Protokoll:
14124

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 124

  • date_rangeDatum: 12. Oktober 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:13 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Eintritt des Abgeordneten Gerhard Schulz in den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . 11839 A Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Dr. Uwe Jens . . . . . . . . . . 11839 A Wahl derAbgeordnetenUteKumpf als Schrift- führerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11839 B Wahl der Abgeordneten Dr. Heidi Knake- Werner als stellvertretendes Mitglied im Ge- meinsamen Ausschuss bzw. als beratendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuss . . . . 11839 B Wahl des Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch als ordentliches Mitglied in die Parlamentari- sche Versammlung des Europarates . . . . . . . . 11839 C Wahl des Abgeordneten Manfred Müller als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentari- sche Versammlung des Europarates . . . . . . . . 11839 C Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 11839 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 11840 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte: Jüdisches Leben in Deutschland unterstützen – Anschläge auf Synagogen in Deutschland ächten . . 11841 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Jüdisches Leben in Deutschland (Drucksache 14/4245) . . . . . . . . . . . . . . . . 11841 B Sebastian Edathy SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11841 B Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11842 C Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11844 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 11845 C Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11846 D Gabriele Fograscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 11848 A Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . . 11849 B Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11850 C Heinz Schmitt (Berg) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11851 B Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11852 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 11853 B Kerstin Griese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11853 B Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Drucksache 14/4230) . . . . . . . . . . . . . . . . 11854 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Versorgungsabschläge (Drucksache 14/4231) . . . . . . . . . . . . . . . . 11855 A Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 11855 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11855 D Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11857 B Plenarprotokoll 14/124 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 124. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 I n h a l t : Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11858 C Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11860 D Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11862 A Erika Lotz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11863 A Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 11864 D Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11866 B Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 11867 A Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 11868 A Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Paul Breuer, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Zukunft der Bundeswehr (Drucksache 14/3775) . . . . . . . . . . . . . 11869 C b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Soldaten- gesetzes und anderer Vorschriften (SGÄndG) (Drucksache 14/4062) . . . . . . . . . . . . . 11869 C c) Antrag der Abgeordneten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Zukunft durch Abrüstung – Für eine grundlegende Reform der Bundes- wehr (Drucksache 14/4174) . . . . . . . . . . . . . 11869 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- rung: Neuausrichtung der Bundeswehr 11869 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Günter Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Zukunftsfähigkeit der Bundes- wehr sichern – Wehrpflicht aussetzen (Drucksache 14/4256) . . . . . . . . . . . . . . . . 11869 D Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg . . 11870 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . . 11874 D Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg . . 11875 C Ruprecht Polenz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11876 C Peter Zumkley SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11879 C Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11881 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11882 A Rudolf Scharping SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11884 A Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11884 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11885 A Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11886 B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11888 C Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11889 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11889 C Verena Wohlleben SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11891 B Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . . 11892 D Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11893 B Rudolf Scharping SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11894 B Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11895 A Anni Brandt-Elsweier SPD . . . . . . . . . . . . . . 11895 C Helmut Rauber CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11897 A Rainer Arnold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11898 C Tagesordnungspunkt 21: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Grenze des Freihafens Emden (Drucksache 14/4223) . . . . . . . . . . . . . 11900 C b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen (Drucksache 14/4224) . . . . . . . . . . . . . 11900 C c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenlegung des Bundesamtes für Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt (Drucksache 14/3951) . . . . . . . . . . . . . 11900 C d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Funkanlagen und Te- lekommunikationsendeinrichtungen (FTEG) (Drucksache 14/4063) . . . . . . . . . . . . . 11900 C e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze und die Errich- tung der Stiftung „Geld und Währung“ (Drucksache 14/4225 [neu]) . . . . . . . . 11900 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000II f) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivge- setzes (Drucksache 14/3830) . . . . . . . . . . . . . 11900 D g) Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun (Augs- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Mutige EU-Reform als Voraussetzung für eine erfolgrei- che Erweiterung (Drucksache 14/3522) . . . . . . . . . . . . . 11900 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 21) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiund- zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Drucksache 14/4241) . . . . . . . . . . . . . . . . 11901 A Tagesordnungspunkt 22: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaft der Republik Polen, der Tschechi- schen Republik und der Republik Ungarn in der Westeuropäischen Union (Drucksachen 14/3076, 14/3860) . . . . 11901 A b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über den Geheimschutz (Drucksachen 14/3457, 14/4228) . . . . 11901 B c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung verkehrswegerechtlicher Vorschrif- ten (VerkVÄndG) (Drucksachen 14/3646, 14/4221) . . . . 11901 C d) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be- griffs „Erziehungsurlaub“ (Drucksachen 14/4133, 14/4266) . . . . 11901 D e) Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, F.D.P. und PDS: Einsetzung ei- nes Sonderausschusses „Maßstäbe- gesetz/Finanzausgleichsgesetz“ (Drucksache 14/4251) . . . . . . . . . . . . . 11902 A f) – k) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 195, 196, 197, 198, 199, 200 zu Petitionen (Drucksache14/4155,14/4156,14/4157, 14/4158, 14/4159, 14/4160) . . . . . . . . 11902 B Tagesordnungspunkt 8 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umrechnung und Glättung steuerlicher Euro-Beträge (Steuer-Euroglättungsgesetz) (Drucksachen 14/3554, 14/4277, 14/4288) 11902 D Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opfer- entschädigungsgesetzes und andererGe- setze (Drucksachen 14/4054, 14/4275, 14/4292) 11903 A Tagesordnungspunkt 5: Vereinbarte Debatte zur EU-Grundrechte- Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11903 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Peter Hintze, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion CDU/CSU: Ent- wurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Drucksache 14/4246) . . . . . . . . . . . . . . . . 11903 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheuser-Schnarrenberger, InaAlbowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Europäische Grundrechte-Char- ta als Eckstein einer europäischen Ver- fassung (Drucksache 14/4253) . . . . . . . . . . . . . . . . 11903 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 III Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . . . . . . . . 11903 D Peter Altmaier CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11907 C Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 11909 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. . 11911 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11913 C Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11915 A Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen) . . . . . . 11917 B Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11919 A Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . . . . . . . . . . . 11919 C Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11920 A Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11920 B Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11921 C Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11922 C Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11923 A Tagesordnungspunkt 6: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Wohngeld- und Mietenbericht 1999 (Drucksache 14/3070) . . . . . . . . . . . . . 11923 D b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe (Drucksache 14/871) . . . . . . . . . . . . . . 11923 D c) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Rainer Funke, Michael Goldmann, weiteren Abgeordneten und der Frakti- on F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVereinfachung des Miet- rechts (Mietrechtsvereinfachungs- gesetz) (Drucksache 14/3896) . . . . . . . . . . . . . 11924 A Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11924 A Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . . . . . . 11926 C Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11929 A Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11929 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11929 D Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . 11931 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11931 B Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 11932 D Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11933 D Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11935 A Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11936 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 11937 B Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11938 B Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Johannes Singhammer, Horst Seehofer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit (Drucksache 14/3778) . . . . . . . . . . . . . . . . 11938 D Matthäus Strebl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11939 A Ute Kumpf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11940 B Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11944 A Ute Kumpf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11945 D Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11947 A Franz Thönnes SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11948 A Klaus Riegert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11950 A Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11952 B Dr. Barbara Hendricks SPD . . . . . . . . . . . . . . 11952 C Klaus Riegert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11953 A Christian Simmert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11953 C Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Ergänzung des Steuersenkungs- gesetzes (Steuersenkungsergänzungs- gesetz) (Drucksache 14/4217) . . . . . . . . . . . . . . . . 11954 C Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 11955 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . 11956 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11958 C Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11960 B Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11961 C Hans Michelbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11963 C Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski (Recklingshausen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000IV Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent- wicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit (Drucksache 14/3777) . . . . . . . . . . . . . . . . 11965 B Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Wahlen in Belarus (Drucksache 14/4252) . . . . . . . . . . . . . . . . 11965 C Uta Zapf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11965 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 11967 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11969 A Walter Hirche F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11970 A Uwe Hiksch PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11970 D Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zurAuf- hebung des Ladenschlussgesetzes (Drucksachen 14/1671, 14/4272) . . . . . . . 11971 C Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11971 D Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11972 D Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11975 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11976 A Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11976 D Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Mehr Mitbestim- mungsrechte für Betriebsräte – Eck- punkte für die Reform des Betriebsver- fassungsgesetzes (Drucksache 14/4071) . . . . . . . . . . . . . . . . 11977 D Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts (GvKostRNeuOG) (Drucksache 14/3432) . . . . . . . . . . . . . 11978 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtskostenge- setzes und anderer Gesetze (Drucksache 14/598) . . . . . . . . . . . . . . 11978 A c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung des Kosten- rechts und der Steuerberaterge- bührenverordnung auf Euro (KostREuroUG) (Drucksache 14/4222) . . . . . . . . . . . . . 11978 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11978 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11979 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Steuersenkungsgesetzes (Steuersenkungser- gänzungsgesetz – StSenkErgG) (Tagesord- nungspunkt 8 a) Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11979 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwick- lung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit (Ta- gesordnungspunkt 9) Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 11980 B Meinrad Belle CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11980 D Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 11981 B Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11981 D Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11982 A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte – Eckpunkte für die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 12) Anette Kramme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11982 C Klaus Brandner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11983 B Dorothea Störr-Ritter CDU/CSU . . . . . . . . . . 11984 C Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11986 A Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 11986 C Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 11987 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 V Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Neuord- nung des Gerichtsvollzieherkosten- rechts (GvKostRNeuOG) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtskostengesetzes und anderer Gesetze – Entwurf eines Gesetzes zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuer- beratergebührenverordnung auf Euro (KostREuroUG) (Tagesordnungspunkt 10 a bis c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11988 B Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11988 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 11989 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11989 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11990 B Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11990 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 11991 C Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken und Anita Schäfer (beide CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Laden- schlussgesetzes (Drucksachen 14/1671 und 14/4272) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11992 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 Dr. Hermann Otto Solms 11978 (C)(A) 1) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11979 (C) (D) (A) (B) entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Bläss, Petra PDS 12.10.2000 Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 12.10.2000 Breuer, Paul CDU/CSU 12.10.2000 Burchardt, Ursula SPD 12.10.2000 Elser, Marga SPD 12.10.2000 Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 12.10.2000 Goldmann, F.D.P. 12.10.2000 Hans-Michael Haack (Extertal), SPD 12.10.2000 Karl-Hermann Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 12.10.2000 Hemker, Reinhold SPD 12.10.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 12.10.2000 DIE GRÜNEN Koschyk, Hartmut CDU/CSU 12.10.2000 Lippmann, Heidi PDS 12.10.2000 Michels, Meinolf CDU/CSU 12.10.2000 Moosbauer, Christoph SPD 12.10.2000 Müller (Berlin), PDS 12.10.2000 Manfred Neumann (Gotha), SPD 12.10.2000 Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 12.10.2000 DIE GRÜNEN Philipp, Beatrix CDU/CSU 12.10.2000 Dr. Richter, Edelbert SPD 12.10.2000 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 12.10.2000 Claudia DIE GRÜNEN Schlee, Dietmar CDU/CSU 12.10.2000 Schloten, Dieter SPD 12.10.2000* Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 12.10.2000 Hans Peter Schösser, Fritz SPD 12.10.2000 Schröder, Gerhard SPD 12.10.2000 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 12.10.2000 Gert Wettig-Danielmeier, SPD 12.10.2000 Inge * für die Teilnahme an der 104. Jahreskonferenz der Interparlamen- tarischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Steuersenkungsgesetzes (Steuer- senkungsergänzungsgesetz – StSenkErgG) (Ta- gesordnungspunkt 8 a) Dr. Barbara Höll (PDS): Das vorliegende Steuersen- kungsergänzungsgesetz gibt der PDS an einem wichtigen Punkt Recht: Die Erfindung des so genannten Options- modells war das Einfallstor für die drastische Senkung des Spitzensteuersatzes. Durch die Unternehmenssteuer- reform senken Sie den Körperschaftsteuersatz auf 25 Pro- zent. Ursprünglich sollte das Optionsmodell, nach Ihren Aussagen, dafür sorgen, dass durch die Spreizung von Körperschaft- und Spitzensteuersatz die Ungleichbe- steuerung von Unternehmen mit gleich hohen Gewinnen umgangen wird – Personenunternehmen hätten wählen können, ob sie Einkommensteuer oder Körperschaft- steuer zahlen. Das Optionsmodell ist aber, nicht ganz überraschend, durch die Verhandlungen im Vermittlungs- ausschuss gefallen. Der Spitzensteuersatz bei der Ein- kommensteuer sinkt nun auf 42 Prozent, das sind um 11 Prozent innerhalb von sieben Jahren. Langfristig nehmen Sie damit trotz der Senkung des Spitzensteuersatzes ein immenses Auseinanderklaffen der Besteuerung durch Körperschaft- und Einkommensteuer in Kauf. Dies führt am Ende dazu, dass Steuerpflichtige, zum Beispiel eine GmbH und ein Personenunternehmen, mit gleich hohen Gewinnen eine unterschiedlich hohe Steuerlast tragen. Damit installieren Sie von der Regie- rung per Gesetz eine massive Ungleichbesteuerung. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die PDS for- dert nicht etwa eine weitere Senkung des Spitzensteuer- satzes bei der Einkommensteuer. Derartige Unseriösitäten überlassen wir der CDU. Wir haben von Anfang an deut- lich gemacht, dass wir die Abschaffung des Anrech- nungsverfahrens und die Senkung des nunmehr einheitli- chen Körperschaftsteuersatzes grundlegend für falsch halten. Wir haben gefordert, einen progressiven Körper- schaftsteuersatz einzuführen, wenn Sie denn schon auf der Abschaffung des Anrechnungsverfahrens bestehen. Damit wäre eine Besteuerung der Unternehmen nach Ih- rer Leistungsfähigkeit garantiert und zudem die Senkung des Einkommensteuer-Spitzensatzes nicht notwendig ge- wesen. Durch Ihre Lösung ergießt sich aber neuerlich das ei- chelsche Füllhorn über Großverdienerinnen und Großver- diener: Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten Steuerpflichtige mit einem Einkommen von 180 000 DM rund 8 500 DM weniger an den Fiskus abführen müssen. Nach der „Reform der Reform“ sind es jetzt ab dem Jahr 2005 12 000 DM mehr, die bei diesen im Portemonnaie verbleiben. Demgegenüber müssen sich Steuerpflichtige mit mittleren Einkommen bescheiden: Durch die Nach- besserung darf sich eine Steuerpflichtige bzw. ein Steuer- pflichtiger mit einem Einkommen von rund 70 000 DM über ganze 200 DM zusätzlicher Entlastung freuen. Das nennt Rot-Grün eine sozial gerechte Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger. Dieses zusätzliche Steuerge- schenk ausschließlich für Reiche kostet die öffentliche Hand mindestens 8 Milliarden DM. Angesichts der von Herrn Eichel beschworenen leeren Haushaltskassen ist diese Großzügigkeit nicht zu verstehen. Und noch etwas ist alles andere als gerecht: Durch die Unternehmensteuerreform und das Ergänzungsgesetz wird der Freibetrag für Gewinne aus Betriebsveräußerun- gen auf 100 000 DM erhöht und der verbleibende Teil nur noch mit dem halben Steuersatz besteuert. Dies dient der Altersvorsorge von Unternehmerinnen und Unterneh- mern. Nun frage ich Sie: Weshalb erhöhen Sie nicht gleichzeitig die – unter Finanzminister Lafontaine ge- senkten – Freibeträge für Abfindungen und Übergangs- gelder? Ich fordere Sie auf: Schaffen Sie Steuergerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sorgen Sie für deren Entlastung an dieser Stelle! Dazu haben Sie im vor uns liegenden Verfahren die Chance. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Alters- teilzeit (Tagungsordnungspunkt 9) Hans-Peter Kemper (SPD): Wir reden heute über ei- nen Sachverhalt, bei dem ich keinen Dissens zu erkennen vermag. Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der auf die Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit ab- zielt. Worum geht es? Wir haben ein Altersteilzeitgesetz beschlossen, das es auch Teilzeitbeschäftigten ermög- licht, in eine Altersteilzeitbeschäftigung zu wechseln. Die Geltungsdauer dieses Gesetzes wurde bis zum 31. De- zember 2009 verlängert. Das war damals Konsens zwi- schen uns, wenn ich mich richtig erinnere. Mit Wirkung vom 1. Juli 2000 haben die Tarifparteien diese Regelung auch für den tariflichen Bereich des öf- fentlichen Dienstes übernommen, die es auch hier teil- zeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglicht, in eine Altersteilzeit zu wechseln. Auch hier gilt eine Befristung bis zum Jahre 2009. Für die Bundes- beamten ist das so bisher nicht möglich. Nach geltendem Recht setzt die Inanspruchnahme einer Alterteilszeit für Beamte unter anderem voraus, dass der Beamte vor Be- ginn der Altersteilzeit vollbeschäftigt war. Das soll und muss geändert werden; denn es ist seit lan- gem erklärtes Ziel der Regierung und der rot-grünen Ko- alition, Teilzeitbeschäftigung und Altersteilzeit gleicher- maßen attraktiv zu machen. Beide Elemente waren immer wichtige Bestandteile der arbeitsmarktpolitischen Überle- gungen. Insbesondere auch für Beamtinnen, die wegen der Doppelbelastung durch Kindererziehung und Berufs- ausübung sehr viel häufiger von der Möglichkeit der Teil- zeitbeschäftigung Gebrauch machen, ist die angestrebte Lösung wichtig. Regierung und Koalition waren sich von vornherein ei- nig darüber und es war deshalb auch von vornherein ge- plant, die Tarifergebnisse zur Altersteilzeit rückwirkend zum 1. Juli 2000 zeit- und inhaltsgleich für den Beamten- bereich zu übernehmen. Im Bundesbesoldungs- und Ver- sorgungsanpassungsgesetz, das sich zurzeit in der Res- sortabstimmung befindet, sind die hierfür erforderliche Änderung des § 72 b und im Übrigen auch die erforderli- chen besoldungs- und versorgungsrechtlichen Folgeände- rungen vorgesehen. Die fehlen übrigens in dem vorgeleg- ten Gesetzentwurf der CDU. Wir wollen möglichst viel in einem Gesetz regeln, um auch für die Beamten Planungssicherheit zu schaffen. Sie haben ein Recht darauf, verlässliche Regelungen zu be- kommen, die Problemlösungen für einen längeren Zeit- raum enthalten. Viele Minimalregelungen und Einzelge- setze sind hierzu nicht geeignet. In der Sache wollen wir das Gleiche. Es ist ja auch vernünftig. Alles andere als eine zeit- und inhaltsgleiche Übernahme der für den Ta- rifbereich bereits gültigen Regelungen wäre völlig unlo- gisch. Ich lade Sie deshalb ein, mit uns gemeinsam eine solche Regelung im Rahmen des Besoldungs- und Ver- sorgungsanpassungsgesetzes zu beschließen. Meinrad Belle (CDU/CSU): Mit Datum vom 4. Juli 2000 hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den heute in erster Lesung zu beratenden Entwurf des Gesetzes zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit eingebracht. Entsprechende Regelungen hat die Bundes- regierung nun in ihren Referentenentwurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern aufgenommen. Erst mit Schreiben vom 29. September 2000 hat das Bundesinnenministe- rium das Anhörungsverfahren bei den Bundesministerien, den obersten Bundesbehörden und den für das Besol- dungs- und Versorgungsrecht zuständigen obersten Lan- desbehörden eingeleitet. Gleichzeitig wurden die Spitzen- organisationen der Beamten- und Richtervereinigungen und der Deutsche Bundeswehr-Verband beteiligt. Beson- ders erwähnenswert scheint mir die außerordentlich kurze Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011980 (C) (D) (A) (B) Frist zur Stellungnahme bis zum 6. Oktober 2000. Von ei- ner angemessenen Anhörungsfrist kann da wohl wirklich niemand reden. Man höre und staune: Eine Beschlussfas- sung bezüglich dieses Entwurfs durch das Bundeskabinett ist für den 1. November 2000 vorgesehen. Im Gegensatz zur letzten Sitzungswoche, als es um un- seren Antrag zur Gleichbehandlung in der Besoldungsan- passung des öffentlichen Dienstes ging, will ich heute nun nicht sagen, dass wir die Bundesregierung vor uns herge- trieben haben. Ich kann aber für die CDU/CSU-Fraktion feststellen, dass wir die Bundesregierung und die Regie- rungskoalition zum „Jagen tragen mussten“. Und immer- hin ist uns dies ja auch gelungen. Nun noch einige Sätze zur Erläuterung unseres Ge- setzentwurfes: Mit der Einfügung des neuen § 72 BbesG haben seit August 1998 auch Bundesbeamte die Möglich- keit der Altersteilzeitbeschäftigung. Danach können Bun- desbeamte, die älter als 55 Jahre sind, und in den letzten fünf Jahren vor der Altersteilzeit mindestens drei Jahre vollzeitbeschäftigt waren, ihre regelmäßige Arbeitszeit bis zum Ende des Ruhestands halbieren. Diese Regelung ist bisher befristet bis zum 31. Juli 2004. Nachdem im ersten Jahr fast 2 600 Bundesbeamte ei- nen Antrag auf Altersteilzeit gestellt haben, ist klar, dass dieses neue Angebot von den Beamten angenommen und die arbeitsmarktpolitisch begründete Wirkung erreicht wird. Von Anfang an wurde jedoch von den Verbänden und insbesondere von Bundesbeamtinnen immer wieder be- klagt, dass teilzeitbeschäftigte Bundesbeamte von der Altersteilzeit ausgenommen sind. Nach dem Altersteil- zeitgesetz haben nun seit Januar 2000 auch Teilzeitbe- schäftigte die Möglichkeit, in eine Altersteilzeitbeschäfti- gung zu wechseln. Außerdem wurde die Geltungsdauer des Altersteilzeitgesetzes bis zum 31. Dezember 2009 verlängert. Da die Tarifparteien diese beiden Regelungen für Ar- beiter und Angestellte im öffentlichen Dienst übernom- men haben, ist die Gleichbehandlung aller Bundesbedien- steten durch eine Änderung der beamtenrechtlichen Altersteilzeitregelung dringend geboten. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir erreichen, dass sobald wie möglich die tarifvertraglichen und die bundesbeamten- rechtlichen Regelungen zur Altersteilzeit insoweit über- einstimmen, dass auch teilzeitbeschäftigte Bundesbeamte Altersteilzeit wählen können und dass die Dauer der be- amtenrechtlichen Altersteilzeitregelungen bis Ende 2009 verlängert wird. Mit unserem Vorschlag erhöhen wir auch die von allen Seiten aus arbeitsmarktpolitischen Gründen gewünschte Reichweite dieser Neuregelungen. Wir bitten daher um Zustimmung. Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Regelung zur Altersteilzeit für beamtete Teilzeitkräfte ist dringend nötig. Sie ist die logische und konsequente Wei- terentwicklung der Förderung von Teilzeitarbeit insge- samt. Teilzeitregelungen für Beamtinnen und Beamte wur- den in der Vergangenheit viel zu langsam und zögerlich eingeführt. 1969 gab es erste Ansätze. Die „familienpoli- tische Teilzeitbeschäftigung“ wurde ins Gesetz aufge- nommen. Dem folgte dann 1980 die entwickelte „ar- beitsmarktpolitische Teilzeitbeschäftigung“. 1997 wurde endlich – als Abschiedsgeschenk der Regierung Kohl – die voraussetzungslose Antragsteilzeit eingeführt. Das heißt: Erst seit drei Jahren können Beamtinnen und Be- amte in Teilzeit gehen, wenn sie es wollen. – Nur so viel zum Reformtempo der Union, die uns heute mit einem Dokument ihrer eigenen Versäumnisse beglückt. Die Regelungen für Teilzeit und Altersteilzeit sind be- sonders für Frauen wichtig. Angesichts der noch immer praktizierten Rollenverteilung sind es fast überwiegend noch immer die Frauen, die davon Gebrauch machen. Sie haben einen Anspruch darauf, neben ihrer Familienarbeit auch weiter ihr Amt im öffentlichen Dienst ausüben zu können. Die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung im öf- fentlichen Dienst insgesamt zeigt, wie wichtig diese Re- gelungsmöglichkeit ist. Deren Erweiterung – Herr Körper sagte es bereits – in Richtung der Altersteilzeit ist völlig unstreitig. Ich möchte diese heutige Aussprache aber auch nutzen, um an die männlichen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu appellieren, selbst stärker von diesen Mög- lichkeiten Gebrauch zu machen. Wir müssen darangehen, die klassische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen zu überwinden. Familienarbeit ist auch Sache der Männer. Es darf nicht länger die Regel einer lebenslangen männlichen Vollzeitbeschäftigung gelten – während die Frauen zurückstecken. Es ist völlig klar: Wer einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, darf bei der Altersteilzeit nicht benachteiligt werden. Die jetzige Rechtslage ist unhaltbar. Es kann nicht sein, dass die Inanspruchnahme von Altersteilzeit von einem Vollzeitarbeitsplatz abhängt. Der Ausschluss teilzeitbeschäftigter Beamter von der Altersteilzeit muss schnellstmöglich beendet werden. Der Staat kann den Menschen nicht immer mehr Flexibilität abverlangen, selbst aber hinterherhinken. Es ist ein großer Mangel des Dienstrechtsreformgesetzes von 1997, den flexiblen Übergang von Teilzeitbeschäftigten in den Ruhestand schlicht verschlafen zu haben. Die Union kann sich heute nicht mit einem Antrag hinstellen und von diesem eigenen Versäumnis ablenken. Die Bundesregierung wird – hoffentlich noch in die- sem Jahr – einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, in dem unter anderem eine Altersteilzeitregelung für Teil- zeitbeschäftigte vorgesehen ist. Die im Antrag der Union vorgesehene Änderung des § 72 b Bundesbeamtengesetz wird dann gemeinsam mit den besoldungs- und versor- gungsrechtlichen Folgeänderungen in Kraft treten. Sie sehen also, dass die Bundesregierung und die Koalitions- parteien zügig die Versäumnisse der Vergangenheit berei- nigen. Die Beamtinnen und Beamten können sich auf uns verlassen. Dr. Max Stadler (F.D.P.): Um es gleich vorweg zu sa- gen: Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt die Initiative der Union ausdrücklich und wird dem Gesetzentwurf zu- stimmen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11981 (C) (D) (A) (B) Die Frage der Altersteilzeit für teilzeitbeschäftigte Beamte ist ein typisches Beispiel für die Art und Weise, wie SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit den Beamten umgehen. Werden einerseits Tarifvertragsverhandlungen großzügig geführt und deren Ergebnisse zeitnah für die ta- rifgebundenen Arbeitnehmer umgesetzt, so lässt man sich bei den Beamten Zeit. Die Gleichstellung der Beamten mit den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst ist für diese Regierung kein erstrebenswertes Ziel. Ein typisches Beispiel für die bewusste Abkoppelung der Beamten von der Fortentwicklung der Rechte der ta- rifgebundenen Arbeitnehmer ist der Umgang dieser Bun- desregierung mit der Besoldungs- undVersorgungsanpas- sung. Da wird das Tarifergebnis vom Juni dieses Jahres mit seinen positiven besoldungsrechtlichen Ergebnissen alsbald umgesetzt, während die Beamten immer noch warten und – wenn es nach dem Willen von Rot-Grün geht – auch noch mindestens bis Anfang nächsten Jahres warten müssen. Ähnliches sollte offensichtlich auch im Bereich der Al- tersteilzeit für teilzeitbeschäftigte tarifgebundene Arbeit- nehmer des öffentlichen Dienstes passieren. Die Geset- zesänderung für die notwendige Parallelregelung für Beamte unterbleibt oder soll zumindest hinausgezögert werden. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Union hier Bun- desminister Schily auf die Sprünge helfen will. Sie wird dabei die volle Unterstützung der Liberalen finden. Petra Pau (PDS): Grundsätzlich stimme ich dem An- liegen des CDU/CSU-Antrages zu. Es ist nicht einzuse- hen, dass die Beamten des Bundes von den Vereinbarun- gen zur Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Dienst ausgeschlossen bleiben sollen. Die hier vorliegende Ge- setzesinitiative könnte eine Gerechtigkeitslücke vor allem für Beamtinnen schließen. Aus den Gewerkschaften von ÖTV bis KOMBA höre ich auch nur Zustimmung und Handlungsbedarf. Nun hörte ich aus der Koalition, dass auch dort über ähnliche Regelungen nachgedacht wird. Gut so! Wenn wir möglichst schnell darüber beraten sollten, müssten aber auch noch einige Fragen beantwortet und geregelt wer- den. Altersteilzeit ist in meinem Verständnis nicht nur ein Instrument zur Entlastung älterer Beschäftigter. Alters- teilzeit muss in meinem Verständnis zum Beispiel Rege- lungen zur Schaffung eines Einstellungskorridors für jün- gere Beschäftigte verbindlich enthalten. Deshalb stimme ich mit dem unter „D.=Kosten“ prognostizierten Ein- sparungseffekt im vorliegenden Antrag nicht überein. Von der Koalition würde ich im Verlauf der weiteren Beratungen eine detaillierte Einschätzung zu den Auswir- kungen der bisherigen Altersteilzeitregelungen unter drei Aspekten erwarten: dem tatsächlichen Bedarf und der In- anspruchnahme dieser Regelungen bisher, der Frage, wel- che Beschäftigungseffekte bisher eingetreten sind und welche im verbeamteten Bereich erwartet werden, und der Frage, wie sehr die Bereitschaft zur Teilung von Ar- beit und Einkommen im öffentlichen Dienst ausgeprägt und damit die Möglichkeit zur Verjüngung gegeben ist. Lassen sie uns recht bald darüber reden und vor allem handeln! Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Mehr Mitbestim- mungsrechte für Betriebsräte – Eckpunkte für die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 12) Anette Kramme (SPD): „Lästig, sinnlos und kosten- trächtig“. Das war der verbreitete Kommentar im Unter- nehmerlager zur sozial-liberalen Reform der Betriebsver- fassung im Jahr 1972. Diese Betrachtungsweise änderte sich schnell. „Das Betriebsverfassungsgesetz müsste er- funden werden, wenn es nicht schon real existierte“, so formulierte der Chemieriese Henkel. Und weshalb das so ist, ist offenbar: Sicherlich, es geht vorrangig und zualler- erst um Arbeitnehmerschutz und Arbeitnehmerinteressen. Aber es geht auch um eine vernünftige innerbetriebliche Kommunikation, von der die Betriebe profitieren. Die Be- triebe haben für sich festgestellt, dass das Wissen und das Können der Belegschaft nur Früchte trägt, wenn die Kol- legen und Kolleginnen informiert und auch an Entschei- dungen beteiligt sind. Das Betriebsverfassungsgesetz wird bei geänderten Bedingungen diesen Anforderungen nicht mehr gerecht. Es ist in die Jahre gekommen: Europäischer Binnenmarkt, Privatisierungen, schärferer Wettbewerb – diese Faktoren lassen Umstrukturierungen und Restrukturierungen im- mer mehr zu Schwerpunkten unternehmerischen Handels werden. Dabei geht auch die Intensität der Umgestaltun- gen über das gewohnte Maß hinaus. Das alles hat Aus- wirkungen einerseits auf die Organisationsgrundlage der Betriebsräte, andererseits auf die qualitativen und quanti- tativen Anforderungen an die Arbeit ihrer Mitglieder. Die Betriebsverfassung muss diesen neuen Bedingungen an- gepasst werden und das sagen wir als diejenigen, die dem Erfolgsmodell des Jahres 1972 das Laufen beigebracht haben. Was wir nicht brauchen, sind Belehrungen. Die Be- triebsverfassung war und ist eines der ureigensten Ziele der SPD. Die Novellierung ist fixiert im Koalitionsver- trag. Vor einem Jahr wurden erste Arbeiten zur Erstellung des Gesetzesentwurfes aufgenommen. Die Betriebsver- fassung wird im Herbst nächsten Jahres in Kraft treten. Was wir auch nicht brauchen, ist eine Konzeption der Kuriositäten. Wir brauchen keine Behörde für betriebs- verfassungsrechtliche Fragen. Sie, meine Damen und Herren der PDS, wollen den Bürokratismus in die Be- triebe einziehen lassen. Wollen Sie wirklich dem Arbeit- geber mit 20 Beschäftigten zumuten, dass 50 Prozent seiner Belegschaft wegen der Mitwirkung an einer je- derzeit initiierbaren und beliebig vergrößerbaren Ar- beitsgruppe des Betriebsrates am qualifizierten Kündi- gungsschutz teilnimmt? Wollen Sie wirklich, dass der Betriebsrat zu jeder verhaltensbedingten Arbeitgeberkün- digung zunächst seine Zustimmung erteilen muss, mit der Folge, dass im Zweifel eine solche Kündigung erst nach Ablauf von Jahren ausgesprochen werden kann, wenn der Instanzenzug des kollektiven Zustimmungsersetzungs- verfahrens durchlaufen ist? Die Betriebsverfassung, die wir uns vorstellen, sieht anders aus: Modern, vor allem aber effizient und gerecht. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011982 (C) (D) (A) (B) Erstens. Wir werden den Betriebsräten ihre Organisati- onsgrundlage zurückgeben. Eine gesetzliche Fixierung des Übergangsmandates muss genauso selbstverständlich sein wie die Schaffung einer Vermutungsregelung für den Gemeinschaftsbetrieb. Wir wollen den Tarifpartnern im Rahmen eines umfassend ausgestalteten § 3 BetrVG die Möglichkeit geben, betriebs- und unternehmensübergrei- fende Interessenvertretungen zu bilden. Weshalb soll nicht der Spartenbetriebsrat möglich sein, wenn dass im konkreten Fall die effektivste Form der Interessenvertre- tung ist? Weshalb soll es nicht die Arbeitsgemeinschaft der Betriebsräte im Einkaufszentrum XY geben, die sich beispielsweise über eine gemeinsame Vorgehensweise bei der Lage der Arbeitszeit abstimmt? Zweitens. Wir werden dafür Sorge tragen, dass die Ver- tretungslücke im Bereich der kleineren und mittleren Be- triebe geschlossen wird. Es ist sinnvoll, dass künftig das Betriebsgremium in einer einzigen Betriebsversammlung gewählt wird. Wir müssen nicht überall Verfahrensanfor- derungen wie bei einer Bundestagswahl stellen. Eine Ent- bürokratisierung lässt sich dabei nur bei Aufhebung des Gruppenprinzips realisieren. Drittens. Wir werden dafür Sorge tragen, dass Be- triebsräte wieder vernünftig arbeiten können. Wir stellen dazu die zeitgemäße Infrastruktur zur Verfügung. Das setzt nicht nur die Möglichkeit der Nutzung moderner In- formations- und Kommunikationstechniken voraus. Es muss möglich sein, dass sachkundige Arbeitnehmer zur Betriebsratstätigkeit hinzugezogen werden können. An- gesichts der gewachsenen Aufgaben der Betriebsräte muss die für die Bestimmung der Betriebsratsgröße und der Freistellungen maßgebliche Arbeitnehmerzahl abge- senkt werden. Letztlich müssen wir Betriebsratsmitglie- der auch wieder effektiv vor Versetzungen schützen. Viertens. Wir werden dafür Sorge tragen, dass Mitwir- kungs- und Mitbestimmungsrechte in Bereichen geschaf- fen werden, die in der heutigen Gesellschaft Relevanz besitzen. Das heißt, dass wir beispielsweise Schutzrege- lungen für die Gruppenarbeit gewähren. An vorderster Stelle muss aber der Ausbau der Mitbestimmung und Mit- wirkung bei der Beschäftigungssicherung und der Quali- fizierung stehen. Nur qualifizierte Arbeitsplätze sind si- chere Arbeitsplätze. Qualifizierung und Beschäftigung müssen auch im Vordergrund künftiger Sozialpläne ste- hen. Ein letzter Punkt. Wer auf die Streichung des Tarifvor- behalts in § 77 Abs. 3 BetrVG spekuliert, ist auf dem Holzweg und gefährdet den sozialen Frieden. Mitbestimmung ist das Erfolgsmodell. Und deshalb wird die Regierungskoalition noch einmal mehr Demo- kratie wagen. Klaus Brandner (SPD): Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion will eine moderne Betriebsverfas- sung. Wir Sozialdemokraten haben folgende Ziele bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes: Die generelle Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung, die Anpassung der gesetzlichen Grundlage an die heu- tige Arbeitswirklichkeit sowie die Zukunftsfähigkeit der innerbetrieblichen Interessensvertretung der Arbeitneh- mer. Das haben wir in unserem Wahlprogramm verspro- chen und dies werden wir auch einhalten. In über 25 Jahren hat sich jedoch die betriebliche Wirklichkeit verändert. Wir Sozialdemokraten und die Gewerkschaften haben diese wirtschaftlichen Verände- rungsprozesse bereits vor Jahren festgestellt. Diesen Ver- änderungen muss eine Betriebsverfassung angepasst wer- den, sonst läuft sie ins Leere. Die Anzahl der Betriebsräte ist dafür ein Anhaltspunkt: 1980 wurden 50,6 Prozent der Arbeitnehmer durch Betriebsräte vertreten, 1994 nur noch 39,5 Prozent, in nur 4 Prozent der Betriebe mit 5 bis 20 Beschäftigten und in nur 28 Prozent derer mit 21 bis 100 Beschäftigten existieren derzeit Betriebsräte.Wer de- mokratische Teilhabe will – unsere soziale Marktwirt- schaft kann nur so funktionieren –, muss diese auch den gesellschaftlichen Veränderungen angleichen. Wer dage- gen spricht, setzt sich dem Verdacht aus, die betriebliche Mitbestimmung aushöhlen zu wollen! Von der Opposition erhoffen wir uns an dieser Stelle, dass Sie sich in der Diskussion nicht missbrauchen lassen: weder in der einen Richtung, Arbeitgebermeinung eins zu eins zu übernehmen, noch in der anderen Richtung, For- derungen so zu überziehen, dass die Novellierung schei- tern muss; dies käme bestimmten Arbeitsgeberverbands- funktionären auch zupass. Ich fürchte aber – und der vorliegende Antrag stützt diese Befürchtung –, dass we- der die PDS noch die Wirtschaftsliberalen in der F.D.P. in dieser Frage an sich halten können. Dabei sprechen gerade wirtschaftspolitische Gründe für eine Renovierung der Betriebsverfassung: Gerade die Institution Mitbestimmung erleichtert die Zustimmung der Belegschaft zu wirtschaftlich unvermeidlichen Ein- schnitten bis hin zu Entlassungen, zum Beispiel bei Struk- turanpassungsmaßnahmen. Denn das BetrVG gibt den Betriebsräten die Möglichkeit, an der konkreten Gestal- tung der unternehmerischen Maßnahmen einflussreich mitzuwirken. Betriebliche Mitbestimmung als System des friedlichen, unternehmensinternen Interessenaus- gleichs hat sich in jahrzehntelanger Praxis bewährt. Dies ist ein Standortvorteil. Es zeigt sich in der Pro- duktion, im Kundenservice oder in der Verwaltung: Nur wer die Beschäftigten als Partner ernst nimmt und ihr En- gagement fördert, wird langfristig ein Unternehmen er- folgreich führen. Mehr als 70 Prozent der Arbeitgeber und Betriebsräte geben dem Teamwork die Note „gut“ oder „sehr gut“. Rund 83 Prozent aller Arbeitgeber sagen, der Betriebsrat habe eine hohe oder sehr hohe Bedeutung für die Firma. In einer Wirtschaft, in der Hierarchien abgeflacht wer- den und Verantwortung verstärkt delegiert wird, in der ständig Eigenbeteiligung verlangt wird und Menschen ei- genverantwortlicher tätig sein wollen, müssen mehr de- mokratische Rechte individuell und kollektiv eingeräumt werden. Diese Auffassung steht natürlich im Widerspruch zu einer Staatsfixiertheit, die aus dem Antrag der PDS zu lesen ist. Aber dies habe ich an dieser Stelle mit den his- torischen Erfahrungen auch nicht anders erwartet. In dem Antrag wird den Arbeitnehmern vorgeworfen, Sie hätten Angst, sich betrieblich zu engagieren, würden aus Angst vor beruflicher Benachteiligung nicht für Betriebsratsgre- mien kandidieren. Deshalb schlägt die PDS an dieser Stelle überzogenen staatlichen Schutz vor. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11983 (C) (D) (A) (B) Aber – und davon bin zutiefst überzeugt – eine Demo- kratie kann nicht funktionieren, wenn die Menschen in Furcht leben. Wer dies unterstellt, untergräbt Demokratie. Wer glaubt, dass im Zustand unserer Gesellschaft der Mensch des Menschen Wolf ist, zweifelt überhaupt an Zi- vilisation und gesellschaftlichem Fortschritt. Für inhaltliche Irrwege in Ihrem Antrag möchte ich zwei Beispiele nennen. Erstens. Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, die Wahl eines Betriebsrates ab drei Beschäftigte möglich zu ma- chen, dann führen Sie quasi das Berufsbeamtentum für alle ein. Denn mit der Funktion eines Betriebsrates – und nach Ihren Vorstellungen für seinen Stellvertreter – geht ja auch ein starker Kündigungsschutz einher. Zweitens. Wenn Sie die gesetzliche Normierung ein- fordern, dass – ich zitiere –: „kein Unternehmen Vorteile aus der Nichtexistenz eines Betriebsrates ziehen kann“, vollzieht die PDS den Schulterschluss mit gewissen Ar- beitgeberverbandsfunktionären. Diese behaupten näm- lich auch, dass betriebliche Mitbestimmung ein Standort- nachteil sei. Wir Sozialdemokraten halten es im Gegensatz zur PDS für notwendig, betrieblicher Mitbestimmung einen ge- setzlichen Rahmen zu geben, den Betriebsräte und Unter- nehmer eigenverantwortlich ausfüllen können. Es geht darum, als Gesetzgeber Spielräume für betriebliche Mit- bestimmung zu geben – die betriebliche Mitbestimmung ausfüllen müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen von der PDS und uns So- zialdemokraten. Dennoch: Zu Recht fordert die PDS in ihrem Antrag die breite gesellschaftliche Debatte um ein neues Be- triebsverfassungsgesetz ein. Doch Ihr Antrag – lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen – ist in der Sache nicht ganz redlich. Denn einerseits haben Sie von der PDS die Debatte bereits nachvollzogen oder vorweggenommen, je nach Standpunkt. Andererseits wollen sie angesichts eines in Kürze zu erwartenden Referentenentwurfs der sozial- demokratisch-bündnisgrünen Bundesregierung, einer be- reits seit längerem ausgetragenen Debatte in Gewerk- schaften und Arbeitgeberverbänden sowie der für das Thema üppigen Medienberichterstattung, eine breite ge- sellschaftliche Debatte einfordern. An dieser Stelle frage ich Sie: „Auf wen wollen Sie denn noch warten?“ Die Gewerkschaften haben sich po- sitioniert, die Arbeitgeber haben sich ihre Meinung gebil- det, die Jugendverbände aus dem christlichen und dem so- zialdemokratischen Spektrum haben sich an der Diskussion beteiligt sowie die Mehrzahl der Fraktionen, das heißt, drei von fünf in diesem Hohen Hause sind mit- ten in der konkreten Arbeit. Sollten Sie allerdings mit Ihrem Antrag CDU/CSU und F.D.P. Zeit oder Anlass ge- ben wollen, sich mit dem Thema Betriebsverfassungsge- setz zu beschäftigen, möchte ich dieses Anliegen im Na- men meiner Fraktion ausdrücklich unterstützen. Vielleicht wollen Sie Christdemokraten und Christsoziale auf die CDA-Forderungen in diesem Bereich hinweisen? Dieses Anliegen würde ich unterstützen. Mit den von der CDA am 11. und am 14. September dieses Jahres be- schlossenen Positionen wäre Christdemokraten wie Christsozialen zumindest eine qualifizierte Beteiligung an der Novellierung möglich. Eine Debatte um einen Eckpfeiler unserer Wirt- schaftsordnung kann nur qualifiziert geführt werden. Der PDS gebührt nun unser Dank, auch den Rest der Opposition auf dieses wichtige Thema hingewiesen zu haben. Die konkreten Vorschläge sind allerdings eine krude Mischung zwischen konservativem Menschenbild, wirtschaftsliberalen Vorurteilen und kommunistischem Staatsdirigismus. Dorothea Störr-Ritter (CDU/CSU): Das Betriebs- verfassungsgesetz ist nahezu 30 Jahre alt – eigentlich im besten Alter. Mit dem auf diesem Gesetz beruhenden Sys- tem der betrieblichen Mitbestimmung hat die Praxis zu leben gelernt. Den Schwierigkeiten in seiner täglichen Anwendung steht die Anerkennung der positiven Auswir- kungen gegenüber. Diese werden sowohl von Arbeitge- berseite wie Arbeitnehmerseite bestätigt. Demzufolge sind Betriebsräte in vielen Unternehmen fest integriert. Nach einer bei der Bertelsmann-Stiftung eingerichteten Kommission „Mitbestimmung“ ist davon auszugehen, dass allein in der chemischen Industrie 73 Prozent der Beschäftigten durch einen Betriebsrat ver- treten sind. In der Gesamtwirtschaft sind es allerdings nur 39,5 Prozent. Eine Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes steht nun in erster Linie an, weil dies die rot-grüne Regie- rung in ihrer Koalitionsvereinbarung von 1998 angekün- digt hat. Die „Mitbestimmung am Arbeitsplatz sowie in Betrieb und Verwaltung soll im Interesse der Beteiligung und Motivation der Beschäftigten gestärkt werden und an die Veränderungen in der Arbeitswelt angepasst werden“. Arbeitsminister Riester unterschrieb noch als zweiter Vor- sitzender der IG-Metall die Bonner Erklärung vom Juni 1998, in der es – auf gewerkschaftlich charmante Art aus- gedrückt – heißt, dass eine Schwächung der betrieblichen Interessenvertretung nicht länger tatenlos hingenommen werden dürfe. Vor den Betriebsratswahlen im Jahr 2002 soll wahltak- tisch geschickt das neue Gesetz in Kraft treten. Während der Arbeitsminister – nun selbst an den Hebeln der Macht – wohl noch etwas nachdenkt, kann die PDS die Rückkehr zur Zwangswirtschaft kaum noch erwarten. Erinnern wir uns: Das Betriebsverfassungsgesetz ba- siert auf den Erfahrungen der 60er-Jahre. Diese waren durch Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung ge- prägt. 1972 wurden Gewerkschaften nach Lohnabschlüs- sen von 8,5 Prozent als maßvoll gelobt. Der Personal- computer steckte in den Kinderschuhen. Der letzte Schrei in den Büros war die IBM-Kugelkopfmaschine. Globali- sierung, Outsourcing und Cleanmanagement waren böh- mische Dörfer oder apokalyptische Wahnvorstellungen. Der Kontext, in dem das Betriebsverfassungsgesetz fast 30 Jahre danach steht, hat sich sichtbar gewandelt. Das heißt, dass sich jegliche Veränderungen des Gesetzes an den Bedürfnissen der Betriebe unter Berücksichtigung gegenwärtiger wie künftiger Entwicklungen in der Ar- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011984 (C) (D) (A) (B) beitswelt zu orientieren haben. In diesem Sinne – und das möchte ich bereits an dieser Stelle betonen – können Än- derungen nicht rückwärtsgewandt sondern nur zukunfts- gewandt sein. Zukunftsgewandt heißt: Bestandssicherung der Unternehmen in Deutschland, Neuansiedlung von Unternehmen aus dem Ausland. Die Rahmenbedingun- gen für die wirtschaftliche Entwicklung können nicht mehr unter nationalem Blickwinkel betrachtet werden. Güter- und Dienstleistungsverkehr ist in der Europäischen Union praktisch vollständig und weitgehend frei. Die Un- ternehmen, auch die mittelständischen, sind globalem Wettbewerb ausgesetzt. Jedes Gesetz, welches Unternehmen über Gebühr be- lastet und unternehmerische Handlungsfreiheit zur Farce macht, verhindert Chancengleichheit. Wir werden sehr darauf zu achten haben, dass ein novelliertes Betriebsver- fassungsgesetz die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Un- ternehmen und des Wirtschaftsstandortes Deutschland stützt und nicht schwächt. Wo ich im Antrag der PDS eine solche Stärkung er- kennen soll, hat sich mir bis zur Stunde nicht geoffenbart. Um festzustellen, dass dieser Antrag unsere Wirtschaft und unseren Standort nachhaltig schwächen würde, habe ich allerdings nur wenige Minuten gebraucht. Bevor ich darauf weiter eingehen werde, möchte ich nochmals klarstellen, worauf die Idee des Betriebsverfas- sungsgesetzes bis heute basiert – womit sie sich bis heute auch bewährt hat: Erstens. Das System der Betriebsverfassung ist in sich stabil. Nur so kann vertrauensvolle Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Betriebsräten zum Wohle der Betriebe und der dort beschäftigten Arbeitnehmer entstehen. Zweitens. Prägend für das Betriebsverfassungsgesetz ist das Leitbild des umfassend verantwortlichen Arbeitge- bers. Das heißt, Planungs-, Organisations- und Leitungs- kompetenz liegen beim Arbeitgeber, weil er allein die wirtschaftliche Verantwortung und das Unternehmensri- siko trägt. Drittens. Um den Schutz der Arbeitnehmer vor eventu- ell nachteiligen Folgen unternehmerischer Entscheidun- gen zu gewährleisten, sieht die Betriebsverfassung ein abgestuftes Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer- interessenvertretung vor. Dazu dienen umfassende Mitbe- stimmungs-, Beratungs- und Informationsrechte. Interes- sen der Arbeitnehmer finden damit Berücksichtigung, ohne dass die Entscheidungskompetenz der Unternehmer infrage gestellt wird. Viertens. Das Betriebsverfassungsgesetz orientiert sich am Konsensprinzip. Vertrauensvolle Zusammenarbeit als positivste und produktivste Stimmungslage in einem Un- ternehmen soll gewährleistet sein. Interessengegensätze sollen ausbalanciert werden, dem Unternehmen scha- dende Machtkämpfe sollen verhindert werden. Ist den- noch keine Befriedung möglich, muss in Fällen zwingen- der Mitbestimmung die Einigungsstelle entscheiden. Fünftens. Die Nähe zum Betrieb und den dortigen Arbeitnehmerinteressen ist ein weiteres Charakteristi- kum des bundesdeutschen Mitbestimmungssystems. Er- gänzt wird dies durch das auf Fläche und Überbetrieb- lichkeit ausgelegte Tarifvertragssystem. Der Betriebsrat, als zentrales Organ der Betriebsverfassung, wird durch die Mitarbeiter eines Betriebes gewählt, für die er auch ausschließlich zuständig ist. Sachorientierte, sachver- haltsbezogene, betriebsnahe Regelungen sind deshalb möglich. Die Fragestellung für eine Novellierung kann deshalb niemals heißen: Wie vernichten wir bewährte Strukturen? Sie kann allenfalls lauten: Wo ist Bewährtes an veränderte Umstände anzupassen, und dies auch nur dort, wo zwin- gend nötig. Ich warne davor, aus der Tatsache, dass nur in 39 Prozent der Unternehmen Betriebsräte bestehen den Schluss zu ziehen, dies läge am Gesetz und deshalb müss- ten die Betriebe zu ihrem vermeintlichen Glück gezwun- gen werden. Die Frage muss erlaubt sein, ob in veränder- ten Unternehmensstrukturen Interessen der Arbeitnehmer nicht inzwischen sogar schon wesentlich besser geschützt sind. Nicht erst bei der mit viel Propagandalärm geführten Diskussion um eine neue Art der Aufenthalts- und Ar- beitsbewilligung fürNicht-EU-Arbeitnehmerwurde deut- lich, dass sich Unternehmen inzwischen mit viel Aufwand bemühen müssen, neue Mitarbeiter zu bekommen und vorhandene Mitarbeiter nicht an die Konkurrenz zu ver- lieren. Dazu lassen sie sich allerlei Zusatzleistungen für ihre Arbeitnehmer einfallen. Eine Spitzenstellung nimmt dabei die Mitarbeiterbeteiligung ein. Eine Großzahl der Unternehmen arbeiten inzwischen mit einem Beteili- gungsmodell. Diese vielfältig ausgestaltete Beteiligung schafft Identifikation mit dem Unternehmen. Und der Un- ternehmenswert entscheidet über den Wert der Mitarbei- terbeteiligung. Diese Mitarbeiterbeteiligung bei Unternehmen des neuen Marktes ist ohne Mitwirkung der üblichen Mitbe- stimmungsorgane – Gewerkschaften und Betriebsräte – entstanden. Nehmen wir zur Kenntnis: In hierarchiearmen Strukturen und in einem offenen Arbeitszeitsystem scheint das Bedürfnis nach kollektiver Interessenvertre- tung zwangsläufig nicht stark ausgeprägt zu sein – und Arbeitnehmer haben Beteiligungsmöglichkeiten in bisher nicht vorgesehenem Maße. Nicht nur, dass die PDS mit ihrem Antrag auf diesem Auge völlig blind ist. Die PDS sieht sich jeglichem unter- nehmerischen Wissen überlegen – als selbst ernannter Heilsbringer für die deutschen Arbeitnehmer. In 21 Punk- ten soll das Betriebsverfassungsgesetz den Weg in eine Zwangswirtschaft einleiten. Das angebotene Heil gipfelt in der totalen Entmachtung der Arbeitgeber. Wenn Ar- beitgeber jedoch nur noch fremdbestimmte Ausführungs- organe sein sollen, wäre es ehrlicher, sofort für ihre Ab- schaffung zu plädieren. Aber wo – so wird sich die PDS fragen – bekommen wir dann diese nützlichen Idioten her, die die wirtschaft- liche Verantwortung übernehmen und die Vorstellungen aller Besserwissenden finanzieren? Die PDS bestreitet nicht, dass Privateigentum die Grundlage des Erfolges unserer sozialen Marktwirtschaft ist. Verfassungsrang ge- nießt laut PDS jedoch nur die Sozialbindung des Eigen- tums, nicht aber der Erwerb von Eigentum. Ein Antrag, der zwar das Leitbild des umfassend ver- antwortlichen Arbeitgebers aufrechterhält, dem Arbeitge- ber jedoch durch ein ausschließlich rückwärtsgewandtes Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11985 (C) (D) (A) (B) Betriebsverfassungsgesetz jegliche Planungs-, Organisa- tions- und Leitungskompetenz nimmt, verlässt eine Basis unserer sozialen Marktwirtschaft. Deswegen sage ich ein entschiedenes Nein zu diesem Antrag. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der PDS-Antrag ist Fleißarbeit, aber überflüssig. Dass eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vorbereitet wird, wird bereits öffentlich diskutiert. Das Betriebsver- fassungsgesetz ist überaltert. Es ist der Dynamik der wirt- schaftlichen Entwicklung und dem Wandel der Arbeits- welt nicht mehr gewachsen. In der Zukunft werden Betriebe und Mitarbeiter auf Entwicklungen reagieren müssen, die heute noch nicht vorhersehbar sind. Deshalb dürfen die neuen Regelungen keine starren gesetzlichen Einheitslösungen bieten, son- dern sie müssen den Spielraum für eine verhandelnde Mitbestimmung eröffnen. Eine abschließende Definition zum Beispiel des Betriebsbegriffs und des Arbeitnehmer- begriffs, wie die PDS es fordert, wird für die Praxistaug- lichkeit unwichtig sein. Statt Definitionen brauchen wir die Möglichkeiten, auch durch Vereinbarungslösungen auf Veränderungen reagieren zu können. Neue Formen der Beschäftigung und flexible Unternehmensstrukturen machen unbürokratische Mitbestimmungsregelungen und Übergangsmandate notwendig. Dadurch können sozialer Schutz und wirtschaftliche Innovation gleichzeitig geför- dert werden. Nur in 4 Prozent der Betriebe mit 5 bis 20 Beschäf- tigten und nur in 28 Prozent der Betriebe mit 21 bis 100 Beschäftigten bestehen heute noch Betriebsräte. Ent- bürokratisierung und erleichterte Wahlverfahren sind not- wendig. Das alte Betriebsverfassungsgesetz hat blinde Flecken. Es fehlt eine wirksame Verankerung der Gleich- stellung für Frauen, des integrierten Umweltschutzes, der Jugendvertretungen, der betrieblichen Qualifikation und der Stärkung der Rechte von einzelnen Beschäftigten und Gruppen. Gerade Umweltschutz und Gleichberechtigung können durch die Initiative von Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern sowie Betriebsräten auch gesellschaftlich vor- angebracht werden. Eine demokratische Bürgergesellschaft braucht Demo- kratie im Betrieb. Wer zu gesellschaftlichem und demo- kratischem Engagement motiviert werden soll, muss sich auch am Arbeitsplatz einbringen können. Auch die Ge- währung von individuellen lnformations- und Beratungs- rechten am Arbeitsplatz sollte in der Betriebsverfassung verankert sein. In gesellschaftspolitischer Hinsicht ent- sprechen individuelle und kollektive Partizipationsrechte dem Leitbild der Bürgergesellschaft im Betrieb. Trotz der zurzeit aufgebauschten Diskussion gilt: Eine breite Mehr- heit der deutschen Wirtschaft und der Arbeitnehmerver- tretungen bewertet die deutsche Mitbestimmung und die Grundprinzipien der dualen Interessenvertretung positiv. Die gegenseitige Abstimmung von Tarifautonomie und betrieblichen Vereinbarungen wird zu Recht als das „Herzstück des deutschen Systems der industriellen Be- ziehungen“ – Kommission Mitbestimmung 1998 – be- zeichnet. Der globalisierte Wettbewerb macht die Möglichkeiten der betriebsnahen Gestaltung von Tarifvereinbarungen notwendiger denn je. Betriebliche Bündnisse für Arbeit oder neue betriebliche Arbeitszeitmodelle sind über Öff- nungsklauseln in den Flächentarifverträgen durchsetzbar. Dies setzt jedoch die institutionelle Absicherung von be- trieblichen Vertretungsstrukturen voraus. Dort, wo keine Betriebsräte existieren, können tarifliche Öffnungsklau- seln nicht genutzt werden. Auch deshalb muss die Bildung von Betriebsräten gerade für kleinere Betriebe erleichtert werden. Dafür wollen wir die Einführung von Einstiegs- mandaten ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk werden wir der Frauen- gleichstellung, dem Umweltschutz und der Jugendvertre- tung widmen. Aber auch die Stärkung der Rechte von Ein- zelnen und Gruppen sind wichtige Punkte. „Einmischen und Mitgestalten“ soll vom Gesetzgeber zugelassen wer- den. Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Bei der Lektüre Ihres Antrages, „Mehr Mitbestimmung für Betriebsräte – Eck- punkte für die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes“ , liebe Kolleginnen und Kollegen der PDS-Fraktion, kam mir ein Wort des amerikanischen Dramatikers Tennessee Williams in den Sinn: „Jede Dummheit findet einen, der sie macht.“ Was ich Ihnen vorwerfe: An alles und alle haben Sie in Ihrem Antrag gedacht: Nur die 3,6 Millionen Arbeitneh- mer, die in unserem Land einen Arbeitsplatz suchen und deren Chancen sich auf dem Arbeitsmarkt dem Wettbe- werb mit den Arbeitsplatzinhabern zu stellen, Sie mit die- sem Antrag drastisch beschneiden, haben Sie links liegen lassen. Ich möchte mich aus Zeitgründen auf einen Punkt aus Ihrem Antrag beschränken, der beispielhaft zeigt wie verfehlt Ihre Vorstellungen zur Reform des Betriebsver- fassungsgesetzes sind. Unter Punkt 12 fordern Sie, den Tarifvorrang des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz auf nicht tarifgebundene Betriebe auszudehnen. Liebe Kollegen und Kolleginnen von der PDS, in einer Zeit, in der gerade in Ostdeutschland viele Betriebe ihre Existenz nur durch Austritt aus dem Flächentarifvertrag und durch Betriebsvereinbarungen retten konnten und retten, wollen Sie auch noch diesen Notausgang vernageln? Wie heißt es in Shakespeares Hamlet: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Sie wollen mehr Mitbestimmung der Betriebsräte! So heißt es unter Punkt 13: Die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte in so- zialen, personellen und wirtschaftlichen Angele- genheiten sind entsprechend ihrer gewachsenen Auf- gaben sowie der größeren Bedeutung von Selbst- ständigkeit und Eigenverantwortung der Beschäftig- ten auszuweiten und entsprechend präziser zu fassen. Das heißt, der Betriebsrat kann überall mitreden, aber die zentralsten Punkte des Arbeitnehmerinteresses sollen dem Betriebsrat durch die Ausweitung des Tarifvorranges in § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz weiterhin ent- zogen bleiben, nämlich den Lohn und die Dauer von Ar- beits- und Urlaubszeit vor Ort mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren. Wir Freien Demokraten wollen im Interesse der Ar- beitnehmer den Betriebsräten die Option geben, über Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011986 (C) (D) (A) (B) Lohn, Arbeitszeit und Urlaub auf der Betriebsebene zu verhandeln. In unserem Antrag zur Reform des Tarifver- tragsrechts, den wir in den Deutschen Bundestag einge- bracht haben, fordern wir, § 77 Abs. 3 Betriebsverfas- sungsgesetz mit einer Öffnungsklausel zu versehen. Betriebliche Bündnisse fürArbeit sollen möglich sein, die zwischen Unternehmen und Belegschaftsvertretung frei- willig geschlossen werden und denen 75 Prozent der Mit- arbeiter des Unternehmens zugestimmt haben. Warum sollen die Betriebsräte alles mitbestimmen können, nur nicht bei Lohn undArbeitszeit?!Wir brauchen inDeutsch- land dringend eine solche Regelung, damit Unternehmen und Arbeitsplätze in Krisenzeiten schneller durch ein be- triebliches Bündnis für Arbeit gerettet werden können. Ein Wort zum Schluss an die Regierungskoalition: Es ist in diesem Zusammenhang schon einArmutszeugnis, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nach monatelangemHin und Her in der Bundesregierung, nach dem Lancieren immer neuer Vorschläge in der Presse es bis heute nicht geschafft haben, diesem Haus ein Eck- punktepapier Ihrer Koalition zu einer Reform des Be- triebsverfassungsgesetzes vorzulegen. Bringen Sie end- lich den Mut auf, Ihre Vorschläge zur Diskussion zu stellen und lassen Sie uns eine sachliche Debatte führen, wie wir das Betriebsverfassungsgesetz auf die Erforder- nisse unserer im harten Wettbewerb stehendenWirtschaft ausrichten und wie wir endlich die Arbeitslosigkeit nach- haltig senken. Ich kann nur hoffen, dass sich der Bundes- kanzler bei seinen Treffen mit Herrn Bisky von den hane- büchenenVorschlägen der PDS nicht hat infizieren lassen. Sollte Ihr Gesetzentwurf jedoch Vorschläge enthalten, die denen der PDS auch nur ähneln, dürfen Sie sich unseres erbitterten Widerstandes gewiss sein. Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes ist lange überfällig und es ist gut, dass die Bundesregierung es endlich auf den Weg bringen will. Besser wäre es, wenn sie sich an den früher einmal angekündigten Zeitplan gehalten hätte, und noch besser würde ich es finden, wenn sich insbesondere die SPD an die Forderungen ihrer alten Anträge von 1987 und 1988 erinnern würde. Erstens. Der so lange angekündigte Referentenentwurf kommt mehr als spät, wenn er Grundlage der nächsten Be- triebsratswahlen werden und dem auch noch eine ausrei- chende öffentliche Debatte vorangehen soll. Zweitens. Die von Minister Riester bekannt gemachten Eckpunkte des neuen Gesetzes sind einfach enttäuschend. So kommentiert denn auch die „Berliner Zeitung“ von gestern, die Drohgebärden der Arbeitgeber seien verfrüht; über unerfüllte Forderungen müssten sich dagegen die Gewerkschaften Sorgen machen. Dies sind denn auch die wesentlichen Gründe, die uns veranlasst haben, einen weiter gehenden Antrag mit eige- nen Eckpunkten einzubringen. Wir wollen nicht, dass die Reform der betrieblichen Mitbestimmung in den Weichspüler der Konsenspolitik gerät, und wir wollen auch kein reformiertes Betriebsver- fassungsgesetz, das sich in erster Linie als Pflegemittel zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit versteht. Dieses Gesetz eignet sich nicht als Prüfstein für die Wirtschaftsfreundlichkeit der Bundesregierung, sondern es stände ihr gut zu Gesicht, wenn sie in diesem Fall die soziale Demokratie und die durch die Verfassung gebo- tene Sozialpflicht der Eigentümer einmal wichtiger neh- men würde als die Standortpflege. Das Hauptanliegen unseres Antrages ist es, die be- triebliche Mitbestimmung an die Bedingungen der neuen Arbeitswelt anzupassen und den Betriebsräten wieder die Handlungsfähigkeit zurückzugeben, die ihnen die neuen Unternehmensstrategien bzw. die Erosion des Normalar- beitsverhältnisses genommen haben. Wenn wir „mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebs- räte“ fordern, dann nicht, weil wir neue Schritte auf dem Weg zur qualifizierten Mitbestimmung für möglich hal- ten, sondern nur deshalb, weil die schleichende Aushöh- lung der bescheidenen Mitbestimmungsrechte des Be- triebsrates aufgehalten und zurückgedreht werden muss. Die modernen Produktionsstrukturen verlangen eine an- dere, eine flexiblere und prozessorientierte Mitbestim- mungspraxis. Die neuen Technologien bedürfen einer präziseren Mitbestimmung beim Gesundheits- und beim Umwelt- schutz und die wachsende Bedeutung der Beschäfti- gungssicherung macht es unverzichtbar, dass die Be- triebsräte umfassender in die Personalentscheidungen einbezogen werden. Aber – auch das sage ich eindeutig –, „nur wo Eini- gungsstelle drauf steht, ist auch Mitbestimmung drin“, nur wo Betriebsräte Durchsetzungsmöglichkeiten haben, besteht auch Mitbestimmung. Informations- oder Mitwir- kungsrechte sind wichtig, aber ohne gleichzeitige Initia- tivrechte und ohne Einigungszwang sind Betriebsräte völ- lig machtlos. Ich bin gespannt, wie im Regierungsentwurf mit der notwendigen Formulierung eines neuen Betriebsbegriffs umgegangen und ein neuer Arbeitsbegriff gefunden wird und wie die Erleichterung der Wahlvorschriften oder die Erweiterung des Mitbestimmungskatalogs aussehen soll. Wir denken zum Beispiel, dass es keine letztendlich richtige Betriebsdefinition gibt, mit der die Zunahme be- triebsratsloser Betriebe aufzuhalten wäre. Aber man kann die Beweislast umdrehen und durch die Einführung eines Betriebsregisters die Unternehmer zwingen, Änderungen anzumelden und glaubhaft zu machen. Man kann es doch angesichts der kaum noch übersehbaren Aufspaltungs- und Ausgliederungsstrategien nicht mehr allein den Be- triebsräten oder Wahlvorständen überlassen, das Fortbe- stehen eines Betriebes nachzuweisen. Lassen Sie uns einen gesetzlichen Modus finden, mit dem es unmöglich wird, ganze Belegschaften durch juris- tische Tricks in betriebsratslose Zonen abzuschieben. Ein weiteres Beispiel. Auch wir sind für eine Vereinfa- chung der Betriebsratswahlen, aber solange die Wahl hier- zulande ein Beschäftigungsrisiko darstellt, ist den Betrof- fenen mit der Vereinfachung des Wahlverfahrens noch lange nicht geholfen. Die Wahl eines Betriebsrates darf nicht mehr vom Mut der Beschäftigten abhängen, sondern muss zu einem öffentlichen Anliegen werden. Wo in diesem Land demokratische Wahlen gesetzlich vorgeschrieben sind, wird öffentlich dafür gesorgt, dass sie auch stattfinden. Warum eigentlich nicht bei Betriebs- ratswahlen? Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11987 (C) (D) (A) (B) Warum also verzichten wir auf die Durchführung von Betriebsratswahlen, wenn sich kein Wahlvorstand findet oder nicht finden kann, weil die Wahrnehmung demokra- tischer Rechte im betrieblichen Alltag mit Nachteilen ver- bunden ist? Kein Kaninchenzüchterverein kommt ins Vereinsregis- ter, wenn er sich um die demokratische Wahl eines Vor- standes drückt, aber Zehntausende von Unternehmern ha- ben keinerlei Nachteile zu fürchten, wenn sie ohne demokratisch gewählten Betriebsrat bleiben. Ich finde das skandalös, aber auch undemokratisch und im Sinne unseres Grundgesetzes unakzeptabel. Deshalb haben wir auch dazu einen Vorschlag gemacht, der streit- bare, aber sicher fruchtbare Diskussionen ermöglicht. Wir wollen die Wahl von Betriebsräten nicht nur erleichtern, sondern zu einer gesetzlichen Norm machen. Zwingt nie- mand zum Wählen, aber schafft Voraussetzungen, dass die, die wollen, können! Lassen wir es darauf ankommen, ob unsere Vorstellun- gen außerhalb des Parlaments Widerhall finden. Lassen Sie uns in einen Ideenwettstreit darüber eintreten, wie eine moderne Betriebsverfassung aussehen kann, wenn sie sich nicht in erster Linie an der höchstmöglichen Wett- bewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes orientiert, sondern am höchsten Maß demokratischer Rechte in allen Teilen der Gesellschaft. Wir in diesem Bundestag könnten ein Beispiel dafür geben, dass wir nicht nur demokratische Rechte für uns, sondern für alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft wol- len. Gibt es ein besseres Beispiel dafür als die Demokra- tie in den Betrieben? Ich freue mich deshalb nicht nur außerordentlich auf die kommende inhaltliche Debatte, sondern auch auf den Vergleich, den Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionä- rinnen und -funktionäre zwischen ihren und unseren Vor- schlägen ziehen werden. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts (GvKostR- NeuOG) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ge- richtskostengesetzes und anderer Gesetze – Entwurf eines Gesetzes zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebühren- verordnung auf Euro (KostREuroUG) (Tagesordnungspunkt 10 a bis c) Alfred Hartenbach (SPD): Drei Gesetze beraten wir heute Abend, drei Gesetze, die für die ordentliche Justiz und für die Bevölkerung von Bedeutung sind. Dafür ste- hen mir sechs Minuten zur Verfügung, eine umfassende Darstellung der Gesetze ist mir leider nicht möglich. Ich will neben dem Gesetz zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebühren auf Euro, das ich hier nur erwähne, mich mit dem Gerichtskostengesetz, dem Ent- wurf des Bundesrates und mit dem Entwurf der Bundes- regierung zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkosten- rechts befassen. Mit dem Gesetz des Bundesrates zur Änderung des Gerichtskostengesetzes tun wir uns etwas schwer. So ver- ständlich es ist, dass die Finanzminister der Bundesländer ihre Haushalte über Gebührenerhöhungen konsolidieren wollen, so schwierig wird hier die Entscheidung zu tref- fen sein. Einerseits machen auch die Länderjustizhaus- halte allenfalls 2 bis 3 Prozent des Gesamthaushaltes aus, sodass eine Gebührenerhöhung insgesamt hier fast über- haupt nicht zu Buche schlägt. Andererseits bedeutet die Erhöhung der Gebühren zum Beispiel im Mahn- und Voll- streckungsverfahren um nahezu 50 Prozent schon einen erheblichen Einschnitt für den Einzelnen, für manche Bürger, die ihr Recht suchen, wird dies sogar sehr schwie- rig werden. Wir sind daher der Ansicht, dass dieses Gesetz sehr eingehend mit allen Beteiligten beraten werden muss, um einerseits den Ländern entgegenzukommen, an- dererseits aber auch weder die Wirtschaft zu blockieren, noch die Bürger über Gebühr zu belasten. Mit der Neuordnung des Gerichtsvollzieherkosten- rechts schaffen wir endlich Tatbestände, die einerseits die komplizierte Berechnung von Pfändungstatbeständen erleichtern, andererseits die Kostendeckungsquote der Länder im Bereich des Gerichtsvollzieherwesens deutlich verbessern. Das Gesetz findet im Wesentlichen die Zu- stimmung des Bundesrates, aber auch die unmittelbar Be- troffenen, die Gerichtsvollzieher, sehen darin eine Er- leichterung ihrer Arbeit. Dieses Gesetz ist auch insoweit wichtig, als es dazu geeignet ist, die Motivation der Gerichtsvollzieher zur Ausübung ihres sicherlich nicht leichten Berufs noch zu erhöhen. Was hilft es dem Recht suchenden Bürger, wenn er ein Urteil erstritten hat, einen Vollstreckungstitel hat, aber sein Recht nicht durchsetzen kann? Viele Schuldner zahlen eben nicht freiwillig, sondern nur aufgrund von staatlich erzeugtem Druck. Deshalb ist es erforderlich und notwendig, dass wir gut ausgebildete und motivierte Ge- richtsvollzieher in Deutschland haben. Als langjähriger Direktor eines Amtsgerichts und Dienstaufsicht führender Richter über Gerichtsvollzieher weiß ich, dass unsere Ge- richtsvollzieher in Deutschland weit über das übliche Maß hinaus tätig sind, arbeiten und dabei sowohl die In- teressen der Gläubiger als auch die Interessen der Schuld- ner im Auge haben. In der letzten Legislaturperiode haben wir diese Funktion der Gerichtsvollzieher, nämlich auch zwischen Gläubiger und Schuldner ein ehrlicher Makler zu sein, noch verstärkt. Ich glaube, dies war eines der bes- ten Gesetze, die in der letzten Legislaturperiode verab- schiedet wurden. Wir fordern aber nunmehr auch die Länder auf, das ihrige zu tun, um die Situation der Gerichtsvollzieher zu verbessern. Wir wissen, dass sich die Rekrutierung der Gerichtsvollzieher wie bisher, aus dem mittleren Dienst, bei der Entwicklung des mittleren Dienstes nicht mehr in vollem Umfang realisieren lassen wird. Darüber hinaus bedürfen die Gerichtsvollzieher, die bereits jetzt hervor- ragende Arbeit leisten, einer deutlich besseren Ausbil- dung, die mindestens einen Fachschulabschluss, an- genähert an den der Rechtspfleger, erfordert. Leider können wir nicht feststellen, dass die Bemühungen der Länder insoweit auch Erfolg zeitigen. Wir versichern Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011988 (C) (D) (A) (B) aber den Ländern, dass wir auf ihrer Seite stehen, wenn sie – weil es ihre Aufgabe ist – einen brauchbaren und be- ratbaren Entwurf über eine Verbesserung der Ausbildung der Gerichtsvollzieher vorlegen. Mit diesem Gesetz leisten wir unseren Beitrag: einmal zur Attraktivität des Berufes der Gerichtsvollzieher, ande- rerseits aber auch zur Entlastung der Justizhaushalte der Länder. Wir bitten, dieses Gesetz zügig zu beraten, damit es alsbald in Kraft treten kann. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Das Gesetz zur Neuordnung des Gerichtsvollzieher- kostenrechts, Drucksache 14/3432 der Bundesregierung, ist vom Grundsatz her zu begrüßen, wenn durch Verein- fachungen – Straffung des Kostenwesens und der Ein- führung von Pauschalen – die Gerichtsvollzieher entlastet werden, dadurch mehr an praktischer Arbeit leisten kön- nen und die Länder durch Mehreinnahmen im Justizhaus- halt entlastet werden. Dagegen ist mit äußerster Skepsis dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtskostengesetzes und anderer Gesetze, Drucksache 14/598, zu begegnen, den der Bundesrat vorgelegt hat. Hier haben die Länder die Gebühren so deutlich, bis zu 100 Prozent, erhöht, dass Mehreinnahmen von 250 Millionen DM zu erwarten wären gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregie- rung in Höhe von 50 Millionen DM. Bei beiden Erhöhungssummen wird aber sozusagen die Rechnung ohne den Wirt gemacht, da ein Großteil der Gebühren – zurzeit 84 bis 99 Prozent – der Gerichts- vollzieher erhält, sodass zusammen eine Entlastung des Justizhaushaltes wohl deutlich geringer ausfallen würde. Zudem muss den Ländern auch gesagt werden, dass die Justizhaushalte nur zwischen 1 und 2 Prozent der Ge- samthaushalte ausmachen und sich immerhin zu rund 50 Prozent selbst „alimentieren“ durch Gebühren und sonstige Einnahmen. Deswegen kann der Grund für ein neues Gesetz nur eine Vereinfachung für die Gerichts- vollzieher und eine Entbürokratisierung für die Beteilig- ten sein. Die Gerichtsvollzieher sind, soweit ersichtlich, mit der Pauschalierung einverstanden, betrachten die Pauschalen aber als zu gering und argumentieren nicht zu Unrecht, dass ihnen Gebühreneinbußen drohen. So ist in der Tat nicht einzusehen, dass ein Gerichtsvollzieher keine Ge- bühr für eine nicht abgenommene eidesstattliche Versi- cherung erhält, obwohl er tätig geworden ist, weil der Schuldner innerhalb der letzten drei Jahre bereits eine ei- desstattliche Versicherung abgegeben hat. Bei diesen Tätigkeiten muss unterschieden werden, ob der Gerichts- vollzieher nur eine ihm bekannte eidesstattliche Versiche- rung dem Antragsteller mitteilt oder ob er aktiv wird und mangels abzunehmender eidesstattlicher Versicherung unverrichteter Dinge von einer Tätigkeit Abstand nimmt. Wenn es auch nicht gerne gesehen wird, so ist es aber doch gerechtfertigt, wenn gemäß § 3 Abs. 2 Gebühren nur einmal zu erheben sind, wenn es sich um denselben Auf- trag handelt, der mehrere Amtshandlungen umfasst. Dies kann aber mindestens für die Reisekosten dann nicht gel- ten, wenn für den einen Auftrag mehrfache Handlungen und Anfahrten notwendig sind, denn dann muss die Kilo- meterpauschale mehrfach gewährt werden. Dabei sollte überprüft werden, ob die Kostenpauschale bis zu 10 Kilo- metern Anfahrt mit 2,50 Euro – also knapp 5 DM – für im Endeffekt bis zu 20 Kilometern gefahrene Strecke aus- reicht. Nicht nachzuvollziehen ist die Anmerkung, dass die Entfernung nach Luftlinie zu messen ist, wenn dies tatsächlich so für die Kilometerpauschale gedacht ist. Die Umstellung auf Euro ist eine Vorschrift und sinn- vollerweise bereits jetzt durchzuführen. Dass dabei die Euro-Beträge so festgesetzt werden, dass sie glatt sind und leicht zu dividieren, ist nicht zu beanstanden, obwohl bei der Rückrechnung auf D-Mark äußerst ungerade Zah- len herauskommen. Dies ist eine vorübergehende Sache: Für jetzt noch 39,12 DM werden in Zukunft 20 Euro ge- zahlt werden, für 9,78 DM in Zukunft 5 Euro. Ob vom Grundsatz her die Erhöhungen richtig sind, muss sicher in den Beratungen noch diskutiert werden, da der Staat und insbesondere der Bundestag sich nicht dem Verdacht aussetzen sollten, mit der Einführung des Euro auf kaltem Wege Gebührenerhöhungen durchzuführen und so ein schlechtes Beispiel für Industrie, Handel und Banken zu geben, die dann eben auch mit Hinweis auf sol- che Praktiken bei der Umstellung einfach „aufrunden“. Dass dies möglich ist, zeigt der Gesetzentwurf der Bun- desregierung, Drucksache 14/4222, Entwurf eines Geset- zes zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerbera- tergebührenverordnung auf Euro, in dem mal auf- und mal abgerundet wurde, um durch fünf teilbare Euro-Be- träge zu erhalten. Hier wird es sicher eine Reihe von Protesten der Be- troffenen geben, wenn sie denn mit geringeren Gebühren abrechnen müssen als bisher. Vom Grundsatz her haben sowohl die Länder für die Gerichtskosten als auch die Rechtsanwälte für die Bundesgebührenordnung sowie die Steuerberater für die Steuerberatergebührenverordnung eher an Erhöhungen gedacht als an Ermäßigungen. Dies kann selbstverständlich auch für Sachverständige, Dol- metscher, Übersetzer, Zeugen und ehrenamtliche Richter gesagt werden. Dabei ist aber das Bemühen der Bundes- regierung, hier auszugleichen, zu würdigen. Um nur ein Beispiel zu bringen: Bei der Entschädigung der ehren- amtlichen Richter wird die Angabe von 30 DM durch 16 Euro ersetzt – dies ist eine Erhöhung um 1,28 DM –, während die Angabe 20 DM durch 10 Euro ersetzt wird, was eine Ermäßigung um 0,45 DM bedeutet. Auch hier werden wir im Rahmen der Beratungen die einzelnen Ge- bührenumrechnungen zu prüfen haben. Es fällt auf, dass gerade bei Rechtsanwälten und Steuerberatern die Er- mäßigungen mit bis zu 2,2 Prozent deutlich in der Über- hand sind. Die drei Gesetze werden im Rechtsausschuss einge- hend beraten unter Einbeziehung noch zu erwartender Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Dabei wird es aber die von den Ländern gewünschte deutliche Ge- bührenerhöhung auf allen Gebieten, wie der Gesetzent- wurf des Bundesrates ihn fordert, nicht geben können, ohne einzelne begründete Anhebungen auszuschließen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beide von der Bundesregierung heute vorgelegten Ge- setzentwürfe sind Teil einer umfassenden Kostenstruktur- reform, deren wesentliches Ziel die Vereinfachung des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11989 (C) (D) (A) (B) Kostenrechts ist. Mit dem Umstellungsgesetz auf den Euro machen wir darüber hinaus einen weiteren Schritt in Richtung Umstellung auf die neue Währung und erhöhen damit für die Gesetzesanwender die Akzeptanz für den Euro. Das Gesetz zur Neuordnung des Gerichtsvollzieher- kostenrechts macht die Rechtslage übersichtlicher und passt sie an die heutigen Verhältnisse an. Überdies schaf- fen wir die Grundlagen für eine gerechtere Gebührenver- teilung in diesem Bereich. Derzeit hängt die Höhe der Kosten, die für die Tätigkeit des Gerichtsvollziehers er- hoben werden, im Wesentlichen davon ab, wie hoch der Wert der gepfändeten Gegenstände ist. Kann also der Ge- richtsvollzieher beim ersten Versuch gleich wertvolle Ge- genstände pfänden, können hierfür entsprechend hohe Gebühren abgerechnet werden. Muss der Gerichtsvollzie- her dagegen mehrere Versuche unternehmen, die jeweils nur einen sehr geringen Ertrag haben, fallen auch die Ge- bühren entsprechend niedrig aus. Die Gebührenhöhe hängt demnach derzeit nur in geringem Maß von dem tatsächlichen Aufwand der Gerichtsvollzieher und Ge- richtsvollzieherinnen ab. Das halten wir für falsch. In Zukunft wird es grundsätzlich darauf ankommen, welche Maßnahmen der Gerichtsvollzieher tatsächlich er- greift. Konsequent sieht der Gesetzentwurf daher die Än- derung des Wertgebührensystems in ein Festgebührensys- tem vor. Dies ist nur fair, weil damit der Aufwand zum maßgeblichen Kriterium wird. Die rot-grüne Bundesre- gierung modernisiert mit diesem Entwurf das Gerichts- vollzieherkostenrecht. Gebührentatbestände, die in der Praxis keine Rolle mehr spielen, entfallen deshalb ebenso wie Auslagentatbestände, die lediglich zu Einnahmen in Höhe von Kleinbeträgen führen. Andere Auslagentatbe- stände werden durch eine Auslagenpauschale ersetzt. Ge- nerell wird die im Entwurf vorgesehene, verstärkte Ein- führung von Pauschsätzen zu einer spürbaren Entlastung der Gerichte führen: Schließlich „leiden“ diese heute geradezu unter einer überaus umfangreich gewordenen Kostenrechtsprechung, Damit soll künftig Schluss sein: Die Kosten der Justiz werden sich vermindern, der Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger verbessert sich. Die neuen Festgebühren haben im Übrigen zur Fol- ge, dass die Länder mit Mehreinnahmen von circa 10 bis 15 Prozent rechnen können. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Gebühren seit 1994 unver- ändert geblieben sind. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zum Gesetzentwurf des Bundesrates sagen: Die darin vorgese- hene drastische Erhöhung der Gerichtskosten um circa 25 Prozent und der Gerichtsvollzieherkosten um 36 Prozent ist nicht zu rechtfertigen und wäre im Übrigen auch mit einer bürgerfreundlichen Justizpolitik nicht zu vereinba- ren. Die Lebenshaltungskosten sind seit 1994 bei weitem nicht so stark gestiegen. Nur eine maßvolle Erhöhung wird deshalb der Steigerung der Kosten und den Anforde- rungen der Länderhaushalte gerecht, ohne die Bürgerin- nen und Bürger ungerechtfertigt zu belasten. Rainer Funke (F.D.P.): Die beiden Gesetzentwürfe, nämlich die Änderung des Gerichtskostengesetzes und die Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts, ha- ben nur für den juristischen Laien etwas miteinander zu tun. Dasselbe gilt für das Gesetz zur Umstellung des Kos- tenrechts und der Steuerberatergebührenverordnung auf Euro. Ich will zunächst auf die Neuordnung des Gerichts- vollzieherkostenrechts eingehen. Ich gebe zu, dass die Änderung des Gerichtsvollzieherkostenrechts seit vielen Jahren in der Diskussion ist. Dennoch hat man sich, wie ich meine, zu Recht, darauf beschränkt, an dem Gerichts- vollzieherkostengesetz von 1957 einige Korrekturen vor- zunehmen. Im Grunde genommen gilt dieses auch für die Novelle, für die jetzige Änderung des Gerichtsvollzieher- kostenrechts. Wir haben den Gerichtsvollziehern in der Vergangen- heit zusätzliche Aufgaben übertragen, wie zum Beispiel die Abnahme der eidesstattlichen Versicherung. Wir ha- ben damit die Bedeutung der Gerichtsvollzieher innerhalb unserer Rechtsordnung gestärkt. Das gilt auch für die Ver- antwortung, die sie innerhalb unserer Rechtsordnung übertragen bekommen haben. Dieser gewachsenen Ver- antwortung und Bedeutung der Gerichtsvollzieher kann auch auf ihr Kostenrecht nicht ohne Rückwirkung blei- ben. Insbesondere können Pauschalen zwar bei der zügi- gen Abwicklung der Rechnungsvorgänge helfen, dort wo jedoch erkennbar die tatsächlich angefallenen Gebühren erheblich höher sind, als die mögliche Pauschale, bedarf es sicherlich einer Korrektur. Es hat keinen Sinn, bei die- ser ersten Lesung auf einzelne Gebühren tatbeständlich einzugehen, dies muss der Beratung im Rechtsausschuss vorbehalten bleiben. Ich will in diesem Zusammenhang einen Prüfungsbe- darf anmelden bei der Frage der Zustellung von Vorpfän- dungen, von Beglaubigungsgebühren, Hebegebühren und Gebühren für nicht abgenommene eidesstattliche Versi- cherungen. Dasselbe gilt für Auslagepauschalen und das Wegegeld bei Kombi-Aufträgen. Es sollte auch erwogen werden, die Schreibauslagen von DM 1,00 auf DM 2,00 anzuheben. All das werden wir im Rechtsausschuss auch in Gesprächen mit Sachverständigen und dem Gerichts- vollzieherbund beraten. Dabei werden wir mit einzube- ziehen haben, ob es noch heute zeitgemäß ist, dass die öf- fentliche Hand, einschließlich der Kommunen, von Gerichtsvollzieherkosten befreit ist. Hinsichtlich des Gerichtskostengesetzes teilen wir die Auffassung des Bundesrates, dass es zweckmäßig ist, eine Vereinfachung vorzunehmen, um den Aufwand für die Berechnung und Einziehung der Kosten zu verringern. Uns erscheint jedoch, dass die Anpassung der Gebühren zu großzügig ausgefallen ist. Die Justiz gehört zu den Kernaufgaben des Staates und darf nicht ausschließlich unter fiskalischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Der Weg zu den Gerichten darf nicht unnötig erschwert werden. Unter diesem Gesichtspunkt werden wir eine kri- tische Überprüfung der Kostenansätze vornehmen. Dem Entwurf der Bundesregierung zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebührenverordnung können wir weitestgehend zustimmen, da es sich um An- gleichung im Zuge der Euroumstellung handelt. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Wer auch immer heute ein Gesetz vereinfachen kann und zudem damit eine Kosten- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011990 (C) (D) (A) (B) deckungsquote verbessert, dem gebührt Anerkennung und Dank. So gesehen scheint es, als könnte man die bei- den zuerst in Rede stehenden Gesetzentwürfe, die dies ausdrücklich zu ihrer Prämisse machen, begrüßen und nur noch die bessere Variante – zumindest hinsichtlich des Gerichtsvollzieherkostenrechts – auswählen. Das Anliegen der Länder, die „angespannte Lage“ ih- rer Haushalte zu entlasten, ist verständlich. Doch ob die im Gesetzentwurf des Bundesrates angestrebten 250 Mil- lionen DM Mehreinnahmen an Gebühren, die etwa einer Gebührenerhöhung von fast 25 Prozent entsprechen, das geeignete Mittel sind und ob man sie als verhältnismäßig bezeichnen kann, scheint mehr als fraglich. Die Gebührenerhöhungen – insbesondere im Mahn- verfahren um immerhin 50 Prozent – führen zu einer nicht unerheblichen Belastung kleiner Unternehmen wie natür- lich auch der Bürgerinnen und Bürger. Im Gesetzentwurf des Bundesrates wird ehrlicherweise auch auf die negati- ven Auswirkungen auf das Verbraucherpreisniveau auf- grund der Verteuerung einiger gerichtlicher Verfahren so- wie der überwiegenden Zahl der Vollstreckungsverfahren hingewiesen. Hier ist der Stellungnahme der Bundesre- gierung voll zuzustimmen, dass nicht zuletzt „im Hinblick auf die Situation in den neuen Ländern besonderes Au- genmerk bei den Gerichts- und Gerichtsvollzieherkosten zu wahren ist, insbesondere mit Rücksicht auf die dorti- gen Einkommensverhältnisse und die Akzeptanz der rechtsstaatlichen Justiz“. Mich wundert an dieser Stelle im Übrigen nur, dass über die Erhöhung der Gerichtskosten und der Gerichts- vollziehergebühren nachgedacht wird, bevor die nunmehr längst überfällige Ungleichbehandlung der Rechtsan- wälte in den alten und den neuen Bundesländern durch den 10-prozentigen Gebührenabschlag für die Anwalt- schaft in den neuen Bundesländern beseitigt wurde. Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts sollen für die Wirtschaft und für Privatpersonen die Ausgaben für die Inanspruchnahme eines Gerichtsvollziehers um 10 bis 15 Prozent steigen. Dafür hätten die Länder Mehrein- nahmen zwischen 50 und 60 Millionen DM zu erwarten. Das ist gegenüber dem Bundesratsentwurf hinsichtlich der Einnahmen der Länder deutlich bescheidener und klingt für die Betroffenen moderater. Begrüßenswert ist das Anliegen der Regierung, die Kostentatbestände in einem Verzeichnis übersichtlich darzustellen und die derzeit geltenden Wertgebühren durch Festgebühren zu ersetzen. Auch der Wegfall nicht mehr benötigter Gebührentatbestände, der Ersatz von Auslagentatbeständen durch eine Auslagenpau- schale, eine stärkere Pauschalierung der Gebühren ver- bunden mit einer nur noch eingeschränkten Erhebung von Zeitzuschlägen und der Wegfall aller Verordnungs- ermächtigungen für das Bundesjustizministerium und die Landesregierungen sind zeitgemäße Korrekturen des Gerichtsvollzieherkostenrechts. Doch Form und Regelungsmethoden eines Gesetzes sind das eine, der Inhalt das andere. Und hier bleibt ein Defizit. Denn wen treffen Gebührenerhöhungen am stärksten? Natürlich die kleinen Unternehmen sowie die sozial schwächsten Bürgerinnen und Bürger sowohl als Schuldner wie auch als Gläubiger. Denn die Tätigkeit des Gerichtsvollziehers muss bekanntlich der Schuldner zah- len, aber der Gläubiger – der keineswegs immer zu den sozial Starken gehört – tritt erst einmal in Vorkasse. Und auch er kann sich nicht immer sicher sein, ob er seine Aus- lagen zurückbekommt. Auch der Gesetzentwurf zur Umstellung des Kosten- rechts und der Steuerberatungsgebührenverordnung auf Euro vermittelt diesbezüglich kein gutes Gefühl, wenn es in der allgemeinen Begründung vage heißt, dass Mehrbe- lastungen des rechtssuchenden Bürgers aufgrund der Um- stellung so weit wie möglich vermieden werden sollen. Um dem Kostendeckungsgesichtspunkt, den ich keines- wegs gering schätze, Rechnung zu tragen, stellt sich mir die Frage, ob in den Ländern tatsächlich alle Möglichkei- ten ausgeschöpft wurden, um neben der Effektivierung von Verfahrensabläufen zum Beispiel durch den Einsatz von moderner Technik Einsparungen vorzunehmen. Dr. Eckart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin der Justiz: Heute stehen gleich drei kosten- rechtliche Gesetze zur ersten Lesung an. Lassen Sie mich mit dem Regierungsentwurf eines Ge- setzes zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuer- beratergebührenverordnung auf Euro beginnen. Mit die- sem Entwurf soll der Euro zum 1. Januar 2002 in allen Kostengesetzen und in der Steuerberatergebührenverord- nung eingeführt werden. Die in Euro ausgedrückten Ge- bühren sollen auch nach Glättung der Beträge nicht mehr als unbedingt nötig vom DM-Wert abweichen. Der Bun- desrat hat keine Einwendungen gegen den Gesetzentwurf erhoben. Einer zügigen Beratung dürfte damit nichts im Wege stehen. Der zweite Entwurf, der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts, liegt im Interesse sowohl der Länder als auch der Gerichtsvollzie- her. Wesentlicher Zweck des Entwurfs ist es, das geltende Recht zu vereinfachen. Daneben sollen die Einnahmen der Landesjustizverwaltungen um 10 bis 15 Prozent er- höht werden, um den Kostendeckungsgrad in diesem Be- reich zu verbessern. Damit werden zu einem großen Teil die Vorschläge umgesetzt, die von einer Bund-Länder-Ar- beitsgruppe, die von der Justizministerkonferenz einge- setzt worden war, erarbeitet wurden. Die Justiz soll von unnötiger Arbeit entlastet werden. Dies ist seit Beginn ein besonderes Anliegen der Bundes- regierung. Es ist ja allgemein bekannt, dass gerade die Ge- richtsvollzieher, insbesondere die Gerichtsvollzieher in den neuen Ländern, erheblich überlastet sind. Ein leichter anwendbares Kostenrecht soll ihnen ihre wahrlich nicht einfache Arbeit spürbar erleichtern. Auch die Gläubiger und die Schuldner werden davon profitieren, denn auch sie werden die Abrechnungen besser verstehen. Dies soll unter anderem durch folgende Änderungen erreicht werden: Die Wertgebühren sollen durch Festge- bühren ersetzt werden. Die Kostentatbestände sollen in ein tabellarisches Kostenverzeichnis eingestellt werden, das wesentlich übersichtlicher ist als der herkömmliche Gesetzestext. Nicht mehr benötigte Gebührentatbestände sollen wegfallen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000 11991 (C) (D) (A) (B) Eine sowohl für Gläubiger als auch für Schuldner be- deutsame Neuerung ist die verbesserte Kostenregelung bei der Einziehung von Raten durch den Gerichtsvollzie- her. Der Schuldner, der sich ernsthaft um die Begleichung seiner Schulden bemüht und Raten an den Gerichtsvoll- zieher zahlt, soll hierfür nicht mit hohen Kosten belastet werden. Anders der bequeme Schuldner, der Raten vom Gerichtsvollzieher persönlich einziehen lässt: Er soll für die von ihm verursachten nicht unerheblichen Kosten ge- radestehen. Die Kosten für die Abnahme der eidesstattlichen Ver- sicherung sollen eindeutig und einfach geregelt werden. Vorgesehen ist eine Festgebühr von knapp 50 DM, durch die auch die Schreibauslagen für die Abschrift des Ver- mögensverzeichnisses abgegolten sein sollen. Lediglich die Auslagen für die Zustellung der Ladung kommen ge- gebenenfalls noch hinzu. Gleichzeitig sollen die Gebüh- ren für die Erteilung einer Abschrift des Vermögensver- zeichnisses durch das Vollstreckungsgericht und für die Einsicht in das Vermögensverzeichnis von 40 DM auf 20 DM ermäßigt werden. Die Höhe dieser Festgebühren ist trotz der für die Länder angestrebten Mehreinnahmen moderat und für die Betroffenen zumutbar. Durch den Entwurf ist auch bereits ein Teil des Anlie- gens erledigt, das der Bundesrat mit seinem Entwurf zur Änderung des Gerichtskostengesetzes und anderer Ge- setze verfolgt. Diesen Entwurf lehnt die Bundesregierung allerdings ab. Der Bundesrat schlägt zum Teil ganz er- hebliche Erhöhungen der Gerichts- und Gerichtsvollzie- hergebühren vor, die allein bei den Gerichtsgebühren zu Mehreinnahmen von mehr als 250 Millionen DM führen sollen. Das entspricht etwa dem Vierfachen der Mehrein- nahmen, die durch das Kostenrechtsän-derungsgesetz von 1994 erreicht worden sind. Angesichts der schwierigen Haushaltslage in den Län- dern hat die Bundesregierung zwar Verständnis für deren Bemühungen, Einnahmen zu steigern. Ich sehe aber nicht, wie wir dem Bürger die damit verbundene Verteuerung des Rechtsschutzes um rund 25 Prozent vermitteln wol- len. Zu Recht müssten wir uns vorhalten lassen, dass die angestrebte Erhöhung in keinem angemessenen Verhält- nis zum Anstieg der Lebenshaltungskosten seit der letzten Gebührenanpassung 1994 steht. Diese sind seit Mitte 1994 um weniger als 9 Prozent gestiegen. Eine erneute Verteuerung des Rechtsschutzes ist aber auch in der Sache nicht gerechtfertigt. Das gilt insbeson- dere für das Mahnverfahren, auf das der Löwenanteil der prognostizierten Mehreinnahmen entfällt. Für den Bürger würden sich die Gebühren für das Mahnverfahren um stattliche 50 Prozent erhöhen. Gebührenerhöhungen in so erheblichem Umfang sind angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage schädlich und falsch! Gerade das Mahnverfahren ist für die mittelständische Wirtschaft ein besonders wichtiges Instrument zur Durchsetzung ihrer Forderungen. Eine Strukturreform des Gerichtskostenrechts muss sorgfältig vorbereitet werden. Die bereits erwähnte Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat erste Vorschläge dafür erarbeitet und in diesem Jahr der Justizministerkonferenz in einem Zwischenbericht vorgelegt. Sie sehen keine Er- höhung der Gebühren für das Mahnverfahren mehr vor. Ich meine, es wäre vernünftig, wenn wir mit strukturellen Änderungen, wie sie der Bundesratsentwurf vorsieht, ab- warten würden, bis die endgültigen Vorschläge der Ar- beitsgruppe vorliegen. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken und Anita Schäfer (beide CDU/CSU) zurAbstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes (Drucksachen 14/1671 und 14/4272) Eine weitere Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes halten wir nicht für erforderlich. Eine Umsetzung solcher Pläne wäre ein weiterer Schlag ins Genick kleiner und mittlerer Betriebe. Schließ- lich hat die 1996 durchgesetzte Liberalisierung keine neuen Arbeitsplätze gebracht, sondern nur zu einer Verla- gerung der Kaufkraft hin zu Handelsketten, Kaufhäusern und Einkaufszentren, insbesondere in Top-Ia-Lagen und auf der grünen Wiese, geführt. Zudem muss festgehalten werden, dass sowieso nur etwa 40 Prozent aller Geschäfte länger öffnen. Bei Be- trieben mit bis zu fünf Beschäftigten wird diese Quote längst nicht erreicht. Für sie hat sich die Liberalisierung als Rohrkrepierer erwiesen. Eine vollkommene Liberali- sierung der Öffnungszeiten würde dieses Ungleichge- wicht noch verstärken. Für viele mittelständische Einzel- händler wäre die Option längerer Geschäftszeiten und ein damit verbundener drohender weiterer Umsatzabfluss zu Großbetrieben wirtschaftlich nicht zu verkraften. Zudem wird die Vielfalt der Handelsstruktur weiter zerstört. Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf der F.D.P. zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes ab. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 200011992 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412400000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich ei-
nige Mitteilungen zu machen: Der Kollege Manfred
Kolbe hat am 2. Oktober auf seine Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der
uns bereits aus früheren Jahren bekannte Kollege
Gerhard Schulz am 5. Oktober 2000 die Mitgliedschaft
im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den Kol-
legen Schulz herzlich in diesem Hause.


(Beifall im ganzen Hause)

Dem Kollegen Dr. Uwe Jens, der am 2. Oktober sei-

nen 65. Geburtstag feierte, gratuliere ich nachträglich sehr
herzlich.


(Beifall)

Sodann sind einige Gremien neu zu besetzen: Die

Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin Regina
Schmidt-Zadel ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt
hat. Ich danke der Kollegin für ihre langjährige Unter-
stützung.


(Beifall im ganzen Hause)

Als Nachfolgerin wird die Kollegin Ute Kumpf vor-

geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Kumpf als
Schriftführerin gewählt.

Die Fraktion der PDS teilt mit, dass der Kollege
Roland Claus aus dem Gemeinsamen Ausschuss nach
Art. 53 a des Grundgesetzes als stellvertretendes Mitglied
und aus dem Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Abs. 2
des Wahlprüfungsgesetzes als beratendes Mitglied aus-
scheidet. Für beide Gremien wird die Kollegin Dr. Heidi
Knake-Werner als Nachfolgerin vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin Knake-Werner wie vorgeschlagen
als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus-
schuss bestimmt bzw. als beratendes Mitglied in den
Wahlprüfungsausschuss gewählt.

Des Weiteren teilt die Fraktion der PDS mit, dass der
Kollege Manfred Müller (Berlin) als ordentliches Mit-
glied und der Kollege Wolfgang Gehrcke als stellvertre-
tendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung

des Europarates ausscheiden. Als Nachfolger werden die
Kollegen Dr. Dietmar Bartsch als ordentliches und
Manfred Müller als stellvertretendes Mitglied vorge-
schlagen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind der Kol-
lege Dr. Bartsch als ordentliches und der Kollege Müller
als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Ver-
sammlung des Europarates gewählt.

Ferner ist interfraktionell vereinbart worden, die ver-
bundene Tagesordnung zu erweitern. Die betreffenden
Punkte gehen aus der folgenden Zusatzpunktliste hervor:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Unterschiedliche Vorschläge aus derKoalition, die Beiträge

(siehe 123. Sitzung)



(siehe 123. Sitzung)


3. Vereinbarte Debatte: Jüdisches Leben in Deutschland unter-
stützen – Anschläge auf Synagogen in Deutschland ächten

4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Jüdisches
Leben in Deutschland – Drucksache 14/4245 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

5. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Versorgungsabschläge – Drucksache
14/4231 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

6. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Neuausrich-
tung der Bundeswehr

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich
Nolting, Hildebrecht Braun (Augsburg), Dirk Niebel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Zukunftsfähigkeit
der Bundeswehr sichern – Wehrpflicht aussetzen – Druck-
sache 14/4256 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss

11839


(C)



(D)



(A)



(B)


124. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Oktober 2000

Beginn: 9.00 Uhr


(Ergänzung zu TOP 21.)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeord-
netengesetzes – Drucksache 14/4241 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Entwurf der Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union – Drucksache 14/4246 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Europä-
ische Grundrechte-Charta als Eckstein einer europäischen
Verfassung – Drucksache 14/4253 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

11. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Unterglas-
gartenbau in Deutschland sichern – Drucksache 14/4243 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Birgit
Homburger, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.: Anpassungsbeihilfen für Unterglas-Betriebe
im Gartenbau – Drucksache 14/4257 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Haushaltsausschuss


(Bayreuth)

rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Kraftfahrzeug-
steuer für schwere LKW auf EU-Niveau senken –
Bedingungen am Güterkraftverkehrsmarkt harmonisieren
– Drucksache 14/4254 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)


Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.

Weiterhin ist vereinbart worden, die Tagesordnungs-
punkte 10 – Gerichtskosten – und 13 – Wahlen in
Belarus – zu tauschen. Außerdem sollen die Tagesord-
nungspunkte 8 b – Steuer-Euroglättungsgesetz – sowie 16
– Opferentschädigungsgesetz – heute ohne Debatte ver-
handelt werden.

Schließlich mache ich auf nachträgliche Überweisun-
gen im Anhang zur folgenden Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:

Die in der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Ute Vogt (Pforzheim),
Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt – Drucksache
14/3516 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun

(Augsburg), Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen –
Drucksache 14/3106 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Die in der 121. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau,
Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Handeln gegen Rassismus,
Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und da-




Präsident Wolfgang Thierse
11840


(C)



(D)



(A)



(B)


raus resultierender Gewalt – Drucksache
14/4145 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Nachhaltige
Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit – Drucksache 14/4067 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Kultur und Medien

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
ZP 3 Vereinbarte Debatte

Jüdisches Leben in Deutschland unterstüt-
zen – Anschläge auf Synagogen in Deutsch-
land ächten

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU
Jüdisches Leben in Deutschland
– Drucksache 14/4245 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS acht
Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1412400100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Am 3. Oktober wurde ein Anschlag auf
die Düsseldorfer Synagoge verübt. Drei Tage später
durchschlugen Pflastersteine die Fenster der Synagoge in
Berlin-Kreuzberg. Bereits im April dieses Jahres war die
Synagoge in Erfurt attackiert worden. Diese Anschläge
richten sich der Form nach gegen Gebäude, tatsächlich
aber gegen ein Fundament unserer Demokratie, nämlich
gegen den Grundsatz des friedlichen Zusammenlebens in
Deutschland.


(Beifall im ganzen Hause)


Allein von Januar bis August dieses Jahres wurden ins-
gesamt 596 antisemitisch motivierte Straftaten registriert.
Ignatz Bubis hat im vergangenen Jahr als Präsident des
Zentralrates der Juden in Deutschland kurz vor seinem
Tod in einem Interview auf die Frage, was er in seinem
Amt bewirkt habe, gesagt:

Ich habe nichts oder fast nichts bewirkt.
Er sagte weiter:
Ich habe immer herausgestellt, dass ich deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wollte
diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden,
weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du
es, dass die Menschen anders übereinander denken,
anders miteinander umgehen. Aber nein, ich habe
fast nichts bewegt.

Bubis sagte in diesem Interview ferner, dass er in Israel
begraben werden möchte, weil – ich zitiere ihn noch ein-
mal –

ich nicht will, dass mein Grab in die Luft gesprengt
wird.

Meine Damen und Herren, hätte man ihm im letzten
Jahr sagen können, wirklich sagen können, diese Be-
fürchtung sei gegenstandslos? Videoüberwachung an Sy-
nagogen, Polizeischutz an jüdischen Schulen, geschän-
dete jüdische Friedhöfe – das ist ein Stück Realität in
Deutschland; aber das ist ein Stück Realität, das wir nie-
mals als Normalität betrachten dürfen.


(Beifall im ganzen Hause)

Die 80 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glau-

bens, die in diesem Land leben, haben wie alle Menschen
in diesem Land einen Anspruch auf ein Leben ohne Angst.
Wenn Paul Spiegel, der Nachfolger von Ignatz Bubis, in
diesen Tagen die Frage gestellt hat, ob es richtig war, in
Deutschland nach 1945 den Wiederaufbau der jüdi-
schen Gemeinden zu betreiben, dann ist der darin deut-
lich werdende Zweifel beschämend für unsere Gesell-
schaft.

Ich will zu Beginn der heutigen Debatte ganz deutlich
sagen: Nicht unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdi-
schen Glaubens stehen jenseits unseres Gemeinwesens,
sondern vielmehr diejenigen, die ihnen die Zugehörigkeit
zu unserer Gesellschaft absprechen.


(Beifall im ganzen Hause)

Es ist nicht nur vor dem Hintergrund des zehnten Jah-

restages der deutschen Einheit wichtig, sich und anderen
klarzumachen, dass der Auftrag des Grundgesetzes – und
damit meine ich in erster Linie die Verteidigung und
Sicherung der Würde des Menschen – Tag für Tag zu er-
füllen ist. Die Stärke und die Integrationskraft der Bun-
desrepublik beruhen maßgeblich darauf, dass weder
Herkunft noch Glauben die Teilhabe an unserem Gemein-
wesen bestimmen, sondern dass die gemeinsame Aner-
kennung unserer Verfassungsprinzipien das Band ist, das
uns miteinander verbindet und die gemeinsame Grund-
lage dafür schafft, dass wir hier in Deutschland zwar mit
Konflikten, aber friedlich miteinander leben können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Präsident Wolfgang Thierse

11841


(C)



(D)



(A)



(B)


Wer Minderheiten einzuschüchtern versucht, ihre Ein-
richtungen bedroht oder attackiert, ja, wer meint, von den
Minderheiten erwarten zu können, dass sie ihr Dazu-
gehören zu dieser Gesellschaft rechtfertigen und legiti-
mieren müssten, der verlässt diese gemeinsame Grund-
lage unseres Zusammenlebens.

Als ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde, habe ich
mir nicht vorstellen können, heute Grund zu haben, über
Anschläge auf Synagogen zu sprechen. Ich bin 1969 ge-
boren und gehöre einer Generation an, für die gilt, dass
wir mit der Nazizeit keine persönlichen Erlebnisse ver-
binden. Wir tragen keine Schuld an dem, was an Verbre-
chen an der Menschlichkeit auf deutschem Boden und
von deutschem Boden aus geschehen ist. Aber wir tragen
Verantwortung dafür, dass Intoleranz und Verachtung,
dass Rechtsextremismus und Antisemitismus in diesem
Land nie wieder die Demokratie gefährden können.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir tragen Verantwortung dafür, dass deutsche Bürger im
eigenen Land nie wieder zu Fremden erklärt werden kön-
nen.

Wir wissen: Die Grundsätze der Demokratie werden
nicht vererbt. Nein, sie müssen von jeder Generation aufs
Neue erlernt werden. Wir müssen gerade auch mit Blick
auf die jungen Menschen in Deutschland vermitteln, dass
niemand vor menschlicher Vielfalt Angst haben muss,
wohl aber vor menschlicher Einfalt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es geht nicht nur darum, Taten zu ächten, sondern wir
müssen auch das Gedankengut ächten und bekämpfen,
das zu solchen Taten wie Anschlägen auf Synagogen
führt.

Ich freue mich – man hat mir gesagt, dass er hier ist –,
dass der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins,
Andreas Nachama, heute auf der Tribüne der Debatte
folgt.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich glaube, ich spreche im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, wenn ich sage: Der Deutsche
Bundestag ist angesichts der Anschläge auf jüdische Ein-
richtungen in Deutschland entsetzt und betrachtet diese
Vorkommnisse als Anschlag auf das demokratische
Deutschland als Ganzes.


(Beifall im ganzen Hause)

Die jüdischen Bürger in Deutschland sind Teil unserer

Gesellschaft. Wir werden nicht zulassen, dass man sie iso-
liert. Wer sie angreift, der muss wissen: Er greift uns alle
an.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412400200
Ich erteile dem Kolle-
gen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1412400300
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! 1949 kam Hannah
Arendt erstmalig wieder nach Deutschland. Als Fremde
und zugleich als Einheimische fand sie in Deutschland ein
physisch, moralisch und politisch fast völlig zerstörtes
Land vor. Gleichzeitig erschrak sie angesichts der Apa-
thie, des allgemeinen Gefühlsmangels, der Geschäftig-
keit, die sie vorgefunden hat und die sie als Zeichen für
eine Flucht aus der Wirklichkeit und aus einem verant-
wortlichen Umgang mit der schrecklichen Vergangenheit
empfunden hat, die erst wenige Jahre zurücklag. Wie
sollte hier, so fragte sie sich selbst und andere, jemals wie-
der eine gemeinsame Welt, ein wirklicher politischer
Raum der Freiheit entstehen, wie jemals wieder ein Leben
von Juden in Deutschland möglich sein?

Heute, mehr als 50 Jahre später, können wir feststellen:
Mitbürger jüdischen Glaubens haben in Deutschland eine
neue Heimat oder wieder ihre Heimat gefunden. Ich finde,
dies ist ein ermutigendes Zeichen und ein Glücksfall für
unser Land.


(Beifall im ganzen Hause)

Es ist auch Ausdruck eines wieder entstandenen Ver-

trauens in unsere Verfassung, in unsere freiheitliche De-
mokratie und in die Menschen in unserem Land. Es ist
auch Anerkennung der Anstrengungen, die im Umgang
mit dem dunkelsten und schrecklichsten Teil unserer Ge-
schichte unternommen wurden. Meine Damen und Her-
ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen und wir
werden alles tun, damit dieses Vertrauen nicht enttäuscht
wird.


(Beifall im ganzen Hause)

Jüdische Gemeinden in Deutschland und deren reli-

giöse Kultur sind eine Bereicherung für uns alle. Das se-
hen wir nicht nur hier in Berlin, sondern auch überall dort
in unserem Land, wo sich im Kleinen wie im Großen wie-
der jüdische Gemeinschaften gebildet haben. Nirgendwo,
so eine Studie des Jüdischen Weltkongresses aus dem
Jahre 1998, wachsen die jüdischen Gemeinden so schnell
wie in Deutschland. Gleichzeitig interessieren sich immer
mehr auch nicht jüdische Mitbürger für jüdische Kultur.
Ich finde, auch dies ist eine positive Entwicklung.

Die außerordentliche Entwicklung der Philosophie, der
Wissenschaft insgesamt, der Wirtschaft und der Kultur
vor allem seit dem 18. Jahrhundert bis heute wären in
Deutschland ohne die großartigen Beiträge jüdischer Mit-
bürger nicht möglich gewesen.


(Beifall im ganzen Hause)

Die Namen von Moses Mendelssohn, Ludwig Börne,
Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger,
Martin Buber, Leonard Cohen, Theodor Lessing oder
Walther Rathenau mögen hier nur stellvertretend für viele
genannt sein. Sie machen schmerzlich deutlich, wie groß
der Verlust durch den Holocaust auch und gerade in die-
sem Bereich gewesen ist.

Wir wollen und müssen alles tun, damit diese Kultur
ihren Reichtum auch in Zukunft in Deutschland weiter
und wieder voll entfalten kann.


(Beifall im ganzen Hause)





Sebastian Edathy
11842


(C)



(D)



(A)



(B)


Jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die wie-
der nach Deutschland zurückgefunden oder ihr Leben hier
aufgebaut haben, sollen sich in ihrer Entscheidung be-
stätigt fühlen können. Im wiedervereinten Deutschland
– und damit auch im zusammenwachsenden Europa – ha-
ben wir neue Chancen, gemeinsam Zukunft zu gestalten.

Umso erschreckender sind die jüngsten Übergriffe auf
jüdische Mitbürger, jüdische Gemeindezentren und jüdi-
sche Friedhöfe. Kann man – so fragen viele – nach dem
Zivilisationsbruch als Jude in Deutschland leben? Diese
Frage, die so viele Juden nach 1945 umtrieb, wird ange-
sichts der jüngsten Anschläge wieder gestellt. Es ist eine
Frage nach dem Vertrauen darauf, in Deutschland sicher,
frei und anerkannt leben zu können.

Der Angriff auf jüdische Einrichtungen zielt in der Tat
nicht nur auf die hier lebenden jüdischen Mitbürger, er
zielt nicht nur auf die Minderheit der deutschen jüdischen
Bürger; er zielt auf uns alle. Es ist erschreckend und wird
daher völlig zu Recht von uns allen scharf verurteilt.


(Beifall im ganzen Hause)

Es muss deshalb alles getan werden, dass diese feigen

und hinterhältigen Straftaten mit allen Mitteln des Rechts-
staats verfolgt und aufgeklärt werden. Die Täter sind
strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen und künftigen
Ausschreitungen muss noch stärker als bisher vorgebeugt
werden.

Allen Tendenzen von Antisemitismus, Extremismus,
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegen-
über Minderheiten wollen wir mit deutlichem Protest hier
im Bundestag wie überall im Land entgegentreten und
durch entschiedenes, mutiges Eintreten für den zivilisier-
ten Umgang miteinander überwinden helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen verur-
teilen wir mit allem Nachdruck. Aber sie sind kein Spie-
gelbild der deutschen Gesellschaft insgesamt; sie sind
nicht gleichzusetzen mit unserem Land. Deutschland ist
und bleibt ein weltoffenes, tolerantes Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb bitten wir die jüdischen Mitbürger, trotz aller
Ängste und Verunsicherung in diesen Tagen, die Einstel-
lungen und unverständlichen Ressentiments von wenigen
nicht für die Einstellung aller in unserer Gesellschaft zu
halten. Die ganz große Mehrheit aller Deutschen ver-
dammt solche Gewalttaten und Verbrechen. Die überwäl-
tigende Mehrheit unserer Mitbürger will das Zusammen-
leben mit Bürgern jüdischen Glaubens, ist solidarisch mit
den jüdischen Gemeinden und ihren Mitgliedern. An-
griffe auf jüdische Mitbürger und ihre Einrichtungen
empfinden wir deshalb als Angriff auf uns alle.


(Beifall im ganzen Hause)

Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass bilden

oft einen Zusammenhang im Denken und Handeln vor al-
lem von Rechtsextremisten. Deswegen müssen wir all

dieses zugleich bekämpfen. Ich stimme deshalb dem Prä-
sidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, ausdrücklich zu, wenn er fordert:

Es müssen überzeugende Zeichen gegeben werden,
dass die Mehrheit der Gesellschaft Schulter an
Schulter steht mit den jüdischen Gemeinden im
Kampf gegen Rechtsextremismus.

Dies wollen wir tun und die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion setzt sich mit allen Kräften dafür ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen zugleich sorgfältig überlegen, was gegen

den Rechtsextremismus tatsächlich wirksam ist. Wir ha-
ben in diesem Zusammenhang in den letzten Wochen eine
intensive Diskussion über das Verbot der NPD begon-
nen. Lassen Sie mich dazu zweierlei sagen: Erstens. Die
Initiative zu einem Parteienverbot ist nicht in erster Linie
Sache eines Parlaments, sondern zunächst eine klassische
Aufgabe der Exekutive, also der Bundesregierung, die
nach gründlicher Prüfung aller nur ihr zur Verfügung ste-
henden Informationen einen Verbotsantrag stellen kann,
je nach Schwere der Vorwürfe im Einzelfall vielleicht so-
gar stellen muss. Dann obliegt es aber dem Bundesver-
fassungsgericht, die eigentliche Entscheidung zu treffen.
Das sollten wir strikt beachten.

Hinzu kommt, dass die Hürden für ein Parteienverbot
sehr hoch liegen. Die Partei muss verfassungsfeindlich
sein, das heißt aggressiv und kämpferisch gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen. Das
muss durch die Bundesregierung sehr genau nachgewie-
sen werden, damit es nicht zu Fehleinschätzungen mit fa-
talen Konsequenzen kommt.

Zweitens. Es ist in jedem Fall mindestens ebenso wich-
tig, den Rechtsextremismus in unserem Land politisch zu
bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Es ist wichtig, geistigen Entwurzelungen durch geistige
Orientierung zu begegnen. Deswegen müssen wir all die
Gemeinschaften stärken, in denen demokratische Werte
und zivile Haltungen eingeübt werden: die Familien, die
Schulen, die Ausbildungsstätten und die Jugendeinrich-
tungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dazu gehört auch, jeder heranwachsenden Generation

Wissen über die menschenverachtenden Diktaturen in
Deutschland zu vermitteln und die Erinnerung an den Ho-
locaust nicht verblassen zu lassen. Dazu gehört aber
ebenso – und das findet sich leider kaum in einem Schul-
buch in Deutschland –, den außerordentlichen Beitrag zu
vermitteln, den jüdische Mitbürger vor allem in wissen-
schaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht in
unserem Land und für unser Land geleistet haben. Auch
das gehört zu unserer Geschichte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Friedrich Merz

11843


(C)



(D)



(A)



(B)


Um diesen Beitrag zu wissen bedeutet, dass jüdische Mit-
bürger zu uns gehören. Es lässt sie spüren, dass sie gewollt
sind und gewollt bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer die eigene Geschichte kennt und um diesen Beitrag
weiß, der ist auch eher zur Zivilcourage bereit. Denn
mehr Zivilcourage im normalen Alltag trägt zu einem
Klima der Ächtung antisemitischer, menschenrechts-
feindlicher Äußerungen und Taten bei.

Wenn wir mehr Zivilcourage im Alltag leben, dann ist
das auch eine Antwort an unsere jüdischen Mitbürger: Ha-
ben Sie weiter Vertrauen in die Deutschen und die deut-
sche Demokratie! Die Förderung von Zivilcourage – da-
von bin ich überzeugt – ist ein Schlüssel dafür, dass
jüdisches Leben ohne Angst zu einer dauerhaften Norma-
lität in Deutschland werden kann.

Wir sagen deshalb klar: Antisemitismus, Extremismus
und Gewalt dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz
haben. Die Achtung der Menschenwürde und religiöse
Toleranz sind nicht nur Wesensmerkmale unserer frei-
heitlichen Ordnung. Das Engagement der Bürger für die
Verfassung muss tagtäglich gelebte Realität sein. Dazu
gehören eine ständige Empfindsamkeit für die Verletzung
von Recht, die Ächtung von Gewalttaten und praktische
Zeichen der Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgern
durch Gesten und Hilfsangebote.

Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständi-
gung und des Verstehensweiter ausbauen, in der das Zu-
sammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens
als ganz natürlich gilt, und auch eine Kultur, in der jüdi-
sche Mitbürger sich nicht mehr die Frage stellen müssen,
wie sie als Juden in Deutschland leben können, weil ein
Miteinander selbstverständlich ist und Deutschland auch
ihre Heimat ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412400400
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sagen Sie mal was zur Doppelmoral!)



Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412400500
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Synagogen haben
in Deutschland eine große Symbolkraft. Jeder Anschlag
auf ein jüdisches Gotteshaus und andere jüdische Ein-
richtungen beschämt uns doppelt. Wir verabscheuen die
Taten und drücken allen Menschen, die sich durch diese
Taten bedroht fühlen, unser Mitgefühl aus. Die jüdischen
Gemeinden verdienen den Schutz der gesamten Gesell-
schaft.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir reden heute über eines der wichtigsten innenpoli-
tischen Themen der Bundesrepublik Deutschland. Es geht
um die Werte des Grundgesetzes, die es zu schützen gilt.
Es geht um wichtige Grundwerte wie den Schutz der
Menschenwürde, der Religionsfreiheit, der Meinungsfrei-
heit, das Recht auf Leben und auf körperliche Unver-
sehrtheit sowie die Freizügigkeit. Es handelt sich nicht um
ein Problem von Minderheiten, um es deutlich zu sagen,
sondern es geht uns alle an, die wir in dieser Republik le-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht auch um die Frage, wie wir sicherstellen kön-
nen, dass alle Menschen in Deutschland, egal, welcher
Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe, welcher sexuel-
len Ausrichtung, in ihrem Land, in der Bundesrepublik
Deutschland, sicher leben können. Die Politik muss deut-
lich sagen: In Deutschland leben Menschen unterschied-
licher Religionen und Kulturen und das ist gewollt so. Wir
freuen uns darüber. Das ist gut so und dazu bekennen sich
alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutsch sein heißt eben nicht mehr automatisch, der
christlichen Religionsgemeinschaft anzugehören. Das
Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit. Das heißt, es ist
völlig unerheblich, ob jemand jüdischen, christlichen,
muslimischen Glaubens oder gar ohne Glauben ist. Wenn
es so ist, wie ich es gerade gesagt habe, dann kann es nicht
angehen, dass Politiker hier oder von anderer Stelle jüdi-
schen Bürgern – Bürgern, nicht Mitbürgern –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


sagen, dass sie in unserem Land leben können.
Wenn man, wie es der bayerische Staatsminister

Günther Beckstein hier am 28. September 2000 – sicher-
lich gut gemeint – getan hat, erklärt: „Natürlich könnt ihr
in unserem Land leben“, dann sagt man damit eben auch,
dass es eine Grenze gibt, ein Wir und ein Ihr. Jüdische
Bürger leben aber in ihrem eigenen Land. Sie sind hier
nicht Gast. Sie sind hier nicht nur geduldet, sondern sie
sind Bürger dieses Landes und gehören zu diesem Land
dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben hier, in dieser Republik, ein Recht auf freie
Religionsausübung und ein Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit. Die Politik muss aufhören, von einem Wir und
einem Ihr zu reden. Sie muss vor allem aufhören, das Wir
als christlich zu definieren. „Wir“ im Jahre 2000 in der
Bundesrepublik Deutschland heißt: Wer in dieser Repu-
blik lebt und wer sich zu den Werten unseres Grundgeset-
zes bekennt, der gehört zu dieser Gesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)





Friedrich Merz
11844


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf ein aktuel-
les Thema einzugehen. Herr Merz, Sie haben vor mir ge-
redet. Ich glaube, der Applaus hat gezeigt, dass das, was
Sie hier gesagt haben, von allen geteilt wird. Aber ich
möchte Sie schon fragen, was denn die „deutsche Leit-
kultur“ ist, die Sie jüngst wieder bemüht haben. Was
heißt „deutsche Leitkultur“, an die sich die Zuwanderer
anschließen sollen?


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Grundgesetz!)


Unser Land ist ein vielfältiges Land. Es ist ein Land, in
dem es verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensstile,
verschiedene Religionen gibt. Wenn man suggeriert, dass
es die eine Leitkultur gibt, dann darf man sich nicht wun-
dern, wenn andere diese Aufforderung missverstehen und
meinen, sie anders umsetzen zu müssen. Auch für das,
was wir sagen und worüber wir sprechen, haben wir eine
Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Was wir, glaube ich, zukünftig nicht mehr durchgehen
lassen dürfen, ist, dass man morgens im Frühstücksfern-
sehen davon spricht, wie wichtig es ist, dass wir verschie-
dene Kulturen im Land haben, im Mittagsmagazin noch
den Antisemitismus und Rassismus verurteilt, aber dann
abends in der Wahlkampfrede sagt, es dürfe keine Tabus
mehr geben, man müsse auch über die Überfremdung re-
den können, man müsse auch einmal über die Probleme
der Nichtdeutschen reden dürfen. Das geht nicht, meine
Damen und Herren! Das werden wir nicht durchgehen
lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das machen doch Sie auf der Regierungsbank!)


Ich fordere alle Beteiligten auf, mit dem Zündeln auf-
zuhören. Man kann auch mit Worten zündeln; das haben
die letzten Jahre eindrücklich gezeigt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da sind Sie Spezialist!)


Ich fordere – auch mit Blick auf den Wahlkampf – alle auf,
zu rationalen Diskussionen, auch über die Einwande-
rungsfrage, zurückzukehren. Ich bitte Sie alle, die Wahl-
kämpfe – dieser Appell geht in alle Richtungen; daran ha-
ben sich schon verschiedene Parteien probiert – nicht zu
missbrauchen und auf dem Rücken von Minderheiten ver-
meintliche Wahlschlachten auszutragen. Deutsche Leit-
kultur – um diesen vielfach strapazierten Begriff noch ein-
mal aufzunehmen – ist im Jahr 2000 auch Currywurst,
Döner, koscheres Essen, gefillte Fisch.

Ich lade alle ein, unser Land zu besuchen. Die Besu-
cher werden dann feststellen, dass dieses Land ein ande-
res ist als das der 50er- und 60er-Jahre. Der demokratische
Grundkonsens dieser Republik – den sollte jeder unter-
schreiben können – sollte das, was ich eben gesagt habe,
beinhalten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412400600
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1412400700
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Kultur,
die Art, wie wir leben möchten, ist in unserem Grundge-
setz festgeschrieben. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf
die wir uns alle verständigen sollten. Dort heißt es in
Art. 1:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.

Da steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,
nicht: Die Würde der Deutschen ist unantastbar, oder: Die
Würde der Christen ist unantastbar. Alle Menschen haben
das Recht darauf, dass die staatliche Gewalt ihre Würde
schützt, wenn sie in Deutschland sind.


(Beifall im ganzen Hause)

Deswegen beschämt es uns alle – deswegen findet

diese Debatte auch statt –, dass es drei Monate, nachdem
der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 50-jähriges
Bestehen feiern konnte, einen Anlass für eine solche De-
batte gibt. Diese Debatte muss zweierlei leisten: Sie muss
klarmachen, dass wir uns solidarisch fühlen und auch so-
lidarisch sind mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mit-
bürgern in Deutschland und mit denen, die von Gewaltta-
ten betroffen waren und die durch sie geschädigt wurden.
Aber das Ziel dieser Debatte, glaube ich, wäre verfehlt,
wenn wir der Öffentlichkeit nicht gleichzeitig auch eine
Antwort auf die Frage geben, was wir in Zukunft besser
machen werden, um solche Ausschreitungen zu bekämp-
fen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir haben zuallererst Symbole und Signale der Soli-
darität zu geben. Das ist weit mehr als Betroffenheits-
kultur. Das ist das Kenntlichmachen von Solidarität. Ich
habe manche seltsame Reaktion erlebt, als unter Führung
des Bundestagspräsidenten Angehörige aller Parteien die-
ses Hauses einen jüdischen Gottesdienst an einem Abend
besucht haben, obwohl zum Beispiel ich nicht jüdischen
Glaubens, sondern christlichen Glaubens bin. Es wurde
gefragt, warum man so etwas mache. Ich antworte: Das
muss man deshalb machen, weil nur dann, wenn klar
wird, dass eine große Solidarität in der Gesellschaft über
die Parteigrenzen hinweg besteht, auch klar wird, dass die
Steinewerfer nicht einmal mit einer schweigenden Billi-
gung irgendwelcher Gruppen des Volkes rechnen können.
Sie, die Steinewerfer, sind die Isolierten und nicht die jü-
dischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland!


(Beifall im ganzen Hause)





Cem Özdemir

11845


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird,
dann geht es nicht um 80 DM Sachschaden. Es geht auch
nicht darum, dass irgendeine Schmiererei überpinselt
werden muss; vielmehr geht es darum, dass dann, wenn
eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird, auch ein
Stück unserer Verfassungskultur zerbrochen wird. Jeder
Stein, der auf eine Synagoge geworfen wird, ist ein Stein
mitten in das Gesicht jedes aufrechten Demokraten in
Deutschland.


(Beifall im ganzen Hause)

Es heißt im Grundgesetz:
Sie

– die Würde des Menschen –
zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.

Das ist nach meiner Meinung eine Frage der Prävention
und der Repression.

Zur Prävention. Ich habe nicht verstanden – das will
ich hier nicht verschweigen –, warum die Synagoge in
Düsseldorf nicht rund um die Uhr beschützt wurde, ob-
wohl aus den Reihen der jüdischen Gemeinde in Düssel-
dorf mehrfach darum gebeten worden ist. Wir gehen
selbstverständlich alle davon aus, dass es einen entspre-
chenden Schutz von Einrichtungen gibt, nicht nur um
unserer Wirkung im Ausland willen, sondern weil wir sel-
ber merken, dass hier die Menschenwürde angegriffen
wird. Ich möchte wissen, warum es bislang einen ent-
sprechenden Schutz nicht gegeben hat. Das, was bisher
dazu geäußert worden ist, finde ich nicht ausreichend.

Meine Damen und Herren, bei der Prävention geht es
zum Beispiel auch darum, wie wir in Zukunft politische
Bildungsarbeit in Deutschland verstehen. Ich will das
nicht nutzen und will auch nicht so verstanden werden, als
sei das ein Angriff auf die Bundesregierung, quasi partei-
politische Münze. Aber die Tatsache, dass die Mittel für
die Bundeszentrale für politische Bildung ebenso wie die
Mittel für die politische Bildungsarbeit der Stiftungen seit
1998 deutlich zurückgeschraubt worden sind, ist nicht
vernünftig. Das müssen wir korrigieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung sind
von 39 Millionen DM auf 29 Millionen DM zurückge-
schraubt worden. Die Mittel für die politische Bildungs-
arbeit der Stiftungen sind von 187 Millionen DM auf
167 Millionen DM zurückgeschraubt worden. Eigentlich
müssten wir in solchen Zeiten genau die gegenteilige
Tendenz in unseren Haushalten lesen können, dass näm-
lich für politische Bildung mehr ausgegeben wird


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und dass mehr getan wird, damit junge Menschen an die
Demokratie herangeführt werden, gerade wenn sie ver-
führbar und in einem verführbaren Alter sind.

Zur Prävention zählt meines Erachtens aber auch, dass
wir uns in diesem Hause darüber im Klaren sind, dass mit

bestimmten Stimmungen und Themen keine Wahl-
kämpfe geführt werden. Das sage ich mit großer Klarheit.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Mir ist es völlig gleichgültig, wer sich darüber ärgert. Das
Thema Migration gehört nicht in die Wahlkämpfe.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir halten es am besten aus den Wahlkämpfen heraus, in-
dem wir vor der Bundestagswahl eine klare Antwort des
Parlaments durch ein neues Gesetz geben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Schließlich möchte ich zum Thema Repression eine

Sache klarstellen. Über die Parteigrenzen hinweg disku-
tieren wir sehr kontrovers über das Verbotsverfahren ge-
gen die NDP. Es gibt in allen Parteien Befürworter und
Skeptiker. Ich möchte für meine Fraktion hier sagen: Aus
Sicht der heutigen Lage, der Materialien, die wir kennen,
ist es meine Befürchtung, dass ein NPD-Verbotsverfah-
ren am Schluss eher eine Stärkung der rechtsradikalen
Szene bewirkt als eine Schwächung. Meine Befürchtung
ist, meine Damen und Herren, dass die NPD vor dem Bun-
desverfassungsgericht in Karlsruhe mit einem Verbots-
verfahren überzogen wird. Den Erfolg wird man für offen
halten können. Wenn das Verfahren scheitert, bekäme die
NPD den TÜV aus Karlsruhe. Das wäre ein Desaster für
die Demokratie.


(Beifall bei der F.D.P.)

Aber, meine Damen und Herren, es besteht eine noch

viel größere Gefahr, auf die uns zum Beispiel Ute Vogt,
die Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, hinge-
wiesen hat. Es wird dann aufgeteilt in diejenigen, die
quasi als verfassungsfeindliche Rechtsradikale verfolgt
werden, und in diejenigen, die damit das Gütesiegel der
Verfassungsmäßigkeit inzidenter erhalten, nämlich die
DVU und die Republikaner. Ich sage Ihnen: Das möchte
ich auf gar keinen Fall. Der Rechtsradikalismus, gleich in
welcher Partei er sich organisiert, muss bekämpft werden.
Ich möchte nicht, dass die Attacke gegen die NPD, die
sinnvoll ist und politisch geführt werden muss, zum
Schluss lediglich zu einer Adelung von DVU und Repu-
blikanern in der täglichen Auseinandersetzung führt. Bitte
denken Sie das zu Ende. Der Kampf gegen den Rechtsex-
tremismus verbindet uns alle in diesem Hause.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412400800
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412400900
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Völlig zu Recht verurteilen
wir Anschläge auf jüdische Bürgerinnen und Bürger, auf




Dr. Guido Westerwelle
11846


(C)



(D)



(A)



(B)


ihre Würde, ihre Kultur und ihre Religion in besonderer
Weise. Es ist gut und wichtig, dass wir dies im Deutschen
Bundestag im Einvernehmen tun. Wir wissen, der Holo-
caust, die Schoah, war ein weltgeschichtlich einmaliges
Verbrechen. Wir erinnern auch daran, dass der deutsche
Faschismus ein in diesem Lande mehrheitlich geduldeter
Faschismus war.

Der Bundestag hat in dieser Legislaturperiode bereits
ganz in diesem Sinne wichtige Zeichen gesetzt. Ich erin-
nere an die Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal und
auch – bei allen Differenzen und aller Kritik hier im
Hause – an die Entscheidung zur Zwangsarbeiterent-
schädigung. Dies waren übrigens zwei Entscheidungen,
bei denen alle Kolleginnen und Kollegen sehr wohl die
Enge von Fraktionen verlassen haben.

Dazu passt allerdings nicht die Meldung von gestern,
die Wirtschaft bringe das Geld für die Zwangsarbeiter-
stiftung nicht auf, oder gar die Ankündigung von Herrn
Henkel gestern Abend im Fernsehen – ich zitiere ihn wört-
lich –: „Wir müssen das Gesetz noch einmal überarbei-
ten.“ Das sollten wir als Parlamentarierinnen und Parla-
mentarier so nicht hinnehmen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Glück gab es dazu klare Worte des Bundeskanzlers.
Wir haben das wohl vernommen und unterstützen ihn.
Aber auch hier sind der Platz und die Gelegenheit, die
deutsche Wirtschaft noch einmal aufzufordern, mit die-
sem unwürdigen Verhalten Schluss zu machen. Ich habe
den Eindruck, dass es hier nicht mehr nur um das Geld,
sondern um etwas anderes geht; deshalb meine klare Auf-
forderung.


(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, wir erleben heute eine sehr

zwiespältige Gesellschaft. Auf der einen Seite sind wir
dankbar, dass Jüdinnen und Juden wieder und weiter mit
deutschen Mitbürgern im eigenen Lande zusammenleben
und dass die jüdischen Gemeinden durch Zuwanderung
aus Osteuropa Zuwachs bekommen. Auf der anderen
Seite aber ist ein Ansteigen der Zahl der antisemitischen
Straftaten festzustellen. Die Zahl der Schändungen jüdi-
scher Friedhöfe hat sich im Vergleich der 90er-Jahre mit
den 80er-Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl rechtsex-
tremistischer Straftaten ist im Verhältnis der Jahre 2000 zu
1999 um mehr als 30 Prozent angestiegen und hat sich
vom Juli zum August dieses Jahres verdoppelt. Diese Zah-
len ergeben sich aus Antworten der Bundesregierung auf
entsprechende Anfragen. Noch schlimmer aber als diese
statistisch gezählten Fakten ist das Hinnehmen von Anti-
semitismus im Alltag. Woher kommt es, wenn sich Zwölf-
jährige auf einem Schulhof mit judenfeindlichen
Schimpfwörtern titulieren? Hier stimmt doch etwas in
dieser Gesellschaft nicht.

Nun gab es eine neue Dimension dieser Ereignisse im
Zusammenhang mit dem 10. Jahrestag der Vereinigung.
Wir hatten eine Häufung antisemitischer Straftaten, so
auch in meinem Wahlkreis in Halle. Wir kennen den Vor-
gang, dass öffentliches Entsetzen über solche Straftaten

oftmals nicht zur Abschreckung beiträgt, sondern zur
Nachahmung anregt. Trittbrettfahrer fühlen sich aufgeru-
fen. Wir haben aber – das müssen wir uns vor Augen hal-
ten – mit dem 3. Oktober eine neue Situation: Hier sind es
nicht mehr nur Trittbrettfahrer gewesen, sondern das war
eine organisierte Provokation an die ganze Gesellschaft
gerichtet, und zwar eine Provokation von der schlimmsten
Art, die wir nicht hinnehmen können.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was können wir tun, meine Damen und Herren? Es ist
ein Zusammengehen aller Demokratinnen und Demo-
kraten in diesem Kampf gegen den Rechtsextremismus
verlangt. Es muss Schluss mit der Ausgrenzung von De-
mokraten in diesem Kampf sein. Auch ist es an der Zeit,
den Begriff „Antifaschismus“ aus dem Verfassungs-
schutzbericht heraus- und in die gesellschaftliche Werte-
skala hineinzubringen.


(Beifall bei der PDS)

Es ist an der Zeit, dass wir die Diskriminierung von jün-
geren und älteren Bürgerinnen und Bürgern beenden, die
sich früher als wir den Rechtsextremisten in den Weg ge-
stellt haben.

An die eigene Adresse sage ich: Die linke Bewegung
ist schlecht beraten, wenn sie ihre Wut und Empörung zur
Beraterin macht. Wir brauchen in diesem Lande einen ge-
winnenden, keinen ausgrenzenden Antifaschismus.


(Beifall bei der PDS)

Ich will hier bei aller Kritik an und Auseinandersetzung
mit der Bundesregierung sehr deutlich sagen: Ich will mit
der Bundesregierung den Rechtsextremismus und nicht
mittels des Themas Rechtsextremismus die Bundesregie-
rung bekämpfen. So viel muss klar sein.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412401000
Kollege Claus, Ihre
Redezeit ist überschritten.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412401100
Ich komme zum Ende, Herr
Präsident.

Ich will ausdrücklich sagen: Das bedeutet für mich
auch – es geht um den Konsens der Demokraten –, die de-
mokratische Konservative in Deutschland nicht außen vor
zu lassen und alles dafür zu tun, dass sie sich an dieser Po-
litik beteiligt. Ich weiß, dass ich der CDU keine Vor-
schriften zu machen habe; aber eine Bitte kann ich äußern:
In diesem Sinne bitte ich Sie wirklich, von der Kampagne,
die auf eine Zuwanderungsbegrenzung zielt, Abstand zu
nehmen.

Wir werden am 9. November dieses Jahres – das ist
bald – Gelegenheit haben, die Herausforderung und die
Chance für den Bundestag wahrzunehmen, gemeinsam
Zeichen gegen den Rechtsextremismus zu setzen. Wir sa-
gen deutlich: Antisemitismus und Faschismus, das sind




Roland Claus

11847


(C)



(D)



(A)



(B)


keine Meinungen, sondern Verbrechen. Wir sollten ge-
nauso deutlich sagen: Bis hierher und nicht weiter!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412401200
Ich erteile der Kolle-
gin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion, das Wort.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1412401300
Herr Präsident! Sehr
geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Anschläge auf
Synagogen, die Schändung jüdischer Friedhöfe, das
Schmieren von Hakenkreuzen auf Gedenktafeln in ehe-
maligen Konzentrationslagern, weitere Anschläge und die
Bedrohung von Personen, all diese Taten sind in jedem
Fall abscheulich und durch nichts zu entschuldigen. Es
sind keine einfachen Beschädigungen an irgendwelchen
Gebäuden aus irgendeinem lapidaren Grund. Nein, es sind
Anschläge gegen unsere jüdischen Mitbürger und Mit-
bürgerinnen; sie zielen gegen unsere Demokratie und ge-
gen unsere Gesellschaft.

Anlässlich der Anschläge auf jüdische Einrichtun-
gen schreibt Außenminister Joschka Fischer in seinem
Brief an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in
Deutschland – ich zitiere –:

Sie
– die Anschläge –

sind ein offener Angriff auf die deutsche Demokratie
und auf den elementaren Grundsatz der Unantastbar-
keit der Menschenwürde, auf dem unsere Demokra-
tie aufbaut. Wir alle – Regierung, Justiz und Gesell-
schaft – haben die Verpflichtung, uns diesem Angriff
entschieden und mit aller Kraft entgegenzustellen.

In den letzten Jahren sind die jüdischen Gemeinden
wieder gewachsen. Wie die überwiegende Mehrheit der
Menschen in unserem Land wollen sie in Freiheit, Frieden
und Sicherheit hier leben, Verantwortung übernehmen
und mitgestalten. Sie sind ein Teil der kulturellen und re-
ligiösen Vielfalt in unserem Land und leisten eine unver-
zichtbare Integrationsarbeit für die neu zugezogenen Bür-
ger. Dafür möchte ich den jüdischen Gemeinden an dieser
Stelle meinen Dank aussprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es sind die rechten Gewalttäter und die rechten Ideo-
logen, die unser friedliches Zusammenleben bedrohen.
Dagegen brauchen wir den „Aufstand der Anständigen“,
wie Bundeskanzler Schröder es formuliert hat. Viel zu
lange wurde die rechte Szene verharmlost und wurde da-
rauf vertraut, dass mit den Ewiggestrigen auch die rechte
Ideologie ausstirbt. Die Realität sieht anders aus.

Nur ein Bündel von Maßnahmen wird dem rechten
Sumpf den Boden entziehen. Ursachenforschung und
-bekämpfung, Prävention und Repression, Aufklärung
und Jugendarbeit, Bekämpfung von Jugendarbeitslosig-
keit und sinnvolle Freizeitangebote, Opferschutz und Tä-

terverfolgung, Integrationskonzepte, Stadtteilarbeit und
gegebenenfalls ein Parteiverbot der NPD – das Verbot von
„Blood & Honour“ ist schon vollzogen – sind ein ent-
scheidender Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus.

Für die Bundesregierung und die sie tragenden Par-
teien gehören die politische Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus und seine Bekämpfung zu den wich-
tigsten Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Extremisti-
sche Aktivitäten sind keine vernachlässigbaren Randpro-
bleme unseres Gemeinwesens. Sie speisen sich aus weit
verbreiteten Vorurteilen, Ängsten und Ressentiments.

Dem wollen wir das „Bündnis für Demokratie und
Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ entgegen-
stellen. Es soll die Werte und Garantien unserer Verfas-
sung offensiv vertreten. Das Bündnis verfolgt das Ziel,
dem demokratischen Konsens sowie dem zivilen Engage-
ment eine deutlichere Resonanz in unserer Gesellschaft
zu verschaffen. Dazu wird es die vielen Aktivitäten der
Einrichtungen und Initiativen, die sich gegen Rechtsex-
tremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt wenden,
zusammenführen und es wird weitere anregen. Durch
Aufklärungs- und Medienkampagnen soll die Öffentlich-
keit gegen politischen Extremismus sensibilisiert werden.

Neben der Geschäftsstelle für dieses Bündnis, die be-
reits eingerichtet wurde, wurde als zentrales Gestaltungs-
gremium ein Beirat eingesetzt. Der Beirat dieses Bündnis-
ses setzt sich aus Vertretern aus Politik, der Polizei, von
jüdischen Gemeinden, Gewerkschaften, aus Arbeitgebern
und Wissenschaftlern zusammen. Er wird am 23. Oktober
zusammentreten und über konkrete Aktivitäten beraten.
Der Beirat organisiert mithilfe der Geschäftsstelle das ge-
sellschaftliche Bündnis und wird prominente Persönlich-
keiten um Unterstützung und Mitarbeit bitten.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: So wird Deutschland organisiert! Jetzt kommt ein Beirat!)


In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei all de-
nen bedanken, die bereits jetzt offensiv und öffentlich ge-
gen Rechts eintreten, und bei all denen, die sich zu
Aktionen und Initiativen zusammengeschlossen haben.
Einige Beispiele nur: das „Netz gegen Rechts“, zu dem
sich deutsche Zeitungen, Agenturen und Sender zusam-
mengeschlossen haben; die Initiative „Mut gegen rechte
Gewalt“ der Zeitschrift „Stern“; die von Uwe-Karsten
Heye, Paul Spiegel und Michel Friedman ins Leben geru-
fene Aktion „Gesicht zeigen!“, in der sich zahlreiche Pro-
minente gegen Rechts stellen. Mehr als 500 Prominente
sowie Verbände und Organisationen haben Patenschaften
für regionale Initiativen gegen Rassismus übernommen.
Der Aufstand gegen Rechts wächst. Das ermutigt uns,
weiterzumachen, noch mehr Menschen einzubinden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Politiker stehen
wir in besonderer Verantwortung. Wer versucht, aus Stim-
mungen Stimmen zu machen, darf sich nicht über Beifall
von der falschen Seite wundern


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)





Roland Claus
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(A)



(B)


und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Klima zu
vergiften und denen Argumente zu liefern, die mit krimi-
neller Energie gegen die demokratischen Grundwerte
kämpfen. Herr Merz, wie passt denn geistige Orientierung
mit Ihrer Ankündigung zusammen, der nächste Wahl-
kampf werde ein Ausländerwahlkampf werden?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sebastian Edathy [SPD]: Pfui!)


Das Bündnis gegen Rechts braucht eine breite Veranke-
rung in der Gesellschaft. Wir brauchen die wehrhafte De-
mokratie.

Lassen Sie mich mit einem Zitat von Bundespräsident
Johannes Rau schließen:

Ich wünsche mir ein vielfältiges und lebendiges
Deutschland – friedlich und weltoffen. Daran zu ar-
beiten, lohnt jede Mühe. Es kommt nicht auf die Her-
kunft des Einzelnen an, sondern darauf, dass wir ge-
meinsam die Zukunft gewinnen.

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412401400
Ich erteile nun dem
Kollegen Wolfgang Bötsch, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


Dr. Wolfgang Bötsch (CSU):
Rede ID: ID1412401500
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte,
welche wir heute bestreiten, ist angesichts der jüngsten,
schlimmen Ereignisse mehr als erforderlich. Ich möchte
mich ausdrücklich bei den anderen Fraktionen dafür be-
danken, dass sie unsere Anregung, diese Debatte heute zu
führen, aufgenommen, akzeptiert und ihr zugestimmt ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Waren schon die früheren antijüdischen Aktionen und

die diversen Anschläge auf jüdische Friedhöfe äußerst
verwerfliche Niederträchtigkeiten, so haben wir mit den
jüngsten Ereignissen, insbesondere mit den Anschlägen
auf die Synagogen, die jüdischen Gotteshäuser, eine neue
Dimension erreicht. Ich bin sicher, dass die ganz große
Mehrheit der Bevölkerung die jüngsten Vorgänge mit
Empörung und Wut über die Taten, mit Zorn und Verach-
tung für die Täter und tiefer Trauer über den dabei zum
Ausdruck kommenden Verfall von Sitte, Anstand und
Moral sieht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir verurteilen diese Vorgänge aufs Schärfste und for-
dern Polizei und Justiz auf, gegen die Täter mit aller ge-
botenen Härte vorzugehen. Gleichzeitig möchte ich dies
mit einem Appell an unsere jüdischen Mitbürger verbin-
den: Lassen Sie sich nicht entmutigen, weiter in Deutsch-
land zu leben! Halten Sie Ihre Entscheidung aufrecht, in

unserem gemeinsamen Lande zu bleiben. Lassen Sie uns
weiter teilhaben an Ihrem Leben, Ihrer Kultur und Ihrer
Religion und nehmen Sie teil am Leben in Deutschland
insgesamt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Kollege Özdemir, ich weiß nicht, ob Sie gegen-

über unserem Fraktionsvorsitzenden nicht einen falschen
Ton angeschlagen haben.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!)


Ihre Angriffe – zumindest muss man sagen: Ihre Hinwei-
se – waren doch etwas unangebracht. Sie sollten darüber
einmal nachdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben gesagt, es gebe kein „ihr“ und kein „wir“. Wen
wollen Sie aber dann eigentlich willkommen heißen,
wenn es kein „ihr“ und kein „wir“ gibt?

Frau Fograscher, Sie haben den Bundespräsidenten zi-
tiert. Auch ich will ihn in diesem Zusammenhang zitieren,
nämlich aus seiner Berliner Rede vom 16. Mai, in der er
sagte:

Jeder weiß, dass die Zuwanderung bei vielen Men-
schen starke Emotionen auslöst – gute und weniger
gute. Gerade deswegen müssen wir darüber mög-
lichst offen sprechen, möglichst unaufgeregt und re-
alistisch.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Genauso ist es!)


Häufig bleibt zu vieles unausgesprochen.
Mein besonderer Dank gilt der Vorsitzenden der jüdi-

schen Gemeinde in München und Vizepräsidentin des
Zentralrats der Juden in Deutschland, Frau Charlotte
Knobloch, die sich von den jüngsten Ereignissen in ihrem
Bekenntnis zum Leben in Deutschland nicht erschüttern
ließ, sondern sich ausdrücklich positiv dazu bekannt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Jüdische Gemeinden in Deutschland gibt es wieder,
wenngleich keinesfalls mehr in dem Umfang und mit der
Bedeutung, die sie in früheren Jahrhunderten hatten. Als
Beispiel möchte ich meine unterfränkische Heimat nen-
nen. Gab es dort zu Beginn der 30er-Jahre etwa 600 jüdi-
sche Gemeinden, so existiert dort heute nur noch eine jü-
dische Gemeinde, nämlich in Würzburg. Diese Gemeinde
ist umso beispielhafter für jüdisches Leben, als dort be-
reits unmittelbar nach dem Krieg wieder jeden Sabbat
Gottesdienst abgehalten wurde. Zwar war die Gemeinde
damals zahlenmäßig sehr gering, weil sich nur wenige
junge Menschen und auch nicht viel mehr ältere jüdische
Mitbürger nach dem Krieg dort niedergelassen hatten. So
hatte das jüdische Altersheim zeitweise nur acht Bewoh-
ner.

Heute hat die jüdische Gemeinde in Würzburg wieder
einen Funktionszuwachs, nicht zuletzt auch durch Zu-
wanderung von Juden aus Osteuropa. Mittlerweile ge-
hören der jüdischen Gemeinde, welche Würzburg und




Gabriele Fograscher

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ganz Unterfranken umfasst, nahezu 1 000 Mitglieder an.
Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, als nach wis-
senschaftlichen Erkenntnissen aus den 80er- und 90er-
Jahren Würzburg im Mittelalter, zwischen 1147 und 1349,
ein maßgebendes Zentrum für jüdisches Wissen und jüdi-
sche Kultur war. Dies ergab sich aus der Freilegung von
1 400 Grabsteinen im Jahre 1987, die von einem jüdi-
schen Friedhof stammen, der im 16. Jahrhundert in frev-
lerischer Weise wegen des Neubaus eines Spitals völlig
zerstört wurde. Die Bedeutung dieses Wissenschaftszen-
trums war vergleichbar mit Marrakesch, wo ein Zentrum
der jüdischen Kultur für den heutigen nordafrikanischen
Raum und die ganze iberische Halbinsel existierte.

Man versucht heute, an diese Tradition anzuknüpfen.
Dem soll die Gründung eines jüdischen Kulturzentrums
mit dem Namen „Shalom Europa“ dienen. Dieser Name
wurde deshalb gewählt, weil die Würzburger Wissen-
schaftler mit vielen europäischen Zentren des Judentums
einen regen Erfahrungsaustausch pflegten. Solche Pro-
jekte sind das, was wir brauchen, um jüdisches Leben in
Deutschland bekannt und verständlich zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist daher die Aufgabe von Bund, Ländern und Ge-
meinden, solche Institutionen zu unterstützen.

Die Bayerische Staatsregierung ist hier vorbildlich
vorangegangen und hat durch Kabinettsbeschluss für der-
artige Projekte in jüngster Zeit 23 Millionen DM bereit-
gestellt:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

der Großteil davon für ein jüdisches Kulturzentrum in
München und alleine 7 Millionen DM für „Shalom Eu-
ropa“ in Würzburg.

Ich appelliere an die Bundesregierung, sich diesem
Vorbild anzuschließen und ebenfalls Mittel für diese Pro-
jekte bereitzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die bisherige Sachbehandlung der Bundesregierung in

dieser Angelegenheit stellt sich allerdings, vorsichtig aus-
gedrückt, etwas oberflächlich dar. So schreibt der Minis-
t
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412401600


Wenn auch die geplante Einrichtung in Würzburg in
der Bezeichnung den Begriff „Kulturzentrum“ führt,
so handelt es sich primär doch um eine Einrichtung
der jüdischen Gemeinschaft, und zwar – wie das
Konzept erkennen lässt – der orthodoxen Richtung.

Das Innenministerium ergänzt diese Stellungnahme mit
den Sätzen:

Zu Ihrer Bitte um Förderung des Aufbaus des jüdi-
schen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg
möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine solche Förde-
rung nicht möglich ist, da es dafür in meinem Minis-
terium keine Haushaltsmittel gibt. Das ... Kirchen-
bauprogramm des Bundes ist leider ausgelaufen.

Ich will das jetzt nicht als eine politische Entscheidung
werten, aber doch als eine sehr bürokratisch-oberflächli-
che.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es genügt nicht, erschreckende Vorkommnisse zu bekla-
gen, sondern man muss auch gegensteuern.

Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, ihre bis-
herige ablehnende Haltung hinsichtlich der Förderung
solcher Projekte aufzugeben und einen erheblichen Be-
trag aus Bundesmitteln hierfür zur Verfügung zu stellen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Da wäre sie gut beraten!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412401700
Ich erteile das Wort
der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Anders als andere rechtsextreme Gewalttaten haben die
Angriffe auf Synagogen und die Schändungen jüdischer
Friedhöfe eine bestürzende Symbolwirkung. Wir können
uns nicht damit beruhigen, dass es isolierte Einzeltaten
wären; denn das sind sie leider nicht. Das zeigen die Sta-
tistiken, aber auch der Telefonterror, die zahlreichen Be-
drohungen und Beleidigungen, auf die Herr Bubis und
Herr Spiegel immer wieder hingewiesen haben. Ebenso
zeigen das Einstellungsuntersuchungen, bei denen eine
antisemitische Einstellung bei 12 bis 15 Prozent der Be-
völkerung festgestellt worden ist. Anhänger antisemiti-
scher Weltverschwörungsmythen sind keineswegs nur in
der rechtsextremen Szene zu finden.

Die besondere Symbolwirkung liegt nach dem Holo-
caust aufgrund der deutschen Geschichte auf der Hand. In
der Nachkriegszeit war die Bekämpfung des Antisemitis-
mus eine Voraussetzung für die Rückkehr der Bundesre-
publik in die internationale Gemeinschaft und zu Recht
galt und gilt die besondere Aufmerksamkeit des Auslands
dem Antisemitismus in der Bundesrepublik. Die Aufar-
beitung des Holocaust war darum immer auch mit einer
Tabuisierung und Verdrängung des gegenwärtigen Anti-
semitismus verbunden.

Wie dünn das Eis hier noch immer ist, hat sich in der
Diskussion um die Wiedergutmachung, im Historiker-
streit und zuletzt in der Goldhagen-Debatte sowie im Dis-
put um die unsäglichen Äußerungen Walsers gezeigt. In
all diesen Auseinandersetzungen ist die Schlussstrich-
mentalität ganz deutlich zu spüren. Aber einen Schluss-
strich kann und darf es nicht geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Schon die neuerlichen Angriffe auf Synagogen und die
Schändungen von jüdischen Friedhöfen zeigen, wie aktu-
ell Antisemitismus nach wie vor ist. Neben der Verpflich-




Dr. Wolfgang Bötsch
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(A)



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tung, Synagogen so gut wie irgend möglich durch Polizei
und öffentliche Aufmerksamkeit zu schützen, neben den
Zeichen, die der Bundeskanzler dankenswerterweise so-
fort gesetzt hat, ist darum eine schonungslose Aufarbei-
tung notwendig, die nicht an der Oberfläche verharren
darf.

Diese Aufarbeitung muss in der Schule beginnen
durch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, aber
auch mit der Geschichte von Antisemitismus und Juden-
verfolgung, die sich wie ein roter Faden durch die Jahr-
hunderte zieht. Hierfür brauchen wir Erinnerungsarbeit
und lebendige Gedenkstätten sowie mehr Raum in der Ju-
gendarbeit und in den öffentlichen Debatten in Wis-
senschaft und Politik.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Aber wir brauchen auch die Auseinandersetzung mit
einer kollektiven Verdrängung im Nachkriegsdeutsch-
land, die es bis heute ermöglicht, die Täter des Dritten
Reichs auf fremde Barbaren zu reduzieren und gleichzei-
tig die Nachbarn, die bei der Versteigerung von jüdischem
Eigentum das Fahrrad ersteigert haben, nicht zur Kennt-
nis zu nehmen, genauso wenig wie die Finanzbeamten,
die nach Recht und Gesetz das Inventar der jüdischen
Wohnung registriert haben, deren Bewohner nach
Auschwitz abtransportiert worden sind. Dieser Realität,
die es nicht zulässt zu sagen: „Wir haben doch nichts ge-
wusst“, müssen wir uns stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir brauchen aber auch mehr alltägliche Berührungs-
punkte, mehr Kommunikation über unterschiedliche ge-
schichtliche Erfahrungen, religiöse Bindungen und kultu-
relle Orientierung. Eine demokratische Gesellschaft lebt
von ihrer Vielfalt. Dabei sind die Menschen jüdischen
Glaubens ein wesentlicher, ein unverzichtbarer Teil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS )



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412401800
Ich erteile dem Kolle-
gen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion, das Wort.


Heinz Schmitt (SPD):
Rede ID: ID1412401900
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Besucherinnen!
Liebe Besucher! Wir haben in den letzten Jahren eine
außerordentlich erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen,
die Tatsache nämlich, dass die Zahl unserer jüdischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder auf über 80 000 ge-
stiegen ist. Es gibt in der Bundesrepublik eine Verdreifa-
chung der Mitglieder jüdischer Gemeinden. Nach Ein-
schätzung des Zentralrates der Juden in Deutschland wird
diese Zahl weiter zunehmen.

Dass es in Deutschland wieder 83 jüdische Gemeinden
gibt, berührt mich sehr. Denn dies ist alles andere als
selbstverständlich, wenn man sich die Geschichte der Ju-
den in Deutschland vor Augen hält. Die Tatsache, dass
Menschen jüdischen Glaubens in großer Zahl Deutsch-

land wieder als ihre Heimat wählen, ist ein enormer Ver-
trauensvorschuss für unsere Gesellschaft, für ein Land, in
dem Juden noch vor wenigen Jahrzehnten Entrechtung,
Enteignung, Terror und schließlich systematischem Mord
durch die Nationalsozialisten ausgesetzt waren.

Es stellt sich nun die Frage, ob und wie wir diesem Ver-
trauensvorschuss gerecht werden können. Wir würden
diese Debatte heute nicht führen, wenn wir die Frage, ob
das heutige Deutschland wirklich sicher und so etwas wie
eine Heimat für Mitbürger jüdischen Glaubens geworden
ist, ohne Befangenheit bejahen könnten. Die jüngsten An-
schläge und Schädigungen jüdischer Einrichtungen in
Düsseldorf, Potsdam, Halle und Berlin haben ein erhöh-
tes Aufsehen erregt, weil die Öffentlichkeit gegenwärtig
durch die Diskussion über den Rechtsextremismus auch
für antisemitische Straftaten sensibler geworden ist.

Diese Straftaten geschehen in Deutschland fast alltäg-
lich. Über 1 000 Schändungen jüdischer Friedhöfe in den
letzten Jahrzehnten sind beschämend. Antisemitismus ist
ein fundamentaler Bestandteil rechtsextremistischer Ideo-
logie und des Denkens rechtsextremer Gewalttäter. Anti-
semitismus ist zudem in diesem Land in einem Ausmaß in
den Köpfen ganz normaler Bürger verwurzelt, das be-
sorgniserregend ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So müssen wir die Äußerungen von Paul Spiegel, dem
Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland,
sehr, sehr ernst nehmen, wenn er davon spricht, dass es
ihn angesichts des alltäglichen Antisemitismus in
Deutschland schwer fällt, optimistisch zu bleiben.

Die Diskussion der letzten Wochen hat eine Antwort
auf die Frage gesucht, wie rechter Gewalt, wie Fremden-
feindlichkeit und Antisemitismus zu begegnen ist. Es gibt
einen breiten Konsens, eine treibende Kraft, das rechtsex-
treme Spektrum mit den Mitteln des Rechtsstaates zu
bekämpfen. „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung
der Freiheit“, hat Karl Jaspers einmal gesagt. Deshalb be-
grüßen wir den beabsichtigten Antrag auf ein Verbot der
NPD, weil damit ein wichtiges politisches Signal gesetzt
wird, ein Signal der Entschlossenheit gegen den organi-
sierten Rechtsextremismus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite brauchen wir aber auch die glei-
che Entschlossenheit, gegen die Wurzeln rechtsextremis-
tischer Einstellungen vorzugehen. Wir wissen, dass
rechtsextremistische Straftaten überwiegend von Jugend-
lichen oder jungen Erwachsenen begangen werden. Es ist
deshalb unsere Aufgabe, Jugendliche besser als bisher ge-
gen rechte Ideologien und rechte Rattenfänger resistent zu
machen.

Ich bin alarmiert, wenn ich feststelle, dass ganze Schul-
klassen mit den elementaren Spielregeln und Grundwer-
ten unserer Demokratie nicht vertraut sind. Wer die Grund-
regeln und Zusammenhänge einer freien, pluralistischen
und demokratisch verfassten Gesellschaft nicht kennt, der




Annelie Buntenbach

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wird anfällig werden für einfache Lösungen rechtsextre-
mer Rattenfänger. Auch dies lässt sich in Gesprächen mit
Jugendlichen immer wieder heraushören.

Es ist deshalb eine ebenso dringliche wie langfristige
Aufgabe, in den Schulen wieder intensiver demokrati-
sches Verhalten einzuüben und der Vermittlung grundle-
gender politischer und historischer Kenntnisse einen an-
gemessenen Platz einzuräumen. Diese Aufgabe muss
umfangreicher und sie muss verbindlicher als bisher in
den Lehrplänen und Bildungskonzepten verankert wer-
den. Nicht zuletzt gilt es auch diejenigen Elternhäuser mit
in die Pflicht zu nehmen, die mit eigenen Vorurteilen und
Ressentiments dazu beitragen, dass Jugendliche sich als
vermeintliche Erfüllungsgehilfen der Eltern verstehen
können. Auch die Eltern auffälliger rechtsextremer Ju-
gendlicher müssen stärker in die Verantwortung genom-
men werden.

Dies sind nur einige Maßnahmen, wie wir etwa im
schulischen Bereich dafür sorgen können, dem Rechtsex-
tremismus langfristig den Nährboden zu entziehen. Wir
werden darüber hinaus weiterhin dafür sorgen, dass Ju-
gendliche auch eine ordentliche Ausbildung erhalten, eine
Chance auf einen guten Ausbildungsplatz und eine eigene
gute Zukunft. Ich nenne beispielhaft unser JUMP-Pro-
gramm, um Jugendarbeitslosigkeit gezielt zu bekämpfen.

Wir brauchen eine Familienpolitik, die ebenfalls dafür
sorgt, dass Konflikte innerhalb der Familie ohne Gewalt
gelöst werden. Gewalt in der Familie ist ein wesentlicher
Grund dafür, dass Gewalt auch in der Gesellschaft vor-
kommt. Wir brauchen den „Aufstand der Anständigen“,
wie von Bundeskanzler Schröder gefordert. Es muss
Schluss sein mit dem Wegschauen. Die jüdischen Mitbür-
gerinnen und Mitbürger sollen unsere Solidarität spüren
und wir wollen ihnen das Gefühl vermitteln, nicht allein
zu stehen.

„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit,
sondern der Sittlichkeit“, hat Willy Brandt einmal gesagt.
Dieses Verständnis von Demokratie müssen wir wieder
verstärken und jungen Menschen vermitteln. Wenn uns
dies gelingt, werden auch unsere jüdischen Mitbürger in
Deutschland wieder ohne Angst in unserer Mitte leben
können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412402100
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Rabbiner Andreas Nachama, ich danke Ihnen, dass Sie
heute hier sind.

Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen bedeutet
für mich, öffentlich einzugestehen, dass die Kräfte zu
schwach waren, die seit dem 8. Mai 1945 in Wort und

Schrift unermüdlich versucht haben, die Ursachen des
Antijudaismus und Antisemitismus aufzudecken und
überwinden zu helfen. Wie kann es sonst sein, dass Anti-
semitismus, der in Deutschland in der systematischen Ju-
denvernichtung gipfelte, junge Menschen aufs Neue zu
antisemitischen Ausschreitungen motiviert?

Darum muss, wer jüdisches Leben in Deutschland
schützen will, nicht nur für sich persönlich die Frage der
Berliner Lyrikerin Nelly Sachs stellen, die der aus deut-
scher Arroganz beschlossenen Judenausrottung entkom-
men ist und dann im rettenden Asyl fragte: „Warum die
schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“
Nach dem Holocaust muss dieses „Warum?“ in der Mut-
tersprache Deutsch von jeder Generation beantwortet
werden – und das unabhängig von der Scheindebatte über
Kollektivschuld.

Lessings Ringparabel als Unterrichtsstoff schafft an
sich noch keine Toleranz. Wohlwollende Gleichgültigkeit
verharmlost die bisher keineswegs überwundenen Trug-
schlüsse des Antisemitismus und stützt vor allem die In-
teressen derer, die diese Überzeugung immer noch und
schon wieder vertreten.

Die Tatsache, dass in Berlin dem prominenten Antise-
miten Heinrich von Treitschke, Professor für Geschichte
an der Berliner Universität, auch noch nach Auschwitz
eine Straße in Steglitz gewidmet ist, halte ich für eine –
wenn auch verdeckte – permanente Beleidigung nicht nur
der Überlebenden des Holocaust, sondern erst recht der
nach 1945 geborenen Juden, ist doch Treitschkes Satz
„Die Juden sind unser Unglück“, ursächlich an der mör-
derischen Geschichte von 1933 bis 1945 beteiligt. Sollte
nicht endlich der Bitte von Schülern des Steglitzer Fich-
telberg-Gymnasiums gefolgt werden, die Straße einem
anderen, zum Beispiel dem Berliner Bischof Kurt Scharf,
der sich Zeit seines Lebens gegen den Antijudaismus in
christlicher Predigt verwahrt hat und ein Vater des jü-
disch-christlichen Dialogs war, zu widmen? Diese
Schüler sind nicht gleichgültig, wenn sie auf ihrem Schul-
weg Geschichtskenntnisse beherzigen.

Im Kontext neoliberaler Überzeugungsvielfalt ist An-
tisemitismus nicht nur eine anachronistische Variante,
sondern stellt die humanistische Wertegemeinschaft zu-
tiefst in Frage und damit auch die moralische Qualität be-
reitwilliger Unterstützung jüdischen Lebens in Deutsch-
land.


(Beifall bei der PDS)

Alle spontanen Aktivitäten, die durch Vermittlung besse-
rer Kenntnisse über jüdisches Leben dumpfe Vorurteile
entlarven helfen, sind dringend zu unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

In Deutschland ist in vier Jahrzehnten von jüdischen

und nicht jüdischen Autoren eine umfassende kritische
Literatur zum Verständnis für das Gelingen gemeinsamen
Lebens mit Juden in Deutschland entstanden. Aber
Bücher brauchen Leser! Denn man kann nur unterstützen
und schützen, was man selber versteht. Ächten kann nur
derjenige, der das Judentum sachverständig achtet.




Heinz Schmitt (Berg)

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(D)



(A)



(B)


Lassen Sie uns aufstehen gegen die Gleichgültigkeit
in unserem Alltag! Elie Wiesel, der uns am 27. Januar ver-
gangenen Jahres so eindrücklich ermahnt hat, das Holo-
caust-Denkmal nicht nur zum Alibi unseres schlechten
Gewissens deutscher Geschichte werden zu lassen, erklärt
aus seiner Sicht, wie jüdisches Leben und damit auch un-
seres zu schützen ist. Er sagt:

Ein Schlüsselwort meiner Weltanschauung ist der
Kampf gegen Gleichgültigkeit. Ich habe immer da-
ran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht
Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil
von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern
Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist
nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleich-
gültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, sie ist
das Ende eines Prozesses. Wenn Sie die Wahl haben,
zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zu
wählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht die
Gleichgültigkeit! Denn aus Verzweiflung kann eine
Botschaft hervorgehen, aber aus der Gleichgültigkeit
kann per definitionem nichts hervorgehen.

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402200
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Guido Westerwelle das
Wort.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1412402300
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe soeben von unserem ersten parla-
mentarischen Geschäftsführer erfahren, dass in dieser De-
batte kein Vertreter der Bundesregierung die Absicht hat
zu sprechen. Ich möchte für mich und auch für meine
Fraktion – ich weiß, dass es mehreren Kollegen genauso
geht wie mir – zum Ausdruck bringen, dass wir wissen
möchten, was die Bundesregierung tun will, um bei-
spielsweise jüdische Einrichtungen zu schützen. Wir wol-
len ihre Antwort im Hinblick auf die politische Bildungs-
arbeit hören. Ich möchte in diesem Hause etwas zu der
Frage der Verbotsverfahren und der Bekämpfung rechts-
extremer Gewalttaten hören. Meiner Einschätzung nach
ist es nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung in einer
solchen Debatte schweigen will.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402400
Ich erteile das Wort
der Kollegin Kerstin Griese, SPD-Fraktion.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1412402500
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Der Brandanschlag auf die Düssel-
dorfer Synagoge kurz nach Rosch ha-Schana, dem jüdi-
schen Neujahrsfest, und die weiteren Anschläge auf
jüdische Einrichtungen haben uns entsetzt.


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich denke, auch das Parlament hat das Recht zu debat-
tieren. Das ist heute meine erste Rede. Ich komme aus
Düsseldorf, wo diese Anschläge passiert sind, und ich
hoffe, Sie geben mir die Möglichkeit, dazu etwas zu sa-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Düsseldorf ist innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal
Ort eines Anschlags geworden, bei dem Personen jüdi-
schen Glaubens bzw. ihre Einrichtungen getroffen wur-
den. Die Anschläge auf Synagogen, Gedenkstätten und
jüdische Friedhöfe gehen, wie wir wissen, erschrecken-
derweise weiter.

Es war einer engagierten Bürgerin zu verdanken, die in
der Nacht die Molotowcocktails ausgetreten hat, dass an
der Düsseldorfer Synagoge allein Sachschaden entstan-
den ist. Doch dieser Sachschaden bedeutet weitaus mehr.
Diese Anschläge sind Anschläge auf unsere Demokratie
und auf das Miteinander in unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es ist deshalb an der Zeit, deutliche Zeichen zu setzen.
Die Bundesregierung hat das auch getan. Ich danke unse-
rem Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich dafür,


(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Wo ist er denn?)


dass er direkt am Tag nach dem Anschlag zusammen mit
Bundesinnenminister Schily, dem Ministerpräsidenten
und dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen
nach Düsseldorf gekommen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sofortige Erscheinen an dem Ort dieses Anschlags
war deshalb ein wichtiges Zeichen, weil es zeigt, dass sich
der Staat schützend auf die Seite der jüdischen Gemein-
den und auf die Seite der potenziellen Opfer dieses An-
schlages stellt.

Als ich erst vor kurzem in den Deutschen Bundestag
nachgerückt bin, habe ich nicht gedacht, dass ich meine
erste Rede zu einem so schrecklichen Anlass halten
werde. In meiner beruflichen Tätigkeit vor dem Einzug in
den Bundestag habe ich oft mit der jüdischen Gemeinde
in Düsseldorf zusammengearbeitet und viele Mitglieder
persönlich kennen gelernt: alte Menschen, die Verfolgung
und Konzentrationslager, Flucht in buchstäblich letzter
Minute und die Ermordung ihrer Familien überlebt haben
und die dennoch nach Deutschland zurückgekommen
sind, um in Deutschland – und in diesem Fall in Düssel-
dorf – zu leben. Davor habe ich den allergrößten Respekt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich habe junge Jüdinnen und Juden, die in Deutschland
geboren sind und hier leben, und auch einige, die aus der
ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen




Dr. Heinrich Fink

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(D)



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(B)


sind, kennen gelernt. Allein die Düsseldorfer Gemeinde,
die heute die drittgrößte in der Bundesrepublik ist, ist von
etwa 1 500 Mitgliedern im Jahre 1989 auf heute über
6 000 Mitglieder angewachsen. Das sind erstmals wieder
mehr Mitglieder als vor dem Holocaust. Das heißt, jüdi-
sche Gemeinden in Deutschland haben wieder eine Zu-
kunft und eine Heimat und das soll auch so bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Gerade weil das so ist, müssen wir unsere Anstrengun-
gen verstärken, um die Ursachen antisemitischen, rassis-
tischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts einzudäm-
men. Wir brauchen unmissverständliche und eindeutige
Signale, damit die Mitglieder jüdischer Gemeinden nicht
weiter verunsichert werden.

Ich denke, es ist auch unsere Aufgabe als Politikerin-
nen und Politiker, dafür zu sorgen, dass die Schutzmauern
um die jüdischen Kindergärten nicht noch höher werden
müssen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jü-
dische Jugendliche ohne Angst in Jugendzentren gehen
können, dass dort jüdische und nicht jüdische Jugendliche
gemeinsam ihre Freizeit verbringen können. Denn die Er-
fahrung zeigt: Begegnung ist der beste Ansatz gegen Ras-
sismus und Minderheitenfeindlichkeit. Schule und politi-
sche Bildung spielen hier eine Schlüsselrolle. Demokratie
und Beteiligung setzen informierte Menschen voraus.
Dies hilft gegen dumpfen Hass und Vorurteile.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade für mich als eine Vertreterin der jüngeren Ge-
neration ist es wichtig, den jüdischen Gemeinden Solida-
rität und Unterstützung auszusprechen und ihnen deut-
lich zu sagen, dass wir uns freuen, dass jüdische
Gemeinden in Deutschland wieder wachsen und aktiv
sind. Seien Sie versichert, dass wir nicht hinnehmen wol-
len und werden, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland bedroht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen, dass Juden in Deutschland leben und hier
bleiben wollen. Sie sind Teil der Gesellschaft.

Wir sollten daran arbeiten, dass deutsche Bürgerinnen
und Bürger jüdischen Glaubens – wie sie sich selbst defi-
nieren, nicht etwa als Juden in Deutschland oder als
Mitbürger – zur Normalität gehören. Wir sollten daran
arbeiten, dass junge Leute erleben, wie Menschen
verschiedener Religionen, Herkunft oder Hautfarbe fried-
lich miteinander leben.

Als ich in den Tagen nach dem Anschlag mit Mitglie-
dern der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gesprochen
habe, habe ich erfahren, dass die Erwartung groß ist, dass
weitere Taten gegen den Rechtsextremismus auf allen
Ebenen folgen: auf der Ebene der Politik, der Justiz, des
Engagements von Nachbarn, der Jugendarbeit, aber auch
im Bereich der neuen Formen des Rechtsextremismus im
Internet.

Lassen Sie mich dazu noch einen Aspekt nennen – wir
werden das hier ja noch häufiger beraten –: Rechtsextre-
mismus ist kein Problem, das sich allein auf Ostdeutsch-
land oder auf Jugendliche abschieben ließe. Die Anführer
sitzen oft im Westen und sind nicht mehr jugendlich. Ge-
rade deshalb müssen wir deutlich machen, dass die
Rechtsextremen und ihre Argumente nicht hoffähig ge-
macht werden dürfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es darf nicht noch einmal passieren, dass zum Beispiel
im Rat der Stadt Düsseldorf eine Mehrheit mit der Stimme
des Ratsherrn der so genannten Republikaner zustande
kommt. Man kann auch nicht gleichzeitig Ausländer-
feindlichkeit beklagen, aber die Abwehr von Ausländern
zum Wahlkampfthema erheben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Rassistische Gewalttäter dürfen keine Stichworte be-
kommen; denn das sind die Anfänge. Wir dürfen nicht
wegschauen. Wir müssen handeln.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402600
Dies war die erste
Rede der Kollegin Kerstin Griese. Dazu meine herzliche
Gratulation.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 14/4245 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und den Zusatz-
punkt 5 auf:

3. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
– Drucksache 14/4230 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO




Kerstin Griese
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ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Ver-
sorgungsabschläge
– Drucksache 14/4231 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-
nister Walter Riester das Wort.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Wir haben im letzten Jahr zwei wichtige
Entscheidungen zur Sicherung der Renten umgesetzt. Wir
haben als Erstes die Rentenversicherung von versiche-
rungsfremden Leistungen finanziell entlastet. Das war
ganz wichtig. Wir haben als Zweites sichergestellt, dass
die vom Gesetzgeber vorgesehene Rücklage in der Ren-
tenversicherung um 8,4 Milliarden DM aufgestockt
wurde und damit erstmals seit 1994 die Mindestreserve in
der Rentenversicherung wieder vorhanden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir treten heute in die erste inhaltliche Diskussion zur

Rentenreform, zur Reform unserer Alterssicherungssys-
teme und damit zum größten Reformprojekt der Sozial-
versicherung dieser Legislaturperiode ein. Wenn wir die-
ses Reformprojekt abgeschlossen haben, dann – da bin ich
mir sicher – wird die Alterssicherung zukunftssicher, so-
zial und bezahlbar sein.


(Beifall bei der SPD)

Wir wählen den Einstieg bewusst für die Menschen,

die leistungsgemindert sind, die nicht in der Lage sind,
ihren Beruf auszuüben, die voll erwerbs- oder teiler-
werbsgemindert sind und die schwerbehindert sind; denn
sie haben als Erste Anspruch darauf, zu wissen, wie ihre
soziale Sicherung gestaltet wird. Bei den Schwerbehin-
derten und bei den Erwerbsgeminderten geht es allerdings
nicht nur um Rentenfragen. Deswegen werden wir auch
die Frage des Arbeitsmarktes parallel dazu für diese Men-
schen besser berücksichtigen.

Ich komme zuerst zu den Menschen, die aufgrund ih-
rer Leistungseinschränkungen teilweise oder ganz er-
werbsgemindert sind. Menschen, die aufgrund gesund-
heitlicher Einschränkungen nur noch weniger als drei
Stunden arbeiten können, erhalten nach diesem Gesetz
eine volle Erwerbsminderungsrente. Für die Menschen,
die aufgrund von Leistungsminderungen nur noch weni-
ger als sechs Stunden erwerbstätig sein können, wird er-
gänzend zum Einkommen eine halbe Erwerbsminde-
rungsrente gezahlt.

Was sehr wichtig ist: Wir berücksichtigen die tatsäch-
liche Situation am Arbeitsplatz. Heute ist es für viele die-

ser Menschen kaum möglich, bei Arbeitslosigkeit einen
Arbeitsplatz zu finden, auf dem sie ihr Restleistungsver-
mögen unterbringen können. Teilzeitarbeitsplätze sind
Mangelware. Teilzeitarbeitsplätze für Erwerbsgeminderte
sind kaum zu bekommen. Deswegen kündige ich, bevor
ich auf die Rentenfrage eingehe an, dass wir demnächst
eine breite Initiative zur Ausweitung von Teilzeitmöglich-
keiten im Bundestag anstoßen werden. Wir wollen einen
Rechtsanspruch für Menschen durchsetzen, eine Beschäf-
tigung auch in Teilzeitarbeit auszuüben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei aller notwendigen Disku ssion über die Gestaltung
unserer Alterssicherungssysteme und des Rentenversi-
cherungssystems: Die Problemlage ist breiter angelegt,
sie bezieht sich nicht nur auf die Rentenversicherung.

Entscheidend und neu ist aber: Wir wollen auf die
Menschen, die zwischen drei und sechs Stunden erwerbs-
fähig, aber arbeitslos sind, nicht die Bürde des Arbeits-
marktes abladen. Deswegen werden diese Menschen auch
zukünftig eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402700
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDS-
Fraktion?

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ja.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412402800
Herr Minister, vielen Dank,
dass Sie mir die Frage gestatten. Ihre Ausführungen be-
treffen genau das, was ich gerne wissen möchte. Können
Sie garantieren, dass Menschen, die erwerbsgemindert
sind und nach medizinischen Gesichtspunkten – das finde
ich nicht so gut, aber na gut – noch bis zu sechs Stunden
arbeiten können, solange sie keinen Arbeitsplatz haben,
die volle Erwerbsminderungsrente bekommen?

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich war gerade bei diesem Punkt, Herr
Seifert. Die Menschen, die sich in der von Ihnen be-
schriebenen Situation befinden, bekommen die volle Er-
werbsminderungsrente. Die finanziellen Lasten möchten
wir natürlich nicht bei der Rentenversicherung abladen.
Deswegen der zweite Schritt: Die arbeitsmarktbedingten
Mehrkosten der Rentenversicherung werden von der
Bundesanstalt für Arbeit erstattet. Wir möchten die Lasten
also nicht bei den Menschen abladen, sondern einen Las-
tenausgleich zwischen den Institutionen vornehmen.
Der sozialdemokratische Ansatz ist eine Erwerbsminde-
rungsrente, welche die konkrete Situation am Arbeits-
markt berücksichtigt.

Ich komme nun zur Frage der Schwerbehinderten.
Für viele schwerbehinderte, erwerbs- und berufsunfähige
Menschen ist es eine wichtige Botschaft, dass derjenige,
der mit Verabschiedung dieses Gesetzes das 50. Lebens-
jahr erreicht hat und bereits schwerbehindert ist, auch
zukünftig mit 60 Jahren seine Altersrente ohne Rentenab-
schläge bekommen wird. Das ist für viele Menschen, die




Präsident Wolfgang Thierse

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(B)


darum Sorge hatten, eine ganz wichtige und sehr gute Bot-
schaft.

Für die jüngeren Schwerbehinderten wird die Alters-
grenze für eine abschlagsfreie Rente auf 63 Jahre ange-
hoben. Gleichwohl wollen wir mit diesem Gesetz sicher-
stellen, dass Rentenabschläge höchstens bis zu drei Jahren
– mit 0,3 Prozent pro Monat – erfolgen. Wir werden mit
dem Gesetz für die Frühinvaliden ebenfalls sicherstellen,
dass die Jahre zwischen 55 und 60 so gewertet werden, als
wären die Menschen in Arbeit gewesen. Es ist ganz wich-
tig, dass auch in jungen Jahren vom Schicksal der Invali-
dität getroffene Menschen anschließend nicht mit unzu-
mutbaren Rentenabschlägen belastet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber auch dies ist nicht nur ein Problem der Renten-
versicherung. Wir haben deswegen in diesem Jahr ein Ge-
setz verabschiedet und in vielen Gesprächen mit der deut-
schen Wirtschaft, mit den Behindertenverbänden und den
Gewerkschaften eine Vereinbarung getroffen, die zum
Ziel hat, in zwei Jahren in der deutschen Wirtschaft
50 000 zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für
Schwerbehinderte zu eröffnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben zurzeit 178 000 arbeitslose schwerbehin-
derte Menschen. Diesen schwerbehinderten Menschen
müssen vorrangig am ersten Arbeitsmarkt Beschäftigung,
Arbeit, Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Wenn das
nicht gelingt, muss über das Rentenrecht sichergestellt
werden, dass ein Vertrauensschutz für die jetzt 50-jähri-
gen und Älteren besteht und die anderen eine Rente be-
kommen, die eben nicht harte Einschnitte mit sich bringt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt ist der Berufsschutz im Renten-
recht. Es ist natürlich richtig, dass der Berufsschutz im
Rentenrecht Probleme aufwirft, wenn er von Nichtfach-
kräften finanziert werden muss. Ich halte es aber für
falsch, wenn dieser Berufsschutz und damit die Berufs-
unfähigkeitsrente fallbeilartig ausgesetzt wird. Aus die-
sem Grund werden wir sicherstellen, dass 40-jährige und
Ältere auch weiterhin einen Berufsschutz haben und da-
mit eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten können.

Das sind die drei großen Komplexe, die wir für Berufs-
und Erwerbsunfähige und für Schwerbehinderte regeln.
Das ist der von uns gewählte Einstieg in eine Rentenre-
form, die vom Menschen ausgeht.

Wir möchten nicht nur abstrakt sicherstellen, dass die
Alterssicherung zukunftssicher, sozial und bezahlbar ist.
Wir wollen die Alterssicherung an die konkreten Lebens-
lagen der Menschen anlehnen. Das bedeutet, dass wir die
Situation der jetzigen Rentner und rentennahe Jahrgänge
bei der Rentenreform insofern berücksichtigen, als ihr
Rentenniveau stabil bleibt. Das bedeutet, dass wir den
Jüngeren, auch denjenigen, die geringe oder mittlere Ver-
dienste haben, insbesondere aber denjenigen, die Kinder
haben, die Chance geben, eine ergänzende Altersversor-

gung aufzubauen. Es ist vorgesehen, ihnen dafür über Zu-
lagen erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie wer-
den – voll ausgeschöpft – pro Person einen Grundbetrag
von 300 DM, für Verheiratete insgesamt 600 DM und zu-
sätzlich pro Kind 360 DM umfassen. Das ist ein hervor-
ragendes Vermögensprogramm zur Altersvorsorge, das
die Menschen mit den kleinen und mittleren Einkommen
sowie Familien mit Kindern vorrangig berücksichtigt und
sie erstmals in die Lage versetzt, eine ergänzende Alters-
vorsorge zu betreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit schließt sich der Kreis der Altersvorsorge zu einer
Gesamtversorgung, von der wir davon ausgehen können,
dass sie bei normalen Erwerbsverläufen zu einer den Le-
bensstandard sichernden Altersvorsorge führt.

Nächster Punkt: Wir gehen bei der Rentenreform von
den Menschen aus und berücksichtigen, dass die Men-
schen in zunehmendem Maße ihre Erwerbstätigkeit durch
Phasen von Nicht- oder Teilzeitbeschäftigung unterbre-
chen, was sich rentenmindernd auswirkt. Das betrifft vor
allem Frauen. Deswegen wollen wir zukünftig sicherstel-
len, dass nicht nur die Zeiten der Kindererziehung in der
Rentenversicherung voll gewertet werden, sondern dass
bei der Verbindung von Kinderbetreuung und Erwerbs-
tätigkeit in den ersten zehn Lebensjahren des Kindes die
Erwerbstätigkeit rentenrechtlich um rund 50 Prozent
höher gewertet wird, und zwar bis zum Durchschnittsver-
dienst des jeweiligen Jahres. Das ist eine ganz deutliche
rentenrechtliche Verbesserung der Situation derer, die
Kindererziehung mit Erwerbstätigkeit verbinden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt aber auch Situationen, in denen Kindererzie-
hung nicht immer mit einer Erwerbstätigkeit verbunden
werden kann. Das gilt insbesondere für diejenigen, die
zwei oder mehr Kinder erziehen, sowie für diejenigen, die
behinderte Kinder erziehen. Deswegen werden wir vorse-
hen, dass bei denjenigen, die zwei oder mehr Kinder er-
ziehen und deswegen eine Erwerbstätigkeit nicht ausüben
können, die im Prinzip gleiche rentenrechtliche Höherbe-
wertung erfolgt. Bei denjenigen, die die schwierige Auf-
gabe der Betreuung und Erziehung behinderter Kinder
übernehmen, werden wir die Zeiten bis zum 18. Lebens-
jahr des jeweiligen Kindes rentenrechtlich höher bewer-
ten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Das sind Ansätze einer Rentenreform, die von der Si-
tuation des Menschen ausgeht, die den zunehmenden Un-
terbrechungen im Arbeitsleben gerecht wird und die ins-
besondere das würdigt, was Menschen durch die
Erziehung von Kindern sowie die Unterstützung und Er-
ziehung behinderter Kinder leisten. Wir wollen aber auch
berücksichtigen, dass es vielen jungen Menschen bei Be-
ginn ihrer Erwerbstätigkeit aus unterschiedlichen Grün-
den nicht möglich war, frühzeitig eine rentenversiche-
rungspflichtige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Des-




Bundesminister Walter Riester
11856


(C)



(D)



(A)



(B)


wegen werden wir diese Zeiten entsprechend berücksich-
tigen und sie so in den späteren Rentenanspruch einrech-
nen. Wir machen also heute den Einstieg bei der Renten-
reform für Menschen, die aufgrund ihrer Leistungs-
einschränkungen ihren Beruf nicht mehr ausüben können,
die teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, sowie für
schwerbehinderte Menschen. Wir werden für sie das Ren-
tenrecht so gestalten, dass ihre konkrete Situation und ihre
Möglichkeiten am Arbeitsmarkt berücksichtigt werden,
dass aber gleichzeitig eine Verschiebung der Lasten von
der Bundesanstalt für Arbeit zur Rentenversicherung
nicht erfolgt. Das ist ein Ansatz, der die Bedürfnisse der
Menschen aufnimmt und ihnen gerecht wird, gleichzeitig
aber auch stabile Verhältnisse in der Rentenversicherung
ermöglicht.

Ich denke, der Einstieg in diesen Bereich eignet sich in
besonderem Maße zu einem parteiübergreifenden Kon-
sens. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Einstieg
auch als ein unstrittiger Einstieg für Menschen, die unse-
rer Unterstützung in besonderem Maße bedürfen, er-
folgte. Ich möchte die Opposition gerne einladen, diesem
Gesetz zuzustimmen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412402900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1412403000
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Mor-
gen den Regierungsentwurf zur Neuregelung der Er-
werbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Wir sind damit, so
finde ich, an einem sehr sensiblen Punkt der Rentenversi-
cherung; denn in dem Bereich geht es darum, Menschen
vor unabwägbaren Lebensschicksalen zu schützen, auf
die keiner von uns einen Einfluss hat. Deswegen ist es
richtig, dass eine solche Debatte an der Sache orientiert
geführt wird. Sie eignet sich überhaupt nicht dazu, dass
von verantwortungsbewussten Politikern Angst geschürt
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber klatschen Sie von der SPD nicht zu früh! Alles hat
eine Geschichte.

Der Regierungsvorschlag, den Herr Riester gerade vor-
gestellt hat, fußt natürlich in ganz wesentlichen Teilen auf
der blümschen Rentenreform.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Deswegen gibt es auch viele Punkte, denen wir zustim-
men werden. Aber ich kann nicht verstehen, dass wir
Christdemokraten im Jahre 1998 von der SPD fast ge-
lyncht worden sind,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


weil wir das Alter, ab dem man als Schwerbehinderter in
Rente gehen kann, von 60 auf 63 Jahre angehoben haben.
Sie haben damals in der Debatte draußen beim VDR und
in vielen Versammlungen Angst geschürt. Jetzt schlagen
Sie es selber vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann nur sagen: Die SPD ist in der Wirklichkeit ange-
kommen. Gut so!

Nächster Punkt. Wir haben damals vorgeschlagen, eine
Teilerwerbsminderungsrente einzuführen; ich nenne dazu
die Zahlen drei und sechs Stunden. Diese Zahlen finde ich
jetzt im riesterschen Entwurf wieder.


(Walter Riester, Bundesminister: Ist doch in Ordnung!)


Damals haben Sie gesagt, es müssten vier und sieben
Stunden sein, alles andere sei nicht akzeptabel. Auch da
haben Sie Angst geschürt und haben dieses Thema im
Wahlkampf in unverantwortlicher Weise gegen die dama-
lige Regierung und die damalige Sozialpolitik instrumen-
talisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Natürlich gebe ich zu, dass Sie mit der Einführung

der arbeitsmarktbedingten Erwerbsminderungsrente
oder mit der Beibehaltung der konkreten Betrach-
tungsweise eine richtige Entscheidung treffen. Sie ist im
jetzigen Arbeitsmarkt gerade für Gehandicapte unabding-
bar notwendig.


(Klaus Brandner [SPD]: Aber darum ging es doch gerade!)


Deswegen sage ich Ihnen zu, dass wir dieses Gesetz so-
wohl in der Anhörung am kommenden Freitag wie auch
in den weiteren Ausschussberatungen konstruktiv beglei-
ten werden. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir in
dieser Frage der Politik auch im Deutschen Bundestag
zwischen CDU/CSU und SPD einen Konsens erzielen
können.

Man sollte daraus aber nicht sofort auf die ganze Ren-
tenreform schließen. In anderen Bereichen gibt es nach
wie vor große Unterschiede. Herr Riester, wenn Sie eine
Rentenreform im Gesamtpaket mit den Stimmen der
CDU/CSU verabschieden wollen, werden Sie nicht um-
hinkommen, von Ihren jetzigen Anpassungsfaktoren Ab-
stand zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann dazu nur Herrn Ruland zitieren, der gesagt hat:
„Er gleicht nichts aus, er kürzt.“

Im Übrigen ist ein Bestandteil Ihrer Rentenpolitik in
den zwei Jahren, in denen Sie die Verantwortung getragen
haben, dass vieles nicht systematisch ist. Sie nehmen ir-
gendwo Zahlen her und passen danach dann etwas an.


(Zuruf von der CDU/CSU: Willkür!)

Zwei Millionen Einsprüche gegen die Rentenanpassung
in diesem Jahr sind der schlagende Beweis dafür, dass
auch der letzte Rentner im Land gemerkt hat, dass die
Rentenerhöhung in diesem Jahr mit Systematik, mit




Bundesminister Walter Riester

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(C)



(D)



(A)



(B)


begründbaren Grundregeln und mit klaren, verlässlichen
Spielregeln nun gar nichts zu tun gehabt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir eine neue Rentenformel für die Rentenan-

passung einführen wollen, dann müssen wir darauf ach-
ten, dass sie nachvollziehbar ist. Es darf keine aus der Luft
gegriffene Zahl wie 0,3 Prozent sein.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nach riesterschem Wohlgefallen!)


Wir müssen auch an die Generationengerechtigkeit
denken, also daran, dass die Lasten nicht nur von den in
die Rentenversicherung Einzahlenden getragen werden
können. Wenn die Lasten auf mehrere verteilt werden,
dann hätte das den Vorteil, dass die Abschläge niedriger
ausfallen und dass das Rentenniveau am Ende sogar höher
wäre.

Damit bin ich bei einem weiteren Punkt angekommen,
der für eine Rentenreform, über die im Parlament im Kon-
sens entschieden werden soll, auch wichtig ist. Stellt euch
vor: Wir haben im Parlament Konsens, aber in der Ge-
sellschaft gibt es keinen Konsens. Das würden wir alle
nicht aushalten! Deswegen mache ich mir Sorgen, wenn
die Regierung – wie in jüngster Zeit – mit vielen kon-
struktiven Vorschlägen unsensibel umgeht.

Zur riesterschen Rentenpolitik gehört auch die Ent-
scheidung, dass Arbeitslosenhilfebezieher Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherung
leisten müssen. Dadurch wird in Zukunft Altersarmut pro-
duziert.


(Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD])

– Als Kommunalpolitiker muss ich Ihnen, Herr Dreßen,
sagen: Mit der Grundsicherung, durch die Sie den Bun-
deshaushalt entlasten, verschieben Sie die Lasten der Al-
tersarmut in die Kassen der Kommunen, mit denen diese
15 Jahre später fertig werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Darüber sollten Sie einmal mit Ihren Gemeinderäten spre-
chen. Die Gemeinden sind nicht in der Lage, wieder ein
neues, allgemeines Risiko zu übernehmen. Deswegen
werden wir auch über diese Frage miteinander reden müs-
sen, wenn wir in der Rentenpolitik einen Konsens erzie-
len wollen.

Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Berufs- und
Erwerbsunfähigkeitsrenten zurückkommen. Ich wünsche
mir, dass auch die Kolleginnen und Kollegen des Hohen
Hauses die Anhörungen und die Beratungen im Aus-
schuss verfolgen, die immer meinen, die Rentenversi-
cherung sei etwas Altmodisches und alles, was mit der
Privatversicherung zu tun hat, sei etwas Gutes. Ich bin
mir ganz sicher, dass die Debatte, die wir in den nächsten
Wochen über diesen Punkt der Reform führen werden,
und dass der große Sachverstand, den wir dazu befragen
werden, klar zutage fördern werden, dass es zur Absiche-
rung breiter Schichten eines Volkes gegen große Risiken
und zu einer solidarischen, umlagefinanzierten Sozialver-
sicherung keine Alternative gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin gespannt, wie sich die Lebensversicherer sowie
die Vertreter der Banken, der Investmentfonds und der
Kapitalfonds in dieser Debatte einlassen werden, zu wel-
chen Konditionen sie bereit sind, EU- und BU-Probleme
abzusichern. Ich freue mich auch auf diese Debatte, weil
ich zu den Politikern in diesem Hause gehöre, die zutiefst
davon überzeugt sind, dass die deutsche Sozialversiche-
rung nichts Altmodisches ist und dass sie dem Grundge-
danken der Solidarität folgen muss, auf den auch noch, so
hoffe ich, meine Kinder in ihrem Leben vertrauen können.
Ich lade vor allen Dingen die so genannten Ord-
nungspolitiker ein, die Debatte, die wir in den nächsten
zwei Wochen unter Fachleuten führen werden, einmal in
Ruhe zu verfolgen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412403100
Ich erteile das Wort
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

mit der heutigen Diskussion über die Reform der Erwerbs-
unfähigkeitsrenten in die Debatte über die große Renten-
reform ein. Wir tun das sicherlich – das wurde schon ge-
sagt – mit sehr viel Konsens und wenig Verunsicherung.
Ich finde, wir sollten die alten Schlachten, für die ich
durchaus Verständnis gehabt habe, geschlagen sein lassen
und in dieser Debatte damit beginnen, gemeinsam über
das zu reden, was wir wirklich wollen. Wir sollten nicht
mehr über das reden, was irgendwann einmal gewesen ist.

Ich möchte zwar nicht das wiederholen, was hier schon
inhaltlich zu den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten
gesagt worden ist. Aber ich möchte zwei Dinge heraus-
greifen, die uns besonders wichtig sind:

Der eine Punkt bezieht sich auf die Frage der Einbe-
ziehung der Arbeitsmarktlage.Hier gab es vielleicht nur
einen Dissens. Solange die Arbeitsmarktlage nicht so ist,
wie wir uns das alle wünschen, können wir denje-
nigen, die für ihre Situation nichts können – Herr
Laumann hat es gerade erwähnt – und die sich auf diese
Situation nicht vorbereiten konnten, nicht zumuten, einer
verminderten Versorgung ausgesetzt zu sein. Wir finden
es daher besonders wichtig, dass die Arbeitsmarktlage
berücksichtigt wird.

Der andere Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht
sich auf die Berufsunfähigkeitsrente, die wir in dieser
Form nicht mehr weiterführen wollen. Aus unserer Sicht
waren dies Prestigerenten, die besonders Akademiker und
Akademikerinnen bevorteilt haben. Ich finde es richtig,
dass die Erwerbsunfähigkeitsrente besteht; das hat auch
der Bundesrechnungshof gesagt. Es kann aber im solida-




Karl-Josef Laumann
11858


(C)



(D)



(A)



(B)


rischen System nicht weiter für jemanden gesorgt werden,
der berufsunfähig wird.

Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der ganz
zentraler Bestandteil dieser Debatte ist. Wir müssen uns
darüber verständigen, was das eigentlich kostet. Wenn
wir heute eine Reform diskutieren wollen, die 0,1 oder
0,2 Beitragspunkte ausmacht, dann müssen wir das in
dem Gesamtkonzept der Rentenreform berücksichtigen,
weil wir es nicht hinnehmen können – das ist der erklärte
Wille der Regierung und ihrer Koalition –, dass wir im
Vorfeld Dinge beschließen, die wir nicht bezahlen kön-
nen. Deswegen geht dieser Teil der Reform auch hin-
sichtlich der Kosten in die Gesamtreform ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Laumann, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte noch einmal auf drei Punkte eingehen, die wir in
Bezug auf die Reform diskutieren wollen.

Der erste Punkt betrifft die Frage der Generationen-
gerechtigkeit. Ich sehe ein, dass wir ein System gefunden
haben – das war sicherlich nicht leicht –, das auf den ers-
ten Blick so aussieht, als würden alle gleich behandelt.
Aber die Belastungen, die zum einen durch die Demogra-
phie und zum anderen durch andere Lebensrealitäten ent-
standen sind, sind nicht gleich. Deswegen haben wir ge-
sagt: Wir schaffen einen so genannten doppelten
Generationenfaktor. Dies bedeutet, dass jede Generation
nach ihren Möglichkeiten zu dieser Reform beiträgt. Was
sind diese Möglichkeiten? Die heute Älteren tragen dazu
über die modifizierte Nettoanpassung bei. Ich glaube, das
ist gerechtfertigt. Etwas Ähnliches hatten Sie mit dem de-
mographischen Faktor vorgeschlagen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist bei Ihnen willkürlich!)


– Das ist überhaupt nicht willkürlich. Wir legen hier etwas
sehr Reales zugrunde. Von der Union habe ich gehört,
dass sie der Meinung ist, dass wir eine private oder be-
triebliche Zusatzvorsorge brauchen; bei Ihnen hat es sich
eben etwas anders angehört. Das bedeutet, dass das Geld,
das die Leute für diese Vorsorge benötigen, ihnen netto
nicht zur Verfügung steht. Deswegen ist es richtig zu sa-
gen, dass das bei der Rentenanpassung nicht berücksich-
tigt wird. Das ist der Beitrag der älteren Generation und er
ist bei weitem nicht geringer als der Beitrag der jungen
Generation. Eine Reform einseitig zulasten der jüngeren
Generation wäre mit uns, Bündnis 90/Die Grünen, nicht
zu machen gewesen.

Lassen Sie mich etwas zum Beitrag der jüngeren Ge-
neration sagen. Die jüngere Generation hat über einen
Ausgleichsfaktor, einen Generationenfaktor, ein sinken-
des Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung
hinzunehmen. Auch das finde ich richtig, weil es möglich
ist, private Vorsorge zu treffen. Es ist aber nicht so – das
will ich in aller Klarheit sagen –, dass die Bundesregie-
rung die private oder betriebliche Vorsorge einführt. Das
entspricht nicht der Realität. Was machen wir? Wir er-
möglichen denjenigen, die es sich bis jetzt leisten konn-
ten, weil sie zu geringe Einkommen haben, zusätzlich

eine private Vorsorge zu treffen. Das ist gerade für die Be-
zieher niedriger Einkommen auch nur gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich nun etwas zur Belastung sagen: Wir
können die Beiträge für die gesetzliche Rentenversiche-
rung nicht in die Höhe schnellen lassen. Wir haben uns
hinsichtlich der Beiträge festgelegt, übrigens fast gemein-
sam, denn die 20 und 22 Prozent, die in Rede stehen, wer-
den, soweit ich sehe, von Ihnen nicht grundsätzlich be-
stritten.

Was kommt dann an zusätzlicher Belastung? Zunächst
kommt eine zusätzliche Belastung für die private Vor-
sorge, die wir einführen wollen. Wir wollen sie nicht er-
zwingen, aber wir empfehlen sie. Diese zusätzliche Be-
lastung beträgt allerdings nicht 4 Prozent. 4 Prozent sind
das, was für jeden angelegt werden soll. Durch die staat-
lichen Hilfen, die Steuererleichterungen oder direkten Zu-
schüsse, geben wir Erhebliches hinzu. Das heißt, der oder
die Einzelne muss nicht 4 Prozent beitragen, sondern we-
niger. Wer ein geringes Einkommen bezieht, muss bei-
spielsweise nur 1 Prozent beitragen. Das ist ein richtig
gutes Angebot und ermöglicht den Menschen mit gerin-
gem Einkommen, in eine Zusatzvorsorge einzuzahlen –
heute können es viele noch nicht –, sodass ihr Lebens-
standard im Alter gesichert ist. Das ist das Entscheidende,
das wir wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nun noch zur Frage des sozialen Ausgleichs: Sie ha-
ben die Hinterbliebenenversorgung angesprochen und da-
bei auf die Frage der Kinder abgehoben. Mit unserer Re-
form sind wir sehr differenziert auf die neuen
Lebensrealitäten von Familien eingegangen, indem wir
Menschen, die Kinder erziehen, in der Rentenversiche-
rung besonders unterstützen. Deswegen werten wir die
Rentenbeiträge aus Teilzeitarbeit bei Kindererziehung
auf, deswegen machen wir etwas bei den Kindererzie-
hungszeiten und deswegen haben wir die Steuererleichte-
rungen und Zuschüsse für die private Vorsorge stark an
die Kindererziehung gekoppelt. Sie von der CDU/CSU
haben das auch gewollt; ich glaube, wir sind uns hier in-
haltlich sehr nahe gekommen. Wenn wir der Auffassung
sind, dass die Erziehung von Kindern für die gesamte Ge-
sellschaft wichtig ist, dann muss sich das natürlich in ei-
nem Sozialversicherungssystem widerspiegeln. Wir ha-
ben das in einer Art und Weise gemacht, die der Realität
entspricht, dass Frauen heute berufstätig sind und Kinder
haben.

Des Weiteren ändert sich für diejenigen nichts, die
heute kurz vor der Rente stehen oder in Rente sind und auf
Hinterbliebenenversorgung angewiesen sind, weil ihre
Lebensrealität so aussah, dass sie vor allen Dingen Kin-
der erzogen und weniger im Beruf gearbeitet haben. Auch
das ist aus meiner Sicht gerechtfertigt.

Nun komme ich zur Frage der Altersarmut. Herr
Laumann, wenn Sie sich ansehen, wie im Rahmen dieser
Reform gerade die Verbindung von Familie und Beruf,
über die ich eben gesprochen habe, aufgewertet wird,




Katrin Göring-Eckardt

11859


(C)



(D)



(A)



(B)


dann können Sie realistischerweise nicht mehr davon
sprechen, dass hier Altersarmut produziert werde.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Doch!)

– Nein, wird sie nicht, weil wir nämlich nicht mehr allein
auf Beitragsjahre setzen, sondern einen Ausgleich für Fa-
milienarbeit schaffen, der insbesondere Frauen zugute
kommen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Daher ist aus meiner Sicht – das will ich hier klar sa-
gen; in den Fachdiskussionen hören wir das auch immer
wieder – die ideologisierte Debatte um das Rentenniveau,
die ich aus historischen Gründen ja verstehen kann, heute
eine falsche Debatte.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Damit habt ihr einen Wahlkampf geführt!)


– Damit haben wir keinen Wahlkampf geführt.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Mit denen, die das gemacht haben, paktieren Sie jetzt herum!)


Hinsichtlich der verschämten Altersarmut wird Ihre
Einlassung aus der Sicht eines Kommunalpolitikers den
Menschen nicht gerecht.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Doch!)

Man darf hier nicht nur die Kasse der Kommunen, son-
dern muss auch die Menschen sehen, die nicht in An-
spruch nehmen, was ihnen zusteht. Ich finde es richtig,
dass alte Menschen unabhängig vom Geldbeutel ihrer
Kinder das Recht auf eine Versorgung haben, die ihnen
ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Daher kann ich Sie nur herzlich bitten, diese Frage noch
einmal zu überdenken. Es geht ja nicht darum, dass diese
Menschen mehr als etwa Familien bekommen sollen, die
von Sozialhilfe abhängen. Aber es muss Schluss damit
sein, dass sich viele Menschen, insbesondere ältere
Frauen, nicht trauen, zum Sozialamt zu gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zum Schluss möchte ich auf die Frage des Konsenses
zurückkommen. Die Angelegenheit hat inzwischen eine
lange Geschichte. Wir hatten viele Verhandlungsrunden.
Manchmal frage ich mich schon, was eigentlich hinter Ih-
rer Strategie steht. Alle sagen immer wieder, der Konsens
sei richtig. Auch ich halte ihn nach wie vor für zentral. Ich
tue das nicht, weil es dann leichter wird, sondern weil die
Menschen das Vertrauen in die Politik brauchen, dass der
auf einen Zeitraum von 30 Jahren ausgerichtete Blick
ernst genommen und die gemeinsame Verabredung ein-
gehalten wird.

Ich fordere Sie auf, in dieses Reformwerk zu schauen
und festzustellen, wie viel von dem, was Sie vorgeschla-
gen und unterstützt haben, in ihm enthalten ist. Sie wer-
den verstehen, dass wir keine Rentenreform durchführen

werden, die nur aus solchen Punkten besteht, die für die
Union wichtig sind.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das verstehe ich!)


– Das finde ich gut. – Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-
men, dass wir uns an sehr vielen Punkten einig sind und
dass wir Ihnen an sehr vielen Punkten entgegengekom-
men sind. Ziehen Sie dann bitte einen Schlussstrich. Zwar
kann man immer wieder neue Forderungen stellen und
sagen: „Wir möchten das noch ein bisschen anders ge-
stalten“ – wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit –, aber
wir sind grundsätzlich nicht dazu bereit, wieder so zu tun,
als ob man mit weniger Beiträgen mehr Rente erreichen
könnte; in der Diskussion tut man manchmal so, als ob das
möglich wäre.

Wir sind ausschließlich zu einer Rentenreform bereit,
die die Situation der verschiedenen Generationen nicht
nur berücksichtigt, sondern auch dafür sorgt, dass es eine
neue Gerechtigkeit zwischen den Generationen gibt.
Dazu gehören der Blick auf die 30 Jahre, die Beitragssta-
bilität, soweit sie angesichts der demographischen Ent-
wicklung zu gewährleisten ist, und der soziale Ausgleich.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Ich bitte Sie: Ziehen Sie einen Schlussstrich und kom-

men Sie an den Verhandlungstisch! Führen Sie mit uns ge-
meinsam eine mutige und ehrliche Reform durch, mit der
in aller Klarheit die Realitäten zum Ausdruck gebracht
werden!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412403200
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1412403300
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der größte Teil des-
sen, womit sich die Redner heute beschäftigen, ist im
vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht enthalten. Heute
geschieht in der Tat das, was wir mit den Rentenkon-
sensgesprächen eigentlich vermeiden wollten: eine Ren-
tenreform als Stückwerk.

Dafür tragen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU – das muss ich leider sagen –, nicht unerheblich
Verantwortung, weil Sie sich über Monate nicht einigen
konnten, was Sie eigentlich wollen sollten. Auch die Rede
von Herrn Laumann hat heute wieder klargemacht, dass
Sie bereit sind, ständig Forderungen – versetzt mit
gehöriger Polemik – nachzuschieben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wenn Sie einen Rentenbeitrag von 80 Prozent wollen, dann sind Sie nicht qualifiziert für diese Debatte!)


Wir können uns lange darüber unterhalten, wie Alters-
armut zu definieren ist; aber über eines sollten wir uns
doch nun wirklich nicht mehr streiten: Das Ziel dessen,




Katrin Göring-Eckardt
11860


(C)



(D)



(A)



(B)


was wir bisher diskutiert haben, ist, dass der Lebensstan-
dard im Alter nicht mehr allein durch die gesetzliche
Rentenversicherung gedeckt wird, weil sie es nicht mehr
leisten kann; vielmehr muss durch den Aufbau einer pri-
vaten Altersvorsorge mit ausreichender Förderung durch
den Staat und durch die betriebliche Altersvorsorge ein
Betrag erwirtschaftet werden, durch den der Lebensstan-
dard im Alter gesichert wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn Sie sagen, dass das nicht geht, dann entgegne ich
Ihnen: Schon in den bisherigen Konsensgesprächen ha-
ben wir etwas anderes errechnet und außerdem werden
wir uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch da-
rüber unterhalten.

Herr Riester, auch Sie tragen ein bisschen die Verant-
wortung dafür, dass wir heute den Gesamtentwurf der
Rentenreform noch nicht debattieren können. Sie haben
sich offensichtlich etwas zu oft mit Herrn Seehofer unter
vier Augen unterhalten und das geglaubt, wovon er be-
hauptet hat, dass er es in seiner Fraktion durchsetzen
könne. Das war anscheinend nicht der Fall. Merke also:
Wer parlamentarische Verfahren durch die Absprachen
zwischen zwei Verhandlungsführern ersetzen will, der er-
leidet Schiffbruch.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber es ist auch ganz gut, wenn wir die Rentenversicherung vor der F.D.P. schützen!)


Nun wird uns der Hauptteil der Rentenreform frühes-
tens im November vorliegen, da er noch nicht einmal vom
Kabinett beschlossen worden ist. Die Position der F.D.P.
für diesen Entwurf und für die weiteren Beratungen ist
ganz klar.
Der Beitragssatz, der von Ihnen, Herr Riester, vorgese-
hen ist – dagegen habe ich noch keinen Widerspruch der
CDU/CSU gehört –, ist für uns nicht akzeptabel, nämlich
insgesamt 26 Prozent im Jahre 2030:


(Beifall bei der F.D.P. – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: 24 Prozent!)


22 Prozent in der gesetzlichen Rentenversicherung und
4 Prozent für die private Versicherung. Dies ist ein klarer
Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir werden im weiteren Gesetzgebungsverfahren versu-
chen, Sie davon zu überzeugen.

Wir wollen auch, dass wieder ein Demographiefaktor
eingeführt wird. Wir halten ihn nämlich für besser und ge-
rechter als das, was jetzt vorgesehen ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das können Sie nachlesen, das steht schon in vielen

von mir gehaltenen Reden. Außerdem wollen wir, dass
der Katalog von Anlagemöglichkeiten zur privaten Vor-
sorge erweitert wird.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jetzt ist die Kurve genommen!)


Dieser ist derzeit viel zu eng gefasst. Auf jeden Fall muss
auch das selbst genutzte Eigenheim als Vorsorgemöglich-
keit berücksichtigt werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Immerhin bietet ein selbst genutztes Eigenheim nach heu-
tigen Werten eine Ersparnis von durchschnittlich 740 DM
monatlich an nicht zu zahlender Miete.

Heute aber, meine Damen und Herren, geht es um den
Entwurf des Gesetzes zur Reform der Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit. Damit dieser Teil am
1. Januar 2001 in Kraft treten kann, wird die F.D.P. an dem
Gesetzgebungsverfahren, bei dem uns die Regierung
unter sehr großen zeitlichen Druck setzt, konstruktiv mit-
arbeiten. Im Prinzip sind wir bereit, diesem Gesetz zuzu-
stimmen, weil sowieso das meiste aus dem Rentenre-
formgesetz 1999, das die alte Koalition vorgelegt und
beschlossen hatte, übernommen worden ist. Da aber die
jetzt neu aufgenommenen Regelungen mehr Kosten bei
der Rentenversicherung verursachen, werden wir speziell
diese Aspekte im Gesetzgebungsverfahren noch einmal
prüfen müssen.

Lassen Sie mich festhalten, was aus dem alten Gesetz
übernommen worden ist:

Erstens das so genannte Stufenmodell: Es soll die bis-
her geltende Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente durch
eine zweistufige Rente bei verminderter Erwerbsfähigkeit
ersetzt werden, nämlich volle Rente für Behinderte, die
ein Restleistungsvermögen von weniger als drei Arbeits-
stunden pro Tag haben, und halbe Erwerbsunfähigkeits-
rente bei einem Restleistungsvermögen von drei bis unter
sechs Stunden. Gleichzeitig entfällt die Rente für diejeni-
gen, die noch mehr als sechs Stunden arbeiten können.

Zweitens ist der Rentenabschlag von maximal
10,8 Prozent bei vorzeitigem Rentenbezug übernommen
worden.

Drittens wurde die stufenweise Anhebung der ab-
schlagsfreien Altersgrenze für Schwerbehinderte vom 60.
auf das 63. Lebensjahr übernommen.

Es ist schon richtig, dass Sie die Wahl 1998 in nicht
unerheblichem Maße durch Polemik gegen diese Rege-
lungen gewonnen haben. Jetzt sind Sie in der Realität an-
gekommen. Das begrüßen wir. Deswegen kann ich fest-
halten: Offensichtlich waren auch unsere damaligen
Überlegungen nicht völlig falsch.

Im Gesetzgebungsverfahren müssen wir noch zwei
Dinge prüfen, nämlich die Verschiebung der Lasten von
der Bundesanstalt für Arbeit auf die Rentenversicherung
und die Vertrauensschutzregelung.

Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen, dass wir es
begrüßen, dass nur noch Selbstständige den Anspruch
auf eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das war ein CDU-Vorschlag!)


Ich möchte auch noch den Hinweis anschließen, dass
es nun umso wichtiger wird, sich zu überlegen, wie man
sich anderweitig, als es bisher der Fall war, gegen das




Dr. Irmgard Schwaetzer

11861


(C)



(D)



(A)



(B)


Risiko der Berufsunfähigkeit absichern kann, um zum
Beispiel die eigene Familie zu schützen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412403400
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert für die PDS-Frak-
tion.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412403500
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! In Anbetracht der Tatsache, dass heute ei-
gentlich nur die Erwerbsminderungsrente auf der
Tagesordnung steht – Frau Kollegin Schwaetzer wies
schon darauf hin –, muss man sagen, dass wir eine ziem-
lich breite Debatte über die Rentenreform haben. Leider
gibt es dazu im Parlament keine einzige Vorlage. Refe-
rentenentwürfe und sonstige Papiere schwirren zwar so-
zusagen in der Gegend herum,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Noch nicht einmal Referentenentwürfe!)


aber es sind keine Vorlagen für das Parlament. Eines lässt
sich aber heute schon sagen: Die privaten Rentenversi-
cherungsträger reiben sich bereits jetzt die Hände, weil
bei ihnen die Kassen klingeln. Frau Schwaetzer, Ihr letz-
ter Werbeblock hat sicherlich dazu beigetragen.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, über

das wir heute reden wollen! Ich habe hier in der Debatte
aus der Rede des Ministers immerhin gelernt, dass die Re-
gierung durchaus gewillt ist, bestimmte Aspekte eines
Leistungsgesetzes – sie nennt es nur nicht so – einzu-
führen. Wir finden es gut, dass sich, wie Sie sagen, die In-
stitutionen, aber nicht die Menschen streiten sollen und
dass es leistungsrechtliche Dimensionen gibt.

Trotzdem müssen wir einmal Klartext reden und sagen,
worum es eigentlich geht. Sie versuchen, das Rentenre-
formgesetz der alten CDU/CSU- und F.D.P.-geführten
Regierung in einer leicht abgewandelten Form einzu-
führen. Deswegen wundert es mich nicht, dass die F.D.P.
zustimmen will.

Die einzige wirklich sichtbare Veränderung ist, dass
Sie eine konkrete Betrachtungsweise in Bezug auf die
theoretisch mögliche Arbeitszeit von drei bis sechs Stun-
den einführen wollen. Das heißt: Wenn man keine Arbeit
hat, bekommt man trotzdem die volle Erwerbsminde-
rungsrente. Das ist sehr positiv – keine Frage. Aber was
ist denn mit denjenigen, die in Zukunft in diese Situation
kommen? Für diese Menschen wird es wesentlich schwie-
riger. Ihre konkrete Betrachtungsweise ist für die unter
40-Jährigen, für die es keinen Bestandschutz gibt, we-
sentlich weniger wirkungsvoll.

Sie schaffen die Berufsunfähigkeitsrente ab und Frau
Göring-Eckardt bemerkt dazu, dass das nur den Akade-
mikern helfen würde. Wo, bitte schön, sind wir denn hin-
gekommen, wenn erworbene Qualifikationen und erwor-
bene Fähigkeiten in diesem Land der Facharbeiterinnen

und Facharbeiter nichts mehr wert sind? Wo kommen wir
denn da hin?


(Beifall bei der PDS)

Wenn jemand – beispielsweise ein Bergarbeiter, ein
Bäcker oder eine hoch qualifizierte Sekretärin – einen Un-
fall hat, berufsunfähig wird und anschließend diesen Be-
ruf nicht mehr ausüben kann: Wollen Sie allen Ernstes,
dass diese Menschen von vornherein zur Aufnahme einer
Tätigkeit mit geringerer Qualifikation gezwungen wer-
den? Oder wollen Sie, dass diese Menschen in einem an-
deren Beruf eine Tätigkeit mit derselben Qualifikation
ausüben können? Die Menschen sind dazu fähig. Hem-
men Sie sie also nicht, indem Sie ihnen die Möglichkeit
nehmen, gemäß ihrer Qualifikation beruflich tätig zu sein!

Besonders „originell“ ist Ihr Argument von der sozia-
len Symmetrie, die Sie einführen wollen, indem Sie das
Alter für den Eintritt in die Altersrente für schwerbe-
hinderte Menschen von 60 auf 63 Jahre erhöhen. Was
soll denn das? Jeder, der sich im Lande ein bisschen um-
schaut, weiß, dass Frauen und Männer, die berufs- oder
erwerbsunfähig oder die – wenn man dieses Wort benut-
zen darf – Invalide sind, in einem wesentlich jüngeren Al-
ter in Rente gehen, nämlich zwischen 51 und 53 Jahren.

Jetzt wollen Sie das Renteneintrittsalter mit dem Argu-
ment von der „sozialen Symmetrie“ erhöhen. Das ist
doch – Entschuldigung, dass ich dieses harte Wort benut-
zen muss – menschenverachtend; denn die soziale Sym-
metrie ist bei der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten
auch nicht gegeben. Alle die Maßnahmen, die Sie, Herr
Minister, genannt haben und die dafür sorgen sollen, dass
Menschen mit Behinderung besser in Arbeit kommen,
müssen Sie durchführen, bevor Sie das Renteneintrittsal-
ter erhöhen.


(Beifall bei der PDS)

Momentan ist es so, dass die allgemeine Erwerbslosigkeit
bei etwa 10 Prozent liegt, die der schwerbehinderten Men-
schen bei 18 Prozent. Wo ist denn da soziale Symmetrie?
In diesem Fall kräht kein Hahn danach. Ich bitte Sie, sol-
che Verschlechterungen für Menschen, die es im Leben
ohnehin etwas schwerer haben, zu vermeiden.

Als Letztes möchte ich sagen: Machen Sie Ihre Gesetze
transparenter und durchsichtiger! Ich möchte Ihnen ein
Beispiel nennen, das hanebüchener nicht sein kann. Eine
so genannte geistig behinderte Frau erhielt zu DDR-Zei-
ten ab dem 18. Lebensjahr eine Invalidenrente, die nach
1990 in eine Erwerbsunfähigkeitsrente umgewandelt
wurde. Sie bekam damals 681 DM. Anfang 1997 wurde
diese Rente, Bezug nehmend auf § 315 a SGB VI, auf
431,87 DM abgesenkt. Die Frau bekam natürlich keine
Unterstützung vom Sozialamt, weil ihr allein erziehender
Vater – ihre Mutter war inzwischen gestorben – ein klei-
nes bisschen mehr Einkommen hatte, als es der Sozialhil-
fesatz zulässt.

Diese Familie war nun ganz verzweifelt und hat sich an
Hinz und Kunz gewandt, am Ende auch an mich. Es kann
doch nicht sein, dass erst ein Bundestagsabgeordneter an
den Präsidenten der BfA schreiben muss, damit dessen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter merken, dass diese Frau




Dr. Irmgard Schwaetzer
11862


(C)



(D)



(A)



(B)


sich mit einem Betrag von weniger als 3 000 DM hätte
nachversichern können! Nachdem sie das getan hat, steht
ihr nun eine Rente von über 1 000 DM zu.

Wenn es Gesetze gibt, die so undurchsichtig sind, dass
die Beamten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Rentenversicherungsträger nicht in der Lage sind, den
Menschen zu sagen, was ihnen zusteht, dann haben wir et-
was falsch gemacht. Ich bitte Sie: Machen Sie Gesetze,
die man versteht und die den Menschen helfen! Dann wer-
den Sie uns auf Ihrer Seite haben; aber nicht, wenn Sie et-
was machen, was nur CDU/CSU- und F.D.P.-light ist.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf
gute Diskussionen.


(Beifall bei der PDS – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie werden auch noch lernen, dass die CDU die wahre soziale Kraft ist!)


– Herr Laumann, wenn es so ist, wie Sie sagen, dass Sie
dafür sind, dass die Rentenversicherung für alle ist, dann
bin ich auf Ihrer Seite. Aber machen Sie das erst einmal
Ihrer Partei klar!


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412403600
Ich gebe nun der Kol-
legin Erika Lotz für die SPD-Fraktion das Wort.


Erika Lotz (SPD):
Rede ID: ID1412403700
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Natürlich gibt es Unterschiede und man-
che mögen sie als klein bezeichnen; aber sie sind fein und
das ist wichtig. Auch wenn der Gesetzentwurf zur Neu-
ordnung der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten dem
Konzept, das 1997 unter Blüm verabschiedet wurde, in
seinen Grundzügen sehr ähnlich ist, kommt es doch auf
die Details an, die für die Betroffenen eben nicht klein
sind.

Herr Laumann, ich stimme Ihnen zu: Die Rente ist ein
sensibler Bereich, der seine Geschichte hat. Aber es ist das
böse Wort vom „Lynchen“ gefallen. Da muss ich sagen:
Dass die Anzahl der Vertreter von CDU/CSU und F.D.P.
hier geringer geworden ist, liegt nicht daran, dass Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten einige von Ihnen
gelyncht hätten; die Wähler haben das entschieden und es
gab gute Argumente dafür.


(Beifall bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das war eure Rentenlüge! – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Weil Sie den Leuten etwas anderes erzählt haben!)


Nun komme ich auf das Thema zurück, über das wir
heute reden. Frau Schwaetzer hat beklagt, dass wir nicht
über die Erwerbsminderungsrente sprechen, sondern den
Zustand der Rente insgesamt beklagen. Ich hatte das Ge-
fühl, Frau Schwaetzer, dass auch Sie sich davon haben lei-
ten lassen. Aber ich sage einmal: Trotz der erfreulichen
Verbesserungen der Beschäftigungssituation auf dem Ar-
beitsmarkt ist es doch unerlässlich, bei der Entscheidung,
ob bei einer nur teilweisen Erwerbsminderung weiterhin
eine volle Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt wer-

den kann, die Kapazitäten des Arbeitsmarktes zu
berücksichtigen. Denn das alleinige Abstellen auf den Ge-
sundheitszustand, wie Sie das gemacht haben, ignoriert
die Realität des Arbeitsmarktes.

Auch der Große Senat des Bundessozialgerichts hat
bereits 1969 und auch 1975 entschieden, dass die Fähig-
keiten und Möglichkeiten der Versicherten, ihre Restleis-
tungen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich zu verwerten,
von entscheidender Bedeutung sind. Das – wie auch
manch anderes –, Herr Laumann, haben Sie bei Ihrer Re-
form im Jahre 1999 ganz einfach ignoriert.

Wir wollen keine alten Schlachten schlagen; das ist
richtig. Aber man muss schon einmal an sie erinnern: Ein-
malzahlungen, während Ihrer Regierungszeit beschlos-
sen, sind jetzt Belastungen. Weitere Schlagwörter in die-
sem Zusammenhang sind die Rentenüberleitung für
ehemals Zusatzversorgte der DDR und die Behandlung
von Kriegsopfern in der Krankenversicherung Ost. Auch
an die notwendig gewordene Erhöhung des Kindergeldes
möchte ich erinnern. Das alles sind Belastungen, die Sie
uns hinterlassen haben. Sie haben die Lage damals schön-
gerechnet. Die Mittel für die genannten Maßnahmen
kommen zu den 1,5 Billionen DM Schulden hinzu, die Sie
uns hinterlassen haben und von denen Sie offensichtlich
nichts mehr wissen wollen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was war denn 1990?)


Nun möchte ich darauf eingehen, warum wir das Ren-
tengesetz ändern wollen. Was nützt es einem Versicherten,
dass er theoretisch noch drei bis sechs Stunden arbeiten
könnte, er aber in der Praxis keinen Teilzeitarbeitsplatz
findet? Denn die Flexibilität der Arbeitgeber lässt in die-
ser Hinsicht leider noch sehr zu wünschen übrig. Da müs-
sen wir realistisch bleiben.

Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann hätte ein
Versicherter, der noch vier Stunden täglich arbeitsfähig
ist, der aber am Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist, eine
halbe Erwerbsminderungsrente bekommen. Das heißt,
das Arbeitsmarktrisiko, welches jetzt noch von der ge-
setzlichen Rentenversicherung getragen wird, wäre dann
allein dem Versicherten zugemutet worden, obwohl er
letztendlich für beide Sozialversicherungszweige Bei-
träge leistet. Dies wollen wir nicht; dies halten wir für
nicht gerechtfertigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum
Rentenreformgesetz 1992 eine sachgerechte und sozial
ausgewogene Risikoabgrenzung zwischen der Renten-
und der Arbeitslosenversicherung gefordert. Wir kommen
dieser Forderung jetzt insofern nach, als die Bundesan-
stalt für Arbeit an den Kosten der Erwerbsminderungs-
rente zur Hälfte beteiligt wird. Das heißt, die Bundesan-
stalt erstattet der Rentenversicherung pauschal die Hälfte
der Aufwendungen für Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit. Dies umfasst auch die in diesem Zeit-
raum anfallenden Beiträge zur Kranken- und Pflegever-
sicherung.




Dr. Ilja Seifert

11863


(C)



(D)



(A)



(B)


Damit wird bei der Bundesanstalt ein Stück weit der
Anreiz geschaffen, Menschen mit verminderter Erwerbs-
fähigkeit, die noch Teilzeit arbeiten können, zu vermit-
teln. Das ist notwendig und das erreichen wir über diesen
Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen nicht, dass die Versicherten mit verminderter
Leistungsfähigkeit keine Chancen haben. Auf dem der-
zeitigen Arbeitsmarkt haben sie aber keine Chancen; bei
Vollbeschäftigung wäre das natürlich anders. Deshalb ist
das große Ziel all der Reformen, die wir betreiben, wieder
mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Aus diesem Grunde müs-
sen wir diese Reform betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Neuordnung der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit stellen wir uns der Lebenswirklichkeit
und übernehmen wir Verantwortung. Wir wollen, dass
keine Sicherungslücken entstehen.

Wegen der demographischen Veränderungen ist je-
doch die Altersgrenze bei der Rente heraufgesetzt wor-
den. Ab dem Jahre 2005 liegt die Regelaltersgrenze bei
65 Jahren. Ich denke schon, dass es nicht von der Hand zu
weisen ist, dass Einzelne versuchen werden, eine Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu erhalten, um so-
mit eine Rente ohne Abschläge zu bekommen. Deshalb
– auch der Arbeitsminister hat dies angesprochen – soll
die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die vorzeitig
in Anspruch genommenen Altersrenten angeglichen wer-
den. Der bei den Altersrenten vorgesehene monatliche
Abschlag von 0,3 Prozent soll für die Erwerbsminde-
rungsrenten auf maximal 10,8 Prozent begrenzt werden.
So erreichen wir bei dieser Maßnahme Sozialverträglich-
keit.

Gleichzeitig wird die Wirkung dieser Schutzmaß-
nahme dadurch abgefedert, dass die Zeit zwischen dem
55. und dem 60. Lebensjahr höher bewertet wird – so, als
ob der Versicherte erwerbstätig gewesen wäre. Im ur-
sprünglichen Gesetz wurde dieser Zeitraum nur zu einem
Drittel angerechnet; Blüm wollte die Anrechnung auf
zwei Drittel erhöhen. Nach unserem Konzept dagegen
wird die Zeit voll angerechnet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ganz wichtig ist uns, das Vertrauen unserer Versi-
cherten in unsere Rentenpolitik wiederherzustellen. Da-
mit hat es die alte Regierung, auch wenn Sie jetzt noch so
sehr polemisieren, leider nicht so genau genommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Weil Sie die Menschen getäuscht haben!)


Ich nenne dafür ein Beispiel: Mit dem Rentenreformge-
setz 1999 sollte der Berufsschutz mit sofortiger Wirkung,
ohne Übergangsregelung, abgeschafft werden, obwohl
insbesondere ältere Arbeitnehmer darauf vertraut hatten,
im Falle von Berufsunfähigkeit eine Rente zu erhalten.

Schon damals gab es eine Reihe kritischer Stimmen, dass
die Übergangsfristen zu kurz seien. Deshalb halte ich es
für richtig und wichtig, all jenen, die bei In-Kraft-Treten
der Reform das 40. Lebensjahr bereits vollendet haben,
diesen Berufsschutz auch weiterhin zu gewähren. Glei-
ches gilt bezüglich der Anhebung der Altersgrenze für
Schwerbehinderte.

Meines Erachtens, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
es uns gelungen, das Konzept für die Neuordnung der
Renten wegen Erwerbsminderung, das im Rentenreform-
gesetz 1999 formuliert war, sinnvoll zu ergänzen und wei-
terzuentwickeln. Die Beibehaltung der Berücksichtigung
der Arbeitsmarktsituation macht diese Reform sozial ver-
träglicher. Durch die Vertrauensschutzregelungen beim
Berufsschutz und bei der Anhebung des Rentenalters für
Schwerbehinderte schaffen wir Rechtssicherheit für die
Versicherten; das sind wir ihnen, den Bürgerinnen und
Bürgern, auch schuldig.

Die Rente ist ein sehr sensibler Bereich, der Reformen
nur in einem breiten Konsens zulässt. Ich meine, das dar-
gestellte Konzept ist konsensfähig und ein wichtiger Bei-
trag zur Zukunftsfähigkeit unserer Rentenversicherung.

Ich freue mich auf weitere Gespräche. Allerdings: Die
Quadratur des Kreises ist nicht möglich: Beitragssatzsta-
bilität und niedrige Beiträge – nach Möglichkeit nicht
höher als 20 Prozent – und gleichzeitig Ausweitung von
Leistungen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das haben Sie die ganze Zeit den Menschen vorgegaukelt!)


Wir müssen uns schon auf das einigen, was möglich ist,
letztendlich zugunsten der zukünftigen Rentnerinnen und
Rentner und heutigen Beitragszahler.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412403800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Johannes Singhammer.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1412403900
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wol-
len, dass die Verunsicherung der Rentner nicht weiter
wächst. Vor allem diejenigen, die nicht mehr erwerbstätig
sein können, brauchen Klarheit. Deshalb möchte ich Ih-
nen, Herr Arbeitsminister, nach diesem Gesetzgebungs-
verfahren eine Zustimmung in diesem Bereich in Aussicht
stellen. Dies entspricht unserer Linie, die wir angekündigt
haben und der wir treu bleiben, wann immer es möglich
ist, verantwortungsbewusst zu gemeinsamen Entschei-
dungen zu kommen. Die wichtige Einzelregelung Reform
der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten ist natürlich
nur ein Teil der gesamten Rentenkonzeptes. Wenn wir
dies diskutieren, können wir nicht das andere außer Acht
lassen.

Gerade ist schon die Frage der Verunsicherung der
Rentner aufgeworfen worden. Ich sage Ihnen eines: Das




Erika Lotz
11864


(C)



(D)



(A)



(B)


Vertrauen der Rentner haben Sie massiv beschädigt. Der
Vertrauensverlust hat auch einen Namen: Das ist nicht so
sehr der Name des Bundesarbeitsministers als vielmehr
der Name des Bundeskanzlers.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir und auch die Rentner in Deutschland erinnern uns

noch genau daran, dass er vor mehr als einem Jahr ver-
sprochen hat: Ich stehe dafür, dass die Renten auch in Zu-
kunft so steigen werden wie das Nettoeinkommen der Ar-
beitnehmer; das ist ein Prinzip, das wir nicht antasten.


(Erika Lotz [SPD]: Da müsste man fragen: Was wollt ihr?)


Das hat er nach der Wahl gesagt und 126 Tage später hat
er erklärt: Wir haben die Nettoformel für die nächsten
Jahre nur ausgesetzt, um wieder dauerhafte Sicherheit in
die Rente zu bringen. – Das war der entscheidende Anstoß
dafür, dass das Vertrauen in die Rentenversicherung
massiv beschädigt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das hat sich fortgesetzt. Ich nenne das Stichwort

Ökosteuer. Sie haben versprochen, die Einnahmen aus
der Ökosteuer – bis zum Jahre 2004 etwa 33 Milliar-
den DM – vollständig für die Finanzierung der Renten zur
Verfügung zu stellen. Heute wissen wir, dass allenfalls die
Hälfte davon zur Senkung der Rentenversicherungs-
beiträge verwendet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Bleiben Sie bei der Wahrheit! Durch Wiederholen werden Lügen nicht wahrer!)


Die Kette der Unsauberkeiten setzt sich fort. Natürlich
sind die Menschen in Deutschland verunsichert, wenn Sie
jetzt einen neuen, den vierten Entwurf für ein Rentenkon-
zept vorlegen –


(Widerspruch bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wahrheit tut weh!)


– beruhigen Sie sich und hören Sie zu – und ausnahmslos
alle Verbände in Deutschland schwerwiegende Kritik
üben und Mängel auflisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Noch nie war die Front der Ablehnung bei Rentenplä-

nen so groß und so geschlossen wie bei den Plänen, die
Sie vor kurzem mit einem Diskussionsentwurf vorgestellt
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen

Rentenversicherungsträger, Prof. Dr. Ruland, sagt zu Ih-
rer Reform: Letztlich ist nur die blümsche Reform durch
die riestersche Reform ausgetauscht worden – allerdings
mit einem Ergebnis, das weder für die Versicherten und
ihre Hinterbliebenen noch für die Rentenversicherung
besser ist.

Der Präsident des VdK, Herr Hirrlinger, bedauert, dass
die Bundesregierung an ihrem Kurs festhält, und erteilt

der Einführung einer sozialen Grundsicherung eine klare
Absage.


(Erika Lotz [SPD]: Da müsstet ihr doch an und für sich ruhig sein!)


Lutz Freitag, Vorstandsmitglied der DAG, warf vor
kurzem der rot-grünen Regierung „soziale Demontage“
vor. Der Deutsche Städtetag lehnt Ihre Pläne rundweg ab.
Möchten Sie noch mehr Stimmen hören? Ich kann Ihnen
noch eine liefern.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da brauchen Sie nur auf einen Marktplatz zu gehen!)


Die DGB-Vizechefin Engelen-Kefer kritisiert empört:
Diese Entwürfe sind das Gegenteil von Generationenge-
rechtigkeit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie uns
schon nicht glauben, dann glauben Sie doch zumindest
den kompetenten Experten, die sagen, dass die vorliegen-
den Pläne nicht in Ordnung sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nur in diesem Fall bei der Frau Engelen-Kefer!)


Ich nenne Ihnen in aller Kürze einige Probleme, die
noch nicht einmal in Ansätzen gelöst sind. Es gibt das Me-
gaproblem Bevölkerungsentwicklung. Wenn man ver-
schiedene Umstände bewertet – die Frage ist: Welche
Entwicklungen werden die Rente massiv und welche wer-
den sie weniger massiv beeinflussen? –, dann wird das
Megaproblem Bevölkerungsentwicklung den größten
Einfluss ausüben. Das Gleichgewicht zwischen den Ge-
nerationen wird kippen. Sie müssen darauf reagieren.

Wenn die Zahl der Menschen der nachwachsenden Ge-
neration um ein Drittel kleiner ist, dann muss man auf
diese Tatsache reagieren. Eine Reaktion heißt: Wir müs-
sen Renten- und Familienpolitik vernetzt sehen. Die
eine ist ohne die andere nicht möglich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb bestehen wir darauf, dass die zugesagten
19,5 Milliarden DM für eine bessere Förderung von Fa-
milien mit Kindern auch wirklich bei den Menschen an-
kommen. Das ist uns ganz wichtig.

Der Ausgleichsfaktor in der jetzigen Form ist ein
Kürzungsfaktor und kann so nicht Bestand haben. Ihre
Pläne führen zu der absurden Konsequenz, dass es in ei-
nem bestimmten zeitlichen Fenster umso günstiger für je-
manden wird, je früher er in Rente geht. Das hat eine
nachhaltige Vertrauensschwächung zur Folge. Diese
Überlegungen müssen vom Tisch.


(Peter Dreßen [SPD]: Ihre Rede zeugt von Inkompetenz!)


– Hören Sie genau zu! Dabei können Sie noch etwas ler-
nen, Herr Dreßen.

Ein entscheidender Schwachpunkt ist die noch nicht
gefundene Balance zwischen den Generationen. Sie wis-
sen selbst, dass Sie das nicht gelöst haben. Wir können
Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie einen Punkt, der




Johannes Singhammer

11865


(C)



(D)



(A)



(B)


entscheidend für die Gewinnung des Vertrauens der jetzi-
gen und künftigen Beitragszahler in die Generationenge-
rechtigkeit ist, nicht zufrieden stellend regeln.

Der nächste Punkt betrifft die so genannte Nettofor-
mel, die Sie jetzt neu geschaffen haben. Diese „Nettofor-
mel neu“ ist nicht die „Nettoformel alt“, sondern sie ist für
viele Rentnerinnen und Rentner eine Nettoverschlechte-
rungsformel. Auch deshalb können wir Ihnen nicht die
Hand reichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der nächste Punkt betrifft die soziale Grundsiche-

rung. Es geht einfach nicht, dass derjenige, der jahrzehn-
telang seine Beiträge gezahlt hat – Versicherung bedeutet
Leistung und Gegenleistung –, in einem bestimmten Be-
reich schlechter als derjenige behandelt wird, der diese
Beiträge nicht gezahlt hat. Auch dies bewirkt einen Ver-
trauensverlust der Rentenversicherungen und ist das Ge-
genteil dessen, was wir uns wünschen.

Lassen Sie mich noch einen anderen Sachverhalt an-
sprechen. Wenn Ihnen wirklich an einem Konsens mit
den Oppositionsparteien gelegen ist, dann unterlassen Sie
es, neue Hürden aufzubauen, die die Konsensbindung er-
schweren. So bringen Sie zum Beispiel – unabhängig von
Ihren Rentenplänen – einen Antrag ein, der eine gleiche
Behandlung von homosexuellen Partnerschaften und von
Ehe und Familie vorsieht.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Unerhört! – Erika Lotz [SPD]: Sagen Sie doch was zu Ausländern! Das fehlt jetzt noch!)


Nun wissen Sie ganz genau, dass wir einem solchen Plan
nicht zustimmen werden. Warum bringen Sie dann diesen
Antrag ein? Warum machen Sie das?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Angesichts all der schwierigen Fragen ist es doch nicht

die Existenzfrage der Rentenversicherung, ob es für den
Überlebenden in einer homosexuellen Partnerschaft eine
kleine oder eine große „Witwenrente“ gibt. Dies ist für die
Lösung der Rentenproblematik nicht von entscheidender
Bedeutung. Sie haben dies eingeführt, um von sich aus
neue Hürden zu schaffen. Ich sage Ihnen: Wenn Ihnen an
einen Kompromiss gelegen ist, dann ziehen Sie diesen
Antrag sofort zurück. Damit erleichtern Sie die Konsens-
findung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Ist der endlich fertig? – Mottenkiste!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404000
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Max Stadler.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1412404100
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die heutige Rentendebatte
gibt uns Gelegenheit, in aller Kürze auf Parallelprobleme
der Beamtenversorgung hinzuweisen, was wahrschein-
lich auch weniger Emotionen auslösen wird.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das hat er schön gesagt!)


Es gibt vor allem Gelegenheit, auf eine Tatsache auf-
merksam zu machen, die erstaunlicherweise in der Öf-
fentlichkeit kaum wahrgenommen worden ist.

Die alte Koalition hat in der letzten Legislaturperiode
durch Einführung der so genannten Versorgungsrücklage
Vorsorge für die Bewältigung der steigenden Pensions-
zahlungen getroffen. Diese Versorgungsrücklage haben
Sie bei Ihrer Regierungsübernahme belassen. Das war
klug.


(Erika Lotz [SPD]: Soll das ein Lob sein?)

Es ist Ihr gutes Recht, dass Sie nun versuchen, mit dem

Gesetzentwurf, der heute auf der Tagesordnung steht, an
Details nachzubessern. Aber was gut gemeint ist, ist nicht
immer gut. Dies trifft leider häufig auf Ihre Politik zu.
Dies trifft aber auch auf den Gesetzentwurf zur Neuord-
nung der Versorgungsabschläge zu, den Sie heute einge-
bracht haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihre Politik „Augen zu und durch“ kennen wir doch!)


Die F.D.P.-Fraktion begrüßt es zwar, wenn dienst-
unfähige und schwerbehinderte Beamte bei vorzeitiger
Inanspruchnahme der Versorgung besser gestellt werden
sollen als bisher. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung
bevorzugt aber die bereits in jungen Jahren ausgeschiede-
nen Beamten zulasten derjenigen, die über Jahrzehnte
Dienst getan haben. Wenn Ihre Regelung Gesetz würde,
wäre folgende Situation denkbar: Derjenige, der zum Bei-
spiel fünf Jahre nach Eintritt in das Beamtenverhältnis
dienstunfähig wird, wird durch fiktiv hinzugerechnete
Dienstjahre bis zum Pensionseintrittsalter besser gestellt
als derjenige, der sich mit Ende 50 frühpensionieren las-
sen und deshalb Versorgungsabschläge hinnehmen muss.
Das finden wir ungerecht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir schlagen daher einen anderen Lösungsansatz vor,

nämlich den Ausbau des Instituts der Teildienstfähigkeit.
Mit der Versorgungsreform in der letzten Legislaturperi-
ode ist dieses Institut eingeführt worden. Wir haben die
Bundesregierung damals zugleich ermächtigt, durch
Rechtsverordnung die Gewährung eines Zuschlags zu den
Dienstbezügen in diesen Fällen der Teildienstfähigkeit zu
regeln.

Hier müsste die rot-grüne Regierung endlich tätig wer-
den, um dieses Institut attraktiv zu gestalten. Das würde
nämlich sehr wahrscheinlich die Zahl der Frühversor-
gungsfälle senken und den Beamten, die noch, wenn auch
vermindert, in ihrem Beruf tätig sein wollen, eine Per-
spektive geben. Vielleicht können wir Sie in den Aus-
schussberatungen davon überzeugen, diesen Weg anstelle
der von Ihnen heute vorgeschlagenen ungerechten Rege-
lung zu wählen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Johannes Singhammer
11866


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404200
Ich erteile dem Kol-
legen Hans-Peter Kemper für die sozialdemokratische
Fraktion das Wort.


Hans-Peter Kemper (SPD):
Rede ID: ID1412404300
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stadler hat ge-
rade darauf hingewiesen, dass es neben den Veränderun-
gen in der Rentenversicherung auch noch Veränderungen
in der Beamtenversorgung gibt. Er hat den vorliegenden
Gesetzentwurf kritisiert. Lieber Max Stadler, unser vor-
liegender Gesetzentwurf ist nicht nur klug, wie Sie fest-
gestellt haben, sondern er ist auch sozial ausgewogen, und
zwar wesentlich ausgewogener als der, den Sie in der letz-
ten Legislaturperiode vorgelegt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Beamtenversorgung steht in einem ähnlichen Um-
fang wie die anderen Alterssicherungssysteme vor dem
Problem steigender Kosten. Deswegen ist – das kann ich
auch kurz abhandeln – eine zeitgleiche und inhaltsähnli-
che Übernahme der Regelung bei der Rentenversicherung
angestrebt. Die Gründe sind klar: die demographische
Entwicklung, die seit geraumer Zeit sehr stark anstei-
gende Zahl von Frühpensionierungen und die starke Per-
sonalvermehrung in den 60er- und 70er-Jahren. Die Be-
amten, die damals eingestellt worden sind, nähern sich
jetzt – mit erheblichen Belastungen für Bund, Länder und
Kommunen – dem Pensionierungsalter.

Wir haben die Regelung zur Beamtenversorgung – sie
erfolgte in enger Anlehnung an Bestimmungen in der
Rentenversicherung –, die 1998 beschlossen worden ist,
für zwei Jahre ausgesetzt, um dienstunfähige und
schwerbehinderte Beamte zu schützen. Das war richtig.
Diese Regelung musste ausgesetzt werden, weil die von
der damaligen Regierung vorgelegte Regelung eine er-
hebliche soziale Schieflage beinhaltete. Diese Aussetzung
läuft Ende des Jahres aus. Wir hatten vor der Wahl ver-
sprochen, Ungerechtigkeiten in dem erwähnten Gesetz
zurückzunehmen und ein eigenes, sozial ausgewogenes
Gesetz vorzulegen. Wie in anderen Bereichen auch: Diese
Koalition löst nach der Wahl ein, was sie vor der Wahl ver-
sprochen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Beamtenversorgung wird damit in einem wichti-
gen Bereich an die rentenrechtlichen Regelungen ange-
glichen. Das ist nach meinem Dafürhalten ein Stück
soziale Gerechtigkeit. Ich will nur die wichtigsten Eck-
punkte noch einmal ansprechen. Ohne Zweifel ist es not-
wendig, den Trend der Frühpensionierung zu stoppen. Es
wäre unehrlich, wenn so getan würde, als wenn dabei
Kostenüberlegungen im Hintergrund ständen. Sie gibt es;
das ist klar. Die Einsparungsbemühungen finden statt. Wir
begrüßen sie. Auch begrüßen wir es, wenn die Bundes-
regierung mit diesen Maßnahmen den Einsparungs-
bemühungen etwas näher kommt.

Ein richtiger Schritt könnte sicherlich sein, Versor-
gungsabschläge einzuführen, und zwar nicht im Sinne ei-
ner Bestrafung von frühpensionierten Beamten, sondern

im Sinne eines Ausgleichs für die längere Laufzeit der
Pensionszahlungen bei Frühpensionierten.

Ich will noch mal auf die Anrechnungsverbesserungen
zu sprechen kommen, die Herr Stadler gerade erwähnt
hat. Um bei jungen Beamtinnen und Beamten mit wenig
Dienstjahren, die dienstunfähig oder schwerbehindert
werden, oder bei Hinterbliebenen von frühzeitig verstor-
benen Beamten die Versorgungsabschläge zu mildern,
wird die Zurechnung deutlich verbessert. Das ist nicht
falsch. Wir sind stolz darauf; denn das ist eine soziale
Komponente, die wir in unser Gesetz eingebaut und die
Sie damals vergessen haben.

Diese Abschlagsregelung gilt nicht bei Dienstunfällen.
Das ist nicht erforderlich, weil bei Dienstunfällen über-
haupt keine Abschläge erfolgen. Wir haben eine Über-
gangsregelung eingebaut. Neben der zweijährigen Aus-
setzung für lebens- und dienstältere Beamte werden
Angehörige der Jahrgänge von 1938 bis 1941 ausgenom-
men. Wenn sie 40 Dienstjahre oder mehr gearbeitet haben,
dann greifen die Versorgungsabschläge bei ihnen nicht.
Bei den Schwerbehinderten ist es ebenso. Diejenigen, die
50 Jahre alt sind und zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens
des Gesetzes schon schwerbehindert waren, genießen ei-
nen Vertrauensschutz. Ich denke, das ist auch im Sinne der
sozialen Gerechtigkeit und des Behindertenschutzes sehr
wichtig.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben einen wichtigen zusätzlichen Punkt einge-

bracht, der in der Vergangenheit immer wieder zu Är-
ger geführt hat: Wir wollen Anreize schaffen, die es
frühzeitig pensionierten Beamten ermöglichen, aus dem
vorgezogenen Ruhestand in den aktiven Dienst zurück-
zukehren. Bei reaktivierten Beamten wird in Zukunft si-
chergestellt, dass sie im Falle einer erneuten Zur-Ruhe-
Setzung mindestens das früher bezogene Ruhegehalt
erhalten. Damit wird das Risiko einer erneuten Dienst-
unfähigkeit nicht einseitig bei den gutwilligen und ar-
beitsbereiten Beamten abgeladen. Das ist auch eine Maß-
nahme zur Kostenvermeidung, eine Maßnahme, die der
Frühpensionierung entgegen wirken kann.

Der vorliegende Gesetzentwurf enthält erste Schritte
zur wirkungsgleichen Übernahme von Rentenstruktur-
reformen bei der Beamtenversorgung. Wir werden auch in
Zukunft dafür sorgen, dass weitere Schritte weitgehend
im Gleichklang der Systeme erfolgen, wenngleich uns
klar ist, dass es systembedingte Unterschiede gibt, die wir
berücksichtigen werden.

Die einzelnen Maßnahmen, nämlich Aussetzung für
zwei Jahre, die Herausnahme der dienst- und lebensälte-
ren Beamtinnen und Beamten, die Sonderregelungen für
Schwerbehinderte im Alter von mindestens 50 Jahren und
der verbesserte Schutz bei der Wiedereinstellung reakti-
vierter Beamter, machen aber eins deutlich: Schwierige
Strukturveränderungen sind möglich, wenn sie sozial aus-
geglichen und gerecht gestaltet werden. Das unterscheidet
unseren heutigen Gesetzentwurf von dem Gesetzentwurf,
den Sie in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben.


(Beifall bei der SPD)







(C)



(D)



(A)



(B)


All das wird auch in Zukunft die Leitlinie unseres Han-
delns sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404400
Als letzter Redner
dieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kol-
lege Gerald Weiß.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letz-
ter Redner dieser Debatte will ich einige Aspekte der Vor-
rednerinnen und Vorredner aufgreifen.

Frau Schwaetzer, Ihrer Kritik ist zuzustimmen: Es ist
für das parlamentarische Verfahren unangenehm und
nicht zu akzeptieren, dass die Rentenreform im Parlament
in Stücken abgeliefert wird. Das ist nicht in Ordnung. Für
dieses missglückte Timing und diese missglückte Steue-
rung des Reformprozesses sind die Regierung und die Ko-
alition verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer hat denn das sehr brauchbare Rentenreformgesetz

1998/1999 ausgesetzt?

(Lachen bei der SPD – Erika Lotz [SPD]: Haben Sie nicht zugehört, Herr Kollege? – Weiterer Zuruf von der SPD: Was war denn da brauchbar?)


Wer hat sich ein unglaubliches Rentenhickhack und einen
willkürlichen Zickzackkurs von in keiner Weise zu ak-
zeptierenden Hilfs- und Notmaßnahmen – wie Anpassung
der Rente nach der Inflationsrate – geleistet? Das war
doch diese Regierung.


(Erika Lotz [SPD]: Das war doch bei euch viel weniger!)


Das hat mindestens zwei Jahre Zeit, auf jeden Fall aber
unglaublich viel Vertrauen in der Republik, gekostet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt wird uns zugemutet, ein Teilstück, das wichtig ist,

zu bewerten, ohne dass wir die Chance haben, das Ganze
im Nebel der Nachbesserungen, der Diskussionsentwürfe
und der vielfältigen, immer wieder neuen Konzepte – bei
Riesters siebtem Entwurf habe ich aufgehört mitzuzäh-
len – hinreichend zu erkennen.


(Erika Lotz [SPD]: Ihr wisst doch auch nicht, was ihr wollt!)


Dieses Teilstück wird uns inhaltlich wahrscheinlich nicht
so viel Ärger machen; denn Sie haben ja mit Recht fest-
gestellt: In den Grundzügen ist das Gesetz ähnlich dem
blümschen Reformansatz zur Erwerbs- und Berufsun-
fähigkeit.

Warum haben Sie denn damals auf totale Blockade und
Sabotage geschaltet,


(Beifall bei der CDU/CSU)


wenn man heute alles akzeptieren kann, was Blüm ge-
macht hat, nämlich eine Differenzierung der Rente ange-
sichts der modernen Strukturen mit ihren veränderten
Möglichkeiten bei Arbeit, Rehabilitation und Kommuni-
kation vorzusehen und eine gestaffelte Erwerbsminde-
rungsrente zu schaffen? Sie haben damals hinsichtlich der
Differenzierungen, die Blüm vorgesehen hatte, den Un-
tergang des Sozialstaates ausgerufen und jetzt nehmen Sie
genau diese Staffelung, diese Differenzierung vor, die
Blüm gewollt hat. Ihre Politik entlarvt sich somit im
Nachhinein.

Wenn Sie jetzt sagen, es gebe Unterschiede in wichti-
gen Details, so stimmt das. Wir sind bereit, weiter zu dis-
kutieren und das Konzept weiterzuentwickeln. Wenn ich
mir ansehe, was Sie heute hinsichtlich der Abschläge al-
les machen, weil unser Rentensystem neu justiert werden
müsse und eine neue Altersschwelle berücksichtigt wer-
den müsse, dann muss man doch erkennen, dass auch die
übrigen Renten auf diese neue Altersgrenze justiert wer-
den müssen. Jetzt, weil es Ihre Regierung macht, ist es
nicht mehr des Teufels. Sie gestehen auch zu, dass die Ver-
sicherten die volle EM-Rente erhalten, wenn sie selbst-
ständig waren, sowie vieles andere mehr. Sie haben sich
bewegt; – das erkennen wir an. Diese jetzt vorliegende
Reform ist in den wesentlichen Bausteinen von der von
Blüm vorgelegten kaum mehr zu unterscheiden. Das be-
friedigt uns, es befriedigt uns aber nicht, dass wir Jahre im
Dissens gestritten haben, und dieser Baustein jetzt im
Konsens eingefügt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Schwaetzer, ich möchte einen von Ihnen ange-

sprochenen Aspekt aufgreifen. Wenn Sie einen Beitrags-
satz von 18 Prozent fordern – ich gebe ja zu, dass 18 Pro-
zent für Sie eine magische Zahl zu sein scheinen –,
müssen Sie aber auch sagen, was das für das Rentenni-
veau bedeutet. Das hätte eine Rente zur Folge, die sich
von der Sozialhilfe kaum mehr unterscheiden würde. Ich
frage mich, ob dann nicht viele Menschen die beitragslose
Form der Alterssicherung, nämlich die Sozialhilfe,
wählen und nicht mehr die Rente, die auf lebenslanger Ar-
beit und lebenslanger Beitragszahlung fußt. Das ist doch
eine unglaubliche Weichenstellung in Richtung auf Al-
tersarmut. Das ist genauso wenig akzeptabel, wenn man
nur auf das andere Ende schaut.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sagen: Beides muss stimmen. Der Alterslohn muss

leistungsgerecht sein und sich deutlich von der Sozialhilfe
unterscheiden, er ist durch Lebensleistung gedeckt. Aber
auch die Beitragsleistungen der Aktiven müssen in Bezug
auf die Belastung gerecht sein. Beides muss stimmen, das
sind die entscheidenden Weichenstellungen der Reform.

Frau Göring-Eckardt, ich möchte auf Ihre Ausführun-
gen zur Anpassungsformel eingehen: Wenn Sie sagen, in
der neuen Rentenformel sei die neue Nettobasis der Bei-
trag der Alten und der Ausgleichsfaktor sei der Beitrag der
Jungen, muss ich Ihnen vorhalten: Diese verminderte Net-
tobasis wird sich doch später in dem gesamten System
fortsetzen. Die heute Jungen, die im Jahre 2030 verrentet
werden, werden nach Ihrem Konzept noch ein Renten-




Hans-Peter Kemper
11868


(C)



(D)



(A)



(B)


niveau von durchschnittlich 61 Prozent haben. Das ist
doch völlig inakzeptabel, wenn die Jungen unser solidari-
sches Rentensystem weiter unterstützen sollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Ausgleichsfaktor – er ist willkürlich – und die

neue Rentenerrechnungsbasis sind reine Rechengrößen.
Man hatte ein Ziel und hat sich dort hingerechnet. Das,
was Blüm – vielleicht wird sich diese große Rentenreform
den von Blüm aufgestellten Grundzügen wieder annä-
hern – vorgesehen hat, hat seine systematische Grundlage
im demographischen Faktor gehabt. Der Demographie-
faktor war an die Lebenserwartung gekoppelt. Ein länge-
res Leben hat einen längeren Rentenbezug und damit
mehr Lebensrente zur Folge. Der Beitrag der Älteren war,
dass ihre Renten etwas langsamer ansteigen, aber doch
deutlich an die Löhne gekoppelt bleiben, sodass die Jun-
gen nicht überfordert werden. Das war generationenge-
recht. Das müssen wir wieder einführen, wenn die Reform
gerecht und akzeptabel sein soll.

Frau Lotz, wenn Sie sagen, Sie hätten eine gute
Übergangsfrist und eine Vertrauensschutzregelung für die
Berufsunfähigkeitsrente geschaffen,


(Erika Lotz [SPD]: Dafür müssen Sie uns loben!)


muss ich Ihnen vorhalten, was in der gleichen Debatte
Frau Göring-Eckardt gesagt hat. Sie hat das als Prestige-
rente, die wir jetzt abschaffen werden, bezeichnet. Die
Übergangsregelung, die Sie einführen, bedeutet, dass es
25 bis 30 Jahre lang drei Renten in diesem Teil der Al-
terssicherung geben wird, nämlich die volle Erwerbsmin-
derungsrente, die halbe Erwerbsminderungsrente und da-
neben noch, auslaufend über drei Jahrzehnte, die
Berufsunfähigkeitsrente.

Es ist nur ein halber Vertrauensschutz. Sie wollen die
Höhe der Berufsunfähigkeitsrente auf zwei Drittel sen-
ken. Dann wird sie ihre Funktion verlieren und es wird
kein voller Vertrauensschutz mehr sein. Deshalb sagen
wir: Gehen wir auf die volle Höhe, machen wir den Über-
gang kürzer. Das wäre ein qualifizierter Vertrauensschutz.

Ich sehe, meine Redezeit ist zu Ende. Ich rufe Ihnen,
Herr Minister, nur noch eines zu: Ordnen Sie die Rah-
menbedingungen für die betriebliche Alterssicherung so,
dass sie wieder attraktiver wird. Was bisher vorgelegt
wurde, taugt nicht sehr viel.


(Peter Dreßen [SPD]: Sie haben überhaupt nichts!)


Wir müssen dazu kommen, dass mehr Betriebsrenten ge-
zahlt werden können. Das wäre für den Fall der Erwerbs-
unfähigkeit ein zusätzliches Sicherungselement.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Vom Brandstifter zum Feuerwehrhauptmann!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404500
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/4230 zur federführenden Beratung an den

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den
Rechtsausschuss, den Finanzausschuss und, gemäß § 96
der Geschäftsordnung, den Haushaltsausschuss zu über-
weisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4231 soll an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? – Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie die
Zusatzpunkte 6 und 7 auf:

4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Breuer, Ulrich Adam, Georg Janovsky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Bundeswehr
– Drucksache 14/3775 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Soldatengesetzes und anderer
Vorschriften (SGÄndG)

– Drucksache 14/4062 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunft durch Abrüstung – Für eine grund-
legende Reform der Bundeswehr
– Drucksache 14/4174 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss

ZP 6 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Neuausrichtung der Bundeswehr

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther

(Augsburg)

der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern –
Wehrpflicht aussetzen
– Drucksache 14/4256 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss




Gerald Weiß (Groß-Gerau)


11869


(C)



(D)



(A)



(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412404600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unmittelbar
nach meinem Amtsantritt habe ich eine umfassende Be-
standsaufnahme bei der Bundeswehr veranlasst. Diese
Bestandsaufnahme hat ein klares Ergebnis. Ich kleide die-
ses Ergebnis in ein Zitat:

Diese Entwicklung würde es den Streitkräften immer
schwerer machen, ihre sich aus der NATO-Strategie
ergebenden Aufgaben in der Zukunft zu erfüllen. Sie
würden daher, wenn nichts geändert würde, in Zu-
kunft ihrer sicherheitspolitischen Aufgabe nicht
mehr genügen können. Um die Struktur der Bundes-
wehr an die NATO-Strategie anzupassen, ihre heuti-
gen Schwächen zu beseitigen und künftigen Ent-
wicklungstendenzen Rechnung zu tragen, waren
daher Grundsatzentscheidungen für eine neue Wehr-
struktur zu treffen und Maßnahmen zu ihrer Reali-
sierung einzuleiten.

Das sagte der damalige Bundesminister der Verteidigung,
Georg Leber, in der Sitzung des Deutschen Bundestages
am 29. November 1973.

Wir stehen heute vor der gleichen Herausforderung.
Die Bestandsaufnahme hat nämlich ergeben, dass die
Bundeswehr in ihrem geltenden konzeptionellen und
strukturellen Rahmen kein Entwicklungspotenzial mehr
hat. Sie ist falsch strukturiert. Sie kann ihre bisherigen
Aufgaben nicht vollständig erfüllen;


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Erst seit Sie dran sind!)


geschweige denn kann sie die neuen Fähigkeiten erwer-
ben, die sie auf der Grundlage fortlaufender Auslands-
einsätze und auf der Grundlage der sicherheitspolitischen
Verpflichtungen im Bündnis und in Europa und gegen-
über den internationalen Organisationen besitzen muss.

Die Entwicklung der letzten zehn Jahre ist Folge einer
Politik, die mit „Strecken, Schieben, Streichen“ eher
bemäntelt als beschrieben ist. In der Zeit zwischen 1994
und 1998 sind der Bundeswehr auf der Grundlage des
28. Finanzplans aus dem Jahre 1994 gegenüber der Fi-
nanzplanung insgesamt 4,2Milliarden DM entzogen wor-
den. Auf der Grundlage des 29. Finanzplanes, beschlos-
sen 1995, sind der Bundeswehr im Vergleich zwischen
Finanzplanung und Haushalts-Ist 5,7 Milliarden DM ent-
zogen worden.

Die Investitionen in die Ausrüstung der Bundes-
wehr waren in den Jahren 1996, 1997 und 1998 um
insgesamt 6,1 Milliarden DM niedriger, als es in den
Haushalten für 1999 und 2000 eingeplant und im Haus-
haltsansatz für 2001 vorgesehen war. Im Zeitraum von
1990 bis 1998 sank der Anteil der investiven Ausgaben im
Verteidigungshaushalt auf 23,7 Prozent. Das ging zulas-

ten der notwendigen Modernisierung der Ausrüstung der
Streitkräfte. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele
Großprojekte wie insbesondere der Eurofighter zum Zeit-
punkt der Beschaffungsentscheidung nicht wirklich be-
schaffungsreif waren. Deshalb müssen wir uns allein in
diesem Bereich mit einem erheblichen finanziellen Risiko
herumschlagen.

Ergebnis: Die Bundeswehr hat von ihrer Substanz le-
ben müssen. Sie verfügt in manchen Bereichen über eine
veraltete Ausrüstung. Sie hat nur eine mangelnde Attrak-
tivität für den von ihr benötigten Nachwuchs. Deshalb
wurden die letzten zwei Jahre genutzt, um eine umfas-
sende Reform der Bundeswehr auf gesicherter Grund-
lage in Gang zu setzen. Die Bundesregierung hat am
14. Juni 2000 die Eckpfeiler für eine Erneuerung der Bun-
deswehr von Grund auf verabschiedet. Die Entschei-
dungsgrundlagen wurden systematisch, aber auch zügig
und im Rahmen eines breit angelegten Ansatzes bis zum
genannten Entscheidungsdatum erarbeitet, und zwar auf
der Grundlage einer Bestandsaufnahme. Die Streitkräfte
werden wie die Wehrverwaltung von Grund auf erneuert.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ach, das werden sie nicht!)


Sie werden personell, strukturell und materiell auf die
Aufgaben der nächsten 10 bis 15 Jahre ausgerichtet. Das
liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch die Bundeswehr muss in der Lage sein, den Ver-
pflichtungen der Bundesrepublik Deutschland in Europa,
im Bündnis und gegenüber den internationalen Organisa-
tionen, namentlich den Vereinten Nationen, gerecht zu
werden. Dafür werden die Streitkräfte auf ihre Kernfähig-
keiten konzentriert und gleichzeitig ihre Effizienz und
Wirtschaftlichkeit mit Blick auf die Erfüllung ihrer Auf-
gaben nachhaltig erhöht.

Mit dem Bundesminister der Finanzen ist eine Verein-
barung getroffen worden, die nicht nur den Haushalt 2001
betrifft, sondern auch die mittelfristige Finanzplanung.
Der Verteidigungshaushalt wird im nächsten Jahr auf
46,8 Milliarden DM ansteigen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Umbuchungen sind das!)


– Verehrter Herr Kollege Nolting, Sie nennen das Umbu-
chungen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Jawohl!)

Ich möchte Ihnen wie schon gestern im Verteidigungs-
ausschuss sagen


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)

– natürlich, das weist auf eine gewisse Unbelehrbarkeit
hin –:


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig! Zuhören können sie auch nicht!)





Vizepräsident Rudolf Seiters
11870


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie haben eine Haushaltspolitik zu verantworten, in deren
Rahmen 1998 für den damals laufenden Einsatz in Bos-
nien im Verteidigungshaushalt 50 Millionen DM einge-
plant wurden, und zwar mit der Maßgabe, dass alle Mittel
für diesen Einsatz erwirtschaftet werden mussten.


(Peter Zumkley [SPD]: So ist es!)

Das hat dazu geführt, dass aus dem laufenden Einzel-
plan 14 weit über 400 Millionen DM erwirtschaftet wer-
den mussten.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)

Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass die Kos-

ten für solche Einsätze in den Haushaltsansätzen 1999
und 2000 gesondert veranschlagt worden sind und dass
dadurch der laufende Betrieb der Bundeswehr nicht be-
lastet wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass aus diesen
Haushaltsansätzen auch Investitionen für weitere Aus-
landseinsätze getätigt werden konnten. Ich halte es im In-
teresse von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit
auch für einen großen Fortschritt, dass die für die damali-
gen Einsätze veranschlagten 2 Milliarden DM jetzt voll-
ständig dem Bundesministerium für Verteidigung zur ei-
genständigen Bewirtschaftung zurückgegeben werden
und dass der Bundeswehr dadurch folglich mehr Pla-
nungssicherheit und mehr finanzielle Bewegungsfreiheit
gegeben wird als vorher.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen halte ich es auch für einen großen Fort-
schritt, Herr Kollege Nolting, dass die Bundeswehr 1999
das erste Mal ein Haushaltsjahr erlebt hat, in dem die Aus-
gaben des Einzelplanes 14 über dem vom Parlament be-
schlossenen Haushaltssoll gelegen haben, und zwar dank
der beschlossenen Rückeinnahmevermerke und Verstär-
kungsmöglichkeiten für den Einzelplan 14. Das unter-
scheidet sich fundamental von der Haushaltspolitik und
von der Sicherheitspolitik, die Sie in den 90er-Jahren be-
trieben haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben die Bundeswehr immer wieder mit Haus-
haltszahlen bedient, die in der Realität zu keinem einzigen
Zeitpunkt eingehalten worden sind.


(Zuruf von der SPD: Ausgehungert haben sie sie!)


Wir haben der Bundeswehr im Haushaltsplan 1999 insge-
samt 47 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Durch die
Verstärkungsmöglichkeiten haben wir tatsächlich 48 Mil-
liarden DM verfügbar gemacht. Das wird auch in den
nächsten Jahren fortgesetzt. Es ist das Ergebnis der Ver-
einbarungen mit dem Finanzminister, über die ich sprach.

Konkret bedeutet das: Die Effizienzgewinne aus höhe-
rer Wirtschaftlichkeit, aus der Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft und aus gesenkten Betriebskosten bleiben zu

100 Prozent im Einzelplan 14. Die Ergebnisse der Nut-
zung neuer Spielräume durch neue Finanzierungsarten
bleiben zu 100 Prozent im Verteidigungshaushalt. Allein
die Summe aus diesen beiden Maßnahmen wird im Jahre
2001 vermutlich in einer Größenordnung von 500 bis
600Millionen DM liegen, die zusätzlich erschlossen wer-
den können.

Die Einnahmen aus Erlösen durch Vermietung, Ver-
pachtung oder Verkauf bleiben zu 80 Prozent im Etat des
Bundesministers der Verteidigung. Ich sage im Rahmen
dieser Regierungserklärung: Ich lehne es ab, aus Haus-
haltsgründen möglichst schnell möglichst viel zu ver-
äußern. Ich halte es für wirtschaftlich wesentlich ver-
nünftiger, nachhaltig die Kostenstrukturen innerhalb der
Bundeswehr zu verbessern, die Kooperation mit der Wirt-
schaft auszubauen und dauerhaft eine solide Grundlage
für die Bundeswehr, auch in finanzieller Hinsicht, zu ge-
währleisten, als durch hektische Verkaufspolitik schein-
bare Erfolge kurzfristig zu erzielen, die keinen nachhalti-
gen Charakter haben. Darauf wird bei der Frage der
Einlösung dieser Vereinbarung sorgfältig geachtet wer-
den.

Da Sie immer wieder Zweifel daran äußern, ob das al-
les finanziell seine Richtigkeit hat, will ich Sie mit Fol-
gendem vertraut machen. Ausweislich des Finanzberich-
tes der Bundesregierung sind seit 1991 Liegenschaften im
Wert von fast 22 Milliarden DM veräußert worden. Ein
großer Teil dieser 22 Milliarden DM – 15 Milliarden DM
im Westen, knapp 7 Milliarden DM im Osten – entstand
aus frei gewordenen Liegenschaften der Bundeswehr.
Wenn Sie damals mit dem Finanzminister eine Vereinba-
rung gehabt hätten, so wie sie jetzt besteht, dann wäre es
im laufenden Haushaltsvollzug nicht notwendig gewesen,
der Bundeswehr immer wieder Mittel zu entziehen. Dann
wären diese Lücken nicht entstanden. Das ist der eine
Hinweis, den ich Ihnen geben möchte.

Der zweite Hinweis, den ich Ihnen geben möchte: Im
Laufe der nächsten zehn Jahre ist nach geltender Finanz-
planung im Bereich der Informationstechnologie allein
durch reine Kommunikationskosten ein Betrag von 10 bis
11 Milliarden DM in den Betriebskosten, in den Ausga-
ben veranschlagt worden. Wer mit Unternehmen aus die-
sem Sektor redet, weiß, welche Rationalisierungspoten-
ziale hier liegen. Uns liegen Angebote auf dem Tisch, die
in die Richtung von mindestens 2,5 Milliarden DM senk-
barer Betriebskosten gehen.

Dritter Hinweis. Im Bereich der Bekleidungswirtschaft
der Bundeswehr sind für die nächsten zehn Jahre Ausga-
ben von 5 bis 6 Milliarden DM geplant. Jeder, der mit Un-
ternehmen aus diesem Bereich redet, ob das die Logistik,
die Bekleidungswirtschaft oder andere sind, sagt Ihnen,
dass Einsparungen von mindestens 10, vermutlich sogar
20 Prozent erzielbar sind. Bezogen auf die Gesamtausga-
ben in den nächsten zehn Jahren reden wir also über Be-
träge im informationstechnischen Bereich von mindes-
tens 2,5 Milliarden DM zu senkender Betriebskosten, im
Bereich der Bekleidungswirtschaft von mindestens 500
bis 600 Millionen DM zu senkender Betriebskosten.

Welchen Unsinn Sie betrieben haben, will ich Ihnen an
einem vierten Beispiel verdeutlichen. Sie hatten geplant,




Bundesminister Rudolf Scharping

11871


(C)



(D)



(A)



(B)


für die Bundeswehr Bürstenwaschanlagen zu bauen. Das
sind jene Anlagen, die man von den Tankstellen kennt.
Das Dumme ist: Sie haben übersehen, dass die Fahrzeuge
der Bundeswehr in der Regel Aufbauten und anderes ha-
ben, sodass sie durch eine normale Bürstenwaschanlage
nicht durchgefahren werden können. Ergebnis: Weit über
50 Prozent des Fahrzeugbestandes der Bundeswehr müs-
sen trotzdem weiterhin von Hand gewaschen werden.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Was hat das mit der Struktur der Bundeswehr zu tun?)


Sie haben damit Investitionen in fast dreistelliger Millio-
nenhöhe sinnlos in den Sand gesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben in Kauf genommen, dass eine Auslastung von
gerade einmal 20 Prozent erfolgt. Deshalb habe ich im In-
teresse einer nachhaltigen Modernisierung der Streit-
kräfte gesagt: Diesen Quatsch werden wir nicht fortset-
zen. Die 276 Millionen DM, die damals von Ihnen im
Zusammenhang mit diesem Kuriosum eingeplant waren,
sind schlicht gestrichen. Sie werden in die Modernisie-
rung der Streitkräfte gesteckt, anstatt durch solchen be-
triebswirtschaftlichen Unsinn verschleudert zu werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unter dem Strich gewinnen wir mit diesen Maßnahmen ab
2001 finanzielle Gestaltungsspielräume in erheblichem
Umfang. Wir werden sie, wie gesagt, vollständig für die
Erneuerung der Ausrüstung nutzen.

Die Grobausplanung, die von den Streitkräften vor-
genommen worden ist, wurde mir in ihrer abschließenden
Form zu Beginn dieser Woche vom Generalinspekteur
vorgelegt. Die wesentlichen Ergebnisse sind in einer klei-
nen Broschüre zusammengefasst, die präzise dem Inhalt
der Unterrichtung des Kabinetts entspricht. Diese Infor-
mationen sind gestern allen Abgeordneten des Deutschen
Bundestages zugeleitet worden. Mit Blick auf diese In-
formationen beschränke ich mich auf einige ergänzende
Hinweise.

Die Organisation des Bundesministeriums der Ver-
teidigung wird durch die Einführung eines Einsatzrates
und eines Rüstungsrates unter dem Vorsitz des Generalin-
spekteurs sowie mit dem Aufbau eines Leistungscontrol-
lings und mit der bereits erfolgten Bestellung eines IT-Di-
rektors deutlich verbessert. In der neuen Streitkräftebasis
werden künftig alle den Teilstreitkräften gemeinsamen
Aufgaben wahrgenommen. Querschnittaufgaben und
Ausbildung werden zusammengefasst, der Sanitätsdienst
grundlegend umgestaltet.

Entgegen mancher Vermutung – auch heute in der
Presse – füge ich hinzu: In der Streitkräftebasis und mit
Blick auf die logistischen Systeme der Bundeswehr wer-
den zwei Missstände beseitigt. Der eine Missstand besteht
in 360 unterschiedlichen informationstechnischen Inseln,
die ich alle vorgefunden habe. Sie sind betriebswirt-
schaftlich unverantwortlich teuer und sorgen leider auch
noch dafür, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben nicht effi-

zient wahrnehmen können. 360 informationstechnische
Inseln haben wir identifiziert!


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Für jeden Tag eine!)


Wir brauchen aber eine gemeinsame informationstech-
nische Grundlage.

Herr Kollege Schmidt, wenn Sie dazwischenrufen „Für
jeden Tag eine“, dann fordere ich Sie auf, sich mit den für
die Bundeswehr leider sehr nachteiligen Ergebnissen Ih-
rer Regierungspolitik etwas seriöser als mit einem so
dümmlichen Zwischenruf auseinander zu setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: All diesen Dingen hat Ihre Fraktion zugestimmt! Sie haben auch bei der Bürstenwaschanlage zugestimmt! Geben Sie es doch zu!)


Als Beispiel für einen zweiten Missstand verweise ich da-
rauf, dass wir auch in der Logistik höchst unterschiedli-
che Systeme haben, die teuer, unwirtschaftlich und im
Rahmen der Aufgabenwahrnehmung ineffizient sind.

Vor diesem Hintergrund werden wir in der Streitkräfte-
basis und gemeinsam mit der Gesellschaft für Entwick-
lung, Beschaffung und Betrieb all das identifizieren, was
nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört. Das, was
nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört, wird
– einschließlich der Wahrnehmung logistischer Aufga-
ben – der Kooperation mit derWirtschaft geöffnet.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb verhandeln wir zurzeit mit dem Bundesverband
der Deutschen Industrie und mit dem Transportgewerbe
über einen gemeinsamen Transport- und Logistikverbund
für die Bundeswehr in Kooperation mit der Wirtschaft.
Deshalb verhandeln wir mit der Wirtschaft über die
Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben im Bereich der in-
formationstechnischen Ausbildung und werden bis Mitte
des nächsten Jahres mindestens fünf Kompetenzzentren
für Informationstechnik gemeinsam mit der Wirtschaft
gebildet haben. Deshalb verhandeln wir mit der Wirt-
schaft über gemeinsame Betriebsgesellschaften von der
Informationstechnik über Bekleidung bis hin zu anderen
Themen. Wir tun dies immer mit dem Ziel, die Wirt-
schaftlichkeit, die Effizienz und die Kostengunst in der
Bundeswehr zu erhöhen, bestimmte Aufgaben gemein-
sam mit der Wirtschaft wahrzunehmen und unseren Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern sichere, hoch qualifizierte
und mit besseren beruflichen Perspektiven versehene
Arbeitsplätze bieten zu können.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Übrigen erhalten Heer, Luftwaffe und Marine
schlanke Führungsstrukturen; sie werden auf die Wahr-
nehmung der Einsatzaufgaben konzentriert.

Meine Damen und Herren, der Präsenzumfang der
Streitkräfte wird 258 000 Soldaten betragen. Hinzu
kommen 22 000 Dienstposten für ausschließlich zivilbe-
rufliche Qualifizierung und 2 000 Wehrübungsplätze, de-




Bundesminister Rudolf Scharping
11872


(C)



(D)



(A)



(B)


ren Zahl im Zuge der Feinausplanung noch im Einzelnen
zu überprüfen und danach detailliert festzulegen sein
wird.

Der Präsenzumfang wird sich aus Einsatzkräften und
einer militärischen Grundorganisation zusammensetzen,
die im Verbund auch die Aufwuchsfähigkeit für Landes-
und Bündnisverteidigung sicherstellen kann und Bünd-
nisaufgaben wahrnimmt. Die bisherige Trennung zwi-
schen Krisenreaktionskräften und Hauptverteidigungs-
kräften wird aufgehoben. Sie ist unzweckmäßig.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)

Die Zahl der Einsatzkräfte wird auf 150 000 Soldaten

erhöht und damit im Vergleich zu heute fast verdreifacht.
Mindestens jeder zweite – nicht wie bisher nur etwa jeder
sechste – Soldat wird also für Einsatzaufgaben unmittel-
bar zur Verfügung stehen.

Im Rahmen dieser Struktur wird die Bundeswehr künf-
tig 200 000 Berufs- und Zeitsoldaten haben, also 12 000
mehr als zurzeit. Durch diese neue Zielgröße werden wir
einen kontinuierlichen Aufwuchs erreichen und im Übri-
gen 80 000 Dienstposten für Grundwehrdienstleistende
hinzufügen, was im Ergebnis jährlich zu mehr als
100 000 Einberufungen führen wird. Damit beträgt der
Friedenspersonalumfang der Bundeswehr 360 000 Men-
schen, einschließlich der in der neuen Struktur für not-
wendig gehaltenen 80 000 bis 90 000 Dienstposten – das
Wort „Dienstposten“ verwende ich ausdrücklich – für zi-
vile Mitarbeiter.

Damit wird die Bundeswehr in die Lage versetzt, die
für die Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Ver-
pflichtungen innerhalb der NATO und der Europä-
ischen Union wirklich zu erfüllen. Der Schwerpunkt, was
die Verbesserung der Ausrüstung angeht, liegt auf den
Schlüsselfähigkeiten. Das sind strategischer Transport,
strategische Aufklärung, Kommunikations- und Füh-
rungsfähigkeit.

Dazu hat die Rüstungskonferenz wesentliche Akzente
gesetzt und die Priorisierung der Vorhaben vorgenom-
men. Zwischenzeitlich ist ein neues Regelwerk für die Be-
schaffung und die Entwicklung von Wehrmaterial einge-
führt worden. Damit werden die Beschaffungszeiten
halbiert und das Entwicklungsrisiko wird reduziert. Die
Soldaten werden über moderne Ausrüstung schneller ver-
fügen, als es in der Vergangenheit möglich war.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen machen diese Bemerkungen deutlich, dass
die Reform in die Bündnisinitiativen und die wachsende
europäische Integration konsequent eingebettet ist. Bei-
des, die Bündnisinitiativen wie die wachsende europä-
ische Integration, eröffnet Wege, Kosten zu sparen. Ich er-
wähne die von Deutschland ausgegangene und mit
Frankreich gemeinsam ergriffene Initiative für ein euro-
päisches Lufttransportkommando. Ich erwähne den ge-
meinsamen satellitengestützten Aufklärungsverbund, das
gemeinsame Transportflugzeug, die Europäische Rüs-
tungsagentur und die jüngst mit den Niederlanden getrof-
fene Grundsatzvereinbarung über den Aufbau gemeinsa-

mer Transportkapazitäten der See- und Luftstreitkräfte
unter gemeinsamer Führung, mit gemeinsamer Nutzung
und mit gemeinsamer Finanzierung. Es ist sicherheitspo-
litisch ein echter Durchbruch, dass sich zwei Nationen da-
rauf verständigen, gemeinsame Kapazitäten integriert zu
entwickeln und im Übrigen auch gemeinsam zu finanzie-
ren.

Die politische Führung und die militärische Führung
der Bundeswehr sind sich einig: Die Reform der Bundes-
wehr muss bei den Menschen ansetzen. Sie stellen das
größte Kapital der Streitkräfte dar. Das führt zur Beibe-
haltung der allgemeinen Wehrpflicht, freilich unter
geänderten Rahmenbedingungen. Die Wehrdienstdauer
wird, wie bekannt, im Jahre 2002 auf neun Monate ver-
kürzt. Die Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistung
des Wehrdienstes wird eingeräumt.

Die Bundeswehr braucht aber über die Wehrpflichtigen
hinaus sehr gut ausgebildete, hoch motivierte Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter im militärischen wie im zivilen
Bereich. Wer will denn schon in einem Unternehmen ar-
beiten, das nicht in der Lage ist, seine Mitarbeiter leis-
tungsgerecht zu bezahlen, weil die erforderlichen Plan-
stellen fehlen? Wer will denn in einem Unternehmen
arbeiten, das hohe Mobilität und Abstriche im privaten
Bereich fordert, während es gleichzeitig mit einer Ein-
stiegsbesoldung lockt, die im Vergleich zu allen Sicher-
heitsberufen die schlechteste ist? Wer will denn schon in
einem Unternehmen arbeiten, das eine zeitlich befristete
Arbeitsplatzsicherheit gibt, aber nur unzureichend organi-
sierte und manchmal zufällige berufliche Qualifizie-
rungsmöglichkeiten für die problemlose Wiedereinglie-
derung in das zivile Erwerbsleben bietet? Das ist der
gegenwärtige Zustand. Er muss und wird verändert wer-
den. Wir werden die Attraktivität des Dienstes erhöhen
und damit die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und
ihre Nachwuchsgewinnung sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die akademische Ausbildung der Offiziere wird durch
eine qualifizierte Berufsausbildung in allen anderen Lauf-
bahnen ergänzt werden. Das werden wir in enger Zusam-
menarbeit mit Industrie, Wirtschaft und Handwerk be-
werkstelligen. Ich will den Deutschen Bundestag darüber
informieren, dass wir mittlerweile fast alle Industrie- und
Handelskammern und fast alle Handwerkskammern
ebenso wie über 300 Unternehmen für diese Kooperation
gewinnen konnten. Jeder länger dienende Soldat wird in
Zukunft in den Streitkräften die Möglichkeit haben, seine
zivilberufliche Qualifikation zu verbessern: Wer als Ge-
selle kommt, kann Meister werden. Wer als Facharbeiter
kommt, kann Techniker werden. Wer als Hauptschulab-
gänger ohne Berufsabschluss kommt, kann eine einfache
zivilberufliche Qualifikation erwerben.


(Zuruf von der PDS: Und wer als Minister kommt?)


Wie ernst und wichtig diese Aufgabe ist, das wird für
jedermann in der genannten Zahl von 22 000 Dienststel-
len für zivilberufliche Qualifikationen, für Berufsförder-
maßnahmen und anderes sichtbar. Ich jedenfalls kenne




Bundesminister Rudolf Scharping

11873


(C)



(D)



(A)



(B)


kein anderes Unternehmen in der Bundesrepublik
Deutschland, das ständig 8 Prozent seiner Mitarbeiter
freistellt und in deren berufliche Qualifizierung investiert.
Im gleichen Geiste werden wir die Unteroffizierlaufbahn
neu ordnen und den Bewerbern ein maßgeschneidertes,
auch auf ihre persönlichen Vorstellungen abgestimmtes
Angebot unterbreiten können.

Wir werden die militärischen Besoldungs- und Lauf-
bahnstrukturen reformieren und damit dafür sorgen,
dass der Arbeitsplatz Bundeswehr für junge Menschen at-
traktiv bleibt. Das geschieht durch die Erhöhung der
Eingangsbesoldung auf A 3, das geschieht durch die Do-
tierung der Einheitsführer nach A 12. Mit diesen und an-
deren Maßnahmen werden wir den Anschluss an das Be-
soldungsniveau des übrigen öffentlichen Dienstes wieder
herstellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, das Parlament wird auch den erforderlichen
Maßnahmen zur Beseitigung des Beförderungs- und
Verwendungsstaus zustimmen. Wir haben über
8 000 Menschen in der Bundeswehr auf Dienstposten, die
nicht die Bezahlung erhalten, die mit dem Dienstposten
eigentlich verbunden sein müsste. Deshalb müssen im
mittleren und im gehobenen Dienst 200 Stellen gehoben
werden. Deshalb bedürfen wir der Umwandlung der zeit-
lich befristet zur Verfügung gestellten circa 900A 9- bzw.
A 9+Z-Stellen. Deshalb bedürfen wir der insgesamt etwa
2 400 Stellenanhebungen, um die Laufbahn der Unterof-
fiziere und Feldwebel attraktiv zu gestalten und den Be-
förderungsstau, den die damalige Regierung und damit
Sie zu verantworten haben, endlich auflösen zu können.
Deshalb bedürfen wir der fast 1 800 Stellen im Bereich
der Offiziere, um dort das Gleiche zu tun.

Ich kann hier nur schildern, dass ich einen Zustand vor-
gefunden habe, den ich in keiner Weise mehr für verant-
wortbar hielt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sind nicht nur 8 000 Menschen unterwertig bezahlt
worden, sondern weitere 8 000 Menschen befanden sich
in einem personellen Überhang, der ebenfalls abgebaut
werden muss und mit der wachsenden Zahl von Berufs-
und Zeitsoldaten harmonisiert werden muss.

Ich will hier zum Schluss erwähnen, dass wir die Streit-
kräfte in ihrer ganzen Vielfalt auch für Frauen öffnen,
und zwar für den freiwilligen Dienst, ohne irgendeinen
Verwendungsbereich auszuschließen, sondern aus-
schließlich an Eignung, Leistung und Befähigung orien-
tiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das, meine Damen und Herren, bedeutet: Die Bundes-
wehr der Zukunft wird nicht nur durch moderne Ausrüs-
tung und Ausstattung geprägt sein, sondern sie wird auch
durch modernste Managementmethoden, durch Kosten-
und Verantwortungsbewusstsein und ein hohes Innovati-
onspotenzial geprägt sein. Sie wird sich durch gut ausge-

bildete und hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter als der wichtigsten Ressource in einer modernen
Wissens- und Informationsgesellschaft auszeichnen. Im
Übrigen wird sich die Bundeswehr durch ein hohes Maß
an Motivation auszeichnen, die sie ja auch in den vergan-
genen Jahren trotz der erheblichen strukturellen Mängel
bewiesen hat.

Wir haben vor wenigen Tagen an „10 Jahre Armee der
Einheit“ erinnert. Wer die Leistungsfähigkeit der Bun-
deswehr und der dort versammelten Menschen betrach-
tet, ob das der Einsatz im Oderbruch, in Bosnien, im Ko-
sovo, in Osttimor, in Mosambik, wo auch immer in
Deutschland oder draußen war, muss feststellen: Die
Menschen der Bundeswehr haben nicht nur Worte des
Dankes und der Anerkennung verdient, sondern auch Ta-
ten, in denen sich diese Anerkennung ausdrückt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen: Nie zuvor ist in so kurzer Zeit und auf so
solide Weise eine Grobausplanung für die Streitkräfte
nicht nur abgeschlossen, sondern auch dem Parlament of-
fen vorgestellt worden. Auch das ist neu. Ich halte es für
richtig und notwendig, dass wir darüber hier diskutieren.

Ich hoffe sehr, dass bei allen legitimen und notwendi-
gen Debatten der parteiübergreifende Konsens hinsicht-
lich dieser historischen Reform der Bundeswehr im
Vordergrund steht. Diese Reform befähigt unsere Streit-
kräfte – multinational eingebettet – zur gemeinsamen
Friedenssicherung in der NATO und in der Europäischen
Union und führt sie wieder auf das Maß an Leistungsfä-
higkeit zurück, das unsere Bündnispartner von der Bun-
desrepublik Deutschland zu Recht verlangen.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404700
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1412404800
Herr Präsident!
Herr Minister, die Planung, die Sie vorlegen, ist unseriös
und unlauter.


(Lachen bei der SPD)

Ich will Ihnen das an Beispielen aufzeigen.

Als wir noch Verantwortung getragen haben, betrug
der Haushalt 48,4 Milliarden DM. Als Sie 1999 Verant-
wortung trugen, waren es 47,3 Milliarden DM. Im
Jahre 2001 wird der Haushalt mit 44,8 Milliarden DM zu
Buche stehen. Dabei sind jeweils die 2 Milliarden DM für
die Auslandseinsätze nicht enthalten. Sie reduzieren dann
noch einmal um 1,1 Milliarden DM. Wir haben also eine
Reduzierung um insgesamt 4,7Milliarden DM. Das heißt:
In diesem Zeitraum entziehen Sie dem Haushalt insge-
samt 18 Milliarden DM. Sie können diese Zahlen heute in
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nachlesen. Ich
denke, die dort aufgeführten Zahlen sind richtig.




Bundesminister Rudolf Scharping
11874


(C)



(D)



(A)



(B)


Außerdem haben Sie die alte mittelfristige Finanzpla-
nung völlig über den Haufen geworfen. An dieser Finanz-
planung orientieren Sie sich also nicht mehr. Ebenso ist
Ihre Einschätzung hinsichtlich der Einnahmeseite unse-
riös. Sie gehen von Erlösen und Gewinnen aus, die im
Moment überhaupt noch nicht feststehen. Hier herrscht
also das Prinzip Hoffnung.

Wie unrealistisch und unseriös Ihre Planung ist, zeigt
sich an dem von Ihnen angeführten lächerlichen Beispiel
der Bürstenwaschanlage.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Wenn Sie danach Ihre Reform ausrichten, dann scheint es
damit wirklich nicht zum Besten gestellt zu sein.

Ich will Ihnen ein zweites Beispiel für Ihre unseriöse
Planung nennen. Sie haben gerade die Anhebung der Ein-
gangsbesoldung nach A 3 angeführt. Diese Anhebung ist
richtig und wird von uns unterstützt. Sie haben ferner er-
klärt, Sie wollen weitere Anhebungen bei den Planstellen
für Unteroffiziere und Offiziere. Dem stimmen wir eben-
falls zu.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Rede und keine Kurzintervention, die Sie machen! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.]: Hören Sie zu, dann können Sie etwas lernen, Frau Beer!)


Sie wollen die Ausrüstung und die Bewaffnung moderni-
sieren. Auch dem stimmen wir zu. Aber ich frage Sie: Wo-
mit wollen Sie das finanzieren? Ihnen fehlt doch das Geld.
Auch an dieser Stelle verweise ich noch einmal auf die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ von heute.

Ich nenne Ihnen ein drittes Beispiel für Ihre unlautere
Planung. In Ihrem Papier schreiben Sie – wir haben es im
Gegensatz zur Presse erst heute Morgen bekommen; das
ist nicht der Stil, in dem man mit dem Parlament um-
geht –,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

dass die Aufträge der Bundeswehr eine Einsatzorientie-
rung bereits im Frieden erfordern, dass auf Grundwehr-
dienstleistende dafür jedoch nicht zurückgegriffen wer-
den kann. Ich frage Sie: Warum halten Sie dann noch an
der Wehrpflicht fest? Sie greifen doch ohne Begründung
massiv in die freie Lebensplanung der jungen Männer ein.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die Ableistung des Wehrdienstes ist ein weiteres Ku-

riosum.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412404900
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist zu Ende.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1412405000
Ich komme zum
Schluss. – Das ist Wehrdienst nach Beliebigkeit.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine Kurzintervention mit Manuskript! – Gernot Erler [SPD]: Das war die Rache, weil er nicht reden darf!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412405100
Herr Minister, Sie
haben die Möglichkeit zu antworten. – Bitte schön.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412405200

Herr Kollege Nolting, nachdem Sie mit Ihrer Kurzinter-
vention zumindest den Verdacht genährt haben, dass Sie
der Rede Ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden nicht so
recht trauen,


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.] – Zurufe von der F.D.P.: Oh!)


möchte ich Sie zunächst einmal in der Sache auf Folgen-
des hinweisen. Sie haben von 48,4 Milliarden DM ge-
sprochen. Das war die Planzahl für 1998. Ich beziehe
mich aber nicht auf Planzahlen, sondern auf tatsächliche
Zahlen. Das ist der einzige sinnvolle Maßstab.

1995 wurden 47,5 Milliarden DM, 1996 47,2 Milliar-
den DM, 1997 46,2 Milliarden DM, 1998 46,8 Milliar-
den DM ausgegeben.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist der Punkt!)

Verglichen mit dem 28. Finanzplan waren das in der
Summe 4,2 Milliarden DM weniger, als Sie selbst be-
schlossen hatten;


(Manfred Opel [SPD]: Ein Skandal ist das!)

verglichen mit dem 29. Finanzplan, also dem für 1995
– er ist ja ein bisschen realitätsnäher, jedenfalls hinsicht-
lich der Jahreszahl –, waren es in der Summe 5,7 Mil-
liarden DM weniger.

In die Investitionen für die Bundeswehr flossen
während Ihrer Regierungszeit 1996 5,6 Milliarden DM,
1997 5,3 Milliarden DM, 1998 6,5 Milliarden DM; in der
Summe 6,16 Milliarden DM weniger als in den Haus-
haltsjahren, die wir zu verantworten haben.


(Manfred Opel [SPD]: Unerhört!)

Damit ist das, was Sie hier zu suggerieren versucht haben,
zumindest als ziemlich oberflächlich zu charakterisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie können gerne weiter argumentieren, dass die
Finanzplanungszahlen des Jahres 1998 einen Vergleich
mit dem erlauben, was diese Regierung und diese Koali-
tion zu verantworten haben. Ich sage Ihnen: Durch diese
hier eindeutig nachprüfbaren, in der Realität verankerten
Zahlen ist bewiesen, dass Ihre Finanzplanungszahlen
keine seriöse Grundlage waren und folglich als Ver-
gleichsbasis untauglich sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben der Bundeswehr allein in den Haushaltsjah-
ren zwischen 1994 und 1998 durch globale Minderaus-
gaben und andere Eingriffe in den laufenden Haushalt
über 4 Milliarden DM entzogen. Es ist besonders schäd-
lich, in einen beschlossenen Haushaltsplan zum Teil mit




Günther Friedrich Nolting

11875


(C)



(D)



(A)



(B)


Reduzierungen um mehr als 1 Milliarde DM pro Jahr ein-
zugreifen.


(Verena Wohlleben [SPD]: So ist es!)

Auch das haben Sie zu verantworten.

Was ich zu verantworten habe, sind zunächst die Zah-
len des Jahres 1999. Ich habe, auch innerhalb der Koali-
tion, heftige Auseinandersetzungen bestehen müssen; das
weiß jeder. Das hat dazu geführt, dass die Haushaltsan-
sätze von 47,05 Milliarden DM im Jahr 1999 durch die
tatsächlich getätigten Ausgaben von über 48 Milliar-
den DM um mehr als 1 Milliarde DM übertroffen worden
sind. Es ist ein fundamentaler, grundlegender, zugunsten
der Bundeswehr erreichter Unterschied, dass die Haus-
haltszahlen nicht mehr unterboten, sondern übertroffen
werden und dass die Ausgaben für die Ausrüstung der
Bundeswehr alleine in den drei Haushaltsjahren, über die
wir hier reden, um über 6 Milliarden DM höher liegen
werden als in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungs-
tätigkeit.


(Beifall bei der SPD)

Das alles sind Realitäten, über die es sich zu reden lohnt.

Noch zwei kurze Bemerkungen, zunächst zur Vertei-
lung der Broschüre. Ausweislich des Eingangsstempels
der Poststelle des Deutschen Bundestages waren alle er-
forderlichen Exemplare gestern um 16.13 Uhr in der Post-
stelle des Deutschen Bundestages abgeliefert.


(Gernot Erler [SPD]: Da hatten Sie schon Feierabend gemacht!)


Damit erledigt sich meine Verantwortung. Ich habe, wie
Sie sehr genau wissen, gestern um 17 Uhr mit der Presse
zusammengesessen.

Wichtiger ist, was Sie zu den Grundwehrdienstleis-
tenden gesagt haben. Diejenigen, die den Grundwehr-
dienst in seiner gesetzlich festgelegten Form leisten, kön-
nen zu Auslandseinsätzen nicht herangezogen werden;
das ist richtig. Diejenigen, die sich freiwillig bereit erklä-
ren, beispielsweise wegen eines Auslandseinsatzes ihre
Wehrdienstzeit zu verlängern, werden dazu herangezo-
gen.

Ich mache dazu nur folgende Hinweise. Von
2 700 Mannschaftsdienstgraden im Kosovo sind
1 600 Wehrdienstleistende. In den betroffenen Einheiten
mit der Frage konfrontiert, ob sie ihren Wehrdienst wegen
der Einsatznotwendigkeit freiwillig verlängern, haben
sich 85 Prozent der Befragten, die zurzeit zehn Monate
Wehrdienst ableisten, bereit erklärt, diesen Einsatz mit
ihren Kameraden zu bewältigen und deshalb ihre Wehr-
dienstzeit freiwillig zu verlängern.

Sie schlagen den jungen Männern ins Gesicht, die ein
sehr hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft und
Kameradschaft zeigen, und zwar nur deshalb, weil Sie
eine ideologische Position zum Wehrdienst begründen
wollen, die sich übrigens auch in Ihrer Partei hier und da
als umstritten herausstellt und die sich bei dem einen oder
anderen mit einer Geschwindigkeit geändert hat, die
nachzuvollziehen mir bei der mir nachgesagten Lang-
samkeit leider nicht gelingt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Langsam, aber stetig geändert!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412405300
Ich gebe nunmehr
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen
Ruprecht Polenz.


(Gernot Erler [SPD]: Sie haben sich aber stark verändert, Herr Rühe!)


– Er spricht als General-Sekretär zur Bundeswehr.


Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1412405400
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss
hat gestern sieben Stunden getagt. Herr Minister, Sie ha-
ben es nicht für nötig gehalten, den Kolleginnen und Kol-
legen in dieser Sitzung Ihr Papier vorzustellen. Das haben
Sie dann am Nachmittag einigen Journalisten gegenüber
getan. Herr Minister, ich halte es für ein starkes Stück, den
Ausschuss im Ungewissen zu lassen, obwohl Ihre
Hochglanzbroschüre bereits gedruckt war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Erst spätabends – Sie brauchen in diesem Zusammen-

hang nichts von Posteingangsstempeln zu erzählen – ging
Ihr dickes Papier dann über die Postverteilstelle an die
Abgeordneten. Sie wussten ganz genau, dass viele unse-
rer Kollegen dieses Papier nicht rechtzeitig zur heutigen
Debatte erhalten würden. Herr Minister, das ist eine Miss-
achtung des Parlaments, eine Missachtung der Abgeord-
neten. Sie hätten besser daran getan, sich heute dafür zu
entschuldigen, als sich in dieser fadenscheinigen Weise zu
rechtfertigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ihre Broschüre heißt im Untertitel „Grobausplanung.

Ergebnisse und Entscheidungen“. Im militärischen
Sprachgebrauch bedeutet „Ausplanung“:


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das bedeutet ein Aus für die Bundeswehr!)


Verlust des Dienstpostens, Streichung aus der Liste der
Mobilmachungsbeorderten, Abgabe des Seesacks und
Entgegennahme der gelochten Kampfstiefel, der Socken
und der Unterwäsche. Ist das Ihre Zukunftsvorstellung
von der Bundeswehr, Herr Minister? Unsere jedenfalls ist
es nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nun zu Ihrem Papier, zur „umfassendsten Reform der
Bundeswehr seit ihrem Bestehen“, wie Sie schreiben.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Jawohl!)


Wir dürfen Sie jetzt also den umfassendsten Reformator
aller Zeiten nennen, Herr Minister.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Jawohl, so ist das!)





Bundesminister Rudolf Scharping
11876


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihr Konzept – jetzt werde ich ernster – wird von dem Prin-
zip Hoffnung gespeist. Es enthält zwar einen Fahrplan.
Aber Lokomotive und Kohlen sind nicht in Sicht.

Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, Ihr Papier zu
lesen. Vieles darin liest sich nicht schlecht. Auch wir sind
für eine Strukturreform der Bundeswehr. Aber wir nennen
dafür klare Bedingungen. Sie lassen wichtige Fragen wei-
ter offen. Sie schweigen sich über die Standortfragen
aus; Sie machen keine genauen Angaben über die Strei-
chung oder Verschiebung der Beschaffungsmaßnahmen.
Es gibt keinerlei Angaben über Prioritätensetzungen in
Ihrem Papier. Und vor allem: Wo sind die Angaben zu Ih-
rer Haushaltsplanung? Davon ist in Ihrer gesamten Grob-
ausplanung kein Wort zu lesen. Ihre Neuausrichtung ist
ein gut gemeintes Konstrukt, eine Wunschliste ohne jeden
finanziellen Bezug zur Realität. Mit einer verantwor-
tungsvollen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat das
nichts zu tun. Herr Minister, Sie lassen sich die Realität
schönschreiben. Das Schlimme ist, dass Sie selber daran
glauben.

In der letzten Debatte zu diesem Thema im Juni dieses
Jahres haben wir Ihnen eine faire, konstruktive Ausspra-
che zur Zukunft der Bundeswehr angeboten. Dieses An-
gebot haben Sie ausgeschlagen. Statt das Gespräch mit
uns zu suchen, setzen Sie Ihren unverantwortlichen Kür-
zungskurs fort, der unsere Streitkräfte immer mehr aus-
zehrt. Denn es ist ausgeschlossen, dass die Bundeswehr
den wachsenden verteidigungspolitischen Aufgaben bei
einem ständig weiter sinkenden Verteidigungsetat gerecht
werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Herr Minister, es gibt eine gewaltige Lücke zwischen
den Bedrohungsszenarien, die auch Sie anerkennen, und
den Mitteln, die die Regierung für die Bundeswehr be-
reitstellt.


(Manfred Opel [SPD]: Aus Österreich, nehme ich an!)


Nur wenn wir eine breite Debatte über die sicherheitspo-
litischen Herausforderungen führen, wird es gelingen,
dass die notwendigen Finanzmittel für eine wirksame Si-
cherheitsvorsorge bereitgestellt werden. Warum verwei-
gern Sie diese sicherheitspolitische Debatte? Aus Angst
vor den Grünen, aus Angst vor Finanzminister Eichel oder
sogar schon aus Rücksichtnahme auf die PDS?


(Widerspruch bei der SPD und der PDS)

Herr Minister, auf der internationalen Bühne haben Sie

selbst doch das strategische Konzept der NATO von
1999 unterschrieben. Dort werden die neuen Risiken doch
in aller Deutlichkeit benannt: die Verbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen, ethnische oder religiöse Kon-
flikte und der Zerfall von Staaten wie jetzt auf dem Bal-
kan. Sie haben versprochen, 18 000 deutsche Soldaten für
die schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union zur
Verfügung zu stellen. Wir begrüßen diese Entscheidung
ausdrücklich, Herr Minister; denn sie beruht auf der zu-
treffenden Erkenntnis, dass Europa sicherheitspolitisch
mehr tun muss, nicht weniger.

Auf dem internationalen Parkett geben Sie Verspre-
chungen ab. Wenn es aber darum geht, diese Verspre-
chungen auch tatsächlich einzulösen, können Sie sich im
Kabinett nicht durchsetzen.

Sie erzählen gerne, Herr Minister, dass Ihre Pläne in-
ternational gelobt würden. Da muss ich bei der letzten
Wehrkundetagung in München auf einer anderen Ver-
anstaltung gewesen sein als Sie.


(Zuruf von der SPD: Das kann sein!)

Dort wurde der Verteidigungsbeitrag Deutschlands von
allen Bündnispartnern als zu gering eingeschätzt. NATO-
Generalsekretär Robertson und US-Verteidigungsmi-
nister Cohen haben den sinkenden Verteidigungsetat
Deutschlands mit deutlichen Worten kritisiert. Diese Kri-
tik war und ist berechtigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Um es kurz zu sagen: Durch die Unterfinanzierung ge-

fährden Sie die Bündnis- und Europafähigkeit der Bun-
deswehr. Denn es gibt schon jetzt erhebliche Defizite im
Bereich Aufklärung und Kommunikation. Bisweilen sind
unsere Einheiten international nicht mehr kooperations-
fähig.


(Peter Zumkley [SPD]: Ja, da habt ihr sie hingebracht!)


Die Bundeswehr hat erhebliche Probleme, ihren Ver-
pflichtungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo
nachzukommen.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: 16 Jahre CDU! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wann ist das entstanden? – Zuruf von der SPD: Wem haben wir das zu verdanken?)


Doch zugleich kommen neue Aufgaben hinzu.
Wie gesagt: Wir unterstützen die Schaffung einer

schnellen Eingreiftruppe der EU; doch fordern wir auch,
dass Sie dafür die notwendigen Mittel bereitstellen. Sie
haben angekündigt, 73 Airbus-Transportflugzeuge zu
beschaffen. Aber die Mittel dafür stellen Sie im Verteidi-
gungshaushalt nicht ein.


(Peter Zumkley [SPD]: Wie beim Eurofighter!)


Unsere Partner fragen sich, ob Deutschland zu seinen Zu-
sagen steht oder nicht. Deutschland wird schon jetzt zu ei-
nem Unsicherheitsfaktor für seine Partner.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Scharping ist ein Unsicherheitsfaktor!)


Wie Sie diese international gemachten Versprechungen
einhalten wollen, bleibt Ihr Geheimnis.

Diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit
kennzeichnet allerdings nicht nur die Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik. Mehr Schein als Sein ist das traurige
Markenzeichen der Außenpolitik insgesamt geworden.




Ruprecht Polenz

11877


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Auswärtige Amt ist chronisch unterfinanziert; Kon-
sulate, Botschaften und Goethe-Institute mussten ge-
schlossen werden.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal den Kollegen Kinkel, der kennt das doch!)


Wie Sie deutsche Interessen im Ausland so durchsetzen
wollen, bleibt ein Rätsel.

Sie sprechen vollmundig von Krisenprävention und in-
ternationaler Verantwortung – und kürzen bei der Ent-
wicklungshilfe. Sie sprechen von einem neuen Stellen-
wert der Menschenrechte – und kürzen bei den politischen
Stiftungen, die in vielen schwierigen Ländern Rechts-
staatlichkeit und Demokratie fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sprechen vom Gewicht Deutschlands im Bündnis –
aber mit einem Anteil von 1,1 Prozent am Bruttoinlands-
produkt wird Deutschland im kommenden Jahr bei den
Verteidigungsausgaben der NATO auf den vorletzten
Platz zurückfallen. Sie sprechen vom deutschen Einfluss
in der Europäischen Union – aber bald stellt Deutschland
nur noch einen der einflussreichen Generaldirektoren in
der Europäischen Kommission; vor wenigen Jahren wa-
ren es noch fünf.

Wir verlieren unter dieser rot-grünen Bundesregierung
an Gewicht und Einfluss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber Sie träumen von einem ständigen Sitz im Sicher-
heitsrat und reden von einer führenden Rolle Deutsch-
lands in Europa. Wenn die Bundesregierung solche voll-
mundigen Sprüche einlösen wollte, müsste Deutschland
in der Verteidigungspolitik Vorbild sein und nicht Nach-
hut und Schlusslicht.

Der von Ihnen, Herr Minister, geplante Umbau der
Bundeswehr ist unterfinanziert und der Verteidigungs-
haushalt sinkt bis zum Jahre 2003 weiter, trotz Ihrer Bu-
chungstricks. Sie haben ja schon 2 Milliarden DM für die
Auslandseinsätze in Bosnien-Herzegowina und im Ko-
sovo aus dem allgemeinen Haushalt in den Verteidi-
gungsetat verschoben – und trotzdem sinkt dieser Etat von
46,7Milliarden DM im Jahr 1998 auf 45,7Milliarden DM
im Jahr 2003. Die Folge: angesichts steigender Personal-
kosten ein dramatisches reales Absinken des Verteidi-
gungsetats.


(Zustimmung bei der F.D.P.)

Das Ziel, eine Investitionsquote von 30 Prozent zu errei-
chen, rückt so in weite Ferne.

Außerdem rechnen Sie sich reich. Die von Annette
Fugmann-Heesing geleitete Gesellschaft für Entwick-
lung, Beschaffung und Betrieb der Bundeswehr soll im
kommenden Jahr 1 Milliarde DM durch Privatisierungs-
erlöse und durch Kooperationen mit der Wirtschaft erzie-
len. Das ist eine völlig unrealistische Summe; denn bis-
lang hat die Gesellschaft noch nicht einmal angefangen zu
arbeiten und ihr Hauptzweck ist doch wohl eher, altge-

diente Sozialdemokraten mit hoch dotierten Jobs zu ver-
sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Was soll das denn?)


Beim Großen Zapfenstreich im Schlosspark Sans-
souci vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Minister – Sie
haben gerade noch einmal daran erinnert –, ausdrücklich
gewürdigt, dass die Bundeswehr in den vergangenen zehn
Jahren Großartiges geleistet hat.

Die Bundeswehr
– ich zitiere Sie gern –

war in vielerlei Hinsicht auch ein Schrittmacher der
Einheit und des Zusammenwachsens im Innern.

In der Tat: Die Bundeswehr ist die Armee der Einheit.
Das ist aber auch eine große Leistung von Gerhard
Stoltenberg und Volker Rühe, denen ich an dieser Stelle
für ihre Arbeit als Verteidigungsminister ausdrücklich
danken möchte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es ist nicht damit getan, die großen Leistungen der
Bundeswehr vor der historischen Kulisse Sanssoucis zu
würdigen. Den schönen Worten und Bildern müssen Ta-
ten folgen. Herr Scharping, Sie sind jetzt zwei Jahre als
Verteidigungsminister im Amt und trotzdem – heute ha-
ben Sie es wieder getan – wiederholen Sie gebetsmühlen-
artig die Vorwürfe gegen Ihre Vorgänger.


(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das tut weh!)


Sie tun gerade so, als hätte sich Rot-Grün seinerzeit, als
Sie in der Opposition waren, die Finger wund geschrie-
ben, um eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts zu
fordern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aber wir haben Frau Matthäus-Maier nicht so verstanden,
als hätte sie mehr Eurofighter gefordert. Im Gegenteil: In
den Jahren 1991 bis 1996 haben Sie für den Verteidi-
gungshaushalt Kürzungsanträge in Höhe von 14 Milliar-
den DM gestellt. Die Zahlen in den Anträgen der Grünen
haben wir nicht zusammenaddiert; aber die Summe war
sicher doppelt so hoch.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch so nicht richtig!)


Wir bieten Ihnen trotz Ihrer gestrigen Spielchen, Herr
Minister, den Dialog über die Zukunft der Bundeswehr
an. Dafür muss aber Schluss mit der Geheimniskrämerei
sein. Lassen Sie uns die Debatte da führen, wo sie hinge-
hört, nämlich im Parlament, statt die Verantwortung an
Kommissionen abzuschieben. Lassen Sie uns dabei die
Soldaten einbeziehen, die mehr und mehr das Gefühl be-
kommen, dass vollkommen willkürlich über ihren Kopf
hinweg entschieden wird. Die Art und Weise, in der Sie
Generalinspekteur von Kirchbach gefeuert haben, zeigt




Ruprecht Polenz
11878


(C)



(D)



(A)



(B)


nur zu deutlich, dass Sie den Kontakt zur Truppe mehr
und mehr verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie verunsichern die Soldaten und die Zivilbeschäftig-

ten der Bundeswehr mit Ihrem Führungsstil. Sie kündigen
Reformen an, treffen aber keine klaren Entscheidungen.
Sie nehmen die Menschen nicht mit, Sie entscheiden ohne
die Soldaten statt mit ihnen. Für jeden Soldaten ist die per-
sönliche Lebensplanung derzeit vollkommen ungewiss.
Sie, Herr Minister, sagen den Soldaten nicht, welche kon-
kreten Ziele Ihre so genannte Reform wirklich verfolgt.

Das, was wir über Ihre Pläne erfahren haben, gibt An-
lass zur Sorge. Ihre Pläne gefährden die Wehrpflicht und
die Wehrgerechtigkeit. Sie wollen die Zahl der Wehr-
dienstleistenden drastisch verringern. Zugleich reduziert
die Bundesregierung die Zahl der Zivildienstplätze, ob-
wohl die Jahrgangsstärken bis zum Jahre 2008 anwach-
sen. Die Folge wird sein, dass es im Laufe der nächsten
Jahre eine große Anzahl von jungen Männern geben wird,
die nicht einberufen werden können.

Auch die CDU/CSU-Fraktion tritt für die Flexibilisie-
rung derWehrpflicht ein,


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das höre ich zum ersten Mal!)


aber das, was Sie vorschlagen, sorgt nur für mehr Büro-
kratie. Wir sind uns im Grundsatz einig, dass wir aus si-
cherheits- und gesellschaftspolitischen Gründen an der
Wehrpflicht festhalten wollen. Doch wer die Wehrpflicht
will, darf nicht so handeln wie Sie, Herr Minister.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat unter der Fe-
derführung von Paul Breuer ein geschlossenes Reform-
konzept für die Bundeswehr vorgelegt, nachdem wir in-
tensiv mit den betroffenen Soldaten und Zivilbe-
schäftigten der Bundeswehr diskutiert hatten.


(Gernot Erler [SPD]: Hat eine tolle Presse gehabt!)


Wir fordern: Der Verteidigungshaushalt darf nicht wei-
ter absinken; mittelfristig sollte er auf 50 Milliarden DM
steigen, damit wir die notwendigen Investitionen in neues
Gerät leisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Schon im Jahre 2001 brauchen wir zusätzlich 2,2 Mil-
liarden DM als Anschubfinanzierung für Modernisie-
rungsmaßnahmen. Wenn Sie uns das nicht glauben, glau-
ben Sie wenigstens der Weizsäcker-Kommission, die
Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat. Aber offen-
sichtlich haben Sie das in den Papierkorb geworfen.


(Manfred Opel [SPD]: Woher nehmen Sie das Geld, Herr Polenz?)


Wenn Sie schon bei Ihrem Kanzler, Ihrem Finanzmi-
nister und bei Ihrem Koalitionspartner keinen Rückhalt
finden, so verspreche wenigstens ich Ihnen unsere Unter-
stützung, wenn Sie endlich das Notwendige und Richtige
tun: wenn Sie mehr Geld für einen nicht immer populären
Zweck, nämlich für die Erhöhung des Verteidigungsetats,
fordern.

Auch in der Welt des 21. Jahrhunderts bleibt eine Poli-
tik der Stärke als Rückversicherung gegen mögliche Be-
drohungen entscheidend.


(Manfred Opel [SPD]: Wir machen eine Politik des Friedens!)


Die Welt ist auch nach dem Fall der Mauer nicht ohne Ri-
siken. Es geht um unsere Sicherheit. Werden Sie Ihrer
Verantwortung gerecht, Herr Verteidigungsminister!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412405500
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Peter Zumkley.

Peter Zumkley (SPD) (von Abgeordneten der SPD
mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich möchte schon eine Vorbemerkung machen,
Herr Kollege Polenz. Ihren Soupçon bezüglich Besol-
dungen, die irgendwo eingeführt worden sind, fand ich für
einen Generalsekretär nicht angemessen. Sonst reden Sie
hier weder als General noch als Sekretär. Ich fand dies ein
bisschen primitiv.

Die Bundesregierung hat mit ihrem Beschluss vom
14. Juni dieses Jahres die Reform der Bundeswehr einge-
leitet. Die Reform ist systematisch, mit großer Sorgfalt
sowie der gebotenen Präzision vorbereitet und ausgeplant
worden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der beste Witz des heutigen Tages!)


Unmittelbar nach Amtsantritt hat der Bundesminister der
Verteidigung eine umfassende Bestandsaufnahme vorge-
nommen. Das Ergebnis wurde Anfang Mai 1999 dem Par-
lament und der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Bestands-
aufnahme hat gravierende Schwächen unserer Streitkräfte
in der Ausrüstung und ihren Strukturen aufgedeckt. Ursa-
che dafür – auch ich kann es Ihnen, meine Damen und
Herren von der Opposition, nicht ersparen – waren unter
anderem die jahrelangen Versäumnisse der Vorgängerre-
gierung. Das steht zweifelsfrei fest.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die anschließend eingesetzte Expertenkommission
unter Vorsitz von Altbundespräsident Richard von
Weizsäcker hat die wesentlichen Grundlagen für das
vorliegende Reformkonzept geliefert.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wo denn?)


Mit großer Sorgfalt wurden die Vorschläge erarbeitet, die
sich zum überwiegenden Teil im Eckwertepapier des
Bundesministers der Verteidigung wiederfinden.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sagen Sie etwas zu den Finanzen!)





Ruprecht Polenz

11879


(C)



(D)



(A)



(B)


Auf der Basis der Ministerweisung vom 29. Juni die-
ses Jahres hat der Generalinspekteur der Bundeswehr
seine Weisung zur Ausplanung der Streitkräfte erlas-
sen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Und dann wurde er in die Wüste geschickt!)


Seit gestern liegt für alle, Herr Kollege Nolting, auch die
Grobausplanung vor. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass
es sich hier nicht nur um eine Reform, sondern auch um
eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr han-
delt. Mit dieser – wie wir meinen – systematischen Vor-
gehensweise wurden solide und fundierte Grundlagen ge-
schaffen, damit zum 1. April nächsten Jahres mit der
Umsetzung der Planungsergebnisse begonnen werden
kann.

Mit dem Haushaltsentwurf 2001 gibt es zudem auch
Klarheit über die Finanzierung der Reformvorhaben. Die
in 2001 zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel in Höhe
von bis zu 47,8Milliarden DM – ob wir sie ganz erreichen
werden, werden wir sehen; das ist schwierig –


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ach!)

machen eine intelligente Finanzierung der Bundeswehr
möglich. Der Verteidigungsminister erhält beachtliche
zusätzliche Finanzspielräume innerhalb des vorgegebe-
nen Budgets. Die Bundeswehr bekommt somit auch eine
verlässliche finanzielle Planungssicherheit. Die Reform
kann und wird in den nächsten Jahren nur schrittweise,
aber zügig umgesetzt werden. Die jeweiligen Reform-
schritte sind solide finanziert.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Polenz, ein paar Bemerkungen zu dem,

was Sie ausgeführt haben: Eine Unterfinanzierung erken-
nen wir nicht. Wir sehen aber natürlich auch Gefahren und
wir müssen gemeinsam aufpassen – hier lassen wir uns
von niemandem überbieten –,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Na!)

dass diese Gefahren nicht Wirklichkeit werden, nämlich
dass es nicht zu einer Unterfinanzierung kommt.

Zuweilen hatte ich den Eindruck, Herr Kollege Polenz,
dass Sie den Zustand der Streitkräfte richtig beschrieben
haben, aber für die Zeit, als Sie die Regierungsverant-
wortung hatten, nicht für jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man muss sehen, wie sich die Streitkräfte entwickelt ha-
ben.

Im Übrigen ist die Stellung der Bundeswehr im Bünd-
nis hoch anerkannt. Sie brauchen nur in die internationa-
len Stäbe in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo zu
gehen. Es gibt in diesem Detail keine Zweifel an der Leis-
tungsfähigkeit der Bundeswehr. Wir müssen sie nur wei-
ter fördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Polenz, Sie haben von den Kürzungen
gesprochen. Ich muss Ihnen erneut sagen, weil Sie es wie-
der vorgetragen haben: Das ist so nicht richtig.


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch! Das ist richtig!)


Die CDU hat von 1994 bis 1998 5,6 Milliarden DM bei
der Bundeswehr gekürzt.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Ja, es gab Kürzungsanträge der SPD-Fraktion, und zwar
in Höhe von 1,88 Milliarden DM. Wären damals nur
1,88 Milliarden DM bei der Bundeswehr gekürzt worden,
stünden wir heute viel besser da. Daran lässt sich nicht
rütteln.


(Beifall bei der SPD – Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: 14 Milliarden!)


Wir freuen uns über die Bemerkung, die Sie über die
Unterstützung gemacht haben. Ich möchte sie gerne auf-
greifen. Wir glauben, dass die Bundeswehr die Unterstüt-
zung aller demokratischen Parteien braucht und dass wir
uns bemühen müssen, dies über unterschiedliche Auffas-
sungen hinweg tragfähig zu machen. In diesem Sinne
stimme ich Ihnen zu. Aber vergessen Sie doch nicht, dass
es sich hier um eine Grobausplanung handelt und dass die
Feinausplanung noch aussteht. Ebenso ist es mit der Stand-
ortplanung. Ende des Jahres wird ein Konzept vorliegen.
Das alles ist bisher im Zeitplan. Daher ist es nicht ge-
rechtfertigt, vom Verteidigungsminister schon jetzt Ein-
zelheiten zur Reform und zur Umstrukturierung zu ver-
langen.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Seit wir in der Regierungsverantwortung sind, werden
die Finanzpläne eingehalten. Dies war in der Vergangen-
heit nicht immer der Fall. So möchte ich an dieser Stelle
daran erinnern, dass zu Zeiten der CDU/CSU-Regierung,
genau wie es der Minister schon ausgeführt hat, gegen-
über dem 28. Finanzplan 4,2 Milliarden DM und gegen-
über dem 29. Finanzplan 5,7 Milliarden DM in den lau-
fenden Haushaltsjahren eingespart wurden. Die Planung,
Herr Kollege Nolting, ist leider keine Realität. Das wird
auch so bleiben. Wir werden immer den Soll-Ist-Vergleich
machen müssen. Aber wenn wir uns mit Zahlen beschäf-
tigen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, dann müs-
sen wir uns an den Ist-Zahlen orientieren und nicht an dem
Ziel, das man einmal angestrebt hat.


(Beifall bei der SPD)

Die Bundeswehr wird kleiner. Die Zahl der Offiziere

und Unteroffiziere wird aber insgesamt um 12 000 Per-
sonen erhöht. Dies ist im Hinblick auf die gewandelten
Anforderungen für moderne und leistungsfähige Streit-
kräfte unumgänglich. Wir begrüßen das. Zur Umsetzung
der Reform brauchen wir gut ausgebildete, leistungs-
fähige und motivierte Soldaten und zivile Mitarbeiter. Mit
ihrem Engagement wird die Neuausrichtung der Bundes-
wehr maßgeblich mitgestaltet.




Peter Zumkley
11880


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412405600
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1412405700
Aber gerne.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412405800
Vielen Dank, Frau
Präsidentin.

Herr Kollege Zumkley, Sie haben zu Beginn Ihrer
Rede von der Besoldung gesprochen und wollten damit
unseren Generalsekretär diffamieren.


(Lachen bei der SPD)

Sie sind jetzt mit Ihrer Rede weit fortgeschritten. Auch

der Bundesminister der Verteidigung hat bisher nicht mit
einem Wort die Unterschiede in der Besoldung zwischen
den Ost- und den Westsoldaten angesprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Norbert Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wo ist denn Ihre Frage? – Gernot Erler [SPD]: Sie dürfen wohl nicht reden!)


Ich muss Ihnen sagen: Ich halte es schon für proble-
matisch, dass Sie auf diesen Punkt überhaupt noch nicht
eingegangen sind und auch im künftigen Haushalt dafür
keine Titel vorsehen. Wie sehen Ihre Planungen dazu aus?
Die Soldaten warten auf eine Antwort.


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1412405900
Herr Kollege, warten Sie bitte
bis zum Ende meiner Rede. Vielleicht komme ich noch
darauf, durch Ihren Redebeitrag mit Sicherheit. Aber ei-
nes möchte ich von vornherein klarstellen: Es geht hier
nicht um die Diffamierung des Generalsekretärs. Ich habe
mich über eine Bemerkung geärgert. Das gebe ich zu. Da-
bei bleibe ich.

Die Umsetzung der Reform braucht, wie gesagt, das
Engagement unserer Soldaten. Das bewährte Prinzip des
Staatsbürgers in Uniform und die Grundsätze der inne-
ren Führung mit dem wichtigen Element der politischen
Bildung bleiben wie bisher eine der bedeutendsten Vo-
raussetzungen für die Leistungs- und Einsatzbereitschaft
unserer Soldaten. Wir dürfen die Reform und die Um-
strukturierung nicht nur technokratisch sehen, sondern
müssen diesen Gedanken immer wieder mit der Bundes-
wehr zusammen diskutieren. Nur auf diese Weise werden
die Streitkräfte in unserer Gesellschaft so, wie wir sie
benötigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang setzen wir unsere Be-

mühungen um soziale Verbesserung für die Menschen,
die in der Bundeswehr dienen, kontinuierlich fort. Unser
Ziel bleibt es, den Beförderungsstau, der sich wegen der
jahrelangen Untätigkeit der jetzigen Opposition hat ent-
wickeln können, in den nächsten zwei Jahren spürbar ab-
zubauen.

Die Bundeswehr wird für Frauen weiter geöffnet – da-
rauf werden meine Kolleginnen Frau Wohlleben und Frau
Brandt-Elsweier nachher ausführlich eingehen; ich er-
spare mir dazu deshalb weitere Ausführungen.

Der Kollege Dehnel hat mir die Frage gestellt, wie es
mit der Ost-West Anpassung ist. Wir wollen diese An-
passung im Verteidigungsbereich. Sie kennen aber die
Probleme: Die Soldaten müssen wie Beamte im öffentli-
chen Dienst angesehen werden. Es sind doch gerade
CDU-geführte Regierungen in den neuen Ländern, die sa-
gen: Wir können es uns nicht erlauben, dass wir mit dem
öffentlichen Dienst voranschreiten, während die anderen,
die ja letztlich auch zum Steueraufkommen beitragen,
weiter hinterherhinken.


(Widerspruch der CDU/CSU)

Ich kann Ihnen nur sagen: Die ganze Sache ist schon am
Anfang verkorkst worden, nämlich beim Einigungsver-
trag. Daran waren nicht wir, sondern Sie beteiligt. Es hat
übrigens den Vorschlag gegeben, die Soldaten aus der
Regelung herauszunehmen; das ist ausdrücklich abge-
lehnt worden.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Sie sollen bei Ihrem Sprechzettel bleiben!)


Ich sage Ihnen ganz deutlich, dass wir diese Angleichung
möchten.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Dann tut doch was dafür!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406000
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?


Peter Zumkley (SPD):
Rede ID: ID1412406100
Jetzt will ich erst einmal dem
Kollegen Siemann sagen, dass wir dazu natürlich auch die
Unterstützung des Bundesrates und der Länder brauchen,
die unter dem Ganzen mehr leiden als der Bund. – Nein,
ich gestatte keine Zwischenfrage, sondern will meine
Rede im Zusammenhang fortführen.

Die Ausrüstung der Bundeswehr muss modernisiert
werden. Hohe Priorität hat die Fähigkeit zum Lufttrans-
port, zur strategischen Aufklärung und modernen Kom-
munikation; darauf ist hingewiesen worden. Gleichzeitig
wird überflüssig gewordenes Material weiter abgebaut.
Die Abläufe bei Entwicklung und Beschaffung von Wehr-
material werden gestrafft und werden damit schneller und
kostengünstiger, was wir begrüßen. Dafür wird auch die
Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb
ihren wesentlichen Beitrag leisten.

Wir sind sehr damit einverstanden, dass Umfang und
Struktur der Bundeswehr endlich auf die neue Aufgaben-
stellung ausgerichtet werden; die überholte Trennung von
Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräften gehört
dazu. Die Einsatzkräfte werden nahezu verdreifacht, das
heißt, auf 150 000 Soldaten erhöht, und die militärische
Grundorganisation auf 108 000 Soldaten reduziert. Das
halten wir für richtig, um die Aufgaben der Bundeswehr
auch in Zukunft effektiv gestalten und erledigen zu kön-
nen.

Es bleibt bei der allgemeinen Wehrpflicht als Sicher-
heitsvorsorge. Sie wird auf die Dauer von neun Monaten






(C)



(D)



(A)



(B)


reduziert. Die Wehrgerechtigkeit werden wir erhalten
können; das werden wir ja gemeinsam begleiten können.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Bundeswehr
wird ihre veränderten Aufgaben bei der Landesverteidi-
gung, ihren Beistandsleistungen im Rahmen des Bündnis-
ses sowie bei internationalen Einsätzen zu Krisenverhü-
tung und Krisenbewältigung zukünftig zusammen mit
unseren Partnern leisten können. Damit sind wir außeror-
dentlich zufrieden. Wir werden den weiteren Gang der
Bundeswehr positiv und konstruktiv begleiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406200
Jetzt erhält der
Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1412406300
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Wir debattieren über
eine äußerst wichtige Angelegenheit in Gesellschaft und
Demokratie, nämlich über eine Armee in einer Demokra-
tie. Wir stehen jetzt an einem Punkt, bei dem uns der Bun-
desverteidigungsminister in Grundzügen sein neues Kon-
zept vorgestellt hat. Im Verlauf der Debatte werden wir
uns entscheiden müssen. Meine Fraktion und ich sind der
Überzeugung, dass sein Konzept und die in ihm liegende
Unterfinanzierung die Wehrpflichtarmee an die Wand
fährt.
Man kann sich für das Prinzip der Wehrpflichtarmee
entscheiden. Die Wehrpflichtarmee hat viele gewichtige
Vorteile, die für ihre Beibehaltung sprechen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: So ist es!)

Sie bringt Transparenz in die Armee, führt zu einer
Führungskultur, schlägt den Bogen zur Gesellschaft und
kann leichter Führungsnachwuchs rekrutieren. Das ist
ganz eindeutig. Sie war im Übrigen auch die richtige Ent-
scheidung für die Bundeswehr zum Zeitpunkt ihrer Grün-
dung und in den Folgejahren. Die Bundeswehr ist eine er-
folgreiche Armee gewesen und wir haben den Soldaten zu
danken. Das sollte am Beginn stehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wenn man sich, Herr Bundesverteidigungsminister,

für eine Wehrpflichtarmee entscheidet, muss man dieser
Wehrpflichtarmee auch die ausreichende Kraft geben,
ihre Aufgaben wahrnehmen zu können. Die Wehrpflicht-
armee Bundeswehr, wie wir sie heute haben, hat immer
noch die Kernaufgabe Landesverteidigung. Wir wissen
aber alle, dass sich diese Aufgabe gewandelt hat, der alte
Kernauftrag Landesverteidigung höchst unwahrschein-
lich ist, er in einer Mischung sehr stark zur Bündnisver-
teidigung übergeht und dass Einsätze in Krisenregionen
dieser Welt sehr viel wahrscheinlicher und – global be-
trachtet – auch notwendig sind, um die Sicherheit freier
Gesellschaften und auch der unseren zu garantieren. Das
ist die Lage.

Herr Bundesverteidigungsminister, wenn Sie diese Si-
tuation sehen – das sieht ja wohl auch der Mitarbeiterstab,

über den Sie verfügen, sowie jeder vernünftig denkende
Mensch so –, dann kommen Sie in dieser Frage nicht um
die Klärung der Haushaltsansätze herum. Lassen Sie
mich das nur kurz streifen, Das Ganze mag im Haushalts-
ausschuss und im Verteidigungsausschuss näher debat-
tiert werden. Hier aber hilft es nicht sehr viel weiter, wenn
Sie vortragen, bei der früheren Regierung habe es im Ver-
teidigungsetat über die Jahre hinweg einen Entzug in
Höhe von 4 Milliarden DM gegeben. Ich lese in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Artikel eines
Mannes, der wesentlich mehr von Verteidigungspolitik
versteht als viele von uns, Sie entzögen nach wirklichen
Haushaltsdaten in den nächsten Jahren dem Verteidi-
gungsetat 18 Milliarden DM. Sie vertrösten uns mit dem
Hinweis, Sie hätten intelligente Finanzierungssysteme,
und unterlegen den wirklichen Entzug so mit einer un-
wirklichen Annahme; denn nichts spricht dafür, dass Sie
das erwirtschaften können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie sagen also jetzt der Bundeswehr, die im Beförde-

rungsstau steht, die teilweise überaltertes Gerät hat und
die ihre Strukturen verändern muss: Über intelligente Fi-
nanzierungssysteme werde ich das alles auffangen kön-
nen. – Das können Sie in Deutschland erzählen, wem Sie
wollen, aber erzählen Sie es bitte nicht im Deutschen Bun-
destag. Sie werden nicht in der Lage sein, 18 Milliar-
den DM durch intelligente Finanzierungssysteme, über
Haushaltspositionen und Verschiebebahnhöfe der eigent-
lichen Aufgabe zuzuführen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wenn Sie aber eine Wehrpflichtarmee mit den strukturel-
len Problemen, die Sie festgestellt haben und die Sie be-
wältigen wollen, nicht ausreichend finanzieren können
bauen Sie uns hier ein potemkinsches Dorf.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: So ist es!)

Zur Weizsäcker-Kommission. Sie hatten uns allen

– das darf nicht in Vergessenheit geraten –, quer über die
Fraktionen hinweg, seinerzeit vorgetragen, Sie setzten
eine Kommission ein, Sie haben die Mitglieder dieser
Kommission mit den Fraktionsführungen abgestimmt und
haben es für gut befunden, dass die Kommission zunächst
in aller Ruhe arbeiten kann und wir später in aller Ruhe
eine Generaldebatte führen, in deren Verlauf eine Vorlage
von Ihnen hier zur Entscheidung geführt werden kann. Sie
tragen die Verantwortung dafür, dass das alles ganz anders
gekommen ist. Dies war letztlich nicht zielführend. Als
die Weizsäcker-Kommission noch in ihrer Arbeit steckte
und Sie geahnt haben, dass diese möglicherweise etwas
andere Ergebnisse produziert, als Sie sie für wünschens-
wert halten, haben Sie den Generalinspekteur ganz ur-
plötzlich mit einem eigenen Konzept beauftragt, ein
Tempo vorgelegt, das eigentlich eine nicht souveräne Be-
wertung der Weizsäcker-Kommission bedeutete, und
dann den Mann auch noch mit Dank für seine Arbeit ent-
lassen. Ich fand das nicht außerordentlich günstig für die
Beratungen im Parlament.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Peter Zumkley
11882


(C)



(D)



(A)



(B)


Selbst die Weizsäcker-Kommission, die Ihnen in Ihrem
Gedankengut hinsichtlich des Festhaltens an einer Wehr-
pflichtarmee entgegenkommt, hat Ihnen nachdrücklich
ins Stammbuch geschrieben, man bräuchte bei einem
Festhalten an der Wehrpflichtarmee, weil man sie gesell-
schaftspolitisch möchte, für die Strukturreformen eine
Anschubfinanzierung. Die Weizsäcker-Kommission hat
für eine kleinere Größenordnung der Wehrpflichtarmee
Bundeswehr mehr Geld für notwendig gehalten, als Sie
im Haushalt für die größere Formation Wehrpflichtarmee
vorgesehen haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb ist der Hinweis, Sie hätten das alles im Griff,
nicht richtig.

Ich zitiere einmal zur grundsätzlichen Fragestellung
der Wehrpflicht den früheren Bundeskanzler Helmut
Schmidt. Man kann sich ja gerne zu einer Wehrpflichtar-
mee bekennen, muss eine Wehrpflichtarmee aber immer
mit Wehrgerechtigkeit nach innen und der sicherheitspo-
litischen Lageanalyse nach außen legitimieren. Helmut
Schmidt sagte: Die politisch-psychologische Vorbe-
dingung für die Beibehaltung des Wehrpflichtprinzips ist
ein hohes Maß an Wehrgerechtigkeit.

Die Weizsäcker-Kommission hat eigentlich einen Aus-
wahlwehrdienst vorgeschlagen. Das ist für mich keine
Wehrpflichtarmee.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wer von der jungen Generation nur einen Teil einziehen
will und das mit dem Hinweis begründet, es sei nicht
zulässig, in einer freiheitlichen Gesellschaft mehr Wehr-
pflichtige einzuziehen, als man unbedingt benötige, den
kann ich nur auffordern, sich vor eine deutsche Schul-
klasse zu stellen und ihr das zu erklären; denn in dieser
Schulklasse werden sich Jugendliche befinden, die einge-
zogen werden, und Jugendliche, die sofort ins Be-
rufsleben eintreten. So kann man eine Wehrpflichtarmee
nicht legitimieren. Wenn Wehrpflicht, dann Wehrgerech-
tigkeit!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Nun zu Ihrem Konzept. Sie haben etwas über 70 000

Haushaltsstellen für Wehrpflichtige. Können Sie mir ein-
mal erklären, wie Sie mit dieser Anzahl an Haushaltsstel-
len für Wehrpflichtige – wir hatten bisher über 100 000
Stellen – Ihre Wehrpflichtarmee mit Wehrgerechtigkeit
verbinden wollen? Sie kommen doch um die Diskussion
nicht herum, Herr Verteidigungsminister, dass auch Sie
bei einer Wehrpflichtarmee auf das Prinzip der Wehrge-
rechtigkeit achten müssen. Das muss auch im Verfolg der
Haushaltsansätze, die Sie für eine Wehrpflichtarmee ha-
ben, diskutiert werden.

Die konkrete sicherheitspolitische Herausforderung,
vor der unser Land steht – damit habe ich begonnen –,
macht in diesem begonnenen Jahrtausend eine Wehr-
pflichtarmee nicht unbedingt notwendig. Die Wehpflicht-
armee ist ein wichtiger, überzeugender Abschnitt in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in der alten,
bipolaren weltpolitischen Situation gewesen. Im Übrigen
fordert die NATO von der Bundesrepublik Deutschland
hohe Einsatzbereitschaft ihrer Armee, ausreichende Ver-

legefähigkeit, Kompatibilität der Führungssysteme und
moderne Ausrüstung und Bewaffnung. Sie fordert von
uns keine bestimmte Wehrform. Ich glaube, dass auch in
der Bundesrepublik Deutschland die Wehrform diskutiert
werden kann. Es gibt NATO-Mitglieder, die – so wie wir
als Freie Demokraten das vorschlagen – die Wehrpflicht
ausgesetzt haben. Auch sie sind nicht der Auffassung ge-
wesen, dass sie ein für alle Mal die Wehrpflicht abschaf-
fen sollten; Sicherheitslagen kann man nicht für alle Zei-
ten geschichtlich für erledigt erklären. Deshalb ist eine
solche Ebene bei der Diskussion zur Bundeswehrreform
notwendig. Das Aussetzen der Wehrpflicht würde eine
andere Gestalt der Bundeswehr bringen.

Es kann aber ein Ansatz beibehalten werden, der eine
Wehrpflichtarmee immer sehr attraktiv gemacht hat: näm-
lich Haushaltsstellen für zwölfmonatige oder zweijährige
Verpflichtung zur Verfügung zu stellen. Dadurch wird
der jungen Generation die Chance gegeben, in die Bun-
deswehr hineinzusehen und ihre Berufsentscheidung
dann zu treffen. Das wäre ein attraktiver Gesichtspunkt in
einer sehr, sehr guten Kombination.

Was meine Fraktion und was ich am bisherigen Verlauf
der Diskussion so zu kritisieren haben, Herr Bundesver-
teidigungsminister, ist die Kurzsichtigkeit des gedankli-
chen Ansatzes. Ich wage die Prognose, dass Sie mit Ihrem
Wehrpflichtarmeekonzept, mit der dünnen Finanzie-
rungsdecke und mit der Vertröstung auf Ihre intelligenten
Finanzierungssysteme die ernsthaften heute vorhandenen
Strukturprobleme nicht lösen, Wehrgerechtigkeit ad ab-
surdum führen und damit die Motivation in der Truppe zu-
nichte machen. Dann haben Sie eine Wehrpflichtarmee,
die ihre Pflichten nicht richtig erfüllen kann.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb wäre es besser, eine offenere, klarere Diskussion
über die Zukunft der Bundeswehr zu führen und zu einer
politischen Entscheidung darüber zu kommen, in welcher
Gestalt wir die Bundeswehr haben wollen. Wird diese
Entscheidung getroffen, dann darf sich die Diskussion
überhaupt nicht in Haushaltsfragen erschöpfen; vielmehr
muss dann völlig klar sein, dass keiner der von Ihnen vor-
gelegten Haushaltsansätze so bestehen bleiben kann, egal,
für welche Wehrform auch immer wir uns entscheiden.

Gehen Sie davon aus, dass wir in den Ausschussbera-
tungen und auch in den weiteren Plenarberatungen gerne
mit Ihnen diskutieren, aber dass wir grundsätzlich über
die Zukunft der Bundeswehr diskutieren wollen, und zwar
unter längerfristigen Gesichtspunkten und nicht unter
kurzfristigen, so wie Sie das hier getan haben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406400
Zu einer Kurz-
intervention erhält in diesem Fall der Abgeordnete Rudolf
Scharping das Wort.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Den hat er doch gar nicht angesprochen! Er hat den Minister angesprochen!)


– Kurzinterventionen sind Abgeordnetenrecht.




Dr. Wolfgang Gerhardt

11883


(C)



(D)



(A)



(B)



Rudolf Scharping (SPD):
Rede ID: ID1412406500
Herr Kollege Gerhardt, da
Sie sich auf den Artikel von Herrn Feldmeyer, der in der
heutigen Ausgabe der „FAZ“ erschienen ist, beziehen, un-
terstelle ich, dass Sie dem folgenden Satz zustimmen wer-
den:

Die schwerwiegendste Auswirkung der auf die Ära
Kohl zurückgehenden Politik ständiger finanzieller
Eingriffe ist, dass die Bundeswehr ihre Verbände
nicht mehr auf dem gleichen Ausrüstungsniveau hal-
ten kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das ist aber für die Fortführung der Debatte uninteressant!)


– Es ist für die Glaubwürdigkeit des Redenden in einer
Debatte schon von Interesse.

Angesichts Ihrer Argumentation bezüglich der Wehr-
pflicht möchte ich Sie auf zwei Dinge hinweisen:

Erstens. Wenn dem von Ihnen unterstützten Beschluss
gefolgt würde, nämlich dass die Bundeswehr 250 000 Be-
rufs- und Zeitsoldaten haben soll, dann würde das finan-
zielle Mehraufwendungen bedeuten, die Sie mit 50 000
mal 60 000 berechnen müssten. Das wären, wenn ich rich-
tig gerechnet habe, gut 3 Milliarden DM an Mehrkosten.

Zweitens. Wenn Sie der Auffassung sind, dass das zu
viel ist und mit der geltenden Finanzplanung oder mit dem
Prinzip finanzieller Solidität nicht in Einklang zu bringen
ist, und wenn Sie deswegen wie der Kollege Polenz auf
den Punkt der Wehrgerechtigkeit ausweichen, dann
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der
Grobplanung für die Streitkräfte im Jahr 2002 99 000
Plätze für Wehrdienstleistende, im Jahr 2003 95 600, im
Jahr 2004 86 500, im Jahr 2005 85 500 und im Jahr 2006
84 400 zur Verfügung stehen werden. Das bedeutet, dass
bei einer Wehrdienstzeit von neun Monaten – nach Abzug
der Zahl derjenigen, die freiwillig länger Dienst leisten –
jährlich über 100 000 junge Menschen einberufen werden
können.

Der Zielbereich 100 000 bis 105 000 wird im Jahr 2010
erreicht, genau in jenem Jahr, in dem sich der Rückgang
der Jahrgangsstärken voll auswirkt, die von heute 450 000
auf etwa 350 000 ab dem Jahr 2008 sinken werden. Das
muss bei jeder sorgfältigen Bundeswehrplanung berück-
sichtigt werden. Das ist auch geschehen.

Sie haben wie der Kollege Polenz auch die Frage der
Standorte angesprochen. Hier möchte ich Sie darauf auf-
merksam machen, dass ich – anders, als es in Ihrer Re-
gierungszeit der Fall war – Standortentscheidungen erst
nach Abschluss der militärischen Planungen treffen werde
und dass ich Standortüberlegungen nicht zum Gegenstand
der militärischen Planungen machen werde. Ansonsten
entstehen unausgewogene, teure und betriebswirtschaft-
lich unsinnige Strukturen, wie sie bereits in der Vergan-
genheit festgestellt wurden. Ich halte es für richtig und
sinnvoll, das so zu machen, wie ich es Ihnen hier geschil-
dert habe.

Schließlich: Wenn die Debatte über die Standorte, an
der bestimmte politische Kräfte nicht völlig unbeteiligt
sind, darauf hinausläuft – ich habe das schon im Verteidi-
gungsausschuss gesagt; ich wiederhole das auch im Ple-
num des Deutschen Bundestages –, dass ich zwischen

dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
und der Fürsorgepflicht für die Angehörigen der Bun-
deswehr abwägen muss, dann dürfen Sie sicher sein, dass
ich die Fürsorgepflicht in den Vordergrund stellen
werde. Ich werde dann die Befriedigung des öffentlichen
Erörterungsbedarfs zurückstellen und die Entscheidungen
im Zweifel schneller fällen, als es eine sorgfältige Erörte-
rung mit den Landesregierungen erfordert. Sie können
von mir als Dienstherrn nicht erwarten, dass ich mich bei
der Abwägung zwischen den Fürsorgepflichten, die ich
gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr habe, und
dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
zulasten der Fürsorgepflicht entscheide. Das werde ich
nicht tun. Das möchte ich ausdrücklich ankündigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406600
Das Wort zur Er-
widerung hat der Kollege Wolfgang Gerhardt.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1412406700
Herr Kollege
Scharping, ich möchte kurz erwidern. Ich nehme zwar an
dem Schlagabtausch über das, was die frühere Regierung
versäumt hat, gern teil; das gehört zum normalen parla-
mentarischen Debattenritual dazu. Aber das hilft uns bei-
den nicht sehr viel weiter, wenn wir eigentlich über die
Zukunft der Bundeswehr reden wollen. Jetzt haben Sie die
Verantwortung, und jetzt müssen Sie die Fragen zum
Haushalt und zur Bundeswehrstruktur beantworten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie können das noch eine Weile abwehren, aber am Ende
müssen Sie über die Gestalt der Bundeswehr Auskunft ge-
ben.

Ich bin nicht der Überzeugung, dass die Zahl der Stel-
len, die Sie in den nächsten Haushalten für die Wehr-
pflichtigen haben werden, das Prinzip der Wehrgerech-
tigkeit manifestiert. Das wird nicht der Fall sein.


(Rudolf Scharping [SPD]: Das müssen Sie einfach nur nachrechnen! Es ist ganz leicht!)


Das ist aber der Kernpunkt der notwendigen Grundle-
gung einer Wehrpflichtarmee: die außenpolitische Sicher-
heitslage und die Wehrgerechtigkeit nach innen. Diese
Wehrgerechtigkeit schleift schon seit Jahren. Ich weiß
gar nicht mehr, wann Willi Weiskirch, ein verehrter Kol-
lege, Wehrbeauftragter war. Er hat schon seinerzeit die
Schrammen festgestellt, die dieses Prinzip in Deutschland
erleidet.

Sie wissen, dass jeder Strukturreform Ihrer wie auch ei-
ner Freiwilligenarmee eine heftige Auseinandersetzung
an den Standorten der Garnisonen in Deutschland folgen
würde. Dabei ist es egal, welchen Reformansatz man
wählt. Aber bitte hören Sie auf, der Öffentlichkeit zu er-
zählen, Ihr Reformansatz könnte über die Schließung von
166 Kleinststandorten möglicherweise abgewickelt wer-
den, sodass die Bundeswehr so breit wie möglich in der
Fläche vertreten sei. Aus vielerlei auch logistischen Grün-
den werden Sie noch nicht einmal die 166 Standorte
schließen können. Dann bleiben immer noch 50 000 Sol-
daten übrig, denen Sie eine Antwort geben müssen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich mache diese Bemerkung deshalb, weil ich alle
Fraktionen dieses Hauses bitten möchte, sich nicht in ei-
nen Standortwettbewerb zu begeben. – Etwas Ähnliches
habe ich bei der Rentendiskussion in deutschen Altenhei-
men erlebt. Dort wurde die Frage gestellt: Wer bietet
mehr? – Ich erwarte vom Bundesverteidigungsminister
eine ehrliche Antwort. Sie werden sagen müssen, welche
Standorte geschlossen werden. Sie können sich um eine
Antwort nicht mit einer Klein-Standort-Diskussion he-
rumdrücken. Darauf kommt es an. Das möchte ich Ihnen
in aller Kollegialität entgegnen. Vielleicht denken Sie mit
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Wehr-
pflicht hoch schätzen, noch einmal konkret darüber nach,
ob in der Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht
mit der Wehrgerechtigkeit noch in Einklang zu bringen
ist. Geben Sie sich selbst ehrliche Antworten und tragen
Sie nicht nur ein Prinzip vor sich her, dass in der heutigen
Zeit in Mitleidenschaft gezogen wird. In den nächsten
fünf Jahren sehen wir uns öfter. Ich glaube, dass Sie dann
eher meiner Meinung zuneigen werden.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412406900
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich auch im Namen meiner Fraktion bei Vertei-
digungsminister Rudolf Scharping für die Vorlage der
Grobplanung zu einer Neuausrichtung der Bundeswehr
bedanken. Damit ist die Reform einen Schritt weiter vo-
rangekommen. Allerdings bedauere auch ich, dass die
Vorlage gestern Abend kurzfristig erfolgt ist, sodass eine
ausführliche Prüfung bis zur heutigen Debatte nicht mög-
lich war.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

Wir werden das im Verteidigungsausschuss nachholen.

Es ist an der Zeit, eine grundsätzliche Debatte über die
Zukunft der Bundeswehr zu führen. Vor einem so wich-
tigen und gewaltigen Schritt, wie ihn die rot-grüne Koali-
tion mit der Bundeswehrstrukturreform beschlossen hat,
sollten wir uns noch einmal der Umstände vergewissern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407000
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407100

Nein. – Diese Reform wird nicht nur die Organisation der
Bundeswehr verändern, sondern sie wird mit unseren
außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen und Vor-
haben kompatibel sein müssen, das heißt, Politik, politi-
sche Begriffsbestimmungen, Werte und Ziele sind die
Eckpunkte, unter denen die Bundeswehrreform stattfin-
det. Beides muss miteinander vereinbar sein. Deswegen
war es so notwendig, dass wir das Flickwerk Ihrer Regie-
rung endlich beendet haben. Das war der Grund, warum
wir die Kommission zur Zukunft der Bundeswehr ein-
gesetzt haben. Die Kommission hat eine in sich sehr

schlüssige Konzeption für die Bundeswehr erarbeitet, de-
ren Ausgangspunkt eine Analyse der sicherheitspoliti-
schen Situation ist.

Bevor ich auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedin-
gungen eingehe, Herr Gerhardt, mit Verlaub: Es ist rich-
tig, dass wir Debatten führen müssen. Auch ich fordere sie
ein. Ich frage mich aber, aus welchem Grunde und vor al-
len Dingen zu welchem Zeitpunkt welche Debatte losge-
treten wird. Sie haben 16 Jahre lang die Reform der Bun-
deswehr verhindert.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sie haben eine Kommission immer abgelehnt. Wir woll-
ten als Opposition eine Kommission durchsetzen. Da ha-
ben Sie gesagt: Eine Kommission? Wozu? Wir machen
weiter wie bisher! – Dann haben wir, als wir in der Re-
gierung waren, die Kommission eingesetzt. Sie haben im
Ausschuss nicht einmal an den Vorstellungen zur Reform
der Bundeswehr mitgearbeitet.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Wir hatten doch unser Konzept schon längst vorgelegt! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie haben doch unser Konzept übernommen, weil es das beste ist!)


Heute, nachdem die Eckpunkte beschlossen sind und die
Grobplanung vorliegt, veranstalten Sie einen Sonderpar-
teitag und fordern die Flexibilisierung der Wehrpflicht
bzw. ihre Aussetzung. Das bedeutet ihre Abschaffung; wir
wollen hier einmal Klartext reden.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Was fordern denn die Grünen?)


Sie müssen irgendwann die Frage beantworten, in wessen
Interesse Sie zu welchem Zeitpunkt anfangen, über die
Reform der Bundeswehr und die Wehrform in Deutsch-
land zu diskutieren. Ich glaube, Sie tun das nicht aus In-
teresse für die Bundeswehr, die Soldaten, die Jugendli-
chen, sondern aus rein parteitaktischem Kalkül, um sich
von den früheren Fehlern zu distanzieren. Das ist dane-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Herr Polenz, ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: Die
Reform der Bundeswehr ist doch kein technokratischer
Prozess. Sie ist ein gesellschaftlich höchst brisanter Pro-
zess.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Genau das hat er gesagt!)


Wir öffnen alle Bereiche der Bundeswehr für die Frauen.
Sie haben diese Frage ignoriert.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das haben Sie doch bisher abgelehnt!)


Wir haben uns auf eine Grundgesetzänderung geeinigt,
um auszuschließen, dass Frauen zu Kampfeinsätzen ge-
zwungen werden können.


(Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)





Dr. Wolfgang Gerhardt

11885


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407200
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407300
Ich
möchte das jetzt ausführen. Ich weiß, dass das wehtut.
Aber Sie müssen irgendwann einmal lernen zuzuhören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weil das kein technokratischer Prozess ist, werden wir
weiter über die Wehrpflicht und den Zivildienst diskutie-
ren müssen. Das ist doch richtig. Wir haben eine Freiwil-
ligkeit und einen Zwang. Wir haben ein Bundesverfas-
sungsgericht, das in absehbarer Zeit wieder entscheiden
wird. Wir haben den ehemaligen Präsidenten Herzog, der
sehr kluge Fragen zur Berechtigung des Festhaltens an ei-
nem Zwangsdienst, der Wehrpflicht, geäußert hat. Natür-
lich werden wir diese gesellschaftliche Debatte führen.
Aber ich möchte, dass Sie berücksichtigen, dass es um das
Interesse der Bundeswehr und der Soldaten geht, wenn
wir über die Bundeswehrreform streiten.

Wir haben uns geeinigt, dass die kommunale Betäti-
gung der Soldaten nicht generell eingeschränkt wird,
sondern allenfalls in Ausnahmefällen. Das finde ich gut.
Jede Beliebigkeit bei dieser Entscheidung wird ausge-
schlossen, weil sie beim Bundesminister der Verteidigung
liegen wird. Es ist wichtig, diese Debatte zu führen, weil
wir mit der Reform der Bundeswehr den Staatsbürger in
Uniform stärken wollen. Deshalb gibt es einen Konsens
im Haus, dass die kommunale Tätigkeit von Bundes-
wehrangehörigen in keiner Form angetastet werden darf.


(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Wir wollen das ja auch nicht!)


Zu diesen Themen hätte ich gern etwas von Ihnen gehört.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407400
Frau Kollegin,
es liegt eine weitere Zwischenfrage vor. Gestatten Sie
überhaupt keine Zwischenfragen? Es gab mehrere Wün-
sche. Ich muss das jetzt irgendwie klären.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407500

Doch, ich gestatte Zwischenfragen. Aber man muss auch
einmal einen Gedanken ausführen können.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1412407600
Liebe Frau Kollegin Beer, ich
habe drei ganz konkrete Zwischenfragen,


(Zurufe von der SPD: Eine!)

die ich kurz fasse.

Erstens. Gilt das Magdeburger Wahlprogramm noch,
nach dem die Grünen die Bundeswehr abschaffen wollen?
Wenn nein, wann haben Sie es korrigiert?

Zweitens. Sind Sie immer noch eine Verfechterin der
Freiwilligenarmee als Wehrform? Oder haben Sie Ihre
Meinung geändert? Wenn ja, aus welchem Grund?

Drittens. Können Sie mir ein einziges Datum nennen,
an dem Sie sich ganz persönlich für die Frauen in der Bun-
deswehr öffentlich stark gemacht haben?


(Beifall bei der F.D.P. – Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407700
Nur damit wir
uns darüber klar sind: Normalerweise stellt man nur eine
Zwischenfrage.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Sie kann sich eine aussuchen!)



Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407800
Herr
Kollege, es ist schade, dass Sie die letzten Debatten of-
fensichtlich nicht aufmerksam verfolgt haben. Ich sage
das, weil Sie immer die gleichen Zwischenfragen stellen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Im letzten Parteitagspro-
gramm – ich glaube, es ist das von 1987 – war von der Ab-
schaffung der Bundeswehr die Rede. Inzwischen haben
wir aufgrund der sehr schwierigen Entwicklungen, was
die europäische Sicherheit angeht – ich erinnere an die
Konflikte auf dem Balkan –, nach einer sehr schmerzhaf-
ten, aber auch sehr guten Diskussion die Bundeswehr an
sich als Instrument der Politik anerkannt.

Die grüne Position ist allerdings nach wie vor: Wir
wollen die Freiwilligkeit auch für Männer, gerade dort,
wo Frauen den Dienst freiwillig leisten dürfen. Nach un-
serer Wahrnehmung läuft die gesellschaftliche Entwick-
lung in genau diese Richtung; deswegen kann ich Ihnen
das ganz ruhig darstellen.

Über die vertraulichen Gespräche, die ich in der letzten
Woche mit weiblichen Angehörigen der Bundeswehr,
zum Beispiel in Makedonien oder im Kosovo, geführt
habe, werde ich hier im Plenum, also in der Öffentlichkeit,
kein Zeugnis ablegen, weil es auch ein Vertrauensverhält-
nis zwischen Politik und Soldatinnen gibt. Wir werden die
Diskussion in Fachdebatten weiterführen.

Ich kann Ihnen nur sagen, dass mich das Konzept von
Rudolf Scharping im Hinblick auf die Gewährleistung,
dass Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in der Bundes-
wehr nicht diskriminiert werden, und all die anderen kon-
zeptionellen Maßnahmen, die von der Führungsebene der
Bundeswehr vorgelegt worden sind, optimistisch stim-
men. Frauen werden den Dienst in den Streitkräften sehr
selbstbewusst und ohne Benachteiligungen leisten kön-
nen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich stelle mehrere Zwischenfragen und Sie beantworten keine einzige davon!)


Ich möchte zu den sicherheitspolitischen Rahmenbe-
dingungen zurückkommen. Es gilt zu konstatieren, dass
wir uns nach Ende des Ost-West-Konfliktes in einer si-
cherheitspolitisch vollkommen neuen Situation befinden.
Die nukleare Bedrohung, die Gefahr einer gegenseitigen
zivilisatorischen Zerstörung, die uns jahrelang geprägt
hat, besteht nicht mehr. Die russische Armee wird ihre
Streitkräfte reduzieren. Die Gewalt – das gilt es als Tatsa-
che anzuerkennen – äußert sich derzeit international in






(C)



(D)



(A)



(B)


Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen, die den
Frieden regional so weit bedrohen, dass selbst unser Si-
cherheitsinteresse davon berührt sein kann.

Deutschland befindet sich daher in einer anderen Ver-
antwortung. Die Handlungsspielräume für deutsche
Außenpolitik haben sich erweitert. Wir sind bereit, diese
im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zu
nutzen. Wir sollten dies vor dem Hintergrund der guten
Erfahrungen mit integrierter und multilateral angelegter
Politik, wie sie seit der Gründung der Bundesrepublik
Deutschland praktiziert worden ist, sehen.

Wir haben unsere Ziele und Werte – die Friedenspoli-
tik und die Achtung der Menschenrechte – sehr eindeutig
formuliert. Deshalb müssen und werden wir unsere kon-
krete Politik daran messen, wieweit wir diesen An-
sprüchen gerecht werden und ob wir uns diesen Zielen
nähern. Wenn wir in der NATO und in der Europäischen
Union Einfluss nehmen wollen, dann müssen wir die Bun-
deswehr als Mittel der Politik natürlich akzeptieren. Die
Frage ist, ob es uns gelingt, dieses Mittel in unserem Sinn,
das heißt zur Unterstützung von Friedenspolitik und zur
Durchsetzung der Menschenrechte, anzuwenden. Das
kann kein Freibrief sein; deswegen will ich diese Werte-
diskussion.

Wir wissen doch: Es besteht ein unauflösbares Span-
nungsverhältnis zwischen den friedens- und menschen-
rechtspolitischen Zielen und einem Mittel, das durch den
Einsatz oder durch die Androhung von Gewalt definiert
ist. Alles andere wäre eine unzulässige Beschönigung.
Gerade aus diesen Gründen müssen doch alle Fraktionen,
also diejenigen, die politisch zu entscheiden haben, wann
Soldaten eingesetzt werden, besonders sorgfältig überle-
gen, ob und wann sie dieses Mittel anwenden.

Ich glaube, wir müssen dazu Kriterien entwickeln, die
uns in Einzelfallentscheidungen ein tragfähiges Beurtei-
lungsraster geben. Daher begrüße ich es sehr, dass zum
Beispiel die katholische Kirche gerade jetzt die Frage der
humanitären Intervention auf die Tagesordnung gesetzt
hat und im Sinne äußerer Zurückhaltung einen ganz wich-
tigen Beitrag zu einer solchen Diskussion geliefert hat.

Unsere Vorstellungen sind klar: Der Gewalteinsatz
muss an Prävention, Einhegung und Minimierung von
Gewaltandrohungen und Gewaltanwendungen in interna-
tionalen Beziehungen orientiert sein. Im Einzelfall kann
dies zu einem Dilemma zwischen Gewaltverbot und dem
Schutz der Menschenrechte führen. Auf die damit ver-
bundenen Fragen gibt es keine generelle Antwort. Ich
glaube aber, eine präventive Außen- und Sicherheits-
politik mit nicht militärischen Mitteln liegt aus diesem
Grunde im Interesse unseres Landes, dessen internationa-
les Gewicht primär und anerkanntermaßen ökonomisch
und nicht militärisch begründet ist, was auch so bleiben
sollte.

Deshalb ist es Bestandteil unserer Politik und unserer
Überlegungen, den Mitteln der Prävention, der Gewalt-
vermeidung und der zivilen Konfliktbearbeitung Priorität
zukommen zu lassen. Das sind keine Hohltitel, Herr
Polenz, sondern diese Mittel haben Eingang in die prakti-
sche Politik unter Rot-Grün gefunden. Ich sage Ihnen

auch noch, warum: Erst wenn all diese Mittel der nicht
militärischen Krisen- und Konfliktprävention eingesetzt
wurden, aber nicht gewirkt haben, ist der Zeitpunkt ge-
kommen, den Einsatz von Militär in Erwägung zu ziehen
und darüber zu entscheiden. Wir sind es auch unseren Sol-
daten schuldig, erst dann diese Entscheidung sehr verant-
wortungsbewusst und vollkommen unpolemisch zu tref-
fen.

Wir definieren unsere Ziele und Interessen nicht natio-
nal, sondern im Kontext der europäischen und globalen
Institutionen. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist in
internationale Zusammenhänge und Institutionen wie die
UNO, die OSZE, die NATO und die sich entwickelnde eu-
ropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik inte-
griert. Deshalb sind wir für die Integration der Bundes-
wehr in multilaterale Gefüge. Das ist ein Beitrag zur
langfristigen Entnationalisierung von Sicherheit. Es gibt
heute immer mehr Risiken und Sicherheitsgefährdungen,
die national nicht mehr bewältigt werden können. Wenn
Sie, Herr Kollege Polenz, an dieser Stelle relativ pole-
misch versuchen, uns an den Fragen Haushaltsmittel und
Unzuverlässigkeit im Rahmen der europäischen Zusam-
menarbeit


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Zu Recht!)

zu packen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben nicht getrof-
fen, Sie haben – Entschuldigung – voll daneben gelangt,


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

vor allen Dingen mit dem von Ihnen angeführten Zitat von
Generalsekretär Robertson. Ich könnte Ihnen da ein sehr
viel besseres anbieten.


(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Wir sehen uns ja im Februar wieder!)


Generalsekretär Robertson hat unsere Konzeption eu-
ropäischer Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen befür-
wortet und uns ermutigt, unseren Beitrag zu leisten. An
die Europäer gerichtet hat er gesagt: Es ist nicht die Frage,
ob mehr Geld ausgegeben wird, sondern die Frage lautet,
ob vorhandenes Geld richtig ausgegeben wird. Das, Herr
Polenz, hat Ihre Regierung über Jahre nicht geschafft. Wir
haben uns vorgenommen, das anders zu machen. Genau
das hat auch der Verteidigungsminister vorhin dargestellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Lehre aus
dem Kosovo hat sich die Europäische Union mit den Be-
schlüssen von Köln und Helsinki klare Vorgaben gegeben,
wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in
den Dimensionen ziviler und militärischer Sicherheit wei-
terentwickelt werden soll. Wir haben während des Krie-
ges gegen Jugoslawien die Erfahrung gemacht, dass die
europäischen Fähigkeiten nicht ausreichend, die Europäer
gerade im Vorfeld der Auseinandersetzungen nicht einig
genug und unsere Möglichkeiten und unser Einfluss eng
begrenzt waren. Deshalb sollten wir gemeinsam Ansätze
entwickeln, auch in Form einer zuverlässigen Planung für
die europäischen Partner. Ich meine damit zum Beispiel
die Frage nach Instrumenten zur Aufklärung.




Angelika Beer

11887


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine weitere Erfahrung aus dem Kosovo, und zwar
nicht während des Krieges selber, ist für unsere Regie-
rung – ich habe das hier schon häufig gesagt –: Wenn
rechtzeitig Mittel zur Prävention zur Verfügung gestellt
worden wären, hätte vielleicht alles besser laufen können.
Die Lehre muss doch sein, dass wir spätestens jetzt – ich
erinnere nur an diese Tage der Spannung und der Unsi-
cherheit, wie sich Jugoslawien weiterentwickeln wird,
was in Montenegro passieren wird und was in Südserbien
passieren wird – auch andere Elemente wie den Stabili-
tätspakt, diplomatische Verhandlungen und Unterstüt-
zung der Opposition in dieses Paket von Sicherheitspoli-
tik ohne Militär integrieren müssen. Dazu gehört auch ein
weiterer Ausbau des Instruments der OSZE-Mission und
eine Stärkung der Vereinten Nationen.

Deswegen haben wir die Kooperation mit den zivilen
Friedensdiensten sowie deren Ausbau und die Koopera-
tion mit den internationalen Polizeikräften, die für die Ge-
staltung eines Friedensprozesses so wichtig sind, weil sie
das Militärische entlasten können, intensiviert. Neu ist
auch, dass diese Regierung unter Federführung zweier
Minister, nämlich Innenminister Otto Schily und Vertei-
digungsminister Rudolf Scharping, diese Konstrukte zu-
sammengeführt hat, um Stabilität zu schaffen. Diese Ele-
mente gehören immer dazu, wenn wir heute über die
Reform der Bundeswehr diskutieren.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein schwie-
riges Unterfangen. Ich appelliere an Sie, die Bundes-
wehrreform nicht aus parteipolitischem Kalkül zum
Spielplatz für Profilierungen und Taktierereien zu benut-
zen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Werner Siemann [CDU/CSU]: Das ist vielleicht eine Heuchelei!)


Ich habe das vorhin am Beispiel der so genannten libera-
len Partei ausgeführt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist das Zitat der Woche!)


Ich möchte, dass trotz verschiedener Differenzen die Dis-
kussion in verantwortlicher Weise geführt wird, um der
Bundeswehr die notwendige Planungssicherheit zu ge-
ben.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Friss oder stirb! Nach dieser Methode wird es gemacht!)


Wir sollten gemeinsam versuchen, die schwierigen Auf-
gaben der Zukunft mithilfe dieser Reform zu meistern. Es
ist möglich und machbar. Dazu brauchen wir aber
schnelle und klare Entscheidungen.

Ich sage Ihnen zum Schluss ganz deutlich: Sie machen
das Gleiche wie früher Volker Rühe: Sie instrumentalisie-
ren bestimmte Themen und richten sich nicht nach den
Interessen der Soldaten und der Zivilangestellten der
Bundeswehr. Sie beginnen stattdessen eine Standortdis-
kussion.


(Helmut Rauber [CDU/CSU]: Glauben Sie allen Ernstes, was Sie hier sagen?)


Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden uns dafür einset-
zen – das ist meine herzliche Bitte an den Bundesminister

der Verteidigung –, die Eckplanungen schnellstmöglich
so zu konkretisieren, dass wir die Fakten benennen kön-
nen. Wir müssen dies noch schneller als geplant durch-
führen, weil Sie eine Verunsicherungskampagne von
Nord nach Süd und von Ost nach West auf dem Rücken
der Soldaten betreiben. Das können wir nicht zulassen.
Jede Reform muss logischerweise mit Standortschließun-
gen verbunden sein. Wir werden daher versuchen, in die-
sem Punkt schnellstmöglich Klarheit zu schaffen. Sie
können dann Ihre Munition woanders verschießen.

Ich würde mir wünschen, dass Sie die Blockade – vor-
hin wurde in diesem Zusammenhang schon der Kollege
Breuer zitiert – beenden und ansatzweise einen Dialog
führen, von dem alle profitieren und der im Interesse der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Werner Siemann [CDU/CSU]: Dialog ist aber zweiseitig! Sie wollen doch gar keinen Dialog!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412407900
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Rossmanith das Wort.


Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID1412408000
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach-
dem die Frau Kollegin Beer meine Zwischenfrage nicht
zugelassen hat, muss ich zu dem Mittel der Kurzinterven-
tion greifen.

Frau Kollegin Beer, ich bin über den Weg schon sehr
erstaunt, den Sie innerhalb von zwei Jahren beschritten
haben. Sie haben sich zu Beginn – das habe ich überhaupt
nicht verstanden – als Abgeordnete dieses Hauses und als
Mitglied des Verteidigungsausschusses beim Bundesmi-
nister der Verteidigung dafür bedankt, dass er den Vertei-
digungsausschuss missachtet hat und dessen Mitglieder
am gestrigen Tage – ich darf schon sagen – desavouiert
hat.

Ich empfinde es als eine Beleidigung dieses Gremiums
durch den Bundesminister der Verteidigung – Sie bedan-
ken sich auch noch für diese Beleidigung –, dass um
16.13 Uhr eine Broschüre bei der Poststelle des Deut-
schen Bundestages abgegeben wurde, während wir bis
nach 15 Uhr im Verteidigungsausschuss saßen


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Ein dickes Ding!)


und es selbst auf meine Bitte und auf Antrag der
CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion nicht mög-
lich war, diese Broschüre bis zu diesem Zeitpunkt den
Mitgliedern des Verteidigungsausschusses zur Verfügung
zu stellen. Wir konnten dann heute Morgen eine Glanz-
broschüre in den Händen halten, die schon länger fertig
gedruckt sein musste, obwohl man den Mitgliedern des
Verteidigungsausschusses gesagt hatte, erst Montagabend
seien die abschließenden Gespräche beendet worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)





Angelika Beer
11888


(C)



(D)



(A)



(B)


Dafür kann ich mich als Parlamentarier nicht bedan-
ken, sondern dafür muss ich den zuständigen Bundesmi-
nister, der das alleine zu verantworten hat, rügen. Ich
nehme ausdrücklich seine Mitarbeiter aus;


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Übernehmen Sie sich mal nicht!)


denn er kann und muss die entsprechende Anweisung ge-
ben. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Rüge durch Rossmanith!)


Herr Bundesminister Scharping, der Konsens, den wir
alle im Interesse der Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik über Jahrzehnte – egal ob in Regierungsverantwortung
oder in der Opposition – mit getragen haben, wurde von
Ihnen am gestrigen Tage aufgekündigt.


(Zurufe von der SPD: Oje!)

Das müssen wir Ihnen vorwerfen.

Zu Ihrer so genannten Grobausplanung kann ich nur ei-
nen Satz sagen: Das ist keine Grobausplanung, sondern
das ist ein grobes Aus für die Bundeswehr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Das Abendland geht unter!)



Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412408100
Herr
Kollege Rossmanith, erstens ist es schlichtweg Fakt, dass
wir die bisherige Praxis Ihrer damaligen Regierung ver-
ändert haben. Sie haben von Jahr zu Jahr Einzelpläne vor-
gelegt nach dem Prinzip: schieben, strecken, streichen.
Dazu braucht man nicht viel Zeit; man muss nur ein paar
Zahlen verändern und das war es. Dazu braucht man auch
nicht viel Vorbereitungszeit. Wir haben nicht nach diesem
Prinzip gehandelt. Das Bundesverteidigungsministerium
hat im Auftrage der rot-grünen Koalition ein Konzept zur
Reform der Bundeswehr vorgelegt, das – ich hoffe, das ist
auch für Sie nachvollziehbar – etwas mehr Arbeit, Fein-
planung und konzeptionelles Denken erfordert hat.

Insofern habe ich Verständnis dafür, wenn die eine oder
andere Vorlage etwas später erscheint. Es ist mir aber lie-
ber, sie erscheint später, als den gleichen Mist wie von Ih-
nen und Herrn Rühe weiter zu bekommen – um das ein-
mal ganz deutlich zu sagen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber die Presse hat sie doch viel eher gehabt! – Helmut Rauber [CDU/CSU]: Das ist eine Schande!)


Zweitens – ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen,
und appelliere an die Souveränität des Parlaments –: Ich
habe vorhin kritisiert, dass die Vorlage so spät gekommen
ist und ich deswegen heute nicht auf konkrete Einzelhei-
ten eingehen kann.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Dann lesen Sie doch Ihre Rede nach!)


– Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden! – Ich gebe durch-
aus zu, dass ich heute mit Interesse sämtliche deutschen
Zeitungen gelesen habe, um über die wichtigsten Punkte

der Grobausplanung informiert zu sein, weil ich heute
Morgen nicht die 40 Seiten der Vorlage durcharbeiten
konnte. Aber weil wir das Parlament sind, wird dies nicht
die letzte Debatte, sondern nur eine der Debatten sein, die
die weitere Reform begleiten. Wir werden diese Diskus-
sion im Ausschuss und mit Sicherheit auch im Deutschen
Bundestag weiter führen. Deswegen habe ich mit dem
ganzen Prozedere kein Problem.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie haben überhaupt keine Probleme! Sie nicken nur noch ab!)


Ich habe mich, auch im Auftrag der Fraktion, dafür be-
dankt, dass diese Grobplanung, wie angekündigt, vorge-
legt worden ist und wir jetzt eine weitere, detaillierte
Grundlage haben, um die Reform der Bundeswehr zügig
und konsequent umzusetzen. Bei diesem Dank bleibe ich
und ich unterstreiche ihn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412408200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412408300
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehr-
lich sagen: Diese Danksagungen kenne ich noch aus
früheren Zeiten, in denen jede Rede damit angefangen
werden musste, einem Generalsekretär zu danken. Kön-
nen wir das nicht lassen und ein bisschen vernünftiger und
politisch miteinander umgehen?


(Beifall bei der PDS – Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Bravo! Jawohl!)


Das gehört auch zum Stil.
Die rot-grüne Bundesregierung – das erkenne ich neid-

los an – kann inzwischen ganz gut auf verschiedenen Kla-
vieren spielen und sie hat für jeden eine eigene Melodie.
In der Debatte um die Bundeswehrreform verkauft sie kri-
tischen Geistern den Umbau der Armee als Abrüstung; die
Bundeswehr, die um ihren Status fürchtet, beruhigt sie mit
der Aussicht auf viel größere und wichtigere Aufgaben.
Die Grünen schlüpfen einmal mehr in die Rolle – die in-
zwischen zu ihrer zweiten Natur geworden ist –, nach
außen zu sagen: „Wir würden ja gerne“ – in diesem Falle:
abrüsten – „wenn die SPD uns ließe“, während sie nach
innen so tun, als ob sie die Bundeswehr erfunden hätten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich glaube, diese Art und Weise der Doppelstrategie kann
man einfach nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der PDS)

Im Unterschied zu den Kolleginnen und Kollegen der

F.D.P. glaube ich Ihnen, Frau Beer, Ihren Gesinnungs-
wechsel zum Militärischen hin. Daran habe ich keinen
Zweifel, wenn ich Ihnen zuhöre. Das Schlimme ist nur:
Sie glauben schon wieder, dass Sie das mit der gleichen




Kurt J. Rossmanith

11889


(C)



(D)



(A)



(B)


Inbrunst verkünden müssen, mit der Sie es vorher kriti-
siert haben.


(Beifall bei der PDS)

Etwas nachdenklicher, nüchterner, sachlicher könnten wir
mit den eigenen Entwicklungen ruhig umgehen.

Aus meiner Sicht markiert die Bundeswehrreform in
Wahrheit den Abschied von einer Verteidigungsarmee
und den Beginn einer Armee, die zur weltweiten Inter-
vention fähig ist. Das ist hier nicht bestritten worden. Ich
will festhalten, dass das der entscheidende Einschnitt ist.
Das ist ein historischer Einschnitt und eine völlig neue
Konzeption. Darin, diese umzusetzen, ist sich offensicht-
lich nicht nur die Regierung, sondern sind sich auch
CDU/CSU, F.D.P. und in diesem Falle leider auch die
Weizsäcker-Kommission einig.

Sie nennen das Modernisierung. Wir haben dazu ein al-
ternatives Konzept vorgelegt. Wir nennen es „Zukunft
durch Abrüstung“. Modernisierung klingt harmlos, klingt
wie ein Weichspüler. Ich finde, dass wir uns gerade in die-
ser Frage nicht weich spülen lassen sollten.

Der Kern der Differenz, den wir hier auszutragen ha-
ben, betrifft den Auftrag der Bundeswehr. Das Regie-
rungskonzept zur Reform der Bundeswehr ist die deut-
sche Übersetzung der neuen NATO-Strategie. Diese
besagt: Für die NATO sind weltweite Militäreinsätze auch
ohne UNO-Mandat möglich. Sie besagt: Der Zweck der
NATO ist nicht mehr die territoriale Verteidigung, son-
dern die Erfüllung von Bündnisinteressen – ein Begriff,
der so vage wie dehnbar ist. Zu den Bündnisinteressen
kann gehören, die deutsche Wirtschaft mit Rohstoffen zu
versorgen. Die Möglichkeit, dass dafür auch die Bundes-
wehr eingesetzt werden könnte, hat Verteidigungsminis-
ter Scharping am 24. Mai 2000 auf einer Pressekonferenz,
die vom Fernsehsender Phoenix übertragen worden ist,
ausdrücklich genannt.

Das so genannte Reformkonzept entspricht darüber hi-
naus passgenau der militärischen Formation, die sich die
Europäische Union schaffen will. Danach sind exakt jene
150 000 Menschen vorgesehen, die die Bundesrepublik
Deutschland zu den europäischen Krisenreaktionskräften
beisteuern soll. Da drängt sich doch die Frage auf: In wel-
che Kriege sollen deutsche Soldaten künftig geschickt
werden? In den Kaukasus? Nach Afrika? Wenn ja, auf
welcher Grundlage?

Dem neuen Auftrag der Bundeswehr entspricht ihre
neue Bewaffnung. Sie braucht Hightech. Diese Umrüs-
tung kostet viel Geld. Was uns von der rot-grünen Bun-
desregierung unter dem Titel „Reform“ vorgelegt wird, ist
das qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man
hier festhalten und das muss man auch draußen sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Daran mäkelt jetzt – das begreife ich eigentlich nicht –

die CDU/CSU herum. Herr Kollege Polenz, Ihre Rede
fand ich ziemlich zahnlos und ohne Biss. Ich habe darü-
ber nachgedacht, woran das liegen könnte. Ich glaube, das
liegt daran, dass Sie die jetzige Entwicklung der Bundes-
wehr eigentlich bejahen und dass deswegen Ihre Kritik,

die Sie aufgrund Ihrer Position üben müssen, etwas klein-
lich ist. Das, was Sie ärgert, ist, dass Rot-Grün das durch-
setzt, was Schwarz-Gelb schon immer wollte.


(Beifall bei der PDS)

Nur, die Kohl-Regierung hat es nicht geschafft. Sie

musste zu Recht die gesellschaftliche Opposition fürch-
ten, zu der damals im weitesten Sinne auch die heutigen
Regierungsparteien SPD und Grüne gehörten.


(Beifall bei der PDS)

Die hätten damals nämlich nicht mitgespielt und das wuss-
ten Sie. Was das bedeutet, das wusste Helmut Kohl zu ge-
nau. Zu präsent war die Erinnerung an die Volksbewe-
gung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Eine ähnliche
Kraftprobe hat sich die alte Bundesregierung kurz nach
der deutschen Einheit nicht zugetraut. Diese politischen
Skrupel allerdings hat Rot-Grün heute nicht mehr; auch
das muss hier ausgesprochen werden.


(Beifall bei der PDS – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben inzwischen andere Erfahrungen in Europa gemacht! Das ist der Kernpunkt! Ihr stellt euch dem entgegen!)


Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Bun-
desrepublik Deutschland nur noch von Freunden und
Partnern „umzingelt“. Dies ist eine einzigartige Chance
zur Abrüstung. Die Bundesregierungen sagten bislang:
Wir können die Chancen leider nicht nutzen, solange in
Südosteuropa blutige Bürgerkriege toben. Die Dekade der
Balkankriege ist aber jetzt aus und vorbei. Jedenfalls
stellte das gestern die Bundesregierung in der Debatte be-
züglich der Entwicklungen in Jugoslawien fest. Wenn das
wirklich so ist, dann könnten Sie endlich loslegen: Sie
könnten abrüsten. Sie tun es aber nicht. Warum tun Sie es
denn nicht? Die Regierung beantwortet solche Fragen
nicht.

Auch aus unserer Sicht gibt es nach Ende der Bal-
kankriege noch Risiken wie den Terrorismus, die Weiter-
verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die organi-
sierte Kriminalität, innerstaatliche Konflikte und Bürger-
kriege. Aber all diese Risiken entziehen sich ihrer Natur
nach militärischen Lösungen. Sie müssen vielmehr sozial
und humanitär ausgeglichen und gedämpft werden. Das
ist die eigentliche Aufgabe. Diese Konflikte können und
dürfen nicht militärisch gelöst werden.


(Beifall bei der PDS)

Adäquate Mittel wären wirtschaftliche Unterstützung,

politische Hilfen und eine friedliche Zusammenarbeit.
Neue militärische Interventionskräfte der Europäischen
Union, eine kriegerischere Bundeswehr sind eine völlig
falsche Antwort auf neue Problemlagen der Welt. Deswe-
gen meinen wir, deutsche Streitkräfte müssen sich strikt
auf den Verteidigungsauftrag beschränken. Dafür wären
100 000 Soldatinnen und Soldaten mehr als genug.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einen
knappen Satz zu der Debatte um die Angleichung der Be-
soldung in Ost und West sagen. Wenn Herr Bundesminis-
ter Scharping von der Armee der Einheit gesprochen hat,




Wolfgang Gehrcke
11890


(C)



(D)



(A)



(B)


sollte damit nicht nur eine Einheit im Dienen, dann muss
damit auch eine Einheit im Verdienen gemeint sein.


(Beifall bei der PDS)

Alle Argumente, die wir von Herrn Zumkley gehört ha-
ben, waren nicht besonders überzeugend. Das ging ein
bisschen nach dem Motto: Wasch meinen Pelz, aber ich
will es nicht bezahlen.

Lassen Sie mich abschließend noch die Problematik
der Wehrpflicht ansprechen. Die PDS tritt für die Ab-
schaffung der Wehrpflicht ein. Ein erster Schritt dazu
kann die Aussetzung der Wehrpflicht sein, weil die Wehr-
pflicht im Grundgesetz als Kannbestimmung verankert ist
und die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ände-
rung des Grundgesetzes hier leider nicht zusammen-
kommt. Aber es ist besser, sie auszusetzen, als sie weiter-
zuführen. Das hat übrigens die F.D.P. auf ihrem Parteitag
beschlossen, wenn auch mit anderen Argumenten und an-
deren Zielen als die PDS. Ich möchte daher im Interesse
der F.D.P. und der PDS deutlich sagen: Von den Zielen her
unterscheiden wir uns auch in dieser Frage völlig. Sie
wollen im Kern ebenfalls eine Kriseninterventionsarmee.
Dass die Grünen so auf diesem Beschluss herumhacken,
spricht wiederum nur für das schlechte Gewissen der Grü-
nen, das sie gerade in dieser Frage haben.

Die PDS dagegen hält daran fest: Armeen, Aufrüstung,
Rüstungsexport und Zwangsdienste sind vollständig zu
überwinden. Das wird sicherlich ein langer Weg sein. Er
muss gegangen werden, bis er eine Mehrheit in der Be-
völkerung findet. Wir haben unsere Alternativen in dieser
grundsätzlichen Frage der Bundeswehrreform deutlich
aufgezeigt. Wir halten Abrüstung auch in diesem Parla-
ment nicht für ein Fremdwort. Wir wollen endlich, dass
konkret deutlich abgerüstet wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412408400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.


Verena Wohlleben (SPD):
Rede ID: ID1412408500
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Polenz und Herr
Gerhardt, Sie haben zur Zukunft der Bundeswehr gespro-
chen. So, wie Sie das dargestellt haben, soll sich eigent-
lich nichts verändern; die veralteten Strukturen der Bun-
deswehr sollen beibehalten werden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Ich hatte zumindest diesen Eindruck. Ich sage Ihnen
auch, warum ich diesen Eindruck hatte:


(Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Weil Sie nicht zugehört haben!)


Frauen sind bei Ihnen überhaupt nicht vorgekommen. Es
ist Ihnen wohl entgangen, dass es in der Zukunft Frauen
in der Bundeswehr gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412408600
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?


Verena Wohlleben (SPD):
Rede ID: ID1412408700
Nein, in Anbetracht der
Zeit gestatte ich keine Zwischenfragen. Außerdem hat
Herr Nolting am Anfang schon genügend Gelegenheit ge-
habt, hier zu sprechen – wenngleich er nicht auf der Red-
nerliste stand.

„Frauen erobern die Bundeswehr, ehrgeizig und nicht
weniger hart im Nehmen als ihre männlichen Kollegen“,
so war es dieser Tage in einer Tageszeitung zu lesen. Da-
mit geht ein langer Weg der Irreführung zu Ende, der bis
zum Europäischen Gerichtshof führte. Jetzt wird einer der
letzten Steine zur Gleichstellung von Mann und Frau aus
dem Weg geräumt. Wir können stolz sein; denn das Mär-
chen vom schwachen Geschlecht ist jetzt korrigiert.

Damit die Realisierung nun wirklich ohne Hindernisse
auf den Weg gebracht werden kann, bedarf es der Anpas-
sung des Soldatengesetzes.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wehrpflicht für Frauen!)


– Lieber Kurt, halt Dich zurück, bitte nicht wieder dieses
Thema! – Die vorgesehenen Änderungen des Soldatenge-
setzes, was den Dienst für Frauen anbelangt, sind gelun-
gen und entsprechen den Notwendigkeiten voll und ganz.

Weibliche Soldaten im Sanitätsdienst gibt es bei der
Bundeswehr schon lange. Deshalb war bei mir in Roth,
wo Sanitäter ausgebildet werden, die Aufregung nicht
sehr groß, als das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
vorlag. Nun werden alle Teilstreitkräfte der Bundeswehr
für Bewerberinnen offen stehen. Die Frau als Sonderfall
bei der Bundeswehr wird es daher nicht mehr geben.

Ein Oberfeldarzt aus meinem Wahlkreis sagte mir, er
sei es gewohnt, dass es bei seiner Truppe in Roth inzwi-
schen mehr Frauen als Männer gebe. Sonderbehandlun-
gen oder reine Frauengruppen haben sich nicht bewährt;
am besten lässt sich eine Truppe führen, in der Männer
und Frauen in etwa gleichstark vertreten sind – so sagen
mir die Fachleute. Frauen müssen auch die gleichen Ein-
stellungsvoraussetzungen wie ihre männlichen Kollegen
erfüllen. Dass von etwa 100 Offiziersanwärtern durch-
schnittlich nur etwa sieben die schweren Prüfungen zum
Flugzeugführer schaffen, ist völlig normal. Diese Quote
wird ganz sicher auch von Frauen erreicht werden.
In drei bis vier Jahren – da bin ich mir sicher – fliegen die
ersten Pilotinnen bei der Luftwaffe.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412408800
Herr Kollege
Braun, Frau Wohlleben gestattet Ihre Zwischenfrage
nicht.


Verena Wohlleben (SPD):
Rede ID: ID1412408900
Frauen werden alle Lauf-
bahnen offen stehen. Dies und vieles mehr ist nun im
Soldatengesetz geregelt worden. Dafür danken wir dem
Bundesminister. Dass auch die Umsetzung dieser hervor-
ragenden Regelung exakt und schnell vonstatten geht,
dessen sind wir uns sicher. Dann können wir Frauen, aber




Wolfgang Gehrcke

11891


(C)



(D)



(A)



(B)


auch die Männer zufrieden sein. Herr Minister, ich
glaube, wir werden zufrieden sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Seit wann diese Einstellungsänderung der SPD?)


Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die grundlegende
Neuausrichtung der Bundeswehr sowie der Beginn einer
strategischen Partnerschaft mit derWirtschaftmarkie-
ren einen Umbruch hinsichtlich der bisherigen Zusam-
menarbeit, aber auch einen Umbruch dahin gehend, dass
Berufs- und Zeitsoldaten nach ihrem Ausscheiden ihre Er-
fahrungen möglichst unkompliziert in die Arbeitswelt
einbringen können. Das ist sehr wichtig, damit sie durch
ihr Ausscheiden aus der Bundeswehr nicht sofort aufs
geistige Altenteil geschickt werden und wichtige Erfah-
rungen und intelligentes Humankapital brachliegen. Dass
das so noch nicht in § 20 a des Soldatengesetzes ge-
schrieben werden konnte, nehmen wir zur Kenntnis.

Dass eine Veränderung des § 25 a notwendig ist, steht
außer Frage. Wir sind endlich erwachsen geworden, und
wenn ich „erwachsen“ sage, dann meine ich damit, dass
wir wie unsere internationalen Partner Pflichten über-
nommen haben, die über die Kernaufgabe der Landesver-
teidigung hinausgehen. Wir sind künftig in der Bündnis-
verteidigung und im internationalen Management mehr
gefordert.

Da darf ein kommunales Ehrenamt nicht im Wege
stehen. Das, was in der freien Wirtschaft gang und gäbe
ist, muss auch für unsere Soldaten gelten. Selbstverständ-
lich wollen wir unsere Soldaten auch in kommunalen
Ehrenämtern sehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollen weiterhin kandidieren und auch gewählt wer-
den; denn wir sind stolz auf diese praktizierte Form des
Staatsbürgers in Uniform.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Dieses Amt darf aber nicht dazu benutzt werden, sich
vor Auslandseinsätzen zu drücken.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wer macht das denn?)


– Bisher ist dies nur in einem Fall versucht worden, Herr
Nolting. Das könnte sich aber fortsetzen. Deswegen ist es
notwendig, eine Veränderung im Soldatengesetz vorzu-
nehmen. Auch hier wird uns sicher ein annehmbarer
Wortlaut vorliegen, über den wir beraten werden und den
wir sicher alle miteinander tragen können.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir laden Sie zur
konstruktiven Mitarbeit ein, damit wir diese Reform,
diese Veränderungen im Soldatengesetz auf den Weg
bringen können. Die Zeit dafür ist reif. Erinnern Sie sich
doch: Wann gab es die letzte erfolgreiche Reform? – Ver-
teidigungsminister Helmut Schmidt war der Initiatior.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Er hat eine weitsichtige, zukunftsfähige Reform der Bun-
deswehr konzipiert – das lässt sich nachlesen, hören Sie
gut zu – und auf den Weg gebracht. Die Verteidigungsmi-
nister Georg Leber und Hans Apel haben dieses wichtige
Werk in die Tat umgesetzt und Sie, meine sehr verehrten
Herren und Damen von der Opposition, haben davon
16 Jahre lang gelebt. So einfach ist das.


(Beifall bei der SPD)

Das sind Tatsachen und Fakten. Lesen Sie es in der Be-
standsaufnahme nach.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie haben Gedächtnislücken!)


Von Ihnen kam keine Erneuerung, Sie haben die Truppe
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur verunsi-
chert.

Bitte vergessen Sie einmal für einen Augenblick Ihre
Oppositionsrolle und denken Sie an die Menschen in der
Bundeswehr, die nicht wie Schachfiguren beliebig auf
dem Felde hin und her geschoben werden können, so wie
Sie es bisher getan haben. Die Zeiten dafür sind Gott sei
Dank vorbei. Die Bundeswehr vertraut dieser Regierung
und dieses Vertrauen wissen wir zu schätzen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie nehmen sie vom Schachbrett!)


Wir werden diese Menschen nicht enttäuschen, weil nur
wir nachweisbar die Kompetenz dazu haben, unsere Bun-
deswehr zukunftsfähig zu reformieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir danken dem Bundesminister der Verteidigung.

(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das ist die sprichwörtliche Bescheidenheit der Sozialdemokraten!)


Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die
hervorragende Arbeit und wir danken den Soldatinnen
und Soldaten dafür, dass sie bereit sind, diesen Reform-
weg mitzugehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412409000
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Nolting das Wort.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht schon wieder!)



Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1412409100
Frau Kollegin
Wohlleben, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass die
F.D.P. bereits im Jahre 1987, also vor 13 Jahren, be-
schlossen hat, dass sich die Bundeswehr für Frauen in all
den Bereichen öffnen soll, in denen Frauen mitarbeiten
wollen? Können Sie sich daran erinnern, dass die F.D.P.
hierzu im Bundestag Vorstöße unternommen und Anträge
eingebracht hat, die regelmäßig von allen Fraktionen ab-
gelehnt wurden, auch von der SPD-Fraktion? Können Sie




Verena Wohlleben
11892


(C)



(D)



(A)



(B)


sich auch daran erinnern, dass uns die Grünen, vor allem
die Kollegin Beer, aufgrund unserer Forderung ständig
die Militarisierung der Gesellschaft vorgeworfen haben?
Heute wird dies als Sieg der Gleichberechtigung darge-
legt.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?)


Vielleicht können Sie sich an diese erst wenige Jahre
zurückliegenden Ereignisse erinnern. Ich freue mich, dass
Sie das, was wir als F.D.P. vor 13 Jahren beschlossen ha-
ben, jetzt endlich übernehmen.

Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben hier im Rahmen
der Diskussion über das Ehrenamt geäußert, dieses Amt
dürfe nicht dazu benutzt werden, dass sich Soldaten vor
Auslandseinsätzen drücken. Sind Sie sich eigentlich be-
wusst, was Sie damit sagen? Sie verunglimpfen die Sol-
daten im Einsatzgebiet, Sie verunglimpfen die Soldaten,
die hier vor Ort ihren Dienst tun, und Sie verunglimpfen
die Soldaten, die in dieser Demokratie und für diese De-
mokratie in den Kommunalparlamenten arbeiten, wenn
Sie hier einen einzigen Fall pauschal vortragen, um dann
zu einer solchen Aussage zu kommen. Sind Sie sich darü-
ber im Klaren? – Ich glaube nicht.


(Verena Wohlleben [SPD]: Doch, ich bleibe dabei!)


Sie könnten auf diese Frage antworten, um das richtig zu
stellen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412409200
Möchten Sie
antworten? – Das ist nicht der Fall.

Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans Raidel
das Wort.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1412409300
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Wohlleben, wer keine Selbstzweifel hat, macht nach alter
Lebenserfahrung im Leben viele Fehler. Ich hoffe, dass
Sie davor bewahrt bleiben.


(Verena Wohlleben [SPD]: Vielen Dank für die guten Wünsche! Sie können es mitverfolgen!)


Herr Minister, das war heute keine große Rede, das war
kein großer Wurf. Vieles ist im Dunkeln geblieben. Neues
kam nicht so richtig zum Tragen. In meinem Wahlkreis
gibt es ein Sprichwort dafür: „Der Berg kreißte, eine Maus
ward geboren.“

Liebe Freunde, die Bundeswehr muss reformiert wer-
den. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel. Nach al-
lem, was bisher bekannt ist, kann jedoch von einer durch-
gängigen, klaren und konsequenten Planung auf der
Grundlage einer soliden Finanzierung für die Bundes-
wehr nicht die Rede sein. Herr Minister, Sie predigen mit
missionarischem Eifer von der Attraktivität, von der Qua-

lität und von der Motivation. Aber Ihr Dilemma ist doch
ersichtlich: Ihre Regierung will all das, was Sie vorschla-
gen, nicht bezahlen. Strecken, Schieben, Streichen ist out,
erklärten Sie bei Ihrem Amtsantritt.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Dies war aus heutiger Sicht vielleicht ein bisschen vorei-
lig. Ich sage: Strecken, Schieben, Streichen ist nach wie
vor in. Das zeigt ein Blick in den Haushalt 2001, in die
mittelfristige Finanzplanung und in die Investitionspla-
nung. Dies ist für jeden Fachkundigen ersichtlich.

Jeder weiß, dass die Reduzierung der Truppenstärke,
die Steigerung der Attraktivität, eine moderne Ausrüstung
und die Erfüllung internationaler Verpflichtungen erst
einmal zusätzlich Geld kosten. Doch die notwendige An-
schubfinanzierung für die Bundeswehrreform ist vom
Tisch. Der Wehretat sinkt. Das sind die Fakten.

Herr Minister, am Ende zählt nicht, ob Sie vielleicht
die richtigen Ideen vorgetragen haben, sondern nur das,
was diese Regierung und Rot-Grün daraus gemacht ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum scheuen Sie den erneuten Kampf um mehr Geld?
Nach allen Meinungsumfragen bejaht die Bevölkerung
die Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Wehrpflicht
und will eine moderne Bundeswehr. Seit 14 Uhr tagen die
Zuständigen in den Reihen der SPD über die Verteilung
zumindest der Zinsen aus den UMTS-Milliarden. Wo ist
Ihre Forderung, wenigstens 1 Milliarde DM von diesem
Kuchen zu bekommen? Wir wissen es: Herr Schröder und
Herr Eichel wollen nicht, die Grünen wollen nicht, auch
nicht die Linken in der SPD. Sie stehen mit dem Rücken
zur Wand. Das ist die Wahrheit. Ideologie geht vor Rea-
lität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein Wort zur Wehrpflicht.Wir wollen die Wehrpflicht.

Die CDU/CSU ist und bleibt der Garant für die Wehr-
pflicht. Wir dürfen es gemeinsam nicht zulassen, dass
hier über die Aussetzung und über die Abschaffung der
Wehrpflicht geredet wird und vielleicht sogar Beschlüsse
dazu gefasst werden. In Richtung der F.D.P. sage ich:
Es darf nicht sein, dass der Zeitgeist der
„Möllemänner“ über die Vernunft der Sachkundigen tri-
umphiert. Revidieren Sie diesen Parteitagsbeschluss! Und
die Grünen sollten sich an das erinnern, was sie früher ge-
sagt haben. Sie sollten ein klares Bekenntnis zur Wehr-
pflicht ablegen.

Die Ausübung des passiven Wahlrechts soll für Sol-
daten eingeschränkt werden. Den Fall, den Sie zitiert ha-
ben, sollten Sie bitte einmal nachlesen. Es ist nur peinlich,
was hier passiert ist. Gerade wir Parlamentarier dürfen
nicht zulassen, dass diese Rechte eingeschränkt werden.
Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Minister: Streichen
Sie diese Vorschrift aus dem Gesetz! Sie ist für die prak-
tische Handhabung nicht notwendig, sie ist überflüssig.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Günther Friedrich Nolting

11893


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will noch etwas zur Standortfrage sagen. Wir wis-
sen, dass die Präsenz in der Fläche notwendig ist. Wir wis-
sen, wie sehr die Bundeswehr mit ihren Standorten bei
Land und Leuten verwurzelt ist. Das muss natürlich auch
künftig so bleiben. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass
dies einen Ausbildungs- und Wirtschaftsfaktor darstellt.
Wir treten daher für den möglichst vollständigen Erhalt
der Bundeswehrstandorte ein. Herr Minister, Ihre diesbe-
zügliche Aussage ist nicht schlüssig: Sie wollen das Per-
sonal um rund 60 000 Personen reduzieren, aber nur
Kleinststandorte schließen. Rechnet man das einmal
nach, ergibt sich, dass das nicht geht. Das bedeutet, dass
eine Standortschließungswelle bevorsteht. Ich sage Ihnen
klipp und klar: Wir sind nicht für diesen Weg. Wir haben
in unseren Vorstellungen dargelegt, wo für uns bei der
Struktur und beim Personal die Unterkante liegt. Wir ma-
chen Sie von diesem Platz aus für die Standortfrage ver-
antwortlich. Sie, Rot-Grün, sind für diese Themen verant-
wortlich.

Sie wollen aus dem Verkauf von Liegenschaften und
veraltetem Wehrmaterial Geld erwirtschaften. Grundsätz-
lich ist diese Idee richtig. Aber wenn Sie davon ausgehen,
dass hier schnelles Geld – vor allem in ausreichendem
Umfang – erzielt werden kann, dann haben Sie diese The-
men nicht richtig durchleuchtet, weil das in der Praxis mit
Sicherheit nicht passieren wird.

Was wird passieren? Sie werden entweder die Soll-
stärke weiter nach unten fahren oder viele Projekte aus
dem Haushalt streichen müssen. Das ist es eben: Ver-
schieben, Strecken, Streichen. In allen Fällen wird die Un-
ruhe und Unzufriedenheit in der Truppe zunehmen. Von
einer attraktiven Armee kann überhaupt keine Rede mehr
sein. Unsere Verbündeten sind bereits enttäuscht bzw.
werden enttäuscht sein. Deutschland wird seinen Ver-
pflichtungen nicht gerecht.

Die Reformüberlegungen sind auf Rand genäht. Es
geht nur nach der Kassenlage und nicht nach dem Bedarf.
Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge, wie sie derzeit auf
dem Tisch liegen, ab. Sie sind für die Bundeswehr in die-
ser Form nicht zumutbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412409400
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Scharping das Wort.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber nicht zurücktreten!)



Rudolf Scharping (SPD):
Rede ID: ID1412409500
Herr Kollege Raidel, da
Sie sich wie auch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion re-
gelmäßig wiederholen, ohne auf Zahlen einzugehen,
möchte ich Sie zunächst fragen, welchen Ihrer Finanz-
pläne ich eigentliche zugrunde legen soll.


(Hans Raidel [CDU/CSU]: Den Letzten!)

Für das Jahr 1997 haben Sie in diversen Finanzplänen

vorgesehen: 47,5 Milliarden DM, 47,9 Milliarden DM,
48,4 Milliarden DM, 46,5 Milliarden DM, 46,3 Mil-
liarden DM – das nenne ich eine solide Finanzplanung.
Tatsächlich ausgegeben haben Sie 46,2 Milliarden DM.

1998 haben Sie in diversen Finanzplänen 48,4 Mil-
liarden DM, 48,9 Milliarden DM, 46,9 Milliarden DM,
46,7 Milliarden DM, 46,7Milliarden DM vorgesehen. Im
Jahr 1999 – das sage ich jetzt nur zur Verdeutlichung – hat
diese Koalition für die Bundeswehr 47,05 Milliarden DM
und im Einzelplan 60 rund 600 Millionen DM eingeplant;
das macht rund 47,6 Milliarden DM. Ausgegeben hat sie
48,1 Milliarden DM. Genauso wird es übrigens im Jahre
2000 laufen. Das ist der erste Punkt.

Zweiter Punkt. Sie sagen, Einsparungen bis zu 1 Milli-
arde DM seien unrealistisch. Ich sage Ihnen – das habe ich
schon im Verteidigungsausschuss und an anderer Stelle
gesagt; aber so ist es dann auch im Protokoll des Deut-
schen Bundestages –: Wir rechnen mit sinkenden Be-
triebskosten in einer Größenordnung von 200 bis 250Mil-
lionen DM. Wir haben im Haushaltsentwurf 2001 das
Beschaffungsvolumen, das handelsüblich abgewickelt
und marktüblich finanziert werden kann, mit einer
Größenordnung von 370 Millionen DM identifiziert.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Aber das will der Außenminister doch nicht!)


– Was hat der denn damit zu tun? Sie sind jetzt wirklich
auf dem falschen Dampfer, Herr Kollege Nolting.

Im Übrigen hat Ihre Tätigkeit dazu geführt, dass Lie-
genschaften frei geworden sind, die von der Wehr- und
von der Bundesvermögensverwaltung folgendermaßen
bewertet worden sind: geschätzter Verkehrswert für das
Jahr 2001 370 Millionen DM. Ich sage Ihnen das nur; Sie
werden ja über den Haushaltsvollzug unschwer kontrol-
lieren können, ob diese Ziele erreicht werden.

Letzter Hinweis. Was die internationale Anerkennung
angeht, beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl. Alle
meine Kollegen Verteidigungsminister begrüßen die Re-
form der Bundeswehr; das haben sie ausdrücklich gesagt.
Alle in der Wirtschaft begrüßen die Reform der Bundes-
wehr und die Einführung moderner Managementmetho-
den, die Kooperation mit der Wirtschaft. 85 Prozent der
Angehörigen der Streitkräfte – herausgefunden durch eine
Umfrage von Emnid, durchgeführt mit 12 000 Angehöri-
gen der Streitkräfte – begrüßen die Reform der Streit-
kräfte. Die einzigen, die nörgeln, sind Sie.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie doch auch!)

Sie sagen übrigens weder zu den Besoldungsverbesse-

rungen noch zur Neuordnung der Laufbahn Nein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, wir sind auch für die Reform! Das ist doch keine Frage!)


Sie sagen auch nicht Nein zur Neustrukturierung von
Heer, Luftwaffe und Marine. Sie sagen nicht Nein zur
Streitkräftebasis. – Das alles scheint Ihnen doch offenbar
recht zu sein.

Wenn sich also der Dialog darauf begrenzt, die Frage
zu stellen, ob eine richtige Vorstellung auch finanziert
werden kann, dann bin ich bereit – längs der Zahlen, die
ich Ihnen gerade noch einmal genannt habe –, in diesen
Dialog einzutreten. Sie werden mir dann erläutern müs-
sen, auf welcher Grundlage ich vergleichen soll, was Sie
bisher geplant hatten; denn ich habe für jedes Haushalts-




Hans Raidel
11894


(C)



(D)



(A)



(B)


jahr mindestens fünf Zahlen vorliegen und sie lauten im-
mer anders – vor allen Dingen anders als die Realität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412409600
Herr Kollege
Raidel, bitte.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1412409700
Herr Minister, erst einmal
vielen Dank, dass Sie mich zur Erwiderung auserkoren
haben.

Wer sich ständig nur auf die Vergangenheit beruft, hat
kaum ein ausreichendes Konzept für die Zukunft.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt man in Ihrem Wahlkreis, oder?)


Das ist das große Problem der gesamten Planung, die Sie
vorlegen. Die Planung ist nicht ausgegoren – das sagen
hinter vorgehaltener Hand selbst Ihre eigenen Leute. Ori-
entieren Sie sich doch an unserem letzten Finanzplan, der
einen Aufwuchs bis 50 Milliarden DM vorgesehen hat.
Wir begrüßen alle modernen Ideen für eine Umplanung,
für eine moderne Armee. Da gibt es überhaupt keinen
Zweifel. Was in der Wirtschaft, mit der Wirtschaft, für die
Wirtschaft und für die Bundeswehr getan wird – –


(Zuruf des Abg. Rudolf Scharping [SPD])

– Scheinbar habe ich Sie doch ziemlich getroffen. Sie
können so schön emotional sein.


(Rudolf Scharping [SPD]: Ich mag es nicht, wenn immer falsche Zahlen genannt werden!)


– Es sind keine falschen Zahlen. In meinem ganzen Kon-
zept sind kaum Zahlen vorgekommen, also können Sie
sich bei mir auch nicht auf falsche Zahlen berufen.

Ich sage Ihnen nur: Orientieren Sie sich am 32. Finanz-
plan! Gehen Sie schrittweise auf die 50 Milliarden DM
zu! Sehen Sie zu, dass Sie das Geld, das gerade verteilt
wird, auch für die Bundeswehr nutzbar machen können,
und legen Sie uns bitte alle Unterlagen rechtzeitig vor, so-
dass wir Ihre Ideen, Gedanken und Modelle in allen Ein-
zelheiten prüfen können! Wenn etwas Vernünftiges dabei
sein sollte – das habe ich Ihnen auch schon einmal per-
sönlich gesagt –, werden meine Kollegen und ich das auch
gerne unterstützen. Wenn aber alles so unverbindlich wie
derzeit formuliert wird, wenn alles im Dunkeln bleibt,
können Sie von uns nicht erwarten, dass wir diesen Weg
ins Dunkle mit Ihnen gehen werden. Sie sind aufgefor-
dert. Sie haben hier die Bringschuld, und zwar nicht nur
gegenüber uns, sondern gegenüber dem ganzen Parla-
ment, der Bundeswehr und der Öffentlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412409800
Es gibt noch
zwei Redewünsche. Aber ich darf nicht zulassen, dass aus
den Kurzinterventionen sozusagen eine Nebendebatte
wird. Insofern werde ich in der Reihenfolge der Wort-
meldungen fortfahren.

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anni Brandt-
Elsweier.


Anni Brandt-Elsweier (SPD):
Rede ID: ID1412409900
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Zukunft der Bundeswehr
wird auch weiblich sein. Das wird mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sichergestellt
und das ist auch gut so. Nach Öffnung der Bewerberin-
nenlisten für die Bundeswehr haben sich bis Ende August
immerhin 1 641 Frauen in diese Listen eingetragen. Das
ist nicht gerade ein Ansturm, aber am 2. Januar nächsten
Jahres treten die ersten freiwillig dienenden Soldatinnen
ihre Unteroffiziers- und Mannschaftslaufbahn beim Bund
an, am 1. Juli folgen dann die ersten angehenden weibli-
chen Offiziere. Wie viele es letztlich auch sein mögen, die
Bundeswehr wird ihr Gesicht verändern und manche Vor-
urteile dürften fallen.

Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass ich mich
zu Beginn der Debatte sehr schwer mit dem Gedanken ge-
tan habe, Frauen den freiwilligen Zugang zur Bundeswehr
zu ermöglichen. Ich bin Jahrgang 1932 und die Erin-
nerung an den letzten Krieg macht es mir nicht leicht, die-
ser Idee völlig unverkrampft gegenüberzustehen. Aber ich
habe mich in zahlreichen Gesprächen, insbesondere mit
jungen Frauen, die dieses Thema bedeutend lockerer se-
hen als meine Generation, überzeugen lassen. Für sie ist
die Bundeswehr zunächst ein Arbeitsmarkt wie jeder an-
dere, eine Gelegenheit, um auch, wie die Männer, eine
Ausbildung zu erhalten und Karriere machen zu können.
Dieser Aspekt ist richtig und wichtig und doch geht es um
mehr.

Der Zugang der Frauen zur Bundeswehr ist ein
wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem gleichberechtig-
ten Miteinander. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich
bin nicht der Ansicht, dass gerade eine Zivilgesellschaft
wie die in der Bundesrepublik ausgerechnet das Militär
benötigt, um die Gleichberechtigung voranzubringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es muss noch viel getan werden, um zum Beispiel die
nach wie vor existierende Diskriminierung der Frauen im
Erwerbsleben weiter zurückzudrängen. Wir werden des-
wegen in Kürze ein Gleichstellungsgesetz vorlegen, das
die Chancen für Frauen, auch in die Chefetagen der
großen Unternehmen vorzustoßen, erheblich verbessern
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber machen wir uns doch nichts vor: Die Bundeswehr
ist eine der letzten Bastionen der Männer, der „kriegeri-
sche Männerbund“ ist identitätsstiftend für die Männlich-
keit an sich. Wer hat sie nicht vor Augen, die amerikani-
schen oder auch die deutschen Kriegsfilme, in denen
Männer – mehr oder weniger heroisch – ihr Leben für
Volk und Vaterland einsetzen? Frauen sind da meist auf
die Rolle der bangenden Gattin und der helfenden Kran-
kenschwester beschränkt. Und deswegen gehören Frauen
auch in die Armee, nämlich um die Geschlechterrollen
aufzubrechen, um das Bild des Mannes als Krieger und




Rudolf Scharping

11895


(C)



(D)



(A)



(B)


Beschützer und das der passiven, hilflosen Frau endgültig
zu verdrängen, damit Frauen an den wichtigen Entschei-
dungen in unserem Land auch wirklich teilhaben.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung

unseres Verteidigungsministers Rudolf Scharping, Frauen
nicht von vornherein von irgendwelchen Verwendungen
in der Armee auszuschließen. Keine Sonderregelung,
keine Quote, kein Bonus – allein Leistung, Eignung und
Befähigung sind die ausschlaggebenden Kriterien für den
Einsatz der Frauen.

Sie werden eine Bereicherung für die Bundeswehr
sein. Die ersten Einstellungstests der Bundeswehr liefern
einen eindeutigen Befund: Die so genannte Ausschöp-
fungsquote ist bei den Frauen wesentlich höher als bei den
Männern. Das heißt im Klartext: An den Eingangshürden
scheitern prozentual viel mehr Männer als Frauen. Im
Vergleich zu den männlichen Kandidaten sind Frauen
meist eloquenter, haben die besseren Kenntnisse über
Bundeswehr und Politik


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das zeigt sich auch heute in der Debatte!)


und sind, wie zum Beispiel die Erfahrungen in der israe-
lischen Armee zeigen, den Männern in der Logistik über-
legen.

Wundert uns das wirklich? Dass Frauen beruflich bes-
ser qualifiziert sind, ist hinlänglich bekannt. Dass sie ihre
Fähigkeiten zum Positiven einbringen werden, bezweifelt
sicherlich auch niemand ernsthaft. So haben bereits die
Erfahrungen der sanitätsdienstlichen Unterstützung der
Vereinten Nationen in Kambodscha gezeigt, dass die hohe
Leistungsbereitschaft der Sanitätssoldatinnen einen stark
motivierenden Einfluss auf männliche Kameraden aus-
üben kann. Aber auch hier machen wir uns bitte nichts
vor: Es wird nicht leicht werden für die jungen Frauen.

Die Stellungnahme der Frauenbeauftragten des
Bundesverteidigungsministeriums, Frau Rita Scholz-
Villard, spricht eine deutliche Sprache – ich zitiere –:

In der Armee herrscht nach wie vor ein überkomme-
nes Rollenverständnis. Bei der Bundeswehr treffen
Frauen von heute auf Männer von gestern.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Werbekampagnen für Frauen bei der Bundeswehr hält
Frau Scholz-Villard für Lippenbekenntnisse; in Wahrheit
stünden die Männer nicht dahinter.

Der „Spiegel“ hat sich in seiner Ausgabe vom 1. Sep-
tember 2000 ausführlich mit diesem Thema beschäftigt.
Die Zitate manch männlicher Angehöriger der Bundes-
wehr lassen den Schluss zu, dass Frau Scholz-Villard mit
ihrer Meinung Recht hat. Dort wird ein bayerischer Ober-
stabsarzt mit den Worten zitiert:

Wir haben nichts gegen Frauen – nur sagen lassen
wollen wir uns von denen nichts.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Zu den Vorzügen der traditionellen Männergesellschaft
bekennt sich auch der Kommandeur des Jägerbataillons
im sächsischen Marienberg:

Ein weiblicher Kampfoberst wäre das Letzte, was
mir fehlt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Unter diesen Aspekten begrüße ich ausdrücklich, dass

unser Verteidigungsminister bereits reagiert hat und durch
das Zentrum für Innere Führung in Koblenz so genannte
Gender-Trainings für Kompaniechefs und Kommandeure
anbietet, um „Verhaltenssicherheit“ im Umgang mit
Frauen zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Scholz-Villard beklagt zudem auch die Mühen,
Frauen auf Beförderungsposten zu bekommen. Anlässlich
einer Reise des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend nach Israel konnten wir feststellen,
dass dieses Problem kein spezifisch bundesdeutsches ist.
Dort ist der Dienst Pflicht, für Frauen wie für Männer. An
der Spitze aber ist die israelische Armee ein frauenfreier
Verein; denn die Toppositionen sind nur Männern vorbe-
halten, jedenfalls noch heute. Aus diesem Grunde ist auch
der inzwischen erstellte zweite Frauenförderplan des
Bundesverteidigungsministeriums von großer Wichtig-
keit. Wir müssen jedoch darauf achten, dass er in die Rea-
lität umgesetzt wird; sonst ist er das Papier nicht wert, auf
dem er geschrieben steht.

Es sind also Vorsicht und Wachsamkeit geboten. Vor
allem sollten wir die jungen Frauen nicht unvorbereitet in
den Militärdienst schicken. Männer haben immerhin die
Möglichkeit, während ihres Wehrdienstes zu erkunden,
ob sie sich eine berufliche Zukunft in der Bundeswehr
vorstellen können. Frauen sind allein auf die Informatio-
nen der Anwerber angewiesen. Entscheiden sie sich für
die Armee, werden sie bereits nach drei Tagen vereidigt
und müssen dann die gesamte Zeit ableisten. Aus diesem
Grunde sollte man Frauen die Möglichkeit eines Prakti-
kums bei den Streitkräften einräumen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dann hätten beide Seiten die Chance, sich zu orientieren
und falsche Vorstellungen im Vorfeld zu beseitigen.

Ich bin der Überzeugung, dass uns auch hier die Praxis
und die entsprechenden Erfahrungen den richtigen Weg
weisen werden, so wie die Integration der Frauen in Poli-
zei und Bundesgrenzschutz nach anfänglichen Schwie-
rigkeiten ja auch gelungen ist.

Lassen Sie mich abschließend betonen: Frauen wollen
gleichberechtigt sein. Natürlich muss ihnen schon auf-
grund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes der
freiwillige Zugang zur Bundeswehr ermöglicht werden.
Soldatinnen werden das Gesicht der Truppe verändern.
Veränderung bedeutet Fortschritt und Erneuerung.

Bei allen Bedenken und Problemen: Die Bundeswehr
braucht Soldatinnen, um eine fortschrittliche und mo-
derne Armee zu sein, die auch für die Anforderungen der
Zukunft gerüstet sein wird.




Anni Brandt-Elsweier
11896


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412410000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Rauber.


Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1412410100
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Scharping,
Maßstab für die Auseinandersetzungen im Parlament sind
die vom Parlament verabschiedeten Haushaltspläne; denn
sie haben dem Gebot der Haushaltswahrheit und Haus-
haltsklarheit zu genügen.


(Peter Zumkley [SPD]: Wenn sie eingehalten werden!)


An dem werden wir uns orientieren. Dementsprechend
haben Sie zukünftig nicht mehr, sondern weniger Geld zur
Verfügung. Verwechseln Sie bitte nicht brutto mit netto!
1998 standen auf dem Balkan 2 700 Soldaten. Ein Jahr
später waren es schon über 9 000. Dazwischen lag ein
Krieg, der sehr viel Geld gekostet hat.

Mich wundert schon, wie Sie von der SPD hier auftre-
ten. Sie, Herr Verteidigungsminister Scharping, waren
vier Jahre Fraktionsvorsitzender. Nennen Sie uns ein ein-
ziges Großprojekt, das Sie von der SPD beantragt und das
wir von der CDU/CSU abgelehnt hätten! Sie haben nur
Kürzungsanträge gestellt. Wer dies tut, hat heute kein
Recht, sich über Defizite zu beklagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Ihr habt doch gekürzt!)


Noch ein Satz zu den personellen Überhängen: Wir ha-
ben die Stärke der Bundeswehr in acht Jahren um
200000 Personen reduziert. Keine Regierung der Welt
würde dies ohne strukturelle Verwerfungen schaffen. Dies
bitte ich anzuerkennen. Sie haben eine Bundeswehr über-
nommen, die sich sowohl ausrüstungs- als auch ausbil-
dungsmäßig vor keiner Armee dieser Welt zu verstecken
brauchte. Unsere Armee leistete und leistet auf dem Bal-
kan, aber auch zu Hause hervorragende Arbeit. Dafür sa-
gen wir allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch deren
Familien ein herzliches Dankeschön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist unserer Politik zu verdanken, dass unter dem

Motto „Frieden schaffen mit weniger Waffen“ eine Frie-
densdividende von jährlich 50 Milliarden DM entstan-
den ist. Ohne diese enorme Friedensdividende wäre es
nicht möglich gewesen, allein zwischen 1991 und 1998,
also in unserer Regierungszeit, 1 370 Milliarden DM
– das ist das 30fache des Verteidigungshaushalts – in die
neuen Bundesländer fließen zu lassen. 70 Prozent dieser
Lasten hat allein der Bund getragen. Hier liegt der Grund,
warum auch bei der Bundeswehr gespart werden musste.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Geschätzte Kollegin Wohlleben – ich sage das nicht
ironisch; ich meine es wirklich ehrlich –, die größte und
tiefgreifendste Reform, die es je gab, war die Schaffung
der Armee der deutschen Einheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir waren gezwungen, zwei Armeen, die unterschiedli-
cher nicht sein konnten, zusammenzuführen. Dies ist uns
auch gelungen. Hierbei möchte ich unterstreichen – die
Gründe sind auch schon genannt worden –, dass es nach
wie vor unser gemeinsames Ziel sein muss, aus 86,5 Pro-
zent Ostlohn 100 Prozent Westlohn zu machen.

Herr Minister Scharping, es waren nicht Sie, sondern
es war Ihr Vorgänger, der die Bundeswehr auf neue Auf-
gaben ausgerichtet hat. Petersberg ist nicht nur ein Hotel
und ein Ort, sondern ist auch das Synonym für eine neue
Außenpolitik. Nur, Petersberg war 1992. Sie von der SPD
haben noch 1994 mit einer Klage vor dem Bundesverfas-
sungsgericht verhindern wollen, dass deutsche Piloten in
den AWACS-Flugzeugen mitfliegen bzw. dass sich unsere
Marine an der Überwachung des Waffenembargos in der
Adria beteiligt. Das waren klassische Petersberger Aufga-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist nicht zu leugnen, dass die Bundeswehr bis 1990

eine Armee des Kalten Krieges war und dass wir uns erst
nach 1990, also nach dem Zusammenbruch des War-
schauer Paktes, verstärkt den Frieden schaffenden und
friedenserhaltenden Maßnahmen zuwenden konnten.
Dies erfordert eine neue Bundeswehr. Wir sind bereit, die-
sen strukturellen Wandel zu begleiten. Dazu gehört auch,
dass die Frauen in der Bundeswehr angemessen beteiligt
werden. Für die CDU/CSU werden die Frauen in der Bun-
deswehr keine Belastung. Ganz im Gegenteil, sie werden
eine Bereicherung sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie von der SPD heute den Eindruck erwecken,

als sei Sparen Ihre Erfindung, so liegen Sie auch in die-
sem Punkt falsch. Flexible Budgetierung, Market-Testing
oder auch Kosten-Leistungs-Verantwortung sind von uns
– ich unterstreiche dies – erfolgreich eingeführt worden.
Wir tragen jede Effizienzsteigerung mit, wenn sie sicher-
heitspolitisch vertretbar ist.

Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Die Gesetze des
abnehmenden Grenzertrages werden Sie nicht außer Kraft
setzen können.

Was wir weiter kritisieren, ist, dass bei der ganzen De-
batte nicht deutlich genug herausgestellt wird, welchen
Beitrag die Bundeswehr zur Einlösung elementarer deut-
scher Interessen leistet. Die Bundeswehr war und bleibt
ein Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
Dies heißt, dass sich die Bundeswehrstruktur nicht allein
von der aktuellen oder latent vorhandenen Bedrohungssi-
tuation ableiten lässt, sondern auch von der Frage, inwie-
weit die Bundeswehr unseren Interessen dienen sollte.
Deutsche Interessen sind in der Masse nicht exklusiv, son-
dern die Schnittmenge der Interessen vieler Staaten.
Die Unversehrtheit des jeweiligen Staatsgebietes, die Be-
wahrung von Frieden und Freiheit, nicht nur an der Lan-
des- und Bündnisgrenze, sondern weltweit, sind solche




Anni Brandt-Elsweier

11897


(C)



(D)



(A)



(B)


Schnittmengen. Nur wo Frieden herrscht, blüht der Han-
del, und nur wo Frieden herrscht, bleiben die Zugänge zu
den Rohstoff- und Absatzmärkten offen.

Kein Industriestaat dieser Welt ist so abhängig vom Ex-
port und auch vom Import wie die Bundesrepublik
Deutschland. Deshalb trägt eine friedenssichernde und
Frieden schaffende Bundeswehr entscheidend zur materi-
ellen Sicherung unseres Wohlstandes bei.

Diese Art von Diskussion müssen wir führen, denn sie
erhöht das Selbstverständnis unserer Soldatinnen und
Soldaten. Wir bleiben allerdings dabei, dass die Reduzie-
rung von 340 000 im Soll auf 277 000 als Präsenzumfang
zu tief greifend ist. Wir reden hier über eine Streichung
von insgesamt vier Divisionen à 15 000 Mann.

Herr Minister Scharping, ich war über das erstaunt,
was Sie in dieser Woche im „Spiegel“ erklärt haben. Dort
ist nachzulesen: Rein ökonomisch betrachtet müssten ei-
gentlich 350 Standorte dichtgemacht werden. Ich wäre
auf Ihr Theater gespannt gewesen, wenn einer von uns
eine solche Zahl in den Mund genommen hätte. Sie brau-
chen sich nicht zu wundern, dass die Diskussionen über
die Standortschließungen nicht mehr so schnell vom Tisch
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die entscheidende Schwäche Ihres Konzeptes – Sie

können sich drehen und wenden, wie Sie wollen – ist
schlicht und einfach die Finanzierung. Sie haben noch
nicht einmal das Geld für Instandsetzungsfirmen, die
schon heute Aufträge für die Bundeswehr erledigen. Die
Rechnungen schleppt man bis in das nächste Jahr. Das ist
nicht gerade ein Zeichen einer hohen Liquidität.

Wir kritisieren nicht nur, sondern wir nennen auch ei-
nige positive Punkte. Dazu zählt das Bekenntnis der SPD
zur Wehrpflicht, auch wenn wir bei der Umsetzung er-
hebliche organisatorische Probleme sehen.

Wir begrüßen des Weiteren die versprochenen sozialen
Verbesserungen, die allerdings auch eingehalten werden
müssen. Die Anhebung der Zahl der Wehrübungsplätze,
die in diesem Jahr von 2 500 auf 1 500 gekürzt wurde, se-
hen wir ebenfalls als einen positiven Ansatz, wobei wir al-
lerdings großen Wert darauf legen, dass das ursprüngliche
Niveau auch erreicht wird.

Als Präsident des Reservistenverbandes bedanke ich
mich ausdrücklich für die bisherige Unterstützung sowohl
durch das Ministerium als auch durch die Bundeswehr
insgesamt.

Die CDU/CSU ist an einer Konsenslösung interessiert,
die aber den zwingenden Erfordernissen einer zukunfts-
weisenden Außen- und Sicherheitspolitik genügen muss.
Die jetzige Konzeption erfüllt diese Anforderungen noch
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412410200
Jetzt hat der Ab-
geordnete Rainer Arnold das Wort.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1412410300
Frau Präsidentin! Werte Kolle-
ginnen! Werte Kollegen! Die heutige Regierungs-
erklärung, aber auch unsere Debatte zur Zukunft der
Bundeswehr zeigen: Anspruchsvoll ist das Anforderungs-
profil der Bundeswehr für die Zukunft. Anspruchsvoll
werden deshalb in Zukunft auch die Konzepte sein, die die
Bundeswehr fit für ihr verändertes Aufgabenspektrum
machen.

Es besteht überhaupt kein Zweifel: Bundesminister
Scharping hat uns heute mit der Grobplanung einen wei-
teren wichtigen Baustein für den Umbau der Bundeswehr
vorgelegt. Wir sind überzeugt, dass die Bundeswehr hier-
mit die größte Umwälzung in ihrer Geschichte gut beste-
hen wird. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass von
der Reform nicht nur die Bundeswehr, sondern unsere Ge-
sellschaft insgesamt einen großen Vorteil haben wird.


(Beifall bei der SPD)

Die Debatte zeigt mir allerdings auch: Die Opposition

setzt sich nicht wirklich mit den Inhalten dieser Reform
auseinander. Als ich heute Herrn Polenz zuhörte, ist mir
etwas passiert, das ich mir nie vorstellen konnte: Ich be-
kam Sehnsucht nach Paul Breuer.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! Sag das nicht!)


Wir wünschen ihm von hier aus gute Besserung.

(Beifall bei der SPD)


Sie operieren hier mit halbwahren Zahlen.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was ist das denn?)

Die letzten Jahre haben doch gezeigt, dass Ihre Finanz-
planungen Märchenbücher waren. Das haben wir bei der
Bundeswehr ebenso wie in anderen Bereichen erlebt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Übrigen, wer glaubt, dass man immer nur mehr Geld
in das System Bundeswehr geben müsse, der irrt. Wir
brauchen Geld, und wir haben da auch einiges getan. Aber
mehr Geld alleine würde nicht zu einer moderneren Bun-
deswehr führen.

Sie haben den internationalen Vergleich genannt.
Man kann mit dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen.
Man sollte dann aber wenigstens die bereinigten NATO-
Zahlen nehmen. Das wäre ein ehrlicher Vergleich. Wir
können allerdings auch die absoluten Zahlen anschauen.
Im letzten Jahr hat Frankreich 40Milliarden Dollar, Groß-
britannien 36 Milliarden Dollar und Deutschland knapp
33Milliarden Dollar ausgegeben. Das ist die Spitze in Eu-
ropa, und dann kommt lange nichts. Solche Zahlenspiel-
chen muss man schon genauer betrachten. Gerade in einer
Volkswirtschaft, die in den letzten zwei Jahren dank un-
serer Regierung stark wächst, ist das Bruttoinlandspro-
dukt nicht die einzige Messgröße, die gilt.

Nachdem ich den Verteidigungsexperten Ihrer Fraktion
heute genau zugehört habe, habe ich den Eindruck, dass
Sie eigentlich merken, dass die Reform richtig und not-
wendig ist. Ich bitte Sie dringend: Beugen Sie sich dann
um Himmels willen nicht dem Diktat Ihrer Fraktions-




Helmut Rauber
11898


(C)



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(A)



(B)


führung, die Konfrontation in jedem Themenfeld und of-
fensichtlich um jeden Preis will!


(Beifall bei der SPD)

Machen Sie Herrn Merz klar, dass die Arbeit der Men-
schen in den Streitkräften mit ihrer hohen Motivation zu
wichtig ist, als dass sie auf dem Altar parteitaktischer
Spielchen geopfert werden dürfte!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich bin ziemlich gelassen, weil ich aus meinen Ge-
sprächen an den Standorten weiß: Ihre Strategie verfängt
bei den Soldatinnen und Soldaten nicht. Die Gespräche
zeigen mir: Sie verbinden mit dieser Reform Hoffnung
auf moderne Ausrüstung,


(Zurufe von der CDU/CSU: Eben!)

auf eine effizientere Organisation, auf ausreichend Perso-
nal für die Einsätze, damit die Belastungen auf mehr
Schultern verteilt werden können, und auf Chancen zu
besserer Qualifizierung. Auch Sie wissen, dass der Weg
aufgezeichnet ist, den Soldatenberuf sozial attraktiver zu
machen.

Ich will aber nicht verschweigen: Gelegentlich werden
auch kritische Fragen gestellt. Eine ist die Frage nach den
Standorten. Ich finde es aber gut, dass der Minister sehr
zügig und mit einem genauen Zeitplan diesen Punkt
klären wird. Die Soldatinnen und Soldaten werden zu Be-
ginn des nächsten Jahres wissen, woran sie sind.

Das Zweite ist noch viel wichtiger: Er fährt eben nicht,
wie Sie hier kurz angedeutet haben, mit einem Rasen-
mäher über die Standorte. Nein, in seine Planungsanwei-
sung ist bereits eingebaut, dass nicht nur militärische Not-
wendigkeiten, sondern auch strukturelle Überlegungen,
die Einbindung in das gesellschaftliche Umfeld und Fra-
gen der Nachwuchsgewinnung zu bewerten sind. Deshalb
können die meisten Standorte auch dieser Diskussion mit
großer Gelassenheit begegnen.

Außerdem wird immer wieder nach dem Geld gefragt.
Ich muss daran erinnern – es wurde heute wiederholt ge-
sagt –: Nicht der Haushaltsplan mit seinen schöngerech-
neten Zahlen, auf den Sie sich berufen, sondern der Voll-
zug im Finanzplan ist letztlich entscheidend. Wenn man
das berücksichtigt, dann waren es im Rahmen Ihrer letz-
ten Finanzplanung eben 5,7 Milliarden DM weniger. Das
eigentliche Problem Ihrer Art von Finanzpolitik ist ein an-
deres; Sie haben nämlich die Einsparpotenziale, die es
natürlich gab und gibt, nicht strukturell klug genutzt, son-
dern ziemlich kopf- und konzeptionslos unter großem fi-
nanziellen Druck immer wieder gestrichen.

Wir alle kennen die Geschichten, die uns die Soldaten
erzählen: Auf der einen Seite gibt es einen Bedarf an
wichtigen Ausrüstungsgütern – sie sind teilweise gar nicht
so teuer –, die nicht beschafft werden konnten, weil das
Geld angeblich fehlt; andererseits stapeln sich bestimmte
Waren in den Depots, die vielleicht nur deshalb beschafft
wurden, weil irgendein Beschaffer zur betreffenden Zeit
schneller als ein anderer war. Das nennen Sie eine sinn-

volle Sparpolitik? Das darf ja wohl wirklich nicht wahr
sein.


(Hans Raidel [CDU/CSU]: Wer ist denn dafür verantwortlich? Dafür kann man doch die Politik nicht verantwortlich machen!)


Wir haben jetzt eine realistische Finanzplanung. Es be-
steht die Chance, das Ergebnis noch innerhalb dieses Jah-
res zu verbessern. Vor allen Dingen haben wir die Chance,
die Erlöse tatsächlich zu behalten. Die Wende ist tatsäch-
lich erreicht – das ist eindeutig; Sie können es nachle-
sen –: Es ist nicht nur mehr Geld vorhanden, sondern es
wird in diesen Jahren wieder mehr investiert. Das ist der
Schlüssel zur modernen Bundeswehr. Wir wissen, dass
dies alles aber nicht reichen wird. Effizienz und betriebs-
wirtschaftliche Grundsätze werden nicht nur innerhalb
der Bundeswehr, sondern vor allen Dingen durch den
Projektrahmenvertrag mit der Industrie zum Tragen
kommen müssen.

Wir wissen genau: Das derzeitige Haushaltsrecht und
die Haushaltsordnung blockieren gelegentlich innovative
Ideen. Wir sollten miteinander den Mut aufbringen, das
Haushaltsrecht dort zu entrümpeln, wo Chancen dazu be-
stehen. Die Gründung der Gesellschaft für Beschaffung
und Betrieb hilft bei den damit verbundenen Fragen ein
gutes Stück weiter. Die Pilotprojekte, die dort ausprobiert
werden, sind sehr gut. Es geht nicht darum, plump outzu-
sourcen; es geht vielmehr darum, wie man die Fähigkei-
ten der Wirtschaft mit den Anforderungen an die Soldaten
und mit ihren Fähigkeiten besser verzahnen kann. Auf
zwei dieser Pilotprojekte möchte ich eingehen.

Erstes – einfaches – Beispiel: Es liegt doch nun wirk-
lich auf der Hand, dass es keinen Sinn macht, zivile Fahr-
zeuge, vom Golf bis zum Omnibus und zum Lastwagen,
zu kaufen, investive Mittel zu binden und die Fahrzeuge
dann 12 oder 15 Jahre in den Kasernen stehen zu lassen.
An diesem Punkt kann man wirklich von der Industrie ler-
nen. Im Übrigen braucht man das Rad nicht neu zu erfin-
den. Andere Streitkräfte sind bereits so weit, dass sie das
Flottenmanagement nach außen verlagert haben. Ihre Kri-
tik, Leasing sei auf Dauer nicht billiger, stimmt nur dann,
wenn Sie tatsächlich nur die Investitionszahlen, die Zin-
sen und die Leasingraten vergleichen. Sie sollten schon
einmal genau überlegen, was es uns an logistischem und
an Sachaufwand kostet, diese alten Fahrzeuge nach 12
oder 15 Jahren überhaupt noch instand zu halten.


(Beifall des Abg. Uwe Göllner [SPD])

Insofern ist es besser, diese Praxis zu beenden und dafür
zu sorgen, dass jedes oder jedes zweite Jahr ein neues
Auto auf dem Kasernenhof steht.

Zweites Beispiel – es ist viel komplizierter; für mich
stellt es eigentlich die größte Herausforderung dar –: Wir
wissen, dass wir die Kommunikations- und Datennetze
dringend modernisieren und leistungsstärker machen
müssen. Wir brauchen auch eine ausreichende Zahl von
Endgeräten; das ist ebenso wichtig. Wir müssen mit den
bereits angesprochenen Insellösungen Schluss machen.
Es ist doch klar: Dies wird die öffentliche Verwaltung,
auch die der Bundeswehr, allein kaum schultern können.
Dies hat die Vergangenheit gezeigt. Deshalb ist der Weg




RainerArnold

11899


(C)



(D)



(A)



(B)


richtig, dass sich große deutsche Unternehmen zusam-
mentun, um möglichst gemeinsam mit der öffentlichen
Hand eine neue Gesellschaft zu gründen, und diese Auf-
gabe angehen.

An diesem Beispiel sieht man: Es geht nicht nur darum
zu sparen. Jedes Jahr werden mehrere Hundert Milli-
onen DM zu ersparen sein. Aber bei dem Projektrahmen-
vertrag ist natürlich die Steigerung der Qualität der Aus-
rüstung für die Bundeswehr noch wichtiger. Dies steht im
Mittelpunkt.

Ich will nicht verkennen: Wir Parlamentarier werden
bei diesem Prozess sehr genau darauf achten müssen, dass
der Mittelstand nicht unter die Räder kommt und dass die
Chancen, sozial abgesichert zu bleiben, für die Beschäf-
tigten tatsächlich größer werden, wenn sie von den Fir-
men übernommen werden. Wir werden auch darauf ach-
ten, dass diese Entwicklung nicht der parlamentarischen
Debatte entzogen wird.

Ich komme zum Schluss: Die wenigen Beispiele allein
zeigen schon: Die Reform der Bundeswehr ist auf einem
guten Weg.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Nein! Wirklich nicht!)


Der Weg wird noch schwierig und steinig sein. Er ist nicht
einfach. Man wird auch Zeit und einen harten und langen
Atem brauchen, um ihn zu bewältigen. Die Soldaten und
Zivilbeschäftigten bei den Streitkräften – das merken wir
jeden Tag – gehen diesen Weg engagiert mit und bringen
dabei kreative Ideen ein. Das ist wichtig. Sie, meine Kol-
leginnen und Kollegen von der Opposition, müssen noch
die Entscheidung treffen, ob Sie diesen Weg mitgestalten
oder ob Sie weiterhin schmollend in der Ecke stehen blei-
ben wollen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412410400
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3775, 14/4062, 14/4174 und
14/4256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Aufgrund von Sondersitzungen von Fraktionen unter-
breche ich jetzt die Sitzung für kurze Zeit. Wir werden um
ungefähr 15.00 Uhr wieder beginnen. Ihnen wird per
Klingelzeichen Bescheid gegeben.


(Unterbrechung von 14.51 bis 15.03 Uhr)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412410500
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder
eröffnet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 g sowie
Zusatzpunkt 8 auf:

21. a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Grenze des Freihafens Emden
– Drucksache 14/4223 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung derGrenze des Freihafens Bremen
– Drucksache 14/4224 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Zusammenlegung des Bundesamtes für
Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt
– Drucksache 14/3951 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Funkanlagen und Telekommunikationsend-
einrichtungen (FTEG)

– Drucksache 14/4063 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Kultur und Medien

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze
und die Errichtung der Stiftung „Geld und
Währung“
– Drucksache 14/4225 (neu)
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Sportausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Bundesarchivgesetzes
– Drucksache 14/3830 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun

(Augsburg), Rainer Brüderle, weiterer Abge-

ordneter und der Fraktion der F.D.P. Mutige
EU-Reform als Voraussetzung für eine er-
folgreiche Erweiterung
– Drucksache 14/3522 –




RainerArnold
11900


(C)



(D)



(A)



(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 8 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Ge-
setzes zur Änderung des Abgeordnetenge-
setzes
– Drucksache 14/4241 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 22 a
bis 22 k, 8 b und 16. Es handelt sich um die Beschluss-
fassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.

Tagesordnungspunkt 22 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaft
der Republik Polen, der Tschechischen Repu-
blik und der Republik Ungarn in der Westeu-
ropäischen Union
– Drucksache 14/3076 –

(Erste Beratung 99. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 14/3860 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Christian Schmidt (Fürth)

Christian Sterzing
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3860, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.
gegen die Stimmen der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Übereinkommen vom

6. März 1997 zwischen den Parteien des Nord-
atlantikvertrages über den Geheimschutz
– Drucksache 14/3457 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/4228 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Hartmut Büttner (Schönebeck)

Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke

Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4228,
den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung verkehrswegerechtlicher Vor-
schriften (VerkVÄndG)

– Drucksache 14/3646 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/4221 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/4221, den Gesetzentwurf
unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 d:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Begriffs „Erziehungsurlaub“
– Drucksache 14/4133 –

(Erste Beratung 121. Sitzung)





Präsident Wolfgang Thierse

11901


(C)



(D)



(A)



(B)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)

– Drucksache 14/4266 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Maria Eichhorn
Irmingard Schewe-Gerigk
Ina Lenke

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und
PDS
Einsetzung eines Sonderausschusses „Maßstä-
begesetz/ Finanzausgleichsgesetz“
– Drucksache 14/4251 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen. Der Sonderausschuss
ist damit eingesetzt.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 195 zu Petitionen
– Drucksache 14/4155 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Stimm-
enthaltungen? – Die Sammelübersicht 195 ist bei Enthal-
tung der PDS mit den Stimmen des sonstigen ganzen Hau-
ses angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 196 zu Petitionen
– Drucksache 14/4156 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 197 zu Petitionen
– Drucksache 14/4157 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 198 zu Petitionen
– Drucksache 14/4158 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 22 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 199 zu Petitionen
– Drucksache 14/4159 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 200 zu Petitionen
– Drucksache 14/4160 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 8 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Umrechnung und Glättung steuerlicher

(Steuer-Euroglättungsgesetz – StEuglG)

– Drucksache 14/3554 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)


aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/4277 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Hans Michelbach
Carl-Ludwig Thiele




Präsident Wolfgang Thierse
11902


(C)



(D)



(A)



(B)


bb) Bericht des Haushaltsausschusses

(8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 14/4288 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Heidemarie Ehlert.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 16:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Opferentschädigungsgeset-
zes und anderer Gesetze
– Drucksache 14/4054 –

(Erste Beratung 121. Sitzung)


a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/4275 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg


(8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 14/4292 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann Antje Hermenau Jürgen Koppelin Dr. Christa Luft Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkten 9 und 10: 5. Vereinbarte Debatte zur EU-GrundrechteCharta ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Drucksache 14/4246 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun neter und der Fraktion der F.D.P. Europäische Grundrechte-Charta als Eckstein einer europäischen Verfassung – Drucksache 14/4253 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Meyer, SPD-Fraktion. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag der vergangenen Woche hat der Konvent zur Erarbeitung einer EU-Grundrechte-Charta seine Arbeit abgeschlossen. Das geschah fristgerecht nach etwas mehr als neun Monaten und mehr als 30 Sitzungstagen in Brüssel. Ich Präsident Wolfgang Thierse 11903 glaube, das ist ein gutes Beispiel für effektives Arbeiten mit dem Ziel, Europa nach vorne zu bringen. Ich freue mich, dass ich heute als Delegierter des Deutschen Bundestages, der von allen Fraktionen gewählt worden ist, einen abschließenden Arbeitsbericht vortragen kann. Der vorliegende Entwurf der GrundrechteCharta hat in den vergangenen Tagen einiges an Anerkennung erfahren. Das war auch wichtig. Denn der Konvent war ein Wagnis, das auf Vorschlag der deutschen Bundesregierung im Juni 1999, unter der deutschen Präsidentschaft, begonnen wurde. Das Wagnis lässt sich charakterisieren mit dem Satz: Mehr Demokratie wagen. Wie Sie wissen, bestand der Konvent zu drei Vierteln aus Abgeordneten. Er hat öffentlich getagt und während der gesamten Beratungen ständig den Kontakt zur Öffentlichkeit, zu interessierten Verbänden, zu Nichtregierungsorganisationen, zu den Bürgerinnen und Bürgern gesucht. Es ist wichtig, dass dieses Wagnis gelungen ist. Denn ich hoffe, dass künftige europapolitische Weichenstellungen nicht mehr von Regierungsbeauftragten hinter verschlossenen Türen vorbereitet werden. Nichts gegen hohe Beamte, aber die Schicksalsfragen der Europäischen Union sollten künftig in offenem Diskurs von demokratisch verantwortlichen Menschen vorbereitet werden, die auch politisch legitimiert sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])

Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1412410600




(C)


(D)


(A)


(B)


Vielleicht hat sich das Wagnis auch insoweit ausge-
zahlt, als die Charta in einer Sprache verfasst ist, die nicht,
wie es in vielen europäischen Dokumenten der Fall ist,
verschachtelt und schwer verständlich ist, sondern auch
von Normalbürgern, die nicht juristisch vorgebildet oder
verbildet sind, verstanden wird. Was die Sprache angeht,
haben wir uns im Konvent nach der von Roman Herzog
so genannten „Als-ob-Theorie“ gerichtet, das heißt, wir
haben jeden einzelnen Artikel so formuliert, dass er ohne
Veränderung rechtskräftig werden kann. Das hat unsere
Arbeit ganz wesentlich bestimmt.

Im Rahmen des Auftrags, der uns vom Europäischen
Rat in Köln erteilt worden war, sollten wir versuchen, ein
Dokument aus der gemeinsamen Verfassungstradition
der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Das war eine span-
nende Aufgabe, die alle Delegierten dazu veranlasst hat,
nicht nur aus der Sicht der eigenen Verfassung zu argu-
mentieren, sondern sich auch in die Rechtskultur und die
Wertvorstellungen unserer Nachbarn hineinzudenken und
hineinzufühlen. Ich hoffe, dass diese Arbeit nicht nur die
Delegierten, sondern auch unsere Völker ein bisschen
näher gebracht hat.

Bevor ich auf den Inhalt der Charta eingehe, will ich,
weil ich das für sehr wichtig halte, Dank sagen. Ich
möchte zunächst einmal der Bundesregierung danken, die
diese Arbeit im vergangenen Juni überhaupt erst ermög-
licht und den Durchbruch auf dem Weg zur Grundrechte-
Charta erzielt hat.

Ich danke stellvertretend dem Herrn Außenminister
Fischer, der nachher noch seine Sicht der Dinge darlegen
und uns sagen wird, wie es nach Nizza weitergehen soll.

Darauf bin ich gespannt. Ich danke der Justizministerin,
Frau Dr. Däubler-Gmelin,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die mit großem Engagement in der Zeit vor dem Europä-
ischen Rat in Köln mit Erfolg für die Grundrechte-Charta
geworben hat, sodass in Köln der Durchbruch erzielt wer-
den konnte. Dieser war in erster Linie das Werk von Bun-
deskanzler Gerhard Schröder. Ich denke, ihm können wir
und auch Sie, die Sie in der Rolle der Opposition sind,
heute fairerweise danken.

Die Präambel des Chartaentwurfs beginnt mit den fol-
genden Sätzen:

Die Völker Europas sind entschlossen, auf der
Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zu-
kunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer enge-
ren Union verbinden.
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sitt-
lichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilba-
ren und universellen Werte der Würde des Menschen,
der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.

Diese Sätze machen deutlich, dass Aufgabe des Kon-
vents die Formulierung einer Wertegemeinschaft in Eu-
ropa war, die aus meiner Sicht nicht nur genauso wichtig,
sondern eigentlich bedeutender ist als die Wirtschafts-
und Währungsgemeinschaft, über die bisher vor allem
diskutiert worden ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben dann mit den folgenden Artikeln – an dieser
Stelle möchte ich meinem Stellvertreter Peter Altmaier
und Herrn Jürgen Gnauck, dem Delegierten des Bundes-
rates, für die faire Zusammenarbeit danken –


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

den Versuch unternommen, so etwas wie eine europäische
Identität zu beschreiben. Dabei sind wir von der Frage
ausgegangen, die auch Helmut Schmidt in seinem neues-
ten Buch über die „Die Selbstbehauptung Europas – Per-
spektiven für das 21. Jahrhundert“ formuliert, nämlich, ob
es nicht an der Zeit ist, neben unserer jeweiligen nationa-
len Identität auch eine gemeinsame europäische Iden-
tität zu definieren und sie in unser Bewusstsein aufzu-
nehmen.

Helmut Schmidt schreibt dazu – ich zitiere –:
Tatsächlich gibt es seit langem eine sehr weit rei-
chende gemeinsame Identität. Sie ist für Menschen
aus anderen Erdteilen oftmals allerdings leichter zu
erkennen als für uns Europäer selbst. Sie bezieht sich
zunächst auf die Kultur im engeren Sinne: Religion,
Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Ar-
chitektur, Malerei. Sodann umfasst sie die politische
Kultur, basierend auf den Idealen der Würde und der
Freiheit der Person sowie gleicher Grundrechte. Es
ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des
Rechtsstaates mit geordnetem privaten und öffentli-
chen Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher
Macht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrts-




Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

11904


(C)



(D)



(A)



(B)


staates und des Willens zu sozialer Gerechtigkeit.
Die gemeinsame Identität umschließt die wirtschaft-
liche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmers
oder Kaufmanns, des freien Marktes, der freien
Gewerkschaften, des zuverlässigen Geldwertes und
des gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Ar-
beitnehmer durch Arbeitgeber und der Verbraucher
durch Kartelle oder Monopole.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie die Charta
lesen, werden Sie feststellen, dass in den 54 Artikeln der
Charta versucht wird, genau dieses, nämlich eine europä-
ische Identität, erstmals in einem umfassenden Dokument
zu beschreiben. Dabei können Sie auch entdecken, dass
die Entschließung des Deutschen Bundestages vom Mai
dieses Jahres, in der wir viele Wünsche in Bezug auf die
Charta geäußert haben, zu mehr als 90 Prozent in die
Charta Eingang gefunden hat.

Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Präambel
machen. Erstmals in einem europäischen Grundrechtstext
hat die Solidarität als unteilbarer und universeller Wert
einen gleichen Rang wie die Würde des Menschen, Frei-
heit und Gleichheit und einen gleichen Rang wie Demo-
kratie und Rechtsstaat. Ich finde, dies ist ein Mehrwert
dieser Charta, den man hervorheben sollte. Soziale Ge-
rechtigkeit, abgeleitet aus dem Grundsatz der Solidarität,
ist das Charakteristische des europäischen Modells, das
wir in der Charta beschrieben haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun erlaubt es die Redezeit nicht, in meinem Arbeits-
bericht über alle spannenden Fragen der vorgelegten 54
Artikel zu sprechen. Ich kann nur Schlaglichter werfen,
eine Auswahl treffen, die vielleicht Neugier und Interesse
weckt, den einen oder anderen Artikel zu lesen oder noch
einmal zu lesen. Ich hoffe, dass mir dies mit den wenigen
Hinweisen, die ich zu den einzelnen Kapiteln der Charta
geben werde, gelingt.

Kap. I trägt die Überschrift „Würde des Menschen“.
Grundlage nicht nur dieses Kapitels, sondern der gesam-
ten Charta, ist also die Unverletzlichkeit der Menschen-
würde. Sie ist ebenso – wie Sie alle wissen – in unserem
Grundgesetz Ausgangspunkt und Grundlage aller Men-
schenrechte. Dies wird für die Charta nicht nur durch die
Präambel, sondern auch durch den ersten Artikel der
Grundrechte-Charta deutlich gemacht. Das ist nicht zu-
letzt eine Absage an ein Übel, über das wir in diesen Ta-
gen zu diskutieren haben, nämlich den Rechtsextremis-
mus, der dadurch charakterisiert ist, dass er nicht die
gleiche Würde und den gleichen Wert aller Menschen be-
jaht, sondern von ihrer Ungleichwertigkeit ausgeht und
im Übrigen für vertretbar hält, dass man zur Durchsetzung
eigener Überzeugungen Gewalt anwendet. Der Grundsatz
von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde ist eine
Absage an den Rechtsextremismus. Das sollte man an die-
ser Stelle sehr deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Aus Kap. I will ich noch auf Art. 3 hinweisen, in dem
wir den Versuch gemacht haben, erste Grundsätze der
Bioethik zu formulieren, zum Beispiel das Verbot des re-
produktiven Klonens von Menschen und das Verbot, den
menschlichen Körper oder Teile davon, etwa genetisches
Material, zur Geschäftemacherei zu nutzen. Hier kann
man einwenden, dass dies nur ein ganz vorsichtiger, ers-
ter Ansatz ist, bioethische Grundsätze zu formulieren. Ich
vertraue darauf, dass der Europäische Gerichtshof, dem
die Aufgabe der Konkretisierung zukommt – ähnlich wie
das Bundesverfassungsgericht es bei uns seit 1949 getan
hat –, aus dem Muttergrundrecht der Unverletzlichkeit der
Würde des Menschen auch weitere Konkretisierungen im
Bereich der Bioethik entwickeln wird. Wir sollten also mit
dem, was wir formuliert haben, nicht unzufrieden sein.

Kap. II trägt die Überschrift „Freiheiten“. Ich freue
mich sehr, dass auch dem Wunsch des Deutschen Bun-
destages entsprochen wurde und es gewissermaßen in
letzter Minute gelungen ist, in den Artikel über Gewis-
sensfreiheit das Grundrecht auf eine Wehrdienstverwei-
gerung aus Gewissensgründen aufzunehmen. Das ist eine
aktueller werdende Forderung, weil es in naher Zukunft
eventuell Eingriffstruppen der Europäischen Union in
Krisengebieten geben könnte.

Nach längerer Debatte haben wir uns geeinigt, in ei-
nem weiteren Artikel auch die Freiheit von Forschung
und Kunst und die Achtung der akademischen Freiheit,
wozu selbstverständlich die Freiheit der Lehre gehört, zu
garantieren. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an
diejenigen Delegierten aussprechen, die zunächst gezö-
gert haben, weil in den Verfassungen ihrer Länder ein sol-
ches Grundrecht nicht enthalten ist. Ich will aber ganz be-
sonders den britischen Delegierten danken, die den
größten Sprung machen mussten, weil sie keine geschrie-
bene Verfassung mit ausformulierten Grundrechten ha-
ben. Dass sich alle Delegierten auf diesen gemeinsamen
und keineswegs kleinsten Nenner geeinigt haben, das
sollten wir auch von unserer Seite gegenüber den Dele-
gierten der anderen Länder ausdrücklich anerkennen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was das Recht auf Bildung angeht, so gehört es aus
meiner Sicht eher zu den sozialen Grundrechten, nach der
Maxime, dass die Bildungschancen eines Menschen nicht
vom Geldbeutel der Eltern abhängen dürfen. Aber wichti-
ger finde ich, dass dieses Grundrecht auf Bildung in die
Charta aufgenommen worden ist, und zwar in das Kapitel
über Freiheiten.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Grund-
recht auf Eigentum.Hier wage ich die Behauptung, dass
es in der Charta teilweise fortschrittlicher als in Art. 14
unseres Grundgesetzes formuliert ist. Manche von Ihnen
erinnern sich vielleicht, dass wir vor etwa drei Jahren in
der Debatte über die Abschöpfung von Gewinnen aus
organisierter Kriminalität die Forderung der Sozialdemo-
kraten diskutiert haben, einen Satz einzufügen, der klar-
stellt: Kriminell erzielte Gewinne und kriminell erworbe-
nes Eigentum sind nicht geschützt.




Dr. Jürgen Meyer (Ulm)


11905


(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist damals vor allem von dem amtierenden
Innenminister, Herrn Kanther, mit der Begründung abge-
lehnt worden,


(Joseph Fischer, Bundesminister: Jetzt wissen wir, warum!)


er könne nicht einsehen, dass womöglich demnächst Geld-
wäscheverfahren wegen, wie er es genannt hat, „hunds-
gemeiner Steuerhinterziehung“ durchgeführt würden.


(Heiterkeit bei der SPD)

Ich habe das damals überhaupt nicht verstanden, während
es heute leicht verständlich ist. Aber ich stelle gerne fest,
dass der Art. 17 der EU-Grundrechte-Charta nun den weit-
gehenden Satz enthält, dass sich der Schutz der Charta nur
auf rechtmäßig erworbenes Eigentum bezieht.

Aus Kap. III über die Gleichheit will ich nur, und zwar
mit Freude, auf den Art. 23 hinweisen, der unter den bis-
herigen europäischen Grundrechtstexten die modernste
Formulierung des Gebots der Gleichstellung von Män-
nern und Frauen enthält. Das entspricht einem Antrag der
weiblichen Delegierten im Konvent. Aber ich kann be-
richten, dass fast alle männlichen Delegierten dem gerne
zugestimmt haben.


(Beifall bei der PDS)

Kap. IV ist das Kapitel, zu dem ich die meisten Anträge

eingebracht habe und das nunmehr Formulierungen ent-
hält, die ich Ihnen in einer früheren Debatte vorgetragen
habe. Es trägt die Überschrift „Solidarität“. Es geht also
um soziale Grundrechte. Sie erinnern sich vielleicht – um
ein Beispiel zu nennen –, dass ich zum Recht der Arbeit
vorgetragen hatte, dass man richtigerweise nicht „Recht
auf Arbeit“ formuliert, weil dies das Missverständnis her-
vorruft, es gebe den Anspruch auf einen individuell ein-
klagbaren Arbeitsplatz. Das gibt es in keinem Land der
Welt, in dessen Verfassung das Recht auf Arbeit steht.
Aber die Charta enthält das Recht zu arbeiten. Das steht
in Art. 15, der die Berufsfreiheit garantiert. Im Kapitel
„Solidarität“ sind der Schutz des Arbeitenden vor will-
kürlicher Kündigung und auch die Förderung von Arbeit
durch kostenlose Arbeitsvermittlung geregelt. Das sind
alles Forderungen, denen Sie in einer früheren Debatte zu-
gestimmt haben und die nun in der Charta stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man könnte in diesem Zusammenhang kritisch anmer-
ken, dass manche sozialen Grundrechte – zum Beispiel
das Recht auf Gesundheit, Umwelt- und Verbraucher-
schutz – sehr allgemein formuliert sind. Ich hoffe und ver-
traue darauf, dass die konkretisierende Rechtsprechung,
aber auch die wissenschaftliche und die politische Dis-
kussion aus diesen sehr allgemein gehaltenen Artikeln
konkrete Folgerungen ableiten.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Das gilt auch für einen Artikel, den ich hier noch er-

wähnen will. Art. 36 nennt das Recht auf Dienstleistungen
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse; dazu gehört
bekanntlich auch die Daseinsvorsorge. Meine Überzeu-
gung ist, dass in der aktuellen Debatte über Daseinsvor-

sorge die Kommission, deren Kompetenzen wir mit der
Charta bekanntlich zu begrenzen versuchen, nicht mehr
allein die Aspekte „freie Marktwirtschaft“ und „fairer
Wettbewerb“ berücksichtigen darf. Vielmehr muss sie
auch das Recht auf Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse berücksichtigen. In der Verfas-
sungsrechtsprechung des Karlsruher Gerichtshofes nennt
man diese Aufgabe: Herstellung praktischer Konkordanz
zwischen Grundsätzen, die in einem Spannungsverhältnis
stehen. Ich bin gespannt, wie diese Aufgabe in der politi-
schen Diskussion und gegebenenfalls in der Rechtspre-
chung des EuGH zur Daseinsvorsorge gelöst werden
wird.

Kap. V regelt die Bürgerrechte, neben dem Wahlrecht
und der Freizügigkeit auch das interessante Recht auf gute
Verwaltung. Mit diesem Recht möchte der Konvent der
Kommission und den Behörden der Europäischen Union
gerne ein bisschen Feuer unter dem Stuhl machen; ich
finde das eigentlich ganz zweckmäßig.


(Beifall bei der SPD)

Kap. VI enthält die justiziellen Grundrechte: längst

Vertrautes wie die Unschuldsvermutung und den Grund-
satz des Rechtes auf anwaltlichen Beistand. Hier will
ich beispielhaft betonen, dass wir uns weitgehend um
eine Übernahme der wichtigen und durch Rechtspre-
chung weiterentwickelten Grundsätze der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention als einer der großen
Säulen dieser Charta bemüht haben.

Von zentraler Bedeutung ist das siebte und letzte Kapi-
tel. Dazu möchte ich auf drei Punkte hinweisen, die in der
Diskussion bisher nicht ausreichend berücksichtigt wer-
den. Art. 51 regelt zunächst einmal, dass sich die Charta
gegen die EU-Organe richtet; sie sind der Adressat.

In diesem Zusammenhang kann ich eine Episode er-
zählen. Romano Prodi hat die Charta bei einem Empfang
für den Konvent Ende Juni sehr gelobt und gesagt, sie sei
die künftige Seele der Europäischen Union. Roman
Herzog hat in der ihm eigenen souveränen Art Romano
Prodi gedankt und gesagt, es sei sehr anzuerkennen, dass
er die Charta so lobe, denn er wisse doch, dass sich die
Charta gegen ihn richte.

Das ist eine wichtige Aussage des Art. 51, der im Übri-
gen besagt, dass die Charta auch bei der Anwendung eu-
ropäischen Rechts in den Mitgliedstaaten zu beachten ist.
In Abs. 2 wird außerdem klar gesagt: Die Charta begrün-
det keine neuen Kompetenzen der Europäischen Union.
– Herr Kollege Gnauck, Sie nicken. – Ohne diesen zwei-
ten Absatz wäre die Charta überhaupt nicht zustande ge-
kommen.

Weil es gelegentlich Befürchtungen gibt, der nationale
Grundrechtsschutz könnte durch die Charta abgesenkt
werden, zum Beispiel das in Art. 16 verankerte Asylrecht,
weise ich auf die klare Regelung in Art. 53 hin, wonach es
durch die Charta keine Absenkung des Schutzniveaus der
nationalen Verfassungen gibt; deren Adressat sind die na-
tionalen Behörden, in unserem Fall bis hin zur Bundesre-
gierung. Adressat der Charta sind jedoch die EU-Organe.




Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

11906


(C)



(D)



(A)



(B)


Also: Nationale Verfassungen werden in ihrem Schutzni-
veau durch die Charta keineswegs abgesenkt.

Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemer-
kung zum weiteren Verfahren machen. Dazu liegen ja
auch Erschließungsanträge vor, neben denen der Koaliti-
on und der F.D.P. auch ein Entschließungsantrag der
CDU/CSU-Fraktion. Ich stelle eine große Übereinstim-
mung in diesem Hause hinsichtlich des Wunsches fest,
dass wir die frühestmögliche Aufnahme der Charta in
die europäischen Verträge im Anschluss an die bevor-
stehende feierliche Proklamation in Nizza wollen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass das
einfach sein wird. Es wird Mitgliedstaaten geben, die
zwar die Proklamation wollen, aber nicht mehr. Ich denke
aber, auch in diesem Punkt hat Roman Herzog Recht:
Wenn es richtig ist, dass die Charta inhaltlich überzeugt,
wird sie ihren Weg machen und auch den Weg in die Ver-
träge finden.

Es gab in den letzten Tagen eine teilweise kontroverse
Diskussion über das Inkraftsetzen der Charta durch ein
unionsweites Referendum. Ich will hier ohne jede Ein-
schränkung sagen, dass ich dies für den besten und über-
zeugendsten Weg halte, um die Charta in Kraft zu setzen.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Wenn man überhaupt einen Volksentscheid will, wäre die
Charta das Herzstück einer späteren Verfassung der mit
Abstand geeignetste Gegenstand. Durch ein solches Re-
ferendum würden die Legitimität der Europäischen Union
und das Gewicht der Charta gewinnen.

Außerdem gibt es noch eine ganz praktische Erwä-
gung: Wer hier im Plenarsaal und wer von den Menschen,
die uns zuhören, kennt eigentlich schon den Inhalt der
Charta? Wir müssen diese Charta bekannt machen und
dazu wären die politischen Parteien in der Kampagne, die
dem Referendum vorausgeht, verpflichtet. So könnten
wir es schaffen, dass die Charta die Köpfe und die Herzen
der Menschen erreicht.

Ich will gleich hinzufügen: Die Alternative ist selbst-
verständlich das herkömmliche Verfahren der Ratifika-
tion und wir haben es nicht allein in der Hand, ein Refe-
rendum herbeizuführen. In diesem Zusammenhang wie-
derhole ich den Satz, den Gerhard Schröder gestern im
Europaausschuss formuliert hat. Er hat gesagt, das Ziel,
nämlich die Verbindlichkeit der Charta, sei noch wichti-
ger als der Weg. Also: Wenn die Verbindlichkeit – ich
sage: leider – nur über das übliche Verfahren der Ratifi-
kation erreichbar wäre, müsste man diese Chance nutzen.
Aber ich wiederhole: Der überzeugendste und beste Weg,
die Charta in Kraft zu setzen, ist ein unionsweites Refe-
rendum.

Nun habe ich noch eine kleine Bitte an die Bundesre-
gierung, die nachher durch zwei Minister zu Wort kom-
men wird: Ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung
die Klugheit besitzt, die Erfahrungen mit dem Konvent,
der ja auch von der Bundesregierung schon gelobt worden
ist, zu nutzen und mit positiver Einstellung zu prüfen, ob
nicht die weiteren Teile einer europäischen Verfassung,
also der Kompetenzkatalog und auch die klare Regelung

der Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union,
von einem Gremium ähnlich dem Konvent vorbereitet
werden sollten. Die Einbeziehung der nationalen Parla-
mente sowie des Europäischen Parlaments und der Öf-
fentlichkeit bedeutet nämlich, dass die Demokratie in Eu-
ropa gestärkt wird, und das wollen wir doch alle.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412410700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier.


Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1412410800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
begrüßt den vorliegenden Entwurf der Grundrechte-
Charta und stimmt ihr ausdrücklich zu.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir glauben und sind davon überzeugt, dass es sich um
ein großes, ein historisches Projekt der europäischen
Integration handelt, das sich in Projekte wie den europä-
ischen Binnenmarkt, die Abschaffung der Grenzkontrol-
len, die Schaffung der Währungsunion und die Osterwei-
terung einfügt. Es ist ein Projekt, das sich auch in die
große Tradition der deutschen Europapolitik aller bisheri-
gen Bundeskanzler, von Konrad Adenauer bis Helmut
Kohl, einfügt.

Es ist auch ein gemeinsames Projekt, das alle Parteien
bzw. alle Fraktionen in diesem Haus gemeinsam vorange-
trieben haben. Ich möchte ausdrücklich der Bundesregie-
rung für die wirklich weise und vernünftige Entscheidung
danken, Roman Herzog als Präsident dieses Konventes
vorzuschlagen, weil ich glaube – es ist bisher nicht gesagt
worden –, dass es durch die Persönlichkeit von Roman
Herzog, durch seine Kompetenz und durch seine unbe-
strittene Autorität möglich gewesen ist, das Zustande-
kommen dieser Charta in einer sehr kurzen Zeitspanne zu
ermöglichen. Deshalb möchten wir Roman Herzog für
dieses Engagement und diesen Einsatz nachdrücklich
Dankeschön sagen.


(Beifall im ganzen Hause)

Diese Charta – Kommissionspräsident Prodi hat es ge-

sagt – bildet nicht mehr und nicht weniger als die künftige
Seele der Europäischen Union. Gerade am Vorabend
wichtiger Entscheidungen – Regierungskonferenz in Niz-
za mit wichtigen Vertragsänderungen, die Aufnahme von
bis zu 20 neuen Mitgliedstaaten in die Europäische
Union – ist es wichtig, dass wir uns über das Wertefun-
dament, auf dem wir stehen, Klarheit verschaffen. Des-
halb ist es entscheidend und keine Nebensächlichkeit,
dass wir uns in der Präambel zu dieser Charta eindeutig
zur zentralen Rolle der Menschenwürde, zur zentralen
Rolle der Person und zum Prinzip der Subsidiarität
bekennen. Das ist ein Bekenntnis zum europäischen Men-
schenbild, das auf der christlichen Tradition, auf der
Tradition der Aufklärung fußt. Es ist vor allem eine




Dr. Jürgen Meyer (Ulm)


11907


(C)



(D)



(A)



(B)


eindeutige Absage an jede Form von Intoleranz, Totalita-
rismus oder spätsozialistischer Heilslehre.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es war auch richtig – darin stimme ich dem Kollegen
Meyer ausdrücklich zu –, dass wir diese Charta durch ei-
nen Konvent ausgearbeitet haben, der zu zwei Dritteln
aus Parlamentariern der nationalen Parlamente und des
Europäischen Parlaments bestand. Es war auch für mich
persönlich eine faszinierende Erfahrung, mitzuerleben,
wie sich in diesem Gremium, das aus 60 völlig verschie-
denen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern
– von Skandinavien bis nach Portugal und Griechenland –
mit unterschiedlichen Rechtstraditionen, unterschiedli-
chem Grundrechteverständnis, unterschiedlichen Verfas-
sungstraditionen und den unterschiedlichsten politischen
Auffassungen bestand, die Mitglieder Schritt für Schritt
zusammengerauft haben, wie sich eine gemeinsame Ar-
beitskultur herausgebildet hat und wie man sich schließ-
lich auf gemeinsame Positionen verständigt hat.

Genauso faszinierend war es, mit anzusehen, wie in
diesem Grundrechtekonvent aus anfänglichen Skeptikern
und Gegnern der Grundrechte-Charta nach und nach über-
zeugte Anhänger und Befürworter wurden, wie sich über-
haupt einmal mehr die Erfahrung bestätigt hat, dass im-
mer dann, wenn man sich intensiv und ernsthaft mit der
Materie beschäftigt, kein Raum mehr für dumpfen Skep-
tizismus und Europafeindlichkeit bleibt.


(Beifall im ganzen Hause)

Die Erfahrung des Konvents zeigt auch, dass es in der

Europäischen Union bei aller notwendigen Unterschied-
lichkeit, bei allen gegensätzlichen Auffassungen zu Ein-
zelfragen eben doch mehr Gemeinsames als Trennendes
gibt. Diese Erfahrung sollten wir bei den Debatten in den
nächsten Jahren nicht vergessen.


(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD] und Joachim Poß [SPD]: Sehr gut!)


Auch wenn die Ausarbeitung der Charta – zum Bedau-
ern des Kollegen Meyer und vielleicht mancher anderen –
nicht jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen stand
und die Abendnachrichten im Fernsehen beherrscht hat,
glaube ich, dass das Verfahren, das wir gewählt haben,
mehr Transparenz und Beteiligung derÖffentlichkeit er-
möglicht hat, als es jedes andere Projekt der europäischen
Integration in der Vergangenheit getan hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, das Ergebnis des Konvents,
die Charta, kann sich sehen lassen. Wir haben – das wird
von so unabhängigen und renommierten Persönlichkeiten
wie dem ehemaligen Richter am Europäischen Gerichts-
hof in Luxemburg und jetzigen Präsidenten des Bundes-
gerichtshofs, Herrn Hirsch, und vielen anderen bestätigt –
einen Chartaentwurf vorgelegt, der in einer positiven Art
und Weise das zusammenfasst, was Grund- und Men-
schenrechtsschutz in Europa seit vielen Jahrzehnten be-
deutet. Diese Charta ist wahrscheinlich das beste Instru-

ment modernen Grund- und Menschenrechtsschutzes, das
wir in Europa und in der Welt haben. Ich bin davon über-
zeugt, dass diese Charta für viele Verfassungen, für viele
Grundrechtskapitel in Verfassungen osteuropäischer Län-
der, in Ländern auf dem Balkan, in jungen Demokratien
in der Dritten Welt Pate stehen wird.

Von dieser Charta wird auch die Signalwirkung ausge-
hen, dass die Europäische Union mehr ist als eine Frei-
handelszone und ein Binnenmarkt, nämlich vor allem eine
Wertegemeinschaft, die auf dem Prinzip der Demokratie
gegründet ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Diese Charta ist auch deshalb ein Erfolg geworden,
weil sich die Mitglieder im Konvent in weiser Selbstbe-
scheidung dazu verstanden haben, die Charta nicht mit al-
len möglichen Wunschvorstellungen zu überfrachten, die
man aus der nationalen politischen Debatte selbstver-
ständlich in diese Charta hineintragen kann. Es gibt eben
kein Recht auf Arbeit; es gibt kein Recht auf Wohnung. Es
sind auch manch andere Blütenträume zerstoben, und
zwar auf beiden Seiten des Hauses. Aber gerade weil es so
ist, ist es eine Grundrechte-Charta geworden, mit der alle
leben können und die alle akzeptieren können. Das ist
auch ein Beweis dafür – wenn ich das so sagen darf –, dass
auch in Gremien etwas Gutes entstehen kann, was nicht
nur von sozialdemokratischen Regierungen in den Hin-
terzimmern von Regierungskonferenzen verhandelt wor-
den ist.


(Zurufe von der SPD: Na, na!)

Die Grundrechte-Charta hat selbstverständlich auch

Defizite. Ich persönlich hätte mir, lieber Kollege Michael
Roth, gewünscht, dass wir beispielsweise vor dem Hin-
tergrund der Erfahrungen mit dem Balkan, mit dem Ko-
sovo und mit Bosnien und der ungeklärten Lage von
Minderheiten in vielen Staaten Osteuropas und der ehe-
maligen Sowjetunion auch den Mut gehabt hätten, Grup-
pen- und Minderheitenrechte in diese Charta hineinzu-
schreiben,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wie zum Beispiel ein Verbot der Vertreibung und ein
Recht auf Heimat.


(Rudolf Bindig [SPD]: Da waren die Franzosen dagegen!)


– Ja, aber nicht nur die Franzosen. Ich hätte mir auch ge-
wünscht – ich habe zusammen mit anderen entsprechende
Anträge im Konvent eingebracht –, dass die deutsche
Bundesregierung dies vielleicht ein bisschen engagierter
unterstützt hätte, und zwar so, wie sie es bei anderen Fra-
gen ja auch getan hat.

Trotz dieses Defizits und manch anderer Defizite, die
sich in dieser Charta identifizieren lassen – wir werden
zum Beispiel über die Fragen der Biomedizin in Europa
noch lange diskutieren müssen, bevor wir zufrieden stel-




Peter Altmaier
11908


(C)



(D)



(A)



(B)


lende und endgültige Regelungen erreicht haben –, lässt
sich am Erfolg dieser Charta nicht deuteln. Sie wird vor
allen Dingen ein Katalysator für den weiteren Prozess der
europäischen Integration sein. Diese Charta hat Wirkun-
gen, die weit über das Anliegen des Grund- und Men-
schenrechtsschutzes hinausgehen. Sie wird uns auf dem
Weg zu einer europäischen Verfassungsgebung weiter
voranbringen. Das folgt schon daraus, dass diese Grund-
rechte-Charta festschreibt, dass die bisherigen Zuständig-
keiten der Europäischen Union nicht ausgeweitet werden
dürfen, dass vielmehr ihre Anwendung und Ausübung
besser kontrolliert und überwacht werden.

Nur, wir haben ein Problem: Die Zuständigkeitsver-
teilung ist an vielen Stellen des EU-Vertrags bisher nicht
eindeutig und klar geregelt. Deshalb ist es notwendig,
dass wir, von dieser Charta ausgehend, eine Diskussion
über die Fragen in Gang setzen: Wer macht was in Eu-
ropa? Was macht die Europäische Union, was machen
die Mitgliedstaaten? Es ist ja erfreulich, dass die Forde-
rung nach Kompetenzabgrenzung, die ursprünglich von
Schäuble und Lamers in der Debatte erhoben worden ist,
inzwischen parteiübergreifend Anhänger und Unterstüt-
zer findet, und zwar bis hin zum französischen Staatsprä-
sidenten Jacques Chirac, der das vor wenigen Wochen
von gleicher Stelle aus im Deutschen Bundestag gesagt
hat.

Heute habe ich vernommen, dass sich sogar der ehe-
malige Bundeskanzler Helmut Schmidt für eine Kompe-
tenzabgrenzung innerhalb der Europäischen Union stark
macht. Wenn er davor warnt, dass die Staats- und Regie-
rungschefs andernfalls das Projekt Europa möglicher-
weise verpfuschen könnten, dann ist das allerdings eine
Wortwahl, die ich mir nicht unbedingt zu Eigen machen
möchte, weil wir bei allem, was wir sagen, aufpassen
müssen, ob wir nicht das Gespenst der Europafeindlich-
keit, das wir eigentlich bannen möchten, heraufbe-
schwören und erst richtig zum Leben erwecken.

Weil die Grundrechte-Charta den europäischen Bür-
gern konkrete Rechte gibt, die eines Tages einklagbar sein
können, und weil sie dazu führt, dass das Handeln der eu-
ropäischen Organe so überprüft werden kann wie das
Handeln der nationalen Organe, das seit jeher an strengen
Maßstäben gemessen wird, wird sie auch die Diskussion
über ein weiteres wichtiges Thema vorantreiben, das
Angela Merkel in einer Rede, die sie vor wenigen Tagen
im „Tränenpalast“ gehalten hat, angesprochen hat, näm-
lich das Projekt der Demokratisierung der Europä-
ischen Union.

Neben den Fragen: „Wie soll die Europäische Union
hinsichtlich ihrer Zuständigkeiten und Kompetenzen ge-
staltet werden? Wie viele Mitgliedstaaten sollen der Eu-
ropäischen Union angehören?“ wird in den nächsten Jah-
ren auch die entscheidende Frage auf der Tagesordnung
stehen: Wie schaffen wir es, die Europäische Union so zu
organisieren, dass sie genauso demokratisch ist wie das
Verfassungsleben in jedem einzelnen unserer Mitglied-
staaten? Es ist ein Problem, dass die europäischen Bürger
über ihre Regierungen zum Beispiel in Frankreich, Eng-
land und Deutschland entscheiden können, dass sie aber
nicht darüber entscheiden können, wer sie in Europa re-
giert, und dass sie die Zusammensetzung der Kommission

und die Person des Kommissionspräsidenten einfach hin-
nehmen müssen, und zwar als Ergebnis dessen, was im
Ministerrat hinter verschlossenen Türen verhandelt wor-
den ist. Ich bin überzeugt, dass die Grundrechte-Charta
auch hier eine Bresche schlagen wird und dass sie deshalb
ein Instrument ist, das die europäische Integration nicht
verlangsamt, sondern was sie beschleunigt.

Meine Damen und Herren, zur Offenheit der Debatte
gehört allerdings auch, dass wir uns darüber Klarheit ver-
schaffen, dass die Charta einen wichtigen Schönheitsfeh-
ler hat: Sie ist bislang rechtlich unverbindlich. Sie ist – da-
ran werden nach allem, was wir wissen, weder Biarritz
noch Nizza etwas ändern –, zum gegenwärtigen Zeitpunkt
für keinen Bürger als unmittelbar geltendes Recht ein-
klagbar. Deshalb glaube ich, dass wir unsere Arbeit nicht
mit diesem Konvent beenden dürfen, dass wir uns nicht
nur mit der heutigen Bundestagsdebatte für die vielen An-
hörungen und Debatten loben dürfen, sondern dass wir
daran weiterarbeiten müssen, dass diese Charta mit ihren
Grundrechten Rechtsverbindlichkeit erlangt.


(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, bei allem

Verständnis für die Schwierigkeiten, die es bei Regie-
rungskonferenzen und europäischen Gipfelkonferenzen
gibt: Versuchen Sie, in Nizza und in Biarritz wenigstens
einen Fahrplan zu schaffen, der es regelt, dass die Grund-
rechte-Charta eines Tages in die europäischen Verträge
aufgenommen wird – nicht eines fernen Tages, sondern
bei der nächsten großen anstehenden Vertragsrevision,
und zwar gemeinsam mit den Kompetenzabgrenzungen
und mit dem, was wir als Kernelemente einer europä-
ischen Verfassung bezeichnen. Wenn diese Charta ir-
gendwo in den Aktenschränken des Auswärtigen Amtes
und des Justizministeriums verschwinden würde, hätten
wir eine große Chance vertan. Deshalb sollten wir alles
tun, damit die Charta die Wirksamkeit entfalten kann, die
sie auch verdient hat.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412410900
Das Wort hat
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412411000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf
der Charta wird nicht in irgendwelchen Aktenschränken,
weder in Berlin noch in Brüssel oder anderen Hauptstäd-
ten, verschwinden, weil ich der festen Überzeugung bin,
dass der Integrationsprozess im Interesse aller beteiligten
Mitgliedstaaten und auch der Beitrittskandidaten liegt
und dass dieser Integrationsprozess nicht am Sankt-Nim-
merleins-Tag, sondern in einer für uns überschaubaren
Zeit der Regelung dringender Fragen bezüglich der indi-
viduellen Rechte der einzelnen EU-Bürgerinnen und Bür-
ger wie auch der institutionellen Fragen bedarf. Ich kann
es mir nicht anders vorstellen, als dies in einem verfas-
sungsähnlichen Vertrag, am besten in einer Verfassung, zu




Peter Altmaier

11909


(C)



(D)



(A)



(B)


regeln. Insofern ist der Entwurf der Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union für mich ein Meilenstein
in der Geschichte der europäischen Einigung. Der Kon-
vent, der diesen europäischen Rechte- und Wertkanon in
bemerkenswerter Einigkeit formuliert hat – diese Einig-
keit wurde im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet –, hat
die Erwartungen bei der Formulierung dieser Initiative
auf dem Europäischen Rat in Köln deutlich übertroffen.
Deswegen möchte ich ganz besonders – das wurde schon
angesprochen – dem Bundespräsidenten a. D. Roman
Herzog danken, der hier eine herausragende Arbeit ge-
leistet hat, eine souveräne Leistung des Konvents. Gestat-
ten Sie mir aber, dass ich auch allen anderen Mitgliedern
des Bundestages und des Bundesrates für ihre sehr gute,
für ihre konstruktive Mitarbeit danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist auch wichtig, dass wir die Form ansprechen. Ich
warne allerdings davor, hier eine Entgegensetzung zwi-
schen dem Konvent und den geheimen Hinterzimmern ei-
ner Regierungskonferenz zu machen. Es sind keine Hin-
terzimmer; zumindest war das 16 Jahre lang nicht der Fall.
Sie werden es auch in Zukunft nicht sein, und wir sollten
das nicht dem Konvent entgegensetzen. Ich bin der Mei-
nung – das sage ich als überzeugter Integrationist –, dass
wir mit dem Konvent eine neue Tür aufgestoßen haben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen Verfas-
sungsvertrag nicht mehr in der alten Form der Regie-
rungskonferenz bekommen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Insofern kann ich Ihnen als Haltung der Bundesregie-

rung sagen: Die Bundesregierung hat dafür gekämpft,
diese Initiative auf den Weg zu bringen, bei der alle so her-
vorragend zusammengearbeitet haben. Wir sind ein Stück
weit stolz darauf und begreifen es als ein implizites Lob,
dass dies unter der deutschen Präsidentschaft in Köln ge-
lungen ist. Aber auch die Form – dass das Europaparla-
ment und die nationalen Parlamente eingebunden waren,
dass es einen transparenten Prozess gegeben hat, was Kol-
lege Meyer zu Recht angesprochen hat – ist für die weite-
ren Integrationsfortschritte sehr wichtig.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Mit der Charta, der gestern das Bundeskabinett zuge-
stimmt hat und die wir am Wochenende in Biarritz disku-
tieren wollen, unterstreicht die EU ihren Anspruch als
Wertegemeinschaft über einen gemeinsamen Markt und
eine gemeinsame Währung hinaus. Das ist ebenfalls ein
sehr wichtiger Gesichtspunkt.

Erlauben Sie mir aber, mich in dieser Aussprache nicht
auf die verfassungsrechtlichen Substanzfragen zu kon-
zentrieren – das wird die Kollegin Justizministerin tun –,
sondern auf einige europapolitische Anmerkungen zu den
nächsten Schritten.

Ich habe mir zum Prinzip gemacht, wenn ich Haupt-
städte in der Europäischen Union besuche und Zeit habe,
auch die Diskussion mit den Mitgliedern der Europaaus-

schüsse der nationalen Parlamente zu suchen. Dabei
musste ich feststellen, dass die einhellige Zustimmung,
die wir hier im Haus Gott sei Dank über fast alle Frakti-
onsgrenzen hinweg haben


(Zurufe von der PDS: Alle!)

– über alle –, mitnichten in allen Mitgliedstaaten der Fall
ist,


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hätten wir Ihnen vorher sagen können!)


und zwar aufgrund höchst unterschiedlicher Traditionen.
Die nordischen Länder werfen zum Beispiel immer die
Frage auf, wie sich die Grundrechte-Charta zur Europä-
ischen Menschenrechtskonvention verhalten wird. Die
langjährigen Nicht-EU-Mitglieder haben natürlich eine
andere Tradition der Kooperation mit dem Europarat und
sehen hier eine andere Gewichtung.

Es ist aber auch festzustellen, dass der Kontext dieses
Entwurfes, nämlich die Frage, wie sehr weitere Fort-
schritte in der Integration gewollt werden, entscheidend
ist. Nicht die Sache ist in anderen Mitgliedstaaten teil-
weise hoch dissent oder wird, um es noch krasser zu sa-
gen, dort breit abgelehnt, sondern die Frage, ob man
Schritte zu einer vollen politischen Integration gehen will,
was hier im Hause Konsens ist. Das sollte uns nicht ent-
mutigen. Es ist unser Auftrag, dafür zu werben, dass die-
ser Entwurf nicht nur bei der beschränkten Zahl der Kon-
ventsmitglieder aufgrund ihrer Erfahrungen, sondern
auch in den nationalen Parlamenten insgesamt, in denen
die Skepsis bislang überwiegt, mehrheitsfähig wird.

Aber ich kann da dem Bundeskanzler nur zustimmen:
Wichtig ist, dass wir diesem Entwurf möglichst schnell
Vertragscharakter geben können.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/ CSU)


Wir sollten deshalb alles unterlassen, was dies gefährden
könnte. Selbst wenn wir – auch ich – uns aus demokratie-
theoretischen Überlegungen eine Volksabstimmung wün-
schen würden, können wir uns die Realitäten nicht malen,
wie man sie gerne hätte. Vielmehr muss man die Dinge re-
alistisch sehen. Für mich ist die Überführung dieses her-
vorragenden Entwurfes, für den wir dankbar sind, in die
europäischen Verträge wichtiger als die Hoffnung auf eine
europäische Volksabstimmung, die ich bedauerlicher-
weise so noch nicht sehe.


(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Kein Widerspruch!)


Wenn wir das gemeinsam so sehen, finde ich das sehr
gut. Ich glaube, dass die nationalen Parlamente die wich-
tige Aufgabe haben, diesen Entwurf gerade bei denen, die
ihm skeptisch gegenüberstehen, mehrheitsfähig zu ma-
chen – ohne dass die Bundesregierung sich damit aus ih-
rer Verantwortung zurückziehen wollte. Ich möchte nur
dazu auffordern und dafür werben.

Ich will auf den zweiten Punkt antworten, den Sie an-
gesprochen haben. Biarritz wird eine Vorklärung mit sich




Bundesminister Joseph Fischer
11910


(C)



(D)



(A)



(B)


bringen; das ist ein informeller Europäischer Rat, der die
Weichen für den Abschluss der Arbeit in Nizza stellt. Über
Nizza hinaus ist natürlich der Zusammenhang mit der
Erweiterung zu sehen. Die Erweiterung wirft zwei ent-
scheidende Fragenkomplexe auf.

Der erste sind die institutionellen Fragen. Die institu-
tionellen Fragen führen direkt in die Verfassungsdebatte;
denn mit dem fortschreitenden Integrationsprozess, den
eine EU der 27 notwendig macht, wird man um eine Be-
antwortung nicht nur der Fragen von Individualrechten,
sondern auch der institutionellen Verfassungsfragen nicht
herumkommen. Andernfalls wird man eine Stagnation
oder gar einen Rückschritt verzeichnen.

Der zweite Komplex betrifft Finanzfragen. Ich halte
die Erweiterung zum schnellstmöglichen Zeitpunkt für
unverzichtbar. Daraus ergibt sich – natürlich unter Ein-
haltung der Reihenfolge –, dass wir mit dem Fortschrei-
ten der Integration – aus der Erweiterung ergibt sich die
Vertiefungsnotwendigkeit – auch eine entsprechende Dy-
namik bei den Verfassungsfragen brauchen. Ich finde die
begonnene Debatte mit höchst unterschiedlichen Positio-
nen sehr wichtig; sie führt über Nizza hinaus. Aber die Vo-
raussetzung ist, dass der erste Schritt in Nizza gelingt.

Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir uns eingeste-
hen, dass wir bereits dort wesentliche konstitutionelle
Fragen zu bewältigen haben. Es handelt sich um konsti-
tutionelle Fragen, die etwa die Institution und das Ver-
hältnis der großen zu den kleinen Ländern betreffen. Es
geht um die Repräsentanz einer sich erweiternden Union
in der Kommission. Die Größenordnung der Kommission
und die Anzahl der Kommissare betreffen das Verhältnis
von großen zu kleinen Mitgliedstaaten. Die Stimmenge-
wichtung ist ebenfalls eine konstitutionelle Frage. All dies
gilt nicht für den Teil der Konstitution, der die individuel-
len Grundrechte behandelt, sondern für den institutionel-
len Teil. Es ist von zentraler Bedeutung. Selbstverständ-
lich geht es auch um die Frage, inwieweit und mit
welchem Quorum das Mehrheitsprinzip angewandt wer-
den wird.


(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Vor allen Dingen dies!)


– Das hängt mit der Stimmengewichtung wiederum sehr
eng zusammen. Aber das muss ich Ihnen, Herr Altmaier,
nicht erklären. – Darüber hinaus geht es um die nicht in
den Verfassungsrahmen hineinführende Frage der ver-
stärkten Zusammenarbeit. Ich bin optimistisch, dass wir
auch hierbei einen substanziellen Fortschritt erzielen
werden.

Ich sage Ihnen: Nach Nizza werden wir nicht nur über
die Überführung dieses Teils einer Verfassung, des Grund-
rechtsschutzes, in die europäischen Verträge zu diskutie-
ren haben; vielmehr werden wir auch – ich gehe fest da-
von aus, Herr Meyer – die Vertiefungsdebatte unter
Ausklammerung der institutionellen Verfassungsfragen
führen müssen. Die Frage danach, wer was macht, ist
zwar einfach formuliert; aber in Wirklichkeit zielt man in
das Zentrum des institutionellen Bereichs, der im Rahmen
einer zukünftigen europäischen Verfassung zu klären
ist.

Insofern hoffe ich, dass wir eine entsprechende Zu-
stimmung finden können und den vor uns liegenden Weg
in den Konklusionen wiederfinden werden. Die Bundes-
regierung wird sich dafür einsetzen, dass wir zu Formu-
lierungen kommen, die uns nicht nur die Tür öffnen, son-
dern auch ein Stück weit durch diese Tür hindurchführen.
Das heißt, es geht auch darum, die Richtung zu beschrei-
ben. In dieser Art und Weise haben wir in Köln begonnen.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen: Wir
haben mit dieser Methode sehr viel erreicht, nämlich
einen Entwurf der Grundrechte-Charta, auf die wir zu
Recht stolz sein können.

Ich bedanke mich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412411100
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1412411200

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt sehr, dass
heute der Entwurf der Grundrechte-Charta des Konvents
in dieser Form zur Beratung und zur Meinungsbildung an-
steht; denn wir haben uns immer für eine Entwicklung der
Europäischen Union hin zu einem föderalen vereinigten
Europa auf der Grundlage einer europäischen Verfassung
eingesetzt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Früher war es Vision und Ziel und heute wird es etwas
mehr Realität, dass sich die Europäische Union in genau
diese Richtung, von einer Wirtschafts- und Währungsge-
meinschaft – wir waren die entscheidenden Vorkämpfer
für die gemeinsame Währung – hin zu einer zunehmend
staatlich verfassten Wertegemeinschaft, entwickeln
muss. Deshalb sind wir froh, dass wir heute über einen
ganz wichtigen Eckpfeiler dieser europäischen Entwick-
lung beraten können.

Wie die Vorredner danken wir den Mitgliedern des
Konvents – einige sind aus dem Bundestag – und beson-
ders dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog,
der einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, dass
es über unterschiedlichste Verfassungsvorstellungen und
Rechtstraditionen hinweg zu einem Konsens und zu ei-
nem Kompromiss gekommen ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber auch die Mitglieder des Bundestages und insbe-
sondere die des Europaausschusses sollten ihr Licht nicht
so ganz unter den Scheffel stellen.

Uwe Hiksch [PDS]: Sehr richtig!)
Wir haben im April dieses Jahres zusammen mit dem

Bundesrat eine Anhörung durchgeführt, die sich mit allen
wichtigen Fragen und Problemen der Europäischen
Grundrechte-Charta befasst hat. Ich glaube, das war eine
der Hilfestellungen, um Ihnen, Herr Meyer, und auch




Bundesminister Joseph Fischer

11911


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihnen, Herr Altmaier, dann die Arbeit im Konvent etwas
zu erleichtern. Sie haben da ja schon gesehen, in welche
Richtung die Vorstellungen der Abgeordneten aus den
jeweiligen Ausschüssen gehen.

Die Grundrechte-Charta ist wirklich ein Projekt, das
weit über das hinausgeht, was uns in den letzten Jahren
auf den jeweiligen Gipfeln und bei den Europäischen Rä-
ten beschäftigt hat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Für uns ist die Grundrechte-Charta immer schon ein
Schritt hin zu einer europäischen Verfassung gewesen. Ich
freue mich, dass sich die Kollegen hier im Bundestag über
alle Fraktionen hinweg jetzt endlich nicht mehr scheuen,
dieses Wort auch in den Mund zu nehmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Wir hätten die Rede von Präsident Chirac hier im Bun-
destag nicht hören müssen, um die Grundrechte-Charta in
den Zusammenhang mit einer Verfassung einzuordnen.
Herr Meyer wurde erst richtig ermutigt, dieses in einen
größeren Kontext zu stellen, als auch Herr Chirac von
einer Verfassung sprach.


(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Das ist doch eine gute Adresse!)


Lassen Sie mich zu einigen wenigen inhaltlichen Punk-
ten der Charta etwas sagen. Es ist für uns ja ganz selbst-
verständlich und entscheidend, dass der Schutz der Men-
schenwürde als Fundament aller Grundrechte an erster
Stelle steht. Damit kommt der Menschenwürde und ihrer
Unantastbarkeit eine Leitbildfunktion zu; dieser wichtige
Wert strahlt so auf alle anderen Grundrechte aus.

Wir begrüßen es auch, dass in dem Artikel über den
Schutz der Unversehrtheit der Person das Verbot des re-
produktiven Klonens von Menschen aufgenommen
worden ist. Ich denke, das kann nur der Anfang sein. Wir
müssen jetzt die Debatte darüber führen, was wir im Be-
reich des therapeutischen Klonens zulassen wollen und
wie weit wir hier notwendiger technischer Entwicklung
den Raum öffnen wollen, den sie braucht, aber auch da-
rüber, wo wir Grenzen einziehen wollen. Ich denke, es ist
gut, dass hier ein erster Schritt gemacht worden ist.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zum Diskriminierungsverbot und zu anderen Dingen

brauche ich nichts weiter zu sagen, da wir das natürlich
unterstützen.

Leider ist es den Verfassern trotz des eindeutigen Auf-
trages des Europäischen Rates in Köln nicht gelungen,
sich ausschließlich auf diejenigen Rechte zu beschränken,
die nicht lediglich Handlungsziele der Union darstellen.
Ich weise darauf hin, dass manches – Interessierte sollten
einmal die Artikel über Umweltschutz, Verbraucher-
schutz und Gesundheitspolitik lesen – mehr in den Be-
reich der Lyrik und der Prosa gehört denn in den Bereich,
den wir mit einer Grundrechte-Charta verbinden.

Lassen Sie mich auf ein Problem aufmerksam machen,
das nicht nur ein sprachliches ist: In vielen Artikeln wird
selbst nach vielen Beratungen im Konvent der Begriff

„Achtung von Rechten“ – ich erinnere dabei an Art. 11
„Medienfreiheit“ – verwandt, und zwar als Ergebnis eines
Diskussionsprozesses im Konvent, der zum Ziel hatte,
den Schutz auf ein etwas niedrigeres Niveau zu senken.
Wir sollten bei aller grundsätzlichen Zustimmung zum
Entwurf dieser Grundrechte-Charta sehr wohl sehen, dass
in manchen Bereichen ein Schutzniveau erreicht ist
– natürlich wegen des notwendigen Kompromisses –, das
unter dem liegt, was wir uns aus unserem Verständnis he-
raus gewünscht hätten und auch wünschen.

Einen Artikel sehe ich mit großer Sorge: Es ist Art. 18
der Charta, der beim Recht auf Asyl auf die Genfer
Flüchtlingskonvention verweist und sich damit auf ein in-
stitutionelles Recht bezieht. Ich sehe sehr realistisch, dass
anderes nicht machbar war. Ich sage an dieser Stelle aber
auch: Ganz entschieden werden wir all denjenigen entge-
gentreten, die das zum Anlass nehmen zu sagen: Weil
nicht mehr in der Europäischen Grundrechte-Charta ver-
ankert ist, muss jetzt auch in Deutschland die Debatte über
eine Änderung des Grundrechtes auf Asyl in Art. 16 a
Grundgesetz geführt werden.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Solch eine Sogwirkung darf von Art. 18 der Charta nicht
ausgehen.

Das Kapitel Solidarität ist nach unserer Einschätzung
sehr vom Realitätssinn der Mitglieder des Konvents ge-
prägt. Man hat der Versuchung widerstanden – ich denke:
richtigerweise –, ein Recht auf Arbeit und Wohnung hier
aufzunehmen. Einige dieser immer gerühmten sozialen
Grundrechte sind schon in der Sozialcharta und in ande-
ren Konventionen verankert. Herr Meyer, ich weiß, dieses
Kapitel lag und liegt Ihnen sehr am Herzen; Sie haben sich
sehr dafür eingesetzt. Aber realistisch gesehen muss man
sagen, dass es sich mehr oder weniger um Selbstver-
ständlichkeiten handelt, die dort verankert sind.

Lassen Sie mich ein Wort zu den Art. 51 ff. sagen, näm-
lich den horizontalen Bestimmungen der Grundrechte-
Charta. Ich denke, es ist gut, dass man hier ein Mindest-
niveau eingeführt hat. Man darf nicht hinter die
Europäische Menschenrechtskonvention und andere
Regelungen zurückfallen.

Aber ich betrachte den Art. 52; der die allgemeinen
Schranken für die Eingriffe in die Grundrechte formuliert,
mit Sorge. Diese Eingriffsmöglichkeiten müssen sein;
aber sie sind so allgemein formuliert – sie orientieren sich
an den allgemeinen Zielsetzungen des Gemeinwohls –,
dass ich nur sagen kann: Dadurch werden Spielräume
eröffnet, bei denen man nur hoffen kann – ich sage dies
mit Blick auf das Verständnis, das wir im Bundestag mit
dieser Charta verbinden –, dass nicht in einer Art und
Weise in die Grundrechte eingegriffen wird, wie es auch
die Verfasser nicht wollen. Man sollte immer wieder be-
tonen, dass diese Möglichkeiten nicht das Einfallstor für
solch weit gehende Eingriffe werden dürfen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Hiksch [PDS])





Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
11912


(C)



(D)



(A)



(B)


Neben diesen Punkten – man hätte die Charta inhalt-
lich zwar besser ausfüllen können; aber insgesamt be-
grüßen wir es, dass sie vorliegt – möchte ich noch eine Be-
merkung zu dem weiteren Verfahren machen; denn das ist
im Moment der entscheidende Punkt. Wir fordern, dass
nach den Beratungen am Wochenende in Biarritz spätes-
tens auf dem Gipfel in Nizza der Entwurf dieser Charta
politisch angenommen und damit beschlossen wird. Das
ist aber das absolute Minimum; dabei darf es auf keinen
Fall bleiben. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die
Bundesregierung auf, alles für das Ziel zu tun, dass dieser
Entwurf einer Grundrechte-Charta in die europäischen
Verträge aufgenommen, also verbindlich gemacht wird,


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


und in diesem Verfahren eine Beteiligung der Bürge-
rinnen und Bürger in Form einer Volksabstimmung vor-
zusehen.

Ich verstehe zwar die Zurückhaltung des Außenminis-
ters, wenn er in dieser Funktion hier redet. Aber ich denke,
er gibt damit überhaupt nicht den Willen der Fraktionen
von SPD und Grünen wieder. Herr Sterzing, mich hat
heute Morgen wirklich erstaunt, dass ich in der „Süddeut-
schen Zeitung“ lesen konnte, dass Frau Roth, Frau Künast
und Sie eine Volksabstimmung fordern. Nehmen Sie die-
sen Punkt doch in Ihren Antrag auf und sprechen nicht nur
lasch davon, dass geprüft werden soll, ob eine Volksab-
stimmung durchgeführt werden kann!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Setzen Sie sich dafür im Bundestag ein und wecken Sie
nicht nur entsprechende Erwartungen in der Öffentlich-
keit! Der Grund für Ihre Zurückhaltung kann doch nicht
in der Angst des Außenministers liegen, dies nicht durch-
setzen zu können. Ich kann mich noch an ganz andere
Debatten im Bundestag erinnern, als es um das Thema
Volksabstimmung und Bürgerbeteiligung generell ging.

Wir befürchten überhaupt nicht, dass die Bürger in
Europa die Grundrechte-Charta geschlossen ablehnen
könnten; denn es ist keine Abstimmung, die morgen statt-
findet. Wir eröffnen jetzt die öffentliche Debatte, die Ver-
ständnis für das wecken soll, was hier festgelegt wurde.
Vor dem Hintergrund einer solchen Debatte bin ich sehr
zuversichtlich, dass es eine breite Zustimmung geben
wird.

Wollen wir denn ängstlich sein und uns nicht trauen,
bei einer so grundlegenden Verfassungsfrage die Bürge-
rinnen und Bürger zu beteiligen? Alle Fraktionen und Par-
teien haben sich doch in den letzten Monaten mit der
Frage befasst: Wie können wir eine stärkere Bürgerbetei-
ligung ermöglichen? Nun gibt es zum ersten Mal einen
konkreten Anlass, bei dem wir diesen Prozess der Beteili-
gung einleiten können. Ich muss Ihnen aber sagen: Ich
habe kein Verständnis dafür, dass nur verschämte Ansätze
seitens der Mehrheitsfraktionen vorhanden sind. Dennoch
hoffe ich, dass wir Ihnen Mut machen können, noch ener-
gischer aufzutreten.

In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412411300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412411400
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Meine Fraktion wertet die Tatsa-
che, dass der Konvent die Europäische Charta der Grund-
rechte in großer Einmütigkeit verabschiedet hat, als
Beweis dafür, dass die Mitglieder dieses Gremiums, das
Europäische Parlament und zahlreiche nationale Parla-
mente, darunter auch der Deutsche Bundestag, es als rich-
tig erkannt haben, dass Europa nicht auf einem Defizit
von Rechten seiner Bürgerinnen und Bürger aufgebaut
werden kann. Eine Charta der Grundrechte, die auf den
Prinzipien von Menschenwürde, Selbstbestimmung und
Gleichheit gründet, musste eine notwendige Antwort auf
die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen und mo-
netären Integration sein und auch ein deutliches Signal
an die beitrittswilligen Länder setzen.


(Beifall bei der PDS)

Ich möchte hervorheben, dass viele Veränderungen,

die als Ergebnis der Anhörungen und durch die Mitglie-
der des Konvents selbst am Chartatext vorgenommen
wurden, für uns grundsätzlichen Charakter tragen und von
uns sehr positiv bewertet werden.

Die Fraktion der PDS und die Abgeordneten der PDS
im Europaparlament, namentlich Frau Kaufmann, haben
sich von Anfang an gemeinsam mit den Fraktionen dieses
Hauses, namentlich vertreten durch den hoch geschätzten
Kollegen Meyer und den Kollegen Altmaier, kritisch und
konstruktiv an der Diskussion und der Arbeit an der
Charta beteiligt und sie durch das Einbringen eigener Po-
sitionen mitgeformt.

Mit Befriedigung können wir feststellen, dass eine
Reihe unserer Essentials vom Konvent geteilt und in der
vorliegenden Endfassung berücksichtigt wurden. Offene
Probleme und kritische Punkte werde ich später benen-
nen.

Wichtig war für uns, dass der Chartaentwurf nicht hin-
ter die Europäische Menschenrechtskonvention und be-
reits bestehende nationale Grundrechtsstandards zurück-
fällt, sondern teilweise sogar darüber hinausgeht. Die
Fraktion der PDS begrüßt den vom Konvent verabschie-
deten Entwurf und zollt ihre Anerkennung all denen, die
sich an der Ausarbeitung einer Europäischen Charta der
Grundrechte engagiert beteiligt haben. Der Chartaentwurf
wie auch sein Entstehungsprozess sind ermutigende Zei-
chen für die Bürgerinnen und Bürger Europas, dass der
Integrationsprozess voranschreitet, dass die Möglich-
keiten der demokratischen Mitbestimmung erweitert und
nicht vermindert werden, dass die Grundrechte und Frei-
heiten aller Bürgerinnen und Bürger auf hohem Niveau
geachtet und geschützt werden.




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

11913


(C)



(D)



(A)



(B)


Auf der Grundlage des Entwurfs können die Grund-
rechte der Menschen in der Europäischen Union vertei-
digt werden und die Charta kann zu einem Gegengewicht
einer allein marktwirtschaftlich ausgerichteten Gestal-
tung Europas werden.


(Beifall bei der PDS)

Die Offenheit und Transparenz der Arbeit des Kon-

vents sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Einflus-
snahme auf den Erarbeitungsprozess durch Bürgerinnen
und Bürger, die Gewerkschaften, Verbände, Institutionen
und Organisationen über Anhörungen oder über das In-
ternet gelten zu Recht als vorbildlich und nachahmens-
wert für wichtige Entscheidungen auf europäischer
Ebene.

Unsere Anerkennung gilt ganz besonders Professor
Roman Herzog als dem Vorsitzenden des Konvents. Die
breite demokratische Diskussion unter seiner Leitung
führte dazu, dass der nun vom Konvent verabschiedete
Entwurf weitgehend im Konsens getragen werden kann
und in vielen Bereichen das Machbare darstellt.

Wie gesagt, es gibt einige gravierende Verbesserungen
gegenüber früheren Entwürfen. Ich will mich da kurz fas-
sen; vieles ist bereits gesagt worden. In Art. 1 wird die Un-
antastbarkeit der Würde des Menschen garantiert. Wer
weiß besser als die Beteiligten, welchen Prozess das er-
fordert hat! Ich verweise auch auf die Wehrdienstver-
weigerung und auf die Bedeutung der Aufnahme eines
speziellen, bemerkenswert untersetzten Antidiskriminie-
rungsartikels 21. Einmalig und vorbildlich für alle euro-
päischen Staaten sind die Aussagen zur Gleichstellung
von Mann und Frau, wie sie in Art. 23 vorgenommen wor-
den sind. Dabei ist die Gleichstellung bei der Beschäfti-
gung, der Arbeit und dem Arbeitsentgelt explizit auf-
geführt. Das stellt auch für unser Land eine große He-
rausforderung dar.


(Beifall bei der PDS)

Einen Durchbruch bedeutete es, dass das Streikrecht in

Art. 28 als Teil der möglichen kollektiven Maßnahmen
der Arbeitnehmer garantiert wird. Dies aufzunehmen be-
deutete einen ähnlich schwierigen Prozess wie im Falle
des Art. 1.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass es mit dieser
Charta auf der europäischen Ebene erstmals gelungen ist,
den untrennbaren Zusammenhang zwischen den politi-
schen und den sozialen Grundrechten herzustellen und
letztlich trotz etlicher Widerstände durchzusetzen.

Wir betrachten diesen Prozess als längst nicht abge-
schlossen – da stimmen wir mit manchem Vorredner über-
ein – und werden weiterhin auch auf der europäischen
Ebene darum ringen, einen hohen Standard konkreter so-
zialer Grundrechte für die Union als Ganzes und nicht
mindere nationalstaatliche Regelungen zu erreichen.


(Beifall bei der PDS)

Wie auch andere Fraktionen dieses Hauses mussten wir

im Verlauf der Diskussion über die Charta zur Kenntnis
nehmen, dass die Bereitschaft einiger Regierungen zur
Verbindlichkeit eindeutig formulierter sozialer Rechte

gegenwärtig noch nicht vorhanden ist. So sind die ein-
schränkenden Formulierungen im Text, die gerade bei
vielen der sozialen Rechte das Subsidiaritätsprinzip heilig
sprechen und auf nationale Regelungen verweisen, ein
Relikt der Vergangenheit oder ein Zugeständnis an die
Konsensfähigkeit.


(Beifall bei der PDS)

Die mangelhafte Ausgestaltung vieler sozialer Rechte als
Individualrechte bleibt ein Hauptmangel der Charta und
legt die Unausgewogenheit von bürgerlichen und sozialen
Rechten offen.


(Beifall bei der PDS)

Es ist selbstverständlich eine bedeutsame Entwick-

lung, wenn jetzt das Recht zu arbeiten vorgesehen ist.
Dies ist jedoch kein Äquivalent zum Recht auf Arbeit. Der
in Lissabon einmütig verabschiedeten Zielsetzung eines
Europas der Vollbeschäftigung hätte als Ergänzung und
individuelle Entsprechung das Recht auf Arbeit zugestan-
den. Das hätte die Bürger in die Lage versetzt, eines der
obersten Menschenrechte garantiert zu bekommen. Das
gilt übrigens auch für das Recht auf Wohnen.


(Beifall bei der PDS)

Kollege Altmaier, dies sind keine Blütenträume, sondern
die grundlegendsten Menschenrechte.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das Wichtigste, was es gibt!)


Zu begrüßen ist, dass das Recht auf Arbeitsvermittlung
mit dem Zusatz „unentgeltlich“ versehen wurde. Ich sage
das mit Blick auf die private Arbeitsvermittlung.

Die Charta findet keine Lösung für die Personengrup-
pen, die ihre Rechte nur bedingt wahrnehmen können,
zum Beispiel für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozial-
hilfeempfänger, Arme oder auch Arbeitslose etwa im Be-
reich Freizügigkeit und Meldepflichten; ich will das nicht
weiter ausführen.

Demgegenüber steht das wahrlich seltsam anmutende
Recht auf unternehmerische Freiheit in Art. 16, das
eben jenes Recht auf Arbeit verhindert. Erneut werden
also auch in dieser Charta Arbeitgeber und Arbeitnehmer
ungleich behandelt. Dem wird das Sozialstaatsprinzip ge-
opfert, wenn auch im Schlussentwurf auf nationale
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird.

Nicht aufgenommen wurde in die Charta so etwas wie
das individuelle Recht auf Asyl. Auch das wäre ein Fort-
schritt gewesen.

Die Fraktion der PDS tritt dafür ein, auf dem Gipfel in
Nizza die Charta der Grundrechte rechtsverbindlich in
den Verträgen zu verankern. Auch die Verabschiedung der
Charta in Form einer feierlichen Proklamation kann für
die Rechtsprechung der europäischen Gerichte einen
hohen Richtwert haben.

Es muss den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit
gegeben werden, sich mit dem Gehalt der Charta vertraut
zu machen, weitere Veränderungen am Text vorzuneh-
men, eine breite Aussprache zu führen, Engagement und
Vision im Hinblick auf die Ausgestaltung der Europä-




Dr. Klaus Grehn
11914


(C)



(D)



(A)



(B)


ischen Union einzubringen und die demokratische Mitbe-
stimmung und Transparenz gerade angesichts weiterer
Schritte bei der Vergrößerung der Union zu erhöhen. Am
Ende eines solchen Prozesses sollte im Jahr der Wahlen
zum Europaparlament, im Jahre 2004, eine Volksab-
stimmung zur Annahme der Charta stehen.


(Beifall bei der PDS)

Ich darf mit der Feststellung schließen, dass die Bun-

desregierung erklärt hat, dass sie nicht hinter den Entwurf
zurückgehen wird, auch wenn es auf dem Gipfeltreffen in
Biarritz entsprechende Anträge geben wird. Wir begrüßen
diese Erklärung.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412411500
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-
Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Bekenntnis zu den Grundwerten – die Grund-
rechte-Charta wird der Europäischen Union den Weg wei-
sen“. So lautete in den vergangenen Tagen die Überschrift
über einem großen Artikel in der „Frankfurter Allgemei-
nen Zeitung“. Dies ist eine geradezu euphorische Würdi-
gung der Grundrechte-Charta, über die wir heute spre-
chen. Diese, wie ich finde, richtige, aber euphorische
Würdigung stammt von einem an sich sehr nüchternen
Mann, von Günter Hirsch, der früher Richter am Europä-
ischen Gerichtshof war und jetzt Präsident des Bundesge-
richtshofes ist. Er hat völlig Recht.

In allen heutigen Debattenbeiträgen zu diesem Thema
ist angeklungen, dass dies so ist. Auch das Wort „Ge-
meinsamkeit“ stand sehr deutlich über allem und war in
den gesamten Beiträgen zu spüren – Gemeinsamkeit aller
Fraktionen im Hinblick darauf, dass uns dieses Projekt
weiterführt. Wir haben zwar drei unterschiedliche An-
träge – einen von der Koalition und zwei weitere –, diese
aber deuten in allen zentralen Punkten in die gleiche Rich-
tung; und das ist gut.

Gemeinsamkeit ist in der deutschen Politik im Hin-
blick auf die Frage, welchen Weg Europa nehmen soll, mit
welchem Ziel wir Europa weiterentwickeln und gestalten
wollen, offensichtlich sehr wohl vorhanden. Ich stelle das
an dieser Stelle mit besonderer Freude fest, weil man ja
gelegentlich aus der einen oder anderen, mehr kurzfristig
und vielleicht interessenbehafteten Äußerung von Partei-
politikern, die sich draußen im Blätterwald wieder findet,
anderes schließen könnte.

Gemeinsamkeit steht über dem Projekt Europäische
Grundrechte-Charta, so wie wir es angelegt haben. Lassen
Sie mich allen sehr deutlich sagen, die sich schon in der
früheren Regierung darum bemüht haben, das Projekt der
Grundrechte der Europäischen Union auf den Weg zu
bringen: Verbal wie in der Sache gab es nie sehr viele Un-
terschiede; die Tatsache, dass es die rot-grüne Bundesre-
gierung war, die dieses Projekt in der deutschen Präsi-
dentschaft auf den Weg gebracht hat, erfreut mich

allerdings mit Genugtuung und mit Fröhlichkeit. Wenn
ich Herrn Altmaier sehe, dann weiß ich, dass er das im
Grund genommen genauso meint, ich sage es auch!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir können also feststellen: Wir sind jetzt an einer
Stelle angekommen, wo wir nicht nur über unsere Wün-
sche reden müssen, sondern wo wir sagen können: Ja-
wohl, wir haben das auf den Weg gebracht, und zwar – er-
innern wir uns an die Zeit vor eineinhalb Jahren – trotz
zum Teil großer Skepsis, gegen manche Kritik, gegen viel
Ängstlichkeit. Deswegen fand ich das, was Sie gerade ge-
sagt haben, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
so liebenswürdig. Wir haben nicht nur geredet, sondern
gehandelt und stellen jetzt fest: Jawohl, wir sind nicht nur
auf dem Weg in die richtige Richtung, sondern haben
tatsächlich eine Menge hinbekommen.

Übrigens war es die Bundesregierung, die das gute
Konzept eines offenen Konventes nicht nur überlegt,
sondern vertreten und durchgesetzt hat. Es war selbstver-
ständlich dieser Deutsche Bundestag, der stolz darauf sein
kann, dazu beigetragen zu haben, mit allen seinen kon-
struktiven Beiträgen, seien es Anhörungen oder Debatten,
sei es der persönlichen Mitarbeit oder der Diskussion in
den Ausschüssen. Es war auch das Europäische Parlament
und insbesondere Professor Herzog, den der Bundeskanz-
ler zum Regierungsbeauftragten gemacht hat. – Das alles
gehört zusammen. Die Freude, dass es gelungen ist, diese
Stufe des Erfolgs zu erreichen, gebührt uns allen. Ich be-
tone noch einmal: Es war die Gemeinsamkeit aller.

Mich freut auch, dass wir hier alle feststellen – noch
vor einigen Tagen gab es diesbezüglich die eine oder an-
dere Kritik –: Das ist ein guter Text, und zwar nicht nur,
wenn man es pragmatisch sieht und danach fragt, was
denn eigentlich möglich war, sondern auch, wenn man
sich Fragen stellt wie: Weist die Charta in die richtige
Richtung? Sind die Schritte, die gemacht werden, groß
genug, um nicht als ängstlich, sondern als durchaus mutig
zu erscheinen? – Der Text ist gut, er führt weiter, er ist
modern. Er bringt uns in der Tat ein Stück weiter, auch in-
soweit, als er die allgemeine Zustimmung zu Grundrech-
ten oder die Formulierung, dass der Mensch im Mittel-
punkt stehen müsse, weit überschreitet.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412411600
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich sie
gerne erst später zulassen, weil ich das jetzt noch im Zu-
sammenhang darlegen möchte.

Der Text der Charta bringt uns sehr viel weiter, er kon-
kretisiert die Gemeinsamkeiten und erschöpft sich nicht
in der extrem wichtigen und deshalb von allen immer wie-
der betonten Tatsache, dass der Mensch im Mittelpunkt
auch dieser Charta steht.

Einen großen Schritt weiter sind wir auch in der Be-
antwortung der Fragen: Was alles gehört eigentlich zu den




Dr. Klaus Grehn

11915


(C)



(D)



(A)



(B)


individuellen Freiheitsrechten? Gehören nur sie zu den
Grund- und Bürgerrechten oder gehören nicht auch die so-
zialen Grundrechte heute unwiderruflich dazu?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Charta sagt ja: Auch das gehört zu den Gemeinsam-
keiten. Dafür bin ich dankbar.

Es ist zudem völlig richtig, dass wir auch in den Fra-
gen, die man unter dem Begriff der „modernen Bürger-
rechte“ zusammenfassen kann – seien das Fragen des Da-
tenschutzes oder der Biomedizin – in Europa sehr viel
weiter gekommen sind, auch wenn wir noch über viele
Details reden müssen. Auch im Hinblick auf ihre Bedeu-
tung möchte ich eine Gemeinsamkeit in der Bewertung
erwähnen, dass diese Charta gut ist.

Nun zur Verbindlichkeit. Sie haben völlig Recht – ich
glaube, auch hier besteht kein Streit –: Alle – sowohl ich
als auch der Außenminister, vor allem aber der Bundes-
kanzler und Professor Herzog – sagen immer wieder, dass
die juristische Verbindlichkeit das ist, was wir – mit
aller Klugheit – wollen und anstreben. Gestatten Sie mir
zu sagen: Wir möchten über die Charta nicht nur reden
müssen oder dürfen, sondern wir möchten sie in Europa
auch durchsetzen. Deswegen ist es ganz gut, dass man
sich auch über den richtigen Weg Gedanken macht. Dass
aber die juristische Verbindlichkeit, die Einbeziehung in
die Verträge, zu den integralen Zielen gehört, ist völlig un-
bestritten.

Wir wollen dies schon deswegen, weil wir aus unserer
eigenen Erfahrung aus den vergangenen 50 Jahren deut-
scher Geschichte wissen, dass die Formulierung von
Grundrechten und deren ganz praktische Durchsetzbar-
keit mithilfe der Gerichte die Identität in unserem Land
und das Bewusstsein, dass wir in einer rechtsstaatlichen
und sozialen Demokratie leben, sehr gestärkt haben. Auch
auf diese Weise wurde der Stolz der Bürgerinnen und Bür-
ger der Bundesrepublik Deutschland auf das, was wir hier
erreicht haben, mitgeschaffen. Das Gleiche wollen wir für
Europa. Wir wollen die juristische Verbindlichkeit als in-
tegralen Bestandteil. Wir wollen sie bald. Darüber gibt es
keinen Streit.

Meine Damen und Herren, dass wir die in Biarritz und
Nizza noch nicht erreichen werden, das sollte uns nicht
grämen. Zwar soll man nie Nie sagen, aber wahrschein-
lich werden wir sie dort noch nicht erreichen. Bitte lassen
Sie uns die politische Verbindlichkeit dieses Dokuments
nicht selbst kleinreden oder kleinreden lassen. Die politi-
sche Verbindlichkeit eines solchen Dokuments, das ge-
eignet ist, den Verträgen ohne Änderungen hinzugefügt zu
werden und sofort ein juristisch für alle verbindlicher Text
zu sein, das ist ein enormer Fortschritt.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Vor einein-
halb Jahren hätte wohl auch nicht jeder, der sich heute
sehr stolz äußert, geglaubt, dass dieser politische Text bis
heute erzielbar sei, und zwar einfach deswegen, weil un-
sere Verfassungstraditionen unterschiedlich sind und weil
die Diskussion über Leitziele – wir würden sie bei
uns Staatsziele nennen –, Programmsätze, individuelle

Grundrechte und soziale Grundrechte in Europa damals
noch nicht geführt war.

Es ist eines der wirklich erstaunlichen Phänomene, die
wir mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, dass sich in
diesem knappen Jahr das wiederholt hat, was sich in den
Jahren 1948/49 im Parlamentarischen Rat ereignet hat.
Das heißt: Wenn man sich einig ist, dass man ein Europa
der Bürgerinnen und Bürger, ein Europa der Werte und ein
Europa der Bekenntnisse zu Grundwerten will, dann kann
man in diesem Europa der Sechzehn über alle bestehen-
den Unterschiede und Schwierigkeiten vieles erreichen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hinzufügen,
es geht nicht nur um das Europa der Sechzehn. Vielmehr
spielen in weiten Bereichen auch die Verfassungsstaaten
in Mitteleuropa, also unsere östlichen und südöstlichen
Nachbarn, eine Rolle. Es war ja nicht so, dass der Kon-
vent oder auch Einzelne aus dem Konvent ausschließlich
innerhalb der EU-Mitgliedstaaten diskutiert, für Öffent-
lichkeit gesorgt und Interesse geweckt hätten. Vielmehr
haben alle selbstverständlich – angefangen mit der deut-
schen Präsidentschaft in der ersten Hälfe des Jah-
res 1999 – auch die Beitrittskandidaten einbezogen. Wir
haben das deswegen gemacht, weil wir wissen, dass sich
dieses Europa der Grundwerte nicht – weder jetzt noch
später – alleine auf die jetzige EU begrenzen darf. Es
muss selbstverständlich als politischer Acquis Communi-
taire das weitere Europa, das wir anstreben, mit einbe-
ziehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, heute wird auch viel über
weitere Punkte wie Verfassung oder Kompetenzabgren-
zung gesprochen. Auch wir kennen diese Aspekte und
sind uns im Prinzip einig. Die Unterschiede liegen nicht
so sehr in unterstellter Ängstlichkeit, sondern sie liegen
vielleicht darin, dass wir sagen: Der eine oder andere auch
von Ihnen könnte selbst noch mehr tun, um die Ängst-
lichkeit vor dem kontinental-europäischen Begriff der
Verfassung, die in gewissen Ländern Europas noch vor-
handen ist, zu überwinden. Darum geht es.

Mir ist diese Ängstlichkeit übrigens verständlich; ge-
rade unsere englischen Freunde – übrigens aller politi-
schen Parteien – haben in Diskussionen immer wieder
deutlich gemacht, dass sie von einer anderen Verfas-
sungssituation und einem anderen Verständnis ausgehen.
Sie haben enorme Leistungen vollbracht. Lassen Sie uns
das auch würdigen. Im Oktober sind zum Beispiel die Eu-
ropäische Menschenrechtskonvention und ihre Instru-
mente in das völlig andere britische System inkorporiert
worden. Dies ist ein Fortschritt, der uns nur nicht so auf-
fällt, dass wir diesen Weg schon längst gegangen sind.
Aber angesichts dessen, dass der Weg zum gemeinsamen
Werteeuropa von unterschiedlichen Ausgangspunkten
ausgeht, dürfen wir nicht übersehen, welche enorme und
geschwinde Leistung nicht nur von uns, sondern auch von
anderen erbracht wurde und wird. Deswegen meine Bitte:
Lassen Sie uns in diesem Bereich, wo nicht wir ängstlich
sind, sondern das, was wir können und was möglich ist,
schnell und zügig tun, darüber reden, wo in Europa viel-
leicht noch Überzeugungsarbeit geleistet werden kann.




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
11916


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte zu dem, was vor uns steht, drei Zitate an-
führen. Der juristische Grundbestand an Verfassungsele-
menten ist viel größer, als bisher geglaubt wurde. Es gibt
dazu viele Untersuchungen, die uns das alles zeigen.
Peter Häberle, der sich lange mit den Verfassungen Eu-
ropas beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es
„vor allem einzelne Verfassungsprinzipien wie Men-
schenrechte, Demokratie und Selbstverwaltung sowie
Staatszwecke wie Rechts- und Sozialstaat“ sind, die „ge-
meineuropäisches Verfassungsrecht greifbar werden las-
sen, ohne schon einen europäischen Staat zu schaffen“.
Häberle fügt hinzu – auch da hat er Recht –: „Nationale
Varianten bleiben, aber ein gemeinsamer Kernbestand
liegt schon vor.“


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Um uns das Ziel auf dem Weg nach Europa vor Augen

zu halten und als Inspiration trage ich vor, was Carlo
Schmid gesagt hat: „Wir alle irren, wenn wir glauben, wir
könnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen.
Wenn Europa werden soll, muss man aufs Ganze gehen,
dann muss man Europa zu einer ökonomischen, zu einer
politischen, zu einer konstitutionellen Einheit machen.“
Europa der Wirtschaft, symbolisiert durch Europa des
Euro, Europa der politischen und konstitutionellen Ein-
heit, in Zukunft symbolisiert durch die Europäische
Grundrechte-Charta, ist das, was Carlo Schmid meint und
wohin er den Weg weist.

Eine dritte Aussage – ebenfalls zur Inspiration – sei von
einem nüchternen Realist und Pragmatiker und demjeni-
gen hinzugefügt, der als Politiker dafür zu sorgen hat, dass
nicht nur die Wünsche, sondern auch die Umsetzung auf
den Weg gebracht wird, Paul-Henri Spaak. Er sagte:

Entmutigt werden können nur diejenigen, die sich
einbilden, Europa lasse sich durch ein „Sesam, öffne
dich!“ oder durch eine riesige Welle des Enthusias-
mus schaffen. Nichts dergleichen wird geschehen.
Ein organisiertes und vereinigtes Europa wird das
Ergebnis langer und mühevoller Anstrengungen
sein.

So ist es, aber es lohnt sich. Lassen Sie uns das heute fest-
stellen. Ich glaube, das ist ein guter Tag.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412411700
Nun erteile ich dem
Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in der
Staatskanzlei des Landes Thüringen, Herrn Jürgen
Gnauck, das Wort. Bitte sehr.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412411800
Vielen Dank,
sehr verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich freue mich, dass wir die Chartadebatte
fortsetzen können. Wir haben es heute Nachmittag bereits
gehört: Der Chartaentwurf steht. Nach 18 Sitzungen eines
Konvents in Brüssel liegt nun ein wohl ausgewogenes Pa-

pier vor, das am Wochenende Gegenstand der Beratungen
in Biarritz sein wird.

Ich freue mich, dass das Hohe Haus, wie ich gehört
habe, übereinstimmend den Entwurf als gut bezeichnet.
Er ist in der Tat ein geglückter Kompromiss, um mit den
Worten meines Kollegen Friedrich zu sprechen, der dies
als respektables Ergebnis bezeichnet hat. Insbesondere –
das klang in den Beiträgen des Kollegen Meyer bereits
an – findet man ein ausgewogenes Ergebnis zwischen den
wirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und dem,
was unter sozialen Rechten auf der anderen Seite bespro-
chen worden ist, wohl ausgeformt in dem Grundsatz der
Solidarität.

Erfreulicherweise – dafür möchte ich sprechen – sind
auch zahlreiche Forderungen der deutschen Länder in
den Chartaentwurf eingeflossen. Von den Anliegen, die
wir im Verlauf der letzten Monate vorgetragen haben,
sind – so kann man sagen – etwa zwei Drittel tatsächlich
im endgültigen Entwurf der Charta umgesetzt. Das darf
man ohne jegliche Übertreibung durchaus als Erfolg für
die deutschen Bundesländer werten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte einige Beispiele kurz herausgreifen. Eines
klang bereits an: Die deutschen Länder sahen mit Sorge
das Risiko, dass die Charta zu einer Kompetenzauswei-
tung führen könnte. Ich denke, das darf man hier und
heute deutlich sagen: Dieser Gefahr ist mit einer Reihe
von Schutzklauseln begegnet worden. Es wäre äußerst
vermessen, sie als bloße Feigenblätter zu bezeichnen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass der Grundsatz der Subsi-
diarität im Text zweimal genannt worden ist.

Wichtiger für mich ist allerdings noch, dass eine so ge-
nannte Querschnittsklausel im Text ausdrücklich klar-
stellt, dass weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufga-
ben für Gemeinschaft und Union begründet werden.
Gerade an den Verträgen und an den Zuständigkeiten soll
nichts geändert werden. Es finden sich zudem noch in
zahlreichen Einzelartikeln Verweise auf die einzelstaatli-
chen Vorschriften. Dabei handelt es sich um einen weite-
ren Schutz.

In verschiedenen Beiträgen klang bereits die Freude
darüber an, dass ausdrücklich festgehalten worden ist,
dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Eng da-
mit verbunden sind noch einige Einzelartikel, die in die-
ser Charta Gott sei Dank ihren Niederschlag gefunden ha-
ben. Ich erinnere – leider – an die Notwendigkeit, das
Verbot des Menschenhandels in Art. 5 Abs. 3 zu normie-
ren. Das ist ein Problem, das bedauerlicherweise auch
noch zu unserer Zeit anzutreffen ist.

In den letzten Wochen wurde sehr erfolgreich dafür ge-
worben, das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Ge-
wissensgründen aufzunehmen, die Kunstfreiheit zu nor-
mieren und auch noch die Freiheit der Wissenschaft in den
Entwurf aufzunehmen. Beim Umweltschutz, der sich
in diesem Haus ganz offensichtlich nicht der unein-
geschränkten Begeisterung sicher sein kann, hat sich
zumindest die Umweltministerkonferenz sehr darüber




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

11917


(C)



(D)



(A)



(B)


gefreut, dass man das hohe Niveau im Chartaentwurf fest-
geschrieben hat. Auch frauenpolitische Belange finden
sich wieder. Ich denke, das alles sind wesentliche Ele-
mente unserer europäischen Identität.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Quasi in den letzten Stunden, nämlich in der nächtli-

chen Beratung, wurde – auch das klang bereits an – mit
Art. 11 Abs. 3 eine zentrale Vorschrift zur Medienfreiheit
überarbeitet. Dort heißt es nicht mehr: „Die Freiheit der
Medien und ihre Pluralität werden gewährleistet“, son-
dern es heißt nun: „Die Freiheit der Medien und ihre Plu-
ralität werden geachtet.“ Man befürchtete, dass sich hier
neue Kompetenzen in Richtung Europäische Union ein-
schleichen könnten. Dem wollte man einen Riegel vor-
schieben. Wichtig war, dass das hohe Schutzniveau der
Medienfreiheit in Deutschland unangetastet blieb. Hier
teile ich, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nicht ganz
Ihre Ausführungen. Es soll gerade keine Absenkung durch
verschiedene Vorschriften in der Charta vorgenommen
werden. Gerade Art. 53 des Entwurfes stellt dies aus-
drücklich klar.

Noch nicht gesagt worden ist, dass quasi in allerletzter
Sekunde ausdrücklich ein neuer Art. 25 aufgenommen
worden ist, der den Schutz der Senioren regelt.

Wo viel Licht ist, ist allerdings auch Schatten. Es klang
bereits an: Auf der einen Seite haben wir die Unterschei-
dung zwischen den individuell einklagbaren Rechten und
auf der anderen Seite haben wir die Zielbestimmungen
oder auch Grundsätze leider nicht durchgängig realisiert.
Auch der bloße Abwehrcharakter der sozialen Rechte
lässt sich vom ungeübten Leser nicht automatisch erken-
nen.

Leider ist der Minderheitenschutz nicht so ausgefal-
len, wie es sich mein Kollege Schelter in Brandenburg
gewünscht hätte. Auf der anderen Seite sind die Kultus-
minister hocherfreut darüber, dass es in Art. 22 heißt: Die
Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und
Sprachen.

Besonders besorgt bin ich aber nach wie vor über die
Fassung von Art. 36; denn ich habe Angst, dass er zu ei-
ner Fehlinterpretation bei der Europäischen Kommission
führen könnte. Es ist schon angesprochen worden: Es han-
delt sich um den Artikel zu den Dienstleistungen von all-
gemeinem wirtschaftlichen Interesse. Die Kommission
versucht, offensichtlich auf Initiative der französischen
Seite, hieraus Honig zu saugen, wie man der Kommissi-
onsmitteilung vom 20. September dieses Jahres unschwer
entnehmen kann.

Wir haben an die Vertreter der Bundesregierung die
ausdrückliche Bitte – ich habe in diesem Sinne noch ein-
mal direkt an sie geschrieben –, klarzustellen, dass hier
nicht eine Daseinsvorsorge zugunsten der Kommission
angenommen werden darf, die in Wahrheit gar nicht be-
steht. Dies, meine ich, sollte man sowohl in Biarritz als
auch in Nizza noch einmal deutlich zu Protokoll geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Konvent hat sich selbstverständlich – auch das hat
Kollege Meyer gesagt – von dem Gedanken leiten lassen
und alle haben sich bemüht, so zu formulieren, als ob es
geltendes Recht wäre. Gott sei Dank ist der Gedanke des
Kollegen Goldsmith verworfen worden, eine Verfassung
für Nichtjuristen und eine für Juristen zu verfassen; das
würde das Ehrverständnis der Juristen sehr trüben.

Es klang bereits an: Ich halte es eingedenk der Leis-
tungen von Roman Herzog für ein kleines Wunder, dass
es uns in der Kürze der Zeit gelungen ist, ein Papier mit
einer solch hohen Qualität zustande zu bringen. Vereinzelt
klang Kritik an, man habe binnen der neun Monate, in de-
nen man an diesem Projekt gearbeitet hat, die Bevölke-
rung nicht genügend beteiligt. Ich teile diese Auffassung
ausdrücklich nicht. Nach meinem Verständnis über das
Modell eines Konventes bestand erstmals die Möglich-
keit, auch via Internet auf verschiedene Passagen Einfluss
zu nehmen. Ich weiß, dass davon entsprechend Gebrauch
gemacht worden ist; das ist ebenfalls eine wegweisende
Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir sollten auf das Erreichte stolz sein, aber wir soll-
ten auch die Gelegenheit nutzen, denjenigen zu danken,
die aus Sicht der Länder eine ganz hervorragende Arbeit
geleistet haben. Ich möchte die beiden Kollegen hier aus
dem Bundestag noch einmal beglückwünschen: Ihnen ist
es genauso wie uns gelungen, bis zum Schluss partei-
übergreifend einen breiten Konsens zu halten. Ich denke,
das ist einer der Gründe dafür, dass wir in Europa deut-
sche Interessen mit Anstand haben durchsetzen können,
ohne die anderen Nationen zu kränken oder zu verletzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich war skeptisch – das will ich gestehen –, ob der Kon-

vent innerhalb der Kürze der Zeit seine Arbeit würde er-
ledigen können. Ich teile die Einschätzung des Bundes-
außenministers: Das Modell hat sich bewährt und sollte
und dürfte Vorbild für künftige Arbeiten sein. Ich denke,
es ist durchweg gelungen, in einer Mischung aus Kom-
missionsvertretern, Regierungsvertretern, Abgeordneten
des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parla-
mente, aber auch mithilfe von Juristen und Wissenschaft-
lern eine entsprechende Arbeit zu leisten. Es könnte eine
Steilvorlage für die Zukunft sein.

Zum Abschluss erlaube ich mir noch folgende Anmer-
kung: Die Charta beruft sich in ihrer Präambel auf die na-
tionale Identität der Mitgliedstaaten und auf die Organi-
sation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler
und lokaler Ebene. Dies stellt einen wichtigen Hinweis für
eine zukünftige europäische Kompetenzordnung dar. Es
erscheint wesentlich, die Frage der Kompetenzabgren-
zung und die Entscheidung über die Aufnahme der Charta
in das EU-Vertragswerk miteinander zu verknüpfen.
Beide Elemente – Kompetenzkatalog und Grundrechte-
katalog – könnten aus meiner Sicht den Kern eines künf-
tigen europäischen Verfassungsvertrages darstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen)

11918


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bedanke mich noch einmal bei den Abgeordneten
für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und wünsche
mir, dass wir uns vielleicht in einem anderen Konvent ein-
mal wieder sehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412411900
Der Kollege Seifert
wollte eine Kurzintervention an Frau Bundesministerin
Däubler-Gmelin richten. Möchten Sie sie trotz des Tête-
à-tête noch machen? – Bitte sehr, Herr Kollege. – Frau
Ministerin, Sie können dann darauf antworten.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412412000
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich möchte zu der Rede von Frau Ministerin Däubler-
Gmelin gern eine Bemerkung machen, die mir wichtig ist,
obwohl wir schon kurz miteinander geredet haben. Leider
ging sie in ihrer Rede nicht darauf ein, dass es in der jet-
zigen Fassung der Grundrechte-Charta im Prinzip um den
Schutz von Personen geht. In Art. 1 steht – das begrüßen
wir sicherlich alle –: Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar. Das ist sehr wichtig. Von Art. 2 an geht es aber nur
noch um den Schutz der Personen.

Jeder, der sich ein bisschen mit der philosophischen
Diskussion der Gegenwart befasst, weiß, dass in der
bioethischen Diskussion zwischen Mensch und Person
unterschieden wird: Man muss sich das Recht, Person zu
sein, erst erwerben und kann es auch wieder verlieren.
Das heißt, dass kürzlich geborene Säuglinge oder auch
Menschen in hohem Alter, die sich ihrer eigenen Ge-
schichte nicht mehr bewusst sind, unter Umständen zu
Nicht-Personen erklärt werden können, sodass sie dann
nicht mehr den Schutz der körperlichen Unversehrtheit
usw. genießen können.

Ich denke, es wäre wichtig, vom Deutschen Bundestag
und von der Bundesregierung aus deutlich zu machen,
dass es uns darum geht, keine Unterscheidung zwischen
Mensch und Person zu treffen, und zwar in dem Sinne,
dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Demzu-
folge muss das in den weiteren Artikeln auch so beschrie-
ben werden. Leider ist es momentan mit „Person“ um-
schrieben. Die Gefahr, dass tendenziell bestimmte
Menschen, zum Beispiel geistig oder körperlich schwer
behinderte Menschen aus der Wahrnehmung von Grund-
rechten ausgeklammert werden, ist vorhanden, und ich
bitte darum, dass die Frau Ministerin hier noch einmal
deutlich die Position der Regierung dazu darlegt, wie die-
ser Schutz sicherzustellen ist.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412412100
Frau Dr. Däubler-
Gmelin, wollen Sie antworten? – Bitte schön.


Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1412412200
Herr Kollege
Seifert, Sie haben natürlich völlig Recht. Ich muss mich
dafür entschuldigen, dass ich am Schluss meiner Rede
nicht nochmals zu Ihnen herübergesehen habe. Sie hatten
ja gesagt, Sie würden gerne eine Frage stellen, und wenn
diese wichtige Frage jetzt im Raume stehen bliebe, wäre
das sicherlich nicht gut.

Wir alle kennen die sehr merkwürdige Philosophie, ei-
nen Unterschied zwischen Menschen und Personen zu
machen, wobei einige die Auffassung vertreten – Peter
Singer ist einer der Vertreter dieser Auffassung –, Person
sei weniger als Mensch und daher weniger schutzbedürf-
tig oder schutzfähig.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Umgekehrt, Mensch sei weniger als Person!)


– Ja nun, ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Peter Singer
hält am Personenbegriff fest.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Bei Peter Singer ist das so!)


– Wenn Sie es sich noch einmal überlegen, werden Sie se-
hen, dass es ganz einfach so ist: „Mensch“ ist der umfas-
sende Begriff, der die menschliche Würde einschließt, die
in unserem Grundgesetz steht und die wir auch in der
Grundrechte-Charta in Kap. I als Art. 1 als zentralen Be-
griff stehen haben.

Die Charta spricht – das war der Grund für die Frage
des Kollegen Seifert – von der Person, wenn es um das
Recht auf körperliche Unversehrtheit und Ähnliches geht.
Die Befürchtung ist nun, dass – der Philosophie von Sin-
ger folgend – durch dieses Wort zumindest ein gewisses
Maß an Unklarheit bestehen könnte, dass der Schutz der
Person weniger weit reicht, als der Schutz des Menschen
reicht.

Lassen Sie mich ganz klar sagen – ich bin sehr dank-
bar, dass Sie die Frage gestellt haben –: Wir sehen das
nicht so und ich habe mich gerade noch einmal sowohl bei
dem Kollegen Professor Meyer als auch beim Kollegen
Altmaier, die beide im Konvent tätig waren, vergewissert:
Gerade in Bezug auf die Fragen, die Sie hier angeschnit-
ten haben, gibt es einen Unterschied zwischen Mensch
und Person nicht und sollte es auch nicht geben. Lassen
Sie mich das sehr deutlich feststellen. Den Unterschied
zwischen Schutz bzw. Recht von Mensch und Person gibt
es in diesen Fragen nicht. Das wird im Übrigen durch die
englische Fassung der Grundrechte-Charta, in der von
„everyone“ die Rede ist, bestätigt.

Ihnen kam es darauf an, eine klare Meinung zu hören,
und ich glaube, ich habe meine Auffassung sehr deutlich
gemacht. Daran war mir auch sehr gelegen.

Vielen Dank.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412412300
Das hat nun Herrn
Hintze ermuntert, eine Kurzintervention zu machen. Bitte
sehr, Herr Hintze.


(Zurufe von der SPD: Das geht doch gar nicht!)





Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen)


11919


(C)



(D)



(A)



(B)


– Das geht. Das ist Ausdruck der Lebendigkeit des Parla-
ments. Wenn er jetzt spricht, sehen Sie, dass es geht. Bei
dieser Frage lasse ich eine Zwischenfrage zu, weil ich es
wirklich wichtig finde, dass wir das klären. Herr Hintze,
bitte sehr.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1412412400
Frau Präsidentin, ich be-
danke mich für die souveräne Sitzungsführung. – Ich
wollte in dieser elementaren Frage nur unterstreichen,
dass ich zwar die Anfangsbegründung der Frau Ministe-
rin, die als Abgeordnete gesprochen hat, nicht teile, aber
das Ergebnis voll teile.

Es gibt einen Unterschied zwischen Mensch und Per-
son, wir sprechen aber jedem Menschen das Personsein
zu, und zwar unabhängig von der Fähigkeit des Men-
schen – sei es als Säugling, Embryo, alter Mensch oder
schwer kranker Mensch –, die im Personenbegriff liegen-
den Eigenschaften auch selber auszuüben. Ich freue mich,
dass in diesem Haus eine große Übereinstimmung darü-
ber besteht, dass – im Ergebnis sind wir uns wieder einig –
„Mensch“ und „Person“ identisch ist und die Menschen-
würde jeder Person zugesprochen wird, egal, in welcher
Entstehungs- oder Lebensphase er oder sie sich befindet.
Ich wollte das nur noch einmal klarstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412412500
Nun erteile ich dem
Kollegen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412412600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
neun Monaten hätte wohl niemand gedacht, dass wir
heute über ein solches Ergebnis debattieren können. Es
gab gegenüber dem Projekt einer Grundrechte-Charta
viele Skeptiker und Bedenkenträger.

Ich glaube, es gibt im Wesentlichen drei Gründe für
den Erfolg dieses Konvents. Der erste Grund ist die Zu-
sammensetzung dieses Konventes, der – das wurde
schon erwähnt – mehrheitlich mit Parlamentariern des
Europaparlaments und der nationalen Parlamente besetzt
war. Es hat sich hier eine Eigendynamik entwickelt, die
meiner Ansicht nach wesentlich zu diesem positiven Er-
gebnis beigetragen hat. Wir waren durch die Abgeordne-
ten Meyer und Altmaier vertreten. Sie haben gezeigt, dass
sie kompetent und engagiert mitgearbeitet haben. Dafür
sollten wir ihnen an dieser Stelle herzlich danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Die kompetente und engagierte Mitarbeit so vieler Par-
lamentarier in diesem Konvent hat viele Vorurteile Lügen
gestraft. Sie hat nämlich gezeigt, dass auch Parlamenta-
rier effizient arbeiten können, manchmal sogar effizienter
als eine Konferenz von Regierungsbeauftragten, die Der-
artiges in einer solchen Zeitspanne wohl kaum zustande
gebracht hätte. Insofern sollte das Schule machen. Das ist
eine Parlamentarisierung des Integrationsprozesses. Da-
ran sollten wir festhalten.

Der zweite Grund für den Erfolg liegt in der Präsi-
dentschaft dieses Konvents; das wurde schon häufig er-
wähnt. Roman Herzog mit seiner ihm eigenen Art hat er-
heblich zu diesem Erfolg beigetragen. Den Dank will ich
an dieser Stelle gern wiederholen.

Der dritte Grund ist das Verfahren des Konvents. Ich
glaube, auch das ist ein Erfolgsgeheimnis. Die Transpa-
renz ist für einen solchen Prozess einmalig. Sie ist in die-
sem Maße gerade für einen europäischen Prozess einma-
lig. Das hat wohl auch dazu beigetragen, dass sich diese
Eigendynamik entwickelt hat, dass die Beteiligungsmög-
lichkeiten von Verbänden, von Initiativen, von Gruppen
und Institutionen genutzt worden sind. Insofern ist hier
eine Debatte entstanden, die sich zwar noch in einem be-
grenzten Raum bewegt, die aber wohl alle als fruchtbar
empfunden haben.

Das sind die drei wesentlichen Gründe, die wir nennen
können.

Was das Ergebnis angeht, so möchte ich zunächst deut-
lich feststellen, dass auch wir der Meinung sind, dass hier
einer der modernsten Grundrechtskataloge, auf inter-
nationaler Ebene wahrscheinlich der modernste Grund-
rechtskatalog, entstanden ist.

Darin wird erstens die Unteilbarkeit der Menschen-
rechte dokumentiert, und zwar in einem Dokument
politisch-bürgerliche sowie wirtschaftliche und soziale
Rechte.

Zweitens haben die so genannten neuen oder modernen
Grundrechte ihren Niederschlag gefunden, zum Beispiel
der Umweltschutz, der Datenschutz und der Verbraucher-
schutz.

Drittens ist die neue Generation von Grundrechten auf-
genommen worden. Ich nenne in diesem Zusammenhang
das Thema Bioethik und das Thema Antidiskriminierung.

Man kann, glaube ich, viertens auch deutlich festhal-
ten: Es ist ein Grundrechtskatalog, der durchweg ge-
schlechtsneutral formuliert worden ist.

Schließlich sei erwähnt, dass die Kürze, die Knappheit
und die Lesbarkeit dieses Grundrechte-Chartaentwurfs
ihn in besonderer Weise auszeichnen. Auch daran sollten
wir Parlamentarier uns, wenn wir am Grundgesetz arbei-
ten, ein Beispiel nehmen.

Insofern liegt in dieser Grundrechte-Charta wirklich
ein europäischer Mehrwert. Es ist deutlich geworden,
dass auf dem Weg von der Europäischen Wirtschaftsge-
meinschaft zur politischen Union, zur Wertegemein-
schaft, das Wertefundament, das Grundrechtsfundament
hiermit gelegt worden ist.

Ich kann natürlich nicht auf alle Einzelheiten eingehen.
Ich will für unsere Seite nur feststellen, dass wir eine
ganze Reihe unserer grundrechtlichen Vorstellungen in
diesem Katalog nicht realisiert sehen. Der Umweltschutz
ist ungenügend geregelt. Gerade Art. 3 mit der Problema-
tik der Bioethik ist unzureichend. Der Tierschutz fehlt.
Das Thema Asylrecht wurde bereits angesprochen. Des
Weiteren sind die Defizite beim Minderheitenschutz und
die Schrankenproblematik zu nennen. Das ist eine Reihe




Vizepräsidentin Anke Fuchs
11920


(C)



(D)



(A)



(B)


von Defiziten. Meine Aufzählung der Kritikpunkte ist al-
lerdings nicht vollständig.

Gleichwohl würdigen wir das, was an Fortschritten zu
verzeichnen ist, so etwa den umfassenden Antidiskrimi-
nierungsartikel, die Formulierungen in dem Artikel zum
Schutz von Ehe und Familie, die Absicherung der Gleich-
stellung, der Frauenförderung. Zu nennen ist auch das
Kriegsdienstverweigerungsrecht, das in letzter Minute
noch eingefügt worden ist.

Wir wissen zwar, wie strittig viele dieser Formulierun-
gen im Konvent waren, aber der Entwurf belegt: Hier ist
nicht minimalistisch um den kleinsten gemeinsamen
Nenner, sondern hier ist sehr engagiert um den größten
gemeinsamen Nenner gerungen worden. Insofern glaube
ich, dass dieser Prozess vor dem Hintergrund der unter-
schiedlichen verfassungsrechtlichen Traditionen in Eu-
ropa nicht unterschätzt werden darf. Integrationspolitisch
ist dieser Prozess schon an sich mindestens genauso wich-
tig wie sein Ergebnis.

Die Frage ist natürlich: Wie geht es weiter? Lassen Sie
mich kurz ein paar Stichworte nennen. Rechtsverbind-
lichkeit: Sie sollte - darüber sind wir uns alle einig –
frühestmöglich herbeigeführt werden.

Klagemöglichkeit – das ist das nächste Stichwort –:
Wir müssen einen Weg finden, wie wir im Rahmen einer
Vertragsreform ein Verfahren entwickeln können, das es
den Bürgern möglich macht, ihre Grundrechte einzukla-
gen; denn Grundrechte ohne Grundrechtsschutz verdie-
nen auf Dauer ihren Namen nicht.

Schließlich sind wir uns auch weitgehend über die Not-
wendigkeit und die Sinnhaftigkeit eines Referendums ei-
nig. Nur, wir sollten auch nicht einfach über den Zielkon-
flikt hinwegreden, der zwischen einer möglichst rasch zu
verwirklichenden Rechtsverbindlichkeit des Dokuments
auf der einen Seite und einem Referendum auf der ande-
ren Seite besteht, für das die Voraussetzungen erst noch
geschaffen werden müssen. Wir glauben insofern, dass
der so genannte Post-Nizza-Prozess eine wichtige Gele-
genheit bietet, um die Grundrechte-Charta spätestens zu
diesem Zeitpunkt zu einem Teil eines – wie immer man
das nennen wird – Verfassungsvertrages zu machen. In
der anstehenden Verfassungsdebatte wird sich, so hoffe
ich, das konkretisieren, was es aber noch gegen viele Wi-
derstände, Vorbehalte und Bedenken durchzusetzen gilt.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412412700
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412412800

Wir haben im Zusammenhang mit der Grundrechte-
Charta vielfach von einem Meilenstein gesprochen. Auch
ich glaube, sie ist ein Meilenstein. Aber wir sollten gleich,
nachdem wir diesen Meilenstein passieren, die nächsten
Meilensteine des Integrationsprozesses in den Blick neh-
men. Diese liegen mit Nizza und mit dem Post-Nizza-Pro-
zess, in dessen Rahmen über eine Verfassung zu diskutie-
ren sein wird, unmittelbar vor uns.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412412900
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1412413000
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die europäische Eini-
gung ist eine der größten politischen Erfolge der Ge-
schichte unseres Kontinents. Die Völker waren im letzten
Jahrhundert in zwei großen Kriegen untereinander zer-
stritten. Sie haben sich dann in der zweiten Hälfte dieses
Jahrhunderts zusammengefunden, haben die europäische
Einigung auf den Weg gebracht und die Grundlage dafür
geschaffen, dass wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand
miteinander zusammenleben können.

Es gab im Laufe der Zeit Institutionen, die ein Eigen-
leben entwickelt haben, ohne richtig demokratisch legiti-
miert zu sein. Deshalb geht es darum, dass wir sobald wie
möglich einen Verfassungsvertrag schaffen, in dem die
Kompetenzen zwischen der Union auf der einen und den
Mitgliedstaaten auf der anderen Seite ganz klar abge-
grenzt sind. Es geht darum, dass in einem Verfassungs-
vertrag die Grundrechte niedergelegt werden, die in der
Charta entwickelt worden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir begrüßen die Arbeit des Konventes, weil wir mit

ihm in vielen Punkten übereinstimmen können. Es gibt
auch Kritikpunkte; das ist zweifellos richtig. Die Charta
ist vielleicht mit zu vielen Programmsätzen überfrachtet.
Das sollte man bedenken, wenn man die Grundrechte in
dem zukünftigen Verfassungsvertrag verankert.

Es gibt in der Charta sicherlich auch Einzelnormen,
die ganz automatisch zu einer Kompetenzausweitung
führen, obgleich in der Charta ausdrücklich erklärt wird,
dass keine Kompetenzausweitung durch die Charta ge-
wünscht wird. Aber die Kompetenzausweitung ist in die-
sen Normen unter Umständen schon angelegt. Deswegen
müssen wir unser Augenmerk gerade auf solche Pro-
grammsätze richten, die unter Umständen geeignet sind,
kompetenzansaugend zu wirken, und die auf diese Weise
dafür sorgen können, dass wir mehr und mehr in einen
Zentralstaat hineinrutschen, den wir überhaupt nicht wol-
len. Im künftigen Europa müssen die Nationalstaaten
selbstständig bleiben. Die Kompetenzkompetenz muss
bei ihnen verbleiben.

Ich will ein Wort zu der Debatte sagen, die sich vorhin
über die Begriffe Mensch und Person entfacht hat. Das ist
ein wichtiger Punkt. Die Charta nimmt in ihrer Präambel
Bezug auf das geistig-religiöse Erbe der europäischen
Kultur.Das ist für mich ein sehr wichtiger Satz. Ich weiß,
dass dieser Satz umstritten gewesen ist und dass es den
Mitgliedern des Konvents aus Deutschland, insbesondere
den Mitgliedern der Unionsfraktion, zu verdanken ist,
dass dieser Satz Niederschlag in der Präambel gefunden
hat. Wenn man eine solche Präambel formuliert, dann ist
es gut, sich auf die Wurzeln unserer Kultur zu besinnen.
Wir sagen ja immer, Europa solle eine Wertegemeinschaft
sein. Dann muss man aber auch wissen, auf welchen Wur-
zeln diese Werte beruhen.

Es gibt sicherlich viele Wurzeln der europäischen Kul-
tur, aber drei tragende Wurzeln sind besonders zu beto-
nen: Erstens ist die griechische Tradition zu nennen: die




Christian Sterzing

11921


(C)



(D)



(A)



(B)


Beschäftigung des Menschen mit der Wissenschaft und
mit der Philosophie. Wenn wir heute an Gerechtigkeit
denken, dann denken wir genauso wie die Griechen.
Zweitens ist die römische Kultur mit ihrem Recht zu nen-
nen. Unsere ganze Rechtskultur baut auf dem römischen
Recht auf. Drittens – das möchte ich herausstellen – ist die
jüdisch-christliche Tradition zu nennen. Das ist die wich-
tigste Wurzel der europäischen Kultur. Unser Abendland
ist ohne jüdisch-christliche Religion undenkbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Man braucht nur durch europäische Städte zu gehen, um
das festzustellen. Man muss nur einen Augenblick darü-
ber nachdenken, wie es wäre, wenn es das Christentum in
Europa nicht gäbe. Das ist völlig unvorstellbar.

Gerade aus dieser jüdisch-christlichen Tradition
kommt der Begriff der Person. Person bedeutet das Un-
wiederholbare, die Einmaligkeit des Menschen; Person
bedeutet unverletzbare Würde des Menschen. Das verste-
hen wir, wenn wir an das christliche Abendland denken,
unter Person.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!)

Deswegen hat Herr Kollege Hintze Recht, wenn er fest-
stellt, dass in unserem abendländischen Verständnis zwi-
schen den Begriffen Mensch und Person kein Unterschied
besteht. Da mag Singer kommen und einen Unterschied
machen,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das muss geklärt werden!)


aber nach unserem abendländischen Verständnis besteht
zwischen Mensch und Person kein Unterschied.

Um das klarzumachen, haben wir in unseren Antrag
aufgenommen, dass jeder Mensch das Recht auf Leben
hat, so wie jedem Menschen das Recht auf Würde zusteht.
Wir machen hier keinen Unterschied. Deswegen können
wir diesen Begriff in der Charta akzeptieren, ohne dass
wir uns über Singer Gedanken machen müssen. Wir müs-
sen, weil die Charta auf die europäischen Werte Bezug
nimmt, an dem christlich-abendländischen Menschenbild
festhalten. Deswegen kann es kein Abweichen zwischen
Mensch und Person geben.

Nun mögen viele glauben, es sei nicht mehr so wich-
tig, überhaupt an das christliche Abendland zu erinnern.
Das sei eine verflossene Sache und wir würden einer
neuen Zeit entgegengehen. Hegel hat schon vor 200 Jah-
ren gesagt, dass sich die christliche Religion in ihren
Wertvorstellungen in Europa zweifellos durchgesetzt
habe und dass die europäischen Institutionen diese Wert-
vorstellungen so verinnerlicht hätten, dass das Christen-
tum insofern überflüssig geworden sei. Ein solches Den-
ken übersieht aber, dass solche Institutionen immer von
handelnden Menschen bestimmt sind. Wenn aber die
handelnden Menschen nicht mehr die den Institutionen
gemäßen Überzeugungen haben, wenn sie also wegge-
brochen sind, dann dauert es nur noch kurze Zeit, bis auch
die Institutionen wegbrechen.

Deshalb kommt es, wie ich meine, ganz entscheidend
darauf an, dass in der Charta auf das christlich-abendlän-

dische Erbe Bezug genommen wird. Ich danke denjenigen
ganz herzlich, die dies durchgesetzt haben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412413100
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich entnehme der Redefolge, dass zu die-
sem Thema auch der Bundesaußenminister gesprochen
hat. Ich freue mich, dass die Frau Justizministerin unter
uns weilt, und wünschte, dass auch der Außenminister
nach seiner Rede hier geblieben wäre. Ich habe noch nicht
herausfinden können, Herr van Essen, ob Dispens erteilt
worden ist.


(Zurufe von der SPD: Ja!)

– Er ist ihm erteilt worden. Aber dann könnte wenigstens
ein Staatsminister hier sitzen. Wir alle legen sicherlich
Wert darauf, dass sich die Bundesregierung dem Dialog
mit dem Parlament stellt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun hat die Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die

Grünen, das Wort.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412413200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen!
Die Ausarbeitungen des Konvents spiegeln natürlich ei-
nen Prozess postnationaler Konstellation wider und
drücken Konsens über gemeinsame Werte aus. Ich möchte
mich auf einen Aspekt konzentrieren, auf eine, wie wir
alle wissen, Zukunftsfrage: die Definitionskraft der Ga-
rantie der Menschenwürde im Zeitalter der Bio- und Gen-
technologie.

Für mich war von zentraler Bedeutung, dass sich die
Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen
Medizin“ des Deutschen Bundestags sofort mit dieser
Frage befasst und eine Definition des Menschenbildes
und Menschenrechts in der EU-Grundrechte-Charta erar-
beitet hat. Wir haben dem Konvent Empfehlungen gege-
ben, in denen es heißt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu
achten und zu schützen.

Diese Formulierung war vorher nicht im Entwurf der
Charta enthalten. Ferner machte die Enquete deutlich,
dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Des Weiteren
empfahl sie, in Art. 3 die Nichtdiskriminierung, insbeson-
dere das für die Zukunft sehr wichtige Verbot der Diskri-
minierung wegen genetischer Merkmale, aufzunehmen.
Schließlich empfahl die Mehrheit der Enquete, dass das
Recht auf Unversehrtheit ein Verbot von fremdnütziger
Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen um-
fasst.

Das Klonen sowie Eingriffe in die menschliche Keim-
bahn sind verboten; das ist außerordentlich wichtig. Eben-
so kann nicht darauf verzichtet werden, dass das Recht auf
Wissen und das Recht auf Nichtwissen gerade mit Blick
auf die genetischen Daten zum unverzichtbaren Bestand-
teil einer zeitgemäßen Grundrechte-Charta wird.




Norbert Geis
11922


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412413300
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412413400
Ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412413500
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1412413600
Frau Kollegin Knoche,
ist Ihnen bewusst, dass der Text der Grundrechte-Charta
das Klonen von Menschen nicht grundsätzlich verbietet,
sondern nur das reproduktive Klonen? Das heißt, dass das
Schaffen von Embryonen, um sie als „Ersatzteillager“ zu
nutzen, nicht ausdrücklich verboten ist.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412413700

Herr Kollege Hüppe, ich werde mich in den wenigen Mi-
nuten Redezeit, die mir verbleiben, dieser Fragestellung
zuwenden. Ich hoffe, Sie können akzeptieren, dass ich mit
meiner Rede fortfahre und Ihre Frage im weiteren Verlauf
beantworte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede und je-
der von uns weiß oder spürt, dass neue Definitionen vom
Beginn und Ende des menschlichen Lebens unterlegt wer-
den, wenn es um Interessen am zellulären Sein des Men-
schen geht. Dazu gehört der massive Versuch, den außer-
halb eines Frauenkörpers erzeugten Embryo für
Stammzellforschung und Klonierung, also für fremde
Zwecke verwenden zu können. Das zeigt, dass die Bio-
medizin und die Forschung vielfach über das individuelle
Subjekt hinaus auf die Verfasstheit des Menschen
schlechthin greifen.

Die Grundrechte-Charta muss auch die unantastbare
Würde des Menschen als Gattungswesen garantieren. An-
gesichts der unvergleichlichen Gefährdungslage sind die
Werte, auf denen unsere Kultur beruht, nur wachstums-
fähig, wenn diese Normen nicht verlassen werden. Der
Prozess im Konvent zeigt, dass es möglich ist, zu Werte-
übereinstimmungen beim Begriff vom Menschen zu kom-
men.

Wenn es heute heißt „Die Würde des Menschen ist un-
antastbar“ und in Art. 2 von „Jeder Mensch hat das Recht
auf Leben“ die Rede ist, so ist das eine große Leistung.
Um keine Missverständnisse zu nähren: Die Sinnbestim-
mung von Mensch, die wir in unserem deutschen Text ha-
ben, ist die, die wir in der eigenen Grundrechtedogmatik
haben. Auch das ist ein sehr wichtiger Erfolg und eine
gute Grundlage für die künftige Debatte.

Noch ein Hinweis. Unser Grundrechtsverständnis ver-
langt von uns, unbedingt Sorge dafür zu tragen, dass das
bestehende Verbot eugenischer Praktiken zwingend auf
die eugenische Selektion durch Präimplantationsdiagno-
stik erweitert wird. Die Charta sieht heute lediglich vor,
das reproduktive Klonen von Menschen zu verbieten. Das
ist jedoch vollkommen ungenügend. Sie muss auf das
Verbot des Klonens für jedwede Zwecke erweitert wer-

den; denn das, woraus ein Mensch entstehen kann, darf
niemals ein „verzweckbares“ Objekt werden.

Gerade in dem, was in diesem Grundrechtsartikel, be-
zogen auf das Feld der modernen Medizin, fehlt, offenba-
ren sich die Nichtübereinstimmungen im wertedifferenten
System Europa. Mit Blick auf Art. 3 kann die heute zu be-
wertende Fassung sicherlich nicht die letzte für eine eu-
ropäische Verfassung sein. Da bleibt ein Gestaltungsauf-
trag. Wir sollten ihn wahrnehmen, auch über den Gipfel
von Nizza hinaus.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412413800
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4246 und 14/4253 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit
sind die Überweisungen so beschlossen.

Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4269
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur
Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innen-
ausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Ar-
beit und Sozialordnung, den Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe und an den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen wer-
den. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-

gierung
Wohngeld- und Mietenbericht 1999
– Drucksache 14/3070 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe
– Drucksache 14/871 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder






(C)



(D)



(A)



(B)


c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer

(Bayreuth)

der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

(Mietrechtsvereinfachungsgesetz)

– Drucksache 14/3896 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.
zehn Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1412413900
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Der Wohngeld- und Mietenbe-
richt 1999 verkündet sozusagen eine frohe Botschaft,


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


zumindest auf den ersten Blick: Mietenanstieg auf einem
Tiefststand – ich glaube, seit 1962 –; ein deutlich gerin-
gerer Anstieg der Nebenkosten; insgesamt eine Entspan-
nung auf dem Wohnungsmarkt. Ich ahne, dass Sie sich
heute kräftig auf die Schulter klopfen wollen.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Die Ahnungen sind berechtigt! – Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Was gesagt werden muss, muss gesagt werden!)


Auf den zweiten Blick allerdings erkennt man auch in
diesem Wohngeld- und Mietenbericht Ihre Fehler und Ver-
säumnisse der Vergangenheit. Das wird besonders im
Wohngeldteil deutlich,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Spanier, jetzt wird es gefährlich!)


weil trotz des Wohngeldes eine hohe Mietbelastung von
immerhin 30 Prozent des verfügbaren Einkommens in
den alten Bundesländern und von immer noch 23 Prozent
des verfügbaren Einkommens in den neuen Bundeslän-
dern festgestellt werden muss. Daran wird deutlich, dass
über Jahre versäumt worden ist, beim Wohngeld etwas zu
tun, und dass trotz des Wohngeldes die Mietbelastung bei
den einkommensschwachen Haushalten exorbitant ist.

Auf diesen zweiten Blick stellt sich auch der Woh-
nungsmarkt etwas anders dar. Entspannung ja, aber nicht
in einem ganz wichtigen Bereich, nämlich im so genann-
ten preiswerten Marktsegment.


(Rita Streb-Hesse [SPD]: So ist es!)


Der aktuelle Wohnungsmarktbericht des Landes Nord-
rhein-Westfalen bestätigt noch einmal wachsende – wohl-
gemerkt: wachsende – Engpässe beim Angebot preisgüns-
tiger Wohnungen besonders in den Großstädten, obwohl
wir in Nordrhein-Westfalen mittlerweile eine Leerstands-
quote von 1 Prozent haben.

Im Zusammenhang mit dem Stichwort Leerstand darf
ich einen kleinen Schlenker zu Ihrem Entschließungsan-
trag machen. Sie weisen ja auf diese Leerstandsproble-
matik hin, die im Wohngeld- und Mietenbericht 1999
noch nicht so ganz die Rolle spielt, die sie heute in der Tat
in den neuen Bundesländern einnimmt. Ich kann ja ver-
stehen – das ist ja auch nicht unberechtigt –, wenn Sie hier
auf die Fehler der Vergangenheit, also die der DDR hin-
weisen. Zur Redlichkeit gehört aber auch zu sagen, dass
in den Jahren nach der Wende in den neuen Bundeslän-
dern, gerade was die Wohnungspolitik betrifft – zumin-
dest im Nachhinein ist das offensichtlich –, schwere Feh-
ler gemacht worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich erinnere an den Grundsatz „Rückgabe vor Ent-
schädigung“. Ich erinnere an die Lösung der Altschulden-
hilfe. Ich erinnere daran, dass wir in fünf bzw. sechs Jah-
ren über 40 Milliarden DM an Steuersubventionen in zum
Teil unsinnige Projekte – als Ostwestfale sage ich das ein-
mal ganz platt – verballert haben. Allein diese drei Fehler
zusammengenommen haben die Situation in den neuen
Bundesländern verschärft und mit dazu beigetragen, dass
wir heute vor diesem gewaltigen Leerstandsproblem ste-
hen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genauso ist es!)


Ich glaube, das muss man nüchtern feststellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich gebe gerne zu – das habe ich einmal aus Ihren Rei-
hen gehört –, dass man die Wiedervereinigung vorher
nicht üben konnte. Es gehört aber, wie ich glaube, zur
Redlichkeit, dass man einfach feststellt, hier sind von An-
fang an die Weichen falsch gestellt worden. Die Auswir-
kungen dieser Fehler bekommen wir heute zu spüren und
wir haben sie heute zu lösen.

Der Wohngeld- und Mietenbericht ist leider nur eine
Momentaufnahme. Inzwischen stellen wir fest: Die Mie-
ten steigen leicht an. Die Wohnkosten zum Beispiel im
Land Nordrhein-Westfalen betragen zurzeit im Durch-
schnitt rund 30 Prozent des verfügbaren Einkommens.
Außerdem haben wir, wenn man den Preisindex heran-
zieht, im September dieses Jahres im Vergleich zum Sep-
tember vorigen Jahres im Bereich Wohnen und all dem,
was damit zusammenhängt, eine Preissteigerungsrate von
4,3 Prozent gegenüber einem allgemeinen Preisanstieg
von lediglich 2,5 Prozent. Selbstverständlich gehen Sie in
Ihrem Entschließungsantrag darauf ein.




Vizepräsidentin Anke Fuchs
11924


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie sagen dort: Schuld daran ist selbstverständlich die
Bundesregierung als „Preistreiber Nummer 1“ – man
sollte besser sagen: Preistreiberin – mit ihrer Ökosteuer.
Diese muss wieder einmal herhalten, um diesen Preisan-
stieg zu begründen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Abschaffen!)

Ein Blick auf die Fakten belehrt uns eines anderen. Wir
hatten 1998 eine Mineralölsteuer von 10 Pfennigen je Li-
ter Heizöl vorgefunden. Im April 1999 haben wir einma-
lig 4 Pfennige Ökosteuer draufgeschlagen. Von Septem-
ber 1999 bis September 2000 haben wir allerdings eine
Steigerung des Heizölpreises von über 80 Prozent zu ver-
zeichnen, allein in den Monaten August und September
dieses Jahres von 30 Prozent. Beim Erdgas verhält es sich
ähnlich. Es ist also eine Legende, dass die Ökosteuer die
Heizölkosten und damit den Preisanstieg im Bereich
Wohnen mit verursacht hat.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist doch selbstverständlich!)


– Das ist schlicht und einfach eine Legende.
Im Übrigen wundere ich mich darüber, dass Sie den

von uns geplanten Heizkostenzuschuss für Einkom-
mensschwache, mit dem wir etwas zur Abmilderung die-
ses Preisanstieges tun wollen und den wir morgen im
Deutschen Bundestag beraten und beschließen werden –
damit ist er natürlich endgültig noch nicht unter Dach und
Fach –, infrage stellen und möglicherweise mithelfen
werden, ihn im Bundesrat zu blockieren. Das kann ich
wirklich nicht verstehen. Wenn an irgendeiner Stelle der
Vorwurf der sozialen Kälte angebracht ist, dann glaube
ich, dass er an dieser Stelle erhoben werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Der Heizkostenzuschuss ist eine Maßnahme, den
einkommensschwachen Haushalten zu helfen. Das
Wohngeld ist eine weitere. Wir werden zum 1. Januar
2001 rund 1,4Milliarden DM mehr für das Wohngeld aus-
geben; das ist eine gezielte Hilfe gerade für die einkom-
mensschwachen Haushalte. Im Durchschnitt sind das im-
merhin 80 DM mehr. Das bedeutet eine Steigerung um
rund 50 Prozent gegenüber dem jetzigen Wohngeld.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine zusätzliche Erleichterung, die damit zusammen-
hängt, ist, dass von den knapp 1 300 Kommunen in mei-
nem Lande – ich komme ja aus Ostwestfalen – immerhin
rund 350 in der Mietenstufe heraufgesetzt werden; denn
dort hatten wir in den letzten Jahren eine sehr starke Zu-
wanderung. Allein in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit
68 000 Einwohnern, gab es einen Zuwachs um rund 8 000
Einwohner, im Wesentlichen Aussiedlerinnen und Aus-
siedler. Sie können sich denken, dass die Mietenstufen in
fast jeder Kommune heraufgesetzt werden. Auch dadurch
werden Verzerrungen auf dem Wohnungsmarkt ein Stück
weit beseitigt.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist schon nahezu dreist, wenn Sie in Ihrem Ent-
schließungsantrag behaupten, wir hätten die Wohngeld-
novelle hinausgezögert und die Erhöhung sei zu gering.


(Zustimmung bei der SPD)

Herr Dr. Kansy, ich weiß noch, wie oft Herr Töpfer im
Bundestag eine Verbesserung des Wohngeldes angekün-
digt hat. Sie haben es – trotz des letzten Rettungsver-
suches von Herrn Oswald – schlicht und einfach nicht ge-
schafft.

Wenn Sie davon sprechen, die Erhöhung sei zu gering,
dann muss ich sagen, dass Sie redlich bleiben sollten. Ich
habe in diesem Parlament, aber auch im Bundesrat keinen
einzigen Antrag von Ihnen gesehen, in dem steht: Wir
wollen eine Mietsteigerung nicht nur von 20 Prozent, son-
dern von 36 Prozent auffangen. Diesen Eindruck er-
wecken Sie aber und machen uns im Entschließungsan-
trag einen entsprechenden Vorwurf. Ich glaube, das ist
unredlich. Wenn Ihnen diese Erhöhung so sehr am Herzen
gelegen hat: Warum haben Sie diese nicht im Bundestag
oder im Bundesrat – vielleicht durch Ihren hessischen Mi-
nisterpräsidenten; der weiß ja, wie man mit Geld umgeht
– durchgesetzt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Immer wenn Sie über das Thema reden, sind Sie mit den Fakten am Ende!)


Zur Lösung der Probleme auf dem Wohnungsmarkt
gehört natürlich auch die Reform des sozialen Woh-
nungsbaus. Sie mahnen sie an, was ja in Ordnung ist. Wir
sind uns in den Zielen weitgehend einig. Manchmal habe
ich das Gefühl, wir singen irgendwann gemeinsam das
Lied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ “.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das vielleicht gerade noch, aber nicht die Internationale!)


– Ich will jetzt nicht, wenigstens in meinem Fall, über Ju-
gendsünden reden. – Es ist ja vielleicht auch gut, dass wir
uns in diesen wichtigen wohnungspolitischen Angele-
genheiten einmal einig sind.

Ich gebe gerne zu: Die Mittel sind reduziert worden,
was Sie uns ebenfalls vorwerfen. Aber auch hier muss
man ganz nüchtern fragen, wie eigentlich die Nachfrage
in den Bundesländern bezüglich des Neubaus im Bereich
des sozialen Wohnungsbaus ist. Man muss feststellen: in
vielen Bereichen Fehlanzeige. Deshalb ist es ganz wich-
tig, dass wir diese Reform auf den Weg bringen. Dann ha-
ben wir eine solide Grundlage, mehr Geld bereitzustellen.

Hilfreich ist auch die Reform des Mietrechts; denn
sie hilft, die Schwächen auf dem Wohnungsmarkt, die es
nach wie vor im Falle einkommensschwacher Haushalte
gibt, ein Stück weit zu beseitigen. Ich denke in diesem Zu-
sammenhang nur an die Kappungsgrenze.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Wolfgang Spanier

11925


(C)



(D)



(A)



(B)


An dieser Stelle eine kurze Bemerkung zum Gesetz-
entwurf der F.D.P. Die alte Koalition hat es nicht ge-
schafft, das Mietrecht zu reformieren.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Stimmt!)


Die Gründe sind klar: Die Koalition war zerstritten. Ich
habe ein bisschen das Gefühl, dass die F.D.P. das, was sie
ursprünglich einmal wollte, aus der Schublade geholt hat.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Richtig!)

So sieht es jedenfalls aus. Ich kann im Nachhinein die
CDU/CSU voll verstehen, dass sie das nicht mitmachen
wollte. Aber über die Reform des Mietrechts werden wir
an anderer Stelle noch ausgiebig diskutieren. Ich habe
mich ein bisschen gewundert, dass Sie dieses Thema an
die Debatte über den Wohngeld- und Mietenbericht
gehängt haben. Es wäre ein bisschen schade, wenn das
Thema untergehen würde. Wir werden zu gegebener Zeit
auf die Einzelheiten Ihres Gesetzentwurfes sicherlich
noch eingehen.

Ein weiterer Punkt ist die Altbaumodernisierung.
Auch dies ist ein Stück weit Hilfe für einkommensschwa-
che Haushalte, die nach wie vor in dem unteren Preisseg-
ment auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben.
Immerhin wird das Altbaumodernisierungsprogramm,
das wir mit dem Haushalt 2001 auf den Weg bringen, zur
Senkung von Verbrauch und Kosten bei der Raumwärme
führen. Das ist eine Hilfe bezüglich des exorbitanten
Preisanstiegs, den wir in den letzten Monaten zu ver-
zeichnen hatten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt ist – ich will ihn nur stichwortartig
ansprechen – das Programm „Soziale Stadt“. Es ist ja kein
Zufall und für uns durchaus ermutigend, dass Baden-
Württemberg Spitzenreiter bei der Nachfrage nach die-
sem Programm ist. Auch Bayern steht dem nicht nach.
Das Programm ist also ein voller Erfolg, den wir gemein-
sam begrüßen sollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt ein-
gehen, der mir persönlich – ich betone bewusst: persön-
lich; er hat sich hoffentlich wie ein roter Faden durch mei-
nen Beitrag gezogen – am Herzen liegt, weil diejenigen,
die Schwierigkeiten haben, sich auf dem Wohnungsmarkt
selbst zu versorgen, im Mittelpunkt unseres Augenmerks
stehen sollten. Wir sollten uns als Wohnungspolitiker an
der Diskussion um die Rentenreform beteiligen. Herr
Dr. Kansy, auch Sie haben letztens im Ausschuss eine sol-
che Anmerkung gemacht; ich habe das für zutreffend ge-
halten. Die zusätzliche Säule der privaten Altersvor-
sorge wird einen Teil des Einkommens abschöpfen. Das
geht möglicherweise zulasten der Sparrate, vielleicht
auch zulasten des Bausparens. Das wäre sicherlich fatal.
Deswegen meine ich: Wir müssen Lösungen finden, um
so etwas wie eine Quadratmeterrente – so nennt man das
bei uns in Ostwestfalen – zu schaffen, also auch das selbst

genutzte Wohneigentum in die Altersvorsorge einzube-
ziehen.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke da allerdings in erster Linie an die Mieter-
privatisierung, um den Schwellenhaushalten zu Eigentum
und damit gleichzeitig zu einem Stück privater Altersvor-
sorge zu verhelfen. Das halte ich für einen ganz wichtigen
Weg. Wenn wir auch da Seit’ an Seit’ schreiten und ge-
meinsam überlegen – das ist ja eine knifflige Sache –, wie
wir das erreichen können, dann wäre ich ganz zufrieden
und dann sähe ich auch über den Ton Ihres Ent-
schließungsantrags ein Stück weit hinweg. Das ist so eine
Art populistischer Rundumschlag. Vielleicht hat Ihnen
das ja Herr Merz aufgeschrieben.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412414000
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Dietmar Kansy für die
CDU/CSU-Fraktion.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412414100
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol-
lege Spanier, wenn Sie es noch einmal erwähnt hätten,
hätte ich Schwierigkeiten gehabt, nicht anzufangen zu
singen: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“. Aber viel-
leicht sollten wir mit einem gemeinsamen Abendessen in
der Gegend des Gendarmenmarktes beginnen, der zurzeit
„in“ ist. Dabei könnten wir dann einige wohnungspoliti-
sche Fakten abklopfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Wenn Sie die Rechnung übernehmen, Herr Kansy!)


Aber, Herr Kollege Spanier, Sie als alter, erfahrener
und mir persönlich auch sympathischer Kollege haben
natürlich präventiv schon richtig vermutet, dass die Vor-
lage des Wohngeld- und Mietenberichts an diesem heuti-
gen Tage nicht gerade eine Sternstunde der Regierungs-
fraktionen bedeutet, und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst einmal müssen Sie nämlich – die Regierung hat
das auch ordnungsgemäß getan, weil man über Zahlen ja
schlecht streiten kann – lobend herausstellen, dass in dem
Berichtszeitraum 1998/99, in dem im Wesentlichen noch
wir regiert haben, eine Entspannung auf den deutschen
Wohnungsmärkten eingetreten ist, die nicht vom Him-
mel gefallen, sondern Ergebnis einer konsequenten Woh-
nungsbaupolitik der alten Koalition war, welche es in der
Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik ge-
schafft hat, die so genannte Wohnungsnot innerhalb von
wenigen Jahren in einem Umfang zu beheben, dass heute
keiner in diesem Lande mehr ernsthaft von Wohnungsnot
redet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

600 000 Neubauten Mitte der 90er-Jahre und ein im

Bericht als historischer Tiefstand der Mietindexsteige-




Wolfgang Spanier
11926


(C)



(D)



(A)



(B)


rung von 1,1 Prozent im Jahr 1999 genannter Prozentsatz –
nie hat eine neue Bundesregierung in einer so zentralen
Frage wie dem Thema Wohnen, das alle Menschen be-
wegt, eine so günstige Ausgangssituation vorgefunden
wie die Regierung Schröder nach unserer Regierungszeit
in den letzten Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Ach!)


– Es hilft doch alles nichts: Lesen Sie in Ruhe und ganz
freundlich, Seit’ an Seit’ sozusagen, den Bericht durch.

Dass Ihnen das schwer fällt, ist verständlich; denn mein
ehemaligerKollege als baupolitischer Sprecher, Großmann,
heute Staatssekretär, hat noch im Entschließungsantrag
zum Wohngeld- und Mietenbericht 1997 – das war im
Frühsommer 1998 – der damaligen Bundesregierung
„eine Euphorie über Entspannungstendenzen auf dem
Wohnungsmarkt“ vorgehalten. Jetzt benutzen Sie die Er-
gebnisse unserer Wohnungspolitik für einen sichtbaren
Attentismus in diesem Ministerium. Wenn Sie Pech ha-
ben, provozieren Sie erneut den Schweinezyklus in der
Wohnungspolitik, sprich: das Auf und Ab zwischen Über-
angebot und Wohnungsnot, was eine der schlimmsten po-
litischen Fehlentscheidungen sein kann – wenn man über-
haupt Wohnungspolitik macht, was ich langsam bestreite.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie holt zum Zweiten eine ganze Kette von Wahlver-

sprechen wieder ein.

(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich will mich auf zwei Zitate aus der Debatte zum Wohn-
geld- und Mietenbericht 1997 am 7. Mai 1998, die nicht
hier, sondern damals noch in Bonn stattgefunden hat, be-
schränken. Mit starken Worten sagte der Hamburger Bau-
senator Wagner in Wahlkampfmanier im Bundestag,
1,3 Milliarden DM Wohnungsbaumittel im laufenden
Jahr – so waren damals die Zahlen im sozialen
Wohnungsbau – seien „ein weiterer Beweis dafür, dass
sich die jetzige Bundesregierung“ – also die damalige –
„in Wahrheit aus der Verantwortung seitwärts in die Bü-
sche stiehlt“. – Sehr prosaisch, für einen Hamburger so-
wieso. Binnen drei Jahren, im letzten Regierungsjahr
nämlich, sind diese 1,3 Milliarden DM, sind die damali-
gen Ansätze für den sozialen Wohnungsbau auf ganze
0,45 Milliarden DM heruntergefahren bzw. – um beim
Hamburger Sprachbild zu bleiben – aus den Büschen in
die Wüste gejagt worden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Angesichts dessen, dass der schon angesprochene Kol-

lege Großmann in der damaligen Debatte vom Rednerpult
aus versprach, eine SPD-geführte Bundesregierung
werde – übrigens im Einklang mit dem damaligen Wahl-
kämpfer Schröder, was in der „Mieter-Zeitung“ nachzule-
sen war – dafür sorgen, dass die Zahl der sozialen Woh-
nungen wieder steigt, ist zu fragen: War es nicht eine
Wählertäuschung, wenn ein Ansteigen prophezeit wurde,
der soziale Wohnungsbau nun jedoch um zwei Drittel re-
duziert worden ist? – Das sind die Fakten in der Mitte die-
ser Legislaturperiode.

Zum Dritten halte ich – Sie wissen ja, dass dies ein
Hobby von mir ist – die Zusammenlegung des Bundes-
verkehrsministeriums mit dem Ministerium für Raum-
ordnung, Bauwesen und Städtebau mit dem groß an-
gekündigten Ziel angeblicher Synergieeffekte aus Sicht
der Wohnungswirtschaft für einen Flop.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn ein Bundesbauminister hat immer mehr getan, als
sein Ressort nur zu verwalten. Es gibt heute unter der rot-
grünen Koalition keine abgestimmte Wohnungspolitik
mehr. Im Grunde ist der Wohnungsbau zum fünften Rad
am Wagen geworden. Wenn Sie sich ansehen, wo neben
den für die Altbausanierung im Osten vorgesehenen aner-
kennenswerten 400 Millionen DM die Milliardenbeträge
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen bleiben, wer-
den Sie feststellen, dass für den Verkehr achtmal so viel
Mittel vorgesehen sind wie für den Baubereich. Das ist die
Wahrheit in der Mitte dieser Legislaturperiode.

Meine Damen und Herren, der Bundesbauminister
fährt den sozialen Wohnungsbau zurück, sein Kollege Fi-
nanzminister verschlechtert über das Steuerrecht die Rah-
menbedingungen für den frei finanzierten Wohnungsbau
und reduziert gleichzeitig die Eigenheimzulage und die
Bundesjustizministerin – sie war bis eben anwesend; jetzt
ist sie weg – legt einen investitionsfeindlichen Mietrechts-
entwurf vor und stellt ihn anschließend – zumindest in
Teilbereichen – wieder infrage, sodass sich die letzten
noch nicht entmutigten Investoren so langsam fragen, ob
der Staat überhaupt noch Interesse daran hat, dass in die-
sem Lande Wohnungen gebaut werden.

Die Ergebnisse dieser Politik kann man an Zahlen ab-
lesen, wenn auch im Wesentlichen nur auf der Ebene der
Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker: Die Zahl von
600 000 Wohnungsbaugenehmigungen war natürlich
der absolute Höchststand. 1999 ist diese Zahl auf 438 000
zurückgegangen. Im ersten Halbjahr 2000 ist ein weiterer
Rückgang auf 181 000 – Hamburg ist dabei noch nicht
berücksichtigt, da es noch keine Meldung abgegeben hat –
zu verzeichnen. Das Institut für Städtebau erwartet in die-
sem Jahr höchstens 380 000 Baugenehmigungen. Damit
würde angesichts von fast 38 Millionen Wohnungen in
diesem Land erstmals seit vielen Jahren die Ersatzbaurate
unterschritten.

Nach Angaben des Verbandes Deutscher Hypotheken-
banken – das ist ein noch besserer Gradmesser als die Zahl
der Baugenehmigungen; in diesem Zusammenhang kann
man sich selbst etwas in die Tasche lügen; aber abgeholte
Kredite lässt man normalerweise nicht in der Schublade
liegen –


(Rainer Funke [F.D.P.]: Kostet ja auch Geld!)

ging im ersten Halbjahr das neue Geschäft für Woh-
nungsfinanzierungen noch weitgehender, ja schon fast
dramatisch, um 40 Prozent zurück. Der Eigenheimbereich
ist mit 49 Prozent am stärksten betroffen.

Wenn ich jetzt einmal diese ganze Politik resümiere,
muss ich feststellen: Betroffen sind natürlich auch die
Mieter, und zwar in ganz wesentlichem Umfang. Dies ist
von Herrn Spanier schon vorsichtig angedeutet worden,




Dr.-Ing. Dietmar Kansy

11927


(C)



(D)



(A)



(B)


aber ich will einmal Klartext reden. In der Marktanalyse
des Ringes Deutscher Makler vom August dieses Jahres
heißt es: Der durchschnittliche Rückgang der Mieten für
neu abgeschlossene Verträge – übrigens ein Ergebnis un-
serer Wohnungspolitik nach dem Motto „Bauen ist der
beste Mieterschutz“ – ist deutlich abgeschwächt. Die
Mieten in vielen Großstädten und in weiten Bereichen
Süddeutschlands sowie generell die Erstvertragsmieten
für Neubauten sind eindeutig wieder ansteigend.

Zu den Mietrechtsvorlagen im Detail wird noch mein
Kollege Pofalla Stellung nehmen. Aber eines, meine Da-
men und Herren – ob Rechts- oder Baupolitiker – der Ko-
alition, muss ich noch sagen: Die Linie der Union ist
klar – das ist von Ihnen, Herr Kollege Spanier, richtig an-
gesprochen worden – zur Vereinfachung ein klares Ja,
zum Verschieben des in langen Jahren Gesetzgebung und
Rechtsprechung gefundenen ganz sensiblen Gleichge-
wichtes zwischen Mietern und Vermietern ein klares
Nein.

Dort sitzt ein weiterer Kronzeuge: Wir haben uns als
Regierungsfraktion tatsächlich der F.D.P. verweigert
– das ist die historische Wahrheit –, das Gleichgewicht zu-
lasten der Mieter zu verschieben. Aber, meine Damen und
Herren, die CDU/CSU wird sich heute nicht dazu drängen
lassen, dieses Gleichgewicht jetzt zulasten der Vermieter
und Investoren zu verschieben. Das ist wirklich Politik
der Mitte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Fast noch mehr als der Gesetzentwurf der Regierung

selbst waren für mich Äußerungen der Justizministerin
verblüffend. Eine weitere Kollegin, Präsidentin und
Kronzeugin, war wie ich bei der Veranstaltung des Deut-
schen Mieterbundes am 12. September hier in Berlin.
Dort kündigte die Ministerin an, dass in der Gesetzgebung
noch die weitere Absenkung der Kappungsgrenze auf
15 Prozent, die Absenkung der asymmetrischen Kündi-
gungsmöglichkeiten für Mieter von sechs auf drei Mo-
nate, der Verzicht auf Zustimmungsbedürftigkeit von qua-
lifizierten Mietspiegeln durch die Vermieterseite und eine
ganze Reihe weiterer, im Gesetzentwurf der Regierung
enthaltener Ankündigungen geprüft werden sollen. Ich
frage mich: Was gilt denn nun eigentlich bei der Koali-
tion?

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wir sind es ja fast ge-
wohnt und würden es vermissen, wenn Sie nicht, nach-
dem ein Regierungsvorschlag vorgelegt wird, rufen wür-
den: Das war doch gar nicht so mit uns abgestimmt! Sie
haben am 14. September in der „Berliner Zeitung“ wieder
geklagt, die Bundesregierung habe wichtige Punkte nicht
in den Entwurf aufgenommen, den Sie mit ihr und den
Ländern abgesprochen hätten. Das steht zumindest in der
Zeitung. Vielleicht sind mal wieder die Journalisten
schuld; ich weiß es nicht. Man braucht sich jedenfalls
nicht über Attentismus im Baubereich zu wundern, wenn
mit einem so sensiblen Thema wie der Mietenpolitik in
diesem Land so umgegangen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es sind noch einige Worte zum Thema Wohngeld fäl-

lig. Die sparsame, aber immerhin drei Jahre früher in

Kraft getretene Novelle – noch von Oswald – ist daran ge-
scheitert, dass Sie sie mit der Blockadepolitik Lafontaines
im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau ver-
knüpft haben. Ich erspare es mir aus Zeitgründen, weiter
darauf einzugehen. Ich erinnere Sie daran, dass Sie ein
Gesetz vorgelegt hatten, das wir in der Substanz unter-
stützen. Aber hätten wir es durchgehen lassen, insbeson-
dere im Bundesrat mit den von der Union geführten Län-
dern, dass Sie Wohltaten auf Kosten von Ländern und
Gemeinden spenden, wäre dieses Wohngeldgesetz ein
Verschiebebahnhof von 2,5 Milliarden DM geworden.
Das haben wir verhindert, nicht nur die Wohngelder-
höhung vor einigen Monaten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn man sich die Sache genauer anschaut – das wer-

den wir im Ausschuss noch machen –, merkt man, dass es
da wirklich tolle Sachen gibt. Wir können in diesem Jahr
ein Ausgaben-Ist von 3,4 bis 3,6 Milliarden DM erwarten.
Der Haushaltsansatz für nächstes Jahr beträgt aber nur
4,0 Milliarden DM. Es ist ja fast ein Wunder, wenn man
angeblich das Wohngeld um 1,5 Milliarden DM erhöht,
aber nur eine knappe halbe Milliarde mehr im Haushalt
hat. Der Trick ist ganz einfach: Durch die Deckelung des
pauschalierten Wohngeldes durch Einziehung der Ein-
kommensgrenzen werden wieder 650 Millionen DM in
Richtung Gemeinden abgeschoben. Das sind wieder die
Wohltaten auf Kosten anderer.

Da Sie die Themen Warmmieten und Ökosteuer
schon angesprochen haben, Herr Spanier – ich hätte es
wahrscheinlich gar nicht getan –, muss ich sagen: Es ist
doch unsinnig zu behaupten, das hätte damit überhaupt
nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Schauen Sie sich den Mietenindex doch einmal an! Im
Jahre 1998 betrug die Steigerung der Bruttowarmmiete
noch 0,9 Prozent. Zu der Zeit, als der Wohngeld- und Mie-
tenbericht geschrieben wurde, also im Frühjahr dieses
Jahres, betrug sie schon 2,9 Prozent, im August 3,1 Pro-
zent und im September 4,3 Prozent. Meine Damen und
Herren, Sie können sagen, was Sie wollen, aber wenn Sie
die nächste Stufe der Ökosteuer einführen – wenn dies
auch die Kosten für Heizöl nicht betrifft –, wird die Stei-
gerung – unter anderem aufgrund des Euro-Kurses –
schnell bei 5 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit in die-
sem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Deshalb fordern wir Sie auf: Denken Sie in der Woh-
nungspolitik um! Hören Sie mit der Demontage der Ei-
genheimzulage auf! Bringen Sie endlich den seit Jahren
versprochenen Gesetzentwurf zur Verbesserung des so-
zialen Wohnungsbaus ein und erhöhen Sie dort insbeson-
dere wieder die Etatansätze! Bringen Sie von den Wind-
fall Profits im Handybereich wenigstens ein kleines
bisschen mit ein! Diese Windfall Profits heißen ja deswe-
gen Windfall Profits, weil Sie sie für eine Entscheidung
von uns, die Sie damals leidenschaftlich bekämpft haben,
kassieren.




Dr.-Ing. Dietmar Kansy
11928


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412414200
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spanier?


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412414300
Frau Präsiden-
tin, das tue ich deswegen gerne, weil sonst meine Rede-
zeit abgelaufen wäre.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412414400
Da haben Sie Recht.
Aber heute sind wir ja großzügig. – Herr Kollege, bitte.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1412414500
Genau das ist mein Anlie-
gen: Ihre Redezeit zu verlängern.


(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte auf Ihre Bemerkungen zu den Themen

Warmmiete und Anstieg der Heizkosten eingehen. In der
Tat ist es in den letzten zwölf Monaten zu einem Anstieg
der Heizölkosten von 80 Prozent gekommen; das ist rich-
tig. Für unseren Raum ist das rund 1 DM. Es ist aber auch
richtig, dass wir die Ökosteuer lediglich einmalig, näm-
lich im April 1999, in einer Größenordnung von 4 Pfen-
nig auf Heizöl erhoben haben. Von allen weiteren Stufen
der Ökosteuer ist das Heizöl ausgenommen. Ähnliches
gilt beim Gas. Hier beträgt die Erhöhung durch die Öko-
steuer 0,32 Pfennig.


(Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit!)

– Das ist die Wahrheit. – Wenn man dies zueinander in Re-
lation setzt, dann ist doch völlig klar, dass die Ökosteuer
für diese eklatante Preissteigerung, die viele Mieterinnen
und Mieter belastet – das ist unstrittig –, nicht ver-
antwortlich gemacht werden kann und dass Ihr Hinweis
darauf, wie sich dies in den weiteren Stufen der Ökosteuer
auswirken möge, an der Sache vorbeigeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412414600
Herr Kollege
Spanier, zwar wäre es zweckmäßig, wenn Sie stehen blei-
ben würden, aber wir können uns auch so verständigen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412414700
Nein, das geht nicht.
Er muss stehen bleiben.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412414800
Frau Präsiden-
tin, vielen Dank. – Ich habe ja ausdrücklich gesagt, es
wäre unsinnig, sich bei der Suche nach den Gründen für
diese Entwicklung nur auf ein Thema zu versteifen. Aber
es ist doch richtig, in einer Debatte über Wohnkosten und
Strom zu sagen, dass eine Politik, die durch unbedachte
Bemerkungen den Euro herunterredet


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


und dadurch die Importkosten für Öl erst in diesem Um-
fang in die Höhe getrieben hat, zu der jetzigen Situation
beigetragen hat. Es gibt keinen Bereich der Politik – auch

nicht in der Wohnungswirtschaft –, in dem man nicht
durch fahrlässiges Gerede und selbst durch falsches Han-
deln in Kleinigkeiten falsche Weichenstellungen vor-
nimmt, aus denen dann andere ihre falschen Schlüsse zie-
hen. Das ist der Jammer der Ökosteuer – egal, ob mit oder
ohne Bruttowarmmiete.

Meine Damen und Herren, betreiben Sie also die Woh-
nungspolitik in diesem Land etwas intensiver! Sonst geht
dieses Thema in diesem Superministerium unter.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412414900
Herr Kollege, es gibt
noch eine Zwischenfrage. Wir verlängern Ihre Redezeit
noch einmal. Herr Kollege Grehn hat eine Zwischenfrage.
– Bitte sehr.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412415000
Gerne. Dies-
mal aber nicht Seit‘ an Seit‘.


(Heiterkeit – Christine Ostrowski [PDS]: Wir wären so gerne mit Ihnen Abendessen gegangen!)


– Frau Ostrowski, Sie sind ja gleich noch eine Weile dran.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412415100
Jetzt hat der Kollege
Grehn das Wort zu einer Zwischenfrage.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412415200
Darauf bezog sich meine
Frage nicht. Meine Fragestellung ist folgende: Können
Sie meine Auffassung zur Wahrheit und nichts als der
Wahrheit teilen, dass 17 Pfennig von den 80 Prozent bzw.
der 1 DM Steigerung der Heizkosten Mehrwertsteuer
sind?


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1412415300
Die Ökosteuer
führt automatisch zu zusätzlicher Mehrwertsteuer. Aber
ich möchte das jetzt nicht unnötig verkomplizieren. Ein
Teil der Erhöhung der Bruttowarmmiete ist durch staatli-
ches Handeln verursacht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Es ist unseriös, Kommissionen einzusetzen, um die

Wohnnebenkosten zu senken, und anschließend eine Po-
litik zu betreiben, die die Bruttowarmmieten erhöht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412415400
Nun hat die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Lieber Herr Kollege Kansy, ich verstehe,
dass Sie Sehnsucht nach einem einfachen Weltbild ha-
ben. Nach meiner Erinnerung bestand bis zum Septem-
ber 1998 Ihr wohnungs- und mietenpolitisches Weltbild






(C)



(D)



(A)



(B)


immer darin zu sagen: Der Wohnungsmarkt ist so wun-
derbar entspannt und bei den Mieten ist alles so harmlos,
die steigen fast gar nicht. Seit dem Regierungswechsel,
der übrigens nicht erst 1999, sondern schon 1998 war,
dramatisieren Sie und sagen: Die Mieten- und die Wohn-
kostenentwicklung sind so schlimm. Was passiert denn da
nur? An allem – auch hier haben Sie die Sehnsucht nach
dem einfachen Weltbild – ist diese fürchterliche rot-grüne
Koalition schuld.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Von einem so gestandenen Marktwirtschaftler erwarte

ich schon, dass er weiß, inwieweit das Kosten-Nutzen-
Verhältnis durch die Marktwirtschaft oder durch die Poli-
tik beeinflusst wird.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ich nehme es zurück: an fast allem!)


Dies hatte ich von dem altgedienten Kollegen Kansy ei-
gentlich erwartet.

Aber ich denke, wir sollten etwas ehrlicher sein und
den Wohnungsmarkt etwas differenzierter betrachten. Wir
wissen alle sehr genau, dass es Regionen gibt, in denen
der Wohnungsmarkt wirklich enorme Probleme auf-
wirft. Ich nenne nur die Regionen München, Stuttgart,
Frankfurt usw. Dann gibt es Regionen, in denen der Woh-
nungsmarkt entspannt ist. Dies trifft insbesondere auf
große Bereiche von Nordrhein-Westfalen zu. Dort fangen
die Wohnungsbaugesellschaften an, tatsächlich so etwas
wie Leerstandsprobleme zu bekommen, wovon man sonst
nur im Zusammenhang mit dem Osten redet. Ferner ha-
ben wir die Probleme im Osten – wir haben dies hier
schon mehrfach diskutiert –, wo der Leerstand ein zentra-
les Problem ist. Ich bitte also alle Beteiligten – wir ken-
nen uns nun lange genug und wissen, wie wir fachlich
miteinander diskutieren können –, dementsprechend dif-
ferenziert an die Wohnungsmarktsituation heranzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Tatsache ist, dass wir natürlich auch bei entspannten
Wohnungsmärkten enorme Probleme aufgrund der Mie-
tenentwicklung haben. Die Koalition ist weit davon ent-
fernt, das zu leugnen. Im Gegenteil, wir machen uns Sor-
gen darüber, weil wir wissen, dass viele Haushalte
Probleme aufgrund der Miethöhen haben. Ich nenne nur
einen der Werte aus dem Wohngeld- und Mietenbericht:
Haushalte mit einem Nettoeinkommen bis zu 2 500 DM
haben eine Wohnkostenbelastung in Höhe von 38 Prozent.


(Wolfgang Spanier [SPD]: Viel zu viel!)

Das ist eine enorme Belastung. Weil wir uns diese Sorgen
machen, die Sie damals meinten, beiseite schieben zu
können, haben wir die Wohngeldreform nicht nur auf
den Weg gebracht, sondern werden sie zum 1. Januar 2001
auch realisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wird eine Wohngelderhöhung von im Durchschnitt
83 DM geben. Für Familien wird sie im Durchschnitt so-
gar 120 DM betragen. Ich denke, das ist eine großartige
Leistung. Dazu sollten Sie auch nicht ständig sagen, wir

hätten das verzögert. Wir haben endlich das geschafft, was
Sie jahrelang nicht auf den Weg gebracht haben. Ich
denke, allein dies ist schon eine wohnungspolitische Leis-
tung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir bringen jetzt auch die Heizkostenpauschale, ge-
koppelt mit der Entfernungspauschale, auf den Weg. Wir
machen dies nicht, weil wir der Meinung sind, die Öko-
steuer sei schuld an der Erhöhung der Heizkosten. Dazu
hat schon der Kollege Spanier zur Genüge gesprochen.
Wir machen dies vielmehr, weil die Heizkosten aufgrund
der marktwirtschaftlichen Entwicklung so enorm gestie-
gen sind, wir uns aber trotzdem politisch verantwortlich
fühlen. Das ist ein kleiner Unterschied zu dem, was Sie
gesagt haben.

Lassen Sie mich noch auf den Gesetzentwurf der
F.D.P. eingehen. Herr Funke und die anderen Damen und
Herren von der F.D.P., ich muss schon sagen, dieser Ge-
setzentwurf erschreckt mich eigentlich zutiefst,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das wollen wir auch!)

weil er zeigt, dass die F.D.P. nach wie vor nur eine Seite
unserer Gesellschaft sieht und meint, dass es zu den Auf-
gaben der Politik gehört, einseitig für eine Interessen-
gruppe Politik zu machen und für diese ein Mietrecht auf
den Weg zu bringen.

Sie wollen mit Ihrem Mietrechtsentwurf die Kap-
pungsgrenzen ersatzlos abschaffen. Sie wollen willkürli-
che Mieterhöhungen bis zur Mietspiegelgrenze möglich
machen. Sie wollen den Mietwucher nicht mehr verbieten
und Änderungskündigungen wieder einführen. Hier zeigt
sich ganz deutlich, für wen die F.D.P. Politik machen will.
Sie wollen ein Mietrecht für Eigentümer, und zwar für
solche, die die Sozialpflichtigkeit des Eigentums über-
haupt nicht kennen. Das halte ich für skandalös. Was Sie
uns hier vorlegen, geht politisch in eine unmögliche Rich-
tung und ist typisch für die Partei der Besserverdienenden,
die meint, die anderen sozialen Verantwortlichkeiten exis-
tieren nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Was Sie sagen, ist Quatsch!)


Das ist nicht das Mietrecht, das wir für richtig und erstre-
benswert halten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Sie sollen das nicht so parteipolitisch sehen!)


Wir werden stattdessen ein Mietrecht auf den Weg
bringen, das nicht einseitig ist, sondern das sehr verant-
wortungsvoll die Bedürfnisse und Interessen der Mieter
und der Vermieter austariert, die in ihrer Hausbewirt-
schaftung verantwortlich umgehen müssen. Es ist unser
Anspruch, ein solches Mietrecht zu gestalten. Das werden
die Koalitionspartner solidarisch beschließen. So haben
wir das auf den Weg gebracht.

Ich werbe sehr dafür, in der Form Politik zu gestalten,
dass wir nicht mehr eine eindimensionale Politik betrei-




Franziska Eichstädt-Bohlig
11930


(C)



(D)



(A)



(B)


ben, sondern ein mehrdimensionales Austarieren zwi-
schen einander widerstrebenden Interessen vornehmen.
Ich denke, das sollte unser aller Ziel sein, nicht nur der
Koalition, sondern auch der Opposition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIR GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412415500
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412415600
Bitte sehr, Frau Kol-
legin.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1412415700
Ich habe noch eine Frage
zur Nichteinseitigkeit des Mietrechts. Frau Eichstädt-Bohlig,
wir waren alle gemeinsam im Forum im Rathaus Charlot-
tenburg. Dort ist vonseiten der Ministerin der Justiz deut-
lich ausgedrückt und vom Geschäftsführer des Mieter-
bundes bestätigt worden, dass von den Vorschlägen, die
einerseits von der Vermieterseite und andererseits von der
Mieterseite kamen, nur einer der Mieterseite berücksich-
tigt wurde, aber etliche der Vermieterseite. Dazu wollte
ich Ihre Meinung hören; denn das hat doch mit Ausgegli-
chenheit nichts zu tun.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

es sind sehr viele mieterfreundliche Ziele in dem Gesetz-
entwurf enthalten. Ich nenne als ersten Punkt die Absen-
kung der Kappungsgrenze auf 20 Prozent; das ist ganz
entscheidend. Ich nenne als zweiten Punkt das asymme-
trische Kündigungsrecht; auch das ist wichtig. Drittens
wird der qualifizierte Mietspiegel künftig zum vorrangi-
gen Beweismittel; das ist ein weiterer Punkt.

Ich will Ihnen jetzt, um die Redezeit insgesamt nicht zu
sehr zu strapazieren, keine weitere Lektion in diesem Be-
reich geben. Aber ich bin sicher, dass im Mietrecht we-
sentlich mehr Punkte der Mieterseite positiv zu Buche
schlagen. Auch der Geschäftsführer des Mieterbundes
wird im Endeffekt dieser Bilanz zustimmen.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412415800
Das wollen wir jetzt
nicht mehr so genau festhalten. – Nun hat der Kollege
Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1412415900
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Ich bin zunächst einmal den Geschäfts-
führern ganz dankbar, dass sie den Wohngeld- und Mie-
tenbericht 1999 mit dem Gesetzentwurf der F.D.P. zum
Mietrecht verbunden haben. Das zeigt sehr deutlich, dass
für den gesamten Wohnungsmarkt das Mietrecht eine ent-
scheidende Rahmenbedingung ist.

Der Bericht der Bundesregierung zum Wohngeld und
zu den Entwicklungen der Miete weist – das ist schon aus-
geführt worden –, für 1998 und 1999 wirklich erfolgrei-
che Zahlen auf. Danach war bei den Mieten in den Jahren
1998 und 1999 der geringste Anstieg seit der Einführung
des Mietenindexes im Jahre 1961 zu verzeichnen. Diese
Zahlen belegen deutlich die Entspannung auf dem Woh-
nungsmarkt und bedeuten, dass Angebot und Nachfrage
am Wohnungsmarkt weitestgehend ausgeglichen sind.
Dabei verkenne ich jedoch nicht, dass diese Ausgewo-
genheit in einzelnen Gebieten – Sie haben es erwähnt,
Herr Spanier – nicht besteht. Aber insgesamt haben wir in
der Bundesrepublik einen ausgeglichen Markt.

Es ist weiterhin festzustellen, dass die Einführung des
Vergleichsmietensystems in den neuen Bundesländern
genauso wie der Fortfall der gespaltenen Kappungs-
grenze in keiner Weise zu irgendwelchen Schwierigkei-
ten in den neuen Bundesländern geführt hat, ganz anders,
als Sie es uns noch in Ihrer Oppositionszeit vorausgesagt
haben. Schließlich ist der Markt noch immer ein besseres
Regulativ als der Eingriff durch gesetzliche Regulierun-
gen;


(Wolfgang Spanier [SPD]: Wie beim Heizöl!)

und wir wollen den Markt entscheiden lassen, auch bei
Wohnungen und Mieten.


(Beifall bei der F.D.P. – Wolfgang Spanier [SPD]: Und bei der Energie!)


Unter diesen Umständen ist davor zu warnen, in das
bewährte Mietrecht gravierend einzugreifen. Das soziale
Mietrecht hat sich grundsätzlich bewährt, muss den
Marktverhältnissen jedoch schrittweise angepasst wer-
den.

Das soziale Wohnraummietrecht muss für Mieter und
Vermieter wieder überschaubar, transparent und vor allem
verständlich sein. Durch die vielfältigen Änderungen in
der Vergangenheit ist das Mietrecht im BGB unübersicht-
lich gegliedert und darüber hinaus in mehrere Gesetze
zergliedert werden. Das führt heutzutage dazu, dass das
Mietrecht sowohl für Mieter als auch für Vermieter kaum
noch handhabbar ist. Ich bin selber in einer Gesellschaft
tätig, die Wohnungen vermietet. Ich kann daher nur ap-
pellieren: Wir müssen endlich wieder zu einem Mietrecht
kommen, das handhabbar ist, und zwar sowohl für Mieter
als auch für Vermieter.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der Entwurf der F.D.P.-Fraktion bemüht sich daher, ein

ausgewogenes Verhältnis der Interessen von Mieter
und Vermieter herzustellen. Unser Entwurf bemüht sich
um eine klare, verständliche Sprache; das ist auch der
Wunsch des Entwurfes des Justizministeriums. Wir wol-
len das Mietrecht wieder zum Bürger bringen. Es soll ver-
sucht werden, das Mietrecht im BGB in systematischer
Weise zusammenzufassen. Besonders wichtig ist mir da-
bei, dass der Rechtsfriede zwischen Mietern und Vermie-
tern gewahrt bleibt. Durch klare gesetzliche Regelungen
sollen Rechtsunsicherheiten vermieden werden. Mieter
und Vermieter sollen sich wie echte Vertragspartner ver-
stehen. Eingriffe in das Mietverhältnis durch staatliche




Franziska Eichstädt-Bohlig

11931


(C)



(D)



(A)



(B)


Regulierungen sollten so weit wie möglich vermieden
werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass es sich um einen modernen und ausgewogenen
Gesetzentwurf handelt, möchte ich kurz anhand einiger
Beispiele darstellen. Bei der Frage der Mieterhöhung be-
halten wir das Vergleichsmietensystem, für das es bisher
keine echte Alternative gibt, bei. Besonders wichtig war
es uns aber, bei der Einbeziehung von Wohnraum in die
Vergleichsmieten diejenigen Mieten außer Acht zu lassen,
die sozusagen politisch beeinflusst werden.

Wir haben die Kappungsgrenze bewusst gestrichen;
denn es ist ein ausgeglichener Wohnungsmarkt vorhan-
den. Wenn ich mir den Mietenbericht ansehe, so ist es
nur konsequent, sie komplett zu streichen und die ortsüb-
liche Vergleichsmiete als alleinige Obergrenze für Miet-
erhöhungen anzusetzen. Die Kappungsgrenze – wie im
Regierungsentwurf vorgesehen – abzusenken zeigt nur
den Wunsch nach politischer Einflussnahme auf den
Wohnungsmarkt. Das lehnen wir ab.

Bei der Begründung derMieterhöhung ist die F.D.P.
zur Nutzung moderner Instrumente, wie der Mietdaten-
bank, bereit. Beim Mietspiegel gehen wir einen eigenen
Weg. Nach unserer Ansicht reicht es für den Mietspiegel,
der als Basis für die Erhöhung dient, aus, wenn sich Mie-
ter- und Vermieterverbände geeinigt haben; denn das ist
die vertragliche Ebene.

Die Umstellung der Mietkaution von Nettomonats-
mieten auf Bruttomonatsmieten ist nach unserer Ansicht
dringend notwendig; denn die steigenden Nebenkosten
müssen sich auch insoweit niederschlagen.

Bei der Staffelmiete und der Indexmiete halten wir
eine zeitliche Beschränkung von zehn Jahren für über-
flüssig und antiquiert. Wir müssen die Vertragsformen an
die jeweiligen Notwendigkeiten der Lebensbedingungen
anpassen, die heutzutage weit stärker variieren als noch
vor zehn Jahren.

Wir wollen einen echten Zeitmietvertrag.Wir trauen
den Mietvertragsparteien zu, dass sie über ihre jeweiligen
Lebensverhältnisse selber entscheiden können und nicht
staatliche Regulierungen benötigen.

Bei der Modernisierungsumlage behalten wir wie die
Bundesregierung den 11-prozentigen Umlagesatz bei.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist ein Fortschritt für die F.D.P.!)


Ich glaube, alles andere würde der Bauwirtschaft und
auch der Investitionsbereitschaft der Vermieter schaden.

Wir sind anders als die Bundesregierung der Auffas-
sung, dass asymmetrische Kündigungsfristen keinen Sinn
machen. Auch das widerspricht dem Prinzip der vertrag-
lichen Ebene. Das heißt: Wir wollen, dass Mieter und Ver-
mieter gleiche Rechte und keine unterschiedlichen Rechte
haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Die verbesserte Lesbarkeit des Gesetzes hilft den
Mietern bei der Stärkung ihrer Position. Ich glaube, dass
wir auf diese Weise eher den Rechtsfrieden herstellen
können, als wenn wir durch unklare Gesetze, wie wir sie
jetzt leider haben, für die Vertragsparteien den Anreiz bie-
ten, zu den Gerichten zu rennen, die damit überlastet
wären. Das von uns vorgeschlagene Eintrittsrecht für
Haushaltsangehörige des Mieters bei dessen Tod garan-
tiert langjährigen Mitbewohnern eine Sicherheit, die sie
im Fall des Todes des Mieters bisher nicht hatten. Auch
das ist ein Teil unseres sozialen Mietrechts.

Lassen Sie mich, Herr Dr. Kansy, noch ein Wort zu dem
sagen, was wir in der letzten Legislaturperiode – Sie ha-
ben es selber angesprochen – gemeinsam vorgehabt ha-
ben. Wir haben gemäß dem Koalitionsvertrag gemeinsam
daran gearbeitet und nur ein Veto aus München hat uns
daran gehindert, dieses Gesetz einzubringen. Wir hatten
gemeinsam einen vernünftigen Entwurf vorbereitet, der
dann von Herrn Stoiber und Herrn Beckstein verhindert
worden ist. Ich will das nur noch einmal der Wahrheit we-
gen erwähnen. Es wäre besser gewesen, wenn wir dieses
Mietrecht in der letzten Legislaturperiode beschlossen
hätten, denn dann würde dieser unsinnige Gesetzentwurf,
der jetzt von der rot-grünen Koalition eingebracht und
wahrscheinlich in den nächsten Monaten beraten wird –
man ist offensichtlich noch nicht ganz so weit –, am Ende
nicht im Bundesgesetzblatt stehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416000
Jetzt hat die Kollegin
Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion das Wort.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1412416100
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Sie gestatten, dass ich etwas proble-
matisiere:

Erstens. Selbst bei dem entspannten Wohnungsmarkt
im Jahre 1998 betrug die Differenz zwischen Haushal-
ten und Wohnungen nach dem Statistischen Bundes-
amt – Sie können es sich auf der Homepage selbst anse-
hen – rund 1 Million. Das heißt: es fehlten 1 Million
Wohnungen – vorrangig im Westen –, und zwar trotz sin-
kender Bevölkerung bereits im Jahre 1998 und trotz eines
großen Leerstandes im Osten.

Zweitens. Die Bautätigkeit nahm schon damals ab.
Jetzt greift der Trend vom Mietwohnungsbau auf den Ei-
genheimbau über, der Markt zieht an, die Mieten steigen
und das Bauen ist bereits unter den Ersatzbedarf gesun-
ken; Herr Dr. Kansy, da haben Sie vollkommen Recht.
Das ist die nüchterne Lage.

Die Ursache ist nun nicht nur – wie Sie es im Bericht
schreiben – die Entspannung auf dem Wohnungsmarkt,
die Ursache liegt vielmehr in dem Rückzug aus der Fi-
nanzierung, in der Streichung steuerlicher Vorteile bei
gleichzeitigem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau.
Ich werfe Ihnen wahrhaftig nicht die eine oder andere
Maßnahme vor – es sind auch viele gute dabei –, aber ich
muss Ihnen schon vorwerfen, dass Ihre Gesamtpolitik auf




Rainer Funke
11932


(C)



(D)



(A)



(B)


eine neue Wohnungsknappheit hinausläuft. Dies sagen
auch alle Experten und ich denke, man kann sich das aus-
rechnen.

Drittens. Der Wohnungsmarkt ist zweigeteilt; auch das
wird in dem Bericht verniedlicht. Während im Westen
Wohnungen fehlen, haben wir im Osten über 1 Million
Wohnungen leer stehen, und dieser Leerstand erhöht sich
definitiv weiter, weil die Sterberate die Geburtenrate deut-
lich übersteigt. Sie haben außer einer der Situation nicht
adäquaten Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes seither
nichts unternommen, und zwar überhaupt nichts. Es stellt
sich uns allen die Frage: Entweder wird der Osten das
Altersheim mit zerfallenden Städten oder Sie entschließen
sich zu einem geordneten Umbau, und dieser ist nur mit
einem hohen Subventionsaufwand zu haben. Diese Ent-
scheidung müssen Sie treffen.

Viertens. Es ist richtig: Der Mietindex war kurze Zeit
auf einem historischen Tiefststand. Man sollte aber nicht
vergessen, dass in all den Jahren, selbst auf dem tiefsten
Punkt, der Mietindex immer über dem Lebenshaltungs-
kostenindex lag und dass gegenwärtig der Mietindex ge-
genüber den Lebenshaltungskosten um das Doppelte
steigt.

In dem Index sind die Heizkosten noch nicht einmal
enthalten. Es ist schon gesagt worden, dass dadurch ein
falsches Bild entsteht. Im letzten Jahr stieg der Preis für
Heizöl um fast 80 Prozent, der für Gas um 20 Prozent und
der für Zentralheizung und Fernwärme um 26 Prozent.

Auch die Mietbelastung steigt und steigt. Im
Jahre 1998 machte sie bei einem Durchschnittshaushalt
ein Viertel aus. Sie marschiert in raschen Schritten auf ein
Drittel zu. Ganz besonders betroffen sind Bezieher von
Niedrigeinkommen. Wer unter 1 000 DM Einkommen
hat, gibt heute schon zwei Drittel seines Einkommens für
Wohnen aus. Bei denjenigen, die ein Einkommen von
mehr als 5 000 DM haben, liegt der Anteil bei weit unter
einem Fünftel.

Ich weiß nicht, wo diese Entwicklung noch hinführen
soll. Der Mensch muss auf alle Fälle wohnen. Er muss
essen und sich kleiden können. Er kann vielleicht auf an-
dere Dinge verzichten.


(Beifall bei der PDS)

Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann muss etwas
geschehen; denn man darf die Augen vor einer solchen
Entwicklung nicht verschließen.

Sie verschließen – wie die Vorgängerregierung – die
Augen auch vor der Entwicklung der Nebenkosten. Ich
denke, Sie kratzen an der Oberfläche. Sie setzen auf der
Ebene des Mieters an – der Mieter soll sparen – und Sie
setzen richtigerweise bei der Wärmedämmung der Ge-
bäude an. Infolge dessen sollen die Kosten sinken. Die ei-
gentlichen Kostenverursacher aber sind die jeweiligen
Ver- und Entsorgungsbetriebe. In der Bundesrepublik gilt
das Kostendeckungsprinzip. Egal, wie teuer oder ineffizi-
ent der jeweilige Betrieb produziert: Der Mieter muss die
Kosten über die Gebühr decken.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Wollen Sie das anders haben?)


Wenn Sie nicht die Bedingungen schaffen, durch die eine
kostengünstige Arbeit der Ver- und Entsorgungsbetriebe
erzwungen wird, dann werden wir es zukünftig mit Ne-
benkosten zu tun haben, gegenüber denen die jetzigen ein
Klacks sind.


(Beifall bei der PDS)

Zum Wohngeld. Auch hierbei lasse ich alles Ober-

flächliche beiseite. Beim Wohngeld zeigt sich ein in ei-
nem Besorgnis erregenden Ausmaß steigender Trend. Das
ist so, seit es eingeführt wurde; seit Anfang der 90er-Jahre
gibt es einen besonders starken Knick nach oben. Da kann
man sagen: Es ist toll und wunderbar, wie der Staat hilft.
Man kann aber auch auf die Defizite gucken. Offensicht-
lich ist die Gesellschaft so gestrickt, dass immer mehr
Menschen das Wohnen nicht mehr aus eigenem Einkom-
men bestreiten können. Im Osten sind es 11 Prozent, im
Westen 7 Prozent. Das Spannende ist, dass das trotz einer
Wohnungsförderung passiert, deren Ziel es ist, bezahl-
bares Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung zu
sichern. Obwohl also Milliarden über Milliarden jahr-
zehntelang in die Förderung gegangen sind, sind die
Wohngeldausgaben rasant gestiegen und ein Ende ist
nicht abzusehen. Das heißt: Die Förderung des Woh-
nungsbaus hat offensichtlich ihr Ziel – bezahlbares Woh-
nen für breite Schichten – verfehlt. Heute müssen breite
Schichten zusätzlich über das Wohngeld gefördert wer-
den. Das ist ein Widerspruch in sich. Ich sage das so nach-
drücklich, damit Sie sich nicht in eine Reform des Sozial-
wohnungsbaus stürzen, ohne sich dieses Widerspruchs
bewusst zu sein.

Die Lage, meine Damen und Herren, ist sehr viel kriti-
scher, als es im Bericht zum Ausdruck kommt. Ich weiß,
dass Sie nicht gern auf meine Ratschläge hören. Ich gebe
Ihnen dennoch zum Schluss den Ratschlag: Reden Sie
sich die Welt nicht schön! Analysieren und problematisie-
ren Sie die realen Prozesse; denn nur so werden Sie zu ei-
ner sachgerechten und gerechten Politik kommen! Ein
ausreichender Wohnungsbestand ist immer noch der beste
Mieterschutz. Für den Fall, dass es so weit kommen sollte,
dass Sie mit Ihrer Politik in Richtung einer Verstetigung
steuern, möchte ich darauf hinweisen, dass das Mietrecht,
zu dem ich aus Zeitgründen nicht sprechen kann, dann
flankierend seinen Beitrag zum sozialen Wohnen leisten
muss.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416200
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort.

A
Achim Großmann (SPD):
Rede ID: ID1412416300
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wohngeld-
und Mietenbericht bietet immer die Chance – das haben
wir auch an dem gemerkt, was Herr Kansy hier vorgetra-
gen hat –, nicht nur über den Bericht selbst zu sprechen,
sondern auch ein bisschen Fazit dessen zu ziehen, was
wohnungs- und städtebaupolitisch in den letzten Jahren
geschehen ist. Ich denke, es macht Sinn, nicht nur über die
Zahlen zu sprechen – die Zahlen sind schon fast Vergan-
genheit –, sondern auch darüber zu reden, was nach die-
sem Wohngeld- und Mietenbericht auf der Tagesordnung




Christine Ostrowski

11933


(C)



(D)



(A)



(B)


steht und wie sich die Wohnungspolitik weiterentwickeln
wird.

Zunächst einmal muss man einiges zurechtrücken,
Herr Kansy. Sie haben gesagt, noch keine Regierung
hätte, was den Wohnungsbau anbetrifft, eine so glänzende
Ausgangsposition gehabt. Ich hatte heute Morgen die Ge-
legenheit, auf dem Verbandstag des Bundesverbandes
deutscher Wohnungsunternehmen genau diese Bilanz
aufzumachen, nämlich die Eröffnungsbilanz, die wir ma-
chen mussten, als wir die Regierung übernommen haben.
Wohngeld? – Nicht reformiert! Sozialer Wohnungsbau? –
Nicht reformiert! Überforderte Nachbarschaften? – Nicht
angepackt! Altschuldenhilfe-Gesetz? – Nicht novelliert!
Leerstand? – Kopf in den Sand gesteckt! Mietrecht? – In
der Schublade geblieben! Steuerliche Abschreibungen? –
Nach wie vor bei Luxusmodernisierungen möglich!

Das war die Eröffnungsbilanz, die wir aufmachen
mussten, als wir die Regierung übernommen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben dann relativ schnell begonnen, diesen Re-
formstau aufzudröseln und abzubauen. Wenn man sich die
Koalitionsvereinbarung einmal anschaut – man kann jetzt
die Halbzeitbilanz dieser Legislaturperiode ziehen –,
dann wird einem relativ schnell auffallen, was wir alles
abgearbeitet haben. Ich kann Ihnen das vorbuchstabieren
und möchte das auch bei den wichtigsten Punkten tun,
weil ich das für notwendig erachte.

Wir haben gesagt: Wir verstärken die Städtebauförde-
rung.Diese wird durch das Programm „Die soziale Stadt“
ergänzt, das für die Förderung von Stadtteilen, Innenstäd-
ten, Großsiedlungen und Stadtteilzentren mit besonderem
Entwicklungsbedarf gedacht ist. Dieses Programm haben
wir aufgelegt. Wenn man sich den nächsten Haushalt und
die damit zusammenhängende mittelfristige Finanzpla-
nung anschaut – das sind insgesamt sechs Jahre –, dann
wird man feststellen, dass wir zusammen mit der Kofi-
nanzierung der Länder und Gemeinden 1,8 Milliarden DM
für die Förderung benachteiligter Stadtteile zur Verfügung
stellen. Das ist ein großartiger Erfolg für eine Wohnungs-
und Städtebaupolitik in diesem Lande.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hinzu kommen noch die Mittel aus anderen Ressorts.
Das betrifft sowohl die Mittel der Bundesressorts als auch
die der Länderressorts und auch die Mittel der Europä-
ischen Union. Wir sorgen durch Vernetzung, wissen-
schaftliche Begleitung und „benchmarking“, dass die bis-
herigen Erfahrungen auch an die Stadtteile vermittelt
werden, die noch nicht unmittelbar in das Programm ein-
bezogen worden sind – immerhin gibt es schon 210 Pro-
jekte in 157 Gemeinden –, sodass auch diese Stadtteile die
Chance haben, von dem bisher gewonnen Fachwissen zu
profitieren und mit ihrer Arbeit anzufangen.

Der nächste Punkt betrifft den sozialen Wohnungs-
bau. Die alte Koalition hatte die Eckwerte überhaupt
nicht mit den Ländern abgesprochen. Wir sind den umge-
kehrten Weg gegangen: Wir haben uns zunächst mit den

Ländern zusammengesetzt und haben gesagt: So sehen
unsere Vorstellungen aus! Daraus haben sich nicht nur die
Eckwerte ergeben, sondern auch Zielvorstellungen ent-
wickelt.

Herr Kansy, Sie haben immer gefragt: Wo bleibt die
seit Jahren versprochene Reform des sozialen Wohnungs-
baus? Wir sind doch schon mitten in der wohnungspoliti-
schen Diskussion. Wir haben im vergangenen Dezember
die Eckwerte vorgelegt. Ich habe Ihnen darüber immer
Bericht erstattet. Im März hat die Arbeitsgruppe, die zu-
sammen mit den Ländern die Eckwerte zu Papier gebracht
hatte, ihre Arbeit beendet. Im Mai fand eine Sitzung der
Argebau, die Konferenz der Bauminister, statt. Ebenfalls
im Mai haben wir im Ausschuss gesagt: Jetzt arbeiten wir
unmittelbar an dem Gesetzentwurf. Wir werden Anfang
November einen entsprechenden Referentenentwurf vor-
legen und werden dann diese wichtige Reform auf den
Weg bringen.

Dass wir hinsichtlich der Finanzierung des sozialen
Wohnungsbaus noch nicht so weit gekommen sind, wie
wir kommen wollten, liegt an einer anderen Altlast, die
wir von Ihnen übernommen haben, nämlich an dem
Wohngeld, das zehn Jahre lang nicht reformiert worden
ist. Angesichts der Tatsache, dass der Staat 1 500 Milliar-
den DM Schulden hat und wir deshalb einen Konsolidie-
rungskurs verfolgen müssen, mussten wir uns entschei-
den, wo wir beginnen wollen. Wir mussten – das war
eindeutig – beim Wohngeld beginnen; denn tatsächlich
gab es nur noch – auch eine Hinterlassenschaft der alten
Regierung – 2 Millionen Wohnungen mit Sozialbindung.
Da wir den tatsächlichen Bedarf nicht allein durch Bau-
maßnahmen befriedigen können, mussten wir den Men-
schen, deren Einkommen aufgrund des nicht angehobe-
nen Wohngeldes de facto über den Einkommensgrenzen
lagen, deshalb keine Sozialwohnung bekamen und
dadurch wirklich sozial ungerecht behandelt wurden, die
Möglichkeit geben, eine vernünftige Wohnkaufkraft
nachzuweisen, damit sie auch eine Wohnung bekommen
können, die nicht in der Bindung ist. Deshalb stand die
Reform des Wohngeldes eindeutig auf Platz eins der Pri-
oritätenliste. Diese greift zum 1. Januar 2001.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Aber die Kürzungen im sozialen Wohnungsbau sind höher als Ihr Wohngeld!)


– Herr Kansy, da Sie die Kürzungen ansprechen, möchte
ich Ihnen vorrechnen: Sie haben in den letzten vier Jah-
ren, in denen Sie die Regierungsverantwortung hatten, die
Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 3,9 Milliar-
den DM auf 1,3 Milliarden DM gekürzt. Sie haben also
um 2,6 Milliarden DM gekürzt. Dafür sind Sie verant-
wortlich! Wir haben – das tut uns weh – die Mittel von
1,2 Milliarden DM auf 0,45 Milliarden DM – das sind
750 Millionen DM – gekürzt. Das ist schon ein kleiner
Unterschied.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ja, bei 1,3 Millionen!)


Die Leute merken, wer mit der Sense gekürzt hat. Wir sor-
gen zusammen mit den Finanzministern aller Bundeslän-




Parl. Staatssekretär Achim Großmann
11934


(C)



(D)



(A)



(B)


der dafür, dass durch die Reform, die wir jetzt auf Kiel
legen, wieder mehr Geld zur Verfügung steht.


(Beifall bei der SPD)

Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass wir die

Schwierigkeiten der Wohnungsbauunternehmen in den
neuen Bundesländern gut im Griff haben. Wir haben das
Altschuldenhilfe-Gesetz novelliert. Wir haben die
Rechtsverordnung nach § 6a AHG so weit ausgearbeitet,
dass wir sie bald in den Ausschuss geben können. Weitere
Einzelheiten kann ich mir ersparen, weil wir am Freitag
der letzten Sitzungswoche die Möglichkeit hatten, sehr in-
tensiv über das Problem des Wohnungsleerstands in den
neuen Bundesländern zu sprechen.

Fazit: Wir haben uns nach der sehr negativen Eröff-
nungsbilanz im Bereich des Wohnungs- und Städtebaus
auf den Weg gemacht, den Reformstau zu lösen. Wir ha-
ben beim Wohngeld, beim sozialen Wohnungsbau und
beim Wohnungs- und Städtebau in den neuen Bundeslän-
dern deutliche Fortschritte gemacht. Wir sind auf die
Halbzeitbilanz dieser Legislaturperiode sehr stolz.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416400
Jetzt hat der Kollege
Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Ronald Pofalla (CDU):
Rede ID: ID1412416500
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Mietrecht ist und bleibt
eines der unübersichtlichsten und am stärksten von ab-
weichenden Einzelfallentscheidungen geprägten Rechts-
gebiete. Kaum ein anderes Rechtsgebiet betrifft die Bür-
ger dabei so unmittelbar. Nahezu jeder wird in seinem
Leben mit den Wägbarkeiten, man müsste besser formu-
lieren: mit den Unwägbarkeiten dieser Materie konfron-
tiert. Insbesondere die Höhe der Mieten beeinflusst das
Leben und die Lebensführung eines Großteils der Bevöl-
kerung ganz direkt.

Der notwendig Spagat zwischen den Vermieter- und
den Mieterinteressen im Wohnraummietrecht macht eine
ausgewogene Neuregelung des Mietrechts besonders
schwierig. Sich hier nicht von Gruppeninteressen beein-
flussen zu lassen und eine wirklich gerechte Lösung zu
finden muss das Ziel sozialen Wohnraummietrechts sein.
Diesem Ziel werden nach unserer Überzeugung beide
vorliegenden Gesetzentwürfe nicht ganz gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Entwurf des Bundesrates über ein Zweites

Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der
Miethöhe, dessen Regelungsziel darin besteht, eine be-
schleunigte Mietpreisentwicklung bei Sozialwohnungen
im mittleren Preissegment zu verhindern, bevorteilt den
Mieter nach unserer Überzeugung zu stark. Dies wird ins-
besondere daran klar, dass die Kappungsgrenze lediglich
im Preisbereich unterhalb der Vergleichsmiete wirkt.

Die bisher niedrige Kappungsgrenze von 20 Prozent in
drei Jahren für den Wohnraum, der vor 1981 errichtet

wurde und dessen Quadratmeterpreis über 8 DM liegt,
macht das Heranführen billigen Wohnraums an die Ver-
gleichsmiete zu einem sehr langwierigen Unterfangen.
Der private Vermieter wird genötigt, mit Mieterhöhungen
möglichst an der Vergleichsmiete zu bleiben. Eine nied-
rige Kappungsgrenze fordert den Vermieter geradezu he-
raus, jede mögliche Mieterhöhung mitzunehmen, um nur
nicht von der Vergleichsmiete abgehängt zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn versäumt er – zum Beispiel aus persönlichen Grün-
den – an sich zulässige Mieterhöhungen über längere Zeit,
dann ist es für ihn äußert schwierig, wieder an die Ver-
gleichsmiete heranzukommen. Angesichts der moderaten
Mietpreisentwicklung – sie betrug im letzten Jahr 1,1 Pro-
zent; das haben wir gerade mehrfach gehört – spielt die
Kappungsgrenze in der Praxis nur eine geringe Rolle.
Hier mag es regionale Unterschiede geben, doch im
Großen und Ganzen ist eine Neuauflage der zum 1. Sep-
tember 1998 ausgelaufenen Regelung abzulehnen.

Auch der Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung
des Mietrechts der F.D.P.-Fraktion bevorteilt eine der
Interessengruppen zu stark. Im Falle dieses Entwurfes ist
dies natürlich die Vermieterseite; das kann nicht überra-
schen. Zwar fußt der Gesetzentwurf im Wesentlichen auf
den Vorschlägen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus
dem Jahre 1996/97, doch sind hier wesentliche Punkte des
Entwurfes aufgrund eines nicht gelungenen Interessen-
ausgleichs zwischen Mieter und Vermieter abzulehnen.
Zu nennen sind hier insbesondere die Einführung eines
allgemeinen, fristlosen, zu Gunsten des Vermieters zu
weit gehenden Kündigungsrechts und die Einführung ei-
ner zeitlich unbegrenzten Zulässigkeit der Staffelmiete,
die einem Missbrauch Tür und Tor öffnen könnte; auch
die vorgesehene Zulässigkeit der Indexmiete ohne Ge-
nehmigungspflicht durch die Landeszentralbanken in der
Neufassung des § 560 b BGB des Entwurfes erscheint
zumindest bedenklich.

Eine zwar mieterfreundliche, jedoch aus anderen
Gründen zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnende Regelung
des Gesetzentwurfs ist die Erweiterung des Eintritts-
rechts im Haushalt des Mieters lebender Personen bei
Versterben des Mieters. Dieses Eintrittrecht soll laut Ge-
setzentwurf für all diejenigen Personen gelten, die, ob un-
terschiedlichen Geschlechts oder nicht, zuvor auf Dauer
in einem Haushalt mit dem Mieter gelebt haben. Damit
ich nicht falsch verstanden werde, füge ich hinzu: Ich bin
nicht der Auffassung, dass diese Regelung in der Sache
falsch sei. Nur glaube ich, dass wir die Debatte über die-
sen Punkt nicht an dieser Stelle unter mietrechtlichen Ge-
sichtspunkten führen sollten, sondern im Zusammenhang
mit den mittlerweile schon in der Detailberatung befind-
lichen Entwürfen zur Frage gleichgeschlechtlicher Le-
bensgemeinschaften. Ich halte eine isolierte Debatte unter
mietrechtlichen Gesichtspunkten für falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anhand der letzten zwei von mir noch zu erwähnenden

Punkte möchte ich jedoch noch einmal die übertriebene
Vermieterfreundlichkeit des F.D.P.-Gesetzentwurfs auf-
zeigen. Da ist zum einen die Verkürzung des Kündi-
gungsschutzes nach Umwandlung der Mietwohnung in




Parl. Staatssekretär Achim Großmann

11935


(C)



(D)



(A)



(B)


eine Eigentumswohnung auf drei Jahre. Noch weiter geht
hier sogar die Regelung, der zufolge der Vermieter sofort
und fristlos kündigen kann, wenn er vergleichbaren
Wohnraum in der Nähe anbietet und die Umzugskosten
erstattet.

Zum anderen ist die Aufhebung des § 5 des Wirt-
schaftsstrafgesetzes vorgesehen, wodurch eine strafbare
Handlung bei Missbrauch der Vermieterstellung und
-rechte nur noch dann vorläge, wenn § 291 des Strafge-
setzbuches, Wucher, einschlägig wäre. Dies bedeutete
eine erhebliche Erhöhung der Eingriffsschwelle, durch
die wiederum dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet
würde.

Angesichts der eben angeführten zahlreichen Beden-
ken kann diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form
nicht zugestimmt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bevorzugung des Vermieters ist nach unserer Über-
zeugung unübersehbar. Ich weise hier noch einmal darauf
hin, dass ein ausgewogener Mittelweg gefunden werden
muss. Die grundsätzlich vorgesehene Vereinfachung und
bessere Transparenz, die durch die geplante einheitliche
Zusammenfassung des Mietrechts im BGB erreicht wird,
ist zu begrüßen.

Für meine Fraktion biete ich an, dass wir uns an den
Beratungen auch vor dem Hintergrund eines möglichen
Regierungsentwurfes konstruktiv beteiligen werden. Wir
werden allerdings einer einseitigen Bevorzugung der Ver-
mieter- oder der Mieterseite im Plenum des Deutschen
Bundestages keinesfalls die Zustimmung geben können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416600
Das Wort hat der Kol-
lege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., auf der
ersten Seite Ihres Antrags haben Sie Recht: Das Mietrecht
bedarf der Novellierung und Vereinfachung. Sie schrei-
ben:

Kein anderes Rechtsgebiet ist für weite Teile der Be-
völkerung von so großer Bedeutung für das tägliche
Leben wie das Mietrecht.

Richtig!
Mit der hohen Bedeutung des sozialen Wohnraum-
mietrechts geht jedoch bisher keine entsprechende
Überschaubarkeit, Transparenz und Verständlichkeit
einher.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Auch richtig!)

Richtig! Da sind wir uns absolut einig.

Vielmehr ist das Mietrecht unübersichtlich geglie-
dert und auf mehrere Gesetze verteilt.

Auch das ist richtig.
Diese gegenwärtige Zersplitterung des Mietrechtes
ist das Ergebnis jahrzehntelanger unsystematischer
Gesetzesänderungen.

Richtig!

(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Aber bald ist Ihre Redezeit abgelaufen! – Ulrike Flach [F.D.P.]: Können Sie nicht noch ein bisschen weitermachen? Wir finden das so schön!)


– Gut, Sie erinnern sich also.
Wer aber war in den letzten Jahren an der Regierung?

Sie hatten dies zusammen mit der CDU/CSU in den ver-
gangenen Legislaturperioden zu verantworten. Gerade
deswegen arbeitet die Regierungskoalition an einem
neuen Mietrecht. Gerade deshalb hat die Bundesregierung
über den Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, der
diesem Missstand endlich abhelfen soll.

Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie haben
aber meines Erachtens nicht mehr Recht, wenn Sie
schreiben:

Bei beiden Gesetzentwürfen
– also auch bei dem der Bundesregierung –

ist bereits jetzt zu erkennen, dass hier einseitig ziel-
gerichtet die Rechte des Vermieters geschwächt und
die Rechte des Mieters gestärkt werden sollen.

Gerade bei einer Rechtsproblematik, die im täglichen Le-
ben in die Interessen- und Betroffenheitssphäre vieler
Bürger weitreichend eingreift,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Die der Bürger, die Häuser haben!)


ist zwingend geboten, die beiderseitigen Interessen abzu-
wägen. Dies tut der Entwurf der Bundesregierung.

Interessanterweise kommen auch Sie in Ihrem Entwurf
in einer Reihe von Punkten zu ähnlichen Regelungen wie
der Regierungsentwurf. Dort aber, wo soziale Gesichts-
punkte eigentlich höherrangig zu werten wären, stehen
bei Ihnen wirtschaftliche Interessen manchmal doch zu
sehr im Vordergrund. Namentlich möchte ich hier benen-
nen – ich fand es interessant, dass auch die Kollegen von
der CDU zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind –:

Erstens: die völlige Abschaffung der Kappungsgren-
zen. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie sich in
Ihrer Fraktion selber nicht ganz einig waren; denn in der
Überschrift Ihres § 561 steht interessanterweise noch das
Wort „Kappungsgrenze“. Es mag sein, dass Mieten ohne-
dies durch die örtlichen Vergleichsmieten nach oben ge-
deckelt sind; dennoch sollten Mieter in den wenigen Fäl-
len, in denen die Vergleichsmieten um mehr als ebendiese
Kappungsgrenze höher liegen, vor zu hohen Preissprün-
gen geschützt werden.


(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und der Abg. Rita Streb-Hesse [SPD])





Ronald Pofalla
11936


(C)



(D)



(A)



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Zweitens: Erleichterung der Verwertungskündigung,
§ 575 Ihres Entwurfs. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
an diesem Punkt sollten Sie sich tatsächlich noch einmal
überlegen, ob Sie das wirklich wollen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn nach dem Wortlaut Ihres Entwurfs genügt jeder,
aber wirklich jeder noch so kleine Vorteil, um Mieter auf
die Straße zu setzen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Ach, das ist ja Quatsch! Was soll denn das?)


Wollen Sie wirklich die Voraussetzung des erheblichen
Nachteils entfallen lassen?

Drittens: Aushöhlung des Mieterschutzes bei Um-
wandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen.
Es gibt wirklich Städte mit besonders hohem Mietwoh-
nungsbedarf – die Auswahl können wir getrost den Län-
dern überlassen –, in denen drei Jahre viel zu kurz sind.

Viertens: Aufhebung des § 5 des Wirtschaftsstrafgeset-
zes. Die darin vorgesehene Sanktion gegenüber unver-
hältnismäßig hohen Mieten hat in erster Linie eine wich-
tige Appell- und Präventivfunktion und entfaltet eine
unverzichtbare Schutzfunktion im Einzelfall. Ich meine,
dabei sollten wir es wirklich belassen.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich verstehe natürlich, dass Sie vorrangig die Interes-
sen Ihrer Hauptwählerschichten vertreten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist doch Quatsch!)

Soziale Aspekte lässt der Antrag in manchen Punkten
doch vermissen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416700
Frau Kollegin,
„Quatsch“ ist nicht so ganz parlamentarisch.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber auch nicht unparlamentarisch!)


Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sie werden sicherlich Verständnis dafür ha-
ben, dass ich den Regierungsentwurf für den ausgewoge-
neren und sachgerechteren halte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412416800
Zum Abschluss hat
der Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1412416900
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Etwas ist natürlich erstaunlich: Es wurde sehr viel
über den Regierungsentwurf gesprochen, der heute ei-
gentlich noch gar nicht zur Debatte steht.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)


Herr Funke, Sie wissen, er ist auf einem guten Wege.
Er geht den verfassungsgemäß vorgezeichneten Weg.
Jetzt nimmt der Bundesrat Stellung. Der Bundesrat hat
sich mit diesem Entwurf bekanntlich vor kurzem be-
schäftigt, mit zum Teil sehr überraschenden Ergebnissen,
die wir einmal gemeinsam analysieren sollten. Der Ge-
setzentwurf wird dann, wenn der Bundesrat Stellung ge-
nommen hat, dem Bundestag zugeleitet. Danach wird die
Debatte in den zuständigen Gremien, in den Ausschüssen,
beginnen. Ich finde, es ist durchaus erfreulich, dass diese
Diskussion bereits jetzt begonnen hat. Wir können uns ei-
gentlich nichts Besseres wünschen, als dass frühzeitig und
in aller Öffentlichkeit über ein wichtiges Thema diskutiert
wird. Deswegen bin ich sehr froh, dass unser Gesetzent-
wurf schon in der Debatte ist.

Dass wir damit übrigens einem Auftrag des Bundesta-
ges folgen, den er 1974 formuliert hat, ist ebenfalls be-
merkenswert. Die Jubiläumszahl von 25 Jahren, ist schon
überschritten. Dass diese Bundesregierung es geschafft
hat, innerhalb einer, wie ich finde, kurzen Zeit einen Ge-
setzentwurf vorzulegen, ist durchaus beachtlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir haben ja heute zwei
mietrechtliche Anträge: einmal den Gesetzentwurf des
Bundesrates, zum anderen den Gesetzentwurf der F.D.P.

Bei der Vorlage des Bundesrates fällt mir auf, dass hier-
mit eigentlich wieder ein Rückfall in eine alte Regelung
vorgeschlagen wird, nämlich die Wiedereinführung einer
gespaltenen Kappungsgrenze, die wir bis September
1998 hatten. Mit Verweis auf den Regierungsentwurf
kann ich da nur sagen: Wir halten eine unterschiedliche
Kappungsgrenze bei Altbaubeständen, die entweder vor
oder nach einem bestimmten Jahr errichtet wurden, nicht
für angemessen, sondern aus Gründen der Vereinfachung,
Rechtssicherheit und Klarheit muss es eine einheitliche
Kappungsgrenze geben.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist richtig! Es muss nur die richtige sein!)


Dazu werden wir eine Grenze von 20 Prozentpunkten vor-
schlagen.


(Beifall bei der SPD)

Ein anderer Punkt ist, dass nach unserem Konzept das

Miethöhegesetz ins BGB einbezogen werden soll. Das
dient der Klarheit, der Verständlichkeit und der Transpa-
renz des Mietrechtes. Ich glaube, dass das ein richtiger
Ansatz ist. Es ist in der Tat so, dass wir von einer Verein-
fachung und Klarstellung des Mietrechtes erwarten, dass
es wesentlich weniger Rechtsstreitigkeiten als bisher gibt.
Es gibt rund 300 000 Mietrechtsstreitigkeiten pro Jahr.
Wenn es uns gelingt, einen Teil davon – ich bin da nicht
so pessimistisch – zu vermeiden, ist das schon ein Erfolg
einer Mietrechtsnovelle.

Mit dem Entwurf des Bundesrates kann sich die Bun-
desregierung deshalb natürlich nicht anfreunden. Es wird
in unserem Gesetzentwurf zudem zu einer Einbeziehung
des Miethöhegesetzes in das BGB kommen.




Helmut Wilhelm (Amberg)


11937


(C)



(D)



(A)



(B)


Nun zum Antrag der F.D.P. – dazu wurde schon einiges
gesagt –: Es ist richtig, dass dieser Entwurf auf den Er-
gebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe fußt. Ohne ir-
gendeinen Anflug von Unbescheidenheit kann man sa-
gen: Es ist gut, dass man sich der damaligen Ergebnisse
dieser kundigen Kommission bedient. Das tun ja alle: der
Bundesrat, die Bundesregierung und auch einzelne Frak-
tionen. Hier ist sicher eine sehr gute Vorarbeit geleistet
worden. Aber es kommt auch darauf an, wie man diese Er-
gebnisse fortschreibt und wo Akzente gesetzt werden. Bei
Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., werden
sie einseitig zugunsten der Investoren gesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern hat der Entwurf nicht die soziale Symmetrie, die
Sie sonst stets von uns einfordern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen die Kappungsgrenze ersatzlos streichen.
Diese Methode können wir nicht gutheißen. In weiten Be-
reichen gibt es sicherlich einen entspannten Mietmarkt.
Aber gerade dort, wo der Mietmarkt noch angespannt ist,
nämlich in den Großstädten, sind noch immer erhebliche
Sprünge bei den Mieten von Wohnungen festzustellen, die
aus der Mietpreisbindung herausfallen. Diese können
leicht 20 oder 30 Prozent betragen, ohne dass sie die
ortsübliche Vergleichsmiete erreichen. Hier ist die Kap-
pungsgrenze ein Regulativ und hat auch einen gewissen
Appell-Effekt. Das will ich nicht verschweigen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412417000
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie nun eine Zwischenfrage?

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1412417100
Ja, natürlich.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412417200
Bitte schön, Frau Kol-
legin.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412417300
Herr Staatssekretär, ich wehre
mich als F.D.P.-Bundestagsabgeordnete dagegen, dass Sie
die gleiche Behauptung, wie sie auch dauernd aus dem
Kreise Ihrer Fraktion kommt, aufstellen, nämlich wir
würden nur die „Reichen“ berücksichtigen. Ich möchte
Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob nicht auch Sie mit mir
der Meinung sind, dass wir die Interessen der Kapitalan-
leger auch auf den Mietwohnungsbau lenken sollten. Die-
ses Interesse verfolgen wir mit unserem Entwurf. Es nützt
nämlich den Wohnungssuchenden überhaupt nichts, wenn
die Kapitalanleger keinerlei Interessen haben, ihr Geld in
den Mietwohnungsbau zu stecken. Wenn Sie selber ein-
mal in diesem Bereich nicht auf der Seite der Mieter, son-
dern auf der anderen Seite betroffen sein würden, wüssten
Sie, dass es in diesem Bereich nicht nur positive Beispiele
gibt. Das kann ich Ihnen sagen.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1412417400
Frau Kollegin, wenn Sie zugehört
haben,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das habe ich!)

dann wissen Sie, dass ich kritisiert habe, dass dieser Ent-
wurf einseitig zugunsten der Investoren formuliert ist.
Das ist an dem Beispiel der Kappungsgrenze deutlich zu
erkennen.

Es kommt in der Tat darauf an, dass wir eine ausgewo-
gene Regelung finden.


(Ina Lenke [F.D.P.]: So ist es!)

Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, dass unser Entwurf so-
wohl von der Mieterseite als auch von einem Verband wie
Haus & Grund kritisiert wird, dann können Sie erkennen,
dass es sich um eine ausgewogene Regelung handelt, mit
der wir versuchen, auch die Interessen der Wohnungsei-
gentümer und der Grundeigentümer, die wir nicht ver-
schweigen wollen und die wir nicht negieren können, zu
berücksichtigen.

Sie wissen, dass wir etwa bei der Frage der Moderni-
sierungsumlage einen besonderen Wert gerade auf die In-
vestitionsfähigkeit der Wohnungsbauunternehmen gelegt
haben. Deswegen behalten wir auch mit dem Regierungs-
entwurf die bisherige Regelung bei.

Wir werden einen Entwurf vorlegen, über den wir in
diesem Hause noch lang und breit diskutieren werden. Ich
lade Sie alle ein, sich an diesem Diskussionsprozess zu
beteiligen.

In diesem Sinne: Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412417500
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/3070, 14/871 und 14/3896 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Weiterhin wird vorgeschlagen, den Entschließungsan-
trag auf Drucksache 14/4248 zu überweisen zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Rechts-
ausschuss. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Johannes Singhammer, Horst Seehofer, Karl-Josef
Laumann, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätig-
keit
– Drucksache 14/3778 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Sportausschuss




Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
11938


(C)



(D)



(A)



(B)


Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.


Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1412417600
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute
diskutieren wir in erster Lesung den von der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines Geset-
zes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit.

Ehrenamt ist gelebte Demokratie. Es basiert auf Frei-
willigkeit, Gemeinwohlorientierung und ist nicht auf ma-
teriellen Gewinn ausgerichtet. Auf diese Kriterien hat sich
der Deutsche Bundestag bei der Einberufung der En-
quete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen En-
gagements“ 1999 parteiübergreifend verständigt.

Es gibt in Deutschland über 2,5 Millionen offiziell be-
kannte ehrenamtlich Tätige. Darüber hinaus gibt es ein
Millionenheer von Menschen, die sich sozial, kulturell
oder ökologisch für Gotteslohn und gegen eine geringe
Aufwandsentschädigung engagieren.

Ein Schlag gegen das Ehrenamt ist aber die neue Rege-
lung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

So werden die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Feuerwehr,
in Sportvereinen, in den Kirchen und sogar die Tätigkeit
der Versicherungsältesten immer öfter als sozialversiche-
rungspflichtig eingestuft. Das Ehrenamt und den Bezug
einer pauschalen Aufwandsentschädigung mit einer be-
ruflichen Tätigkeit gleichzusetzen ist der Gipfel des Un-
sinns rot-grüner Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Es geht nämlich hierbei nicht um Gewinnerzielung und
nicht um den Verdienst für den Lebensunterhalt. Es geht
vielmehr darum, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Frei-
zeit, ihr Talent und ihr Wissen einbringen, um sich in der
Gemeinde zu engagieren. Dieses Engagement bestraft die
Bundesregierung mit einem Wust an Bürokratie und Son-
derabgaben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir von der CDU/CSU wollen eine klare Abgrenzung

zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit. Wir wol-
len das Ehrenamt stärken und nicht in bürokratischem
Wust ersticken.


(Adolf Ostertag [SPD]: 16 Jahre Stillstand!)

Wir wollen den Missbrauch bei den Billigjobs und nicht
das Ehrenamt bekämpfen und wir wollen durch die Auf-
wertung des Ehrenamtes die kulturelle Vielfalt unserer
Vereine fördern.

Mit unserem Gesetzentwurf zur Förderung ehrenamt-
licher Tätigkeit stehen wir an der Seite der Menschen, die
sich täglich für das Ehrenamt engagieren.


(Zuruf von der SPD: Papierkorbantrag! – Franz Thönnes [SPD]: Und gaukeln ihnen Unmögliches vor!)


Wir wollen die Versöhnung von Ehrenamt und Beruf.
Dazu gehört aber auch, die Unterschiede klarzumachen.

Auch für die Unternehmen und die Verwaltungen sind
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zusätzlich eh-
renamtlich aktiv sind, ein Aktivposten, ein Gewinn an so-
zialer Kompetenz,


(Peter Dreßen [SPD]: Jawohl!)

an Teamfähigkeit und an Zuverlässigkeit. Es sind in der
Regel diejenigen, die auch im Beruf hoch motiviert arbei-
ten und engagiert sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer Übungsleiter in einem Sportverein ist, kann bei ent-
sprechendem Fachwissen auch eine Abteilung oder eine
Gruppe in einem Betrieb leiten, weil er durch die tägliche
Praxis gelernt hat, Menschen zu motivieren und anzure-
gen.

Wir brauchen die großen sozialen Netze, wir brauchen
aber auch die kleinen Netze, die Netze vor Ort. Sie geben
der Solidarität in unserer Gesellschaft ein Gesicht, einen
Namen; ja, sie sorgen für die soziale Wärme in unserem
Land, ohne die eigentlich nichts geht. Wirtschaft und so-
ziales Engagement stehen nicht gegeneinander; sie be-
dingen einander. Das sollte unsere gemeinsame Botschaft
aus dieser ersten Lesung sein.

Das Ehrenamt darf nicht durch einen Wust an bürokra-
tischen Regelungen überflutet werden. Nach dem Ord-
nungsprinzip der christlichen Soziallehre, der Subsidia-
rität, hat die kleine Einheit Vorrang vor der nächst-
größeren Einheit. Kommt private Initiative vor staatlicher
Initiative, ist jedoch der Staat zur Hilfe zur Selbsthilfe ver-
pflichtet, wenn sie benötigt wird.

Die rot-grüne Bundesregierung hat hier etwas falsch
verstanden. Sie leistet keine Hilfe zur Selbsthilfe. Sie
praktiziert mit ihren neuen bürokratischen Reglementie-
rungen Hilfe zur Abhilfe des Ehrenamtes.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn!)


Die Gleichsetzung von pauschalen Aufwandsentschä-
digungen für Ehrenämter mit kommerziellen Einnahmen
ist ein Irrweg. Sie geben den Millionen Ehrenamtlichen
Steine statt Brot.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie rauben ihnen wertvolle Zeit, in der sie sich mit dem
Finanzamt oder den Sozialversicherungsträgern abgeben
müssen, und Sie rauben ihnen die Kraft, die sie besser für
das Gemeinwohl als zur Abwehr bürokratischer Fesseln
einsetzen sollten.




Vizepräsidentin Anke Fuchs

11939


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn Sie schon auf diesem Irrweg weitergehen wol-
len, dann müssten Sie konsequenterweise von den Sport-
vereinen den Mutterschutz für Übungsleiterinnen ein-
fordern. Rot-Grün verwischt die natürlichen Grenzen
zwischen dem Ehrenamt und einem normalen Beschäfti-
gungsverhältnis. Damit schaden Sie dem Ehrenamt. Es ist
gerade für einen Arbeitnehmervertreter schwer nachvoll-
ziehbar, wieso im Rahmen der Steuerreform große Kapi-
talgesellschaften privilegiert werden, während im Sozial-
versicherungsrecht und teilweise auch im Steuerrecht
kleine Zeitungsboten, die ihr Taschengeld aufbessern
wollen, und Ehrenamtliche mit der vollen Beitrags- und
Steuerkeule getroffen werden.


(Zurufe von der SPD: Zeitungsboten sind auch ein Ehrenamt? – Zeitungsboten? Ein neues Ehrenamt?)


Ich frage: Wie selbstvergessen ist die heutige SPD, dass
sie diesen Kurs der Umverteilung von unten nach oben
einfach nur abnickt?


(Peter Dreßen [SPD]: 16 Jahre Chaos und Schulden und sonst nichts!)


Ich fordere Sie auf: Stellen Sie die pauschale Auf-
wandsentschädigung für Ehrenamtliche generell von der
Sozialversicherungspflicht und der Lohnsteuer frei. Be-
enden Sie die schreiende Ungerechtigkeit, die Sie mit der
Neuordnung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-
nisse den Millionen ehrenamtlich Tätiger angetan haben.
Das Beispiel der Enquete-Kommission „Zukunft des Bür-
gerschaftlichen Engagements“ zeigt doch, dass eine
parteiübergreifende Verständigung über die Kriterien der
Abgrenzung des Ehrenamtes zu einem normalen Be-
schäftigungsverhältnis möglich ist.

Zu einer solchen Gemeinschaft will der heutige Antrag
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion anregen.


(Franz Thönnes [SPD]: Dann macht doch nicht einen solchen Antrag! Dann wartet die Beratungen ab!)


Gehen Sie mit uns gemeinsam diesen Weg, um das Ehren-
amt in Deutschland wieder zu stärken!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Keinen Irrweg! – Niemals!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412417700
Das Wort hat nun die
Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1412417800
Liebe Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Herr Kollege Strebl, ich habe die
Vermutung, dass Sie jedes Thema nach folgender Me-
thode angehen: Der Elefant hat einen Rüssel und dieser
Rüssel sieht aus wie ein Wurm, wobei es Spulwürmer, Re-
genwürmer und sonstige Würmer gibt. Denn Sie fangen
immer ganz groß an und landen dann ständig bei den 630-
Mark-Verhältnissen. Das ist allmählich ein bisschen ein-
fältig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Was hat das jetzt mit dem Elefanten zu tun?)


Ich würde gerne bei dem Thema bleiben, das wir ei-
gentlich zu behandeln haben. Sie haben heute einen Ge-
setzentwurf vorgelegt, mit dem die Aufwandsentschädi-
gungen, die an ehrenamtlich Tätige gezahlt werden, von
der Sozialversicherungspflicht freigestellt werden sollen.
Die Bayern haben bereits vorgegriffen und im Juni dieses
Jahres im Bundesrat einen gleich lautenden Gesetzent-
wurf eingebracht.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich angesichts des
Mengenproblems und der Vielfältigkeit des ehrenamtli-
chen Engagements bewusst sind, welche Konsequenzen
Ihr Gesetzentwurf hat und was er vor allem auch finan-
ziell bedeuten würde. Im Gegensatz zu vielen Behaup-
tungen sind wir nicht auf dem Weg zu einer Gesellschaft
von „Ichlingen“. Vielmehr gibt es bei uns in der Bundes-
republik sehr viele bürgerschaftlich engagierte Menschen
– auch Sie kennen die Zahlen –: 34 Prozent der Bevölke-
rung in der Bundesrepublik sind in irgendeiner Form eh-
renamtlich engagiert. Das sind, wenn man dies hochrech-
net, 22 Millionen Bürgerinnen und Bürger.

Diese sind organisiert in Vereinen, Verbänden, Ge-
werkschaften, Parteien, Kirchen, in religiösen Vereini-
gungen, Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekten wie
dem der lokalen Agenda und in der Stadtteilplanung.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Feuerwehren haben Sie vergessen!)


– Moment, dazu komme ich noch. – Sie nehmen öffentli-
che Ämter wahr, sind Gemeinderäte, Stadträte, Schöffen
und Arbeitsrichter oder übernehmen Ämter in der Selbst-
verwaltung des Arbeitsamtes und der Krankenkassen, bei
der Feuerwehr und anderen traditionellen Formen der
Vereinsarbeit. Es gibt Menschen, die sich im Sport enga-
gieren, die einen Gymnastikkurs oder eine Fußballkinder-
abteilung leiten, die für das Vereinsfest Kuchen backen
oder Prüfungen für das Deutsche Sportabzeichen abneh-
men.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben die Statistik auswendig gelernt!)


Oder es sind Menschen, die sich um ihre Kinder küm-
mern. Dies sind Eltern, Väter oder Mütter, die in den
Schulen oder in den Kindergärten Elternarbeit überneh-
men, Fördervereine gründen und sogar die Schulkantine –
meistens handelt es sich dabei um Frauen – ehrenamtlich
betreiben. Dies geht noch weiter: zum Beispiel die
Schatzmeisterin im Seniorenverein. Man kann diese
bunte Aufzählung ewig weiterführen und in diesem Zu-
sammenhang gibt es auch kein Nord- und Südgefälle.

Was Sie und wir alle nicht tun dürfen – dies sollte uns
allen klar sein –, ist, dieses Engagement sozusagen als
Notstromaggregat für die Erwerbsgesellschaft zu miss-
brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Matthäus Strebl
11940


(C)



(D)



(A)



(B)


Denn oft wird so vorgegangen, dass wir angesichts des-
sen, dass wir zu wenig Geld haben, entstehende Bedürf-
nisse über das Ehrenamt oder irgendwelche sonstige
Tätigkeiten befriedigen und dass wir nicht für die Schaf-
fung entsprechender Arbeitsplätze sorgen.

Ein Amerikaner – der müsste auch der CDU/CSU
geläufig sein – hat unser reges Treiben in dieser Land-
schaft einmal so beschrieben: Die deutsche Gesellschaft
ist wie ein dreibeiniger Hocker, dessen Beine der
marktwirtschaftliche Bereich, der staatliche Bereich und
der sozial-gemeinnützige Bereich sind.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bei Ihnen wird der staatliche immer größer!)


Das erste Bein schafft wirtschaftliches Kapital, das zweite
öffentliches und das dritte soziales Kapital. Bürger-
schaftliches Engagement ist die zentrale Quelle dieses
sozialen Kapitals, das wir schützen, pflegen und fördern
müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sollten!)


– Tun wir. Dazu komme ich noch.
Wir freuen uns über Signale aus den Chefetagen – dies

möchte ich angesichts dessen, dass dieser Zuruf aus Ihrer
Ecke kam, besonders hervorheben –, die, an sich selbst
gerichtet, besagen – das konnte man in der „Wirtschafts-
woche“, im „Spiegel“ und in der „Zeit“ nachlesen –, die
Wirtschaft müsse Flagge zeigen, wenn es um bürger-
schaftliches Engagement in Unternehmen geht. Dort setzt
sich allmählich die Einsicht durch: Gutes tun schadet
nicht, sondern lohnt und rechnet sich sogar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Inzwischen sind die Verbände, also BDI, BDA und
DIHT, sogar so weit gegangen, dass sie gemeinsam einen
Preis spendieren, mit dem Unternehmen ausgezeichnet
werden sollen, die sich im eigenen Betrieb und allgemein
um bürgerschaftliches Engagement kümmern.

Jetzt noch eine Bemerkung dazu, wie ernst es uns als
SPD ist, bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Wir
haben es bereits unter Beweis gestellt. Sie haben 16 Jahre
lang wenig getan. Ich jedenfalls habe nichts davon gehört.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie haben sich heftigst gewehrt gegen jede Form der Ehrenamtlichkeit! Das ist die Wahrheit!)


In dieser Zeit war ich selber noch nicht in diesem Hohen
Hause, sondern ehrenamtlich und bürgerschaftlich unter-
wegs.

Was haben wir denn getan? Wir haben die Übungslei-
terpauschale um 50 Prozent angehoben. Jetzt beträgt sie
3 600 DM.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Fragen Sie erst mal, was Sie schlechter gemacht haben!)


Wir haben auch den Personenkreis erweitert. Außerdem
– das ist an Ihnen irgendwie vorbeigegangen – ist mit die-
ser Steuerfreiheit zugleich auch die Sozialversicherungs-
freiheit verknüpft worden. Insgesamt macht das 300 DM
aus.

Wir haben im Steuerrecht wesentliche Erleichterungen
für die Gründung von Stiftungen geschaffen.

Wir haben endlich erreicht, dass Spendenbescheini-
gungen ausgestellt werden dürfen – wobei mich etwas
verwundert, dass die Vereine sich jetzt beklagen, dass wir
das tun, was sie seit 20 Jahren fordern.

Wir können inzwischen wieder Selbsthilfegruppen im
Gesundheitswesen fördern. Sport – in den Reihen der
CDU/CSU sind viele Vertreter des Sports – kann inzwi-
schen wieder als Prävention gefördert werden.

Wir haben hier ein Bündnis für das Ehrenamt einge-
bracht, das den Interessen der verschiedenen Vereine und
Verbände Rechnung trägt. Die Bundesregierung wird
nächstes Jahr, im „Internationalen Jahr der Freiwilligen“,
eine große Kampagne durchführen, unterstützt auch von
uns selbst.

Außerdem haben wir die Enquete-Kommission „Zu-
kunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ einge-
setzt. Die Enquete-Kommission hat sich mit dieser
schwierigen Materie auseinander zu setzen und politische
Strategien zu entwickeln, wie wir dem freiwilligen,
gemeinwohlorientierten, bürgerschaftlichen Engagement
auf die Sprünge helfen und die notwendigen steuerrecht-
lichen, sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen Rahmen-
bedingungen schaffen können. Wir werden dann auf
Grundlage dieser Arbeit die entsprechenden Handlungs-
empfehlungen formulieren. Man muss vielleicht auch ein
bisschen mehr Zeit und Intellekt investieren, damit wir ein
vernünftiges Gesetz in den verschiedensten Ebenen ha-
ben. Wir wollen ein solides Konzept. Das erfordert viel
Arbeit, viel Gründlichkeit und auch etwas Geduld. Dieser
Aufgabe wollen wir uns stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Vorher machen Sie erst einmal alles platt!)


– Nein, nein. So ist es nicht.
Ich bin bei den Feuerwehren und bei den Sportvereinen

unterwegs. Wenn ich dort vermittle, dass wir eine solide
Lösung wollen, dann wird das mitgetragen.

Wir hatten diese Woche ein Gespräch mit Vertretern
der kommunalen Spitzenverbände in Baden-Württem-
berg. In dem Gespräch haben Gemeinderäte und ehren-
amtliche Bezirksvorstände gesagt – sie sind nämlich auch
betroffen –: Macht lieber ein schlüssiges Konzept, keinen
Schnellschuss. Ansonsten tauchen irgendwann an anderer
Stelle wieder Probleme auf. So einfach können Sie das
nicht machen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie können ja wieder nachbessern!)


Wir kennen die Diskussionen und die Klagen, dass die
ehrenamtlich Tätigen die Steuer- und Sozialversiche-
rungspflicht als Belastung empfinden. Wir wollen dies




Ute Kumpf

11941


(C)



(D)



(A)



(B)


aber umfassend, konkret und seriös regeln. Ihr Gesetzent-
wurf hat Schwachstellen und ist ein Schnellschuss. Ich
denke, wir wollen kein Gesetz, das durch die Hintertür
über das Ehrenamt wieder sozialversicherungsfreie Be-
schäftigung ermöglicht. Diese Gesetzeslücke haben wir
gerade mit dem 630-Mark-Gesetz geschlossen. Wir wol-
len nicht wieder eine Fallgrube für nicht abgesicherte
Beschäftigungstypen ausheben.

Wir wollen auch zur Kenntnis geben – es ist erfreulich,
dass Sie das inzwischen auch selbst in Ihrem Antrag zur
Kenntnis genommen haben –: Die Vorstellung, das Eh-
renamt bedeute im Kern unentgeltliche Arbeit, hat sich
gewandelt. Die Zahlung eines geringen – ich betone aus-
drücklich: geringen – Ausgleichs für den erlittenen Ver-
lust an Freizeit wird in manchen Bereichen des freiwilli-
gen Engagements als Selbstverständlichkeit angesehen.
Dabei fällt auf, dass anscheinend vor allem die Männer er-
warten, dass man dabei entsprechend entlohnt wird. Es
wird dagegen oft als ganz selbstverständlich angesehen,
dass Engagement von Frauen unentgeltlich zu leisten ist.
Es gibt aber nicht nur den Unterschied zwischen Männern
und Frauen, sondern es gibt auch den Unterschied zwi-
schen Nord und Süd oder, je nach Bundesland, Ehrenamt
„light“ und Ehrenamt „S-Klasse“.

Jetzt kommen wir zu den Feuerwehren, wegen derer
das Ganze anscheinend erst ins Rollen gekommen ist. In
Schleswig-Holstein zum Beispiel werden, je nach Auf-
gabe, einer Feuerwehrführungskraft Entschädigungen
zwischen 95 und 925 DM gezahlt.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

In Bayern rechnet sich ein solches Amt anscheinend
mehr: Für entsprechende Tätigkeiten erhält ein ehrenamt-
licher Feuerwehrmann in Bayern mehr als das Doppelte,
nämlich 210 bis 2 000 DM.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Die Diskrepanz ist auffallend. Stuttgart ist ganz beschei-
den: Dort bekommen die ehrenamtlichen Feuerwehrmän-
ner bloß 12 DM pro Stunde und entsprechend auch einen
geringeren Beitrag über das Jahr gerechnet.
Das heißt: Manche Landesregierung müsste sich doch
tatsächlich fragen, welchen Begriff sie vom Ehrenamt hat
und was sie wirklich regeln möchte.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Rede
vor dem Deutschen Feuerwehrtag am 24. Juni dieses Jah-
res erklärt,


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Eine Woche später hat er das Gegenteil erklärt!)


dass Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätig-
keiten künftig bis zu einer bestimmten Höhe steuer- und
sozialversicherungsfrei gestellt werden. Das hat er gesagt.
Dabei hat er aber auch betont, dass eine solide, tragfähige
Lösung wichtiger sei als eine schnelle Lösung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Recht hat er!)


– Genau, danke.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Aber bisher ist gar keine Lösung da!)


– Herr Riegert, er hat aber nicht in Aussicht gestellt, dass –
was mancher im Sportverein gerne erzählt und was dann
später als „Lübecker Erklärung“ irgendwo kursiert – das
Ehrenamt generell von der Sozialversicherungspflicht
auszunehmen ist.

In der Enquete-Kommission haben wir zu genau die-
sem Problem ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.
Daher wundert es mich schon – denn es sind einige Mit-
glieder der Enquete-Kommission anwesend, zum Bei-
spiel Frau Dött; Herr Riegert, Sie sind ja selbst Stellver-
treter –, dass Sie jetzt nicht abwarten, zu welchem
fundierten Ergebnis wir gelangen und zu welchen Rege-
lungsvorschlägen wir aufgrund der Zusammenstellungen,
auch von Professor Igel, schließlich kommen. Das können
Sie offenbar nicht abwarten, weil es Ihnen vielleicht un-
bequem ist.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir wollen das aber abwarten. Denn wir geben nicht um-
sonst Hunderttausende von DM für ein Rechtsgutachten
aus.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Was erkennbar falsch ist, sollte man gleich abschaffen!)


Man braucht schon gewissen Sachverstand, um in diesem
Bereich Arbeitsrecht, Sozialrecht, Zivilrecht und Europa-
recht unter einem Dach abwickeln zu können.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: In diesem Fall brauchen wir kein Gutachten!)


Nun komme ich ganz konkret zu Ihrem Gesetzentwurf,
damit Sie nicht sagen können, wir machten es uns zu
leicht. Ich nenne einfach ein paar Beispiele für Ihre hand-
werklichen Mängel: Sie wollen in Ihrem Entwurf durch
schriftliches Verlangen möglich machen, dass die Tätig-
keit des ehrenamtlich Tätigen als Beschäftigung behan-
delt wird. Es ist ganz neu, dass man selbst bestimmen
kann, was eine Tätigkeit und was eine ehrenamtliche
Tätigkeit ist.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gab es im Sozialversicherungsrecht bislang noch nie.

(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Bisher gab es auch noch keine Sozialversicherungspflicht für diese Menschen!)


Soll man sich nun darüber freuen? Welche Vorstellungen
haben Sie hierzu? Ich weiß nicht, wie Sie schäumen wür-
den, wenn sich die Gewerkschaften zu Wort meldeten.

Ihr Gesetzentwurf soll es ferner ermöglichen, dass die
Länder bestimmen, was Ehrenamt ist und wer als ehren-
amtlich Tätiger einzustufen ist. Ich kann mir vorstellen,
welch inflationäre Ausmaße die Definition des Ehrenam-
tes und die entsprechende Abrechnung als ehrenamtlich
Tätiger dadurch je nach Bundesland annehmen. Das Glei-
che gilt für die Koppelung der Höhe des Entgelts an das
Vorliegen einer Beschäftigung. Sie haben wahrscheinlich




Ute Kumpf
11942


(C)



(D)



(A)



(B)


noch immer nicht begriffen, dass eine Beschäftigung da-
von abhängt, ob Weisungsgebundenheit und die
Eingliederung im Betrieb vorliegen. Dabei geht es weni-
ger um die Höhe des Entgelts. Auch hierzu müssten Sie
vielleicht noch ein paar Nachhilfestunden nehmen, um
dies richtig einordnen zu können.

Ich frage mich: Wie wollen Sie einer Verkäuferin oder
einer Krankenschwester, die halbtags arbeitet, um Zeit für
die Betreuung ihrer Kinder zu haben, und die sich viel-
leicht auch noch im Elternverein engagiert, erklären, dass
ein nebenberuflich tätiger Feuerwehrmann, der 2 000 DM
erhält, keinen Pfennig an Sozialversicherungsbeiträgen
zahlt?

Wie wollen Sie erläutern, dass eine Entschädigung von
17DM in der Stunde – das ist bei der Feuerwehr gar nichts
Seltenes – mit einer Bezahlung nichts zu tun haben soll
und somit auch nicht herangezogen wird? Sie haben da-
rüber hinaus vergessen, das Steuerrecht in Ihren Gesetz-
entwurf mit einzubeziehen.

Ich habe genügend Belege dafür aufgezeigt, dass die-
ser Gesetzentwurf mit heißer Nadel gestrickt wurde. Un-
ter uns heißt es, Sie wollten nach dem Deutschen Feuer-
wehrtag wahrscheinlich nur die Lufthoheit über die
Stammtische gewinnen, damit Sie hier entsprechend
Punkte machen können. So geht es nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe nichts gegen die Feuerwehr. Auch ich werde,
wie alle anderen, eingeladen, wenn Feuerwehrfeste statt-
finden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Ich bin gerne dabei, und die Leute sprechen sogar mit
mir.

Ich möchte aber auf einen anderen Bereich hinweisen
– ich möchte die Feuerwehrleute gar nicht diskreditieren;
mir geht es um eine sachgerechte und sozial gerechte Be-
handlung dieses Themas –: Es gibt sehr viele Beschäf-
tigte, die in karitativen und gemeinnützigen Einrichtun-
gen ehrenamtlich tätig sind und die auf den sozial-
versicherungspflichtigen Schutz warten, weil sie sich
Rentenpunkte erarbeiten möchten. Ein Großteil dieser
Beschäftigten sind Frauen. Wir werden immer wieder, ge-
rade von diesen Frauen, mit Forderungen konfrontiert,
dass hier eine Verbesserung der sozialversicherungsrecht-
lichen Absicherung vorgenommen werden muss, damit
sie vor allem im Hinblick auf die Alterssicherung Punkte
machen können. Auch dieses Anliegen müssen wir bei ei-
ner Neuregelung berücksichtigen.

Ich komme zum Schluss zu dem, was wir wollen:

(Zuruf von der CDU/CSU: Das möchten wir gerne wissen! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Salto vorwärts und Salto rückwärts!)


Ihren Entwurf wollen wir nicht – das kann ich jetzt schon
sagen –, weil er einfach zu kurz greift. Wir wollen als SPD
eine Lösung für bürgerschaftliches Engagement, durch
die zunächst einmal die Engagierten geschützt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber frühestens 2003, wie üblich!)


Sie kennen die Haftpflichtprobleme und all die anderen
Probleme, die mit der ehrenamtlichen Tätigkeit zusam-
menhängen. Dies sind auch die Anliegen, die die Enga-
gierten an uns herantragen. Wir wollen natürlich, dass die-
jenigen, die sich engagieren, keinen Nachteil erleiden
oder sogar noch Geld mitbringen müssen. Dies müssen sie
aber in manchen Vereinen. Dies ist ganz unabhängig von
Ihrer Geschichte mit der Feuerwehr.

Wir wollen dafür Sorge tragen, dass derjenige, der sich
ehrenamtlich betätigt, eine entsprechende Anerkennung
erfährt. Wir wollen auch Formen der Anerkennung und
der Förderung entwickeln. Ein türkischer Kollege hat zu
mir einmal gesagt: Ute, die Medaille, die ich bekommen
habe, ist für mich eine seelische Streicheleinheit. Andere
haben gesagt: Nein, ich will lieber ein Mittag- oder
Abendessen mit meinem OB oder vielleicht auch mit
Gerhard Schröder. Die Formen der Anerkennung können
sehr unterschiedlich sein. Daran müssen wir arbeiten. Ge-
rade in Baden-Württemberg haben wir schon sehr viel in
dieser Richtung entwickelt.

Wir arbeiten in der Enquete-Kommission an einer um-
fassenden und fundierten Lösung. Auch – hören Sie gut
zu, das gilt auch für die linke Seite des Hauses – der Bun-
deskanzler arbeitet an einer Lösung. Er hat ja auch etwas
versprochen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Da sind wir gespannt!)


Im Bundeskanzleramt wird auch entsprechend an Lösun-
gen gearbeitet. Es werden Dialoge mit den Verbänden ge-
führt,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Leere Versprechungen! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Chefsache Ehrenamt!)


damit man an dieser Stelle vorankommt.
Sie sind herzlich eingeladen,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Propaganda statt Fakten!)


in der Enquete-Kommission auf einer fundierten, auf Gut-
achten beruhenden Basis an einer sachgerechten und se-
riösen Lösung für ehrenamtlich Tätige zu arbeiten. Das
sind wir alle diesen Menschen schuldig.

Willy Brandt hat einmal gesagt, dass die Menschen ein
Recht darauf haben, mit Liebe und Sorgfalt behandelt zu
werden. Das würde ich mit unserer Partei auch gerne ma-
chen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412417900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.




Ute Kumpf

11943


(C)



(D)



(A)



(B)



Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1412418000
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kumpf,
Sie haben gerade von dem Gesetzentwurf als einem Ge-
setzentwurf geredet, der mit heißen Nadeln gestrickt
wurde. Ich erinnere mich an ein Gesetz, das mit sehr
heißen Nadeln gestrickt wurde. Darauf beruht doch der
ganze Schlamassel, über den wir hier diskutieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen!)


Wir erinnern uns alle noch sehr gut daran, wie diese
Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-
nisse zustande kam, welches Chaos das damals war. Am
Anfang dieser Debatte muss man festhalten: Hätten Sie
diesen Unsinn nicht gemacht, müssten wir darüber jetzt
nicht diskutieren. Wir diskutieren heute nur über eine
kleine Facette des gesamten Problems.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Angesichts Ihrer Zwischenrufe und Reaktionen frage
ich mich, ob Sie überhaupt schon einmal mit Vertretern
der Vereine draußen geredet haben,


(Lachen des Abg. Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


ob Sie wissen, was dort im Augenblick los ist.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann erzählen Sie es uns doch einmal! In welchem Verein sind Sie denn tätig? – Zurufe von der SPD)


– Ihr Verhalten ist schon faszinierend und ich frage mich,
was die Betroffenen, die diese Debatte sehen, davon hal-
ten werden. Wenn ich in die Vereine – egal, ob Musik-
oder Sportvereine – komme, sagen mir die ehrenamtlich
Tätigen ständig: Ich mache das nicht mehr, weil der büro-
kratische Aufwand zu groß geworden ist, weil niemand
mehr durchblickt.


(Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD])

– Herr Kollege Dreßen, Sie können ruhig dazwischen ru-
fen, aber es wäre vielleicht vernünftiger, wenn Sie bei der
Sache bleiben


(Peter Dreßen [SPD]: Da sind wir!)

und auch darüber reden würden, was auf Vereinsseite ei-
gentlich los ist. Wenn ich zu Vereinen komme, ist die erste
Aufforderung, wenn es um politische Maßnahmen geht,
immer die nach der Aufhebung der 630-Mark-Regelung.
Sie sagen: Wir können nicht mehr, wir können diesen
bürokratischen Aufwand nicht mehr bewältigen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Also doch Populismus!)


Jetzt müssen wir dies in einen breiteren Rahmen stel-
len. Wir reden viel über bürgerschaftliches Engagement.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht über das 630-Mark-Gesetz, das ist richtig!)


Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir verschiedene
Blickrichtungen haben. Es gibt im Augenblick eine Ent-
wicklung, die in erster Linie von Ihnen ausgeht, nämlich
eine Verlagerung weg von der institutionellen Förderung
hin zur Projektförderung. Beides ist ehrenamtliches En-
gagement. Beides ist wichtig. Aber wenn wir dort kappen,
wo Strukturen bestehen, wenn wir in Sport-, in Musikver-
einen und anderen Bereichen eingefahrene Strukturen
nicht mehr unterstützen und mit solchen Gesetzen noch
erschweren, dann werden wir wesentlich mehr kaputtma-
chen als auf der anderen Seite gewinnen.

Ich nenne Ihnen einen zweiten Punkt. Frau Kollegin
Kumpf, Sie haben von der Enquete-Kommission geredet.
Sie wissen wohl auch, dass einige Verbände für die An-
hörung mit Mehrheit wieder gestrichen wurden. Hier wird
grüne Klientel bedient. Hier macht man eine Gruppenthe-
rapie.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Schön wäre es ja! – Zurufe von der SPD)


– Schauen Sie sich doch einmal an, wen Sie gestrichen
haben. Sie haben zum Beispiel die großen Musikver-
bände nicht eingeladen. Das sind 20 000 Orchester und
50 000 Chöre. Diese werden in der Anhörung nicht zu
Wort kommen. Sie sind nicht einmal bereit, deren Pro-
bleme zur Kenntnis zu nehmen. Das ist doch der Fakt, um
den es hier geht.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Ich halte gerade in der heutigen Zeit Vereine für wich-
tiger, als es jemals der Fall war. Vereine erfüllen Aufga-
ben, die niemand sonst erfüllen kann. Dabei geht es um ei-
nen Bereich des Ehrenamts und des bürgerschaftlichen
Engagements, der bei Ihnen in der Diskussion viel zu kurz
kommt. Dort werden junge Leute integriert. Dort lernen
junge Leute, wie man Kompromisse schließt, wie man zu
Entscheidungen kommt und wie man sich einfügt.

Fragen Sie doch die Sportvereine, die Musikvereine
und andere kulturelle Einrichtungen. Diese werden Ihnen
dann sagen: Wir haben mehr und mehr Nachwuchspro-
bleme, und zwar nicht in der Ausübung von Sport oder
Musik. Dort haben wir eine riesige Bewegung und einen
großen Zuwachs an Jugendlichen. Aber wir haben Pro-
bleme in dem Bereich, in dem es um Funktionen geht. Es
fehlen ein Kassierer und ein Vorstand, weil die Leute sa-
gen: Diesen Zauber mache ich nicht mehr mit.

Das ist eine Tatsache. Ich finde es schon seltsam, Frau
Kumpf, dass Sie über diesen Bereich überhaupt nicht re-
den. Das trifft natürlich auch auf Organisationen wie die
freiwillige Feuerwehr zu. Ich sage Ihnen: Es wird die
Feuerwehr sehr trösten, wenn Schröder kommt und ver-
spricht, etwas zu tun. Dann können sie ein, zwei oder drei
Jahre warten. Das Haus brennt bereits. Jetzt müssen Sie
löschen und nicht erst dann, wenn alles niedergebrannt ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun so, als würde das Abendland untergehen! – Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch jetzt Schwachsinn! Wir sind bereit, auf eine wirkliche Lösung zu warten!)







(C)



(D)



(A)



(B)


– Herr Dreßen, ich frage mich wirklich: Mit wem reden
Sie und mit wem reden wir?


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fragen wir uns auch!)


Sie von der Enquete-Kommission haben Fragebögen
auch an die Verbände verschickt, die Sie nicht anhören
wollen. Ich war zum Teil dabei. Ich habe mir Fragebögen
angeschaut. Der erste Punkt, der bei der Beantwortung der
Fragebögen von allen genannt wurde, war die 630-DM-
Regelung.


(Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar nicht!)


– Das ist ein Problem. Selbstverständlich stimmt das.
Schauen Sie sich das bitte einmal an. Aber Sie wollen die
Verbände ja noch nicht einmal anhören.

Ich komme zum Antrag der CDU/CSU.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412418100
Herr Kollege
Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Kumpf?


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1412418200
Aber selbstverständlich,
gerne.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1412418300
Herr Kollege Burgbacher, sind Sie
bereit, damit Sie auf dem neuesten Informationsstand sind
und damit Sie wissen, was in der Enquete-Kommission
passiert und welche Anhörungen wir am 12. und 13. No-
vember dieses Jahres durchführen, zu gewährleisten, dass
die F.D.P. parlamentarisch entsprechend vertreten ist?


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1412418400
Frau Kollegin Kumpf,
ich rede nicht von der F.D.P., sondern von den großen Ver-
bänden. Diese Verbände, die zum Teil auf der Liste waren,
sind von Ihnen mit Mehrheit gestrichen worden. Darum
geht es. Das sind Verbände, die über 1 Million Mitglieder
und zigtausend ehrenamtlich Tätige repräsentieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412418500
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Kumpf?


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1412418600
Ja.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1412418700
Herr Kollege, sind Sie auf dem ak-
tuellen Stand darüber, dass am 12. und 13. Novem-
ber 2000 die Enquete-Kommission eine Anhörung mit
ganz traditionellen und klassischen Verbänden durch-
führt? Zweite Frage: Wissen Sie auch, dass ein Fragebo-
gen an – ich weiß es nicht genau – 300 Verbände ver-
schickt wurde


(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Es sind 140!)


– 140? Ich habe eine größere Zahl im Kopf –, die ihre Be-
dingungen darstellen können, wie sich das Ehrenamt
strukturell entwickelt und wie die Zukunft ist? Haben Sie
davon vielleicht schon gelesen? Diese Unterlagen müss-
ten Ihrer Faktion vorliegen. Wenn ja, dann könnten Sie
nämlich die Behauptung, die Sie aufstellen, nicht machen.
Lesen können Sie doch, oder?


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1412418800
Verehrte Frau Kollegin
Kumpf, ich kenne diese Fragebögen. Ich habe gerade ge-
sagt: Ich war bei ihrer Beantwortung zum Teil dabei und
habe mir die Antworten angeschaut. Ich bin nämlich
– vielleicht im Gegensatz zu Ihnen – im Verbandswesen
ziemlich engagiert.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Der redet nicht so, der arbeitet so!)


Mein Verband hat auch einen solchen Fragebogen be-
kommen. Ich sage Ihnen aber auf der anderen Seite auch,
dass Sie zum Beispiel große Verbände der Laienmusik mit
der Mehrheit von Rot-Grün gestrichen haben; unsere
Fraktion hatte deren Anhörung beantragt. Das ist Fakt und
das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie sind auf dem aktuellen Stand?)


– Ja, das ist der aktuelle Stand und ich kenne die Frage-
bögen natürlich sehr gut.

Ich bitte, hier in diesem Hause zu einem Konsens zu
kommen. Wir sind im Augenblick dabei, durch die Rege-
lungen, die Sie gemacht haben, die Arbeit vieler ehren-
amtlicher Bereiche erheblich zu erschweren. Die CDU hat
hier einen Antrag vorgelegt. Ich sage noch einmal un-
missverständlich: Unsere Linie war immer: Die 630-
Mark-Geschichte muss weg. Da ich aber weiß, dass bei
der rot-grünen Mehrheit die Meinung vorherrscht „Augen
zu und durch“ und keine Chance besteht, diese Meinung
zu ändern, werden wir den Antrag der CDU unterstützen.
Wir sehen das als einzige Möglichkeit, in diesem Punkt
weiterzukommen und die Vereine ein Stück weit zu entlas-
ten. Wir müssen die Menschen wieder motivieren, in den
Vereinen Verantwortung zu übernehmen. Hier sehe ich in
vielen Bereichen – mir tut es Leid, wenn Sie die Erfah-
rung nicht haben; dann sind Sie in Vereinen nicht aktiv
tätig – erhebliche Schwierigkeiten. Ich bitte Sie von Rot-
Grün wirklich herzlich, diese Tatsache wenigstens einmal
zur Kenntnis zu nehmen.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412418900
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Thea Dückert.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! „Ehrenamt“ steht über dem Antrag, aber wir haben
wieder gehört: „630 DM“ ist drin. Ich denke, es ist einfach




Ernst Burgbacher

11945


(C)



(D)



(A)



(B)


Etikettenschwindel, unter dem diese Debatte hier geführt
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zum wiederholten Male mit dem gleichen Inhalt das
gleiche alte Spiel: Sie wollen mit einem populistischen
Aufhänger wieder gegen das 630-Mark-Gesetz vorgehen.
Der Auslöser ist die Frage, ob zum Beispiel die freiwillige
Feuerwehr ihre Aufwandsentschädigungen, die zum Teil
bis zu 2 000 DM im Monat umfassen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen uns erst einmal zeigen, wer das kriegt!)


sozialversicherungspflichtig machen soll oder nicht. Das
ist die Frage, um die es geht.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern ist das so!)


Ich sage das noch einmal ganz deutlich an Ihre eigenen
Reihen; denn offenbar wissen die Kollegen von der
CDU/CSU noch gar nicht, dass es sich beispielsweise um
Größenordnungen von bis zu 2 000 DM handelt, über die
wir hier reden. Ich denke, in diesem Zusammenhang ist
schon die Frage zu stellen, ob das Ganze sinnvoll und ge-
recht ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen uns – die Frage wurde hier zu Recht aufge-
worfen – der Auseinandersetzung stellen, was zum Bei-
spiel eine Verkäuferin mit einem gleichen Einkommen zu
diesem Sachverhalt sagen würde.

Es ist richtig, dass die Unterscheidung zwischen einer
Berufstätigkeit, einer sozialversicherungspflichtigen Tä-
tigkeit und dem Ehrenamt an vielen Stellen eine sehr
schwierige Unterscheidung ist. Aber es muss eindeutig
klar sein, dass wir nicht von der subjektiven Befindlich-
keit der betroffenen Personen abhängig machen können,
ob eine Tätigkeit sozialversicherungspflichtig ist oder
nicht und wie man sich selber in der Frage einschätzt, eh-
renamtlich tätig zu sein oder nicht. Aber genau das ver-
langen Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Ich finde, das geht
vollständig an der Realität vorbei. Dem können wir beim
besten Wissen und Gewissen nicht folgen.

Natürlich ist es so, dass die Definition des modernen
Ehrenamtes und vor allen Dingen die Suche nach einer
Abgrenzung, um die Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements voranzubringen, eine ganz zentrale sozial-
politische Aufgabe ist. Es ist eine zentrale Frage, wie weit
es uns in Zukunft gelingt, bürgerschaftliches Engagement
voranzutreiben, das wir für einen lebendigen Sozialstaat
brauchen. Aber genau diesem Problem, meine Damen und
Herren von der CDU, wird Ihr Antrag, der sich allein um
die Problematik der 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse
rankt, nicht gerecht. Sie bieten keine Lösung an, sondern
möchten eine populistische Debatte, auf die wir uns nicht
einlassen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind von der Hybris umzingelt! – Unglaublich!)


In diesem Zusammenhang stellt sich die grundsätzli-
che Frage, ob es einen Sinn macht, bürgerschaftliches En-
gagement grundsätzlich von der Sozialversicherungs-
pflicht zu befreien, wie Sie es hier fordern, oder ob es
nicht möglicherweise viel sinnvoller, unterstützender und
Anerkennung bringender für die Betroffenen ist, wenn
auch diese Tätigkeiten einem sozialen Schutz unterliegen.
Diese Diskussion müssen wir führen. Ich will die Frage
hier nicht beantworten; denn so schnell, wie Sie mit der
Lösung bei der Hand sind,


(Zuruf von der CDU/CSU: Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen!)


sind diese Probleme nicht zu lösen. Es sind vielleicht
andere Personengruppen, über die wir reden; es ist
eben nicht der Feuerwehrkommandant mit monat-
lich 2 000 DM, sondern es sind andere Personengruppen
mit anderen Beschäftigungsverhältnissen. Diese Fragen
müssen geklärt werden und sie lassen sich nicht so einfach
mit einem Schnellschuss klären, wie Sie es mit Ihrem An-
trag versucht haben. Wir müssen sie in der Enquete-Kom-
mission klären und deswegen ist diese auch eingerichtet.

Die Diskussion um das 630-DM-Gesetz hilft uns hier
überhaupt nicht weiter. Gleichwohl haben wir in diesem
Zusammenhang etwas getan, was Sie in der Vergangen-
heit nicht in Angriff genommen haben: Wir haben
beispielsweise die Übungsleiterpauschale auf 3 600 DM
heraufgesetzt


(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie auch, warum!)


und Sie wissen ganz genau, dass damit Hunderttausenden
von ehrenamtlich Tätigkeiten in sehr vielen Vereinen und
Organisationen aus den Bereichen des Sports, der Kirche,
der Jugendarbeit, der Arbeit mit Kindern, des Katas-
trophenschutzes, des Umweltschutzes, des Tierschutzes
und überall ein großer Dienst erwiesen und eine große Er-
leichterung verschafft wurde. Sie dagegen kümmern sich
mit Ihrem Ansatz um eine bestimmte Gruppe, insbeson-
dere um die Feuerwehr


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil die kommt, wenn es brennt!)


und die Bürgermeister. Ich finde, das wird der Thematik
in keiner Weise gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man muss sich wirklich die Frage stellen – man muss
das Problem auch offen diskutieren –: Wann steht die
Höhe einer Aufwandsentschädigung noch im vernünfti-
gen Verhältnis zu dem geleisteten Aufwand? Ich finde, es
liegt auf der Hand, dass ab einer bestimmten Höhe nicht
vorschnell von einem Anerkennungsobolus gesprochen
werden kann, wie Sie das tun. Das kann man nicht und das
wird auch der Arbeit der freiwilligen Feuerwehr über-
haupt nicht gerecht. Deswegen sollten wir uns ganz ge-
lassen und ruhig der schwierigen Arbeit der Enquete-
Kommission stellen und die vielen Anhörungen, die dort




Dr. Thea Dückert
11946


(C)



(D)



(A)



(B)


in Zukunft stattfinden werden, auswerten, bevor wir sol-
che kleinen Kurzlösungen für einen Teilbereich zur De-
batte stellen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419100
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412419200
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich verstehe die Hektik und
die Aufgeregtheit nicht. Ich stelle mir vor, was geschähe,
wenn 22 Millionen ehrenamtlich Tätige mit ihren Proble-
men so hektisch umgehen würden. Wir hätten in unserem
Land ein Chaos.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf und hatten im

April einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Über-
schrift „Belastung für das Ehrenamt zurücknehmen“ vor-
liegen; der Inhalt war in beiden Fällen der gleiche. Wir
hatten einen Antrag der Bayerischen Staatsregierung vom
Juli zum gleichen Thema und haben jetzt wieder einen
Gesetzesentwurf in diesem Bereich. Ich gebe den Kolle-
gen Recht, die gesagt haben, Sie würden die Steine ei-
gentlich auf das 630-DM-Gesetz werfen. Dann werfen Sie
doch die Steine und stellen Sie einen entsprechenden An-
trag, nehmen Sie aber nicht das Ehrenamt dafür als
Ausfallbürgen.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das haben wir doch!)


Wissen Sie, ich habe mit dem Inhalt Ihres Antrags in-
sofern kein Problem, als ich meine, dass die Forderung,
das Ehrenamt zu stärken, in die richtige Richtung geht.
Aber das, was Sie vorgelegt haben, wird doch dem Eh-
renamt nicht gerecht. Sie haben diejenigen im Auge, die
eine Aufwandsentschädigung bekommen. Ich hingegen
habe die Mehrheit der Ehrenamtlichen vor Augen, die gar
nichts erhalten. Wir müssen uns einmal Gedanken darü-
ber machen, was wir mit denen machen. Sie wollen denen,
die schon etwas erhalten, mehr geben, und diejenigen, die
nichts haben, sollen weiterhin nichts erhalten.


(Beifall bei der PDS und der SPD)

Die Arbeit der Enquete-Kommission spielt eine wich-

tige Rolle. Ich glaube, dass damit deutlich geworden ist,
welchen Stellenwert die jetzige Regierungskoalition dem
Ehrenamt einräumt. Die Enquete-Kommission hat eine
große Bedeutung. Sie hat hart gearbeitet – das kann ich sa-
gen –, auch wenn die Ergebnisse noch nicht vorliegen;
aber sie kommen.

Lassen Sie beispielsweise einmal die Dialogveranstal-
tung, die wir durchgeführt haben, Revue passieren. Dort
haben Vertreter von Arbeitslosenorganisationen gespro-
chen. Da erhält das Gros Lohnersatzleistungen, sprich: 53
bis 67 Prozent. Sie erhalten keine Aufwandsentschädi-
gung. Sie fahren im ländlichen Bereich herum, um ihre

ehrenamtliche Tätigkeit auszuüben, und bezahlen das al-
les aus eigener Tasche. Sie können das Ehrenamt gar nicht
bezahlen. Daher müssen Sie sich einmal fragen, wie das
differenziert werden kann. Gebe ich den Feuerwehrleuten
mit einem Einkommen von 3 000 DM


(Zuruf von der CDU/CSU: Es wird immer mehr!)


noch die Möglichkeit einer Steuerentlastung, oder muss
nicht irgendwo eine Linie eingezogen werden, die deut-
lich macht, dass Aufwandsentschädigungen – die durch-
aus berechtigt sind; damit habe ich kein Problem – nicht
zum Verschiebebahnhof für nicht gezahlte Steuern aus an-
deren Bereichen werden?

Die Abgrenzung ist durchaus schwer; das gebe ich zu.
Es ist nicht von heute auf morgen möglich – wir befassen
uns ja damit –, zwischen 630-Mark-Jobs und Ehrenamt in
jedem Falle eine deutliche Unterscheidung zu treffen.

Kollege Strebl, ich schätze Sie ja. Aber zu sagen, den
Ehrenamtlichen würden Steine statt Brot gegeben, ist
nicht die richtige Antwort auf die anstehende Frage. Wenn
wir etwas verbessern wollen, dann braucht es viel Geduld,
weil die Lösung immerhin 22 Millionen Menschen dieses
Landes betrifft. Wenn wir dabei daneben tappen, dann ha-
ben wir es wahrscheinlich mit sehr viel größeren Proble-
men zu tun, als wenn wir die Leute noch ein halbes Jahr
lang mit der weniger befriedigenden Lösung leben lassen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch schon daneben getappt!)


Lassen Sie uns also in den Ausschüssen darüber reden,
in welcher Weise der von Ihnen vorgelegte Entwurf so
weiterentwickelt werden kann, dass er dem Anliegen,
dem wir alle folgen – ich unterstelle Ihnen, dass Sie etwas
Gutes für das Ehrenamt wollen, dass Sie es schützen wol-
len –, gerecht wird. Der nunmehr vorgelegte Entwurf wird
dem Anliegen aber nicht gerecht.

Sie müssen, wie gesagt, klar und deutlich definieren,
ob die Regelung, die Sie angeführt haben, nämlich ein
Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialge-
setzbuch IV, das Nonplusultra ist oder nicht. Darüber
muss man einmal reden. Genauso müssen wir einmal über
andere Methoden sprechen – es sind schon ein paar ge-
nannt worden, etwa der Rentenpunkt –, durch die erreicht
werden kann, dass das Ehrenamt nicht nur im ideellen,
sondern auch im materiellen Bereich den ihm gebühren-
den Stellenwert erhält. Dazu brauchen wir etwas mehr
Zeit, als Sie sich genommen haben. Sie hatten Zeit. Aber
Sie haben die Zeit nicht genutzt, um neue Ansätze zu fin-
den; vielmehr haben Sie die Zeit darauf verwandt, sich zu
wiederholen, und wenn man sich wiederholt, wird es nicht
besser.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.




Dr. Thea Dückert

11947


(C)



(D)



(A)



(B)



Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1412419400
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Es geht überhaupt nicht um das 630-Mark-Gesetz.
Es geht Ihnen auch nicht um das Ehrenamt. Ihnen geht es
darum, das deutsche Sozialversicherungsrecht aus-
zuhöhlen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf der CDU/CSU: Woher wissen Sie das?)


Das ist das, was hinter diesem Antrag steckt.
Das wird dem Engagement der mehr als 22 Millionen

Menschen in Deutschland überhaupt nicht gerecht, die in
ihrer Freizeit Dienst für die Gesellschaft leisten und damit
zu einer der wichtigsten Säulen unserer demokratischen
Struktur geworden sind. Wir können auf den Einsatz die-
ser Menschen nicht verzichten. Wir müssen ihnen heute
Abend auch einmal ein großes Dankeschön für ihren Ein-
satz und für ihre Arbeit sagen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


John F. Kennedy hat einmal gesagt: „Wer Verantwor-
tung für die Gesellschaft übernehmen will, muss bereit
sein, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.“


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie haben Jahrzehnte gebraucht, um die Realität zur Kenntnis zu nehmen!)


Deswegen komme ich auf das zurück, was die ehemalige
Bundesregierung auf eine Große Anfrage der CDU/
CSU-Fraktion 1996 geantwortet hat:

Die fließenden Übergänge zwischen unbezahlter eh-
renamtlicher und bezahlter Arbeit, das heißt, zwi-
schen Ehrenamt und nebenberuflicher bzw. haupt-
amtlicher Tätigkeit, ... führen bei der Beantwortung
einzelner Fragen zu Unschärfen.

Recht hat sie; es führt zu Unschärfen.
Weiter hat die damalige Bundesregierung in ihrer Ant-

wort ausgeführt:
Insgesamt ergibt die Auswertung der Umfrage bei
den Trägern ehrenamtlicher Arbeit, dass in der Frage
der Erstattung Unterschiede bestehen, dass aber der
weitaus überwiegende Teil der Ehrenamtlichen ohne
jegliches Entgelt oder mit nur geringen Kostenerstat-
tungen oder Aufwandsentschädigungen arbeitet.
Meist decken diese Erstattungen den Kostenaufwand
nur zum Teil ab.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das ist auch heute noch richtig!)


Ich habe vor gut einem Jahr mit einer Gruppe ehren-
amtlich tätiger Bürgerinnen und Bürgern, die als Besu-
chergruppe zu mir in den Bundestag gekommen waren,
über dieses Thema sehr ergiebig diskutiert. Wir haben am
Beispiel einer ehrenamtlichen Führungskraft der freiwil-
ligen Feuerwehr genau über diese Frage diskutiert, die Sie
jetzt so in den Mittelpunkt stellen. Nach 20 Minuten sagte
jemand von der „Tafel“, also von einer Vereinigung, die
Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist,
einsammelt, um sie an Bedürftige zu verteilen: Moment

mal! Worüber reden wir eigentlich? Wir machen alles frei-
willig, und zwar ohne Bezahlung. Wieso streiten wir uns
dann darüber, ob es dafür Geld geben soll? Damit wurden
das Spannungsfeld und die großen Unterschiede deutlich,
die es zwischen den auf verschiedene Art und Weise eh-
renamtlich tätigen Menschen gibt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf
die Antwort der ehemaligen Regierung auf die Große An-
frage der CDU/CSU-Fraktion zurückkommen:

Kostenerstattungen oder Aufwandsentschädigungen
stehen der Ehrenamtlichkeit grundsätzlich nicht ent-
gegen. Es entstehen jedoch Abgrenzungsprobleme,
zum Beispiel wenn die finanzielle Anerkennung eh-
renamtlicher Arbeit ein Ausmaß erreicht, bei dem
nicht mehr von Unentgeltlichkeit gesprochen werden
kann, sondern von nebenberuflicher Erzielung von
Einkünften. Insbesondere die Unentgeltlichkeit macht
den Wert des Ehrenamtes aus. Die fließenden Über-
gänge zwischen unbezahlter ehrenamtlicher und be-
zahlter Arbeit, das heißt zwischen Ehrenamt und
nebenberuflicher bzw. hauptamtlicher Tätigkeit, aber
auch die fließenden Grenzen zwischen Selbsthilfe
und Ehrenamt führen bei der Beantwortung einzelner
Fragen eben wieder zu Unschärfen.

Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Dieses Problem lässt
sich nicht so einfach lösen. Sie müssen zur Kenntnis neh-
men, dass sich die Sozialversicherungspflichtigkeit
danach bestimmt, ob sich eine Tätigkeit nach dem Sozial-
versicherungsrecht als Beschäftigung gegen Entgelt dar-
stellt. Die Beurteilung obliegt den Sozialversicherungs-
trägern und richtet sich nach der Rechtsprechung in der
Bundesrepublik Deutschland und nach den Kriterien, die
den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses definieren.

Wie sieht die Realität in diesem Land aus? Es gibt
Übungsleiter, die nach dem Sozialversicherungsrecht als
nicht selbstständig Tätige angesehen werden, und es gibt
Übungsleiter – jene, die im Verein nicht mehr als sechs
Stunden unterrichten – die nach dem Steuerrecht als
selbstständig Tätige angesehen werden. Eine einheitliche
Behandlung im Sozialversicherungsrecht und im Steuer-
recht wollen auch wir. Wir arbeiten an diesem Fall.

Nun zu den ehrenamtlichen Führungskräften der frei-
willigen Feuerwehr: Die Spitzenverbände der Sozialver-
sicherung sagen – unter Bezugnahme auf die Führungs-
kräfte der bayerischen Feuerwehren –, diese seien nach
§ 7 Abs. 1 SGB IV sozialversicherungspflichtig, weil sie
Beschäftigte der Kommunen sind.

Es gibt die ehrenamtlich Tätigen in der Kommunal-
politik, zum Beispiel die ehrenamtlich tätigen Bürger-
meister, die eine Aufwandsentschädigung erhalten. Dazu
sagt zum Beispiel die Landesversicherungsanstalt Schles-
wig-Holstein: Die hauptamtlich tätigen Bürgermeister
machen überwiegend Verwaltungsarbeit. Deshalb ist das,
was sie bekommen, sozialversicherungspflichtig. Aber
die ehrenamtlich tätigen Bürgermeister üben überwie-
gend repräsentative Tätigkeiten aus. Deshalb ist das, was
sie bekommen, sozialversicherungsrechtlich freigestellt.
Gleichzeitig geben alle Beteiligten zu: Bei den Amtsvor-
stehern haben wir das noch nicht so genau geklärt.






(C)



(D)



(A)



(B)


Das alles führt dazu, dass die Fragen der Sozialversi-
cherungspflichtigkeit und des Steuerrechts, die sich in den
unterschiedlichen Bereichen der ehrenamtlichen Tätig-
keit stellen, bei denen, die über sie entscheiden müssen,
strittig sind. Darüber gehen Sie mit Ihrem Antrag einfach
hinweg und tun so, als wenn Sie die Weisheit gefunden
hätten.

Über welche Begriffe reden wir? Wir reden über
selbstständige und nicht selbstständige Beschäftigung,
über steuerpflichtige und nicht steuerpflichtige Auf-
wandsentschädigung, über Kostenerstattung, über
Übungsleiterpauschalen und – das ist der Gipfel – sogar
über Anerkennungshonorare. Dagegen kann eigentlich
niemand etwas haben. Aber Honorare haben immer etwas
mit Bezahlung zu tun: An dieser Stelle kann ich Sie des-
wegen nur daran erinnern, dass es die jetzige Koalition
war, die mit dem 630-DM-Gesetz festgelegt hat, dass
im Sozialversicherungsrecht Aufwandsentschädigungen
überhaupt beitragsfrei sind. Das wissen Sie ganz genau.
Versuchen Sie nicht, hier einen Popanz aufzubauen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme nun zu Ihren Vorschlägen, die Sie nieder-
geschrieben haben. Erstens. Sie sagen, was eine ehren-
amtliche Tätigkeit sei, solle auf Länderebene geregelt
werden. Was hat das für Folgen? – Das führt in den ein-
zelnen Ländern von Schleswig-Holstein bis nach Bayern
zu Unterschieden in der Behandlung, wer ehrenamtlich
tätig ist und wer nicht. Eine solche Rechtszersplitterung in
diesem Lande kann doch keiner wollen. Dies würde zu-
nehmend Gefahren der rechtlichen Auseinandersetzung
bergen; das wollen wir nicht. Sie bieten damit eine
Scheinlösung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Sie wollen, dass sogar Tätigkeiten in Par-
teien, in Gewerkschaften, in karitativen Organisationen,
im kirchlichen Bereich von dieser Verpflichtung befreit
sind. Der begünstigte Personenkreis ist dann sogar so
groß – daran will ich Sie erinnern –, dass im Zweifelsfall
jemand, der für Scientology oder für die NPD als Partei-
funktionär ehrenamtlich tätig ist, von der Sozialversiche-
rungspflicht freigestellt wird. Das ist eine Scheinlösung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Riegert [CDU/CSU]: Ein Scheinargument!)


Drittens. Sie fordern, dass der Einzelne ein Wahlrecht
haben soll, wann die ehrenamtliche Tätigkeit versiche-
rungsfrei und wann versicherungspflichtig ist. Das kann
man doch nicht dem Einzelnen überlassen. Dafür haben
wir in Deutschland geltende Regelungen. Das wider-
spricht dem System, dass nach dem Sozialversicherungs-
recht bestimmt wird, was sozialversicherungspflichtig ist
und was nicht. Das, was Sie in diesem Bereich anbieten,
ist eine Scheinlösung.

Viertens. Sie geben die Parallelität zwischen Steuer-
recht und Sozialversicherungsrecht auf. Sie versuchen,

sich auch hier zu verabschieden und bieten nichts anderes
als eine Scheinlösung.

Wegen all diesen Punkten habe ich durchaus Verständnis
dafür, dass die deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbände
mit über 2 Millionen Ehrenamtlichen und 380 000 Haupt-
amtlichen das ablehnen und sagen, Ihre Regularien führ-
ten im Gegenteil dazu, dass – 630 DM plus 300 DM
Übungsleiterpauschale – am Ende im Niedriglohnbereich
Billigarbeit ohne Sozialversicherungspflicht möglich
wird. Auch das ist eine Scheinlösung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Abschließend möchte ich sagen: Meine Kollegin
Kumpf hat deutlich formuliert, was alles geleistet worden
ist. Es ist erreicht worden, dass ehrenamtliche Tätigkeit
bei den Übungsleitern und bei einem erweiterten Perso-
nenkreis steuerlich wieder so begünstigt wird – die
Grenze stieg von 2 400 DM auf 3 600 DM–, dass man den
Ansprüchen der Ehrenamtlichen in diesem Hause erst-
mals wieder ein Stück weit gerecht geworden ist.

Das, was Sie vorgelegt haben, produziert lediglich
neue Ungerechtigkeiten. Es ist unpräzise, es ignoriert gel-
tendes Recht. Ich sage es noch einmal: Ich werde den Ver-
dacht nicht los, als sollten hier bayerische Pfründe gesi-
chert werden und als würde hier der Schwanz mit dem
Hund wedeln oder, besser gesagt, die CSU mit der CDU.
Das lassen wir mit uns nicht machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419500
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1412419600
Ja. – Die meisten Ehrenamtli-
chen lassen sich von der Politik, die Sie machen, nicht be-
einflussen. Ich möchte Ihnen nur mit Ihrer Antwort auf die
Große Anfrage antworten:

Die Bundesregierung ist der Überzeugung
– so lautet der letzte Satz der Anfrage –

dass eine Diskussion über eine finanzielle Förderung
des Ehrenamtes am Ende dem Ehrenamt sogar scha-
det. Diese Auffassung wird von vielen Verbänden
und Organisationen ausdrücklich geteilt. Es darf
nicht die Erwartung geweckt werden, als wäre am
Ende die bezahlte ehrenamtliche Arbeit möglich. Eh-
renamtliche Arbeit muss mehr Anerkennung finden.

Dem kann ich nur Recht geben und schließe mit den
Worten von John F. Kennedy: „Frag nicht, was das Land
für dich tun kann, frage, was du für das Land tun kannst.“


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.




Franz Thönnes

11949


(C)



(D)



(A)



(B)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1412419800
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der vergange-
nen Woche hier im Reichstagsgebäude eine hervorra-
gende Veranstaltung mit ehrenamtlich tätigen Bürgerin-
nen und Bürgern durchgeführt. Es war beeindruckend, mit
welchem Engagement diese Bürgerinnen und Bürger zur
Sache sprachen. Ihr Engagement und ihre Fähigkeit, sich
für andere und für die Gemeinschaft einzusetzen, waren
förmlich spürbar. Es waren vornehmlich Ehrenamtliche,
die in kleinen Einheiten, also eigenverantwortlich und
ohne Unterstützung durch einen großen Apparat, tätig
sind. Es war beschämend zu hören, dass oftmals nicht ein-
mal ein Dankeschön für ihr Engagement übrig blieb. Es
war bedrückend zu hören, welchen bürokratischen Auf-
wand sie in ihrer Freizeit erledigen, wie viel Zeit sie für
Bürokratie aufwenden müssen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: So ist es!)


Diese Zeit möchten sie lieber in ihr Engagement investie-
ren. Hier müssen wir helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte

Gesetzentwurf zielt auch in diese Richtung: Entbürokra-
tisierung durch Befreiung der Aufwandsentschädigung
ehrenamtlicher Tätigkeit von der Sozialversicherungs-
pflicht. Ehrenamtlich Tätige haben kein Verständnis,
wenn sie für eine pauschale Aufwandsentschädigung von
monatlich 20, 30 oder 100 DM von den Sozialversiche-
rungsträgern zur Kasse gebeten werden.


(Ute Kumpf [SPD]: Werden Sie doch gar nicht!)


Sie wollen nicht, dass ihr ehrenamtliches Engagement mit
einer auf Einkommenserzielung ausgerichteten Tätigkeit
gleichgesetzt wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil!)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-

legen, ich unterstelle, dass wir alle in diesem Haus die eh-
renamtlich Tätigen stärken wollen. Wir mögen in etwa
dieselbe Zielrichtung haben und nur unsere Wege mögen
sich unterscheiden. Doch wir von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion unternehmen etwas. Wir fordern Sie
durch unsere parlamentarischen Initiativen zur Diskus-
sion heraus. Sie aber stellen sich dieser Diskussion nicht,
Sie weichen ihr aus und verharren vor dem Finanzminis-
ter wie das Kaninchen vor der Schlange, obwohl Sie ge-
nau wissen, dass es Handlungsbedarf gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber wenn Sie etwas tun, dann zum Schaden des Eh-

renamts: 630-Mark-Gesetz, Scheinselbstständigkeit und
Ökosteuer.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412419900
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1412420000
Nein, ich möchte im Zu-
sammenhang ausführen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Bravo!)


Dies alles war für unsere gemeinnützigen Vereine und
die dort ehrenamtlich Tätigen Murks. Das hat zu Belas-
tungen und Verärgerungen geführt. Sie wissen das, tun
aber kaum etwas, und wenn, dann halbherzig. Wir be-
grüßen die Anhebung des steuerlichen Freibetrags auf
jährlich 3 600 DM. Doch damit können Sie die Unsitten
des 630-Mark-Gesetzes nicht wettmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie enttäuschen mich zwischenzeitlich. In den letzten

Debatten haben Sie wenigstens noch dazwischengerufen:
Was hat denn das 630-Mark-Gesetz mit dem Ehrenamt zu
tun? Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Ihr bürokratisches
Monstrum führt bei den gemeinnützigen Vereinen und Or-
ganisationen erstens zu enormen Kostensteigerungen und
macht zweitens ein kompliziertes Lohnbürowissen erfor-
derlich. Dies halsen Sie den Ehrenamtlichen auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Wovon reden Sie denn überhaupt?)


Der ehrenamtliche Vorsitzende, der ehrenamtliche Ge-
schäftsführer, der ehrenamtliche Kassierer muss das alles
bewältigen und dann auch noch die Kosten dafür auftrei-
ben. Das belastet die Ehrenamtlichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede am 29. Juni

von dieser Stelle aus mehr Gemeinsamkeiten in Sachen
ehrenamtliches Engagement eingefordert. Wir wollen
das. Wir sind dabei. Aber – Herr Kollege Schmidt kommt
ja schon gar nicht mehr zu den Debatten – wie sollen wir
zu Gemeinsamkeiten kommen, wenn Sie nichts tun?


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war doch gerade da!)


– Wilhelm Schmidt war nicht da

(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Aber natürlich!)

und hat auch nicht geredet.

Sie haben heute die Gelegenheit, Ihr Angebot in die
Praxis umzusetzen. Lehnen Sie nicht einfach ab, stimmen
Sie zu!


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Gesetzentwurf ist gut; die Verbände haben uns das
in der Anhörung bestätigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Er kostet Sie wenig. Fast alle Abkassierten haben bereits
einen Schutz durch die Sozialversicherungspflicht. Sie
wollen keinen zusätzlichen Anspruch erwerben.

Wenn wir es mit der großen Bedeutung des ehrenamt-
lichen Engagements für unsere Gesellschaft ernst meinen,
wenn wir ehrenamtliches Engagement als Fundament un-






(C)



(D)



(A)



(B)


serer Gesellschaft verstehen, dann brauchen wir das En-
gagement mehr denn je. Unser Fraktionsvorsitzender,
Friedrich Merz, hat in einer richtungweisenden Rede zum
ehrenamtlichen Engagement


(Widerspruch bei der SPD – Franz Thönnes [SPD]: Wann war das denn?)


von starken Bürgern, von einem starken Staat, von starken
gesellschaftlichen Organisationen und von starken Unter-
nehmen gesprochen.

Stärke des Staats zeigt sich nicht in einem ständigen
Regulierungsdrang. Das machen totalitäre Regime, um
Bürgerinnen und Bürger zu entmündigen. Ein Staat ist
stark, wenn er die Regelungskräfte den Bürgerinnen und
Bürger anvertraut, die Bürgerinnen und Bürger ermutigt,
mehr Verantwortung zu übernehmen, und wenn er Initia-
tiven und freie Vereinbarungen von Bürgerinnen und
Bürger unterstützt. Deshalb müssen wir bei allen gesetz-
lichen Regelungen darauf achten, ob ehrenamtliches
Engagement tangiert wird. Das war eines unserer Anlie-
gen beim Einsetzungsbeschluss hinsichtlich der Enquete-
Kommission.


(Lachen bei der SPD)

Doch auch in diesem Punkt fehlt Ihnen die Entschluss-
kraft, das umzusetzen und die Bundesregierung zu for-
dern. An dieser Stelle hat diese Bundesregierung nur ne-
gative Markierungen gesetzt. Sie belastet ehrenamtliches
Engagement durch eine Fülle kleinkarierter Vorschriften.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Diese Bundesregierung hat sich bis heute nicht zu ge-
setzlichen Initiativen zu Aussetzungen der Neuregelun-
gen der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbstständigkeit,
zumindest für gemeinnützige Vereine, entschließen kön-
nen. Diese Bundesregierung hat bis heute nicht darüber
nachgedacht, wie die Belastungen durch die Ökosteuer
für ehrenamtlich Tätige gemindert werden können. Diese
Bundesregierung hat bis heute nichts vorgelegt, was Auf-
wandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige von der
Sozialversicherung freistellt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber diese Bundesregierung hat all diesen Unsinn ange-
richtet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu unseren Initiativen sagen Sie immer Nein. Oder

sind Sie etwa der Auffassung, unser Staat könne sich diese
Entlastung nicht leisten? Dann müssen Sie sich aber die
Frage gefallen lassen, wie teuer es für den Staat wird,
wenn ehrenamtlich Tätige ihr Engagement einstellen.
Dies könnte sich der Staat fürwahr nicht leisten.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es!)


Unsere Gesellschaft wäre in der Tat ärmer, vor allem an
Wärme und Mitmenschlichkeit.

Unser rühriger Bundeskanzler hat doch stets ein offe-
nes Ohr, wenn dies Schlagzeilen macht: Für den Profi-

fußball gibt es sofort einen Termin, für Schumacher sofort
ein Telegramm, für Holzmänner prompt Millionen. Aber
Ehrenamtliche sind offensichtlich nicht schlagzeilenver-
dächtig genug.


(Beifall der Abg. Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU])


Frau Kumpf, Sie haben schöne Reden gehalten, vor Ort
den Ehrenamtlichen Versprechungen gemacht. Die Vor-
sitzenden der Sportvereine in unserem Kreis warten noch
heute auf die von Ihnen versprochenen Verbesserungen.
Auch der Bundeskanzler hat beim Feuerwehrtag in Augs-
burg Versprechungen gemacht. Bis heute hat er nichts,
aber auch gar nichts vorgelegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Anhand des Beispiels Feuerwehr möchte ich das erläu-
tern. Wir haben soeben einen Feuerwehrkommandanten
im Wahlkreis des Kollegen Norbert Barthle angerufen und
ihn gefragt, mit welcher Aufwandsentschädigung er aus-
gestattet werde. Er hat gesagt, dass er als Feuerwehr-
kommandant in einer Gemeinde mit 6 000 Einwohnern
800 DM bekomme.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Im Jahr!)

– Im Jahr! – Im Jahr bekommt er 800 DM und Sie wollen
ihm noch die Sozialversicherungspflicht auferlegen.


(Widerspruch bei der SPD – Dr. Barbara Das stimmt doch gar nicht!)

Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412420100

Ich sage Ihnen noch eines: Ich war in der vergangenen
Woche in Schleswig-Holstein, im Bereich Ihres Landes-
verbandes, Herr Thönnes.


(Franz Thönnes [SPD]: Sehr gut!)

Dort habe ich mit den Feuerwehren diskutiert. Sie müssen
einfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass es vordergrün-
dig vielleicht um die 200, 300 oder 400 DM Aufwands-
entschädigung für die ehrenamtlichen Führungskräfte bei
der Feuerwehr Schleswig-Holstein geht. Aber auch all
jene bei der freiwilligen Feuerwehr in Schleswig-Hol-
stein, die für ihren Dienst keine einzige Mark bekommen,
nehmen diese Diskussion zur Kenntnis und fragen sich:
Was ist das für eine Anerkennungskultur, wenn sich unser
Kommandant, der sich Tag und Nacht oder am Wochen-
ende mit Leib und Leben für Retten, Bergen, Löschen ein-
setzt, von Ihnen anhören muss, dass es Feuerwehrleute
gibt, die mit 2 000 DM im Monat entschädigt werden?
Wir werden dies dem Feuerwehrverband mitteilen und
werden uns vortragen lassen, in wie vielen Fällen ein Feu-
erwehrmannkommandant 2 000 DM im Monat bekommt.
Ich kann Ihnen heute schon garantieren, das werden nicht
viele sein.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Erweiterung des
Personenkreises sagen,


(Zuruf von der SPD: Er hat ja von nichts Ahnung!)





Klaus Riegert

11951


(C)



(D)



(A)



(B)


der in den Genuss der Übungsleiterpauschale kommt. Da
haben Sie die Verantwortungsträger schlichtweg verges-
sen. Je höher die Verantwortung, desto seltener kommt die
Übungsleiterpauschale in Anwendung. Präsidenten, Vor-
sitzende von Vereinen, Geschäftsführer, die ihre Tätigkeit
ehrenamtlich ausüben, Schatzmeister und auch Feuer-
wehrkommandanten haben Sie schlichtweg vergessen.

Zur Gesundheitsförderung, Frau Kumpf, hat Ihnen Ihr
Mitarbeiter nicht das Richtige aufgeschrieben. Im § 20
SGB IV haben Sie ein 5-DM-Limit eingeführt. Zwi-
schenzeitlich wird über Verwaltungsvorschriften die
Schwelle so hoch gelegt, dass ein Übungsleiter ein Hoch-
schulstudium braucht, um überhaupt die Präventionsvor-
schriften erfüllen zu können.

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zu der
Auseinandersetzung in der Enquete-Kommission bezüg-
lich der Einladung von Verbänden sagen. Es ist doch be-
zeichnend, dass Sie zum einen sagen, Sie wollten im Kon-
sens handeln, und alle Unterverbände von Dachver-
bänden, die schon eingeladen wurden, von den Listen
streichen, Sie aber zum anderen sagen, die DAG bleibe
drin, weil sie nicht im DGB sei, während Sie den Christ-
lichen Gewerkschaftsbund aber mit Ihrer Mehrheit von
den Listen gestrichen haben.


(Ute Kumpf [SPD]: Die DAG macht doch Tarifverträge!)


In gleicher Weise sind Sie mit dem Bund der Vertriebenen,
mit dem Kolpingwerk und mit den Musikverbänden ver-
fahren.


(Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Zuerst reden Sie von Konsens, dann kicken Sie Ihnen
nicht genehme Verbände heraus!


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Ich fordere Sie deshalb heute noch einmal auf: Zeigen

Sie endlich einmal Kraft und Stärke. Verhandeln Sie mit
uns in den Ausschüssen über unseren Entwurf. Das würde
das ehrenamtliche Engagement wirklich stärken. Folgen
Sie den Vorschlägen in unserem Gesetzentwurf!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412420200
Herr Kollege
Bürsch, die Redezeit war schon überschritten, deswegen
konnte Ihre Zwischenfrage nicht mehr berücksichtigt
werden. Außerdem haben wir noch zwei Kurzinterventio-
nen. Zunächst erteile ich das Wort dem Kollegen Grehn,
danach folgt die Abgeordnete Barbara Hendricks. Außer-
dem können Sie, Herr Riegert, auf beide Interventionen
antworten.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412420300
Herr Kollege Riegert, rein
sachlich: Ich weise Ihre Aussagen, dass in diesem Parla-
ment nichts für das Ehrenamt getan wird, mit Nachdruck
zurück. Ich selber arbeite in der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ mit. Ich

behaupte, dass sich alle Mitglieder – einschließlich der
Mitglieder aus Ihrer Fraktion – in dieser Enquete-Kom-
mission, die eine Einrichtung dieses Hohen Hauses ist, er-
hebliche Arbeit machen und Sorge dafür tragen, dass das
bürgerschaftliche Engagement vorwärts gebracht wird
und die Bedingungen für die Engagierten so weit wie
möglich erleichtert werden. Ich lasse nicht zu, dass deren
Arbeit diskreditiert wird. Ich erwarte von Ihnen eine Ent-
schuldigung.


(Beifall bei der PDS und der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412420400
Jetzt eine Kurz-
intervention der Kollegin Hendricks.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412420500
Herr Kollege Riegert!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-
Fraktion! Sie sind natürlich frei, jederzeit jeden Gesetz-
entwurf einzubringen, jederzeit jeden Antrag in diesem
Hause zu stellen, jederzeit jede Rede in diesem Hause zu
halten. Gleichwohl wäre es manchmal hilfreich, wenn
man sich, bevor man an das Pult dieses Hohen Hauses
schreitet, ein wenig sachkundig machen würde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie, Kollege Riegert, haben in Ihrer Rede zum Beispiel
behauptet, dass jemand, der 20 oder 30 DM im Monat be-
kommt, dadurch sozialversicherungspflichtig würde. Das
ist barer Unsinn.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hat er doch gar nicht gesagt!)


– Das hat er gerade gesagt. Darum weise ich das zurück. –
Die Sozialversicherungspflicht fängt ungefähr bei ei-
nem Verdienst von 90 DM im Monat an. Wenn wir von de-
nen reden – um im Bereich Ihres Antrages zu bleiben –,
die schon eine Beschäftigung haben und außerdem ehren-
amtlich tätig sind, wäre die Bagatellgrenze der Sozialver-
sicherung natürlich überschritten, weil ja ein anderes Ein-
kommen da ist.

Reden wir jetzt aber einmal von den Einkünften im Eh-
renamt. Als Randbemerkung möchte ich hinzufügen: Es
gibt gesellschaftlich anerkannte und gesellschaftlich not-
wendige Tätigkeiten, die aufgrund der Einkünfte, die
dafür bezogen werden, als gesellschaftlich notwendige
Nebentätigkeiten und nicht mehr als Ehrenamt bezeichnet
werden sollten. Insofern müssten wir vielleicht noch ein-
mal über die Definition des Ehrenamtes reden. Es gibt in
der Tat Unterschiede bei den einzelnen Tätigkeiten. Es
gibt gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, die zwar
neben dem Beruf ausgeübt werden, aber für ein erstaun-
lich hohes Entgelt. Man muss fragen, ob dies noch mit der
Definition des Ehrenamtes vereinbar ist.

Wenn wir über das Ehrenamt im engeren Sinne reden,
dann muss man feststellen, dass es zwei steuerliche Re-
gelungen gibt, die begünstigend wirken und die zugleich
die Sozialversicherungsfreiheit bedingen. Es gibt zum ei-
nen die Aufwandspauschale mit der so genannten Drit-




Klaus Riegert
11952


(C)



(D)



(A)



(B)


telungsregelung, die bis zu 300 DM im Monat ausmachen
kann. Es gibt zum anderen die Übungsleiterpauschale,
die zum Beispiel Feuerwehrleute, die zugleich ausbildend
im Feuerwehrverband tätig sind, geltend machen können.
Diese Regelungen gelten kumulativ. Das heißt, neben ei-
nem regulären Einkommen aus einer Hauptbeschäftigung
sind so bis zu 600 DM im Monat steuerfrei und sozial-
versicherungsfrei.

Der Popanz, den Sie aufbauen, entspricht einfach nicht
den Tatsachen. Wenn in Zwischenrufen behauptet wurde,
dass Feuerwehrleute bis zu 2 000 DM im Monat bekom-
men – der Kollege Jochen-Konrad Fromme aus Nieder-
sachsen hat in dem Punkt widersprochen; auch ich kann
das für Nordrhein-Westfalen nicht bestätigen –, dann
muss man wissen, dass es in Bayern in der Tat Gemein-
defeuerwehrhauptbrandleute gibt, die mit bis zu 2 000DM
im Monat entschädigt werden. Das entspricht dem Ein-
kommen einer hauptberuflich tätigen Verkäuferin. Han-
delt es sich dann wirklich noch um ein Ehrenamt, dessen
Entschädigung man steuerfrei stellen kann? Mindestens
300 DM und – wenn man zudem als Übungsleiter tätig
ist – kumulativ bis zu 600 DM können steuerfrei sein. Ir-
gendwann muss aber mal Schluss sein. Es geht auch um
Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1412420600
Frau Staatssekretärin, ich
habe in meiner Rede in der Tat von einem überschießen-
den Betrag in Höhe von 20, 30 oder 100 DM gesprochen.
Wenn man eine Sozialversicherungspflicht von 20 Pro-
zent unterstellt, dann kann man sich leicht ausrechnen,
dass man für Einnahmen von 4, 6 oder 20 DM aufgrund
der Sozialversicherungspflicht einen großen bürokrati-
schen Verwaltungsaufwand betreiben muss.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das ist das Problem!)


Das wissen Sie ganz genau.
Sie haben gewisse Regelungen betrachtet, die kumula-

tiv zur Anwendung kommen können. Ihre Kollegen haben
von einem Entgelt von 2 000 DM bei Feuerwehrleuten
gesprochen. Dieser Betrag ist noch von den 3 000 DM ge-
toppt worden, die die Kollegen der Fraktion der PDS zur
Sprache brachten. Ich sage Ihnen dazu: Das ist nicht die
Realität bei der Feuerwehr. Diese Fälle werden durch un-
seren Gesetzentwurf auch nicht erfasst. Dazu habe ich
eindeutige Ausführungen gemacht.

Was die Erweiterung des Personenkreises anbelangt,
ist es in der Tat so, dass diejenigen, die ausbilden, durch
die Erweiterung der Regelungen hinsichtlich der Betreu-
ung besser gestellt wurden. Auch das habe ich ausgeführt.
Es gibt aber eine Antwort der Bundesregierung, nach der
Sie bei Verantwortungsträgern, also zum Beispiel bei Feu-
erwehrkommandanten, davon ausgehen, dass dieser Be-
reich der Tätigkeit nur 60 Prozent der Zeit in Anspruch
nimmt und 40 Prozent der Zeit am Schreibtisch verbracht
werden.

Es gibt noch einen weiteren Punkt. Sie können un-
möglich wollen, dass alle Ehrenamtlichen dieser Repu-
blik jedes Telefongespräch, jede Briefmarke, jeden gefah-
renen Kilometer und alle anderen Aufwendungen, die sie
haben, mit bürokratischem Aufwand aufführen, um Ihren
Regelungen gerecht zu werden. Dazu dient die pauschale
Aufwandsentschädigung. Sie darf deshalb nicht besteuert
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Billigmacher! Polemik! Riegert, geh mal zu unseren Sitzungen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412420700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Simmert.


Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412420800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Riegert, ich gehe nur kurz auf
Ihre Ausführungen ein. Ein bisschen mehr Gelassenheit
und Sachkenntnis und eine verstärkte Teilnahme an den
Sitzungen der Enquete-Kommission würde Ihnen viel-
leicht ganz gut tun. Dann könnten Sie den Stand der Dis-
kussion in der Enquete-Kommission besser zur Kenntnis
nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU trägt
den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ehren-
amtlicher Tätigkeit“. Wenn wir uns aber den Gesetzent-
wurf anschauen, dann stellen wir fest, dass Sie, meine Da-
men und Herren von der Opposition, die Förderung des
freiwilligen Engagements allein auf die Sozialversiche-
rungspflicht reduzieren. Das haben wir gerade wieder
eindrucksvoll bewiesen bekommen. Die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements insgesamt ist jedoch
weitaus mehr und das sollte auch die CDU/CSU-Fraktion
zur Kenntnis nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wahrscheinlich – was sage ich? Nach dieser Debatte
würde ich eher sagen: definitiv – geht es Ihnen nicht um
den angekündigten Titel; es geht Ihnen um die Aushebe-
lung der 630-Mark-Regelung durch die Hintertür. Ich
sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Schade!)

Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Wir wollen
diesen Etikettenschwindel nicht. Wir wollen eine Stär-
kung des bürgerschaftlichen Engagements, des frei-
willigen Engagements insgesamt.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Und macht das Gegenteil!)


Deswegen diskutieren wir mit Ihnen auch in der Enquete-
Kommission. Ich hoffe, dass wir dort zu einer gemeinsa-
men Lösung kommen.

Aus Sicht der Arbeit der Enquete-Kommission gibt
es weitaus größere Herausforderungen hinsichtlich der




Dr. Barbara Hendricks

11953


(C)



(D)



(A)



(B)


Unterstützung des freiwilligen Engagements. Es ist die
gesellschaftliche Anerkennung auch im traditionellen
Engagement für das Gemeinwohl, die wir begrüßen und
natürlich fördern müssen. Doch sollten wir dies nicht
blind tun. Mit einer bloßen Änderung des SGB IV ist es
da nicht getan. Die Enquete-Kommission hat einen we-
sentlichen Schwerpunkt – auch das hat die Kollegin
Kumpf vorhin gesagt – auf die rechtlichen Rahmenbedin-
gungen gelegt. Seien Sie sicher: Wir werden hier relativ
sauber arbeiten und wenn Sie kommen, können Sie mit-
arbeiten.

Allerdings – das wiederhole ich an dieser Stelle – frage
ich mich bei Aufwandsentschädigungen im Bereich
der freiwilligen Feuerwehr in Bayern von bis zu rund
2 000DM monatlich zusätzlich zum sonstigen Erwerbsein-
kommen – das ist vorhin angeklungen –: Ist das wirklich
das einzige Problem der staatlichen Rahmenbedingungen,
dass derart hohe Summen sozialversicherungsfrei blei-
ben? Ich glaube das nicht. Wenn wir sehen, dass im Bun-
desrat ein ähnlicher Antrag aus Bayern anhängig ist, dann
wissen wir, aus welcher Richtung da ein entsprechendes
Interesse bekundet wird.

Wir sollten uns der Diskussion weitaus differenzierter
stellen, als das der Antrag der CDU/CSU-Fraktion tut.
Was ist bürgerschaftliches Engagement, was nicht? In-
wiefern wird den Engagierten mehr Trennschärfe dienen?
Wie kann freiwilliges Engagement anerkannt und geför-
dert werden? Hier muss auch Anerkennung in immateri-
eller Art und Weise eine wichtige Rolle spielen. Es wäre
sicherlich auch wünschenswert, wenn man sich bei den
Ehrenamtlichen nicht nur auf beinahe ausschließlich von
Männern ausgeführte Tätigkeiten konzentrieren würde.
Vielleicht werden auch Sie, Herr Riegert, dann zur der Er-
kenntnis kommen, dass es einige Menschen gibt, für die
Sozialversicherungspflicht eher ein Vorteil wäre.

Genau diesen Fragen werden wir in der Enquete-Kom-
mission nachgehen müssen. Darüber hinaus will ich an
dieser Stelle vor allen Dingen die Rolle neuer Initiativen
betonen, von denen in dieser Diskussion bis jetzt von
der rechten Seite des Hauses – anders bei der Kollegin
Kumpf – überhaupt nicht die Rede war. Sie haben immer
von Verbänden gesprochen, von den traditionellen Tan-
kern. Es gibt aber auch noch andere. Es gibt Selbsthilfe-
gruppen, Freiwilligenagenturen, Bürgerinitiativen oder
auch die kommunalen Prozesse im Rahmen der lokalen
Agenda 21. Das sind nur einige Beispiele, die ebenfalls
Formen der Förderung benötigen.


(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gerade mit Blick auf die Stärkung der Zivilgesellschaft
gilt es, neue Ansätze bürgerschaftlichen Engagements zu
stärken, auch und vor allem im Hinblick auf Zivilcourage
gegen Rechts und damit für die Demokratisierung in un-
serem Land.

Zum Schluss möchte ich noch eines unterstreichen.
Die klassischen Ehrenamtskarrieren gibt es immer weni-
ger, Formen so genannter neuer Ehrenamtlichkeit sind
immer attraktiver, gerade für junge Menschen. Junge
Menschen bezeichnen dies selber eher als freiwilliges En-

gagement, nicht als Ehrenamt. Für viele junge Menschen
ist dieses Engagement wichtiger Bestandteil ihres Le-
benslaufes, zum Teil begleitend, zum Teil konzentriert im
Rahmen eines freiwilligen Dienstes im In- und Ausland.
Hier müssen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen
wesentlich verbessern; hier müssen wir Rechte absichern.
Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil zur Förderung
ehrenamtlicher Tätigkeit.

Lassen Sie uns also eine breit gefächerte Diskussion
um die Förderung des freiwilligen Engagements führen,
die nicht nur auf den Blickwinkel der Sozialversicherung
eingeengt ist. Hier gilt auch der Satz: Vielfalt statt Einfalt.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412420900
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/3778 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-

(Steuersenkungsergänzungsgesetz – StSenkErgG)

– Drucksache 14/4217 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Es ist interfraktionell vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Mittelstand entlasten – Steu-
ersenkungsgesetz nachbessern“ auf Drucksache 14/4285
zu erweitern und den Antrag zusammen mit diesem Ta-
gesordnungspunkt zu beraten. – Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Die Kollegin Barbara Höll hat gebeten, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir auch so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.




Christian Simmert
11954


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 2


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412421000
Frau Prä-
sidentin! Meine Damen und Herren! Am 14. Juli dieses
Jahres hat der Bundesrat dem vom Bundestag beschlosse-
nen Steuersenkungsgesetz seine Zustimmung gegeben.
Dieses Steuersenkungsgesetz bringt die größte Steuerent-
lastung, die es je in der Geschichte der Bundesrepublik
gegeben hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es führt ab dem Jahre 2005 zu einem Entlastungsvolumen
von 93 Milliarden DM. Die größte Entlastungsstufe wird
ab dem 1. Januar 2001 45 Milliarden DM betragen.

Dieses Steuersenkungsgesetz repräsentiert, verbunden
mit dem Steuerentlastungsgesetz, die Steuerpolitik der
Bundesregierung für diese und die nächste Wahlperiode.
In der Auswirkung verteilt sich das Entlastungsvolumen
so, dass 65 Milliarden DM nachhaltig bei den privaten
Haushalten und 30 Milliarden DM bei den kleinen und
mittleren Unternehmen ankommen, während die Kombi-
nation von Entlastungsgesetz und Steuersenkungsgesetz
bei den großen Unternehmen zu einem Minus von 1 bis
2 Milliarden DM führt. Die großen Unternehmen ihrer-
seits hatten jedoch niemals eine hohe Steuerlast. Vielmehr
war für sie das bisherige, nicht wettbewerbsfähige Steu-
errecht eine Last. All dies haben wir gelöst.

Voraussetzung für die Einbringung des Entwurfes ei-
nes Steuersenkungsgesetzes war die Einleitung einer Stra-
tegie der Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Denn
nur dann, wenn man seine Ausgaben im Griff hat, nur
dann, wenn man einen Weg verfolgt, der aus der Staats-
verschuldung herausführt, kann man glaubwürdig, solide
und seriös an Steuersenkungen herangehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer seinen Haushalt nicht in Ordnung hat, wer fort-
während neue Schulden macht, wer Steuersenkungen so-
gar auf Pump macht, der wird in Wirklichkeit für die
nächsten und übernächsten Jahre Steuererhöhungen vor-
bereiten.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Quatsch!)

Dies beides gehört zusammen. Das ist der Sachverhalt.
Das Problem ist, dass Sie die Staatsverschuldung in die
Höhe getrieben haben. Aus dieser Ecke müssen wir he-
raus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was haben Sie denn in Hessen gemacht?)


Nun hat der Bundesrat, als er dem Steuersenkungsge-
setz mehrheitlich zugestimmt hat, dies mit der Erwartung
verbunden – dies hat er in einer Resolution niedergelegt –,
dass noch an zwei Stellen Änderungen vorgenommen
werden: Die eine betrifft die Absenkung des Spitzen-
steuersatzes von 43 auf 42 Prozent im Jahre 2005 ab ei-
nem zu versteuernden Einkommen von 102 000 DM. Dies

wird in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf umge-
setzt.

Damit ist übrigens der obere Grenzsteuersatz in
Deutschland der niedrigste, den es im Rahmen der Euro-
päischen Union gibt. Zwar gibt es noch zwei Länder, die
tarifär niedriger liegen, nämlich das Vereinigte König-
reich und Portugal. Sie haben einen oberen Grenzsteuer-
satz von jeweils 40 Prozent. Der greift aber wesentlich
früher: in Portugal bei einem Einkommen von 60 000 DM
und in Großbritannien bei einem Einkommen von
66 000 DM. Bei uns greift der obere Grenzsteuersatz von
42 Prozent bei einem Einkommen von 102 000 DM.

Damit befinden wir uns, wie wir es immer angestrebt
haben, nicht nur aufgrund eines außerordentlich hohen
steuerfreien Existenzminimums und eines niedrigen Ein-
gangssteuersatzes europaweit am unteren Ende und sind
vorbildlich. Wir sind in der Tat auch beim oberen Grenz-
steuersatz – das war nicht die ursprüngliche Absicht der
Bundesregierung und auch nicht meine; das will ich aus-
drücklich betonen – das Land mit der niedrigsten Steuer-
belastung. Das war Ergebnis des Vermittlungsverfahrens.
Aber, meine Damen und Herren: besser diesen Kompro-
miss geschlossen als die Steuerreform auf die lange Bank
geschoben, was insbesondere die Opposition im Deut-
schen Bundestag gewollt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die zweite Erwartung, die der Bundesrat an sein zu-
stimmendes Votum geknüpft hatte, war eine zusätzliche
Mittelstandskomponente: die Wiedereinführung des
halben Steuersatzes bei Betriebsveräußerungen. Aber
um zu verhindern, dass daraus wieder ein Steuer-
schlupfloch würde, gilt dies nur einmal im Leben und
auch erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Kapitalgesellschaften werden jederzeit veräußert!)


Das hat den Hintergrund, dass das dann wirklich eine Be-
triebsveräußerung sei, mit deren Ergebnis man dann Al-
tersvorsorge betreiben könne. Das Gesamtvolumen dieser
Entlastung, die ebenfalls im Gesetz vorgesehen ist, be-
trägt rund 7 Milliarden DM. Damit ist – das war von un-
serer Seite her selbstverständlich – die Erwartung des
Bundesrates erfüllt. Dies schlagen wir Ihnen vor.

Ich will dem Bundesrat und der Mehrheit der Länder,
die diese Entscheidung herbeigeführt haben, ausdrücklich
danken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es waren die Länder, die sich bereits im Vermittlungsaus-
schuss intensiv um das Zustandekommen eines Vermitt-
lungsergebnisses bemüht haben, zum Beispiel die großen
Koalitionen und auch die sozialliberale Koalition in
Mainz. Ich sage ausdrücklich auch Dank an die F.D.P., in
diesem Fall vermittelt über Herrn Brüderle, dass sie – und
damit die Mainzer Landesregierung – sich entschieden
hat, mit der Zusage dieser Änderungen dem Steuersen-
kungsgesetz zuzustimmen. Denn es war für alle klar: Ein






(C)



(D)



(A)



(B)


rein parteitaktisches Spiel, die Steuerreform über die
Sommerpause zu ziehen, wäre für die deutsche Wirt-
schaft, für unser Ansehen in der Welt und für die weitere
konjunkturelle Entwicklung im Lande Gift gewesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Aber gut für die Bürger! Gut für die Steuerzahler!)


– Es wäre weder gut für die Steuerzahler gewesen, Herr
Rauen, noch für die Bürger.

Sie wissen es doch genauso gut wie ich: Das Entlas-
tungsvolumen ist jetzt an der Grenze des Möglichen. Wir
sind nicht, wie ich ausdrücklich sage, mit einem so hohen
Entlastungsvolumen in die Steuerreformdebatte hineinge-
gangen, und zwar mit Blick auf die Haushalte der Länder
wie auch auf den des Bundes. Jedenfalls – Sie konnten das
ja auch sehen – hat das die große Mehrheit der Länder bis
an die Grenze des finanziell Möglichen strapaziert. Des-
wegen waren alle anderen Reden und alle anderen Vor-
schläge niemals realistisch; denn die große Mehrheit der
Länder im Bundesrat hätte ihnen niemals zugestimmt.
Das haben Sie in Ihrer Strategie von vornherein verfehlt.
Sie können nicht die bayerische Strategie zur Mehrheits-
strategie der deutschen Länder machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Übrigens sind auch die Bayern froh, dass es nicht zu dem
gekommen ist, was sie selber vorgeschlagen haben.

Deswegen sage ich noch einmal ausdrücklich Dank an
die Ländermehrheit. Unter dieser Voraussetzung ist es
dann auch selbstverständliche Pflicht, das, was die Län-
dermehrheit mit ihrer Resolution als ihre Voraussetzung
für die Zukunft artikuliert hat, nun im Gesetzgebungsver-
fahren zu vollziehen. Ich bitte Sie daher um die Zustim-
mung zu diesem Steuersenkungsergänzungsgesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412421100
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Fromme.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1412421200
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer
wäre nicht für Steuersenkungen? Insofern verspricht der
Titel Ihres Gesetzes zunächst einmal etwas Positives.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist auch so!)


Da steht nicht nur „Senkung“, da steht sogar „Ergän-
zung“. Sie wollen also deutlich machen, dass Sie etwas
Positives fortsetzen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gut erkannt!)


Aber wie so oft bei Ihnen stimmen Überschrift und In-
halte nicht überein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ihre Ökosteuer ist weder „öko“ noch „logisch“.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie nicht mal ein neues Thema auf der Platte?)


Der Mittelstand wird von der Steuer nachteilig getroffen;
denn zunächst einmal muss er 15 Milliarden DM vorfi-
nanzieren. Die Erleichterung kommt dann vielleicht
2005.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sie sind ja auch nicht sehr fromm!)


Der Montagearbeiter wird bei Ihrem Progressionsverlauf
bei der letzten Mark fast so besteuert wie der Millionär.
Das kann doch wohl nicht richtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In Wahrheit handelt es sich bei diesem Gesetz doch um

ein Reparaturgesetz. Die Kette Ihrer Reparaturen wird
immer länger. Sie mussten die Zinssteuerregelung korri-
gieren. Sie müssen am Freitag die Ökosteuer korrigieren,
weil Sie sonst Schwierigkeiten bekommen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


– Weil Sie die Kilometerpauschale als Reparatur ein-
führen müssen. – Sie müssen für die Kirchen eine zweite
Bemessungsgrundlage einführen, um großen Schaden
von ihnen abzuwenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die nächste Reparatur des Steuerentlastungsgesetzes steht
ins Haus. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen deutlich
ins Stammbuch geschrieben, dass die Regelung in Bezug
auf die Verlustverrechnung verfassungswidrig ist. Wir
werden uns hier demnächst wieder damit beschäftigen. Im
Urteil heißt es: „Im Streitfall liegt eine derartige Un-
gleichbehandlung auf der Hand.“ Das ist verfassungswi-
drig.

Meine Damen und Herren, diese Regelung haben Sie
während des Verfahrens eingeführt und abgeändert, weil
Ihnen alle Experten zu der ersten Regelung gesagt haben,
dass das so nicht läuft. Wir wollten eine zweite Anhörung
durchführen, weil wir von Anfang an – wie die ganze
Fachwelt – Bedenken hatten. Sie haben sie vom Tisch ge-
wischt. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen jetzt erklärt,
dass es doch besser gewesen wäre, auf uns zu hören.
Dafür werden Sie die Quittung bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächerlich!)


Es ist ja bemerkenswert, wie Sie Ihre Positionen ver-
ändern. Vieles von dem, was jetzt Gesetz ist, haben Sie
1996 ohne Alternative einfach vom Tisch gewischt. Sie




Bundesminister Hans Eichel
11956


(C)



(D)



(A)



(B)


haben durch das Steuerentlastungsgesetz viele sinnvolle
Regelungen gegen unsere Ratschläge aus dem Steuerge-
setz gestrichen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Steuerschlupflöcher zugemacht!)


Dann haben Sie Teile – ich betone ganz besonders: Teile –
unseres Konzeptes übernommen. Dadurch, dass Sie nur
Teile übernommen haben, ist jetzt eine Schieflage ent-
standen, wie sie schlimmer nicht sein kann.


(Peter Dreßen [SPD]: Sie widersprechen sich ja in nur zwei Sätzen!)


– Nein, schönen Dank.
Das Ganze hätten wir vor vier Jahren gemeinsam um-

setzen können. Wer jetzt sagt, die Steuerreform schaffe
Arbeitsplätze, der ist verantwortlich dafür, dass diese
Arbeitsplätze nicht schon in den letzten vier Jahren
geschaffen worden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Ihnen fehlt der Mut zu einer richtigen, kurzfristigen
Steuerentlastung. Sie entlasten in Raten bis zum Jahr 2005
oder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie hätten sich ein
Beispiel an den stoltenbergschen Steuerreformen nehmen
sollen. Damals haben wir mit einer kräftigen, kurzfristi-
gen Absenkung am Ende mehr Geld in der Kasse gehabt.


(Zuruf von der SPD: Ja, und in welchem Koffer?)


Am Ende gab es sogar mehr sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigte. Das war beispielhaft.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Spitzensteuer von 56 Prozent auf 53 Prozent gesenkt! Geniale Leistung!)


An diesem Kurs und an dem Konzept, das wir 1996 vor-
gelegt haben, hätten Sie sich ein Beispiel nehmen können.

Ihre Steuerreform ist unausgegorenes Stückwerk. Sie
wurschteln sich zwar weiter vorwärts und ein Stück weit
in die richtige Richtung, aber eben immer nur ein Stück
weit, weil Sie nur schrittweise vorgehen. Sie wurschteln
sich nach wie vor durch. In dem Antrag des Bundesrates,
in dem das Wort „Wiedereinführung“ geschrieben steht,
wird beispielsweise hinsichtlich der Veräußerungsge-
winne der Eindruck erweckt, es würde das wieder herge-
stellt, was einmal war, weil es richtig war.


(Zuruf von der CDU/CSU: Täuschung!)

Wenn man aber genau hinsieht, stellt man etwas anderes
fest.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

Wie sieht es denn mit den Versprechungen von gestern

aus? Bei Ihnen zählt das Wort von gestern nichts.

(Zuruf von der SPD: Das war bei der Frau Merkel und der Ökosteuer so!)


Ich darf an die Überschrift in der „Bild am Sonntag“ vom
6. September 1999 erinnern. Da der Benzinpreis um
6 Pfennig gestiegen war, sagte Gerhard Schröder: „Das ist
das Ende der Fahnenstange.“ Schauen Sie sich nun einmal
an, wo wir gelandet sind.


(Widerspruch bei der SPD)

Am 17. Februar 1999 sagte Gerhard Schröder: „Ich stehe
dafür, dass die Renten wie die Nettolöhne steigen.“ Meine
Damen und Herren, sehen Sie sich das Ergebnis an.


(Konrad Gilges [SPD]: Er redet, ohne etwas zu sagen!)


Nach unserer Auffassung ist dieses Gesetz, damit es
eine wirklich runde Steuerreformwird, in folgenden fünf
Punkten ergänzungsbedürftig:

Erstens: Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei
Betriebsveräußerungen ohne den von Ihnen vorgesehenen
Mindeststeuersatz und rückwirkend ab dem 1. Januar
1999.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein wunderbares Steuerschlupfloch!)


Zweitens: zusätzliche Verbesserungen für den Mittel-
stand durch die steuerneutrale Umstrukturierung von Per-
sonengesellschaften. Auch diese hatten Sie abgeschafft.
Aber wir sollten sie wieder aufnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Außerdem sollten Gewinne aus Anteilsverkäufen in die
Reinvestitionsbegünstigung nach § 6 b EStG wieder auf-
genommen werden. Auch das hatten Sie gestrichen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

Drittens: stärkere und frühere Senkung des Einkom-

mensteuerspitzensatzes.

(Zuruf von der F.D.P.: Richtig!)


Viertens: Wiedereinführung des halben Steuersatzes
auch für Entschädigungen bei Arbeitnehmerabfindungen
und Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Fünftens: Wir brauchen kurzfristige Korrekturen, weil

Sie Frankfurt als Handelsplatz für Wertpapiere gefährden.
Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht

und werden sehen, wie Sie sich dazu verhalten.
Es ist völlig unverständlich, dass Sie Arbeitnehmerab-

findungen und Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter
jetzt der Steuer unterwerfen und die Kapitalgesellschaften
freistellen. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis nennen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist mein Wahlkreis!)


Die Preussag hat für 400 Millionen DM Wohnungen ge-
kauft, die sie jetzt für 1 Milliarde DM verkauft. Das ist
nach Ihrem Recht steuerfrei. Aber der Handelsvertreter,




Jochen-Konrad Fromme

11957


(C)



(D)



(A)



(B)


der in den Ruhestand geht, muss jede Mark versteuern.
Das kann doch wohl nicht richtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wie unsozial Ihre Steuerreform ist, konnten wir auch

bei der Anhörung der Kirchen hören. Die Kirchen haben
ganz deutlich gesagt, dass mit dem Halbeinkünfteverfah-
ren die Menschen nicht mehr nach ihrer Leistungsfähig-
keit besteuert werden, weil die Hälfte der Einkommen
nicht mehr bei der Progression berücksichtigt wird. Nur
das Vollanrechnungsverfahren, das schließlich unter Ihrem
Bundeskanzler Schmidt eingeführt worden ist, stellt si-
cher, dass auf der personalen Ebene gerecht besteuert
wird. Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen.

Sie entlasten nicht. In Wahrheit sind Sie die Partei der
Steuererhöhungen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Hören Sie sich die Zahlen einmal an. – Im Jahre 1999
ist das Bruttosozialprodukt um 2,3 Prozent gestiegen. Die
Steuern sind um 6,3 Prozent gestiegen.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das Dreifache!)

– Das ist das Dreifache.


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Abkassierer!)


Also muss doch, da wir ja 1999 eine ganz geringe Inflati-
onsrate hatten, eine Steuererhöhung dahinter stecken.
Selbst wenn ich die Ökosteuer herausrechne, weil das eine
andere Entwicklung gewesen ist, sind die Steuern immer
noch mehr als doppelt so stark gestiegen wie das Brutto-
sozialprodukt. Deswegen sind Sie die Partei der Steuerer-
höhungen.


(Hans Eichel, Bundesminister: Das war das Auslaufen der Sonderabschreibung Ost, die Sie beschlossen haben!)


– Herr Minister Eichel, wenn ich die herausrechne, wird
es noch schlimmer, weil dann die übrigen Steuern noch
stärker gestiegen sind.


(Hans Eichel, Bundesminister: Was?)

Es bleibt dabei: Sie sind die Partei der Steuererhöhungen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es wird auch durch Wiederholungen nicht richtiger!)


– Sie hören das so gerne; deswegen habe ich es noch ein-
mal wiederholt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412421300
Herr Kollege
Fromme, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit ab-
läuft.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1412421400
Jawohl.
Dann versuchen Sie, mit Reparaturmaßnahmen wie bei

der Ökosteuer und mit einem Riesenbürokratieaufwand

das, was Sie vorne falsch gemacht haben, hinten wieder
geradezubiegen. Das wird Ihnen aber nie gelingen; denn
Sie werden durch diese Bürokratie niemals Gerechtigkeit
schaffen. Vielmehr schaffen Sie eine Vergrößerung des
Staatskuchens. Das entspricht auch Ihrer Ideologie. Sie
entmündigen die Bürger, weil Sie ihnen das Geld weg-
nehmen und sie nicht mehr die eigene Entscheidungsfrei-
heit haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Unglaublich! Was gibt es denn da zu klatschen, Leute? – Weitere Zurufe von der SPD: Soll man das jetzt glauben? – Das Protokoll verzeichnet dünnen Beifall!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412421500
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Jetzt könnt ihr klatschen, Leute! Jetzt kommen Anspruch und Wirklichkeit!)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412421600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
schade, dass gerade die CDU, die immer den Anspruch
hat, zukunftsorientiert zu sein


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Was?)


– den Anspruch –,

(Peter Rauen [CDU/CSU]: Wir sind das!)


wenn es darauf ankommt, in der Regel nach hinten
blickt – verletzt, beleidigt, mit Neid benetzt,


(Lachen bei der CDU/CSU)

wenn sie sieht, welche hervorragende Steuerreform wir
vonseiten der Regierungsparteien auf den Weg gebracht
haben. Genau das ist Ihr Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das glauben Sie doch selbst nicht! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist jetzt Christines Märchenstunde!)


Wenn wir uns anschauen, welche Forderungen Sie
jetzt stellen, kann man sagen: Es ist wieder das alte Lied.
Es sollen möglichst alle Steuerschlupflöcher aufgemacht,
möglichst alle Vergünstigungen wieder eingeführt wer-
den, außerdem sollen die Steuersätze niedrig sein. Wie das
zu finanzieren ist, ist Ihnen ziemlich wurscht.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Reden Sie so bei den Wirtschaftsverbänden?)


Das ist Ihre Strategie, obwohl Sie ganz genau wissen,
dass kein einziges Land, weder Baden-Württemberg noch
Bayern noch Hessen noch das Saarland noch die rot-grün
regierten Länder – von den neuen Bundesländen brauchen
wir gar nicht zu reden –, es akzeptieren würde, dass die
Steuerausfälle, die Sie mit Ihren Forderungen produzie-




Jochen-Konrad Fromme
11958


(C)



(D)



(A)



(B)


ren, auch die Länderhaushalte letztendlich belasten wür-
den. Sie könnten überhaupt nicht zustimmen, weil sie
die verfassungsgemäße Gestaltung ihrer Länderhaushalte
nach den Maastricht-Kriterien, die wir zu erfüllen haben,
nicht gewährleisten könnten. Deswegen ist es reiner Po-
pulismus, wenn solche Forderungen vonseiten der CDU
aufgefahren werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist besonders vor dem Hintergrund interessant,

dass dies gerade von einer der Parteien kommt, die diesen
Schuldenberg mit zu verantworten hat. Wir haben mittler-
weile, wenn man alles zusammenrechnet, einen Schul-
denberg – mit dem müssen wir umgehen – in einer
Größenordnung von 2,3 Billionen DM. Das sind
2 300 Milliarden DM. Davon entfallen 1,5 Billionen bzw.
1 500 Milliarden DM auf den Bund. Es ist eine hervorra-
gende Leistung, dass es diese Regierung in Anbetracht
dieser äußerst schwierigen Rahmensituation schafft – das
sage ich ganz klar –, einen soliden Haushalt vorzulegen,
einen Konsolidierungskurs einzuschlagen und heute ein
Investitionsprogramm im Hinblick auf die UMTS-Erlöse
mit ökologisch wunderbaren Effekten vorzustellen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Weil wir die Privatisierung gegen die SPD durchgeboxt haben!)


Gleichzeitig legen wir das vorliegende Steuersenkungs-
programm auf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben – das kann man an den Zahlen klar sehen –
eine Steuerquote, die in unserer Zeit erstmals wieder ge-
senkt wird. Herr Fromme, wenn Sie sagen, es gebe eine
Steuerentlastung, die in Wirklichkeit eine Steuerbelas-
tung bedeutet, dann kann ich Sie nur darauf hinweisen:
Die Steuerquote ist gesunken. Die gesamte Steuernetto-
entlastung seit Beginn dieser Regierung bis zur letzten
Stufe wird sich in einer Größenordnung von über 90 Mil-
liarden DM bewegen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo denn? Sie haben die Ökosteuer herausgerechnet!)


Es gab in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland noch niemals eine solch hervorragende Steuer-
entlastungspolitik, wie wir sie vonseiten dieser Regierung
jetzt machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben – auch das muss man klar sehen – besonde-
ren Wert darauf gelegt, dass die zusätzliche Entlastung
durch die Reformschritte der breiten Masse der Steuer-
zahler und Steuerzahlerinnen zugute kommt. Die Maß-
nahmen, die Sie mit Ihren Anträgen hier immer wieder
vorstellen, nutzen sehr wenigen. Sie begünstigen in der
Regel diejenigen, die sehr hohe Einkommen haben, damit
sie möglichst – das sieht man an Ihren Vorschlägen in Hin-
sicht auf den § 34 EStG, also zur Betriebsaufgabe – ihren

Steuergestaltungsspielraum nutzen können, um ihre Steuer-
schuld fast auf null zu rechnen.


(Zuruf von der SPD: Schlupflöcher!)

Das ist genau das, was wir vermeiden wollen. Wir wollen
mit niedrigen Tarifen alle vernünftig entlasten. Dazu pas-
sen keine Schlupflöcher in dieser Größenordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Deswegen werden die Konzerne am meisten entlastet!)


Wir haben gerade bei dem Punkt, der die Länder be-
trifft, in der Beratung des Gesetzentwurfs klar gemacht,
dass wir keine weiteren Steuerausfälle verkraften können.
Minister Eichel hat darauf hingewiesen, dass sich das,
was im Bundesrat letztendlich hinzugekommen ist, in ei-
ner Größenordnung von rund 7 Milliarden DM an zusätz-
licher Nettoentlastung bewegt. Das ist das, was man in ei-
ner verantwortlichen Finanzpolitik für Bund und Länder
gerade noch verkraften kann.

Man muss auch sehen, dass wir im Zusammenhang mit
der gesamten Entwicklung der kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmen sehr viele Maßnahmen ergriffen
haben, die bereits im letzten und in diesem Jahr zum Tra-
gen gekommen sind.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Deswegen sind alle so erfreut!)


Wir haben bei einer Betriebsaufgabe den Freibetrag von
60 000 auf 100 000 DM erhöht. Sie hatten ihn seiner-
zeit auf 60 000 DM abgesenkt, um das noch einmal in
Erinnerung zu rufen. Wir haben ihn wieder angehoben.
Auch haben wir gesagt, dass wir alternativ zu dem durch-
schnittlichen halben Steuersatz, der ab dem 1. Januar 2001
mit den begleitenden Maßnahmen ab dem 55. Lebensjahr
oder bei Berufsunfähigkeit gelten wird, die so genannte
Fünftelungsregelung, die wir schon beschlossen haben,
beibehalten werden.

Diese Regelung rechnet sich für kleine Unternehmen,
wenn keine zusätzlichen Jahreseinkünfte in einer Größen-
ordnung gegeben sind, die über dem Existenzminimum
liegen, besser, als wenn man den durchschnittlichen hal-
ben Steuersatz nimmt. Aber das wissen Sie sehr gut.

Wir sind angetreten, die Steuersätze nachhaltig zu sen-
ken. Wir sind angetreten, um gleichzeitig Steuervergüns-
tigungen abzubauen und mit einer verantwortlichen Fi-
nanzpolitik das zu beheben, was Sie jahrelang in Ihrer
Verantwortung – ich sage jetzt einmal ganz bewusst – ver-
murkst haben. Es ist ein großer Schritt, der jetzt zum Ende
gebracht wird; es ist das, was an Ergänzungen zur Steuer-
reform 2000 nach der Bundesratsentscheidung notwendig
geworden ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Murks bleibt Murks!)





Christine Scheel

11959


(C)



(D)



(A)



(B)


Noch einmal kurz zu Ihrem Antrag: Ich gehe davon
aus, dass Sie das ein oder andere nicht so ernst nehmen
können.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Da ist jeder Punkt im Interesse des Mittelstandes ernst gemeint!)


Ich gehe auch davon aus, dass Sie sehr genau wissen, dass
die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1 Pro-
zent notwendig ist, um aufgrund der Strukturumstellun-
gen eine missbräuchliche Gestaltung im Rahmen des Halb-
einkünfteverfahrens und damit unkalkulierbare Steuer-
ausfälle zu verhindern. Es ist zwingend, um das Ganze
auch weiterhin verantwortbar zu gestalten.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist die Korrektur des Murks!)


Ich gehe weiter davon aus, dass Sie genau wissen, dass
Ihr Antrag natürlich nicht angenommen werden kann,
weil Ihre eigenen Länder diesen Antrag nie unterstützen
könnten. Das wäre mehr als peinlich.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412421700
Als
nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1412421800
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wort
vorab zu Ihnen, Frau Scheel. Ihre Pirouetten sind manch-
mal schon tief beeindruckend;


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Antreten – 6,0!)


denn wenn ich mich daran erinnere, dass Sie und der Kol-
lege Metzger in der letzten Wahlperiode gegen die Steu-
erreform mit dem Argument votiert haben, Sie treten ge-
gen eine Nettoentlastungslüge ein, weil der Staat nicht
entlastet werden darf, dann können Sie heute nicht sagen:
Endlich haben wir die Nettoentlastung erreicht, die Sie
vorher bekämpft haben. Das passt überhaupt nicht zu-
sammen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der zweite Punkt. Die Veräußerungen der UMTS-Li-

zenzen und der Segen für den Hans im Glück –, kann ich
an dieser Stelle wohl sagen –, sind nur der Erfolg einer be-
herzten Privatisierungspolitik, die sich für Wettbewerb in
unserer Gesellschaft einsetzt, und zwar für einen Wettbe-
werb als Entdeckungsverfahren: Das beste System wird
sich durchsetzen. Da müssen wir Freiraum schaffen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genauso ist das!)


Ich beglückwünsche Sie, dass Sie momentan Profiteur der
Entscheidungen sind, die wir in der letzten Wahlperiode
getroffen haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aber gewollt haben die es nicht!)


Zu diesem Gesetz konkret. Für die F.D.P. begrüßen wir,
dass es in Deutschland endlich zur ersten Stufe einer Steu-
erreform gekommen ist, wobei insbesondere bei dieser
Reform gilt: Nach der Reform ist vor der Reform. Mit
dem Steuersenkungsergänzungsgesetz, welches wir heute
behandeln, soll eine weitere Entlastung der steuerpflichti-
gen, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft be-
schlossen werden. Hierauf hat die F.D.P. gedrängt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie auch zustimmen!)


Es ist gut, dass dieses Steuersenkungsergänzungsgesetz
eine höhere Nettoentlastung, eine weitere Senkung des
Steuertarifs, eine Absenkung des Spitzensteuersatzes so-
wie die Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei Be-
triebsaufgaben vorsieht. Diese Verbesserungen hat die
F.D.P. durchgesetzt, um die Diskriminierung von Rot-
Grün gegen den Mittelstand an diesen Stellen zu beseiti-
gen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die F.D.P. hatte sich schon zu Beginn der letzten Le-

gislaturperiode für eine durchgreifende Vereinfachung
des Steuerrechtes, für mehr Gerechtigkeit, für ein Sinken
der Steuersätze mit dem Eingangssteuersatz von 15 Pro-
zent und einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent und vor
allem für eine deutliche Nettoentlastung der Bürger ein-
gesetzt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erfolgreich waren Sie nicht!)


Dieses Ergebnis hätten wir haben können, wenn es nicht
blockiert worden wäre.

Lassen Sie uns doch noch einmal in Erinnerung rufen,
was Sie, Frau Scheel, und Rot-Grün eigentlich beschließen
wollten. Es war eine reine Unternehmensteuerreform, die
ausschließlich die Kapitalgesellschaften entlasten sollte.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es!)


Das war der Auftrag, den die Sachverständigenkommis-
sion von Ihnen erhalten hat. Dass wir nicht nur da gelandet
sind, sondern bei einer Senkung des Einkommensteuertari-
fes und einer Senkung der Belastung aller Steuerzahler
– die aus Sicht der F.D.P. nach wie vor zu niedrig ist –, ha-
ben Sie nur dem beständigen Drängen der Opposition zu
verdanken. Sie waren überhaupt nicht auf dem Trip.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Ideologie, Unternehmen in Deutschland müssen

entlastet werden, Unternehmer nicht, verkennt total die
gesellschaftliche Wirklichkeit in unserem Lande. Ja, wer
schafft denn die Arbeitsplätze in unserem Lande? Das
sind die Selbstständigen, die Freiberufler sowie die Mit-
telständler. Und gerade diese sollten nicht entlastet wer-
den. Das war überhaupt nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Christine Scheel
11960


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Härte ist, dass Sie das Ganze mit den Stimmen von
Rot-Grün im Finanzausschuss und im Plenum des Deut-
schen Bundestages vor der Öffentlichkeit dadurch ka-
schieren wollten, dass Sie eine Optionslösung aufgebaut
haben. Die Optionslösung ist von Ihnen gekommen.

Als wir das Thema im Deutschen Bundestag nach dem
Ende der Beratungen unter Ihrem Vorsitz und mit Ihrer
Stimme im Finanzausschuss behandelt haben, waren wir
für den Bereich der Einkommensteuer bei einem Spitzen-
steuersatz von 45 Prozent. Das war Ihre Leistung und in-
sofern finde ich es ganz erstaunlich, wie Sie den Weg zu
den 42 Prozent mühelos zurücklegen. Die Aussage, der
Tarif sei von Ihnen gesenkt worden, entspricht nur leider
nicht den Tatsachen,


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Sind Sie dafür oder dagegen, Herr Thiele?)


denn unter Ihrem Vorsitz und mit Ihren Stimmen lag er bei
45 Prozent und auch der Tarif bewegte sich in dieser
Größenordnung, sodass die Nettoentlastung bei Ihnen viel
niedriger war, als sie jetzt von uns beabsichtigt ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Angesichts der morgigen Sitzung des Finanzaus-

schusses und angesichts der Erfahrungen im parlamenta-
rischen Verfahren zu dieser Steuerreform im Finanzaus-
schuss appelliere ich an Sie, zu einem Minimum an
parlamentarischen Gepflogenheiten zurückzukehren. Die
Begrenzung der Zahl der Sachverständigen, wie es bei der
Anhörung zur Steuerreform der Fall war, war sehr dumm;
denn wenn Sie meinen, Ihre Reform ist gut, dann lassen
Sie doch die Sachverständigen kommen. Die jubeln Ihnen
doch allen zu.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man hat vielmehr den Eindruck, Sie hätten etwas zu

verstecken. Das ist ja vermutlich auch der Grund – das,
Herr Finanzminister Eichel, verstehe ich nicht; vielleicht
könnten Sie darüber einmal mit Ihren Kolleginnen und
Kollegen Abgeordneten reden –, warum morgen bei der
Anhörung zum Steuersenkungsergänzungsgesetz die
Zahl der Sachverständigen auf 15 beschränkt werden soll.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir nur zwei Stunden zur Beratung haben! – Zuruf von der CDU/CSU: Reine Willkür!)


Das ist doch eine reine Jubelnummer, die hier stattfindet.
Wenn es wirklich so ist, dass alle den Entwurf toll finden,
frage ich mich: Warum lassen Sie nicht einfach mehr
Leute jubeln und die sagen, das sei alles eine tolle Ge-
schichte?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Peter Rauen [CDU/CSU]: Die haben Angst vor dem Sachverstand!)


Aus Sicht der F.D.P. muss man in diesem Verfahren
jetzt darauf achten, dass über die Abgrenzungsprobleme
in diesem Bereich bezüglich der Arbeitnehmer, vor allem
aber auch der Handelsvertreter, in Ruhe diskutiert wird.
Wir haben darauf einen Anspruch. Ich kann noch nicht
voraussagen, wie es ausgeht, aber ich glaube, wir sind es

den Betroffenen schuldig, diesen Punkt in Ruhe zu be-
raten. Wenn dazu Sachverstand beiträgt, bitte ich Sie, die-
sen Sachverstand zuzulassen. Wie die Entscheidung dann
am Ende ausfällt – ob mit einer breiten Mehrheit oder mit
einer knappen Mehrheit –, ist dann Sache der Politik. Es
ist aber im Grunde genommen unter Niveau, den Sach-
verstand vorher auszubremsen, weil er nicht opportun ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Unparlamentarisch!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412421900
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von der SPD-Frak-
tion.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1412422000
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Herr Fromme: Ich bin wirk-
lich ein bisschen enttäuscht, weil Sie die uralten Debatten
hier wiederholen, deren Resultate in der Praxis längst
überholt worden sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das tut weh!)

Frau Scheel hat Ihnen dies deutlich vorgerechnet. Ich
hätte auch erwartet, dass gerade eine christliche Partei mit
uns bei der Bekämpfung von Steuermissbrauch und dem
Stopfen von Steuerschlupflöchern auf dem Vormarsch ist
und an unserer Seite kämpft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unbelehrbarkeit ist allerdings eine Eigenschaft, die für
die heutigen Anforderungen der Politik gänzlich untaug-
lich ist.

Herr Thiele, eines muss ich Ihnen sagen: Da ich Sie
schon länger kenne, weiß ich, dass Sie aus allen Dingen
Honig saugen können,


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Jetzt wird der Honig verteilt!)


egal, ob Sie etwas dafür können oder nicht. Wir sind aber
großzügig und wenn Sie im Endeffekt nach einer sachli-
chen Beratung zustimmen, werden wir das toll finden und
können uns auf dieser Basis verständigen.

Es ist richtig, Herr Fromme, die Bezeichnungen Steu-
ersenkungsergänzungsgesetz und Steuer-Euroglättungs-
gesetz sind technische Begriffe, unter denen sich außer-
halb der Fachwelt kaum jemand etwas vorstellen kann. Es
ist doch viel verständlicher, wenn Sie zum Beispiel in der
Oktoberausgabe 2000 der Zeitschrift der Stiftung Waren-
test lesen: „Steuerveränderungen 2001, da bleibt was hän-
gen!“ und im „Handelsblatt“ nachlesen, bei wem etwas
hängenbleibt. Da ist das aufgelistet.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Bei wem, das ist die Frage!)


Dort, Herr Rauen und Herr Michelbach, steht in der Aus-
gabe vom 25. September: „Steuerbelastung sinkt kräftig,
Steuerreform im Praxistest, Mittelstand wird nicht be-
nachteiligt.“ Sie als Mittelständler sollten sich diesen Ar-
tikel mit den Beispielrechnungen ganz genau ansehen.


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Er hat das schon abbestellt!)





Carl-Ludwig Thiele

11961


(C)



(D)



(A)



(B)


Er bestätigt das, was wir von Anfang an gesagt haben: Der
Mittelstand wird kräftig entlastet.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt glaube ich das auch noch!)


Wenn Sie sich, meine Damen und Herren, die kleine,
aber ökonomisch effiziente und unternehmerisch voraus-
schauende Mühe gemacht hätten, die Auswirkungen der
neuen Bestimmungen, die Sie in harter Arbeit – wie wir
sie im Finanzausschuss immer leisten – zwar nicht zu-
stimmend, aber doch Halbsatz für Halbsatz mitbegleitet
und mitdiskutiert haben, einmal auf Ihre eigenen mittel-
ständischen Unternehmen hochzurechnen und Vergleiche
zwischen 1997 und 1998 sowie 1999 bis 2005 anzustel-
len, dann müssten Sie heute aufstehen – Herr Michelbach,
Sie können das noch tun – und wie das „Handelsblatt“ sa-
gen: Alle Unternehmen, selbst mein eigenes, werden un-
abhängig von der Rechtsform durch diese Steuerreform
entlastet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Das stimmt ja leider nicht!)


Sie müssten hier stehen und offen bekennen –, wie das
„Handelsblatt“, dessen Meinung vorher auch ganz anders
lautete –: Es haben sich Vorurteile in unseren Köpfen fest-
gesetzt, diese müssen wir nach dem praktischen Umgang
mit dieser Gesetzgebung heute relativieren. Aber wie ich
Sie kenne, werden Sie die höheren Gewinne nach Steuern
einstecken – diese gönnen wir Ihnen natürlich; denn wir
haben die Entlastungen der mittelständischen Unterneh-
men bewusst durchgeführt – und hier – lernunfähig wie
die Dinosaurier – weiterhin verkünden, wie schlecht die
Steuerreform gewesen ist. In unserer offenen demokrati-
schen Gesellschaft ist Lernunfähigkeit allerdings kein
Grund, jemanden von den erwünschten positiven Erfol-
gen unserer hervorragenden Finanz- und Wirtschaftspoli-
tik auszuschließen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
wissen, dass Mittelständler wie Sie und viele Tausend an-
dere Arbeitsplätze bzw. Ausbildungsplätze sichern, die
Bedürfnisse der Bevölkerung im Konsum- und Dienst-
leistungsbereich abdecken und innovativ und flexibel die
sich schnell verändernden Bedingungen in der Wirtschaft
mitgestalten oder gar vorantreiben. Deswegen fällt der
Anteil unserer seriös finanzierten Entlastungsmasse auf
diese Leistungsträger.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Buchstabieren Sie einmal „seriös“!)


Dass wir es im Prinzip geschafft haben, Herr Dautzenberg,
alle Steuerzahler zu entlasten, kommt nochmals den mit-
telständischen Unternehmen zugute, was sich jetzt die
F.D.P. auf ihre Fahnen schreiben will.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Liebe Kollegin, das stimmt doch nicht! – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Es war doch nur der Druck, der Sie dahin gebracht hat!)


Sie werden mit Ihren pessimistischen Voraussagen,
Herr Rauen, und Ihrem ständigen Jammern eines wirklich

nicht verhindern können: Die Inlandsnachfrage bleibt ro-
bust.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Warum sind dann die Kfz-Zulassungen um 10 Prozent zurückgegangen?)


Es werden neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben mit
dem Steuersenkungs- und dem Steuersenkungsergän-
zungsgesetz den Menschen so viel Geld in die Hand ge-
geben, dass sie


(Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Heizrechnung nicht bezahlen können!)


sich endlich die Investitionen leisten können, auf die sie
in den Jahren Ihrer Regierungszeit lange verzichten muss-
ten.


(Zuruf des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])

– Da können Sie gespannt sein, Herr Seiffert. Wir freuen
uns gemeinsam darauf; einigen wir uns so.

Eine Verkäuferin zum Beispiel wird im Jahre 2005 ein
Viertel ihrer Lohnsteuersumme übrig behalten. Ein Fami-
lienvater mit zwei Kindern zahlt bei 60 000 DM Jahres-
einkommen nur noch 60 Prozent seiner jetzigen Steuern.
Selbst der Zahnarzt mit 250 000 DM Jahreseinkommen
wird 10 Prozent seiner bisherigen Steuerbelastung übrig
behalten. Das sind Ihre potenziellen Kunden. Davon wer-
den unser Handwerk, unsere Dienstleister, unser Handel
in hohem Maße profitieren. In Zukunft werden wir alle
mehr in unseren Portemonnaies haben. Das gilt vor allem
für diejenigen, die jetzt nicht den Spitzensteuersatz zah-
len. Das ist die Quintessenz aus dem Steuersenkungs- und
Steuersenkungsergänzungsgesetz mit der weiteren Mit-
telstandskomponente.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Leider reicht das nicht, um die höheren Energiekosten zu bezahlen!)


Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU/CSU, liest sich wieder einmal wie ein Forderungs-
katalog des BDI. Ich habe die Schreiben der letzten Wo-
chen durchgesehen und festgestellt, dass keine der Forde-
rungen aus diesen Schreiben in Ihrem Antrag ausgelassen
worden ist.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Weil es sinnvoll ist!)


– Das Abschreiben von Forderungskatalogen, Herr
Fromme, ersetzt wirklich kein gutes, neues Steuerkon-
zept. Das ist aber Ihre Art, Politik zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die abenteuerlichen Vorschläge, die ich aus Ihrer Frak-
tionssitzung höre, zur weiteren Senkung des Spitzensteu-
ersatzes zeigen,


(Zuruf des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU])

Herr Rauen, die von Ihnen leider seit vielen Jahren geübte
Praxis einer unsoliden Haushaltsführung. Ihre Politik, fik-
tive Einnahmen schon vorher zu verbraten, hat uns einen
Schuldenberg beschert, den wir jetzt langsam abtragen




Lydia Westrich
11962


(C)



(D)



(A)



(B)


müssen. Die jetzige Bundesregierung und die Fraktionen
der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen haben – Gott sei
Dank – ein anderes Verständnis von solider Haushalts-
führung. Wir unterscheiden zwischen frommen Wün-
schen und verantwortungsbewusstem Handeln. Vielleicht
kommen Sie irgendwann auch noch dahin. Letzteres
bleibt auch die Maxime unseres Handelns.

Das gilt auch für das Steuer-Euroglättungsgesetz.
Hier gehen die Bundesregierung und die sie tragenden
Koalitionsfraktionen – ich hoffe, auch alle anderen Frak-
tionen werden das tun – mit bestem Beispiel voran. Wir
dürfen das Vertrauen der Bevölkerung in den Euro nicht
leichtsinnig zerstören. Deshalb bemühen wir uns gemein-
sam, die Umstellung der Freibeträge in den verschiedens-
ten Gesetzen so vorzunehmen, dass wiederum eine sehr
positive Wirkung für die Bürger eintritt, und zwar sowohl
bei den Erbschaftsteuerfreibeträgen als auch bei den Sparer-
freibeträgen und auch bei der Freigrenze für Sachbezüge
von Arbeitnehmern, deren Verdoppelung gleichzeitig eine
wunderbare Verwaltungsvereinfachung mit sich bringt
und die den Arbeitnehmern am Arbeitsplatz auch einmal
den privaten Blick ins Internet steuerneutral erlauben
wird.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das sah zuerst ganz anders aus!)


Auch hier sorgen wir dafür – ich hoffe: gemeinsam –, dass
mehr als 350 Millionen DM in die Taschen der Menschen
zurückfließen werden.

Allerdings verbinden wir – ich denke, das können wir
gemeinsam auch fordern – mit diesem Verfahren der
Euro-Umrechnung auch die Erwartung, dass die private
und die öffentliche Wirtschaft dem Staat nacheifert und
das Vertrauen der Bürger in die Stabilität und den Erfolg
des Euro durch eine faire Umstellung von Preisen und Ge-
bühren stärken hilft.

Geben Sie sich wie Herr Thiele einen Ruck. Wir bera-
ten sachlich. Sie können Ihr falsches Urteil wieder rück-
gängig machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Das hat Herr Thiele doch an euch gerichtet!)


Das Steuersenkungsgesetz hat sich nach übereinstimmen-
der Meinung im Praxistest als gut herausgestellt. Durch
Ihre Zustimmung zum Steuersenkungsergänzungsgesetz
können Sie demonstrieren, dass Sie Ihre Unbelehrbarkeit
überwunden haben


(Heiterkeit bei der SPD)

und mit uns eine moderne und solide Finanzpolitik ma-
chen wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412422100
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Frak-
tion.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1412422200
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch nach
der heutigen Debatte bleibt das Fazit: Ungleichbehand-
lungen, Ungerechtigkeiten, Nachbesserungen und leere
Versprechungen sind zum Markenzeichen der rot-grünen
Bundesregierung in der Steuerpolitik geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie, Herr Bundesfinanzminister, machen nicht die

größte Steuerreform aller Zeiten. Sie machen bis 2005 die
langsamste und zögerlichste Steuerreform aller Zeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Steuerreform, Herr Bundesfinanzminister, hat einen
so langen Bart. Sie sind der größte Steuermethusalem
aller Zeiten.


(Lachen bei der SPD)

Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Steuerreform ist so lang-
sam, dass sie sich geradezu selbst überholt. Sie sind auf
der Steuerkriechspur. Ihre Steuerreform wird sich sozusa-
gen selbst verjähren.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Es hat sich überall – das merken die Leute – Ernüchte-

rung breit gemacht, wenn es um die Steuerreform geht.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Rede mit diesem Unsinn sollten Sie ordentlich verbreiten!)


Der Steuerzahler sieht sich zu spät und vor allem ungenü-
gend entlastet. Die Wirtschaft beurteilt das Ergebnis in-
zwischen mit großer Skepsis. Da hilft Ihnen dauerhaftes
Selbstlob nur sehr wenig, insbesondere auch deshalb, weil
die Steuerquote mit 22,6 Prozent ein Höchstniveau er-
reicht hat und weitere Belastungen durch neue Gegenfi-
nanzierungsmaßnahmen notwendig sind. Sie treiben mit
den AfA-Tabellen geradezu ein Versteckspiel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Ich als mittelständischer Unternehmer kann doch erst
dann eine Rechnung über Renditen und Investitionen auf-
machen, wenn ich weiß, wie hoch die Gegenfinanzierung
ausfallen wird.


(Nicolette Kressl [SPD]: Herr Michelbach hat im Ausschuss geschlafen und nicht aufgepasst!)


Ihre Rechnung, Frau Westrich, hält also nicht das, was Sie
versprochen haben.

Nein, mehr und mehr wird draußen erkannt: Das
Unternehmensteuersenkungsgesetz ist ungerecht, will-
kürlich und vor allem auch kompliziert. Die Ergebnisse
der wissenschaftlichen Prüfung lassen schon jetzt Verfas-
sungsbeschwerden der betroffenen Steuerzahler erwarten.
Wesentliche Elemente des Unternehmensteuersenkungs-
gesetzes sind aus verfassungsrechtlicher und europarecht-
licher Sicht bedenklich. Schwer wiegen hierbei die Ver-
stöße gegen das Nettoprinzip durch das Verbot des
Abzugs von Aufwendungen und die Ungleichbehandlung
bei den Veräußerungsgewinnen.




Lydia Westrich

11963


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch die Tarifspreizung zwischen dem Spitzensteu-
ersatz der Einkommensteuer und dem Körperschaftsteu-
ersatz ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
mehr als fraglich. Dies gilt vor allem dann, wenn die An-
rechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer-
schuld der Personengesellschafter und der Einzelunter-
nehmer nicht mit der Verfassung in Einklang steht. Der
Vorgängerparagraph 32 c des Einkommensteuergesetzes
ist vom Bundesfinanzhof ja schon für verfassungswidrig
erklärt worden. Wir müssen sehen, was das Bundesver-
fassungsgericht jetzt dazu sagt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war doch Ihrer! – Lydia Westrich [SPD]: Das hat Herr Waigel gemacht!)


Das steuerpolitische Stückwerk geht bei Ihnen weiter,
meine Damen und Herren. Die rot-grüne Koalition bringt
schon jetzt eine erste Korrektur mit dem so genannten
Steuersenkungsergänzungsgesetz ein, das im Bundesrat
von Ihnen, Herr Finanzminister, geradezu als Placebo für
den Mittelstand verschenkt wurde. Die schwerwiegende
Fehlkonstruktion im deutschen Steuerrecht wird damit
nicht korrigiert; sie wird vielmehr mit weiteren Ungleich-
behandlungen verschärft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die mittelständischen Unternehmen, die 95 Prozent

aller in Deutschland ansässigen Unternehmen ausma-
chen, werden teilweise erheblich diskriminiert. Eigentlich
sollte das Steuersenkungsergänzungsgesetz die Diskrimi-
nierung der Unternehmen bei der Unternehmensteuerre-
form verringern. Diesem Ziel wird der Gesetzentwurf je-
doch überhaupt nicht gerecht. Die Gerechtigkeitslücken
werden sogar vergrößert. Die von der rot-grünen Bundes-
regierung versprochene Wiedereinführung des halben
durchschnittlichen Steuersatzes für Betriebsveräuße-
rungen und -aufgabenwird nicht konsequent umgesetzt.
Damit entstehen neues Flickwerk und Willkür für die be-
troffenen Unternehmen. Dem Mittelstand wird Entgegen-
kommen suggeriert, in Wirklichkeit werden aber voraus-
sichtlich 60 Prozent der Personengesellschafter und
Einzelunternehmer durch das Gesetz kaum besser ge-
stellt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Das ist die alte Rede, die nicht mehr gilt!)


Die Anwendung der Begünstigungsvorschrift ist an viel
zu viele Voraussetzungen geknüpft. Das Gesetz sieht er-
hebliche Einschränkungen vor: Die Mindestbesteuerung
nach dem Eingangssteuersatz und der Höchstbetrag von
10Millionen DM Veräußerungsgewinn bedeuten eine un-
angemessene und ungerechte Einschränkung.

Ich sage Ihnen: Der Gipfel der Gerechtigkeitslücke
trifft ausgerechnet die kleineren und mittleren Mittel-
standsbetriebe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.])


Durch die im Gesetz geforderte Mindestbesteuerung mit
dem Eingangssteuersatz wird bei einem verheirateten
Personengesellschafter ein Veräußerungsgewinn bis zu
444 000 DM nicht unter die Begünstigungsvorschrift des

halben durchschnittlichen Steuersatzes fallen; hören Sie
sich das einmal an. Das ist Fakt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Und bei demjenigen, der 1999 oder 2000 seinen Betrieb
aufgeben oder verkaufen musste, findet Ihr Gesetz keine
Anwendung. Es ist doch ungerecht, dass ausgerechnet
derjenige, der das vorher durchführen musste, überhaupt
keine Berücksichtigung findet.

Das ist die Wahrheit über die soziale Gerechtigkeit die-
ser rot-grünen Bundesregierung. Der Mittelstand wird ab-
kassiert und ungerecht behandelt. Es findet hier die Tei-
lung der Wirtschaft zulasten der kleineren und mittleren
Betriebe statt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Niemand kann nach diesem mittelstandsunfreundlichen
Gesetz noch davon sprechen, dass bei der Regierung
keine Mittelstandsfeindlichkeit vorhanden wäre.

Es gibt weitere Gerechtigkeitslücken, zum Beispiel bei
den Veräußerungsgewinnen, wenn man an die Vorausset-
zungen für den halben durchschnittlichen Steuersatz
denkt oder an die unterschiedlichen Möglichkeiten, die
man bei Veräußerungsgewinnen und insbesondere bei den
Kapitalanteilen in der Steuerfreiheit hat.

Die CDU/CSU hat mit dem heutigen Antrag dagegen
ein mittelstandsfreundliches Steuerkonzept eingebracht.


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Ach was!)

Wir fordern damit die Korrektur Ihrer Gesetze! Es ist eine
wenigstens annähernde Gleichberechtigung bei den Kapi-
talgesellschaften zu erreichen. Deshalb ist es erforderlich,
dass auf sämtliche Betriebsaufgaben von Personengesell-
schaften der halbe durchschnittliche Steuersatz Anwen-
dung findet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ferner muss eine Gleichbehandlung der Personengesell-
schafter und Einzelunternehmer bei der Besteuerung von
Anteilsveräußerungsgewinnen erfolgen. Diese Gewin-
ne, die bei den Kapitalgesellschaften steuerfrei sind, müs-
sen auch bei den mittelständischen Unternehmen begüns-
tigt werden. Hierzu ist erforderlich, dass die Gewinne zu
100 Prozent in eine steuerfreie Rücklage fließen. Um-
strukturierungen müssen bei den mittelständischen Unter-
nehmen genauso wie bei den Kapitalgesellschaften geför-
dert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir fordern deshalb auch die Wiederheraufsetzung der

Grenze für wesentliche Beteiligungen auf 25 oder mindes-
tens 10 Prozent und die Wiedereinführung des halben
durchschnittlichen Steuersatzes für Arbeitnehmerabfin-
dungen und für Ausgleichszahlungen an selbstständige
Handelsvertreter. Natürlich fordern wir auch Klarheit bei
den Afa-Tabellen sowie eine frühere Senkung des Ein-
kommensteuerspitzensatzes, der erst im Jahr 2005 und da-
mit für die Personenunternehmen zu langsam gesenkt
wird.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer zahlt das alles?)





Hans Michelbach
11964


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Bundesfinanzminister, Sie dürfen nicht glauben,
dass Sie durch das völlig ungenügende Steuersenkungser-
gänzungsgesetz die Steuerzahler ruhig gestellt haben.
Auch in Zukunft werden die mittelständischen Unterneh-
mer immer wieder darauf hinweisen, dass sie bei ihrer
großen volkswirtschaftlichen Bedeutung ein Recht darauf
haben, im Vergleich mit den Kapitalgesellschaften nicht
höher besteuert zu werden, und Chancengleichheit erhal-
ten müssen. Die mittelständische Wirtschaft wehrt sich
dagegen, dass sie von Ihnen zur Melkkuh der Nation de-
gradiert wird.

Ich muss Ihnen sagen: Dieses Steuersenkungsergän-
zungsgesetz ist lange nicht das, was es verspricht. Die
Steuerpolitik wird ungerechter und bleibt weiterhin will-
kürlich.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412422300
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4217 und 14/4293 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Antrag auf Drucksache 14/4285 soll an dieselben Aus-
schüsse überwiesen werden, wobei der Haushaltsaus-
schuss diese Vorlage mitberatend erhalten soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten

(Recklinghausen)

ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung
der beamtenrechtlichen Altersteilzeit
– Drucksache 14/3777 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss

Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Gibt es dagegen Widerspruch? – Das ist
nicht der Fall.

Folgende Reden werden zu Protokoll genommen: die
Reden der Kollegen Hans-Peter Kemper von der SPD-
Fraktion, Meinrad Belle von der CDU/CSU-Fraktion,
Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max
Stadler von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Petra
Pau von der PDS-Fraktion.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3777 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf.
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Wahlen in Belarus
– Drucksache 14/4252 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1412422400
Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Im großen Haus Europa haben wir
ein Sorgenkind, das wir ziemlich wenig beachten. Es ist
Belarus mit dem autoritär-patriarchalischen Diktator Lu-
kaschenko, der sich seit Jahren demokratisierungsresis-
tent zeigt.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben im Jahr 1996,
nachdem Lukaschenko durch ein Referendum hand-
streichartig sein Parlament entmachtet, die Verfassung
ausgehebelt und seinem Präsidentenamt diktatorische
Machtfülle zugeschanzt hatte, Restriktionen verhängt, die
bis heute fortgelten. Wir unterhalten keine bilateralen Be-
ziehungen auf Ministerebene, ein Beitritt zum Europarat
wird Belarus verwehrt und über das Abkommen über
Partnerschaft und Kooperation wird nicht weiter verhan-
delt. Damit ist Belarus auch von den EU-Programmen für
die Transformationsländer abgeschnitten. Es laufen nur
noch humanitäre Programme, Unterstützungen für Nicht-
regierungsorganisationen im Menschenrechtsbereich und
kleinere Bildungsprogramme.

Aber die Hoffnung, dass durch diese Sanktionen eine
Rückkehr zur Demokratie bewirkt werden könnte, hat ge-
trogen.


(Beifall des Abg. Konrad Gilges [SPD])

Die Isolation von Belarus führt dazu, dass das Land aus
dem europäischen Staatenverbund ausgeschlossen ist.
Umgekehrt führen auch die europäischen Staaten keinen
Dialog mehr mit Belarus. Damit können sie keinen großen
Einfluss auf die Politik von Belarus nehmen. Deshalb
glaube ich, dass die Aufrechterhaltung dieser Isolation
weder im Interesse von Belarus, was seine demokratische
Entwicklung angeht, noch in europäischem Interesse
liegt. Es ist Zeit, diese Isolation zu durchbrechen.

Die Möglichkeit dazu besteht, wenn bei den Parla-
mentswahlen in Belarus am 15. Oktober demokratischen
Mindeststandards Genüge getan wird. In unserem inter-
fraktionellen Antrag unterstreichen wir unser „großes In-
teresse, ein demokratisches Belarus als geachtetes Mit-
glied in der europäischen Staatengemeinschaft zu
begrüßen“.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bis dahin wird es aber ein langer Weg sein und die Wahlen
werden allenfalls den Beginn dieses Weges darstellen.




Hans Michelbach

11965


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

Am 13. November 1997 hat der Deutsche Bundestag
mit den Stimmen aller Parteien außer der PDS eine Vor-
lage verabschiedet, in der Belarus zur Rückkehr zur
Demokratie aufgefordert wurde. Das Parlament, das
Lukaschenko ernannte, wurde nicht anerkannt. Wir haben
seitdem nur mit den oppositionellen Abgeordneten des
entmachteten Parlaments Kontakte aufrechterhalten.

Es sind und waren in der Tat inakzeptable Zustände in
Belarus. Wir alle wissen, dass die demokratischen Rechte
ausgehebelt sind, dass die Menschenrechte nicht einge-
halten werden, dass die Opposition verfolgt wird, dass
Menschen verschwinden und dass es weder echte Medien –
noch Meinungsfreiheit gibt. Bei allen Demokratisierungs-
bemühungen, die die OSZE und der Europarat in dieser
ganzen Zeit unternommen haben, ist es immer nur wie bei
der Echternacher Springprozession zugegangen, nämlich
ein Schritt vor und zwei zurück, das heißt: Zusagen wur-
den nicht oder nur halb eingehalten. Es gab kleine Fort-
schritte, aber eben auch herbe Rückschläge.

Trotz der Zustimmung von Belarus auf dem
OSZE-Gipfel zu der Advisory and Monitoring Group der
OSZE, die ihre Arbeit im Februar 1998 aufgenommen hat,
hat die unter der Leitung von Botschafter Wieck stehende
Mission, deren Aufgabe die Hilfestellung zur Demokrati-
sierung und die Hinführung zu einem politischen Plura-
lismus war, über zwei Jahre nur mit minimalen Erfolgen
gearbeitet.

Lassen Sie mich an dieser Stelle Botschafter Wieck
meinen ganz besonderen Dank und meine Hochachtung
für seine Arbeit aussprechen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ihm ist es zu verdanken, dass wir jetzt, kurz vor der Wahl
am 15. Oktober, im Vorfeld der Wahlen doch einen Hoff-
nungsschimmer und einige Fortschritte erkennen. Ich
schließe auch den deutschen Botschafter in Minsk in die-
sen Dank ein. Er hat diese Bemühungen in unermüdlicher
Arbeit unterstützt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Man hat es in Belarus nicht nur mit einem diktatori-
schen und demokratieunwilligen Regime zu tun, sondern
auch mit einer starrköpfigen und sehr zerstrittenen Oppo-
sition. Dies macht die Sache nicht leichter. Trotzdem ist
es der OSZE-Mission gelungen, den Dialog mit der
Staatsmacht und mit der Opposition in Gang zu bringen.
Ich denke, das war eine harte Arbeit. Es erweckt Hoff-
nungen, dass möglicherweise doch eine Lösung der in-
nenpolitischen Krise zu finden sein wird.

Diese Mission hat zusammen mit dem Europarat vier
Kriterien für diese Wahl entwickelt. Sie stellen Mindest-
standards für freie und faire Wahlen dar. Das heißt: Es
muss ein Wahlgesetz geben, das diesen demokratischen
Mindeststandards genügt; es muss allen Medien der Zu-
gang ermöglicht werden, nicht nur denen der Staatsmacht;
es muss im Vorfeld der Wahl eine Periode des politischen
Friedens geben, in der es keine Oppressionen mehr gegen

Oppositionspolitiker gibt; und die Rechte des zukünftigen
Parlaments sollen gestärkt werden.

In den ersten drei Bereichen gibt es Fortschritte. Des-
halb hat die 3. Technische Konferenz der OSZE be-
schlossen, eine so genannte technische Wahlbeobachtung
zuzulassen. Sie will mit dieser Wahlbeobachtung zwar
keine vorauseilende Absegnung eines demokratischen
Prozesses signalisieren – das Ganze ist ja in gewisser
Weise ein diplomatischer Spagat –, aber vielleicht kann ja
durch Hinschauen sichergestellt werden, dass die Min-
deststandards eingehalten werden. An dieser technischen
Beobachtermission wird auch die parlamentarische EU-
Troika, die aus Vertretern des Europäischen Parlaments
und des Europarats sowie aus OSZE-Parlamentariern be-
steht, teilnehmen.

An dieser Stelle möchte ich den Mitgliedern dieser spe-
ziellen aus Parlamentariern des Europäischen Parlaments,
der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und des
Europarats entstandenen Gruppe ausdrücklich danken.
Vor allen Dingen schließe ich in diesen Dank unsere eige-
nen Kollegen Wolfgang Behrendt und Gert Weisskirchen
vom Europarat bzw. der OSZE und unseren früheren Kol-
legen Robert Antretter mit ein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte doch sehr
davor warnen, jetzt schon von einer Wahlfarce zu spre-
chen, so wie es heute in der „Welt“ geschehen ist. Die
OSZE und viele, die sich in Belarus auskennen, signali-
sieren, dass es eine Chance gibt, dass diese Wahlen eini-
germaßen ordentlich über die Bühne gehen. Wir sollten
uns nicht vor Beendigung der Wahlen ein Urteil darüber
erlauben, ob sie einen Fortschritt in den Bereichen ge-
bracht haben, wo wir ihn uns wünschen. Wir könnten
dann an etwas anknüpfen, was ich für dringend erforder-
lich halte. Wir müssen nämlich endlich mit der Isolati-
onspolitik gegenüber Belarus aufhören und wieder in ei-
nen politischen Dialog eintreten. Dazu gehört, dass wir
auch wieder den Zugang zu Hilfsprogrammen ermögli-
chen. Ohne Hilfsprogramme wird dieses Land nicht auf
die Beine kommen. Es ist wirtschaftlich am Boden, die
Menschen hungern und es ist von wirklich substanziellen
Hilfsprogrammen abgeschnitten, die es wieder ein wenig
auf die Beine bringen könnten,


(Beifall des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


sodass eine wirtschaftliche Integration in die Europäische
Union überhaupt angestrebt werden kann.

Dazu bedarf es dann natürlich umgekehrt der Zuge-
ständnisse dieses Diktators, der offensichtlich kein Be-
wusstsein dafür hat, dass sein Volk hungert und friert. Wir
brauchen ganz offensichtlich eine neue Strategie, die nicht
nur mit harten Sanktionen arbeitet, sondern die „sticks“
und die „carotts“ ein wenig gleichmäßiger verteilt. Das
heißt nicht, dass wir unsere Ansprüche an die De-
mokratisierung herunterschrauben sollten. Das heißt aber,
dass wir darauf bestehen müssen und von unserer Seite al-
les dafür tun müssen, dass auch nach den Wahlen, selbst




Uta Zapf
11966


(C)



(D)



(A)



(B)


wenn sie nicht so ausfallen, wie wir es uns vor dem
Hintergrund unserer Standards wünschen, die ganz wich-
tige Arbeit der OSZE-Mission in Minsk weitergeführt
wird. Dies ist bisher die einzige Dialogplattform, die et-
was bewirkt hat. Dies beinhaltet für uns die Verpflichtung,
dass wir als Parlamentarier und auch unsere Regierungen
wieder in einen intensiveren Dialog eintreten, um auf
diese Regierung Einfluss auszuüben. Es gibt in dieser
Regierung nämlich Kräfte, die den Dialog mit Europa und
die Rückkehr zur Demokratie wollen. Diese Kräfte sowie
die demokratische Opposition müssen wir mit unserer Po-
litik stärken. Dies wird nicht gelingen, wenn wir die Iso-
lationspolitik weiterführen.

Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen.
Demnächst wird Weißrussland ein Nachbar des erweiter-
ten Europas sein. Es wird Konflikte an diesen Grenzen ge-
ben, die sich schon heute abzeichnen und immer stärker
werden können. Das heißt, dass wir ein großes Interesse
an einer positiven Entwicklung haben müssen.

Ich möchte einen letzten Punkt selbstkritisch äußern.
Wir neigen dazu, doppelte Standards anzuwenden.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Sehr richtig!)

Wenn wir zum Beispiel die Vorgänge in anderen Trans-
formationsstaaten, zum Beispiel die Vorgänge in Russ-
land und in der Ukraine, beurteilen, dann fällt das Urteil
immer wesentlich milder aus, als es gegenüber Weißruss-
land ausfällt.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies wird uns mit Recht vorgehalten. Lassen Sie uns also
allesamt daran arbeiten, dass sich dieses Land demokra-
tisch entwickelt! Es gibt eine Chance, dass dieses Land
am 15. Oktober in den Schoß der europäischen demokrati-
schen Völkerfamilie zurückfindet. Unseren Teil wollen
wir gerne dazu beitragen.

Wir appellieren auch heute an Präsident Lukaschenko
– wir hatten dazu bereits eine Resolution verabschiedet –,
zur Demokratie und Rechtstaatlichkeit zurückzukehren.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412422500
Das Wort
hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1412422600
Herr Präsi-
dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Zapf, Optimismus ja, aber auch Skepsis.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ja!)

Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie fragen, ob man vorneweg
die Wahl tatsächlich als Farce bezeichnen sollte. Diese
Einschätzung ist sehr pessimistisch. Es deuten aber sehr
viele Anzeichen darauf hin, dass Lukaschenko noch der

ist, der er war. Wir müssen deswegen höllisch aufpassen,
dass aus dieser Wahl keine Farce wird.

Ich halte es für gut, dass sich die Opposition – jeden-
falls in wesentlichen Teilen – bereit erklärt und sich
durchgerungen hat, an der Wahl teilzunehmen. Die Boy-
kottphilosophie ist fragwürdig. Ich schließe damit an die
Frage der Isolation an – Frau Kollegin, auch Sie haben
diesen Punkt genannt –, über die wir gestern im Zusam-
menhang mit Serbien diskutiert haben: Die Bevölkerung
sozusagen in Haft zu nehmen für eine Clique, von der sie
regiert und drangsaliert wird, ist eine politisch und mora-
lisch höchst fragwürdige Art und Weise, sich mit den Pro-
blemen auseinander zu setzen.


(Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU])


Deswegen sollten wir uns, was die Hilfsprogramme und
andere Maßnahmen betrifft, in Richtung Weißrussland
öffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Ich vermute, dass Lukaschenko über die entsprechende
Kanäle gesagt worden ist, dass internationale Anerken-
nung die Einhaltung von Mindeststandards der Demo-
kratie bedingt. Alle Autokraten und Diktatoren trachten
und schmachten immer geradezu nach internationaler An-
erkennung. Ab und an lassen sie sich zu Veränderungen
bewegen, die ohne OSZE und das Engagement der Di-
plomatie – wir haben die Tätigkeit von Botschafter Wieck
und auch die Unterstützung durch das Auswärtige Amt in
unserem gemeinsamen Antrag hervorgehoben – nicht
möglich wären. Das galt schon vor drei Jahren, als wir
versucht haben, aus der Malaise Lukaschenko durch
diplomatischen Druck herauszukommen.

Ich hoffe, dass die Maßnahmen wirken. Ich hoffe, dass
die OSZE einen hoffnungsvollen Bericht abgeben kann,
der zwar wohl nicht auf ein Wunder hindeuten wird, der
aber einen einigermaßen pluralistischen Wahlausgang
und eine angemessene – also im Sinne: die Rechte des an-
deren achtend – Verhaltensweise aller Beteiligten zum In-
halt haben wird.

Wir wissen, dass die Opposition zusammen mit den
Gewerkschaften für Samstag eine Protestkundgebung
plant. Hier ist vermutlich die erste Gelegenheit für
Lukaschenko nachzuweisen, dass er den Sicherheitsappa-
rat nicht so zupacken lässt, wie er es in der Vergangenheit
leider des Öfteren getan hat.

In diesen Tagen nach den revolutionsähnlichen Um-
wälzungen in Belgrad blickt sicher auch die Opposition in
Minsk gespannt und ein wenig neidisch nach Serbien. Der
Anschauungsunterricht in Sachen „Wie stürze ich einen
Autokraten?“ wird ihr bei dieser Wahl allerdings noch
nicht helfen – das ist meine Erwartung – da ein Sturz
Lukaschenkos nicht absehbar ist. Er hat nach wie vor ei-
nen gut gesicherten Machtapparat im Rücken, der durch
viele Geheimdienstler, durch Polizei usw. unterstützt
wird. Die Medien hat er vollständig im Griff. Die ihm ge-
nehme Verfassung und das widerrechtliche Referendum




Uta Zapf

11967


(C)



(D)



(A)



(B)


von 1996 geben ihm eine starke Stellung. Die Opposition
hat es also nicht leicht.

Allerdings muss ich hinzufügen: Ein Stück Unsicher-
heit besteht für jeden Autokraten und Diktator. Wie viele
Berichte haben auch wir von gut informierten Nachrich-
tendiensten und gut informierten Analysten erhalten, in
denen uns mitgeteilt wurde, dass an dem Stuhl kaum zu
rütteln ist? Aber siehe da: Wie Frühlingsschnee in der
Sonne schmolz der Stolz der Diktatoren dahin, schneller,
als sie es sich und als wir es uns haben vorstellen können.
Gerade deswegen müssen wir jetzt die Opposition unter-
stützen. Ich glaube, ich darf das für das ganze Haus in An-
spruch nehmen: Jeder auf seinen Kanälen, jeder mit sei-
nen Kontakten hat die Opposition in Belarus nicht aus den
Augen verloren und unterstützt sie. Deswegen muss man
Leuten wie Statkewitsch, Tschigir und all den anderen
ganz klar sagen: Macht weiter, beteiligt euch!

Die Unentschiedenheit in der Bevölkerung, über die
noch in den letzten Tagen berichtet wurde, ist auch eine
Chance, auch wenn es für die Opposition schwer sein
wird, medial oder wie auch immer an die Bevölkerung
heranzukommen. Ein Wahlkampfetat pro zugelassenem
Kandidat von 130 Dollar ist nicht gerade dazu angetan,
eine breite Medienkampagne zu entfachen, wenn man
denn könnte.

Die Strukturen des Regimes sollten uns nicht daran
hindern, die Opposition in informellen Kontakten zu un-
terstützen, damit diese aus sich heraus versuchen kann,
das System zu verändern. Dazu ist eine Änderung des
Wahlgesetzes über das hinaus, was die OSZE bereits er-
reicht hat, ein richtiger Weg. Sie könnte einer der ersten
Steine sein, die aus dem Gebäude Lukaschenkos heraus-
gebrochen werden.

Wir begrüßen die Bemühungen der OSZE, unterstützt
von Europäischer Union und Europarat, um faire Wahlen.
Besonders in den Fragen der Anpassung der Wahlgesetz-
gebung an europäische Standards, des freien Zugangs
aller politischen Kräfte zu den elektronischen und Print-
medien – ich gehe einmal davon aus, dass unser früherer
Kollege und Medienbeauftragte der OSZE, der Kollege
Duve, da sehr rührig und aktiv ist –, der Einhaltung einer
vertrauensbildenden Friedensperiode unter Wahrung der
Menschenrechte und der Erweiterung der Kompetenzen
des Parlaments, die den Vorstellungen und Vorschlägen
der internationalen Organisationen entspricht, haben
diese Bemühungen bereits erste Früchte getragen.

Dennoch sind der Berater- und Beobachtergruppe de
facto die Hände gebunden, wenn Lukaschenko anderes
will. Daher sei vor zu ausgeprägter Euphorie über die er-
freulichen Erfolge der OSZE gewarnt. Die OSZE stellte
ja fest, dass das Wahlgesetz, das Lukaschenko am 15. Fe-
bruar dieses Jahres unterzeichnete, manipulierbar ist und
manipuliert wird. Die Auswahl von angemeldeten oppo-
sitionellen Kandidaten, von der wir gehört haben, wider-
spricht natürlich allen Grundsätzen der Demokratie. Aber
immerhin gibt es oppositionelle Kandidaten. Daran müs-
sen wir uns wohl nach Lage der Dinge festhalten.

Dass Lukaschenko zwischenzeitlich auch die Wahl-
kommission mit seinen Leuten besetzt und so bestückt

hat, dass von einer unabhängigen Kommission nicht mehr
die Rede sein kann, ist ein weiteres Problem. Umso mehr
kommt es auf die europäischen Wahlbeobachter an. Ich
hoffe doch, dass allein durch ihre Anwesenheit wie schon
so oft ein gewisses Hemmnis entsteht, gar zu schlimme
und gar zu offenkundige Fälschungen und Behinderungen
des Wahlvorgangs zuzulassen. Wir warten also gespannt
auf den Bericht der Expertengruppe.

Europäische Geschlossenheit ist gegenüber Lukaschenko
wichtig. Deswegen ist es auch bedeutsam, dass sich Bun-
deskanzler Schröder und die Bundesregierung in die dies-
bezügliche europäische Solidarität einreihen. Hier liegt
einmal ein Fall vor, bei dem es richtig ist, dass sie sich
einreihen. Wenn das geschieht, kann Bundeskanzler
Schröder seine Scharte von damals wieder auswetzen,
als er Herrn Lukaschenko, wie wir uns erinnern können
– ich glaube, es ist zweieinhalb Jahre her; da war er noch
Ministerpräsident in Niedersachsen; dies ist aus heutiger
Sicht sicherlich ein Ausrutscher gewesen –, wegen
irgendwelcher Reifenverkäufe offiziell empfing.


(Uta Zapf [SPD]: Inoffiziell, Herr Schmidt!)

– Wir haben damals darüber ausführlich gestritten; das
könnte man in den entsprechenden Protokollen nachlesen.


(Uta Zapf [SPD]: Ja, haben wir! Aber Sie erinnern sich nicht richtig!)


– Es gibt Dinge, an die erinnere ich mich noch nach Jah-
ren sehr gut.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wurde schon damals in falscher Weise kommentiert!)


– Wenn ich mich richtig entsinne, gab es damals gerade
aus den Reihen altgedienter sozialdemokratischer Außen-
politiker ganz andere öffentliche Meinungsäußerungen zu
diesem Punkt.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Gott sei Dank!)

Ich will nun aber in die Zukunft blicken.


(Uta Zapf [SPD]: Das ist nett!)

Ich gestehe zu: Er hat ihn in diesem Jahr nicht empfangen.
Das zeigt, dass er auf einem guten Weg ist.

Wir haben, wie übrigens auch vor drei Jahren, einen
gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen ja keine de-
mokratischen Nachhilfestunden erteilen. Aber wir sollten
uns schon unserer Verantwortung bewusst sein. Wir sind
im wirtschaftlichen Bereich nach Russland der wichtigste
Partner Weißrusslands – das können wir auch sein – und
wir haben nach der Katastrophe von Tschernobyl in Form
von humanitärer Hilfe gezeigt, dass bei uns sehr viel
Hilfsbereitschaft besteht.

Auch haben wir ein Stabilitätsinteresse. Frau Kolle-
gin Zapf, Sie haben das angeschnitten. Polen, das bereits
jetzt NATO-Mitgliedsland ist und das immer mit gewisser
Sorge auf die Entwicklung in Weißrussland geblickt hat,
hat einen Anspruch darauf, dass wir als Europäer dort ge-
meinsam unser Stabilitätsinteresse wahrnehmen. Ich
hoffe, dass unter Präsident Putin das so bleibt, was Jelzin
in durchaus nicht unkluger Weise unternommen hat, näm-




Christian Schmidt (Fürth)

11968


(C)



(D)



(A)



(B)


lich den Unionsbestrebungen von Herrn Lukaschenko ge-
genüber gewisse Zugeständnisse zu machen, ihn aber
letztendlich ins Leere laufen zu lassen, um zu verhindern,
dass er mit seinen Vorstellungen von Politik bei der Ein-
flussnahme auf Russland Oberwasser gewinnt.

Somit hoffe ich, dass am 15. Oktober dieses Jahres der
erste Schritt zu einer Rückkehr Weißrusslands in die Ge-
meinschaft der europäischen Staaten gegangen wird und
dass wir dazu unseren Beitrag leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412422700
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut Lippelt
vom Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412422800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Unsere heutige Debatte soll ein Zeichen der internationa-
len Aufmerksamkeit für die Wahlen in Belarus sein. Ob
wir das zu so später Stunde und so müde, wie wir darüber
diskutieren, hinbekommen, weiß ich nicht.


(Beifall des Abg. Uwe Hiksch [PDS])

Gegenwärtig schauen wir alle nach Belgrad und in den

Nahen Osten. Das ist verständlich und notwendig. Zu-
gleich aber gibt es am kommenden Sonntag eine Wahl, die
wir auf keinen Fall übersehen dürfen. Alles andere würde
nämlich bedeuten, dass wir die Hoffnung auf eine demo-
kratische Entwicklung in diesem Land aufgeben würden.

Deshalb stelle ich fest: Das Land lebt erstens im Zu-
stand des Verfassungsbruchs seines Präsidenten. Deshalb
hat EU-Europa mit Ächtung reagiert. Es gibt auf höchster
Ebene keine Kontakte. Daraus resultiert zweitens, dass je-
des Bemühen, dieses Land im Zuge eines ersten Schrittes
nach Europa zunächst zumindest in den Europarat aufzu-
nehmen, gänzlich unterbrochen ist. Daraus folgt aber
auch, dass es keine Förderung zwischenstaatlicher Wirt-
schaftsbeziehungen gibt.

Wir sind diesem Lande gegenüber allerdings tief ver-
pflichtet, und zwar aus zwei Gründen:

Erstens. Jeder kennt die Namen Oradour und Lidice. In
Belarus hat es aber mehr als 100 Oradours gegeben; wer
kennt schon die Namen im Einzelnen? Auch heute kann
es noch geschehen – so hat mir der Botschafter berichtet –,
dass Bauern Erkennungsmarken deutscher Soldaten von
ihren Feldern mitbringen und in der Botschaft abgeben.

Zweitens. Wir mögen darüber streiten, inwieweit
Tschernobyl nicht nur eine Katastrophe sowjet-russi-
scher Atomtechnik, sondern auch eine Katastrophe des
allgemein geteilten technischen Fortschritts bei uns ist –
Sie werden da anderer Meinung als wir sein. Klar ist aber:
Ein Drittel des Landes ist atomar verseucht. Eine halbe
Million Menschen leben mangels anderer Wohn-, anderer
Lebens-, anderer Existenzmöglichkeiten auf dieser ver-
seuchten Erde ihr schweres Leben.

Auf der anderen Seite – das ist schon erwähnt wor-
den – hat unsere Zivilgesellschaft in bescheidenem Maße

auf die Verpflichtungen reagiert. Es gibt sehr viele
Tschernobyl-Initiativen aus Deutschland, die Kontakte
nach Belarus pflegen, um in bescheidenem Maße zu hel-
fen. Es gibt manche Gruppen und einige Einzelpersonen,
die um die historische Schuld wissen und deshalb Kon-
takte zu diesem Lande pflegen.

Das ist Hilfe im Kleinen. Zur durchgreifenden Verbes-
serung der wirtschaftlichen und sozialen Situation aber
bedarf es der voll vom Staat unterstützten Wirtschafts-
beziehungen, der Aufnahme des Landes in europäische
Zusammenhänge. Es gilt also, den Verfassungsbruch zu
heilen, sodass EU-Außenminister wieder in Minsk landen
und Beziehungen vertieft und ausgebaut werden können,
zum Wohle des Landes und seiner Bevölkerung. Zwei
deutsche Botschafter – auch das ist erwähnt worden –,
der Vertreter der Bundesrepublik in Minsk, Botschafter
Winkelmann, und der Leiter der OSZE-Mission, Bot-
schafter Wieck, haben sich intensiv darum bemüht.

Es konnte Konsens zwischen dem Regime und der Op-
position über einen Wahlkalender erzielt werden, das
heißt: Parlaments- und Präsidentenwahlen konnten so
aufeinander bezogen werden, dass der Streit um Legalität
oder Illegalität der beiden Institutionen und der Streit um
die Dauer der jeweiligen Legislatur- bzw. Amtsperiode
bei einer korrekten Durchführung der Parlamentswahl in
diesem Jahr und der Präsidentenwahl im nächsten Jahr
hätte aufgehoben werden können. Leider wurden diese
Bemühungen immer wieder durch Willkürakte der Regie-
rung, genauer gesagt des Präsidenten, konterkariert, so-
dass die Voraussetzungen für einen korrekten Ablauf der
Wahl nicht geschaffen werden konnten.

Die OSZE führt deshalb nur eine technische Wahlbe-
obachtung durch. Ich bedaure das. Ich hatte mich zur re-
gelrechten Wahlbeobachtung gemeldet. Diese Meldung
habe ich gestern zurückgezogen, weil mir klar wurde,
dass die Differenz zu dem, was man unter technischer
Wahlbeobachtung verstanden hätte, zu groß gewesen
wäre. Ich wäre gegen den Strom geschwommen. Ich wäre
geradezu ein Opfer der Propaganda der anderen Seite ge-
worden. Deshalb ging das nicht. Aber in den Wahlkreisen,
in denen Statkevich und Lebedko kandidierten, durch die
Wahllokale zu gehen, hätte ich immer für sinnvoll gehal-
ten – wohl wissend, dass die Fälschungen im Computer an
ganz anderer Stelle passieren. Natürlich hätte man jeder-
zeit sagen können, dass die Voraussetzungen überhaupt
nicht demokratisch waren. Trotzdem denke ich – da stim-
men wir weitgehend überein –, dass wichtig gewesen
wäre, diesen Schutz so weit zu geben, dass zumindest eine
kleine Opposition in Belarus im Parlament hätte entstehen
können. Das heißt, wir hätten zumindest erhoffen können,
dass es vorrevolutionäre serbische Verhältnisse gibt. In
Serbien existierten unter der Diktatur von Milosevic
durchaus jahrelang Parteien.

In der Zwischenzeit gibt es weitere Vorkommnisse, die
uns mit großer Sorge erfüllen. Ich zähle die auf, die mir
zur Kenntnis gelangt sind: Es hat Verhaftungen von Mit-
gliedern der Zeitung „Rabochy“ gegeben. Es hat einen
Überfall auf das Büro von Statkevich, dem exponiertesten
kandidierenden Demokraten, gegeben. Es hat auch eine
Gang im Wahlbüro von Herrn Lebedko gegeben. Es hat




Christian Schmidt (Fürth)


11969


(C)



(D)



(A)



(B)


die Verhaftung von Flugblattverteilern, die zum Wahl-
boykott aufrufen, gegeben.

Unsere heutige Debatte ist vor allem eine Selbstver-
pflichtung, den Verlauf der Wahlen am Sonntag aufmerk-
sam zu verfolgen. Anfang nächster Woche wird es einen
Bericht von OSZE, EU und Europarat über den Verlauf
der Wahlen geben. Wir sollten uns vorbehalten, auf der
Grundlage dieses Berichts gegebenenfalls eine neue De-
batte anzustreben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412422900
Jetzt hat
der Kollege Walter Hirche von der F.D.P. das Wort.


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1412423000
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Erfreuliche an dieser Debatte trotz des
ernsten Themas ist: Es gibt einen gemeinsamen, inter-
fraktionellen Antrag. Auch die bisherige Debatte hat ge-
zeigt, dass die Einschätzung der Situation weitgehend
übereinstimmend ist: auf der einen Seite den Versuch zu
unternehmen – so ist es beschrieben worden; das möchte
ich aufgreifen –, die Isolierung zu durchbrechen, und auf
der anderen Seite eine Hofierung der Machtstrukturen, die
vorhanden sind, zu vermeiden.

Frau Zapf, vor diesem Hintergrund und in Anbetracht
des EU-Beschlusses von 1996, „Restriktionen gegenüber
Weißrussland“, möchte ich sagen, dass es seinerzeit einen
eigenartigen und rustikalen Charme hatte, dass der dama-
lige niedersächsische Ministerpräsident Schröder Herrn
Lukaschenko empfangen hat. Das muss man einfach sa-
gen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eben waren wir noch so harmonisch!)


Mitglieder der damaligen Bundestagsfraktion der SPD
haben dagegen protestiert. Auch das möchte ich festhal-
ten. Insofern gibt es hier in diesem Hause zwischen allen
Fraktionen auch in dieser Frage Übereinstimmung.

Herr Schmidt, wenn man das sagt, dann vor allem des-
halb,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch nun wirklich Schnee von vorgestern!)


weil wir uns in einem Zwiespalt befinden und hier eine
Balance herzustellen ist. Wir suchen nach allen Wegen,
die Opposition und die demokratische Entwicklung in
diesem Land zu fördern sowie das Land nicht in der Iso-
lierung zu lassen. Wir versuchen, auch das zu berücksich-
tigen, was Herr Lippelt eben im Hinblick auf historische
und aktuelle Belastungen gesagt hat.

Das führt dazu, dass wir hier genau zwischen dem Re-
gime, und hier speziell dem Präsidenten Lukaschenko, so-
wie den Ansatzmöglichkeiten, die es an anderer Stelle
gibt, unterscheiden müssen. Der Präsident ist auf die vier
Kernforderungen der Opposition, die Sie, Frau Kolle-
gin, genannt haben – Zugang zu den Medien, Aufnahme
der Vertreter der Opposition in die Wahlkommission, Ein-
stellung der politischen Verfolgung und Übertragung der

abschließenden gesetzgeberischen Gewalt auf das Parla-
ment –, wie wir alle wissen, nur teilweise und in schwam-
miger Form eingegangen.

Besonders bemerkenswert ist, dass er bei seiner leich-
ten Flexibilität in der letzten Zeit die Warnung ausgespro-
chen hat, dass jemand, der die Gewaltenteilung durch-
setzt, sein Land spalten würde. Dies würde er nicht
zulassen. Auch das muss man hier in aller Deutlichkeit sa-
gen. Das ist eine Kampfansage an das, was wir unter De-
mokratie verstehen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, deswegen können und wol-
len wir uns in keiner Weise verschließen, alle Wege zu su-
chen. Nur müssen wir genau wissen, dass dies nicht ganz
so einfach ist. Hier werden kosmetische Zugeständnisse
gemacht, wenn sie opportun scheinen. Insofern entspre-
chen diese kosmetischen Zugeständnisse längst nicht den
rechtsstaatlichen Mindeststandards, die wir zugrunde le-
gen müssen.

Aber auch ich unterstreiche: Zum einen ist Belarus mit
der bevorstehenden Osterweiterung der Europäischen
Union ein unmittelbarer Nachbar, zum anderen zeigt
uns – das sei hier abgekürzt gesagt – die Entwicklung in
Serbien, dass wir auch dann, wenn die Situation scheinbar
ausweglos ist, weiter arbeiten und Kontakte pflegen müs-
sen, damit man eines Tages zu einer anderen Situation
kommt.

Deswegen kann ich an dieser Stelle abschließend nur
sagen: Ich möchte mich ganz besonders bei der OSZE-
Mission und unserem Botschafter, Herrn Wieck, bedan-
ken. Auch hier gibt es eine übereinstimmende Beurtei-
lung. Ich freue mich, dass alle Fraktionen an einem Strang
ziehen. Da mag es zwar kleine Unterschiede in der Beur-
teilung geben, aber das Wichtigste ist, dass der Grundsatz
der Außenpolitik erhalten bleibt, dass wir den Versuch
machen, mit unseren europäischen Nachbarn überall ins
Reine zu kommen, überall dort, wo es geht, die demokra-
tische Entwicklung zu fördern, aber keine Verwischung
durch falsche Kooperationen zur falschen Zeit aufkom-
men zu lassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412423100
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.


Uwe Hiksch (PDS):
Rede ID: ID1412423200
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Belarus ist historisch und kulturell im-
mer ein integraler Teil Europas gewesen. Mit einer Lage
an der Kreuzung wichtiger Transitwege zwischen Ost und
West, Skandinavien und dem Mittleren Osten kann es eine
wichtige Brückenfunktion zwischen der EU, Russland
und der GUS erfüllen.

Belarus ist ein souveräner Staat mit einer reichen und
komplizierten Geschichte. Das Schicksal der Menschen




Dr. Helmut Lippelt
11970


(C)



(D)



(A)



(B)


in Belarus war häufig, nicht zuletzt durch Deutschland,
von großer Tragik geprägt. Allein der vom deutschen
Faschismus entfesselte und mit grausamster Brutalität ge-
führte Zweite Weltkrieg hat das ganze Land verwüstet und
jeden vierten seiner Einwohner, insgesamt 2,5 Millio-
nenMenschen, vernichtet. Deshalb trägt Deutschland die-
sem Land gegenüber eine historische Schuld.

Wir sind der Überzeugung, dass wir auch aufgrund die-
ser historischen Schuld alle gemeinsam die Aufgabe ha-
ben, die Entwicklung der Beziehungen zwischen den
Menschen in Belarus auf der einen Seite und Deutschland
auf der anderen Seite als eine grundlegende Aufgabe der
deutschen Außen-, aber auch Innenpolitik zu begreifen.
Die PDS unterstützt deshalb alle Bemühungen Deutsch-
lands um die demokratische, wirtschaftliche und soziale
Entwicklung in Belarus. Wir sind jedoch der Überzeu-
gung, dass wir die Zivilgesellschaft nur dann stärken und
voranbringen können, wenn der jetzige sehr rigide Isola-
tionskurs, den die bundesdeutsche Außenpolitik fährt,
eindeutig überwunden wird. Deshalb brauchen die Men-
schen nach unserer Überzeugung Hilfe in wirtschaftli-
cher, ökonomischer und sozialer Hinsicht.

Im Vorfeld der Wahlen wissen wir alle, dass die demo-
kratische Situation in Belarus nicht befriedigend ist. Wir
sehen mit Besorgnis die derzeitige demokratische Situa-
tion von Belarus. Wir wissen jedoch auch, dass sich die
demokratische Situation in einer Reihe von postsowjeti-
schen Staaten ähnlich problematisch darstellt.

Deshalb unterstützt die PDS wie auch in anderen Be-
reichen Initiativen zur Weiterentwicklung solcher proble-
matischer Strukturen hin zur Demokratie. Die Zivilge-
sellschaft muss gefördert und vorangebracht werden.


(Beifall bei der PDS)

Die PDS-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb dafür ein,
dass die Beziehungen mit Belarus voll wiederhergestellt
und weiterentwickelt werden, weil wir der Überzeugung
sind, dass auch das der Zivilgesellschaft nützt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der jetzt vor-
gelegte Antrag greift nach unserer Überzeugung zu kurz.
Er enthält eine einzige Forderung, nämlich einen „Prozess
der Abwendung von autoritären und repressiven Herr-
schaftsmethoden und eine Rückkehr zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit“ zu beginnen. Diese Forderung unter-
stützen wir natürlich. Wir halten sie aber für sich genom-
men für zu wenig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen im
Deutschen Bundestag müssen gemeinsam dafür eintreten,
dass die parlamentarische Demokratie auch dadurch
gestärkt wird, dass autoritäre Regime nicht mit dem Hin-
weis darauf, dass Isolationskurse gefahren würden, eine
falsche Solidarisierung ihrer Bevölkerung durchsetzen
können. Wir halten die jetzige Isolationspolitik deshalb
für falsch und auch für kontraproduktiv.

Die PDS fordert deshalb die Bundesregierung auf, eine
neue, konstruktive Politik gegenüber Belarus voranzu-
bringen. Eine ganzheitliche Politik würde die Aufnahme
anderer diplomatischer Beziehungen als bisher möglich

machen. Aus diesem Grund können wir dem vorgelegten
interfraktionellen Antrag nicht zustimmen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412423300
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und der F.D.P. zu Wahlen in Belarus auf Drucksache
14/4252. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Frak-
tion angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschluss-
gesetzes
– Drucksache 14/1671 –

(Erste Beratung 64. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/4272 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ekin Deligöz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Gudrun Kopp das Wort.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412423400
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Wir diskutieren ein Jahr nach Ein-
bringung unseres F.D.P.-Antrages auf Abschaffung des
Ladenschlussgesetzes – nach Ladenschluss, spät am
Abend – und in der Zwischenzeit hat sich im Bewusstsein
der Bevölkerung jede Menge getan, aber nicht nur dort,
sondern auch bei vielen Politikern und bei Verbänden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Ich zitiere zum Beispiel Frau Merkel, die vor 14 Tagen
in meinem Wahlkreis bei einem Unternehmertag gesagt
hat, dass der Ladenschluss inzwischen als Symbolthema
für Stillstand und Reformstau in Deutschland stehe. Da
hat sie vollkommen Recht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ministerpräsident Clement hat in der Sommerpause die

Abschaffung dieses Gesetzes gefordert. Eine Mehrheit im
Bundesrat fand sich zumindest für eine Liberalisierung
des Ladenschlusses. Allerdings – das war dann der große




Uwe Hiksch

11971


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Coup –: Bundeskanzler Schröder entdeckte den Laden-
schluss als taktisches Beruhigungsmittel in Richtung Ge-
werkschaften, um in der Rentenfrage weiterzukommen.


(Konrad Gilges [SPD]: Den Quatsch glauben Sie doch wohl selber nicht! – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist offiziell erklärt worden!)


Die so genannte Dienstleistungsgewerkschaft zieht mit
ihren 3 Millionen Beschäftigten gegen 70 Millionen er-
wachsene Verbraucher im Lande zu Felde,


(Beifall bei der F.D.P.)

obwohl doch jeder hier im Raum längst weiß: Das Gesetz
ist nicht zu halten. Es wird früher oder später fallen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Bei der SPD später!)

So denkt auch Wirtschaftsminister Müller; denn er hat

erst kürzlich in einem Interview geäußert, binnen kurzer
Frist werde dieses Gesetz wie das Rabattgesetz nicht mehr
vorhanden sein. Auch Staatssekretär Mosdorf antwortete
mir auf meine schriftliche Anfrage nach dem größten An-
reiz des Internet-Handels, das Beste an diesem Internet-
Handel sei die 24-stündige Verfügbarkeit. Man hört und
staunt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Der Ladenschluss wird inzwischen in Scheiben ge-

schnitten, ausgehöhlt, umgangen und mit Sonderregelun-
gen versehen.


(Uwe Hiksch [PDS]: Das ist ein Skandal!)

Natürlich entspricht er längst nicht mehr dem boomenden
Internet-Handel, den Sonderverkäufen an Bahnhöfen,
Tankstellen und an Flughäfen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Fleischerei in der Tankstelle!)


Apropos Tankstellen: 14 Milliarden DM an Umsätzen
machen die Tankstellen jedes Jahr allein durch Shop-
Produkte.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Rot-Grün wird noch eine Ökosteuer auf die Waren in den Tankstellen erheben!)


Was brauchen wir am Standort Deutschland? – Dere-
gulierung und weniger Gesetze. Hier haben wir die
Chance, dies zu realisieren. Im Übrigen muss niemand
länger öffnen, aber das Zeitfenster, die Möglichkeit dazu
wäre gegeben.

Ich möchte ein Wort zu dem Thema Beschäftigte sa-
gen, für die das angeblich ein großes Problem sei. Wissen
Sie, es gibt längere oder ungewöhnliche Arbeitszeiten
nicht nur für Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker oder
Feuerwehrleute.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bundestagsabgeordnete!)


Es gibt in der gesamten Freizeitkultur, in der gesamten
Branche von Gastronomie, Kino und Theater Menschen,
die schon heutzutage länger als 20 Uhr arbeiten, manche
sogar die ganze Nacht.


(Walter Hirche [F.D.P.]: So ist es! – Konrad Gilges [SPD]: Bundestagsabgeordnete kriegen 13 000 DM Entschädigung!)


Wenn es den Gewerkschaftsfunktionären mit der Sorge
um die Beschäftigten wirklich ernst wäre – am Arbeits-
zeitgesetz wird nichts verändert –, dann dürften sie diese
Freizeitindustrie und diese Freizeitbeschäftigungen kon-
sequenterweise nicht in Anspruch nehmen, weil dort näm-
lich Beschäftigte angeblich ausgebeutet werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dies alles ist heuchlerisch, weil wir alle wissen, was ei-
gentlich Sache ist.


(Beifall bei der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Diese komplizierten ökonomischen Prozesse verstehen Sie nicht und müssen Sie auch nicht verstehen!)


Es ist einfach sehr schwierig, wenn wir vom Deutschen
Städtetag hören, wir sollten einen Schutzwall um die In-
nenstädte bilden. In diesem Schutzwall sollen dann be-
sondere Öffnungszeiten möglich sein. Ich finde, das ist
rechtlich höchst bedenklich. Es schließt in diesem Fall
nämlich die Gewerbefreiheit aus. Das sollten wir uns
nicht gönnen.

Machen wir uns nicht länger zum Gespött vor allen
Dingen der ausländischen Öffentlichkeit! Ich appelliere
an Sie: Machen Sie Schluss mit dem Ladenschluss, und
zwar jetzt, hier und heute!

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Das mit den Ausländern stimmt nicht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412423500
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Barnett von der
SPD-Fraktion das Wort.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1412423600
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Frau Kollegin, Sie haben eine sehr
selektive Wahrnehmung, was das Internet usw. anbelangt.
Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Die Lektüre
der „Zeit“ wird Sie vielleicht etwas aufklären.

Ein Frage an Sie: Was haben denn Ostern, Weihnach-
ten und Ihr Antrag zum Ladenschlussgesetz gemeinsam? –
Sie kommen mit Sicherheit jedes Jahr wieder, und das so-
gar fast auf den Tag genau.


(Beifall bei der SPD – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Sogar in der Sommerpause! Sommertheater!)


Was hat sich seit letztem Oktober geändert? Gibt es
neue bedeutende Erkenntnisse in Sachen Ladenschluss? –
Keineswegs! Es gibt keine neuen Erkenntnisse


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Ja! In Ihren Reihen gab es sie! Ministerpräsident Clement! Fragen Sie einmal Ihre eigenen Leute!)


und keine neuen keine Argumente – auch nicht bei dem,
was Sie heute vorgetragen haben. Es ist nur eine Wieder-




Gudrun Kopp
11972


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holung dessen, was wir auch aus dem Fernsehen hinläng-
lich kennen.

Ich wiederspreche eindeutig der Aussage, der Einzel-
handel und die Konsumenten würden eine Änderung des
Ladenschlusses wollen. Wer es wirklich will, sind die
großen Konzerne im Einzelhandel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Unsinn!)


Sie haben in großflächige Verkaufsräume investiert, die
im Unterhalt teuer sind. Da muss dann bei der Rendite et-
was herauskommen, also wird mit einer riesigen Auswahl
an Gütern, die bisher von mehreren Einzelhandelsge-
schäften angeboten wurden, auf Kundenfang gegangen.
Die Konkurrenz stört und wird mit Schnäppchenpreisen,
Sonderangeboten usw. platt gemacht. Das sind ganz
knallharte betriebswirtschaftliche Überlegungen, die zur
Vernichtung von 35 000 Einzelhandelsexistenzen und Ar-
beitsplätzen geführt haben.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das stimmt doch gar nicht! Strukturwandel! – Konrad Gilges [SPD]: Natürlich stimmt das!)


Auf der Strecke bleiben dann die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, die weniger Kundenzulauf ha-
ben und deshalb aufgeben. Das hat Auswirkungen auf das
ganze soziale Gefüge unserer Städte und auch der ländli-
chen Regionen. In den Innenstädten machen zunehmend
die kleinen Fachgeschäfte zu. Das macht keine Stadt für
ihre Besucher und Einwohner attraktiv. Was das für die
Menschen heißt, die über kein eigenes Auto verfügen,
muss ich Ihnen nicht sagen. Sprechen Sie einmal mit den
Müttern,


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das machen wir!)

mit den älteren Menschen oder Behinderten, die jetzt
weite Wege für Ihre Besorgungen zurücklegen müssen,
weil das Angebot vor Ort verschwunden ist!

Es kann deshalb nicht verwundern, dass der kleine und
mittelständische Einzelhandel weiteren Lockerungen wi-
derspricht.

Bereits im letzten Jahr sagte unter anderem der Präsi-
dent der Handwerkskammer für München und Oberbay-
ern, Herr Traublinger,


(Uwe Hiksch [PDS]: Es gibt auch vernünftige Bayern!)


dass dieses Drängen auf verlängerte Ladenschlusszeiten
im höchsten Maße mittelstandsfeindlich sei, weil im Han-
del der Wettbewerb sehr scharf sei und dieser Zustand
schon seit Jahren zulasten der Kleinen gehe. Die Mehr-
zahl der mittelständischen Handelsbetriebe schreibe rote
Zahlen und längere Öffnungszeiten spitzten diese Situa-
tion nur weiter zu.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Es ist nicht zu verhindern!)


Dass sich daran nichts geändert hat, zeigt die Stellung-
nahme einer Gruppe klein- und mittelständischer Einzel-
handels- und Ladenhandwerksbetriebe aus Berlin, die Sie
in unserer gestrigen Ausschussdrucksache 14/869 nachle-
sen können:

Eine noch höhere Öffnungsaktivität können die
klein- und mittelständischen Betriebe aus betriebs-
wirtschaftlichen Gründen nicht erbringen. Bei einer
Änderung oder Abschaffung des Ladenschlussgeset-
zes käme es zu einer weiteren ruinösen Wettbe-
werbsverzerrung mit äußerst negativen Folgen für
die gewachsenen Einzelhandelsstrukturen der Innen-
städte und darüber hinaus für deren Belegschaft.

Und weiter heißt es:
Die Positionspapiere der Industrie- und Handels-
kammern sowie der Einzelhandelsverbände zur De-
regulierung des Ladenschlussgesetzes spiegeln nicht
die Mehrheitsmeinung der deutschen Einzelhändler-
schaft wider. Diese veröffentlichte Meinung sollte
sehr differenziert gesehen werden, da eine repräsen-
tative Umfrage innerhalb der deutschen Einzelhänd-
lerschaft nicht stattgefunden hat.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da hat sie Recht!)


Der Präsident des Zentralverbandes Hartwarenhandel
e.V., Dr. Kellerwessel, schreibt am 29. September 2000 an
den „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass sich die größte Mehr-
heit der Handelsunternehmen gegen jede Verlängerung
der Öffnungszeiten ausspricht und schon 1996 einhellig
dagegen war. Denn die Verlängerung der Ladenöffnungs-
zeiten würde nur an wenigen exponierten Standorten
wirksam und würde auch dort wiederum besonders die
Großbetriebsformen profitieren lassen. Immer mehr
kleine und mittelständische Betriebe müssten schließen.

Ich stelle fest: Die kleinen und mittelständischen Un-
ternehmen in unserer Republik sprechen sich einhellig,
unmissverständlich und seit langer Zeit gegen eine Ver-
längerung der Ladenöffnungszeiten aus.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Die Erfahrungen aus vier Jahren längerer Öffnungszei-

ten zeigen, dass diese gar nicht genutzt werden, weil es die
Kundenströme nach 18 oder 19 Uhr gar nicht gibt. Das ist
nicht nur bei uns so, das können Sie selbst auf der 5thAve-
nue in New York feststellen: Die Läden schließen dort
schon um 17.00 Uhr, weil sie keine Kunden mehr haben.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Aber da gibt es wenigstens die Möglichkeit zu öffnen!)


Dieser Konzentrationsprozess hat noch eine Konse-
quenz: Das Sortiment wird überall das gleiche werden, die
Auswahl beschränkt sich auf das Angebot, das die Han-
delsketten für uns Kunden aussuchen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das liegt doch nicht am Ladenschluss!)


Hat das noch etwas mit der viel beschworenen Vielfalt zu
tun? Deshalb setze ich mich auch im eigenen Interesse für
den Erhalt des Ladenschlusses ein, damit uns die kleinen
Läden, die Spezialitäten bzw. Raritäten haben oder diese
besorgen können, erhalten bleiben. Die Vorstellung, dass
wir über kurz oder lang, sollte sich Ihr Vorschlag durch-
setzen, nur noch Wal-Marts, Metros usw. mit einem Ein-
heitssortiment hätten, macht mich als Kunden nicht ge-
rade glücklich.




Doris Barnett

11973


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenden wir uns doch einmal den Kunden zu: Stimmt
es denn wirklich, dass eine so überwiegende Mehrheit am
liebsten nach 20 Uhr einkaufen würde?


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Sagen Sie das einmal Ihrem Wirtschaftsminister!)


Das glaubt in diesem Raum wohl niemand.

(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Doch!)


Die wenigsten Kunden werden – abgesehen von den Ab-
geordneten – eine 80-Stunden-Woche haben. Deshalb ist
es eigentlich verwunderlich, dass sich die Vertreter der
New Economy als ungeeignet und unfähig erweisen, ihre
Einkäufe bis 20 Uhr zu regeln. Wenn sie das schon nicht
auf die Reihe bekommen, wie können wir Ihnen dann
darin vertrauen, unsere Wirtschaft zu lenken? Das ist doch
allmählich absurd.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die überwiegende Mehrheit der Käufer – 74 Prozent
der Käuferinnen und Käufer kann man wohl als Mehrheit
bezeichnen – wünschen sich keine Verlängerung der Öff-
nungszeiten, weil auch die Kunden vor Augen haben, was
sonst geschieht: Einkaufszentren am Rande der Stadt und
keine ausreichende Versorgung der Wohngebiete mehr.
Natürlich gibt es Kunden, die das Bedürfnis haben, sich
um 23 Uhr einen Nagellack, eine CD, Pralinés oder ein
Auto zu kaufen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Oder ins Theater oder ins Restaurant zu gehen!)


Übrigens: Versuchen Sie einmal, nach 19 Uhr bei dem
Praliné-Laden neben dem Adlon etwas zu bekommen, der
ist zu diesem Zeitpunkt schon längst geschlossen.

Ich habe mir den Spaß gemacht, im Internet unter dem
Begriff „Ladenschluss“ nachzusehen. Dort fand ich
schnell folgende Zeilen:

Mir wäre es am liebsten, alle Geschäfte hätten die
ganze Nacht hindurch offen. Allein schon die Mög-
lichkeit, um 3.00 Uhr morgens Bilderrahmen kaufen
zu können oder Pfandflaschen zurückzubringen,
würde mich zu einem sehr zufriedenen Menschen
machen. Wenn ich nachts trotzdem schlafen würde,
wäre das meine freie Entscheidung. Nun habe ich
keine andere Wahl. Ich schlafe nachts, weil es nichts
anderes zu tun gibt.

Ich glaube, dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber nur, um solchen plötzlichen Eingebungen nach-
zukommen, am späten Abend irgendetwas zu erwerben,
müssen wir doch nicht wichtige Arbeitsschutzbestim-
mungen abschaffen. Den Wunsch nach Nagellack um
23 Uhr sollten wir Sozialpolitiker doch vielleicht etwas
anders bewerten als den Betrieb eines Heizkraftwerkes,
das nicht täglich angefahren und abgeschaltet werden
kann.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Auch nicht nach 20 Uhr Essen zu gehen!)


Auch der Hinweis auf das Klinikpersonal hinkt, denn ich
entscheide mich nicht aus freien Stücken, nachts eine
Blinddarmkolik zu bekommen, mir das Bein zu brechen
oder einen Unfall zu haben.

Schauen wir uns doch einmal die Situation der Be-
schäftigten an. Seit der Einführung der längeren Öff-
nungszeiten im Einzelhandel 1996 wurden Vollzeit- und
sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätze abge-
baut, dafür aber jede Menge geringfügiger Beschäfti-
gungsverhältnisse eingerichtet. Trotz längerer Öffnungs-
zeiten gibt es jetzt 6 Prozent weniger Arbeitsplätze im
Einzelhandel. Dafür sind die Überstunden sprunghaft ge-
stiegen, und zwar auf jährlich 564 Millionen Stunden, das
entspricht 29 000 Vollzeitarbeitsplätzen. Dadurch wird
der Beruf des Einzelhandelskaufmanns auch nicht attrak-
tiver. Wenn nach dreijähriger Ausbildung somit nur die
Chance besteht, bei einem Großkonzern zu arbeiten, oft-
mals nur als Teilzeitkraft, dazu noch ohne Zukunftsper-
spektive, werden es sich die Jungen wohl überlegen, ob
sie diesen Beruf ausüben wollen. Denn er garantiert bei
diesem Einkommen nicht einmal mehr, den eigenen Le-
bensunterhalt zu sichern.

Die Aufsplittung sozialversicherungspflichtiger Voll-
zeittätigkeit in geringfügige Beschäftigung trifft beson-
ders die Frauen, weil nun einmal 80 Prozent der Arbeit-
nehmer im Handel Frauen sind. Mit der Arbeit als
geringfügig Beschäftigte wird die Abhängigkeit der
Frauen von dem Einkommen des Mannes wieder zemen-
tiert. Das könnte ja Ihre Absicht sein, aber es widerspricht
jedem Emanzipationsanspruch. Demnächst werden wir
uns im Rahmen der Rentendiskussion über die eigenstän-
dige Altersvorsorge der Frauen unterhalten. Wie diese mit
geringfügiger Beschäftigung zu erringen ist, können Sie
uns dann einmal erklären.

Der Gesetzentwurf der F.D.P. hat für mich aber auch
noch eine andere Qualität: Weil er alle Bedenken hin-
sichtlich der Beschäftigten im Einzelhandel, der kleinen
und mittelständischen Einzelhändler und drei Viertel aller
Kunden außer Acht lässt und nur dem Konsum das Wort
redete, drängt sich der Eindruck auf, dass nicht mehr der
Mensch, die menschliche Gesellschaft, im Mittelpunkt
unseres politischen Handelns steht, sondern nur noch der
Profit, das Geld, der Konsum und die Eigeninteressen.


(Konrad Gilges [SPD]: Aber so ist die F.D.P., die Partei der Besserverdienenden! – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Und Sie die Partei der Schlechtinformierten!)


Wir haben in allen Debatten, die wir bisher geführt ha-
ben, darauf hingewiesen, dass Verbände und Vereine über
den dramatischen Rückgang des ehrenamtlichen Enga-
gements klagen. Wir haben heute sogar eine Debatte da-
rüber geführt. Wenn in unserer Gesellschaft zukünftig der
Spaß am Geldausgeben auf Platz eins steht und der Um-
gang, das Zusammensein mit Menschen nicht mehr intere-
ssant ist, dann zerstören wir unsere Gesellschaft.

Kolleginnen und Kollegen, um der Geschichtsklitte-
rung vorzubeugen und zur Aufklärung beizutragen, ein-




Doris Barnett
11974


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(A)



(B)


fach damit Sie die Daten richtig im Kopf haben, Folgen-
des: Die Bundesregierung hat am 15. Dezember 1999 auf-
grund der vorliegenden Gutachten des Sozialforschungs-
instituts und des Ifo-Instituts festgestellt, dass es
bezüglich der Ladenschlusszeiten bei uns keinen unmit-
telbaren Handlungsbedarf durch den Gesetzgeber gibt.


(Uwe Hiksch [PDS]: Da muss man aber Studien lesen!)


Es besteht ein breiter Konsens, die Ladenöffnung an
Sonn- und Feiertagen nicht freizugeben. Jetzt, fast ein
Jahr später, stelle ich fest, dass sich an dieser Einschät-
zung nichts geändert hat, da sich auch die Ausgangssitua-
tion nicht verändert hat. Aus diesem Grund bleibt es auch
in diesem Jahr dabei: Wir lehnen den Gesetzentwurf der
F.D.P. ab und hoffen auf die Klugheit und Einsicht der
Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, das
Gleiche zu tun.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Fragen Sie einmal Herrn Clement, der berät Sie!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412423700
Als
Nächster hat der Kollege Peter Rauen von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1412423800
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Ein Glück, dass der La-
denschluss nicht für den Deutschen Bundestag gilt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sonst dürften wir dieses Thema zu dieser Zeit gar nicht
mehr diskutieren.


(Konrad Gilges [SPD]: Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir irgendwo in der Kneipe in Ruhe ein Bier trinken könnten!)


Ich werde aufgrund der vorgerückten Zeit die mir zu-
stehenden zwölf Minuten Redezeit nicht ausschöpfen und
versuchen, mit zwei, drei Minuten hinzukommen. Dafür
muss ich Ihnen aber leider die acht Seiten meiner Rede
vorenthalten, in der ich mich über die Lebenswirklichkeit
in Deutschland am Rande der Ladenschlussgesetzgebung
ausgelassen habe. Aber ich möchte Ihnen doch das Fazit
der Überlegungen mitteilen.

Das Ladenschlussgesetz in Deutschland ist ein Relikt
aus dem letzten Jahrhundert, und das liegt seit acht Mo-
naten hinter uns. Frau Kollegin Barnett, es hat sich schon
einiges getan, auch seit dem letzten Jahr.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Richtig!)

Sie werden feststellen, dass ein großer Teil der mittel-
ständischen Verbände, die noch vor Jahren entschieden
gegen Änderungen waren, heute fordert: Weg mit diesem
Ladenschluss! Er behindert letztlich auch den Mittelstand
in Deutschland.

Was unsere Fraktion jedoch nicht aufgeben wird, ist
das generelle Verbot, die Läden an Sonn- und Feiertagen
zu öffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Hiervon darf es nur ganz wenige Ausnahmen geben. Wir
brauchen einmal in der Woche Ruhepausen und Zeit zum
Besinnen. Wir müssen auch über Möglichkeiten zur Ver-
besserung der Situation des mittelständischen Einzelhan-
dels reden. Es gibt in unserer Fraktion eine Reihe von
Stimmen, die ein kommunales Satzungsrecht zugunsten
der Ladenöffnungszeiten in den Innenstädten fordern, wie
dies auch die BAG und der Deutsche Städtetag tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblema-

tisch und bedarf noch eingehender Überlegungen. Ich
stelle aus Sicht unserer Fraktion fest und fordere:

Erstens. Wir sind für eine weitere Liberalisierung der
Ladenöffnungszeiten, für eine Abschaffung des Laden-
schlussgesetzes an allen Werktagen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dies lässt sich aufgrund der Globalisierung und des tech-
nischen Fortschritts ohnehin nicht verhindern. Der La-
denschluss passt nicht mehr in unsere heutige Zeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zweitens. Wir wollen die Sonntage und die Feiertage

schützen. An dieser Stelle geht uns die F.D.P. in ihrem Ge-
setzesantrag zu weit. Deshalb müssen wir diesen Antrag
ablehnen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Auch wir sagen: Nur an Werktagen!)


– Nein, Sie wollen die Sonntage – ich haben Ihren Antrag
genau gelesen – in die Disposition der Länder stellen. Wir
sind grundsätzlich der Meinung: Der Sonntag gehört ge-
schützt. Es darf nur ganz wenige Ausnahmen geben. Das
ist für uns ein sehr wichtiger Punkt.

Drittens. Die Innenstädte sollen gestärkt werden.
Über die geeigneten Instrumente, gegebenenfalls auch im
Baugesetzbuch, muss befunden werden. Aber es sind
auch andere Fördermaßnahmen denkbar.

Viertens. Wir haben kein Verständnis dafür, dass die
SPD und der Kanzler die Modernisierung des Laden-
schlussgesetzes verweigern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Handlungsdruck ist da. Die Wirklichkeit bleibt nicht
stehen. Nichthandeln schadet dem Standort Deutschland.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Richtig!)

Die Regierung tut wie die SPD nichts an diesem Punkt.
Sie hält uns lediglich hin. Es ist an ihr, einen Vorschlag zu
machen. Stattdessen duckt sie sich und scheut den Kon-
flikt mit den Gewerkschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie schließt faule Kompromisse oder erkauft sich das
Wohlwollen der Gewerkschaften nach dem Motto: Ren-
tenkonsens gegen Beibehaltung der Ladenschlusszeiten.


(Konrad Gilges [SPD]: Das glauben Sie doch nicht! So ein Quatsch!)





Doris Barnett

11975


(C)



(D)



(A)



(B)


– Das konnte man doch vor drei Wochen lesen. Wider-
sprechen Sie doch nicht! Das ist doch Tatsache.

Wir machen dies nicht mit. Ich fordere deshalb die
Bundesregierung auf: Lassen Sie das Thema Laden-
schluss nicht links liegen! Legen Sie uns einen Vorschlag
vor! Verweigern Sie sich an diesem Punkt nicht dem
zwingend notwendigen Fortschritt!


(Konrad Gilges [SPD]: Diese Bedeutung hat das Ladenschlussgesetz nicht, dass man damit irgendetwas abhandeln kann!)


Die Zeit ist über das Ladenschlussgesetz längst hinweg-
gegangen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412423900
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.


(Uwe Hiksch [PDS]: Jetzt kommt die Liberale im grünen Gewand!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich möchte zuerst auf Frau Kopp eingehen. Wenn
Sie tatsächlich meinen, dass das Ladenschlussthema ge-
rade das Zeichen für Stillstand und Reformstau unter der
rot-grünen Koalition sei, dann muss ich sagen, dass
sich diese Koalition bei aller Sympathie für dieses
Thema – auch ich habe vorhin festgestellt, dass meine al-
labendliche Einkaufsmöglichkeit, der Edeka-Laden am
Bahnhof, schon geschlossen hatte – zuerst um die Steuer-
reform, die Rentenform, die Bahnreform und die Miet-
rechtsreform kümmern sollte. Alle diese Reformen wer-
den in diesem Land als sehr viel wichtigere Themen
angesehen als die Frage, wo wir um Mitternacht die But-
ter kaufen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach meiner Meinung ist es dem Thema Ladenschluss

überhaupt nicht angemessen, wenn wir darüber schwarz-
weiß diskutieren. Ich halte es für nicht sehr sinnvoll, wenn
pauschal gefordert wird: Schaffen wir den Ladenschluss
ab! Setzen wir alle Einzelhändler einer massiven Konkur-
renz aus, dann ist das Problem gelöst! – Das ist das Bild
einer Hyperkonkurrenz, das so nicht stimmen kann.
Daher möchte ich – ich habe das neulich schon getan; of-
fenbar beantragen Sie monatlich nicht nur eine Trans-
rapidstunde, sondern jetzt wöchentlich auch eine Laden-
schlussstunde – noch einmal dafür werben, dass wir den
Wettbewerb ein Stück weit strukturieren.

Ich bin nicht wie Sie der Meinung, dass es überhaupt
keinen Handlungsbedarf gibt. Ich glaube zwar, dass eine
flexibilisierte Arbeitswelt auch flexiblere Einkaufsmög-
lichkeiten benötigt, aber nicht in der Form einer Hyper-
konkurrenz aller gegen alle. Das Konzept, das der Städte-
tag vorgelegt hat, sollte sehr ernsthaft abgewogen und
diskutiert werden, weil der Einzelhandel, insbesondere
die mittelständischen Betriebe, in den Innenstädten

tatsächlich unter einem erheblichen Kundenschwund lei-
det, während der großflächige Einzelhandel auf der grü-
nen Wiese boomt. Das liegt daran, dass es keine gleichen
Bedingungen gibt, weil der großflächige Einzelhandel auf
der grünen Wiese, in den Sonderstandorten und teilweise
auch in den Gewerbearealen Konkurrenzvorteile hat: ein
unbegrenztes Angebot an billigen Parkplätzen, billiges
Bauland, geringen Arbeitskräftebedarf pro Quadratmeter
Verkaufsfläche und eine günstige Kostenstruktur. Daher
ist es gefährlich, diese Konkurrenzsituation noch weiter
zu verschärfen. Aber eine solche Verschärfung wäre die
Folge einer völligen Liberalisierung, wie Sie sie sich vor-
stellen. Das halte ich nicht für verantwortbar. Wir dürfen
den Verdrängungswettbewerb nicht auch noch politisch
unterstützen, schon gar nicht zulasten der Städte.

Deswegen werben wir sehr dafür, das Modell des Städ-
tetages auch von Bundesseite ernsthaft zu prüfen, nämlich
ob und inwieweit es sich rechtlich verwirklichen lässt.
Dazu gibt es zwei Gutachten, die das für durchaus legitim
halten und die nicht sehen, dass die Gewerbefreiheit so to-
taliter eingehalten werden muss, wie Sie. Aus diesen Gut-
achten geht hervor, dass man sehr wohl zwischen dem
städtischen Einzelhandel und dem Einzelhandel an Son-
derstandorten unterscheiden kann. Ich denke, wir sollten
die Verwirklichung dieses Modells vorantreiben, damit
wir die Innenstädte gerade am Abend etwas mehr beleben
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sicher ist, dass dadurch nicht alle Probleme der Innen-

städte gelöst werden können, da die Verödung der Innen-
städte vielfältige Ursachen hat. Eine Differenzierung des
Ladenschlussgesetzes kann also nicht das Allheilmittel
sein. Sie kann aber dazu beitragen, bestehende Wettbe-
werbsverzerrungen, die Sie nicht sehen wollen, sondern
die Sie verstärken, zu reduzieren und damit unseren In-
nenstädten einen neuen Entwicklungsschub zu geben.
Deswegen werbe ich für eine nachdenkliche Variante, die
zwischen den verschiedenen Positionen angesiedelt ist.
Ich denke, dass wir in dieser Richtung Kompromisse fin-
den können, die allen Beteiligten gut tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war nicht Fisch und nicht Fleisch! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das war vegetarisch! – Heiterkeit)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412424000
Als letzte Redne-
rin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Pia
Maier von der PDS-Fraktion das Wort.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1412424100
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Rauen hat schon festgestellt, dass für uns lei-
der kein Ladenschlussgesetz gilt. Für uns gilt auch kein
Arbeitszeitgesetz, ganz im Gegensatz zu den meisten Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in der Woche
zum Glück nur 40 Stunden arbeiten müssen. Sie können
bei 80 Stunden Ladenöffnungszeit in der Tat ihre Ein-
käufe erledigen. Ich bin hier noch in der Probezeit, von




Peter Rauen
11976


(C)



(D)



(A)



(B)


daher musste ich Sie heute leider etwas länger festhalten.
Ich darf noch nicht früher gehen.


(Beifall bei der PDS – Peter Rauen [CDU/ CSU]: Dafür verdienen wir ja gut!)


– Da haben Sie natürlich Recht.
Eine Verkäuferin verdient netto um die 2 000 DM. Sie,

liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., wollen
diese Verkäuferin für dieses Gehalt noch die ganze Nacht
arbeiten lassen. Mir liegen die Probleme dieser Verkäufe-
rin mehr am Herzen als die Möglichkeit, mir die fehlende
Butter heute Nacht noch zu besorgen.


(Beifall bei der PDS)

Mittlerweile äußern sich schon die ersten Initiativen

von Ladenbesitzern, die eigentlich keine weiteren Öff-
nungszeiten haben wollen; sie haben sicherlich den Brief
der „Aktion Hermannstraße“ bekommen. Auch die Besit-
zer kleiner Läden möchten ihre Freizeit nutzen, selbst ein-
kaufen und sich um ihre Familie kümmern. Das sind die
Bedenken von Ladeninhaberinnen und Ladeninhabern,
die ich gerne ernst nehmen möchte.


(Beifall bei der PDS)

Von der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten haben

vor allem die großen Warenhäuser Gebrauch gemacht.
Eine Belebung der Innenstädte findet eigentlich nur dort
statt und nicht in den Einzelhandelsgeschäften. Längere
Öffnungszeiten würden uns also vor allem eines bringen:
noch mehr große Warenhäuser mit noch längeren Öff-
nungszeiten, die auf die Angestellten verteilt werden kön-
nen, aber immer weniger Einzelhandel, immer weniger
kleine Läden. Das belebt die Innenstädte auf Dauer nicht
wirklich.

Zum Abschluss möchte ich ein paar Sätze zu der Mär
der Gefahr des E-Commerce sagen. Der elektronische
Handel wird – gleich einem großen Gespenst – immer
wieder als Gefahr für den normalen Einzelhandel heran-
gezogen. Dabei bietet gerade der elektronische Handel
durch die Möglichkeit, im Internet einzukaufen, eine her-
vorragende Ergänzung zum normalen Einzelhandel, der
sich weitere Nischen eröffnen kann. Was immer nachts im
Internet bestellt wird, wird am nächsten Tag gepackt, wird
am nächsten Tag ausgeliefert – und zwar von ganz realen
Menschen.


(Beifall bei der PDS)

Der Einzelhandel wird sich gegenüber dem E-Com-

merce immer durch persönliche Real-Time-Beratung un-
terscheiden. Wer nicht vom Deregulierungsfetisch beses-
sen ist, wird immer akzeptieren, dass hinter einem realen
Menschen, der beraten kann, auch der reale Wunsch nach
einem Feierabend steht.

Dieser Wunsch ist mir sehr wichtig. Daher werde ich
Ihnen den Wunsch nach einem Feierabend nun auch er-
füllen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1412424200
Frau Kollegin
Maier, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede im

Deutschen Bundestag, die Sie leider zu später Stunde hal-
ten mussten.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstim-

mung kommen, gebe ich bekannt, dass eine Erklärung zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von dem
Kollegen Ernst Hinsken


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Rolf Kutzmutz [PDS]: Er steht zu seiner Sache!)


und der Kollegin Anita Schäfer zu Protokoll gegeben wor-
den ist.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der F.D.P. zur Aufhebung des Laden-
schlussgesetzes auf Drucksache 14/1671. Der Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksa-
che 14/4272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. –


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zwei Stimmen nur! Welch eine Präsenz ist das beim Antragsteller!)


Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Für das Protokoll: Herr Berninger hat dagegen gestimmt!)


Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der F.D.P.-
Fraktion bei Enthaltung einzelner Abgeordneter aus den
Reihen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des
Hauses im Übrigen abgelehnt worden. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ruth
Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebs-
räte – Eckpunkte für die Reform des Betriebs-
verfassungsgesetzes
– Drucksache 14/4071 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der
Fall. Es handelt sich um die Reden des Kollegen Klaus
Brandner und der Kollegin Anette Kramme von der SPD-
Fraktion, der Kollegin Dorothea Störr-Ritter von der
CDU/CSU-Fraktion, der Kollegin Dr. Thea Dückert von
Bündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Dr. Heinrich L.
Kolb von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Dr. Heidi
Knake-Werner von der PDS-Fraktion.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4071 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.




Pia Maier

11977


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6
2) Anlage 4

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:
10 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Gerichtsvollzieher-
kostenrechts – GvKostRNeuOG –
– Drucksache 14/3432 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gerichtskostengesetzes und andererGe-
setze
– Drucksache 14/598 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umstellung des Kostenrechts und der Steu-
erberatergebührenverordnung auf Euro
– KostREuroUG –
– Drucksache 14/4222 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss

Auch hier ist vereinbart worden, dass die Reden zu
Protokoll genommen werden. Gibt es Widerspruch dage-
gen? – Das ist nicht der Fall. Ich verlese wiederum die Na-
men derjenigen, die ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-
ben: Das sind die Kollegen Alfred Hartenbach von der
SPD-Fraktion, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten von der
CDU/CSU-Fraktion, Volker Beck von Bündnis 90/Die
Grünen, Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion, die Kolle-
gin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion und der
Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart
Pick von der Bundesregierung.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/3432, 14/598 und 14/4222 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Laden schluss!)

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tages auf morgen, Freitag, den 13. Oktober 2000, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.