass die privateund die öffentliche Wirtschaft dem Staat nacheifert unddas Vertrauen der Bürger in die Stabilität und den Erfolgdes Euro durch eine faire Umstellung von Preisen und Ge-bühren stärken hilft.Geben Sie sich wie Herr Thiele einen Ruck. Wir bera-ten sachlich. Sie können Ihr falsches Urteil wieder rück-gängig machen.
Das Steuersenkungsgesetz hat sich nach übereinstimmen-der Meinung im Praxistest als gut herausgestellt. DurchIhre Zustimmung zum Steuersenkungsergänzungsgesetzkönnen Sie demonstrieren, dass Sie Ihre Unbelehrbarkeitüberwunden haben
und mit uns eine moderne und solide Finanzpolitik ma-chen wollen.Vielen Dank.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter HerrPräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch nachder heutigen Debatte bleibt das Fazit: Ungleichbehand-lungen, Ungerechtigkeiten, Nachbesserungen und leereVersprechungen sind zum Markenzeichen der rot-grünenBundesregierung in der Steuerpolitik geworden.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, machen nicht diegrößte Steuerreform aller Zeiten. Sie machen bis 2005 dielangsamste und zögerlichste Steuerreform aller Zeiten.
Ihre Steuerreform, Herr Bundesfinanzminister, hat einenso langen Bart. Sie sind der größte Steuermethusalemaller Zeiten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Steuerreform ist so lang-sam, dass sie sich geradezu selbst überholt. Sie sind aufder Steuerkriechspur. Ihre Steuerreform wird sich sozusa-gen selbst verjähren.
Es hat sich überall – das merken die Leute – Ernüchte-rung breit gemacht, wenn es um die Steuerreform geht.
Der Steuerzahler sieht sich zu spät und vor allem ungenü-gend entlastet. Die Wirtschaft beurteilt das Ergebnis in-zwischen mit großer Skepsis. Da hilft Ihnen dauerhaftesSelbstlob nur sehr wenig, insbesondere auch deshalb, weildie Steuerquote mit 22,6 Prozent ein Höchstniveau er-reicht hat und weitere Belastungen durch neue Gegenfi-nanzierungsmaßnahmen notwendig sind. Sie treiben mitden AfA-Tabellen geradezu ein Versteckspiel.
Ich als mittelständischer Unternehmer kann doch erstdann eine Rechnung über Renditen und Investitionen auf-machen, wenn ich weiß, wie hoch die Gegenfinanzierungausfallen wird.
Ihre Rechnung, Frau Westrich, hält also nicht das, was Sieversprochen haben.Nein, mehr und mehr wird draußen erkannt: DasUnternehmensteuersenkungsgesetz ist ungerecht, will-kürlich und vor allem auch kompliziert. Die Ergebnisseder wissenschaftlichen Prüfung lassen schon jetzt Verfas-sungsbeschwerden der betroffenen Steuerzahler erwarten.Wesentliche Elemente des Unternehmensteuersenkungs-gesetzes sind aus verfassungsrechtlicher und europarecht-licher Sicht bedenklich. Schwer wiegen hierbei die Ver-stöße gegen das Nettoprinzip durch das Verbot desAbzugs von Aufwendungen und die Ungleichbehandlungbei den Veräußerungsgewinnen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Lydia Westrich11963
Auch die Tarifspreizung zwischen dem Spitzensteu-ersatz der Einkommensteuer und dem Körperschaftsteu-ersatz ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunktenmehr als fraglich. Dies gilt vor allem dann, wenn die An-rechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer-schuld der Personengesellschafter und der Einzelunter-nehmer nicht mit der Verfassung in Einklang steht. DerVorgängerparagraph 32 c des Einkommensteuergesetzesist vom Bundesfinanzhof ja schon für verfassungswidrigerklärt worden. Wir müssen sehen, was das Bundesver-fassungsgericht jetzt dazu sagt.
Das steuerpolitische Stückwerk geht bei Ihnen weiter,meine Damen und Herren. Die rot-grüne Koalition bringtschon jetzt eine erste Korrektur mit dem so genanntenSteuersenkungsergänzungsgesetz ein, das im Bundesratvon Ihnen, Herr Finanzminister, geradezu als Placebo fürden Mittelstand verschenkt wurde. Die schwerwiegendeFehlkonstruktion im deutschen Steuerrecht wird damitnicht korrigiert; sie wird vielmehr mit weiteren Ungleich-behandlungen verschärft.
Die mittelständischen Unternehmen, die 95 Prozentaller in Deutschland ansässigen Unternehmen ausma-chen, werden teilweise erheblich diskriminiert. Eigentlichsollte das Steuersenkungsergänzungsgesetz die Diskrimi-nierung der Unternehmen bei der Unternehmensteuerre-form verringern. Diesem Ziel wird der Gesetzentwurf je-doch überhaupt nicht gerecht. Die Gerechtigkeitslückenwerden sogar vergrößert. Die von der rot-grünen Bundes-regierung versprochene Wiedereinführung des halbendurchschnittlichen Steuersatzes für Betriebsveräuße-rungen und -aufgabenwird nicht konsequent umgesetzt.Damit entstehen neues Flickwerk und Willkür für die be-troffenen Unternehmen. Dem Mittelstand wird Entgegen-kommen suggeriert, in Wirklichkeit werden aber voraus-sichtlich 60 Prozent der Personengesellschafter undEinzelunternehmer durch das Gesetz kaum besser ge-stellt.
Die Anwendung der Begünstigungsvorschrift ist an vielzu viele Voraussetzungen geknüpft. Das Gesetz sieht er-hebliche Einschränkungen vor: Die Mindestbesteuerungnach dem Eingangssteuersatz und der Höchstbetrag von10Millionen DM Veräußerungsgewinn bedeuten eine un-angemessene und ungerechte Einschränkung.Ich sage Ihnen: Der Gipfel der Gerechtigkeitslücketrifft ausgerechnet die kleineren und mittleren Mittel-standsbetriebe.
Durch die im Gesetz geforderte Mindestbesteuerung mitdem Eingangssteuersatz wird bei einem verheiratetenPersonengesellschafter ein Veräußerungsgewinn bis zu444 000 DM nicht unter die Begünstigungsvorschrift deshalben durchschnittlichen Steuersatzes fallen; hören Siesich das einmal an. Das ist Fakt.
Und bei demjenigen, der 1999 oder 2000 seinen Betriebaufgeben oder verkaufen musste, findet Ihr Gesetz keineAnwendung. Es ist doch ungerecht, dass ausgerechnetderjenige, der das vorher durchführen musste, überhauptkeine Berücksichtigung findet.Das ist die Wahrheit über die soziale Gerechtigkeit die-ser rot-grünen Bundesregierung. Der Mittelstand wird ab-kassiert und ungerecht behandelt. Es findet hier die Tei-lung der Wirtschaft zulasten der kleineren und mittlerenBetriebe statt.
Niemand kann nach diesem mittelstandsunfreundlichenGesetz noch davon sprechen, dass bei der Regierungkeine Mittelstandsfeindlichkeit vorhanden wäre.Es gibt weitere Gerechtigkeitslücken, zum Beispiel beiden Veräußerungsgewinnen, wenn man an die Vorausset-zungen für den halben durchschnittlichen Steuersatzdenkt oder an die unterschiedlichen Möglichkeiten, dieman bei Veräußerungsgewinnen und insbesondere bei denKapitalanteilen in der Steuerfreiheit hat.Die CDU/CSU hat mit dem heutigen Antrag dagegenein mittelstandsfreundliches Steuerkonzept eingebracht.
Wir fordern damit die Korrektur Ihrer Gesetze! Es ist einewenigstens annähernde Gleichberechtigung bei den Kapi-talgesellschaften zu erreichen. Deshalb ist es erforderlich,dass auf sämtliche Betriebsaufgaben von Personengesell-schaften der halbe durchschnittliche Steuersatz Anwen-dung findet.
Ferner muss eine Gleichbehandlung der Personengesell-schafter und Einzelunternehmer bei der Besteuerung vonAnteilsveräußerungsgewinnen erfolgen. Diese Gewin-ne, die bei den Kapitalgesellschaften steuerfrei sind, müs-sen auch bei den mittelständischen Unternehmen begüns-tigt werden. Hierzu ist erforderlich, dass die Gewinne zu100 Prozent in eine steuerfreie Rücklage fließen. Um-strukturierungen müssen bei den mittelständischen Unter-nehmen genauso wie bei den Kapitalgesellschaften geför-dert werden.
Wir fordern deshalb auch die Wiederheraufsetzung derGrenze für wesentliche Beteiligungen auf 25 oder mindes-tens 10 Prozent und die Wiedereinführung des halbendurchschnittlichen Steuersatzes für Arbeitnehmerabfin-dungen und für Ausgleichszahlungen an selbstständigeHandelsvertreter. Natürlich fordern wir auch Klarheit beiden Afa-Tabellen sowie eine frühere Senkung des Ein-kommensteuerspitzensatzes, der erst im Jahr 2005 und da-mit für die Personenunternehmen zu langsam gesenktwird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Hans Michelbach11964
Herr Bundesfinanzminister, Sie dürfen nicht glauben,dass Sie durch das völlig ungenügende Steuersenkungser-gänzungsgesetz die Steuerzahler ruhig gestellt haben.Auch in Zukunft werden die mittelständischen Unterneh-mer immer wieder darauf hinweisen, dass sie bei ihrergroßen volkswirtschaftlichen Bedeutung ein Recht daraufhaben, im Vergleich mit den Kapitalgesellschaften nichthöher besteuert zu werden, und Chancengleichheit erhal-ten müssen. Die mittelständische Wirtschaft wehrt sichdagegen, dass sie von Ihnen zur Melkkuh der Nation de-gradiert wird.Ich muss Ihnen sagen: Dieses Steuersenkungsergän-zungsgesetz ist lange nicht das, was es verspricht. DieSteuerpolitik wird ungerechter und bleibt weiterhin will-kürlich.Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4217 und 14/4293 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Antrag auf Drucksache 14/4285 soll an dieselben Aus-
schüsse überwiesen werden, wobei der Haushaltsaus-
schuss diese Vorlage mitberatend erhalten soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung
der beamtenrechtlichen Altersteilzeit
– Drucksache 14/3777 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Gibt es dagegen Widerspruch? – Das ist
nicht der Fall.
Folgende Reden werden zu Protokoll genommen: die
Reden der Kollegen Hans-Peter Kemper von der SPD-
Fraktion, Meinrad Belle von der CDU/CSU-Fraktion,
Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max
Stadler von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Petra
Pau von der PDS-Fraktion.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3777 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf.
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Wahlen in Belarus
– Drucksache 14/4252 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Im großen Haus Europa haben wirein Sorgenkind, das wir ziemlich wenig beachten. Es istBelarus mit dem autoritär-patriarchalischen Diktator Lu-kaschenko, der sich seit Jahren demokratisierungsresis-tent zeigt.Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben im Jahr 1996,nachdem Lukaschenko durch ein Referendum hand-streichartig sein Parlament entmachtet, die Verfassungausgehebelt und seinem Präsidentenamt diktatorischeMachtfülle zugeschanzt hatte, Restriktionen verhängt, diebis heute fortgelten. Wir unterhalten keine bilateralen Be-ziehungen auf Ministerebene, ein Beitritt zum Europaratwird Belarus verwehrt und über das Abkommen überPartnerschaft und Kooperation wird nicht weiter verhan-delt. Damit ist Belarus auch von den EU-Programmen fürdie Transformationsländer abgeschnitten. Es laufen nurnoch humanitäre Programme, Unterstützungen für Nicht-regierungsorganisationen im Menschenrechtsbereich undkleinere Bildungsprogramme.Aber die Hoffnung, dass durch diese Sanktionen eineRückkehr zur Demokratie bewirkt werden könnte, hat ge-trogen.
Die Isolation von Belarus führt dazu, dass das Land ausdem europäischen Staatenverbund ausgeschlossen ist.Umgekehrt führen auch die europäischen Staaten keinenDialog mehr mit Belarus. Damit können sie keinen großenEinfluss auf die Politik von Belarus nehmen. Deshalbglaube ich, dass die Aufrechterhaltung dieser Isolationweder im Interesse von Belarus, was seine demokratischeEntwicklung angeht, noch in europäischem Interesseliegt. Es ist Zeit, diese Isolation zu durchbrechen.Die Möglichkeit dazu besteht, wenn bei den Parla-mentswahlen in Belarus am 15. Oktober demokratischenMindeststandards Genüge getan wird. In unserem inter-fraktionellen Antrag unterstreichen wir unser „großes In-teresse, ein demokratisches Belarus als geachtetes Mit-glied in der europäischen Staatengemeinschaft zubegrüßen“.
Bis dahin wird es aber ein langer Weg sein und die Wahlenwerden allenfalls den Beginn dieses Weges darstellen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Hans Michelbach11965
1) Anlage 3Am 13. November 1997 hat der Deutsche Bundestagmit den Stimmen aller Parteien außer der PDS eine Vor-lage verabschiedet, in der Belarus zur Rückkehr zurDemokratie aufgefordert wurde. Das Parlament, dasLukaschenko ernannte, wurde nicht anerkannt. Wir habenseitdem nur mit den oppositionellen Abgeordneten desentmachteten Parlaments Kontakte aufrechterhalten.Es sind und waren in der Tat inakzeptable Zustände inBelarus. Wir alle wissen, dass die demokratischen Rechteausgehebelt sind, dass die Menschenrechte nicht einge-halten werden, dass die Opposition verfolgt wird, dassMenschen verschwinden und dass es weder echte Medien –noch Meinungsfreiheit gibt. Bei allen Demokratisierungs-bemühungen, die die OSZE und der Europarat in dieserganzen Zeit unternommen haben, ist es immer nur wie beider Echternacher Springprozession zugegangen, nämlichein Schritt vor und zwei zurück, das heißt: Zusagen wur-den nicht oder nur halb eingehalten. Es gab kleine Fort-schritte, aber eben auch herbe Rückschläge.Trotz der Zustimmung von Belarus auf demOSZE-Gipfel zu der Advisory and Monitoring Group derOSZE, die ihre Arbeit im Februar 1998 aufgenommen hat,hat die unter der Leitung von Botschafter Wieck stehendeMission, deren Aufgabe die Hilfestellung zur Demokrati-sierung und die Hinführung zu einem politischen Plura-lismus war, über zwei Jahre nur mit minimalen Erfolgengearbeitet.Lassen Sie mich an dieser Stelle Botschafter Wieckmeinen ganz besonderen Dank und meine Hochachtungfür seine Arbeit aussprechen.
Ihm ist es zu verdanken, dass wir jetzt, kurz vor der Wahlam 15. Oktober, im Vorfeld der Wahlen doch einen Hoff-nungsschimmer und einige Fortschritte erkennen. Ichschließe auch den deutschen Botschafter in Minsk in die-sen Dank ein. Er hat diese Bemühungen in unermüdlicherArbeit unterstützt.
Man hat es in Belarus nicht nur mit einem diktatori-schen und demokratieunwilligen Regime zu tun, sondernauch mit einer starrköpfigen und sehr zerstrittenen Oppo-sition. Dies macht die Sache nicht leichter. Trotzdem istes der OSZE-Mission gelungen, den Dialog mit derStaatsmacht und mit der Opposition in Gang zu bringen.Ich denke, das war eine harte Arbeit. Es erweckt Hoff-nungen, dass möglicherweise doch eine Lösung der in-nenpolitischen Krise zu finden sein wird.Diese Mission hat zusammen mit dem Europarat vierKriterien für diese Wahl entwickelt. Sie stellen Mindest-standards für freie und faire Wahlen dar. Das heißt: Esmuss ein Wahlgesetz geben, das diesen demokratischenMindeststandards genügt; es muss allen Medien der Zu-gang ermöglicht werden, nicht nur denen der Staatsmacht;es muss im Vorfeld der Wahl eine Periode des politischenFriedens geben, in der es keine Oppressionen mehr gegenOppositionspolitiker gibt; und die Rechte des zukünftigenParlaments sollen gestärkt werden.In den ersten drei Bereichen gibt es Fortschritte. Des-halb hat die 3. Technische Konferenz der OSZE be-schlossen, eine so genannte technische Wahlbeobachtungzuzulassen. Sie will mit dieser Wahlbeobachtung zwarkeine vorauseilende Absegnung eines demokratischenProzesses signalisieren – das Ganze ist ja in gewisserWeise ein diplomatischer Spagat –, aber vielleicht kann jadurch Hinschauen sichergestellt werden, dass die Min-deststandards eingehalten werden. An dieser technischenBeobachtermission wird auch die parlamentarische EU-Troika, die aus Vertretern des Europäischen Parlamentsund des Europarats sowie aus OSZE-Parlamentariern be-steht, teilnehmen.An dieser Stelle möchte ich den Mitgliedern dieser spe-ziellen aus Parlamentariern des Europäischen Parlaments,der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und desEuroparats entstandenen Gruppe ausdrücklich danken.Vor allen Dingen schließe ich in diesen Dank unsere eige-nen Kollegen Wolfgang Behrendt und Gert Weisskirchenvom Europarat bzw. der OSZE und unseren früheren Kol-legen Robert Antretter mit ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte doch sehrdavor warnen, jetzt schon von einer Wahlfarce zu spre-chen, so wie es heute in der „Welt“ geschehen ist. DieOSZE und viele, die sich in Belarus auskennen, signali-sieren, dass es eine Chance gibt, dass diese Wahlen eini-germaßen ordentlich über die Bühne gehen. Wir solltenuns nicht vor Beendigung der Wahlen ein Urteil darübererlauben, ob sie einen Fortschritt in den Bereichen ge-bracht haben, wo wir ihn uns wünschen. Wir könntendann an etwas anknüpfen, was ich für dringend erforder-lich halte. Wir müssen nämlich endlich mit der Isolati-onspolitik gegenüber Belarus aufhören und wieder in ei-nen politischen Dialog eintreten. Dazu gehört, dass wirauch wieder den Zugang zu Hilfsprogrammen ermögli-chen. Ohne Hilfsprogramme wird dieses Land nicht aufdie Beine kommen. Es ist wirtschaftlich am Boden, dieMenschen hungern und es ist von wirklich substanziellenHilfsprogrammen abgeschnitten, die es wieder ein wenigauf die Beine bringen könnten,
sodass eine wirtschaftliche Integration in die EuropäischeUnion überhaupt angestrebt werden kann.Dazu bedarf es dann natürlich umgekehrt der Zuge-ständnisse dieses Diktators, der offensichtlich kein Be-wusstsein dafür hat, dass sein Volk hungert und friert. Wirbrauchen ganz offensichtlich eine neue Strategie, die nichtnur mit harten Sanktionen arbeitet, sondern die „sticks“und die „carotts“ ein wenig gleichmäßiger verteilt. Dasheißt nicht, dass wir unsere Ansprüche an die De-mokratisierung herunterschrauben sollten. Das heißt aber,dass wir darauf bestehen müssen und von unserer Seite al-les dafür tun müssen, dass auch nach den Wahlen, selbst
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Uta Zapf11966
wenn sie nicht so ausfallen, wie wir es uns vor demHintergrund unserer Standards wünschen, die ganz wich-tige Arbeit der OSZE-Mission in Minsk weitergeführtwird. Dies ist bisher die einzige Dialogplattform, die et-was bewirkt hat. Dies beinhaltet für uns die Verpflichtung,dass wir als Parlamentarier und auch unsere Regierungenwieder in einen intensiveren Dialog eintreten, um aufdiese Regierung Einfluss auszuüben. Es gibt in dieserRegierung nämlich Kräfte, die den Dialog mit Europa unddie Rückkehr zur Demokratie wollen. Diese Kräfte sowiedie demokratische Opposition müssen wir mit unserer Po-litik stärken. Dies wird nicht gelingen, wenn wir die Iso-lationspolitik weiterführen.Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen.Demnächst wird Weißrussland ein Nachbar des erweiter-ten Europas sein. Es wird Konflikte an diesen Grenzen ge-ben, die sich schon heute abzeichnen und immer stärkerwerden können. Das heißt, dass wir ein großes Interessean einer positiven Entwicklung haben müssen.Ich möchte einen letzten Punkt selbstkritisch äußern.Wir neigen dazu, doppelte Standards anzuwenden.
Wenn wir zum Beispiel die Vorgänge in anderen Trans-formationsstaaten, zum Beispiel die Vorgänge in Russ-land und in der Ukraine, beurteilen, dann fällt das Urteilimmer wesentlich milder aus, als es gegenüber Weißruss-land ausfällt.
Dies wird uns mit Recht vorgehalten. Lassen Sie uns alsoallesamt daran arbeiten, dass sich dieses Land demokra-tisch entwickelt! Es gibt eine Chance, dass dieses Landam 15. Oktober in den Schoß der europäischen demokrati-schen Völkerfamilie zurückfindet. Unseren Teil wollenwir gerne dazu beitragen.Wir appellieren auch heute an Präsident Lukaschenko– wir hatten dazu bereits eine Resolution verabschiedet –,zur Demokratie und Rechtstaatlichkeit zurückzukehren.Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau KolleginZapf, Optimismus ja, aber auch Skepsis.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie fragen, ob man vornewegdie Wahl tatsächlich als Farce bezeichnen sollte. DieseEinschätzung ist sehr pessimistisch. Es deuten aber sehrviele Anzeichen darauf hin, dass Lukaschenko noch derist, der er war. Wir müssen deswegen höllisch aufpassen,dass aus dieser Wahl keine Farce wird.Ich halte es für gut, dass sich die Opposition – jeden-falls in wesentlichen Teilen – bereit erklärt und sichdurchgerungen hat, an der Wahl teilzunehmen. Die Boy-kottphilosophie ist fragwürdig. Ich schließe damit an dieFrage der Isolation an – Frau Kollegin, auch Sie habendiesen Punkt genannt –, über die wir gestern im Zusam-menhang mit Serbien diskutiert haben: Die Bevölkerungsozusagen in Haft zu nehmen für eine Clique, von der sieregiert und drangsaliert wird, ist eine politisch und mora-lisch höchst fragwürdige Art und Weise, sich mit den Pro-blemen auseinander zu setzen.
Deswegen sollten wir uns, was die Hilfsprogramme undandere Maßnahmen betrifft, in Richtung Weißrusslandöffnen.
Ich vermute, dass Lukaschenko über die entsprechendeKanäle gesagt worden ist, dass internationale Anerken-nung die Einhaltung von Mindeststandards der Demo-kratie bedingt. Alle Autokraten und Diktatoren trachtenund schmachten immer geradezu nach internationaler An-erkennung. Ab und an lassen sie sich zu Veränderungenbewegen, die ohne OSZE und das Engagement der Di-plomatie – wir haben die Tätigkeit von Botschafter Wieckund auch die Unterstützung durch das Auswärtige Amt inunserem gemeinsamen Antrag hervorgehoben – nichtmöglich wären. Das galt schon vor drei Jahren, als wirversucht haben, aus der Malaise Lukaschenko durchdiplomatischen Druck herauszukommen.Ich hoffe, dass die Maßnahmen wirken. Ich hoffe, dassdie OSZE einen hoffnungsvollen Bericht abgeben kann,der zwar wohl nicht auf ein Wunder hindeuten wird, deraber einen einigermaßen pluralistischen Wahlausgangund eine angemessene – also im Sinne: die Rechte des an-deren achtend – Verhaltensweise aller Beteiligten zum In-halt haben wird.Wir wissen, dass die Opposition zusammen mit denGewerkschaften für Samstag eine Protestkundgebungplant. Hier ist vermutlich die erste Gelegenheit fürLukaschenko nachzuweisen, dass er den Sicherheitsappa-rat nicht so zupacken lässt, wie er es in der Vergangenheitleider des Öfteren getan hat.In diesen Tagen nach den revolutionsähnlichen Um-wälzungen in Belgrad blickt sicher auch die Opposition inMinsk gespannt und ein wenig neidisch nach Serbien. DerAnschauungsunterricht in Sachen „Wie stürze ich einenAutokraten?“ wird ihr bei dieser Wahl allerdings nochnicht helfen – das ist meine Erwartung – da ein SturzLukaschenkos nicht absehbar ist. Er hat nach wie vor ei-nen gut gesicherten Machtapparat im Rücken, der durchviele Geheimdienstler, durch Polizei usw. unterstütztwird. Die Medien hat er vollständig im Griff. Die ihm ge-nehme Verfassung und das widerrechtliche Referendum
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Uta Zapf11967
von 1996 geben ihm eine starke Stellung. Die Oppositionhat es also nicht leicht.Allerdings muss ich hinzufügen: Ein Stück Unsicher-heit besteht für jeden Autokraten und Diktator. Wie vieleBerichte haben auch wir von gut informierten Nachrich-tendiensten und gut informierten Analysten erhalten, indenen uns mitgeteilt wurde, dass an dem Stuhl kaum zurütteln ist? Aber siehe da: Wie Frühlingsschnee in derSonne schmolz der Stolz der Diktatoren dahin, schneller,als sie es sich und als wir es uns haben vorstellen können.Gerade deswegen müssen wir jetzt die Opposition unter-stützen. Ich glaube, ich darf das für das ganze Haus in An-spruch nehmen: Jeder auf seinen Kanälen, jeder mit sei-nen Kontakten hat die Opposition in Belarus nicht aus denAugen verloren und unterstützt sie. Deswegen muss manLeuten wie Statkewitsch, Tschigir und all den anderenganz klar sagen: Macht weiter, beteiligt euch!Die Unentschiedenheit in der Bevölkerung, über dienoch in den letzten Tagen berichtet wurde, ist auch eineChance, auch wenn es für die Opposition schwer seinwird, medial oder wie auch immer an die Bevölkerungheranzukommen. Ein Wahlkampfetat pro zugelassenemKandidat von 130 Dollar ist nicht gerade dazu angetan,eine breite Medienkampagne zu entfachen, wenn mandenn könnte.Die Strukturen des Regimes sollten uns nicht daranhindern, die Opposition in informellen Kontakten zu un-terstützen, damit diese aus sich heraus versuchen kann,das System zu verändern. Dazu ist eine Änderung desWahlgesetzes über das hinaus, was die OSZE bereits er-reicht hat, ein richtiger Weg. Sie könnte einer der erstenSteine sein, die aus dem Gebäude Lukaschenkos heraus-gebrochen werden.Wir begrüßen die Bemühungen der OSZE, unterstütztvon Europäischer Union und Europarat, um faire Wahlen.Besonders in den Fragen der Anpassung der Wahlgesetz-gebung an europäische Standards, des freien Zugangsaller politischen Kräfte zu den elektronischen und Print-medien – ich gehe einmal davon aus, dass unser frühererKollege und Medienbeauftragte der OSZE, der KollegeDuve, da sehr rührig und aktiv ist –, der Einhaltung einervertrauensbildenden Friedensperiode unter Wahrung derMenschenrechte und der Erweiterung der Kompetenzendes Parlaments, die den Vorstellungen und Vorschlägender internationalen Organisationen entspricht, habendiese Bemühungen bereits erste Früchte getragen.Dennoch sind der Berater- und Beobachtergruppe defacto die Hände gebunden, wenn Lukaschenko andereswill. Daher sei vor zu ausgeprägter Euphorie über die er-freulichen Erfolge der OSZE gewarnt. Die OSZE stellteja fest, dass das Wahlgesetz, das Lukaschenko am 15. Fe-bruar dieses Jahres unterzeichnete, manipulierbar ist undmanipuliert wird. Die Auswahl von angemeldeten oppo-sitionellen Kandidaten, von der wir gehört haben, wider-spricht natürlich allen Grundsätzen der Demokratie. Aberimmerhin gibt es oppositionelle Kandidaten. Daran müs-sen wir uns wohl nach Lage der Dinge festhalten.Dass Lukaschenko zwischenzeitlich auch die Wahl-kommission mit seinen Leuten besetzt und so bestückthat, dass von einer unabhängigen Kommission nicht mehrdie Rede sein kann, ist ein weiteres Problem. Umso mehrkommt es auf die europäischen Wahlbeobachter an. Ichhoffe doch, dass allein durch ihre Anwesenheit wie schonso oft ein gewisses Hemmnis entsteht, gar zu schlimmeund gar zu offenkundige Fälschungen und Behinderungendes Wahlvorgangs zuzulassen. Wir warten also gespanntauf den Bericht der Expertengruppe.Europäische Geschlossenheit ist gegenüber Lukaschenkowichtig. Deswegen ist es auch bedeutsam, dass sich Bun-deskanzler Schröder und die Bundesregierung in die dies-bezügliche europäische Solidarität einreihen. Hier liegteinmal ein Fall vor, bei dem es richtig ist, dass sie sicheinreihen. Wenn das geschieht, kann BundeskanzlerSchröder seine Scharte von damals wieder auswetzen,als er Herrn Lukaschenko, wie wir uns erinnern können– ich glaube, es ist zweieinhalb Jahre her; da war er nochMinisterpräsident in Niedersachsen; dies ist aus heutigerSicht sicherlich ein Ausrutscher gewesen –, wegenirgendwelcher Reifenverkäufe offiziell empfing.
– Wir haben damals darüber ausführlich gestritten; daskönnte man in den entsprechenden Protokollen nachlesen.
– Es gibt Dinge, an die erinnere ich mich noch nach Jah-ren sehr gut.
– Wenn ich mich richtig entsinne, gab es damals geradeaus den Reihen altgedienter sozialdemokratischer Außen-politiker ganz andere öffentliche Meinungsäußerungen zudiesem Punkt.
Ich will nun aber in die Zukunft blicken.
Ich gestehe zu: Er hat ihn in diesem Jahr nicht empfangen.Das zeigt, dass er auf einem guten Weg ist.Wir haben, wie übrigens auch vor drei Jahren, einengemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen ja keine de-mokratischen Nachhilfestunden erteilen. Aber wir solltenuns schon unserer Verantwortung bewusst sein. Wir sindim wirtschaftlichen Bereich nach Russland der wichtigstePartner Weißrusslands – das können wir auch sein – undwir haben nach der Katastrophe von Tschernobyl in Formvon humanitärer Hilfe gezeigt, dass bei uns sehr vielHilfsbereitschaft besteht.Auch haben wir ein Stabilitätsinteresse. Frau Kolle-gin Zapf, Sie haben das angeschnitten. Polen, das bereitsjetzt NATO-Mitgliedsland ist und das immer mit gewisserSorge auf die Entwicklung in Weißrussland geblickt hat,hat einen Anspruch darauf, dass wir als Europäer dort ge-meinsam unser Stabilitätsinteresse wahrnehmen. Ichhoffe, dass unter Präsident Putin das so bleibt, was Jelzinin durchaus nicht unkluger Weise unternommen hat, näm-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christian Schmidt
11968
lich den Unionsbestrebungen von Herrn Lukaschenko ge-genüber gewisse Zugeständnisse zu machen, ihn aberletztendlich ins Leere laufen zu lassen, um zu verhindern,dass er mit seinen Vorstellungen von Politik bei der Ein-flussnahme auf Russland Oberwasser gewinnt.Somit hoffe ich, dass am 15. Oktober dieses Jahres dererste Schritt zu einer Rückkehr Weißrusslands in die Ge-meinschaft der europäischen Staaten gegangen wird unddass wir dazu unseren Beitrag leisten.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut Lippelt
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Unsere heutige Debatte soll ein Zeichen der internationa-len Aufmerksamkeit für die Wahlen in Belarus sein. Obwir das zu so später Stunde und so müde, wie wir darüberdiskutieren, hinbekommen, weiß ich nicht.
Gegenwärtig schauen wir alle nach Belgrad und in denNahen Osten. Das ist verständlich und notwendig. Zu-gleich aber gibt es am kommenden Sonntag eine Wahl, diewir auf keinen Fall übersehen dürfen. Alles andere würdenämlich bedeuten, dass wir die Hoffnung auf eine demo-kratische Entwicklung in diesem Land aufgeben würden.Deshalb stelle ich fest: Das Land lebt erstens im Zu-stand des Verfassungsbruchs seines Präsidenten. Deshalbhat EU-Europa mit Ächtung reagiert. Es gibt auf höchsterEbene keine Kontakte. Daraus resultiert zweitens, dass je-des Bemühen, dieses Land im Zuge eines ersten Schrittesnach Europa zunächst zumindest in den Europarat aufzu-nehmen, gänzlich unterbrochen ist. Daraus folgt aberauch, dass es keine Förderung zwischenstaatlicher Wirt-schaftsbeziehungen gibt.Wir sind diesem Lande gegenüber allerdings tief ver-pflichtet, und zwar aus zwei Gründen:Erstens. Jeder kennt die Namen Oradour und Lidice. InBelarus hat es aber mehr als 100 Oradours gegeben; werkennt schon die Namen im Einzelnen? Auch heute kannes noch geschehen – so hat mir der Botschafter berichtet –,dass Bauern Erkennungsmarken deutscher Soldaten vonihren Feldern mitbringen und in der Botschaft abgeben.Zweitens. Wir mögen darüber streiten, inwieweitTschernobyl nicht nur eine Katastrophe sowjet-russi-scher Atomtechnik, sondern auch eine Katastrophe desallgemein geteilten technischen Fortschritts bei uns ist –Sie werden da anderer Meinung als wir sein. Klar ist aber:Ein Drittel des Landes ist atomar verseucht. Eine halbeMillion Menschen leben mangels anderer Wohn-, andererLebens-, anderer Existenzmöglichkeiten auf dieser ver-seuchten Erde ihr schweres Leben.Auf der anderen Seite – das ist schon erwähnt wor-den – hat unsere Zivilgesellschaft in bescheidenem Maßeauf die Verpflichtungen reagiert. Es gibt sehr vieleTschernobyl-Initiativen aus Deutschland, die Kontaktenach Belarus pflegen, um in bescheidenem Maße zu hel-fen. Es gibt manche Gruppen und einige Einzelpersonen,die um die historische Schuld wissen und deshalb Kon-takte zu diesem Lande pflegen.Das ist Hilfe im Kleinen. Zur durchgreifenden Verbes-serung der wirtschaftlichen und sozialen Situation aberbedarf es der voll vom Staat unterstützten Wirtschafts-beziehungen, der Aufnahme des Landes in europäischeZusammenhänge. Es gilt also, den Verfassungsbruch zuheilen, sodass EU-Außenminister wieder in Minsk landenund Beziehungen vertieft und ausgebaut werden können,zum Wohle des Landes und seiner Bevölkerung. Zweideutsche Botschafter – auch das ist erwähnt worden –,der Vertreter der Bundesrepublik in Minsk, BotschafterWinkelmann, und der Leiter der OSZE-Mission, Bot-schafter Wieck, haben sich intensiv darum bemüht.Es konnte Konsens zwischen dem Regime und der Op-position über einen Wahlkalender erzielt werden, dasheißt: Parlaments- und Präsidentenwahlen konnten soaufeinander bezogen werden, dass der Streit um Legalitätoder Illegalität der beiden Institutionen und der Streit umdie Dauer der jeweiligen Legislatur- bzw. Amtsperiodebei einer korrekten Durchführung der Parlamentswahl indiesem Jahr und der Präsidentenwahl im nächsten Jahrhätte aufgehoben werden können. Leider wurden dieseBemühungen immer wieder durch Willkürakte der Regie-rung, genauer gesagt des Präsidenten, konterkariert, so-dass die Voraussetzungen für einen korrekten Ablauf derWahl nicht geschaffen werden konnten.Die OSZE führt deshalb nur eine technische Wahlbe-obachtung durch. Ich bedaure das. Ich hatte mich zur re-gelrechten Wahlbeobachtung gemeldet. Diese Meldunghabe ich gestern zurückgezogen, weil mir klar wurde,dass die Differenz zu dem, was man unter technischerWahlbeobachtung verstanden hätte, zu groß gewesenwäre. Ich wäre gegen den Strom geschwommen. Ich wäregeradezu ein Opfer der Propaganda der anderen Seite ge-worden. Deshalb ging das nicht. Aber in den Wahlkreisen,in denen Statkevich und Lebedko kandidierten, durch dieWahllokale zu gehen, hätte ich immer für sinnvoll gehal-ten – wohl wissend, dass die Fälschungen im Computer anganz anderer Stelle passieren. Natürlich hätte man jeder-zeit sagen können, dass die Voraussetzungen überhauptnicht demokratisch waren. Trotzdem denke ich – da stim-men wir weitgehend überein –, dass wichtig gewesenwäre, diesen Schutz so weit zu geben, dass zumindest einekleine Opposition in Belarus im Parlament hätte entstehenkönnen. Das heißt, wir hätten zumindest erhoffen können,dass es vorrevolutionäre serbische Verhältnisse gibt. InSerbien existierten unter der Diktatur von Milosevicdurchaus jahrelang Parteien.In der Zwischenzeit gibt es weitere Vorkommnisse, dieuns mit großer Sorge erfüllen. Ich zähle die auf, die mirzur Kenntnis gelangt sind: Es hat Verhaftungen von Mit-gliedern der Zeitung „Rabochy“ gegeben. Es hat einenÜberfall auf das Büro von Statkevich, dem exponiertestenkandidierenden Demokraten, gegeben. Es hat auch eineGang im Wahlbüro von Herrn Lebedko gegeben. Es hat
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Christian Schmidt
11969
die Verhaftung von Flugblattverteilern, die zum Wahl-boykott aufrufen, gegeben.Unsere heutige Debatte ist vor allem eine Selbstver-pflichtung, den Verlauf der Wahlen am Sonntag aufmerk-sam zu verfolgen. Anfang nächster Woche wird es einenBericht von OSZE, EU und Europarat über den Verlaufder Wahlen geben. Wir sollten uns vorbehalten, auf derGrundlage dieses Berichts gegebenenfalls eine neue De-batte anzustreben.
Jetzt hat
der Kollege Walter Hirche von der F.D.P. das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Erfreuliche an dieser Debatte trotz des
ernsten Themas ist: Es gibt einen gemeinsamen, inter-
fraktionellen Antrag. Auch die bisherige Debatte hat ge-
zeigt, dass die Einschätzung der Situation weitgehend
übereinstimmend ist: auf der einen Seite den Versuch zu
unternehmen – so ist es beschrieben worden; das möchte
ich aufgreifen –, die Isolierung zu durchbrechen, und auf
der anderen Seite eine Hofierung der Machtstrukturen, die
vorhanden sind, zu vermeiden.
Frau Zapf, vor diesem Hintergrund und in Anbetracht
des EU-Beschlusses von 1996, „Restriktionen gegenüber
Weißrussland“, möchte ich sagen, dass es seinerzeit einen
eigenartigen und rustikalen Charme hatte, dass der dama-
lige niedersächsische Ministerpräsident Schröder Herrn
Lukaschenko empfangen hat. Das muss man einfach sa-
gen.
Mitglieder der damaligen Bundestagsfraktion der SPD
haben dagegen protestiert. Auch das möchte ich festhal-
ten. Insofern gibt es hier in diesem Hause zwischen allen
Fraktionen auch in dieser Frage Übereinstimmung.
Herr Schmidt, wenn man das sagt, dann vor allem des-
halb,
weil wir uns in einem Zwiespalt befinden und hier eine
Balance herzustellen ist. Wir suchen nach allen Wegen,
die Opposition und die demokratische Entwicklung in
diesem Land zu fördern sowie das Land nicht in der Iso-
lierung zu lassen. Wir versuchen, auch das zu berücksich-
tigen, was Herr Lippelt eben im Hinblick auf historische
und aktuelle Belastungen gesagt hat.
Das führt dazu, dass wir hier genau zwischen dem Re-
gime, und hier speziell dem Präsidenten Lukaschenko, so-
wie den Ansatzmöglichkeiten, die es an anderer Stelle
gibt, unterscheiden müssen. Der Präsident ist auf die vier
Kernforderungen der Opposition, die Sie, Frau Kolle-
gin, genannt haben – Zugang zu den Medien, Aufnahme
der Vertreter der Opposition in die Wahlkommission, Ein-
stellung der politischen Verfolgung und Übertragung der
abschließenden gesetzgeberischen Gewalt auf das Parla-
ment –, wie wir alle wissen, nur teilweise und in schwam-
miger Form eingegangen.
Besonders bemerkenswert ist, dass er bei seiner leich-
ten Flexibilität in der letzten Zeit die Warnung ausgespro-
chen hat, dass jemand, der die Gewaltenteilung durch-
setzt, sein Land spalten würde. Dies würde er nicht
zulassen. Auch das muss man hier in aller Deutlichkeit sa-
gen. Das ist eine Kampfansage an das, was wir unter De-
mokratie verstehen.
Meine Damen und Herren, deswegen können und wol-
len wir uns in keiner Weise verschließen, alle Wege zu su-
chen. Nur müssen wir genau wissen, dass dies nicht ganz
so einfach ist. Hier werden kosmetische Zugeständnisse
gemacht, wenn sie opportun scheinen. Insofern entspre-
chen diese kosmetischen Zugeständnisse längst nicht den
rechtsstaatlichen Mindeststandards, die wir zugrunde le-
gen müssen.
Aber auch ich unterstreiche: Zum einen ist Belarus mit
der bevorstehenden Osterweiterung der Europäischen
Union ein unmittelbarer Nachbar, zum anderen zeigt
uns – das sei hier abgekürzt gesagt – die Entwicklung in
Serbien, dass wir auch dann, wenn die Situation scheinbar
ausweglos ist, weiter arbeiten und Kontakte pflegen müs-
sen, damit man eines Tages zu einer anderen Situation
kommt.
Deswegen kann ich an dieser Stelle abschließend nur
sagen: Ich möchte mich ganz besonders bei der OSZE-
Mission und unserem Botschafter, Herrn Wieck, bedan-
ken. Auch hier gibt es eine übereinstimmende Beurtei-
lung. Ich freue mich, dass alle Fraktionen an einem Strang
ziehen. Da mag es zwar kleine Unterschiede in der Beur-
teilung geben, aber das Wichtigste ist, dass der Grundsatz
der Außenpolitik erhalten bleibt, dass wir den Versuch
machen, mit unseren europäischen Nachbarn überall ins
Reine zu kommen, überall dort, wo es geht, die demokra-
tische Entwicklung zu fördern, aber keine Verwischung
durch falsche Kooperationen zur falschen Zeit aufkom-
men zu lassen.
Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Belarus ist historisch und kulturell im-mer ein integraler Teil Europas gewesen. Mit einer Lagean der Kreuzung wichtiger Transitwege zwischen Ost undWest, Skandinavien und dem Mittleren Osten kann es einewichtige Brückenfunktion zwischen der EU, Russlandund der GUS erfüllen.Belarus ist ein souveräner Staat mit einer reichen undkomplizierten Geschichte. Das Schicksal der Menschen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Dr. Helmut Lippelt11970
in Belarus war häufig, nicht zuletzt durch Deutschland,von großer Tragik geprägt. Allein der vom deutschenFaschismus entfesselte und mit grausamster Brutalität ge-führte Zweite Weltkrieg hat das ganze Land verwüstet undjeden vierten seiner Einwohner, insgesamt 2,5 Millio-nenMenschen, vernichtet. Deshalb trägt Deutschland die-sem Land gegenüber eine historische Schuld.Wir sind der Überzeugung, dass wir auch aufgrund die-ser historischen Schuld alle gemeinsam die Aufgabe ha-ben, die Entwicklung der Beziehungen zwischen denMenschen in Belarus auf der einen Seite und Deutschlandauf der anderen Seite als eine grundlegende Aufgabe derdeutschen Außen-, aber auch Innenpolitik zu begreifen.Die PDS unterstützt deshalb alle Bemühungen Deutsch-lands um die demokratische, wirtschaftliche und sozialeEntwicklung in Belarus. Wir sind jedoch der Überzeu-gung, dass wir die Zivilgesellschaft nur dann stärken undvoranbringen können, wenn der jetzige sehr rigide Isola-tionskurs, den die bundesdeutsche Außenpolitik fährt,eindeutig überwunden wird. Deshalb brauchen die Men-schen nach unserer Überzeugung Hilfe in wirtschaftli-cher, ökonomischer und sozialer Hinsicht.Im Vorfeld der Wahlen wissen wir alle, dass die demo-kratische Situation in Belarus nicht befriedigend ist. Wirsehen mit Besorgnis die derzeitige demokratische Situa-tion von Belarus. Wir wissen jedoch auch, dass sich diedemokratische Situation in einer Reihe von postsowjeti-schen Staaten ähnlich problematisch darstellt.Deshalb unterstützt die PDS wie auch in anderen Be-reichen Initiativen zur Weiterentwicklung solcher proble-matischer Strukturen hin zur Demokratie. Die Zivilge-sellschaft muss gefördert und vorangebracht werden.
Die PDS-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb dafür ein,dass die Beziehungen mit Belarus voll wiederhergestelltund weiterentwickelt werden, weil wir der Überzeugungsind, dass auch das der Zivilgesellschaft nützt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der jetzt vor-gelegte Antrag greift nach unserer Überzeugung zu kurz.Er enthält eine einzige Forderung, nämlich einen „Prozessder Abwendung von autoritären und repressiven Herr-schaftsmethoden und eine Rückkehr zu Demokratie undRechtsstaatlichkeit“ zu beginnen. Diese Forderung unter-stützen wir natürlich. Wir halten sie aber für sich genom-men für zu wenig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen imDeutschen Bundestag müssen gemeinsam dafür eintreten,dass die parlamentarische Demokratie auch dadurchgestärkt wird, dass autoritäre Regime nicht mit dem Hin-weis darauf, dass Isolationskurse gefahren würden, einefalsche Solidarisierung ihrer Bevölkerung durchsetzenkönnen. Wir halten die jetzige Isolationspolitik deshalbfür falsch und auch für kontraproduktiv.Die PDS fordert deshalb die Bundesregierung auf, eineneue, konstruktive Politik gegenüber Belarus voranzu-bringen. Eine ganzheitliche Politik würde die Aufnahmeanderer diplomatischer Beziehungen als bisher möglichmachen. Aus diesem Grund können wir dem vorgelegteninterfraktionellen Antrag nicht zustimmen.Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und der F.D.P. zu Wahlen in Belarus auf Drucksache
14/4252. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Frak-
tion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschluss-
gesetzes
– Drucksache 14/1671 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4272 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Gudrun Kopp das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrteHerren und Damen! Wir diskutieren ein Jahr nach Ein-bringung unseres F.D.P.-Antrages auf Abschaffung desLadenschlussgesetzes – nach Ladenschluss, spät amAbend – und in der Zwischenzeit hat sich im Bewusstseinder Bevölkerung jede Menge getan, aber nicht nur dort,sondern auch bei vielen Politikern und bei Verbänden.
Ich zitiere zum Beispiel Frau Merkel, die vor 14 Tagenin meinem Wahlkreis bei einem Unternehmertag gesagthat, dass der Ladenschluss inzwischen als Symbolthemafür Stillstand und Reformstau in Deutschland stehe. Dahat sie vollkommen Recht.
Ministerpräsident Clement hat in der Sommerpause dieAbschaffung dieses Gesetzes gefordert. Eine Mehrheit imBundesrat fand sich zumindest für eine Liberalisierungdes Ladenschlusses. Allerdings – das war dann der große
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Uwe Hiksch11971
Coup –: Bundeskanzler Schröder entdeckte den Laden-schluss als taktisches Beruhigungsmittel in Richtung Ge-werkschaften, um in der Rentenfrage weiterzukommen.
Die so genannte Dienstleistungsgewerkschaft zieht mitihren 3 Millionen Beschäftigten gegen 70 Millionen er-wachsene Verbraucher im Lande zu Felde,
obwohl doch jeder hier im Raum längst weiß: Das Gesetzist nicht zu halten. Es wird früher oder später fallen.
So denkt auch Wirtschaftsminister Müller; denn er haterst kürzlich in einem Interview geäußert, binnen kurzerFrist werde dieses Gesetz wie das Rabattgesetz nicht mehrvorhanden sein. Auch Staatssekretär Mosdorf antwortetemir auf meine schriftliche Anfrage nach dem größten An-reiz des Internet-Handels, das Beste an diesem Internet-Handel sei die 24-stündige Verfügbarkeit. Man hört undstaunt.
Der Ladenschluss wird inzwischen in Scheiben ge-schnitten, ausgehöhlt, umgangen und mit Sonderregelun-gen versehen.
Natürlich entspricht er längst nicht mehr dem boomendenInternet-Handel, den Sonderverkäufen an Bahnhöfen,Tankstellen und an Flughäfen.
Apropos Tankstellen: 14 Milliarden DM an Umsätzenmachen die Tankstellen jedes Jahr allein durch Shop-Produkte.
Was brauchen wir am Standort Deutschland? – Dere-gulierung und weniger Gesetze. Hier haben wir dieChance, dies zu realisieren. Im Übrigen muss niemandlänger öffnen, aber das Zeitfenster, die Möglichkeit dazuwäre gegeben.Ich möchte ein Wort zu dem Thema Beschäftigte sa-gen, für die das angeblich ein großes Problem sei. WissenSie, es gibt längere oder ungewöhnliche Arbeitszeitennicht nur für Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker oderFeuerwehrleute.
Es gibt in der gesamten Freizeitkultur, in der gesamtenBranche von Gastronomie, Kino und Theater Menschen,die schon heutzutage länger als 20 Uhr arbeiten, manchesogar die ganze Nacht.
Wenn es den Gewerkschaftsfunktionären mit der Sorgeum die Beschäftigten wirklich ernst wäre – am Arbeits-zeitgesetz wird nichts verändert –, dann dürften sie dieseFreizeitindustrie und diese Freizeitbeschäftigungen kon-sequenterweise nicht in Anspruch nehmen, weil dort näm-lich Beschäftigte angeblich ausgebeutet werden.
Dies alles ist heuchlerisch, weil wir alle wissen, was ei-gentlich Sache ist.
Es ist einfach sehr schwierig, wenn wir vom DeutschenStädtetag hören, wir sollten einen Schutzwall um die In-nenstädte bilden. In diesem Schutzwall sollen dann be-sondere Öffnungszeiten möglich sein. Ich finde, das istrechtlich höchst bedenklich. Es schließt in diesem Fallnämlich die Gewerbefreiheit aus. Das sollten wir unsnicht gönnen.Machen wir uns nicht länger zum Gespött vor allenDingen der ausländischen Öffentlichkeit! Ich appellierean Sie: Machen Sie Schluss mit dem Ladenschluss, undzwar jetzt, hier und heute!Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Barnett von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Frau Kollegin, Sie haben eine sehrselektive Wahrnehmung, was das Internet usw. anbelangt.Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Die Lektüreder „Zeit“ wird Sie vielleicht etwas aufklären.Ein Frage an Sie: Was haben denn Ostern, Weihnach-ten und Ihr Antrag zum Ladenschlussgesetz gemeinsam? –Sie kommen mit Sicherheit jedes Jahr wieder, und das so-gar fast auf den Tag genau.
Was hat sich seit letztem Oktober geändert? Gibt esneue bedeutende Erkenntnisse in Sachen Ladenschluss? –Keineswegs! Es gibt keine neuen Erkenntnisse
und keine neuen keine Argumente – auch nicht bei dem,was Sie heute vorgetragen haben. Es ist nur eine Wieder-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Gudrun Kopp11972
holung dessen, was wir auch aus dem Fernsehen hinläng-lich kennen.Ich wiederspreche eindeutig der Aussage, der Einzel-handel und die Konsumenten würden eine Änderung desLadenschlusses wollen. Wer es wirklich will, sind diegroßen Konzerne im Einzelhandel.
Sie haben in großflächige Verkaufsräume investiert, dieim Unterhalt teuer sind. Da muss dann bei der Rendite et-was herauskommen, also wird mit einer riesigen Auswahlan Gütern, die bisher von mehreren Einzelhandelsge-schäften angeboten wurden, auf Kundenfang gegangen.Die Konkurrenz stört und wird mit Schnäppchenpreisen,Sonderangeboten usw. platt gemacht. Das sind ganzknallharte betriebswirtschaftliche Überlegungen, die zurVernichtung von 35 000 Einzelhandelsexistenzen und Ar-beitsplätzen geführt haben.
Auf der Strecke bleiben dann die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen, die weniger Kundenzulauf ha-ben und deshalb aufgeben. Das hat Auswirkungen auf dasganze soziale Gefüge unserer Städte und auch der ländli-chen Regionen. In den Innenstädten machen zunehmenddie kleinen Fachgeschäfte zu. Das macht keine Stadt fürihre Besucher und Einwohner attraktiv. Was das für dieMenschen heißt, die über kein eigenes Auto verfügen,muss ich Ihnen nicht sagen. Sprechen Sie einmal mit denMüttern,
mit den älteren Menschen oder Behinderten, die jetztweite Wege für Ihre Besorgungen zurücklegen müssen,weil das Angebot vor Ort verschwunden ist!Es kann deshalb nicht verwundern, dass der kleine undmittelständische Einzelhandel weiteren Lockerungen wi-derspricht.Bereits im letzten Jahr sagte unter anderem der Präsi-dent der Handwerkskammer für München und Oberbay-ern, Herr Traublinger,
dass dieses Drängen auf verlängerte Ladenschlusszeitenim höchsten Maße mittelstandsfeindlich sei, weil im Han-del der Wettbewerb sehr scharf sei und dieser Zustandschon seit Jahren zulasten der Kleinen gehe. Die Mehr-zahl der mittelständischen Handelsbetriebe schreibe roteZahlen und längere Öffnungszeiten spitzten diese Situa-tion nur weiter zu.
Dass sich daran nichts geändert hat, zeigt die Stellung-nahme einer Gruppe klein- und mittelständischer Einzel-handels- und Ladenhandwerksbetriebe aus Berlin, die Siein unserer gestrigen Ausschussdrucksache 14/869 nachle-sen können:Eine noch höhere Öffnungsaktivität können dieklein- und mittelständischen Betriebe aus betriebs-wirtschaftlichen Gründen nicht erbringen. Bei einerÄnderung oder Abschaffung des Ladenschlussgeset-zes käme es zu einer weiteren ruinösen Wettbe-werbsverzerrung mit äußerst negativen Folgen fürdie gewachsenen Einzelhandelsstrukturen der Innen-städte und darüber hinaus für deren Belegschaft.Und weiter heißt es:Die Positionspapiere der Industrie- und Handels-kammern sowie der Einzelhandelsverbände zur De-regulierung des Ladenschlussgesetzes spiegeln nichtdie Mehrheitsmeinung der deutschen Einzelhändler-schaft wider. Diese veröffentlichte Meinung solltesehr differenziert gesehen werden, da eine repräsen-tative Umfrage innerhalb der deutschen Einzelhänd-lerschaft nicht stattgefunden hat.
Der Präsident des Zentralverbandes Hartwarenhandele.V., Dr. Kellerwessel, schreibt am 29. September 2000 anden „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass sich die größte Mehr-heit der Handelsunternehmen gegen jede Verlängerungder Öffnungszeiten ausspricht und schon 1996 einhelligdagegen war. Denn die Verlängerung der Ladenöffnungs-zeiten würde nur an wenigen exponierten Standortenwirksam und würde auch dort wiederum besonders dieGroßbetriebsformen profitieren lassen. Immer mehrkleine und mittelständische Betriebe müssten schließen.Ich stelle fest: Die kleinen und mittelständischen Un-ternehmen in unserer Republik sprechen sich einhellig,unmissverständlich und seit langer Zeit gegen eine Ver-längerung der Ladenöffnungszeiten aus.
Die Erfahrungen aus vier Jahren längerer Öffnungszei-ten zeigen, dass diese gar nicht genutzt werden, weil es dieKundenströme nach 18 oder 19 Uhr gar nicht gibt. Das istnicht nur bei uns so, das können Sie selbst auf der 5thAve-nue in New York feststellen: Die Läden schließen dortschon um 17.00 Uhr, weil sie keine Kunden mehr haben.
Dieser Konzentrationsprozess hat noch eine Konse-quenz: Das Sortiment wird überall das gleiche werden, dieAuswahl beschränkt sich auf das Angebot, das die Han-delsketten für uns Kunden aussuchen.
Hat das noch etwas mit der viel beschworenen Vielfalt zutun? Deshalb setze ich mich auch im eigenen Interesse fürden Erhalt des Ladenschlusses ein, damit uns die kleinenLäden, die Spezialitäten bzw. Raritäten haben oder diesebesorgen können, erhalten bleiben. Die Vorstellung, dasswir über kurz oder lang, sollte sich Ihr Vorschlag durch-setzen, nur noch Wal-Marts, Metros usw. mit einem Ein-heitssortiment hätten, macht mich als Kunden nicht ge-rade glücklich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Doris Barnett11973
Wenden wir uns doch einmal den Kunden zu: Stimmtes denn wirklich, dass eine so überwiegende Mehrheit amliebsten nach 20 Uhr einkaufen würde?
Das glaubt in diesem Raum wohl niemand.
Die wenigsten Kunden werden – abgesehen von den Ab-geordneten – eine 80-Stunden-Woche haben. Deshalb istes eigentlich verwunderlich, dass sich die Vertreter derNew Economy als ungeeignet und unfähig erweisen, ihreEinkäufe bis 20 Uhr zu regeln. Wenn sie das schon nichtauf die Reihe bekommen, wie können wir Ihnen danndarin vertrauen, unsere Wirtschaft zu lenken? Das ist dochallmählich absurd.
Die überwiegende Mehrheit der Käufer – 74 Prozentder Käuferinnen und Käufer kann man wohl als Mehrheitbezeichnen – wünschen sich keine Verlängerung der Öff-nungszeiten, weil auch die Kunden vor Augen haben, wassonst geschieht: Einkaufszentren am Rande der Stadt undkeine ausreichende Versorgung der Wohngebiete mehr.Natürlich gibt es Kunden, die das Bedürfnis haben, sichum 23 Uhr einen Nagellack, eine CD, Pralinés oder einAuto zu kaufen.
Übrigens: Versuchen Sie einmal, nach 19 Uhr bei demPraliné-Laden neben dem Adlon etwas zu bekommen, derist zu diesem Zeitpunkt schon längst geschlossen.Ich habe mir den Spaß gemacht, im Internet unter demBegriff „Ladenschluss“ nachzusehen. Dort fand ichschnell folgende Zeilen:Mir wäre es am liebsten, alle Geschäfte hätten dieganze Nacht hindurch offen. Allein schon die Mög-lichkeit, um 3.00 Uhr morgens Bilderrahmen kaufenzu können oder Pfandflaschen zurückzubringen,würde mich zu einem sehr zufriedenen Menschenmachen. Wenn ich nachts trotzdem schlafen würde,wäre das meine freie Entscheidung. Nun habe ichkeine andere Wahl. Ich schlafe nachts, weil es nichtsanderes zu tun gibt.Ich glaube, dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen.
Aber nur, um solchen plötzlichen Eingebungen nach-zukommen, am späten Abend irgendetwas zu erwerben,müssen wir doch nicht wichtige Arbeitsschutzbestim-mungen abschaffen. Den Wunsch nach Nagellack um23 Uhr sollten wir Sozialpolitiker doch vielleicht etwasanders bewerten als den Betrieb eines Heizkraftwerkes,das nicht täglich angefahren und abgeschaltet werdenkann.
Auch der Hinweis auf das Klinikpersonal hinkt, denn ichentscheide mich nicht aus freien Stücken, nachts eineBlinddarmkolik zu bekommen, mir das Bein zu brechenoder einen Unfall zu haben.Schauen wir uns doch einmal die Situation der Be-schäftigten an. Seit der Einführung der längeren Öff-nungszeiten im Einzelhandel 1996 wurden Vollzeit- undsozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätze abge-baut, dafür aber jede Menge geringfügiger Beschäfti-gungsverhältnisse eingerichtet. Trotz längerer Öffnungs-zeiten gibt es jetzt 6 Prozent weniger Arbeitsplätze imEinzelhandel. Dafür sind die Überstunden sprunghaft ge-stiegen, und zwar auf jährlich 564 Millionen Stunden, dasentspricht 29 000 Vollzeitarbeitsplätzen. Dadurch wirdder Beruf des Einzelhandelskaufmanns auch nicht attrak-tiver. Wenn nach dreijähriger Ausbildung somit nur dieChance besteht, bei einem Großkonzern zu arbeiten, oft-mals nur als Teilzeitkraft, dazu noch ohne Zukunftsper-spektive, werden es sich die Jungen wohl überlegen, obsie diesen Beruf ausüben wollen. Denn er garantiert beidiesem Einkommen nicht einmal mehr, den eigenen Le-bensunterhalt zu sichern.Die Aufsplittung sozialversicherungspflichtiger Voll-zeittätigkeit in geringfügige Beschäftigung trifft beson-ders die Frauen, weil nun einmal 80 Prozent der Arbeit-nehmer im Handel Frauen sind. Mit der Arbeit alsgeringfügig Beschäftigte wird die Abhängigkeit derFrauen von dem Einkommen des Mannes wieder zemen-tiert. Das könnte ja Ihre Absicht sein, aber es widersprichtjedem Emanzipationsanspruch. Demnächst werden wiruns im Rahmen der Rentendiskussion über die eigenstän-dige Altersvorsorge der Frauen unterhalten. Wie diese mitgeringfügiger Beschäftigung zu erringen ist, können Sieuns dann einmal erklären.Der Gesetzentwurf der F.D.P. hat für mich aber auchnoch eine andere Qualität: Weil er alle Bedenken hin-sichtlich der Beschäftigten im Einzelhandel, der kleinenund mittelständischen Einzelhändler und drei Viertel allerKunden außer Acht lässt und nur dem Konsum das Wortredete, drängt sich der Eindruck auf, dass nicht mehr derMensch, die menschliche Gesellschaft, im Mittelpunktunseres politischen Handelns steht, sondern nur noch derProfit, das Geld, der Konsum und die Eigeninteressen.
Wir haben in allen Debatten, die wir bisher geführt ha-ben, darauf hingewiesen, dass Verbände und Vereine überden dramatischen Rückgang des ehrenamtlichen Enga-gements klagen. Wir haben heute sogar eine Debatte da-rüber geführt. Wenn in unserer Gesellschaft zukünftig derSpaß am Geldausgeben auf Platz eins steht und der Um-gang, das Zusammensein mit Menschen nicht mehr intere-ssant ist, dann zerstören wir unsere Gesellschaft.Kolleginnen und Kollegen, um der Geschichtsklitte-rung vorzubeugen und zur Aufklärung beizutragen, ein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Doris Barnett11974
fach damit Sie die Daten richtig im Kopf haben, Folgen-des: Die Bundesregierung hat am 15. Dezember 1999 auf-grund der vorliegenden Gutachten des Sozialforschungs-instituts und des Ifo-Instituts festgestellt, dass esbezüglich der Ladenschlusszeiten bei uns keinen unmit-telbaren Handlungsbedarf durch den Gesetzgeber gibt.
Es besteht ein breiter Konsens, die Ladenöffnung anSonn- und Feiertagen nicht freizugeben. Jetzt, fast einJahr später, stelle ich fest, dass sich an dieser Einschät-zung nichts geändert hat, da sich auch die Ausgangssitua-tion nicht verändert hat. Aus diesem Grund bleibt es auchin diesem Jahr dabei: Wir lehnen den Gesetzentwurf derF.D.P. ab und hoffen auf die Klugheit und Einsicht derKolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, dasGleiche zu tun.
Als
Nächster hat der Kollege Peter Rauen von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Ein Glück, dass der La-denschluss nicht für den Deutschen Bundestag gilt.
Sonst dürften wir dieses Thema zu dieser Zeit gar nichtmehr diskutieren.
Ich werde aufgrund der vorgerückten Zeit die mir zu-stehenden zwölf Minuten Redezeit nicht ausschöpfen undversuchen, mit zwei, drei Minuten hinzukommen. Dafürmuss ich Ihnen aber leider die acht Seiten meiner Redevorenthalten, in der ich mich über die Lebenswirklichkeitin Deutschland am Rande der Ladenschlussgesetzgebungausgelassen habe. Aber ich möchte Ihnen doch das Fazitder Überlegungen mitteilen.Das Ladenschlussgesetz in Deutschland ist ein Reliktaus dem letzten Jahrhundert, und das liegt seit acht Mo-naten hinter uns. Frau Kollegin Barnett, es hat sich schoneiniges getan, auch seit dem letzten Jahr.
Sie werden feststellen, dass ein großer Teil der mittel-ständischen Verbände, die noch vor Jahren entschiedengegen Änderungen waren, heute fordert: Weg mit diesemLadenschluss! Er behindert letztlich auch den Mittelstandin Deutschland.Was unsere Fraktion jedoch nicht aufgeben wird, istdas generelle Verbot, die Läden an Sonn- und Feiertagenzu öffnen.
Hiervon darf es nur ganz wenige Ausnahmen geben. Wirbrauchen einmal in der Woche Ruhepausen und Zeit zumBesinnen. Wir müssen auch über Möglichkeiten zur Ver-besserung der Situation des mittelständischen Einzelhan-dels reden. Es gibt in unserer Fraktion eine Reihe vonStimmen, die ein kommunales Satzungsrecht zugunstender Ladenöffnungszeiten in den Innenstädten fordern, wiedies auch die BAG und der Deutsche Städtetag tun.
Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblema-tisch und bedarf noch eingehender Überlegungen. Ichstelle aus Sicht unserer Fraktion fest und fordere:Erstens. Wir sind für eine weitere Liberalisierung derLadenöffnungszeiten, für eine Abschaffung des Laden-schlussgesetzes an allen Werktagen.
Dies lässt sich aufgrund der Globalisierung und des tech-nischen Fortschritts ohnehin nicht verhindern. Der La-denschluss passt nicht mehr in unsere heutige Zeit.
Zweitens. Wir wollen die Sonntage und die Feiertageschützen. An dieser Stelle geht uns die F.D.P. in ihrem Ge-setzesantrag zu weit. Deshalb müssen wir diesen Antragablehnen.
– Nein, Sie wollen die Sonntage – ich haben Ihren Antraggenau gelesen – in die Disposition der Länder stellen. Wirsind grundsätzlich der Meinung: Der Sonntag gehört ge-schützt. Es darf nur ganz wenige Ausnahmen geben. Dasist für uns ein sehr wichtiger Punkt.Drittens. Die Innenstädte sollen gestärkt werden.Über die geeigneten Instrumente, gegebenenfalls auch imBaugesetzbuch, muss befunden werden. Aber es sindauch andere Fördermaßnahmen denkbar.Viertens. Wir haben kein Verständnis dafür, dass dieSPD und der Kanzler die Modernisierung des Laden-schlussgesetzes verweigern.
Der Handlungsdruck ist da. Die Wirklichkeit bleibt nichtstehen. Nichthandeln schadet dem Standort Deutschland.
Die Regierung tut wie die SPD nichts an diesem Punkt.Sie hält uns lediglich hin. Es ist an ihr, einen Vorschlag zumachen. Stattdessen duckt sie sich und scheut den Kon-flikt mit den Gewerkschaften.
Sie schließt faule Kompromisse oder erkauft sich dasWohlwollen der Gewerkschaften nach dem Motto: Ren-tenkonsens gegen Beibehaltung der Ladenschlusszeiten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Doris Barnett11975
– Das konnte man doch vor drei Wochen lesen. Wider-sprechen Sie doch nicht! Das ist doch Tatsache.Wir machen dies nicht mit. Ich fordere deshalb dieBundesregierung auf: Lassen Sie das Thema Laden-schluss nicht links liegen! Legen Sie uns einen Vorschlagvor! Verweigern Sie sich an diesem Punkt nicht demzwingend notwendigen Fortschritt!
Die Zeit ist über das Ladenschlussgesetz längst hinweg-gegangen.Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
legen! Ich möchte zuerst auf Frau Kopp eingehen. Wenn
Sie tatsächlich meinen, dass das Ladenschlussthema ge-
rade das Zeichen für Stillstand und Reformstau unter der
rot-grünen Koalition sei, dann muss ich sagen, dass
sich diese Koalition bei aller Sympathie für dieses
Thema – auch ich habe vorhin festgestellt, dass meine al-
labendliche Einkaufsmöglichkeit, der Edeka-Laden am
Bahnhof, schon geschlossen hatte – zuerst um die Steuer-
reform, die Rentenform, die Bahnreform und die Miet-
rechtsreform kümmern sollte. Alle diese Reformen wer-
den in diesem Land als sehr viel wichtigere Themen
angesehen als die Frage, wo wir um Mitternacht die But-
ter kaufen können.
Nach meiner Meinung ist es dem Thema Ladenschluss
überhaupt nicht angemessen, wenn wir darüber schwarz-
weiß diskutieren. Ich halte es für nicht sehr sinnvoll, wenn
pauschal gefordert wird: Schaffen wir den Ladenschluss
ab! Setzen wir alle Einzelhändler einer massiven Konkur-
renz aus, dann ist das Problem gelöst! – Das ist das Bild
einer Hyperkonkurrenz, das so nicht stimmen kann.
Daher möchte ich – ich habe das neulich schon getan; of-
fenbar beantragen Sie monatlich nicht nur eine Trans-
rapidstunde, sondern jetzt wöchentlich auch eine Laden-
schlussstunde – noch einmal dafür werben, dass wir den
Wettbewerb ein Stück weit strukturieren.
Ich bin nicht wie Sie der Meinung, dass es überhaupt
keinen Handlungsbedarf gibt. Ich glaube zwar, dass eine
flexibilisierte Arbeitswelt auch flexiblere Einkaufsmög-
lichkeiten benötigt, aber nicht in der Form einer Hyper-
konkurrenz aller gegen alle. Das Konzept, das der Städte-
tag vorgelegt hat, sollte sehr ernsthaft abgewogen und
diskutiert werden, weil der Einzelhandel, insbesondere
die mittelständischen Betriebe, in den Innenstädten
tatsächlich unter einem erheblichen Kundenschwund lei-
det, während der großflächige Einzelhandel auf der grü-
nen Wiese boomt. Das liegt daran, dass es keine gleichen
Bedingungen gibt, weil der großflächige Einzelhandel auf
der grünen Wiese, in den Sonderstandorten und teilweise
auch in den Gewerbearealen Konkurrenzvorteile hat: ein
unbegrenztes Angebot an billigen Parkplätzen, billiges
Bauland, geringen Arbeitskräftebedarf pro Quadratmeter
Verkaufsfläche und eine günstige Kostenstruktur. Daher
ist es gefährlich, diese Konkurrenzsituation noch weiter
zu verschärfen. Aber eine solche Verschärfung wäre die
Folge einer völligen Liberalisierung, wie Sie sie sich vor-
stellen. Das halte ich nicht für verantwortbar. Wir dürfen
den Verdrängungswettbewerb nicht auch noch politisch
unterstützen, schon gar nicht zulasten der Städte.
Deswegen werben wir sehr dafür, das Modell des Städ-
tetages auch von Bundesseite ernsthaft zu prüfen, nämlich
ob und inwieweit es sich rechtlich verwirklichen lässt.
Dazu gibt es zwei Gutachten, die das für durchaus legitim
halten und die nicht sehen, dass die Gewerbefreiheit so to-
taliter eingehalten werden muss, wie Sie. Aus diesen Gut-
achten geht hervor, dass man sehr wohl zwischen dem
städtischen Einzelhandel und dem Einzelhandel an Son-
derstandorten unterscheiden kann. Ich denke, wir sollten
die Verwirklichung dieses Modells vorantreiben, damit
wir die Innenstädte gerade am Abend etwas mehr beleben
können.
Sicher ist, dass dadurch nicht alle Probleme der Innen-
städte gelöst werden können, da die Verödung der Innen-
städte vielfältige Ursachen hat. Eine Differenzierung des
Ladenschlussgesetzes kann also nicht das Allheilmittel
sein. Sie kann aber dazu beitragen, bestehende Wettbe-
werbsverzerrungen, die Sie nicht sehen wollen, sondern
die Sie verstärken, zu reduzieren und damit unseren In-
nenstädten einen neuen Entwicklungsschub zu geben.
Deswegen werbe ich für eine nachdenkliche Variante, die
zwischen den verschiedenen Positionen angesiedelt ist.
Ich denke, dass wir in dieser Richtung Kompromisse fin-
den können, die allen Beteiligten gut tun.
Als letzte Redne-
rin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Pia
Maier von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Herr Rauen hat schon festgestellt, dass für uns lei-der kein Ladenschlussgesetz gilt. Für uns gilt auch keinArbeitszeitgesetz, ganz im Gegensatz zu den meisten Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in der Wochezum Glück nur 40 Stunden arbeiten müssen. Sie könnenbei 80 Stunden Ladenöffnungszeit in der Tat ihre Ein-käufe erledigen. Ich bin hier noch in der Probezeit, von
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Peter Rauen11976
daher musste ich Sie heute leider etwas länger festhalten.Ich darf noch nicht früher gehen.
– Da haben Sie natürlich Recht.Eine Verkäuferin verdient netto um die 2 000 DM. Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., wollendiese Verkäuferin für dieses Gehalt noch die ganze Nachtarbeiten lassen. Mir liegen die Probleme dieser Verkäufe-rin mehr am Herzen als die Möglichkeit, mir die fehlendeButter heute Nacht noch zu besorgen.
Mittlerweile äußern sich schon die ersten Initiativenvon Ladenbesitzern, die eigentlich keine weiteren Öff-nungszeiten haben wollen; sie haben sicherlich den Briefder „Aktion Hermannstraße“ bekommen. Auch die Besit-zer kleiner Läden möchten ihre Freizeit nutzen, selbst ein-kaufen und sich um ihre Familie kümmern. Das sind dieBedenken von Ladeninhaberinnen und Ladeninhabern,die ich gerne ernst nehmen möchte.
Von der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten habenvor allem die großen Warenhäuser Gebrauch gemacht.Eine Belebung der Innenstädte findet eigentlich nur dortstatt und nicht in den Einzelhandelsgeschäften. LängereÖffnungszeiten würden uns also vor allem eines bringen:noch mehr große Warenhäuser mit noch längeren Öff-nungszeiten, die auf die Angestellten verteilt werden kön-nen, aber immer weniger Einzelhandel, immer wenigerkleine Läden. Das belebt die Innenstädte auf Dauer nichtwirklich.Zum Abschluss möchte ich ein paar Sätze zu der Märder Gefahr des E-Commerce sagen. Der elektronischeHandel wird – gleich einem großen Gespenst – immerwieder als Gefahr für den normalen Einzelhandel heran-gezogen. Dabei bietet gerade der elektronische Handeldurch die Möglichkeit, im Internet einzukaufen, eine her-vorragende Ergänzung zum normalen Einzelhandel, dersich weitere Nischen eröffnen kann. Was immer nachts imInternet bestellt wird, wird am nächsten Tag gepackt, wirdam nächsten Tag ausgeliefert – und zwar von ganz realenMenschen.
Der Einzelhandel wird sich gegenüber dem E-Com-merce immer durch persönliche Real-Time-Beratung un-terscheiden. Wer nicht vom Deregulierungsfetisch beses-sen ist, wird immer akzeptieren, dass hinter einem realenMenschen, der beraten kann, auch der reale Wunsch nacheinem Feierabend steht.Dieser Wunsch ist mir sehr wichtig. Daher werde ichIhnen den Wunsch nach einem Feierabend nun auch er-füllen.Ich danke Ihnen.
Frau KolleginMaier, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede imDeutschen Bundestag, die Sie leider zu später Stunde hal-ten mussten.
Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstim-mung kommen, gebe ich bekannt, dass eine Erklärung zurAbstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von demKollegen Ernst Hinsken
und der Kollegin Anita Schäfer zu Protokoll gegeben wor-den ist.1)Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der F.D.P. zur Aufhebung des Laden-schlussgesetzes auf Drucksache 14/1671. Der Ausschussfür Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksa-che 14/4272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung einzelner Abgeordneter aus denReihen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen desHauses im Übrigen abgelehnt worden. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. RuthFuchs, Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSMehr Mitbestimmungsrechte für Betriebs-räte – Eckpunkte für die Reform des Betriebs-verfassungsgesetzes– Drucksache 14/4071 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zunehmen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht derFall. Es handelt sich um die Reden des Kollegen KlausBrandner und der Kollegin Anette Kramme von der SPD-Fraktion, der Kollegin Dorothea Störr-Ritter von derCDU/CSU-Fraktion, der Kollegin Dr. Thea Dückert vonBündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Dr. Heinrich L.Kolb von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Dr. HeidiKnake-Werner von der PDS-Fraktion.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4071 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
Pia Maier11977
1) Anlage 62) Anlage 4Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:10 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuordnung des Gerichtsvollzieher-kostenrechts – GvKostRNeuOG –– Drucksache 14/3432 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Gerichtskostengesetzes und andererGe-setze– Drucksache 14/598 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmstellung des Kostenrechts und der Steu-erberatergebührenverordnung auf Euro– KostREuroUG –– Drucksache 14/4222 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAuch hier ist vereinbart worden, dass die Reden zuProtokoll genommen werden. Gibt es Widerspruch dage-gen? – Das ist nicht der Fall. Ich verlese wiederum die Na-men derjenigen, die ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-ben: Das sind die Kollegen Alfred Hartenbach von derSPD-Fraktion, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten von derCDU/CSU-Fraktion, Volker Beck von Bündnis 90/DieGrünen, Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion, die Kolle-gin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion und derParlamentarische Staatssekretär Professor Dr. EckhartPick von der Bundesregierung.1)Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfeauf den Drucksachen 14/3432, 14/598 und 14/4222 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-sen.Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf morgen, Freitag, den 13. Oktober 2000, 9 Uhr,ein.Die Sitzung ist geschlossen.