Protokoll:
14122

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 122

  • date_rangeDatum: 29. September 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:05 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Wahl der Abgeordneten Gudrun Schaich- Walch als ordentliches Mitglied in den Ver- mittlungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 A Wahl der Abgeordneten Regina Schmidt- Zadel als stellvertretendes Mitglied in den Ver- mittlungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 A Begrüßung und Dank an Herrn Joachim Gauck für seine Arbeit als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11734 D Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 11699 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 11699 B Zusatztagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Rind- fleischetikettierungsgesetzes (Drucksachen 14/3369, 14/3648, 14/3700, 14/3906, 14/4164) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 B Zusatztagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Rechts an Grund- stücken in den neuen Ländern (Grund- stücksrechtsänderungsgesetz) (Drucksachen 14/3508, 14/3824, 14/3905, 14/3999, 14/4165) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11699 D Tagesordnungspunkt 16: Abgabe einer Regierungserklärung zum Stand des Vereinigungsprozesses zehn Jahre nach Herstellung der staatlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11700 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht 2000 zum Stand der Deut- schen Einheit (Drucksache 14/4129) . . . . . . . . . . . . . . . . 11700 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Sabine Kaspereit, Dr. Mathias Schubert, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion SPD sowie der Abge- ordneten Werner Schulz (Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zehn Jahre Einheit Deutschlands (Drucksache 14/4132) . . . . . . . . . . . . . . . . 11700 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes über den Verkauf von Mauer- und Grenz- grundstücken an die früheren Eigentü- mer und zur Änderung anderer Vor- schriften (Drucksache 14/4140) . . . . . . . . . . . . . . . . 11700 B in Verbindung mit Plenarprotokoll 14/122 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 122. Sitzung Berlin, Freitag, den 29. September 2000 I n h a l t : Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Rückgabe von Grundstücken und Gebäuden im ehe- maligen Grenzgebiet zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (einschließlich Berlin) (Drucksache 14/4149) . . . . . . . . . . . . . . . . 11700 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 11700 C Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11706 A Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident (Sachsen-Anhalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11711 B Dr. Klaus Kinkel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11713 C Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11715 D Dr. Klaus Kinkel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11716 B Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11716 C Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11719 C Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11722 D Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11725 A Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 11728 B Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11730 C Anke Fuchs (Köln) SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11731 D Tagesordnungspunkt 17: Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati- schen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11735 A Wahl von Frau Marianne Birthler zur Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11735 B Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11737 D Zusatztagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Rauen, Gerda Hasselfeldt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkung der Mineralölsteuer und zur Ab- schaffung der Stromsteuer (Ökosteuer- Abschaffungsgesetz) (Drucksache 14/4097) . . . . . . . . . . . . . . . . 11735 B Erwin Teufel, Ministerpräsident (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11735 C Ute Vogt (Pforzheim) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11738 A Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 11739 C Rainer Brüderle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11741 A Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11742 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11744 A Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11746 A Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11747 C Nina Hauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11748 D Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvoll- zugsgesetzes (5. StVollzGÄndG) (Drucksache 14/4070 . . . . . . . . . . . . . . . . 11750 B Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namens- aktiengesetz) (Drucksache 14/4051) . . . . . . . . . . . . . . . . 11750 C Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11750 C Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanz- gerichtsordnung und anderer Gesetze (2. FGOÄndG) (Drucksache 14/4061) . . . . . . . . . . . . . . . . 11751 A Tagesordnungspunkt 23: e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Gemeinsamen Proto- koll vom 21. September 1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkom- mens und des Pariser Übereinkommens (Gesetz zu dem Gemeinsamen Proto- koll über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens) (Drucksache 14/3953) . . . . . . . . . . . . . 11751 A in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000II Zusatztagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Atomgesetzes ((Neuntes) Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes) (Drucksache 14/3950) . . . . . . . . . . . . . . . . 11751 B Zusatztagesordnungspunkt 14: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur anhaltenden öffentli- chen Diskussion über den weiter zuneh- menden Wohnungsleerstand in Ost- deutschland und zum Arbeitspapier der ostdeutschen Länder anlässlich der 101. Bauministerkonferenz . . . . . . . . . . 11751 C Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 11751 C Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11752 C Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11753 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11754 C Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . . . . . . . . 11755 B Reinhard Weis (Stendal) SPD . . . . . . . . . . . . 11756 A Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11756 D Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 11758 A Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 11759 A Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11760 A Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11762 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11762 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11763 A Anlage 2 Verzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Bundesbe- auftragten für die Unterlagen des Staatssicher- heitsdienstes der ehemaligen DDR teilgenom- men haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11764 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände- rung des Strafvollzugsgesetzes (5. StVollz-G ÄndG) (Tagesordnungspunkt 20) . . . . . . . . . . 11766 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11766 B Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11768 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11769 A Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11769 D Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11770 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsaus- übung (Namensaktiengesetz) (Tagesordnungs- punkt 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11771 A Bernhard Brinkmann (Hildesheim) SPD . . . . 11771 A Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . . . . . . . . 11771 C Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11773 C Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11774 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung eines Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und an- derer Gesetze (2-FGOÄndG) (Tagesordnungs- punkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11775 A Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11775 A Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . . . . . . . . 11775 D Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11777 B Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11777 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11778 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . 11778 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Gemein- samen Protokoll über die Anwendung des Wie- ner Übereinkommens und des Pariser Über- einkommens (Tagesordnungspunkt 23 e und Zusatztagesordnungspunkt 13) . . . . . . . . . . . 11779 C Horst Kubatschka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11779 D Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11780 C Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11780 D Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11781 B Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 11781 D Anlage 7 Amtliche Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11782 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 Parl. Staatssekretär Achim Großmann 11762 (C) (D) (A) (B) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11763 (C) (D) (A) (B) Behrendt, Wolfgang SPD 29.09.2000* Bernhardt, Otto CDU/CSU 29.09.2000 Bindig, Rudolf SPD 29.09.2000* Dr. Blank, CDU/CSU 29.09.2000 Joseph-Theodor Dr. Blens, Heribert CDU/CSU 29.09.2000 Bodewig, Kurt SPD 29.09.2000 Bohl, Friedrich CDU/CSU 29.09.2000 Breuer, Paul CDU/CSU 29.09.2000 Brinkmann (Detmold), SPD 29.09.2000 Rainer Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 29.09.2000* Klaus Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 29.09.2000 Peter H. Catenhusen, SPD 29.09.2000 Wolf-Michael Claus, Roland PDS 29.09.2000 Dautzenberg, Leo CDU/CSU 29.09.2000 Eich, Ludwig SPD 29.09.2000 Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 DIE GRÜNEN Elser, Marga SPD 29.09.2000 Dr. Fink, Heinrich PDS 29.09.2000 Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 Joseph DIE GRÜNEN Fischer (Homburg), BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 Lothar DIE GRÜNEN Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 29.09.2000 Haack (Extertal), SPD 29.09.2000* Karl-Hermann Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 29.09.2000 Heise, Manfred CDU/CSU 29.09.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 DIE GRÜNEN Dr. Hornhues, CDU/CSU 29.09.2000* Karl-Heinz Hornung, Siegfried CDU/CSU 29.09.2000* Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 29.09.2000 Hüppe, Hubert CDU/CSU 29.09.2000 Jäger, Renate SPD 29.09.2000* Dr. Jens, Uwe SPD 29.09.2000 Kampeter, Steffen CDU/CSU 29.09.2000 Kasparick, Ulrich SPD 29.09.2000 Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 Angelika DIE GRÜNEN Kolbe, Manfred CDU/CSU 29.09.2000 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 29.09.2000 Kossendey, Thomas CDU/CSU 29.09.2000 Dr. Küster, Uwe SPD 29.09.2000 Lambrecht, Christine SPD 29.09.2000 Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 29.09.2000 Lintner, Eduard CDU/CSU 29.09.2000* Lörcher, Christa SPD 29.09.2000* Dr. Lucyga, Christine SPD 29.09.2000* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 29.09.2000* Erich Maier, Pia PDS 29.09.2000 Dr. Meyer (Ulm), SPD 29.09.2000 Jürgen Michelbach, Hans CDU/CSU 29.09.2000 Michels, Meinolf CDU/CSU 29.09.2000 Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 29.09.2000 Müller (Berlin), PDS 29.09.2000 Manfred Müller (Düsseldorf), SPD 29.09.2000 Michael Neumann (Gotha), SPD 29.09.2000 Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 DIE GRÜNEN Ost, Friedhelm CDU/CSU 29.09.2000 entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht SPD Brigitte Adler Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel (Berlin) Klaus Barthel (Starnberg) Ingrid Becker-Inglau Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Lothar Binding (Heidelberg) Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner (Ingolstadt) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Sebastian Edathy Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Lilo Friedrich (Mettmann) Harald Friese Anke Fuchs (Köln) Arne Fuhrmann Prof. Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller (Lübeck) Stephan Hilsberg Jelena Hoffmann (Chemnitz) Walter Hoffmann (Darmstadt) Iris Hoffmann (Wismar) Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Jann-Peter Janssen Ilse Janz Volker Jung (Düsseldorf) Johannes Kahrs Sabine Kaspereit Ulrich Kelber Klaus Kirschner Marianne Klappert Walter Kolbow Karin Kortmann Nicolette Kressl Parr, Detlef F.D.P. 29.09.2000 Philipp, Beatrix CDU/CSU 29.09.2000 Pieper, Cornelia F.D.P. 29.09.2000 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 29.09.2000 Rauber, Helmut CDU/CSU 29.09.2000 Dr. Rössel, Uwe-Jens PDS 29.09.2000 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 Claudia DIE GRÜNEN Rupprecht, Marlene SPD 29.09.2000 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 29.09.2000 Schemken, Heinz CDU/CSU 29.09.2000 Schild, Horst SPD 29.09.2000 Schily, Otto SPD 29.09.2000 Schloten, Dieter SPD 29.09.2000* Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 29.09.2000* Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 29.09.2000* Siemann, Werner CDU/CSU 29.09.2000 Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 29.09.2000 DIE GRÜNEN Dr. Solms, F.D.P. 29.09.2000 Hermann Otto Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 29.09.2000 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 29.09.2000 Dr. Freiherr von CDU/CSU 29.09.2000 Stetten, Wolfgang Dr. Wieczorek, Norbert SPD 29.09.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 29.09.2000 Wimmer (Neuss), CDU/CSU 29.09.2000 Willy Wissmann, Matthias CDU/CSU 29.09.2000 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.09.2000* Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 29.09.2000 Wolf (München), Hanna SPD 29.09.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 29.09.2000* Zöller, Wolfgang CDU/CSU 29.09.2000 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011764 (C) (D) (A) (B) entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 2 Verzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an derWahl der Bundesbeauftragten, für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR teilgenommen haben entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Christine Lehder Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg) Erika Lotz Dieter Maaß (Herne) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Andrea Nahles Volker Neumann (Bramsche) Dr. Edith Niehuis Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Prof. Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Birgit Roth (Speyer) Thomas Sauer Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schmidbauer (Nürnberg) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt (Berg) Carsten Schneider Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Brigitte Schulte (Hameln) Volkmar Schultz (Köln) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz (Oldenburg) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl (Amberg) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt (Pforzheim) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis (Stendal) Matthias Weisheit Gert Weisskirchen (Wiesloch) Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Heino Wiese (Hannover) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Ilse Aigner Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brudlewsky Hartmut Büttner (Schönebeck) Cajus Caesar Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer (Lübeck) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Norbert Geis Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther (Duisburg) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gerda Hasselfeldt Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Hans Jochen Henke Ernst Hinsken Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Joachim Hörster Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link (Diepholz) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) Julius Louven Dr. Michael Luther Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Bernd Neumann (Bremen) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto (Erfurt) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Ronald Pofalla Marlies Pretzlaff Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard (Dresden) Katherina Reiche Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Adolf Roth (Gießen) Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Wolfgang Schäuble Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11765 (C) (D) (A) (B) Hartmut Schauerte Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt (Fürth) Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) Andreas Schmidt (Mülheim) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe Dr. Christian Schwarz- Schilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Rudolf Seiters Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß (Emmendingen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Werner Wittlich Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann F.D.P. Ina Albowitz Hildebrecht Braun (Augsburg) Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Jörg van Essen Ulrike Flach Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich (Bayreuth) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther (Plauen) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Walter Hirche Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Dirk Niebel Dr. Günter Rexrodt Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Dr. Max Stadler Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Gila Altmann (Aurich) Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Angelika Beer Matthias Berninger Grietje Bettin Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Andrea Fischer (Berlin) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Kerstin Müller (Köln) Winfried Nachtwei Cem Özdemir Simone Probst Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt (Hitzhofen) Werner Schulz (Leipzig) Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Dr. Antje Vollmer Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm (Amberg) Margareta Wolf (Frankfurt) PDS Monika Balt Dr. Dietmar Bartsch Petra Bläss Maritta Böttcher Eva Bulling-Schröter Wolfgang Gehrcke Dr. Klaus Grehn Dr. Gregor Gysi Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Ulla Jelpke Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidi Lippmann Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Angela Marquardt Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Christine Ostrowski Petra Pau Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011766 (C) (D) (A) (B) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset- zes zur Änderung des Strafvollzugsgsetzes (5. StVollzGÄndG) (Tagesordnungspunkt 20) Joachim Stünker (SPD): Das Bundesverfassungsge- richt hat dem Gesetzgeber mit Urteil vom 1. Juli 1998 aufgegeben, die Entlohnung von Gefangenen für zuge- wiesene Arbeit im Vollzug neu zu regeln. Und das Bun- desverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber hierfür erneut eine Frist gesetzt. Wenn es bis zum 31. Dezember diesen Jahres keine neue gesetzliche Regelung gibt, ist die ent- sprechende Bestimmung nichtig und es gilt Richterrecht. Also, die Zeit drängt. Was ist zu tun? Das Bundesver- fassungsgericht hat in seinem Urteil die bisherige Entloh- nungspraxis für verfassungswidrig erklärt, da sie keine angemessene Anerkennung für zugewiesene Arbeit im Strafvollzug gewährleistet. Die Regierungsfraktionen ha- ben ihre Vorstellungen daher bereits vor der parlamentari- schen Sommerpause mit einem eigenen Gesetzentwurf in dieses Hohe Haus eingebracht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, besser spät als nie. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass Sie sich nun auch end- lich mit einem Vorschlag in diesen wichtigen rechtspoliti- schen Gesetzgebungsprozess eingebracht haben. Jetzt wissen wir wenigstens, was Sie wollen. Nein, ich muss sa- gen: Wir wissen jetzt, was Sie nicht wollen. Lassen Sie mich das begründen. Wenn man den Geist des Urteils des Bundesverfassungsgerichts als Maßstab nimmt, scheint mir der Vorschlag Ihres Gesetzentwurfes – entgegen Ihren Behauptungen – den verfassungsrechtli- chen Anforderungen keineswegs Rechnung zu tragen. Im Grunde nehmen Sie das Urteil nicht ernst. Fakt ist zunächst, dass die bei Inkrafttreten des Strafvollzugsge- setzes im Jahre 1976 vorgesehene kontinuierliche Steige- rung der Gefangenenentlohnung vonseiten des Gesetzge- bers seit über zwei Jahrzehnten eben nicht in die Wege geleitet worden ist. Deshalb hat das Bundesverfassungs- gericht mit dem genannten Urteil jetzt die Notbremse ge- zogen. Die in § 200 StVollzG festgeschriebene Höhe der Eckvergütung beträgt seit 1976 unverändert 5 Prozent der Bezugsgröße des Durchschnittseinkommens aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten. De facto bedeutet das eine Entlohnung von 10 DM für einen sechs- stündigen Arbeitseinsatz. Dass Pflichtarbeit mit solcher Entlohnung kein geeignetes Resozialisierungsmittel dar- stellt, da es an einer angemessenen Anerkennung fehlt, die dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen führt, kann man sich – so meine ich – nicht entziehen. Liest man die Begründung des Gesetzentwurfes von CDU/CSU genau, wird allerdings schnell klar, dass von Ihnen die verfassungsrechtlich vorgegebene Notwendig- keit dieser materiell stärkeren Anerkennung nicht wirklich geteilt wird. So findet sich in Ihrer Begründung, dass im Grunde schon jetzt, beziehe man die Zahlungen zur Ar- beitslosenversicherung und die Unterhaltskosten in die Berechnung ein, eine angemessene Gefangenenentloh- nung – entsprechend der geringeren Produktivität der Ge- fangenenarbeit – gezahlt werde. Dieses ist angesichts der Begründung des Urteils „ein Schlag in das Gesicht der Verfassungsrichter“. An anderer Stelle schreiben Sie so- gar, Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts seien unzutreffend. Aus Ihrer Begründung ergibt sich im Ergeb- nis, dass Sie den entscheidenden Ansatz des Urteils ver- kennen, nämlich: Arbeit im Strafvollzug, die der Resozia- lisierung dienen soll, muss angemessene Anerkennung erfahren, und zwar angemessen in dem Sinne, dass dem zur Arbeit Verpflichteten der Wert der Arbeit für das Le- ben in Freiheit vermittelt wird. Eine bloße Orientierung an der Produktivität geht daher völlig fehl! Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht, wie im Urteil nachzule- sen, sowohl die Leistungen zur Arbeitslosenversicherung wie auch die Unterhaltskosten in seine Abwägung mit ein- bezogen. Der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion sieht nun als Anerkennung der zugewiesenen Arbeit zum einen eine Erhöhung der Entlohnung um 2 Prozent der Bezugsgröße vor. De facto bedeutet dieses eine Erhöhung des Arbeits- entgelts von derzeit circa 220 DM auf circa 300 DM mo- natlich. Und diese Erhöhung nach 24 Jahren! Außerdem schlagen Sie als nicht geldwerte Anerkennung maximal sechs zusätzliche Tage Freistellung pro Jahr vor. Auch in dieser Kombination vermag ich nicht zu erkennen, dass damit der geforderten Anerkennung der Arbeit Genüge ge- tan wird. Das Bundesverfassungsgericht betont doch zu Recht die große Bedeutung des Entgelt-Charakters der Anerkennung und stellt damit ausdrücklich vornehmlich auf die finanziell messbare Entlohnung ab. Bezogen auf den nicht monetären Bereich zeigen die Beispiele im Ur- teil, dass hier an Anerkennung in ganz anderem Ausmaß als von Ihnen vorgeschlagen gedacht ist. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Arbeitsentwurf des BMJ vom April 1999, in dem zum Beispiel noch vorgeschlagen war, bei ordnungsgemäßer Arbeit pro Kalenderwoche ei- nen Tag Haftverkürzung zu gewähren. Ich denke, wir sind uns einig, dass eine solch umfangreiche Haftverkürzung rechtspolitisch nicht gewollt und auch wohl nicht vertret- bar ist. Von der Intention würde sie jedoch dem entspre- chen, was dem Bundesverfassungsgericht vermutlich als nicht monetäre Anerkennung vorgeschwebt hat. Wer eine solch ausufernde nicht monetäre Anerken- nung nicht will, muss dann aber auch bereit sein, die geld- werte Anerkennung wirklich angemessen zu erhöhen. Wir tun dies mit unserem Gesetzentwurf; der CDU/CSU-Vor- schlag tut es nicht. Unser Gesetzentwurf sieht vor, die Höhe der Eckvergütung von 5 Prozent auf 15 Prozent der Bezugsgröße zu erhöhen. In der Praxis bedeutet dies für vollbeschäftigte Gefangene eine deutliche Erhöhung von derzeit circa 215 DM monatlich auf circa 660 DM monat- lich. Damit wird der Forderung des Verfassungsgerichts nach einer angemessenen Entlohnung Genüge getan. Ihr Entwurf genügt dem nicht! Zu diesem Ergebnis kommen im übrigen nicht nur BMJ und die Koalitionsfraktionen. Auch Justizvollzugsprakti- ker, wie der Beitrag von Thomas Ullenbruch in der ZRP vom Mai dieses Jahres zeigt, unterstützen die von Ihnen vorgeschlagene Lösung ausdrücklich nicht. Auch der ehe- malige Bundesverfassungsrichter Konrad Kruis, der als damaliger Berichterstatter als Vater des Urteils zur Gefan- genenentlohnung gilt, hat sich in diesem Sinne öffentlich geäußert. Laut Presseberichten bezeichnete er den Vor- schlag einer Erhöhung des Arbeitsentgelts von 5 Prozent auf 7 Prozent der Bezugsgröße als „blanken Hohn“. Nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts, so Konrad Kruis, werde sich der Gesetzgeber „auf einen zweistelligen Pro- zentsatz einlassen müssen“. Am Rande: Herr Kruis war übrigens, bevor er zum Bundesverfassungsrichter gewählt wurde, Leiter der Abteilung für Gesetzgebung und Recht der Bayerischen Staatskanzlei. Ich appelliere daher an dieses Hohe Haus: Lassen wir uns in der sensiblen Frage der Gefangenenentlohnung nicht auf ein verfassungsrechtliches Wagnis ein. Es stän- de uns gut an, wenn wir es mit dem Verfassungsgebot der Resozialisierung im Strafvollzug ernst meinen, den mah- nenden Worten des Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen und eine wirklich angemessene Entlohnung der Strafgefangenen gewährleisten. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf zwei weitere Fragen eingehen, in denen der Entwurf der CDU/CSU- Fraktion leider hinter unsere Überlegungen weit zurück- fällt. Erstens. Sie schließen Untersuchungshäftlinge und Ge- fangene, die an Maßnahmen der Schul- und Berufsbildung teilnehmen, von der Vergütungserhöhung kategorisch aus. Wir meinen, auch diesen Gefangenen sollte die Erhöhung zugute kommen. Zum einen stärken wir damit den Anreiz zur Teilnahme an Bildungs- und Qualifizierungsmaßnah- men und leisten damit einen erheblichen Beitrag zur Stär- kung des Resozialisierungsgedankens im Strafvollzug. Zum anderen verhindern wir ein Zweiklassensystem in der Gefangenenentlohnung, das zu Unzuträglichkeiten und Unruhe unter den Gefangenen führen würde und im Sin- ne der subjektiven Gleichbehandlung nicht akzeptabel er- scheint. Zweitens. Sie sind nicht bereit, die Umsetzung der Re- gelungen des Bundesurlaubsgesetzes auch für Strafgefan- gene mitzutragen. Unser Gesetzentwurf sieht eine Er- höhung der Freistellungszeiten von 18 auf 24 Tage vor. In Ihrem Vorschlag taucht dies nur zusätzlich als nicht mo- netäre Anerkennung auf. Wir meinen, es gibt keinen stich- haltigen Grund, den gesetzlich festgesetzten Mindestur- laub nicht auch im Knast gelten zu lassen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11767 (C) (D) (A) (B) Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, in den kommenden Monaten zusammen mit den Ländern eine den dargestell- ten verfassungsrechtlichen Maßstäben genügende Gefan- genenentlohnung gesetzlich festzuschreiben. Zeigen wir gemeinsam Flagge und bekennen uns zum Resozialisie- rungsgebot des Grundgesetzes. Unsere Vorschläge hierzu liegen auf dem Tisch. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Innerhalb sehr kurzer Zeit steht das Thema „Neuregelung der Gefange- nenentlohnung“ erneut auf der Tagesordnung des Deut- schen Bundestages. Im Juli hat die Regierungskoalition ihren Gesetzentwurf eingebracht, der bis aufs Wort dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums gleicht. Heute debattieren wir den von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf. Es besteht dringender gesetzgeberischer Handlungsbe- darf: Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 1. Juli 1998 die Unvereinbarkeit von § 200 Abs. 1 StVollzG mit dem aus unserer Verfassung abgeleiteten Re- sozialisierungsgebot (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG) ausgesprochen und dem Deutschen Bundestag eine Frist bis zum 31. Dezem- ber dieses Jahres gesetzt, das Entgelt für die Pflichtarbeit von Gefangenen neu zu regeln. Die Hinführung der Gefangenen zu einer geregelten Ar- beit ist eine der Säulen eines modernen behandlungsori- entierten Strafvollzugs. Es ist Sache des Bundesgesetzge- bers, dafür Sorge zu tragen, dass dies auch in Zukunft sichergestellt ist. Ob dieses Resozialisierungsangebot auf- rechterhalten werden kann, hängt vor allem von der an- stehenden Neuregelung der Bezahlung der Gefangenen für ihre Pflichtarbeit ab. Die Gefangenen erhalten derzeit ein Arbeitsentgelt, das im Durchschnitt etwa 260 DM im Mo- nat beträgt. Hinzu kommen Arbeitslosenversicherungs- beiträge in etwa der gleichen Höhe und kostenlose Unter- kunft und Verpflegung, sodass ein Gesamtwert von rund 1 200 DM erreicht wird. Obwohl die Produktivität von Ge- fangenen gegenüber Arbeitern in der freien Wirtschaft nach wissenschaftlichen Untersuchungen allenfalls 15 bis 20 Prozent beträgt, hat das Bundesverfassungsgericht das Gefangenenentgelt für unzureichend erachtet. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge- setzgeber bei der Regelung dessen, was angemessen ist, einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt, innerhalb dessen die typischen Bedingungen des Strafvollzugs in Rechnung gestellt werden können. Auch muss nach den Vorgaben der Karlsruher Richter die Anerkennung der ge- leisteten Arbeit nicht notwendig finanzieller Art sein. Demnach steht dem Gesetzgeber eine Vielzahl von Mög- lichkeiten zur Erfüllung des vom Bundesverfassungs- gericht Geforderten zur Verfügung. Sehr spät hat die Bundesjustizministerin vor wenigen Monaten nun einen Entwurf vorgelegt, nach dem das Ar- beitsentgelt der Gefangenen verdreifacht werden soll. Der schließlich über die Koalitionsfraktionen eingebrachte Gesetzentwurf geht damit über die Vorgaben des Bundes- verfassungsgerichts weit hinaus – und ist dennoch kein großer Wurf. Das BMJ hätte sich besser orientieren sol- len an dem ohne Gegenstimmen beschlossenen Vorschlag der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justiz- minister der Länder. Stattdessen will Frau Däubler- Gmelin die Gefangenenentlohnung um ganze 200 Prozent erhöhen. Dies würde beispielsweise in Bayern jährlich 33 Millionen DM kosten, bundesweit 230 Millionen DM. Woher diese Millionen kommen sollen, interessiert die Bundesregierung natürlich nicht. Vor allem aber hätte die- se geplante Verdreifachung des Arbeitsentgelts der Ge- fangenen eine derartige Verteuerung der Gefangenenar- beit für die Auftraggeber zur Folge, dass massiv Arbeitsplätze in denAnstalten vernichtet würden. Das Er- gebnis wäre also eine drastische Zunahme der Arbeitslo- sigkeit in den Justizvollzugsanstalten. Damit aber wären unsere Resozialisierungsbemühungen nachhaltig gefähr- det. Außerdem halte ich es auch nicht für vertretbar, die Zeiten magerer Tarifabschlüsse und minimaler Rentener- höhungen das Arbeitsentgelt verurteilter Straftäter um 200 Prozent zu steigern. Ich möchte die Kritik am Gesetzentwurf der Regie- rungskoalition wie folgt zusammenfassen: Eine Verdrei- fachung des Arbeitsentgelts für alle Gefangenen ist ver- fassungsrechtlich nicht geboten, nicht finanzierbar, be- schäftigungsfeindlich und zudem aus Resozialisierungs- gesichtspunkten kontraproduktiv. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion orientiert sich dagegen an dem Beschluss, den die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 10. No- vember 1999 ohne Gegenstimme gefasst hat. Wesentlicher Inhalt unseres Entwurfs ist eine Kombination aus einer maßvollen finanziellen Entgelterhöhung und einem zu- sätzlichen nicht monetären Anreiz für eine ordnungs- gemäße Arbeitsleistung. Diese Kombination ist nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts möglich. Wir schlagen eine maßvolle Erhöhung des Arbeitsentgelts um immerhin 40 Prozent vor; die Eckvergütung läge dann bei 7 Prozent der Bezugsgröße, also des Durchschnittsein- kommens der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die monatliche Vergütung wird sich damit auf circa 300 DM bis 360 DM erhöhen. Als zusätzlichen Arbeits- anreiz über die Freistellung von der Arbeitspflicht nach § 42 StVollzG hinaus wollen wir für regelmäßige Arbeit bis zu sechs Freistellungstage im Jahr gewähren, die die Gefangenen für eine vorzeitige Entlassung ansparen kön- nen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass für Gefangene, die eine Freiheitsstrafe verbüßen, re- gelmäßig eine möglichst frühzeitige Entlassung eine ganz besonders hohe Wertigkeit hat. Freiheit ist erfahrungs- gemäß den Gefangenen in der Regel wichtiger als eine bloße Erhöhung ihres Arbeitseinkommens. Deshalb ist dieser nichtfinanzielle Anreiz – der im Gesetzentwurf der Regierungskoalition überhaupt nicht vorkommt – neben der maßvollen Erhöhung des finanziellen Arbeitsentgelts eine tragfähige zweite Säule des Konzepts zur Neurege- lung des Gefangenenarbeitsentgelts. Denn dieser Gewinn an persönlicher Freiheit wird einen so starken Arbeitsan- reiz darstellen, dass er in Verbindung mit der von uns vor- geschlagenen Erhöhung die verfassungsrechtlichen Vor- gaben an eine angemessen vergütete Arbeit erfüllt. Die Entgelterhöhung soll nach unserem Entwurf beschränkt werden auf diejenigen Gefangenen, die zugewiesene Ar- beit, eine sonstige Beschäftigung oder eine Hilfstätigkeit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011768 (C) (D) (A) (B) verrichten, um damit zugleich deutlich zu machen, dass nur produktive Arbeit Vorteile im Rahmen des Arbeitsent- gelts rechtfertigt. Mit diesem Konzept werden wir den Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Ju- li 1998 gerecht. Außerdem könnte die Mehrbelastung für die Länderhaushalte dadurch auf circa 40 Millionen DM jährlich begrenzt werden, was gegenüber dem Regie- rungskoalitionsentwurf eine Entlastung um circa 189Mil- lionen DM im Jahr bedeuten würde. Dass die in unserem Entwurf enthaltenen Neuregelungen nicht nur die Zu- stimmung der Fachleute in den Landesjustizverwaltungen finden, sondern sich auch die Landesregierungen über die Parteigrenzen hinweg hierauf verständigt haben, bezeich- net die „Frankfurter Rundschau“ vom 8. September die- ses Jahres als ziemlich einmaligen Vorgang und konsta- tiert: „Beim Häftlingslohn steht´s 16:0 gegen Däubler-Gmelin“. Sehr verehrte Frau Justizministerin, vielleicht gibt Ih- nen das doch zu denken. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mehr als zwanzig Jahre hat es gedauert, bis dem Bundes- verfassungsgericht im Juli 1998 bei der Strafgefangenen- entlohnung der Geduldsfaden gerissen ist. Über zwei Jahr- zehnte lang ist eine mit dem Grundgesetz kompatible Entlohnung vor allem am Widerstand der Länder geschei- tert. Und was Sie, meine Damen und Herren von der Union, uns heute präsentieren, ist erneut eine Regelung, der den gegenwärtig verfassungswidrigen Zustand weiter auf- rechterhält. Der bereits vor der Sommerpause von der Koalition eingebrachte Gesetzentwurf macht endlich Schluss mit ei- nem verfassungswidrigen und auch menschenunwürdigen Zustand in unseren Gefängnissen: Ein Stundenlohn von 1,72 DM stellt keine angemessene Anerkennung der Ar- beitsleistung dar. Diese Unterbezahlung läuft dem Zweck des Strafvoll- zuges – die Täter zu resozialisieren – zuwider: Wer die Ge- fangenen auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereiten will, muss ihnen auch den Sinn einer bezahlten Tätigkeit bewusst machen. Wer sie jedoch hinter Gittern noch zu- sätzlich desillusioniert, darf sich später über die Folgen nicht wundern: Denn wer im Knast gelernt hat, dass sich Arbeit nicht lohnt, geht womöglich später auch in Freiheit lieber klauen! Sinn der von Karlsruhe geforderten Lohnerhöhung ist ja nicht, dass dem Gefangenen künftig mehr Geld für den Einkauf beim Anstaltskaufmann zur Verfügung steht. Nein, viel wichtiger ist, dass wir den Gefangenen helfen, ihren Schuldenberg zu tilgen oder ihre Unterhaltsver- pflichtungen zu erfüllen. Nach Berechnungen der Bun- desarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe sind rund drei Viertel aller Gefangenen erheblich verschuldet. Auch viele Opfer von Straftaten gehen deshalb leer aus. Diese Mittel aber dürfen den Gefangenen nicht vorenthalten werden. Auch das folgt aus dem Resozialisierungsgebot des Grundgesetzes. Meine Damen und Herren von der Union, bitte erinnern Sie sich doch einmal: Der verfassungswidrige Bezugs- größeneckwert von 5 Prozent war bei In-Kraft-Treten des Strafvollzugsgesetzes 1977 nur als Basiswert für die An- fangszeit des Gesetzes vorgesehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte er eigentlich stufenweise bis 1986 auf 40 Prozent angehoben werden. Im Vergleich zum Willen des Gesetzgebers ist also unser Vorschlag – eine Erhöhung des Wertes auf 15 Pro- zent – ein maßvoller Vorschlag: Ein Monatslohn von knapp 660 DM stellt nach Einschätzung von Experten so- gar nur die Untergrenze des verfassungsrechtlich Vertret- baren dar. Der frühere Verfassungsrichter Kruis, der selbst an dem Urteil von 1998 mitgewirkt hat, sagt: „Ein zwei- stelliger Betrag sollte es schon sein.“ Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der Uni- on, hätte in Karlsruhe also mit Sicherheit keinen Bestand! So nachvollziehbar angesichts der knappen Länderkassen 7 Prozent auch sein mögen: Mit welchen Mitteln bitte sol- len die Gefangenen dann Wiedergutmachung an die Opfer und Unterhalt an ihre ohnehin schon gebeutelten Familien leisten? Herr Kollege Funke, Sie haben vor einiger Zeit den Vor- schlag der Koalition als „zu niedrig“ bezeichnet. In Ord- nung, 15 Prozent sind in der Tat die unterste, vertretbare Grenze: Ich wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie Ihre Parteifreunde in den Ländern und Ihren ehemaligen Ko- alitionspartner auch davon überzeugen könnten. Richtig ist: Karlsruhe hat sich nicht auf eine rein mo- netäre Lösung festgelegt. Und eine solche haben wir in un- serem Gesetzentwurf auch nicht gewählt: Ich nenne nur die Ausdehnung des Freistellungszeitraumes von 18 auf 24 Tage, die Sie ja auch in ihrem Entwurf haben. AuchHaftzeitverkürzungen–„Good-time-Konzepte“–, wie sie die Länder vorschlagen, haben wir geprüft. Aber soll der Entlassungszeitpunkt etwa davon abhängen, ob in der Anstalt zufällig ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht oder aber ob ein Gefangener entschuldigt oder unent- schuldigt der Pflichtarbeit ferngeblieben ist? Die verfas- sungsrechtlichen Bedenken liegen auf der Hand. Und ei- ne weitere Rüge aus Karlsruhe sollten wir uns alle ersparen. Jörg van Essen (F.D.P.): Das Bundesverfassungsge- richt hat dem Deutschen Bundestag den Auftrag erteilt bis spätestens zum 31. Dezember 2000 eine Neuregelung der Gefangenenentlohnung vorzulegen. Die Zeit drängt. Die Bundesjustizministerin hat hierzu vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem sie eine Verdreifa- chung der Löhne vorschlägt. Mit dieser Initiative ist sie isoliert. Die Länder sind sich in ihrer einhelligen Ableh- nung einig wie selten zuvor. In der Vergangenheit haben wir des Öfteren erfahren dürfen, dass die Ministerin eine frühzeitige Abstimmung mit den Ländern bei wichtigen rechtspolitischen Reformprojekten nicht für erforderlich hält. Beispielhaft sei hier nur die Justizreform im Zivil- prozess oder die eingetragene Lebenspartnerschaft ge- nannt. In beiden Fällen hat die Ministerin ihre Linie durch- gepeitscht, ohne die Länder einzubinden, obwohl deren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11769 (C) (D) (A) (B) Interessen in nicht geringem Umfang berührt sind. Es wird Zeit, dass die Ministerin den Dialog mit den Ländern wie- der aufnimmt und die Interessen der Länder angemessen berücksichtigt. Es ist richtig: Das Urteil des Bundesverfassungsge- richts muss ordentlich umgesetzt werden. Dies kann nur dadurch geschehen, dass die Löhne deutlich steigen. Die Umsetzung und Finanzierung der angestrebten Reform trifft jedoch einzig und allein die Länder. Die Ministerin ist daher gut beraten, wenn sie die Interessen der Länder ernst nehmen würde. Es ist ratsam, hier zu einem trag- fähigen Kompromiss zu kommen. Der Gesetzentwurf der Union bietet hierzu eine gute Diskussionsgrundlage. Die F.D.P. hat schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass es falsch ist, nur isoliert über die Löhne der Strafge- fangenen zu diskutieren. Es gibt daneben noch eine Reihe von Fragen, die auch angesprochen werden müssen. Es ist sinnvoll, hier zu einer umfassenden Regelung zu kommen. Alles andere wäre nur Flickwerk. Die Tatsache, dass der Bundesrat mit 16:0 die Vor- schläge der Bundesregierung bzw. der Regierungskoaliti- on ablehnt und einen eigenen Gesetzentwurf über die Brücken von A- und B-Ländern hinaus vorlegt, zeigt deut- lich die Problematik auf, die sich hier zwischen Bund und Ländern auftut. Der Strafvollzug wird von den Ländern durchgeführt, die Landesjustizminister tragen das Risiko, wenn der Strafvollzug nicht funktioniert. Wie viele Lan- desjustizminister sahen sich schon aufgrund von geflohe- nen Häftlingen mit dem Rücktritt konfrontiert. Außerdem tragen auch die Länder die gesamte finanzielle Last des Strafvollzuges. Der Strafvollzug ist zudem in den ansons- ten sehr kostentragenden Justizhaushalten einer der größ- ten Belastungspunkte. Schließlich ist durch das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber, also Bund und Land, der Auftrag gege- ben worden, die Gefangenenentlohnung bis zum 1. Janu- ar 2001 anzupassen. Dafür benötigen die Länder den Bun- destag, der eine vernünftige Lösung finden muss, deren finanzielle und organisatorische Belastung jedoch einzig und alleine bei den Ländern zu Buche schlägt. Der Bundestag hat die Aufgabe, diese Tatsache und die Frist des Bundesverfassungsgerichtes nicht als Droh- potenzial gegenüber den Ländern zu nutzen. Vielmehr muss er eine tragfähige, die Situation der Länder berück- sichtigende Lösung finden. Die F.D.P. ist bereit, hierbei zu helfen, übrigens ebenso wie bei dem noch immer im Bundesjustizministerium hängenden Untersuchungshaft- vollzugsgesetz, welches wir ebenfalls dringend benötigen. Lassen Sie mich daher zusammenfassend festhalten, dass es trotz der Initiativen des Ministeriums und der CDU/CSU noch genügend Klärungs- und Abstimmungs- bedarf gibt und wenig Zeit. Wir müssen daher im Rechts- ausschuss eingehend beraten und dennoch schnell zu einer für alle tragfähigen Lösung gelangen. Ulla Jelpke (PDS): Der vorliegende Antrag der CDU/CSU fällt noch weit hinter den seit Sommer vorlie- genden Antrag der Regierungsparteien zur Reform des Strafvollzugsgesetzes zurück. Die Regierungsparteien wollen mit ihrem Antrag bekanntlich eine Anhebung des Ecksatzes für die Gefangenenentlohnung von 5 auf 15 Prozent. Ich habe schon im Juli hier erklärt, dass diese Anhebung nicht ausreicht. Der nun vorgelegte Antrag der Unionsparteien will nun sogar noch weniger. Die von CDU und CSU beantragte Anhebung auf 7 Prozent ist, nichts für ungut, einfach ein schlechter Witz. Im Grunde wollen sie die Situation der Strafgefangenen so schlecht lassen, wie sie schon lange ist. Ich erinnere an die soziale Situation der Gefangenen. Viele von ihnen sind mittellos, viele sogar hoch verschul- det, haben aber gleichzeitig beträchtliche finanzielle Ver- pflichtungen. Ich nenne nur den Schadensausgleich für ih- re Taten und die Unterhaltsleistungen für ihre Familie. Etwa drei Viertel aller Strafgefangenen sind nach Erhe- bungen hoch verschuldet. Schon 1994 wurde in einer Er- hebung festgestellt, dass Schulden zwischen 12 000 und 45 000 DM nicht selten sind. Wie sollen diese Gefange- nen bei einem monatlichen Gefangenenlohn von 280 DM, wie ihn die Unionsparteien jetzt vorschlagen, solche Schulden je zurückzahlen oder wenigstens verringern? Wie sollen sie jemals für den Unterhalt ihrer Familien auf- kommen? Es ist doch sonnenklar: Solange die Entlohnung der Ge- fangenen so niedrig ist, wie sie leider schon seit vielen Jah- ren ist, kann von einem ernsthaften Resozialisierungsziel im Strafvollzug keine Rede sein. Die Gefangenen kom- men aus der Haft mit einem Schuldenberg heraus, der um ein Vielfaches größer ist als bei Antritt der Haft. Genau diese Situation haben viele Gefangene, haben Strafvoll- zugsexperten und sogar Gefängnisleiter seit langem kriti- siert. Genau diese Situation hat auch das Bundesverfas- sungsgericht mit seinem Urteil von 1998 als unvereinbar mit dem Resozialisierungsauftrag und dem Grundgesetz eingestuft und Abhilfe verlangt. Das Verfassungsgericht hat 1998 geurteilt, die Entloh- nung der Gefangenen müsse, ich zitiere, „dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenver- antwortliches und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen führen“. Meine Damen und Herren von der Union, Sie wollen doch wohl nicht im Ernst behaupten, die von Ihnen beantragte Entlohnung von künftig 14DM pro Tag werde diesen Forderungen des Verfassungsgerichts auch nur ansatzweise gerecht. In Wirklichkeit würde durch Ihren Antrag die Verpflichtung im Strafvollzugsgesetz, auf eine Resozialisierung von Ge- fangenen hin zu wirken, auch für die Zukunft weiter außer Kraft gesetzt. Der frühere Verfassungsrichter Kruis, der an dem Ur- teil des Verfassungsgerichts 1998 persönlich mitgewirkt hat, hat demgegenüber unmissverständlich erklärt, ich zi- tiere: „Ein zweistelliger Betrag sollte es schon sein.“ Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe tritt schon lange für eine Anhebung der Eckvergütung auf 40 Prozent ein. Auch ich finde, unterhalb dieser 40 Prozent kann von einer angemessenen Entlohnung für Gefange- nenarbeit einfach keine Rede sein. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011770 (C) (D) (A) (B) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimm- rechtausübung (Namensakiengesetz – NaStraG) (Tagesordnungspunkt 14) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Das Vor- haben, das Recht der Namensaktie zu aktualisieren und damit den sich aus der Renaissance dieser Aktienform er- gebenden Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, wird all- gemein sehr begrüßt. Der Gesetzentwurf enthält vielfältige Formerleichte- rungen und Rücknahmen bürokratischer gesetzlicher Er- fordernisse, sodass die Unternehmen durchweg von Kos- ten entlastet werden. Ferner ist festzustellen, dass große Börsennotierte Aktiengesellschaften in Deutschland wie zum Beispiel Lufthansa, Daimler-Chrysler, Siemens, Te- lekom sowie Dresdner Bank und Deutsche Bank, von der herkömmlichen Inhaber- zur Namensaktie gewechselt sind. Zur Begründung wurde unter anderem angeführt, dass die registrierte Namensaktie international weit ver- breitet ist und insbesondere zur Einführung an US-ameri- kanischen Börsen benötigt wird. Durch diese Entwicklung ist offenbar geworden, dass die derzeitigen Regelungen im Aktiengesetz von 1965 weitgehend veraltet sind und heutigen Erfordernissen ein- fach nicht mehr gerecht werden können. Deshalb ist es dringend notwendig, die in das Aktienregister aufzuneh- menden Daten neu zu bestimmen. Ferner ist deutlich ge- worden, dass die bisherigen datenschutzrechtlichen Rege- lungen zum Aktienregister völlig unzureichend sind und das umfassende Einsichtsrecht in das Aktienregister bei den Menschen auf Sorge und Unverständnis stößt. Daher wird das Recht zur Einsicht in das Aktienregister erheblich eingeschränkt und auf die eigenen Daten des jeweiligen Aktionärs begrenzt. Außerdem wird eine Zweckverwen- dungsregelung für die Daten aufgenommen, die bestimmt, was die Gesellschaft mit den sensiblen Informationen im Aktienregister tun darf und was nicht. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält ferner eine Erleichterung der Stimmrechtsausübung. Es ist allge- mein bekannt, dass die Zahl der umlaufenden Aktien und damit auch der Aktionäre enorm zugenommen hat. Die Aktionärsstruktur hat sich deutlich verändert, sie ist vor al- len Dingen internationaler geworden. Man kann ohne wei- teres von einer weltweiten Streuung sprechen. Das sind zum Teil „dramatische Veränderungen“, die eindeutig im Widerspruch zu den bürokratischen Form- erfordernissen rund um die Aktionärs-Hauptversammlung bestehen. Daher muss das Aktienrecht für neue Informati- onstechnologien geöffnet werden, um damit unter ande- rem die Stimmrechtsausübung und die Erteilung von Voll- machten zu erleichtern. Besonders bedeutsam ist dabei die Rücknahme der Schriftform für die Stimmrechtsvollmachten im Aktien- gesetz. Hier kann zum Beispiel künftig die so genannte elektronische Bevollmächtigung oder eine telefonische Vollmachtserteilung möglich sein. Es bleibt den Beteilig- ten überlassen, welche maßgeschneiderten Konzepte sie für die Abstimmung wählen wollen. Schließlich widmet sich der vorliegende Entwurf ins- besondere den Problemen kleiner Aktiengesellschaften. Hier wird unter anderem Folgendes geregelt: die Nach- gründungsvorschriften des Aktiengesetzes, Abschluss der technischen Umstellung von Deutsche Mark auf Euro im Gesellschaftsrecht, Aufgreifen der Wünsche der Register- praxis zur Erleichterung bei der Handelsregisterbekannt- machung. Für die Modernisierung der Regelungen zur Namens- aktie verweise ich insbesondere auf die §§ 67, 68 des Ih- nen vorliegenden Gesetzentwurfs. Abschließend danke ich der Bundesregierung, insbe- sondere dem BMJ, für die bisher geleistete Arbeit und für die Vorlage des Gesetzentwurfes. Die Berichterstatter der Fraktionen werden in Kürze Gespräche mit einer Exper- tenrunde aufnehmen, damit eventuell notwendig werden- de Änderungen im Laufe der weiteren Beratung noch Berücksichtigung finden können. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich bei der ab- schließenden Beratung eine große Mehrheit des Hauses für den Gesetzentwurf ausspricht, und bedanke mich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Ihre geschätz- te Aufmerksamkeit. Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU):Der vorliegende Entwurf eines Namensaktiengesetzes stellt eine bedeutsa- me Initiative für den Finanzplatz Deutschland dar. Dem in- ternationalen Anpassungsdruck, dem dieser unterliegt, hat bereits die vorhergehende Bundesregierung in voraus- schauender Weise Rechnung getragen durch das Dritte Fi- nanzmarktförderungsgesetz und nicht zuletzt das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, das so genannte KonTraG. Der nunmehr vorliegende Ent- wurf setzt diese Linie folgerichtig fort. Wenn der Finanz- platz Deutschland international wettbewerbsfähig sein soll, müssen wir die Namensaktie als die international gängige Beteiligungsform und Zugangsvoraussetzung zu amerikanischen Börsen für Deutschland handhabbar ma- chen. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die gegen- wärtige Schwäche des Euro auch darauf beruht, dass die europäischen Bürger und Unternehmen nicht in dem Maße international investieren, wie das US-amerikanische In- vestoren tun. Nun haben wir keineswegs die Absicht, je- den Deutschen zur internationalen Beteiligung zu drän- gen. Wir müssen aber für die, die sich international betätigen wollen, die Möglichkeiten hierzu eröffnen, das heißt also, das Aktienrecht entsprechend anpassen. Denn auch die großen deutschen Unternahmen stellen zuneh- mend auf Namensaktien um – von den Unternehmen des Dax 30 haben bereits mehr als ein Drittel Namensaktien emittiert –, sodass auch innerdeutsche Beteiligungen von der Handhabbarkeit der Namensaktie abhängen. Die bis- her bestehenden Vorschriften zum Recht der Namensaktie werden den Anforderungen des Wirtschaftslebens aber einfach nicht mehr gerecht. Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt deshalb im Prin- zip den vorliegenden Gesetzesentwurf, da dieser Entwurf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11771 (C) (D) (A) (B) das Aktiengesetz und zahlreiche andere Bestimmungen an die Entwicklungen der Wirtschaftspraxis anpasst. Die Bedeutung der Namensaktie war bei uns lange Zeit gering. Man muss aber wissen, dass im Gegensatz zu Deutschland in einigen anderen Rechtsordnungen die In- haberaktie völlig unbekannt ist, sodass im Zuge der wei- ter zunehmenden Globalisierung und dem damit einher- gehenden Trend, Aktien an unterschiedlichen Börsen auf der Welt zu handeln, die Bedeutung der Namensaktie ge- rade auch in Deutschland in der Zukunft weiter zunehmen wird. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren die Anteilseig- nerstruktur internationaler geworden, sodass wir die Auf- gabe haben, grenzüberschreitende Schwierigkeiten auf ein Minimum zu reduzieren. Positiv zu bewerten ist die nunmehr vorgesehene Über- arbeitung der datenschutzrechtlichen Regelungen zum Aktienregister. Gerade das bisherige umfassende Ein- sichtsrecht in das Aktienbuch durch die Aktionäre war ein Grund dafür, dass sich viele Aktionäre scheuten, eine Ein- tragung vornehmen zu lassen. Im Gesetzesentwurf ist nun vorgesehen, dass der Aktionär nur noch bezüglich seiner eigenen Daten ein Einsichtsrecht hat. Es ist zu hoffen, dass sich die Aktionäre daher verstärkt in das nunmehr neue Aktienregister eintragen lassen und somit der „freie Meldebestand“ deutlich zurückgehen wird. Im Rahmen der Beratungen im Rechtsausschuss wird sich zeigen, ob die vom Bundesrat vorgeschlagene Än- derung zu § 67 VI AktG-E notwendig ist, dass nämlich der Aktionär auch Auskunft über die Daten verlangen kann, die zu Aktionären gehören, denen mehr als 5 Pro- zent der Aktien der Gesellschaft gehören. Unter Verweis auf § 21 I Wertpapierhandelsgesetz, der ohnehin entspre- chende Mitteilungspflichten vorsieht, neige ich dazu, dies eher zu verneinen. Einem anderen Vorschlag des Bundesrates könnte die Fraktion der CDU/CSU aber durchaus zustimmen. Der in § 67 VI 4 AktG-E benutzte Begriff „verwenden“ könnte in der Tat so ausgelegt werden, dass ein Übermitteln der Da- ten zu Werbezwecken durch Dritte zulässig ist, soweit der Aktionär nicht widerspricht. Diese Auslegung wäre pro- blematisch, sodass bereits im Gesetzgebungsverfahren si- cherzustellen wäre, dass nur die Eigenwerbung der Ge- sellschaft zulässig ist, es sei denn, der Aktionär widerspricht dem. Der Vorschlag des Bundesrates ist in dieser Hinsicht hilfreich. Zudem ist zu fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, die Lö- schung des Veräußerers und die Neueintragung des Er- werbers bzw. des von ihm beauftragten Legitimationsak- tionärs begrifflich zu trennen (§ 67 III AktG-E), und zwar deshalb, da beim Erwerb von Namensaktien sich die neu- en Aktionäre oftmals nicht in das Aktienregister eintragen lassen bzw. die Erwerber noch nicht in das Aktienregister eingetragen sind, was zu Irritationen führen kann, da nach § 67 II AktG-E dann noch der alte Eigentümer als Aktionär der Gesellschaft gilt, das heißt zu Hauptverhandlungen eingeladen wird und dort möglicherweise noch sein Stimmrecht ausübt. In jedem Fall sollte im § 67 IVAktG-E die interne Kos- tenfrage der Datenübermittlung mitentschieden werden. Die Übermittlung der Daten an die Gesellschaft führt zu einer Kostenbelastung der Kreditinstitute. Eine einseitige Abwälzung dieser Kosten auf den Aktionär lehnen wir ab. Sie kann nicht damit begründet werden, dass der Aktionär durch eine Order zum Kauf von Namensaktien das Ent- stehen der beschriebenen Kosten ausgelöst hat, würde vielmehr durch erhöhte Transaktionskosten die Attrakti- vität der Namensaktie beeinträchtigen und möglicherwei- se den Aktionär von der Eintragung ins Aktienregister ab- halten, dadurch aber das gesetzgeberische Leitbild des vollständigen Aktienregisters konterkarieren. Die alleini- ge Belastung der Kreditinstitute ist gleichfalls bedenklich, da diese im Verhältnis Aktionär/Gesellschaft nur Dritte sind. Die maßgeblichen Beziehungen bestehen im Ver- hältnis Aktionär/Gesellschaft, und gerade die Namensak- tie dient einer Verbesserung der so genannte Investor Re- lations. Deswegen sollten auch die kostenmäßigen Konsequenzen vorrangig in dieser Beziehung angesiedelt sein. Das Interesse der Gesellschaften an einem vollstän- digen Aktienregister, auch gerade im Hinblick auf Inve- stor-Relations-Überlegungen, sind nicht von der Hand zu weisen. Dieses Interesse sollte sich deshalb auch im Rah- men einer Kostentragungspflicht widerspiegeln. Auf jeden Fall aber darf sich der Gesetzgeber nicht vor einer klaren Entscheidung drücken, sondern muss hier Rechtsfrieden schaffen. Die Änderungen in § 125 II 3 AktG-E – Unterrich- tungspflicht der Gesellschaft an alle zwölf Tage vor der Einladung eingetragene Aktionäre – werden begrüßt, da durch sie aufwendige „Nach-Mailing-Aktionen“ reduziert werden. Wir sind aber der Ansicht, dass die Frist des § 125 I 1 AktG auch für die Mitteilung der Kreditinstitute nach § 128 I AktG-E gelten sollte, da auch bei den Kreditinsti- tuten Unsicherheit darüber besteht, ab welchem Zeitpunkt auf eine Weitergabe der Unterlagen verzichtet werden kann. Daher ist nicht verständlich, weshalb die Stichtags- regelung nicht auch für die Kreditinstitute gelten sollte. Im Rahmen des § 128 I AktG-E könnte man zusätzlich darüber nachdenken, ob es für die Vollständigkeit des Ak- tienregisters nicht angebracht wäre, die Kreditinstitute zu verpflichten, die Unterlagen auch an diejenigen Depot- kunden weiterzuleiten, deren Aktien sich im „freien Mel- debestand“ befinden. Die Weiterleitung könnte den Ak- tionär möglicherweise dazu bewegen, sich in das Aktienregister eintragen zu lassen, um an der Hauptver- handlung der Gesellschaft teilnehmen zu können. Sollte dieser Weg beschritten werden, so müsste den Kreditinsti- tuten allerdings ein Kostenerstattungsanspruch entspre- chend der VO nach § 128 VI AktG-E zustehen. Grundsätzlich positiv zu beurteilen ist die Öffnung des Aktienrechts für neue Informationstechnologien. Hier- durch können Arbeitsvorgänge erleichtert und beschleu- nigt werden. Die Veränderung der Anteilseignerstruktur sowie die Zunahme der Aktionäre und der umlaufenden Aktien haben deutlich aufgezeigt, dass eine Anpassung des Aktienrechts an die Möglichkeiten des 21. Jahrhun- derts dringend notwendig ist. Bürokratische Formerfor- dernisse in Form von Schriftformerfordernissen oder schriftlichen Mitteilungen sind dabei nicht besonders för- derlich. Die Gesellschaften können im Übrigen mithilfe Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011772 (C) (D) (A) (B) der neuen Informationstechnologien erhebliche Kosten einsparen und die Mittel für neue Investitionen nutzen. Allerdings ist das Stichwort „virtuelle Hauptversamm- lung“ ein neuralgischer Punkt. Der Entwurf geht so weit nicht, dass er statt der persönlichen Stimmabgabe die elek- tronische Abstimmung vorsähe. Wie die Begründung aber ausführt, erzielen die vorgeschlagenen Formlockerungen praktisch jetzt schon das entsprechende Ergebnis und schneiden die zukünftige Entwicklung nicht ab. Dies muss gut überlegt und diskutiert werden. Dabei sollte auch nicht übersehen werden, dass gerade den Schriftformerforder- nissen im Rechtsverkehr eine wichtige Beweisfunktion zukommt. So ist gerade im Hinblick auf die Streichung des Schriftformerfordernisses für die Erteilung einer Voll- macht nach § 134 und § 135 AktG-E nicht nur unkritischer Optimismus angebracht; Gleiches gilt für § 128 III AktG- E sowie für andere Bestimmungen, die Formerfordernis- se erleichtern. Zustimmung verdient in dieser Hinsicht § 135 II 4 AktG-E. Die Verpflichtung der Kreditinstitute, die Voll- machtserteilung nachprüfbar festzuhalten, kann geeignet sein, bestehende Bedenken zu zerstreuen. Von daher ist zu bedauern, dass eine gleichlautende Verpflichtung bei § 134 AktG-E fehlt. Zu bedauern deshalb, weil eine mög- liche Freistellung von jeder Form zu Missbrauch einladen könnte. Zwar geht der Gesetzentwurf bei der Vollmacht an Private weiterhin von der Schriftform als Regel aus, doch stellt er diese Regel zur Disposition der Satzung. Inwie- weit eine völlige Freistellung von der Form durch die Sat- zung wahrscheinlich ist, ist müßig zu diskutieren, da kei- ner von uns in der Lage sein wird, dazu definitive Aussagen zu machen. Um Rechtsklarheit zu schaffen und um unnötige Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen, sollte darüber nachgedacht werden, ob die Verpflichtung von Gesellschaften, Vollmachtserteilungen nachprüfbar festzuhalten, ein gangbarer Weg ist. Wir werden die Aufhebung von Formerfordernissen im Gesetzgebungsverfahren jedenfalls kritisch hinterfragen, da nicht jede Erleichterung von Formerfordernissen oder Einführung neuer Informationstechnologien auch unter dem Strich zu einer wirklichen Erleichterung in der Praxis und damit zu einem Fortschritt führt. Uneingeschränkte Zustimmung verdient die Aufhe- bung der Vollmachtsbefristung für Kreditinstitute im § 135 II 1 AktG-E. Die bisherige Beschränkung der Voll- machten auf 15 Monate war außerordentlich bürokratisch und für die Beteiligten außerdem lästig. Die Regelung, dass stattdessen die Kreditinstitute den Aktionär jährlich deutlich hervorgehoben über sein jederzeitiges Wider- rufsrecht hinzuweisen haben, ist eine zu begrüßende Al- ternative zur Wahrung der Aktionärsrechte. Die Änderungen im HGB führen nach unserer Ansicht zu keinen weiteren Problemen und stellen, gerade im Hin- blick auf die Eintragungserfordernisse einer – neu – er- richteten Zweigniederlassung, eine Erleichterung dar. In den Beratungen des Rechtsausschusses sollte auf je- den Fall der Vorschlag des Bundesrates eingehend erör- tert werden, die Zuständigkeiten für die Genehmigung der Einrichtung des automatisierten Abrufsverfahrens im Be- reich des Grundbuchrechts, des Handels-, Genossen- schafts-, Partnerschafts- und Vereinsregisters zu verein- heitlichen. Wir stehen jedenfalls Vereinheitlichungen in Zuständigkeitsfragen aus rechtstechnischen Überlegun- gen grundsätzlich nicht ablehnend gegenüber. Abschließend ist zur Drucksache 14/4051 heute schon Folgendes zu sagen: Die CDU/CSU steht dem Gesetzes- entwurf positiv gegenüber, wird aber im Rahmen der Be- ratungen im Rechtsausschuss nachhaltig darauf hinwir- ken, dass einige ihrer Meinung nach notwendige Verbesserungen in den Gesetzesentwurf mit aufgenom- men werden. Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem hier zur Beratung vorliegenden Ge- setz machen wir das Aktienrecht fit für das Internetzeital- ter. Den Charme dieser neuen Aktienart macht schon sei- ne Bezeichnung deutlich: Namensaktie. Der Aktionär ist mit Name, Wohnort und Beruf bekannt. Diese drei Anga- ben werden eingetragen. Die bisherigen Aktienbücher werden durch elektronisch führbare Aktienregister ersetzt und der Datenschutz der Aktionäre wird verbessert: Jeder Aktionär kann künftig nur eigene Daten einsehen. Ob Aktien auf den Inhaber oder auf Namen lauten, stellt das Gesetz bekanntlich zur freien Wahl. Die Entscheidung bei börsennotierten Aktiengesellschaften fiel bislang ein- deutig zugunsten der Inhaberaktien aus. Seit mehr als ei- nem Jahr dreht der Trend von der Inhaberaktie hin zur Na- mensaktie. Dieser unerwartete Trend zur Namensaktie hat uns herausgefordert. Das Aktienrecht war bisher für die- sen Trend nicht gerüstet. Immer mehr Gesellschaften set- zen auf den elektronisch registrierten Anteilseigener. Daimler-Chrysler ist sogleich mit Namensaktien gestartet. Inzwischen sind viele weitere Publikumsgesellschaften wie Siemens, die Deutsche Telekom, Mannesmann oder die Dresdner Bank gefolgt. Hauptgrund: In den USA sind Namensaktien üblich, sodass eine Notierung an der Wall Street nur mit Namensaktien möglich ist. Des Weiteren ist es für international expandierende Unternehmen wichtig, Beteiligungserwerb in eigenen Aktien zu bezahlen. Die Aktie ist aber nur dann eine geeignete Akquisitionsge- währung, wenn sie im Ausland akzeptiert ist. Genau das ist bei der Namensaktie der Fall. Ich komme nun zu den wesentlichen Reformpunkten. Die Vorschriften des Aktiengesetzes über Namensaktien werden aktualisiert: elektronische Aktienregister, Daten- schutz, Zulassung elektronischer Willensäußerung, gelockerte Schrifterfordernisse, etc. Das Aktiengesetz von 1965 beruht noch weitgehend auf den damals üblichen technischen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen. Den heutigen Bedingungen der Girosammelverwahrung für Namensaktien und der elektronischen Führung von Aktienregistern wird das bestehende Gesetz aber nicht mehr gerecht. In dem neuen Gesetz werden deshalb die in das Aktienregister aufzunehmenden Daten neu be- stimmt. Insbesondere wird das Recht auf Einsicht in das Aktienregister erheblich eingeschränkt und auf die eige- nen Daten des jeweiligen Aktionärs begrenzt werden. Ferner haben wir eine begrenzende Regelung für die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11773 (C) (D) (A) (B) Zweckverwendung von Daten aufgenommen. Die Daten könnten für aktienrechtliche Aufgaben, aber auch für In- vestor-Relations-Maßnahmen verwendet werden. Die weitere Verwendung der Daten für gewerbliche Zwecke außerhalb der Gesellschaft kann der Aktionär durch Wi- derspruch verhindern. Bezüglich der Stimmrechtsausübung erfolgt eine weit- gehende Gleichstellung der Inhaber- und Namensaktie. Bei beiden Aktienformen wird künftig eine offene wie auch verdeckte Stimmrechtsausübung in der Hauptver- sammlung zulässig und eine generelle Vollmacht über al- le Aktien im Depot möglich. Dadurch kann einem erheb- lichen Einbruch der Hauptversammlungspräsenz bei Publikumsgesellschaften mit Namensaktien entgegenge- wirkt werden. Nicht zuletzt wird das Aktienrecht den neu- en Informationstechnologien angepasst, vor allem im Be- reich der elektronischen Stimmrechtsausübung und der Vollmachtserteilung – dieses begrüße ich sehr. Besonders bedeutsam ist dabei die Zurücknahme der Schriftform für die Stimmrechtsvollmachten im Aktiengesetz. Auch damit bereiten wir das deutsche Gesellschaftsrecht auf die künf- tigen Harmonisierungsmaßnahmen der EU im Bereich der grenzüberschreitenden Stimmrechtsausübung vor. Zur Er- höhung der Präsenzen müssen dringend die Informations- pflichten der depotführenden Banken auch für ausländi- sche Unternehmen ausgeweitet werden. Hier besteht Handlungsbedarf vonseiten der Europäischen Union. Abweichend vom Regierungsentwurf bin ich allerdings nicht der Meinung, dass man das Vollmachtstimmrecht noch weiter festschreiben sollte. Unser politisches Ziel ist bekanntlich das Verbot des weisungslosen Depotstimm- rechts. Im Gesetzentwurf ist nun eine unbefristete Voll- macht mit Informationspflichten vorgesehen. Bisher war eine jährliche Verlängerung notwendig. Die entsprechen- den Änderungen des § 135 Aktiengesetz kann ich so nicht gutheißen. Mit der Ausübung des Depotstimmrechts ist für die Banken automatisch ein Interessenkonflikt verbunden. Banken, die Kredite an ein Unternehmen vergeben, haben hinsichtlich der Unternehmenspolitik andere Interessen als andere Aktionäre. Die Praxis lehrt, dass Banken regel- mäßig mit den Depotstimmrechten der Kleinaktionäre ih- re eigenen Interessen durchsetzen und damit einen erheb- lichen Einfluss auf die Geschäftspolitik des Unternehmens nehmen. Dieses kann nicht im Sinne einer effizienten Cor- porate Governance sein. Stark eingeschränkt werden zudem die Vorschriften über die Nachgründung – sprich die Umwandlung einer kleinen GmbH in eine Aktiengesellschaft. Dadurch errei- chen wir eine erhebliche Entlastung in der Praxis, die vor allem den kleinen und jungen Aktiengesellschaften helfen wird. Die Erleichterungen bei den Handelsregistern be- treffen vor allem die Bekanntmachungen bei den Zweig- niederlassungen. Hierdurch können kostenträchtige und nutzlose Mehrfachbekanntmachungen zurückgefahren werden. Zur Vermeidung von Umgehungen der Sach- gründungsvorschriften und zum Schutz der neu hinzu- kommenden Aktionäre ist es ausreichend, wenn die be- sonders komplizierten Form- und Verfahrenserfordernisse für Nachgründungsgeschäfte auf solche Verträge begrenzt werden, die die Gesellschaft mit den Gründern oder hin- zutretenden Aktionären, von einigem Gewicht schließt. Dr. Barbara Höll (PDS): Das Aktiengesetz der Bun- desrepublik Deutschland aus dem Jahr 1965 geht noch weitgehend von einem überschaubaren und überwiegend nationalen Bestand von Aktionären aus. Zwischenzeitlich hat sich die Aktionärskultur in Deutschland wesentlich verändert. Die Zahl der umlaufenden Aktien und der Ak- tionäre hat erheblich zugenommen. Mit der zunehmenden Internationalisierung des Aktienmarktes ging eine An- passung des Aktien-, Börsen- und Kapitalmarktes an in- ternationales Recht einher. Im Zuge dieser Entwicklung haben nunmehr große börsennotierte Aktiengesellschaf- ten auf Namensaktien umgestellt. Diese veränderten Rah- menbedingungen und der Einzug moderner Kommunika- tionsmedien in das Aktiengeschäft veranlassten die Bundesregierung nunmehr, einen Gesetzentwurf eines Na- mensaktiengesetzes dem Bundestag zur Beschlussfassung vorzulegen. Grundsätzlich unterstützt die PDS Bestrebungen, eini- ge durch die geltende Rechtslage in der Praxis entstande- nen Probleme zu beheben und das Aktiengesetz zudem an die Erfordernisse und Möglichkeiten elektronischer Da- tenverarbeitung und -übertragung anzupassen. Kritikwür- dig ist aber, dass der Gesetzentwurf den selbst gestellten Ansprüchen nur ungenügend gerecht wird. Die Bundesre- gierung macht in der Zielstellung des Gesetzentwurfs da- rauf aufmerksam, dass die bisherigen datenschutzrechtli- chen Regelungen völlig unzureichend seien und der Verbesserung bedürften. Nach unserer Auffassung ist der vorliegende Gesetzentwurf nicht geeignet, den Daten- schutz der Kleinaktionäre hinreichend zu verbessern. Er- hebliche Mängel beim Datenschutz, die durch die Ein- führung und Verbreitung der Namensaktien entstanden sind, werden durch diesen Gesetzentwurf nicht behoben, sondern im Gegenteil teilweise verschlechtert. Inhaber von Namensaktien können sich in den Hauptversammlun- gen gegenüber der Aktiengesellschaft nicht mehr wirklich anonym durch Dritte vertreten lassen. Damit werden die Prinzipien der geheimen Wahl und der geheimen Abstim- mung verletzt. Daraus können für den Aktionär Nachteile entstehen, wenn er neben seiner Aktionärseigenschaft noch weitere Rechtsbeziehungen zu der Aktiengesell- schaft unterhält. Dies betrifft beispielsweise Kunden und Schuldner der Gesellschaft, insbesondere aber ihre Be- schäftigten. Belegschaftsaktionäre, die ihre Vertreter an- weisen, in einer Hauptversammlung gegen die Vorschlä- ge von Vorstand und Aufsichtsrat zu stimmen, haben ein begründetes und schützenswertes Interesse, dies vor ihrem Arbeitgeber verborgen zu halten. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass auch Be- legschaftsaktionäre ihre Aktionärsrechte in vollem Um- fang in Anspruch nehmen können, ohne berufliche Nach- teile befürchten zu müssen. Dies wird umso dringlicher vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung im Rah- men der Rentenreform auch die betriebliche Alterssiche- rung ausbauen will. Dies wird zweifelsohne zu einem Be- deutungsgewinn der Belegschaftsaktien führen. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammen- hang, dass die Koalition die Beteiligung von Beschäftig- ten am Kapital der Aktiengesellschaften als zusätzliches Instrument der Mitbestimmung betrachtet. Wenn diese Zielstellung ernst genommen werden soll, muss das Akti- engesetz ihnen volle demokratische Mitspracherechte er- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011774 (C) (D) (A) (B) möglichen. Dies muss insbesondere die faktische Mög- lichkeit zur geheimen Abstimmung und Wahl beinhalten. Dem Gesetzentwurf kann aus den genannten Gründen in dieser Form durch die PDS-Fraktion nicht zugestimmt werden. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf in der parlamentari- schen Beratung in den von mir aufgeführten Punkten über- arbeiten. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2. FGOÄndG) (Tagesord- nungspunkt 15) Alfred Hartenbach (SPD): Vor 25 Jahren hat der Bun- destag ein Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofes verabschiedet. Dieses Gesetz war eigentlich als Provisori- um gedacht und befristet. Aber, wie das mit Provisorien so ist: Es hat bis heute gehalten, das heißt, es wurde immer wieder verlängert, zuletzt bis Ende dieses Jahres. Jetzt hat die Bundesregierung endlich das getan, wozu die Vorgängerregierung jahrelang nicht in der Lage war. Sie hat einen Entwurf vorgelegt, der zwar einige Rege- lungen aus dem Provisorium dauerhaft in der Finanzge- richtsordnung verankert, andererseits jedoch Neuregelun- gen schafft, wie insbesondere das Revisionsrecht im Finanzgerichtsverfahren, und damit auch neue Wege be- schreitet. Diesen Weg konnte natürlich die Vorgänger- regierung nicht gehen, weil sie sich bei allen Fragen der Überprüfbarkeit von Entscheidungen sklavisch an diese über 100 Jahre alten und mit der heutigen Auffassung von Recht und Gerechtigkeit nicht mehr zu vereinbarenden Streitwertgrenzen hält. Mutig hat die Bundesregierung damit dieses Problem angepackt und neu geregelt. Die Revision der Entschei- dung des Finanzgerichtes muss vom Gerichte selbst zuge- lassen werden. Das geschieht immer dann, wenn Rechts- fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden sind, die Einheit der Rechtsprechung das erfordert oder ein entscheidender Verfahrensmangel vorliegt. Wenn das Fi- nanzgericht die Zulassung der Revision zum Bundesfi- nanzhof ablehnt, ist gegen diese Entscheidung die Zulas- sungsbeschwerde zum Bundesfinanzhof möglich. Damit ist die Streitwertrevision endgültig abgeschafft. Das entspricht unseren Zielsetzungen auch im Zivilpro- zess, die wir auf diese Verfahrensart übertragen haben. Für eine Entscheidung eines Bundesgerichts soll es auf die Be- deutung des Rechtsproblems allein ankommen, nicht nur darauf, wie viel Geld im Spiel ist. Auch kleine Streitwer- te können zu Fragen grundsätzlicher Art führen, die auf der Ebene eines Bundesgerichts geklärt werden müssen. Nun höre ich hier schon wieder einige lamentieren, es finde keine Einzelfallgerechtigkeit mehr statt. Dieser Ein- wurf ist so töricht, wie er falsch ist. In jedem Falle wird aufgrund der Nichtzulassungsbeschwerde der Bundes- finanzhof überprüfen können, ob das Urteil richtig oder falsch war. Neben der wichtigen Entscheidung grundsätz- licher Art findet damit in jedem Fall auch eine Einzelfall- prüfung statt, sofern sie begehrt wird. Das Revisionsverfahren wurde vereinheitlicht. Die bis- lang zulassungsfreie Revision in Zolltarifsachen wird nicht beibehalten, weil dafür kein Bedürfnis besteht. Die Praxis hat gezeigt, dass Zolltarifsachen eben gerade nicht immer über den Einzelfall hinaus Bedeutung haben. Wie in der Zivilprozessordnung gehen wir auch hier ei- nen weiteren Schritt auf dem Wege der Modernisierung. Mit dem Einverständnis der Beteiligten soll das Gericht jetzt auch Vernehmungen per Videokonferenz durchführen können. Das ist notwendig, aber auch sachgerecht. Das, was demnächst im Finanzverfahren gehandhabt werden kann, wird, so hoffen wir, auch in anderen Verfahrens- arten Eingang finden. Der Entwurf der Bundesregierung gründet sich auf einer sachlich fundierten Arbeit. Er ent- spricht im Wesentlichen den Empfehlungen eines Arbeits- kreises von Experten des Bundesfinanzhofes, der Anwalt- schaft und des Ministeriums. Es ist sicher, dass diese Verbesserungen für den Steuerrechtsschutz schnell und unstreitig im Bundestag verabschiedet werden können und zu einem weiteren Stück Modernisierung und Rechts- sicherheit im modernen Prozesswesen beitragen. Dem Bundesministerium danken wir für die hervorra- gende Arbeit und wir laden alle Kolleginnen und Kollegen im Bundestag ein, sich an einer sachgerechten Debatte zu beteiligen. Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU): Die CDU/CSU- Fraktion begrüßt, dass nach 25 Jahren des Provisoriums durch das Bundesfinanzhofentlastungsgesetz nunmehr die Reform des finanzgerichtlichen Revisionsrechts direkt in die Finanzgerichtsordnung (FGO) eingegliedert werden soll. Die CDU/CSU-Fraktion ist jedoch verwundert, dass erst jetzt von der Regierungskoalition der Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Ge- setze vorgelegt wird. Es wird wohl auch der Regierungs- koalition bekannt gewesen sein, dass das Bundesfinanz- hofentlastungsgesetz am 31. Dezember 2000 endgültig ausläuft. Es stellt sich daher die Frage, wieso dieser drin- gende Gesetzentwurf erst jetzt, wenige Monate vor dem Auslaufen des Bundesfinanzhofentlastungsgesetzes, vor- gelegt wird. Wir teilen das Anliegen, durch den vorliegenden Ge- setzentwurf eine Verbesserung des Rechtsschutzes zu er- reichen, indem der bislang sehr enge Zugang zum Bun- desfinanzhof im Rahmen der Kapazitätsmöglichkeiten des Gerichts erweitert werden soll. Auch die Schaffung der Möglichkeit des Einsatzes von Videokonferenzen bei mündlichen Verhandlungen vor den Finanzgerichten wird von der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich befürwortet. Leider zeigt sich schon bei erster Prüfung der Gesetz- entwurf der Bundesregierung zur Änderung der Finanz- gerichtsordnung und anderer Gesetze hinsichtlich eini- ger Normen als verbesserungsbedürftig. Dies lässt den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11775 (C) (D) (A) (B) Eindruck zu, dass dieser Gesetzentwurf angesichts des nunmehr bestehenden Zeitdrucks in einigen Bereichen mit der „heißen Nadel“ genäht wurde. Wir werden aber nicht zulassen, dass angesichts der Zeitnot die Reform des fi- nanzgerichtlichen Revisionsrechts übers Knie gebrochen werden soll, zum Nachteil des Individualrechtsschutzes der Bürger unseres Landes. So ist es nicht einzusehen, wieso durch den in § 62 Abs. 3 FGO einzufügenden Satz nur für einen Teil der Per- sonen, die uneingeschränkt zur Hilfe in Steuersachen be- fugt sind, der Nachweis der Prozessvollmacht vereinfacht werden soll. Es fehlen in der Aufzählung der natürlichen Personen in dem Gesetzentwurf die Steuerbevollmächtig- ten, vereidigten Buchprüfer und niedergelassenen europä- ischen Rechtsanwälte. Um auch diesen Personen, entsprechend der Gesetzes- begründung, den Nachweis der Prozessvollmacht zu ver- einfachen, erscheint es sinnvoll, anstelle einer lückenhaf- ten Aufzählung in § 62 Abs. 3 FGO einen Verweis auf § 3 Nrn. 1 bis 3 des Steuerberatungsgesetzes einzufügen, da in diesem Gesetz schon eine abschließende Aufzählung der zur uneingeschränkten Hilfe in Steuersachen Befugten enthalten ist. Gleiches gilt für den neu einzufügenden § 62a FGO. Auch hier ist nicht einzusehen, wieso die Steuerbevoll- mächtigten und vereidigten Buchprüfer von der Vertre- tungsbefugnis vor dem Bundesfinanzhof ausgegrenzt wer- den. Sachgerechter wäre auch bei dieser Norm ein Verweis auf das Steuerberatungsgesetz, da hier, wie schon ausge- führt, eine abschließende Aufzählung der zur uneinge- schränkten Hilfe in Steuersachen Befugten vorliegt. Hier wäre also mehr Gesetzessystematik angezeigt. Durch die Neuregelung des § 90a Abs. 2 FGO soll si- chergestellt werden, dass im finanzgerichtlichen Verfahren in der Tatsacheninstanz eine mündliche Verhandlung zu erfolgen hat. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Im Hin- blick auf die fehlende Dreistufigkeit in der Finanzge- richtsbarkeit ist dieses Rechtsmittel in den Fällen un- zulänglich, in denen der Gerichtsbescheid durch den Einzelrichter ergeht. Um die angestrebte Verbesserung des Rechtsschutzes zu erreichen, erscheint es daher geboten, die mündliche Verhandlung stets nur vor dem Vollsenat des Finanzgerichts vorzusehen, auch für durch den Ein- zelrichter erlassene Gerichtsbescheide. Als eine der besonders nachbesserungsbedürftigen Normen erscheint der § 115 FGO. In dessen Abs. 2 sind nach dem Entwurf der Bundesregierung lediglich drei Gründe vorgesehen, aufgrund derer eine Revision vor dem Bundesfinanzhof zugelassen wird. In dem bisherigen Ge- setzentwurf sind als Zulassungsgründe vorgesehen: wenn über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist, die Fortbildung des Rechts oder die Si- cherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Ent- scheidung des Bundesfinanzhofes erfordert oder ein Ver- fahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Diese Norm des Gesetzentwurfs ist aus rechtspoliti- schen Gründen verfehlt: In der Bundesrepublik als demo- kratischem Rechtsstaat darf der Individualrechtsschutz nicht einseitig dem Beschleunigungsinteresse geopfert werden. Die Finanzgerichtsbarkeit ist im Gegensatz zu anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit zweistufig aufgebaut. Zu den Aufgaben des BFH gehört deshalb nach wie vor unab- dingbar auch die Gewährung des Individualrechtsschutzes und die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von finanzgericht- lichen Entscheidungen. Die nunmehr im Gesetzentwurf verankerten drei Zu- lassungsgründe werden diesen unverzichtbaren rechts- staatlichen Anforderungen aber nicht mehr gerecht, zumal die dort bezeichneten Revisionsgründe zunehmend an Be- deutung verlieren. Dies gilt insbesondere für die Grund- satzrevision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Da die „Halb- wertszeit“ gerade steuerlicher Normen sich ständig verkürzt oder ganze Normenkomplexe durch Gesetzesän- derungen obsolet werden, ist eine Grundsatzrevision über diese Normen nicht mehr möglich, da es nach höchstrich- terlicher Rechtsprechung an der grundsätzlichen Bedeu- tung fehlt, wenn die Rechtsfrage auslaufendes oder aus- gelaufenes Recht betrifft. Auch § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO verschärft die Verfah- rensrevision erheblich. Es reicht nach diesem Entwurf nicht mehr aus, dass Verfahrensmängel geltend gemacht werden; es wird darüber hinaus verlangt, dass dieser Ver- fahrensmangel tatsächlich vorliegt. Der dahinter stehende Gedanke wird wohl der sein, dass dadurch verhindert werden soll, dass durch nur vor- geschobene Verfahrensmängel der Zugang zum Revisi- onsgericht erschlichen werden soll und somit eine sachli- che Überprüfung des Finanzgerichtsurteils durch den Bundesfinanzhof erzwungen wird. Ob ein solcher Miss- brauchstatbestand in der Praxis wirklich erfolgte, kann da- hingestellt bleiben. Zumindest wird hierdurch der Rechts- schutz des Bürgers eingeschränkt. Im Interesse des Rechtsschutzes der Bürger ist es daher notwendig, um den Individualrechtsschutz und eine effi- ziente Rechtmäßigkeitskontrolle zu gewährleisten, einen weiteren Zulassungsgrund einzufügen, um bei überwie- genden Zweifeln an der Richtigkeit der angefochtenen Fi- nanzgerichtsentscheidung eine Überprüfung durch den BFH herbeizuführen. Hierdurch würde auch dem Bedürf- nis nach Einzelfallgerechtigkeit in der lediglich zweistu- figen Finanzgerichtsbarkeit entsprochen werden, ohne dem BFH eine nicht zu bewältigende Geschäftslast auf- zubürden. Die vorgesehene Nichtzulassungsbeschwerde in § 116 FGO direkt zum Bundesfinanzhof erscheint sachgerecht, nicht jedoch die in § 116 Abs. 3 Satz 4 FGO gesetzte Frist, dass der Vorsitzende Richter die vorgesehene Begrün- dungsfrist von zwei Monaten um nur einen weiteren Mo- nat verlängern kann. Sachgerecht wäre es, diese Verlän- gerungsfrist, ohne zeitliche Einschränkung, wie in § 120 des Gesetzentwurfes, in das Ermessen des Vorsitzenden zu stellen. Hierdurch würde eine sachgerechte Begründung, die der Bedeutung des jeweiligen Falls entspricht, ermög- licht werden. Der bisherige Entwurf sieht in § 128 Abs. 2 FGO vor, dass Beschlüsse im Verfahren der Prozesskostenhilfe nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011776 (C) (D) (A) (B) mit der Beschwerde angefochten werden können. Diese Verkürzung des Individualrechtsschutzes ist nicht hin- nehmbar. Die Vorschriften über die Gewährung der Pro- zesskostenhilfe einschließlich der Beschwerde zum BFH stellen eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Ge- währleistung eines effektiven Rechtsschutzes dar. Dieser Rechtsschutz ist schon von Verfassungs wegen auch Un- bemittelten zu gewähren. Auch ihnen soll die Möglichkeit eröffnet sein, die Gerichte anzurufen, sofern die beabsich- tigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die CDU/CSU-Fraktion ist daher der Auffassung, dass die Möglichkeit der Beschwerde zum BFH insoweit kei- nerlei Einschränkung erfahren sollte. Abschließend ist zur Drucksache 14/4061 Folgendes zu sagen: Die CDU/CSU-Fraktion hält grundsätzlich Anliegen und Regelung für positiv. Wir werden im Rahmen der Beratungen im Rechtsausschuss nachhaltig darauf hin- wirken, dass einige entscheidend zur Erhaltung der Rechtssicherheit notwendige Verbesserungen in den Ge- setzentwurf mit aufgenommen werden. „Bis dat qui cito dat.“ Das heißt: Doppelt gibt, wer schnell gibt. Die Entlastung der Gerichte und damit ver- bunden das Ziel, die anhängigen Verfahren in einer ver- nünftigen Zeit zu erledigen, ist unzweifelhaft ein erstre- benswertes Ziel, welches zu unterstützen ist. Es darf jedoch nicht dazu führen, dass die Entlastung der Gerich- te zum reinen Selbstzweck verkommt. In einem demokra- tischen Rechtsstaat darf der Individualrechtsschutz nicht einseitig dem Beschleunigungsinteresse geopfert werden. Es ist daher unbedingt darauf zu achten, dass es in dem Ge- setzentwurf zur Änderung der Finanzgerichtsordnung zu einem gerechten Ausgleich zwischen der Entlastung der Gerichte und der Wahrung des Individualrechtsschutzes kommt. Darauf werden wir bestehen. Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Zum Jahresende läuft das Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs aus. Dies war Anlass für die Bun- desregierung, anstelle einer bloßen Verlängerung dieses Gesetzes bewährte Regelungen in die Finanzgerichtsord- nung einzuarbeiten und so in das Dauerrecht zu überneh- men, Neuregelungen zur Vereinheitlichung der einzelnen gerichtlichen Verfahrensordnungen einzufügen und insbe- sondere das Revisionsverfahren neu zu regeln. Ein ersatz- loser Wegfall des Entlastungsgesetzes hätte zur Folge, dass beim Bundesfinanzhof Revisionen schon ab einem Streitwert von 1 000 DM zulässig geworden wären. Die dann zu erwartenden Verfahrenszahlen hätten dieses Ge- richt binnen kürzester Zeit lahmgelegt. Es ist zu begrüßen, dass die Neuregelung sich nicht in einer reinen Erhöhung des Revisionsstreitwerts erschöpft. Gerechtigkeit sollte nicht vom Streitwert abhängig sein. In der FGO findet nunmehr, wie auch bei der Regelung des Revisionsverfahrens im Rahmen der ZPO-Novelle, die Revision dann, wenn das Finanzgericht sie zugelassen hat oder auf Beschwerde des Bundesfinanzhofs statt. Die Zu- lassung erfolgt nur bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder bei Vorliegen eines Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beru- hen kann. Damit wird Abschied genommen von der Streit- wertabhängigkeit der Revision. Denn auch ein Rechts- streit mit geringerem Wert kann erhebliche Bedeutung haben, zum Beispiel im Bereich der Lohnsteuer. In die Re- vision sind damit alle Tatbestände einbezogen, in denen über den Einzelfall hinaus ein allgemeines Interesse an ei- ner Korrigierung der Entscheidung des Bundesfinanzhofs besteht. Der Entwurf trägt somit der Kritik an den zu engen Zu- lassungsgründen des geltenden Rechts Rechnung, verbes- sert damit auch den Rechtsschutz in Steuer- und Abga- benangelegenheiten. Zu denken wäre im Interesse einer Einzelfallgerechtigkeit angesichts des Fehlens eines Be- rufungsverfahrens daran, ob nicht auch „offensichtliche Fehler“ eine Revision begründen sollten. Es ist auch sinnvoll, im Gegensatz zur geltenden Fassung der Fi- nanzgerichtsordnung, auch im finanzgerichtlichen Revi- sionsverfahren den Vertretungszwang durch Anwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer einzuführen, so wie es in den übrigen Verfahrensordnungen seit alters her der Fall ist. Denn üblicherweise werden die Kläger angesichts der Komplexheit des Steuer- und Abgabenrechts nicht in der Lage sein, die Aussichten einer Revision richtig ein- zuschätzen und das Revisionsverfahren sachgerecht selbst zu führen. Da sich diese Regelung im Entlastungsgesetz bewährt hat, sollen auch zukünftig Berufsgesellschaften mit Befugnis zur Hilfe in Steuersachen vertretungsbefugt sein. Völlig neu im deutschen Gerichtswesen ist der „virtu- elle Gerichtssaal“ des § 91a, wonach Verfahrensbeteiligte nur am Bildschirm anwesend sind. Dies mag im Finanzgerichtsverfahren zweckmäßig sein, zur allgemeinen Übernahme in Verfahrensordnungen sollte es aber nicht kommen. Rainer Funke (F.D.P.): Der Gesetzesentwurf zur Än- derung der Finanzgerichtsordnung kommt reichlich spät. Seit einem Jahr weiß die Bundesregierung, dass das Ge- setz zur Entlastung des Bundesfinanzhofes Ende des Jahres ausläuft. Wenn erst Ende September dieser Ge- setzesentwurf der Bundesregierung in den Bundestag ein- gebracht wird, besteht kaum genügend Zeit, um dieses wichtige Gesetz gründlich zu beraten. Anlass zur Beratung ist hinreichend gegeben. Schon seit Jahren wird darüber diskutiert, ob ähnlich wie beim Verwaltungsgerichtsver- fahren ein Widerspruchsverfahren vorgeschaltet werden sollte. Dieser Vorschlag der F.D.P.-Fraktion und insbeson- dere meines Kollegen Detlef Kleinert ist zwar vom Bun- desfinanzminister auch in der alten Koalition abgelehnt worden, ist dennoch würdig, ernsthaft diskutiert zu wer- den, weil mit diesem Vorverfahren langwierige finanzge- richtliche Prozesse vermieden werden können. Das Wi- derspruchsverfahren der Verwaltungsgerichtsordnung hat sich durchaus bewährt. In der Beratung im Rechtsausschuss wird auch darüber zu reden sein, ob die Vertretungsregelungen in § 62 Abs. 3 sinnvoll sind. In diesem Zusammenhang muss auch in- frage gestellt werden, ob es richtig ist, dass die öffentliche Hand sich durch Beamte oder Mitarbeiter vor dem Bun- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11777 (C) (D) (A) (B) desfinanzhof vertreten lassen kann oder ob es nicht richti- ger wäre, entsprechend der Verwaltungsgerichtsordnung eine anwaltliche Vertretung für beide Seiten vorzusehen. Schließlich ist eine verobjektivierte Betrachtung durch den rechtsberatenden Beruf der Sache eher dienlich. Entgegen den Empfehlungen des Arbeitskreises ist auch ein weiterer Revisionszulassungsgrund wegen über- wiegender Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht aufgenommen worden. Da wir im Finanzge- richtswesen nur einen zweistufigen Aufbau haben, wäre insoweit über eine Überprüfung des Urteils im Interesse einer Einzelfallgerechtigkeit nachzudenken. In einem Rechtsstaat muss der Bürger die Möglichkeit haben, dass ein Urteil überprüfbar ist. Wir wenigstens werden diese Überlegungen in die Beratungen einbringen und bedauern, dass durch zögerliche Bearbeitung dieser Gesetzesnovel- le unnötiger Zeitdruck entstanden ist. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Aus meiner Sicht enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine ganze Reihe von Regelungen zur Finanzgerichtsordnung, die das Ver- fahren vereinfachen und beschleunigen, Verwaltungsauf- wand vermindern und mehr Bürgernähe herbeiführen kön- nen. Das betrifft zum Beispiel die Zulassung der Vertretung im Verfahren vor dem Bundesfinanzhof auch durch Be- rufsgesellschaften mit Befugnis zur Steuerhilfe in § 62a und die Vereinfachung beim Nachweis der Prozessvoll- macht in § 62 Abs. 3. Interessant finde ich auch die vor- gesehenen Regelungen über die Zuschaltung eines Betei- ligten zur Gerichtsverhandlung per Video in § 91a und über die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen per Video in § 93a. Damit würde in der Tat eine wichtige Neuerung in das Prozessrecht eingeführt. Darüber wird im Rechtsausschuss im Einzelnen zu reden sein. Von grundsätzlichem Belang ist die vorgesehene Neu- regelung des Revisionsrechts. Ich halte für richtig, dass die Zulassung der Revision nach Maßgabe des Streitwerts ab- geschafft wird. In der Begründung wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Streitwert kein geeignetes Aus- wahlkriterium für die Revision ist. Die Streitwertrevision benachteiligt die „kleinen Leute“, deren Steueraufkom- men so gut wie nie zu einem Streitwert von über 1 000 DM führt und denen daher das Revisionsverfahren verschlos- sen bleibt. Das ist ungerecht und muss geändert werden. Ob die in § 115 vorgeschlagene Fokussierung der Re- visionsgründe auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, auf die Notwendigkeit der Rechtsfortbildung und der Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung nicht über Gebühr einengt, muss weiter diskutiert werden. Dabei verkenne ich nicht, dass in diesen Gründen der hauptsächliche Sinn einer Revision liegt. Für vernünftig halte ich einige neue Detailregelungen im Revisionsverfahren, so die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision direkt beim Bundesfinanz- hof, die Einführung einer zweimonatigen Begründungs- pflicht, die Zulässigkeit der Aufhebung des angefochtenen Urteils bereits in einem positiven Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde und die Möglichkeit der di- rekten Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens als Revisi- onsverfahren, das heißt ohne förmliche Einlegung der Re- vision. Wir werden im Rechtsausschuss prüfen müssen, ob an- dere vorgeschlagene Vereinfachungen und Entlastungen des Bundesfinanzhofs im Revisionsverfahren nicht auf Kosten der Rechtssicherheit der Beteiligten gehen. Solche Bedenken hege ich gegenüber der Freistellung vom Be- gründungszwang bei der Entscheidung über die Revision, die durch den neuen Abs. 6 in § 126 eingeführt werden soll, und gegenüber der Ausdehnung der Fälle, in denen eine Beschwerdemöglichkeit im Revisionsverfahren aus- geschlossen ist, wie sie die Neufassung von § 128 Abs. 2 vorsieht. Meine Fraktion wird in den Ausschüssen an dem Än- derungsprojekt für die Finanzgerichtsordnung konstruktiv mitarbeiten. Wir betrachten dieses Projekt als einen klei- nen Beitrag zur Modernisierung der Gerichtsverfassung überhaupt. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz (SPD): Vor einigen Tagen haben wir ein interessantes Jubiläum gefeiert: Das Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs, das am 15. September 1975 in Kraft getreten ist, ist 25 Jahre alt geworden. Ge- dacht war damals – 1975 – an eine bis Ende 1980 befris- tete Entlastung des Bundesfinanzhofs. Der Gerichtshof war seinerzeit nicht mehr in der Lage, Revisionsverfahren in angemessener Zeit zu erledigen. Das Gesetz wurde im- mer wieder verlängert, insgesamt zehnmal. 1985 musste der Zugang zum Bundesfinanzhof sogar weiter eingeschränkt werden, weil die Rückstände trotz der Entlastungsvorschriften immer noch anstiegen: Man musste damals im Durchschnitt fast fünf Jahre auf eine Sachentscheidung des Bundesfinanzhofs warten, ein Zeit- rahmen, der mit dem Gebot des Artikels 19 Abs. 4 des Grundgesetzes, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, überhaupt nicht mehr zu vereinbaren war. Nicht zuletzt das Entlastungsgesetz hat aber schließlich bewirkt, dass der Bundesfinanzhof wieder zeitgerecht entscheiden kann: Eine durchschnittliche Verfahrensdauer von neun Mona- ten – bezogen auf alle Verfahren – und – wenn man die Betrachtung auf Revision mit Sachentscheidung be- schränkt – eine durchschnittliche Verfahrensdauer von 19 Monaten kann sich durchaus sehen lassen. Der Bundestag hat in den letzten zehn Jahren einer Ver- längerung des Entlastungsgesetzes nie ohne Bedenken zu- gestimmt und eine Dauerregelung gefordert. Mit dem nun vorgelegten Entwurf soll das Revisionsrecht in der Fi- nanzgerichtsordnung so geändert werden, dass das Entlas- tungsgesetz endlich auslaufen kann. Der Gesetzentwurf übernimmt wesentliche Regelungen aus dem Entlastungs- gesetz. Er beschränkt sich aber nicht darauf. Für das Re- visionsverfahren sind zusätzliche Verbesserungen vorge- sehen, die konsensfähig sind und auch allgemein gewünscht werden. Erfreulicherweise können wir auch – ich sage aus- drücklich: mit Zustimmung des Bundesfinanzhofs – den Zugang zum Bundesfinanzhof etwas erweitern. Wir glau- ben, dass der Bundesfinanzhof, der in den letzten Jahren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011778 (C) (D) (A) (B) seine Rückstände ständig abgebaut hat, etwas mehr Ge- schäftsanfall verkraften kann. Allerdings soll die Zusatz- belastung nicht neuen Personalbedarf beim Bundesfi- nanzhof auslösen. Eine Erweiterung des Bundesfinanz- hofs um weitere Senate wäre nicht sinnvoll. Eine Koordi- nation der Rechtsprechung der einzelnen Senate unterein- ander ist nur dann möglich, wenn die Größe des Gerichts- hofs überschaubar bleibt. Vor diesem Hintergrund möchte die Bundesregierung weiter gehende Wünsche zur Zu- gangserweiterung nicht umsetzen. Kern des heute zu behandelnden Entwurfs ist die Rege- lung des Revisionsverfahrens vor dem Bundesfinanzhof. Der Entwurf sieht vor, dass die Revision stets der Zulas- sung bedarf. Sie ist vom Finanzgericht oder auf Nichtzu- lassungsbeschwerde vom Bundesfinanzhof zuzulassen. Bei den Revisionszulassungsgründen beschränkt sich der Entwurf allerdings nicht darauf, die klassischen Revi- sionszulassungsgründe „Grundsätzlichkeit“, „Divergenz“ und „entscheidungserheblicher Verfahrensmangel“ zu übernehmen. Die Revision soll auch immer dann zugelas- sen werden, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Si- cherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Ent- scheidung des Bundesfinanzhofs erfordert. Damit werden alle Tatbestände in die Grundsatzrevision einbezogen, in denen ein Interesse an einer korrigierenden Entscheidung des Revisionsgerichts besteht. Wir berücksichtigen dabei die berechtigte Kritik an den zu engen Revisionszulas- sungsgründen des geltenden Rechts. Wir sind uns auch si- cher, dass durch diesen neuen Zulassungsgrund die un- vertretbar hohe Zahl unzulässiger Rechtsbehelfe beim Bundesfinanzhof deutlich abnehmen wird. 1999 waren fast 45 Prozent der Verfahren beim BFH unzulässig. Die- ser Prozentsatz ist im Interesse der umfassenden Recht- schutzgewährung viel zu hoch. Von der Streitwertrevision nimmt der Entwurf dagegen endgültig Abschied: Der Streitwert ist kein geeignetes Auswahlkriterium für die Revision. Er ist kein Gradmes- ser für die Bedeutung der Sache. Streitverfahren aus dem Bereich der Lohnsteuer oder die Klärung von Streitfragen, die bei der jährlichen Veranlagung der Einkommensteuer regelmäßig wiederkehren und eine Vielzahl von Steuer- pflichtigen in gleicher Weise betreffen, können viel be- deutsamer sein als ein Rechtsstreit mit hohem Streitwert – ohne jede Bedeutung über den Einzelfall hinaus. Von den Verbesserungen, die der Gesetzentwurf ge- genüber dem geltenden Recht vorsieht, möchte ich noch die Verlängerung der Frist für die Begründung der Nicht- zulassungsbeschwerde auf zwei Monate nennen. Die der- zeitige Frist von einem Monat ist zu kurz und trägt auch dazu bei, dass zu viele Nichtzulassungsbeschwerden vom Bundesfinanzhof als unzulässig zurückgewiesen werden müssen. Vorgesehen ist weiter, dass das Verfahren über die erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde als Revisions- verfahren fortgesetzt wird, eine Verfahrensverbesserung, die sich auch schon im Verfahren vor dem Bundesverwal- tungsgericht bewährt hat. Die Möglichkeit der Beiladung wird künftig für das Revisionsverfahren eröffnet, auch eine Regelung, die sich im verwaltungsgerichtlichen Ver- fahren bewährt hat. Schließlich werden die Begründungs- pflichten bei Entscheidungen über Nichtzulassungsbe- schwerden und bei Beschlussentscheidungen über Revi- sionen verbessert. Damit tragen wir der berechtigten For- derung Rechnung, das die unterlegene Partei erfährt, war- um das Verfahren nicht in ihrem Sinne entschieden worden ist. Neben den Regelungen über das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof sieht der Entwurf auch Verbesserungen für das erstinstanzliche finanzgerichtliche Verfahren vor. Insbesondere sehen wir die Möglichkeit vor, mündliche Verhandlungen per Videokonferenz durchzuführen. Der Entwurf zieht damit die Schlussfolgerungen aus einem er- folgreichen Versuch vor dem Finanzgericht des Landes Baden-Württemberg. Übrigens: Das Verfahren wird dort über die Pilotphase hinaus praktiziert. Insoweit befinden wir uns auch in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister. Vom Bundesrat erwarten wir auf der Grundlage der Ausschussberatungen einige konstruktive Vorschläge. Für die gute Zusammenarbeit der Ausschüsse des Bundesrates mit dem Bundesministerium der Justiz möchte ich aus- drücklich danken. Alle Länder tragen die Konzeption des Entwurfs mit. Anlage 6 Zu Protokol gegebene Reden zurBeratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Gemeinsamen Protokoll über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Über- einkommens (Tagesordnungspunkt 23 e und Zu- satztagesordnungspunkt 13) Horst Kubatschka (SPD): Es wäre vernünftiger ge- wesen, wir hätten – wie geplant – beide Gesetze ohne De- batte an die Ausschüsse überwiesen. In beiden Gesetzen sehe ich nämlich keinen Zündstoff. Wir setzen internatio- nales Recht in nationales Recht um; das ist eher eine tech- nische Maßnahme. Aber vielleicht ergeben die Beratungen in den Fachausschüssen Zündstoff, den ich bisher nicht er- kenne. Dann hätten wir diesen Zündstoff bei der absch- ließenden 2. und 3. Lesung beraten können. Es muss nicht alles im Plenum durch eine Debatte abgehandelt werden. Das heißt nicht, dass bei der friedlichen Nutzung der Kern- energie keine hitzigen Debatten denkbar wären. In diesem Hohen Hause geht es ja schon manchmal hoch her. Nur, diese beiden Gesetze geben dies nicht her. Eines möchte ich noch klarstellen: Beide Gesetze haben mit dem Aspekt des Ausstieges aus der Kernenergie nichts zu tun. Dies werden wir in einem gesonderten Gesetz ab- handeln. Der Bundesrat hat am 17. Juli 2000 über beide Gesetz- entwürfe beraten. Er hat keine Einwände erhoben. Sie sind also in der Sache nicht strittig. Im Bundesratsverfahren sind allerdings einige redaktionelle Anregungen gegeben worden, die die Bundesregierung im weiteren Verfahren aufnehmen will. Zuerst möchte ich den Entwurf eines Gesetzes zur Än- derung des Atomgesetzes, 9. Gesetz zur Änderung des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11779 (C) (D) (A) (B) Atomgesetzes, behandeln. Ziel des Gesetzes ist es, den Opferschutz im Atomhaftungsrecht zu verbessern. Außer- dem werden neue Entwicklungen im Haftungsrecht berücksichtigt, die unter anderem auf Empfehlungen der Kernenergieagentur der OECD aufgegriffen wurden. Da- mit wird die Umsetzung des Gemeinsamen Protokolls vom 21. September 1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens in na- tionales Atomhaftungsrecht erreicht. Dies bedeutet für mögliche deutsche Opfer, dass sie im Falle eines Unfalles in einem mittel- oder osteuropäischen Vertragsstaat des Wiener Übereinkommens und des gemeinsamen Proto- kolls Schadenersatzansprüche nach dem Wiener Überein- kommen gegen die ausländische Haftpflicht der Anlagen- betreiber unmittelbar geltend machen können. Des Weiteren behandeln wir den Entwurf eines Geset- zes zu dem Gemeinsamen Protokoll vom 21. September 1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens. Mit diesem Gesetz soll die Schaffung großräumiger Rechtsharmonisierung in Mitteleuropa und damit eine erhebliche Verbesserung des Opferschutzes erreicht werden. Zugleich bedeutet der Schritt der Ratifizierung durch Deutschland ein Signal und einen Baustein für ein globales Haftungs- und Ent- schädigungssystem. Bei dem weltweiten Wiener Überein- kommen von 1963 und dem regionalen Pariser Überein- kommen von 1960 handelt es sich um ein internationales Atomhaftungsübereinkommen. Sie sind nur auf nukleare Ereignisse in den jeweiligen Vertragsstaaten und auf die dort erlittenen Schäden anwendbar. Die Bundesrepublik Deutschland gehört dem Wiener Übereinkommen nicht an. Das Gemeinsame Protokoll hingegen, dem die Bun- desrepublik angehört, verbindet das Pariser und Wiener Übereinkommen. Mit dem Protokoll soll sichergestellt werden, dass, wenn es zu einem Kernunfall in einem der Vertragsstaaten des Wiener Übereinkommens kommt, auch deutschen Opfern Entschädigungen nach dem natio- nalen Haftungsrecht gewährt werden. Durch die Ratifika- tion des Gemeinsamen Protokolls entstehen keine Kosten für die öffentlichen Haushalte, da das Vertragswerk keine Geldleistungspflichten für den Staat enthält. Inhaber deut- scher Kernanlagen sind schon jetzt auch für Auslands- schäden haftpflichtig. Allerdings wird die Haftpflichtbe- grenzung des Atomgesetzes verändert und die Haftung entsprechend dem Pariser Übereinkommen erhöht. In dem Gesetzentwurf wird der Unterzeichnung des Gemeinsa- men Protokolls durch die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt und sowohl das gemeinsame Protokoll als auch das Wiener Übereinkommen werden in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Die PDS hat die Debatte der beiden Gesetze im Deut- schen Bundestag bei der Einbringung verlangt. Ich gehe davon aus, dass sie bei dieser Gelegenheit die Haftungs- frage debattieren will. Die Koalition hat im Jahre 1998 vereinbart, dass die Deckungsvorsorge für Kernkraftwer- ke erhöht wird. Dies werden wir im Gesetz zur geordne- ten Beendigung der Atomenergienutzung zur Erzeugung von Elektrizität umsetzen. Bisher betrug die Deckungs- vorsorge 500 Millionen DM. Wir werden diese Summe verzehnfachen und damit eine Deckungsvorsorge von 2,5 Milliarden Euro schaffen; dies ist ja kein Geheimnis. Es ist auch kein Geheimnis, dass selbst diese hohe Deckungssumme bei Eintritt eines GAUs nicht ausreicht, um Vorsorge zu schaffen. Dies hat uns Tschernobyl dras- tisch vor Augen geführt. Dies hat uns aber auch vor vielen Jahren bereits die Reaktorsicherheitskommission vorge- rechnet. Wenn ich mich recht erinnere, ist man damals von einer Versicherungssumme von 9 Billionen DM ausge- gangen. Im Klartext heißt das: Atomkraftwerke sind nicht versicherbar. Dies ist auch einer der Gründe, warum wir als rot-grüne Koalition aus der Kernenergie aussteigen werden. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Die vorliegende No- velle zum Atomgesetz findet die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, weil mit der Umsetzung des Wiener und Pariser Übereinkommens in nationales Atomhaftungsrecht eine Verbesserung des Opferschutzes erreicht wird. Die Abkommen sind aus unserer Sicht ein wesentlicher Beitrag für die internationale Verantwor- tungsgemeinschaft. Das Gemeinsame Protokoll ist ein wichtiger Baustein für ein weltweites, umfassendes zivilrechtliches Entschä- digungssystem bei Nuklearunfällen. Da mit der durch den Gesetzentwurf bezweckten Umsetzung des Gemeinsamen Protokolls der verbesserte Opferschutz auch in Deutsch- land zum Tragen kommt, werden gegen den Gesetzent- wurf keine Einwendungen erhoben. Der Kern des Gesetzes ist, die Vorschriften des Haf- tungsrechts im Atomgesetz zu ändern, um das deutsche Recht an das Gemeinsame Protokoll vom 21. September 1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens anzupassen. Diese bei- den internationalen Atomhaftungsübereinkommen aus den Jahren 1960 und 1963 sind nur auf nukleare Ereignis- se in den jeweiligen Vertragsstaaten und auf dort erlittene Schäden anwendbar. Das Gemeinsame Protokoll verbin- det die beiden Abkommen und verbessert so den Schutz potenzieller Opfer von nuklearen Ereignissen. Sollten Bürger eines Staates, das dem Pariser Übereinkommen an- gehört, (zum Beispiel Deutschland), durch einen kern- technischen Unfall in einem Staat, der dem Wiener Über- einkommen angehört, zum Beispiel Tschechische Republik, geschädigt werden, so würden sie zukünftig nach den Grundsätzen des Wiener Übereinkommens ent- schädigt werden; entsprechend gilt dies auch im umge- kehrten Fall. Dieses Ergebnis einer von der alten Bundesregierung eingeleiteten Politik wird selbstverständlich auch heute von uns mit getragen. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie Sie wissen, birgt die Nutzung der Atomkraft unab- sehbare Risiken. Die Folgen eines atomaren Unfalles ge- hen weit über alle Ländergrenzen hinaus. Nicht erst seit Tschernobyl sollte allen bewusst sein, dass die Folgen ei- nes Super-Gaus auf der ganzen Welt spürbar sind. Damit muss man auch für eine Regelung sorgen, mit der die Haf- tung für diese Unfälle weltweit geregelt wird. Es gibt viele Länder, die nicht wie wir dabei sind, ihre Atomkraftwerke abzuschalten. Das ist eine Realität, mit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011780 (C) (D) (A) (B) der wir leben müssen. Hoffentlich wird sich dort vor dem nächsten Super-Gau die Ansicht durchsetzen, dass diese Technologie nicht beherrschbar ist. Wir tun in dieser Hin- sicht alles uns Mögliche, diese Entscheidungen zu be- schleunigen. Da aber die Gefahr von atomaren Unfällen jeden Tag gegeben ist, muss man über eine internationale Regelung nachdenken, wie mit Haftungs- und Schadensersatzfragen umgegangen werden muss. Wer für die Schäden eines Atomunfalls auch im Nachbarland haftet, ist auch ge- zwungen, darüber nachzudenken, was das kosten wird. Diese Kosten sind ein wichtiges Argument, das in die Be- trachtung eingeht: Kann sich das Land diese gefährliche Technologie überhaupt leisten? Oder sollte es lieber auf ungefährlichere, auch ohne Unfälle billigere Alternativen setzen? Sehr wichtig ist es in diesem Kontext, besonders die mittel- und osteuropäischen Staaten in diese Regelung mit aufzunehmen. Die Ratifizierung des Protokolls vom 21. September 1988 ist ein wichtiger Schritt dahin. Durch das Protokoll werden die Länder, die dem Pariser Ab- kommen beigetreten sind, und die Länder, die dem Wiener Abkommen angehören, bei einem nuklearen Un- fall gegenseitig schadenersatzpflichtig. Jedes Land haftet dann für Schäden, die nach einem Nuklearunfall in einem anderen Land, das einem der Abkommen beigetreten ist, entstehen. Die wichtigsten Vorteile sind: Der Opferschutz nach ei- nem nuklearen Unfall wird erheblich verbessert. Dieses Übereinkommen ist ein wichtiger Beitrag für Rechtshar- monisierung in Mitteleuropa. Zusätzlich entsteht hier ein weiterer Baustein eines globalen Haftungs- und Entschä- digungsgesetzes. Wir brauchen weltweit ein hohes Maß an Verantwor- tungsbewusstsein in der Frage von nuklearen Unfällen. Dieses Abkommen ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Birgit Homburger (F.D.P.): Spätestens seit dem Re- aktorunfall von Tschernobyl ist bekannt, dass durch die Kernenergie bewirkte Schäden erhebliche Auswirkungen haben können. Insbesondere machte der Unfall aber auch deutlich, dass nukleare Ereignisse grenzüberschreitend wirken und auch in weiter entfernten Gebieten zu sum- menmäßig bedeutenden Schäden führen können. Entspre- chende internationale Haftungsregeln müssen deshalb ei- nen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Geschädigten und den Ersatzpflichtigen ermöglichen. Das Interesse der Geschädigten muss dabei Vorrang genießen. Durch das so genannte Pariser Übereinkommen und spä- ter durch das Wiener Übereinkommen wurde in diesem Sinne die Grundlage für eine zivilrechtliche Haftung im Bereich der Kernanlagen geschaffen. Deutschland ist Vertragsstaat des Pariser, nicht jedoch des Wiener Übereinkommens. Kein Mitgliedstaat der der- zeitigen Europäischen Union gehört dem Wiener Über- einkommen an, was sich durch die Osterweiterung der EU freilich ändern wird. Nicht zuletzt dieser Sachverhalt ver- leiht dem Gesetzentwurf eine aktuelle und besondere Be- deutung. Bisher ist nämlich keines der Abkommen an- wendbar auf nukleare Ereignisse, die im Hoheitsgebiet von Nichtvertragsstaaten eintreten. Ein nukleares Ereig- nis, das in einem „Paris“-Staat eintritt und Schäden in ei- nem „Wien“-Staat verursacht – oder umgekehrt –, ist we- der von den Bestimmungen des einen noch des anderen Übereinkommens abgedeckt. Diese unbefriedigende Si- tuation wird durch das Gemeinsame Protokoll beseitigt, indem eine Verbindung zwischen beiden Übereinkommen hergestellt wird. Das Gemeinsame Protokoll stellt damit sicher, dass die Vorteile des jeweils einen Übereinkom- mens auch den Geschädigten im Gebiet des jeweils ande- ren Übereinkommens wechselseitig zugute kommen. Die im Pariser Übereinkommen und im Wiener Übereinkom- men entwickelten Grundsätze des zivilen Atomhaftungs- rechts haben sich mittlerweile weltweit durchgesetzt. Ihre Haftungsprinzipien wurden erst kürzlich bestätigt. Auch Staaten, die nicht Vertragspartner dieser Übereinkomm- men sind, haben deren Haftungsprinzipien in deren Atom- haftungsgesetze übernommen. Vor diesem Hintergrund unterstützt die F.D.P. die vorgelegten Gesetzesentwürfe. Zu beachten bleibt allerdings, dass Deutschland mit Ratifizierung des Gemeinsamen Protokolls gemeinsam mit den anderen Vertragsstaaten des Pariser Übereinkom- mens zu prüfen haben wird, ob und gegebenenfalls in wel- cher Weise das Pariser Übereinkommen an die jüngsten Neuregelungen des Wiener Übereinkommens angepasst werden soll. Das Gemeinsame Protokoll kann nur sach- gerecht funktionieren, wenn beide Übereinkommen in- haltlich nicht zu weit voneinander abweichen. Auch be- absichtigte Änderungen im Bereich der nationalen Deckungsvorsorge gehören in diesem Zusammenhang auf den Prüfstand. Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, dem Bundestag ihre Überlegungen zum Sachverhalt dar- zulegen und in diesem Zusammenhang mitzuteilen, wie sie das neue globale Übereinkommen über ergänzende Entschädigungen für nuklearen Schaden bewertet sowie ob und gegebenenfalls in welcher Form sie gedenkt darauf hinzuwirken, dass insbesondere auch Russland und die Ukraine dem Gemeinsamen Protokoll beitreten. Eva Bulling-Schröter (PDS): Der vorliegende Ge- setzentwurf, so wurde uns von anderen Fraktionen signa- lisiert, sei nur eine technische Umsetzung von EU-Recht in nationale Bestimmungen – nichts Neues also, am besten Überweisung ohne Aussprache. Wir sehen das anders. Denn die heutige Debatte gibt Anlass, danach zu fragen, erstens, inwieweit das Risiko der katastrophalen Folgen einer Kernschmelze für die Gesellschaft tragbar ist, und zweitens, von wem, sofern überhaupt möglich, daraus ent- standene Schäden bezahlt werden könnten. Die Zurück- haltung bei diesem Thema ist durchsichtig. SPD und Grü- ne, die ehemalige Koalition sowieso, wollen sich darum herummogeln – ergibt doch die Analyse, dass die Risiken eines Atomunfalls schlichtweg nicht versicherbar sind. Und zwar erstens, weil ein Super-Gau nicht ausgeschlos- sen werden kann – das Risiko beträgt in Deutschland 2 Prozent –, und zweitens, weil die Folgen so immens sind, dass keine Versicherungsgesellschaft dieser Welt diese Schäden an Menschen, Umwelt und materiellen Verwüs- tungen regulieren könnte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 2000 11781 (C) (D) (A) (B) Die Atomgesetzgebung ist aber eine politische. Und die Politik wollte und will Atomkraft. Deshalb müssen sich die Betreiber nicht wie normale Bürger versichern, son- dern nur symbolisch. Nicht umsonst sind die deutschen AKW-Betreiber nur zur Bildung einer Deckungsvorsorge in Höhe von lächerlichen 500 Millionen DM verpflichtet. Bei realer Deckungsvorsorge müssten sie dagegen sofort Konkurs anmelden. Und weil der Staat immer ein treuer Freund der Atomindustrie war und ist, würden aus dem Haushalt noch einmal 500MillionenDM draufgelegt wer- den. Für Zigtausende von Toten, für jahrhundertelang ver- wüstete Landstriche – eine ganze Milliarde Mark! Das ist weniger, als eine der neu angeschafften Bundeswehrfre- gatten kostet. Vor allem aber deckt diese Summe gerade mal 2 Prozent der Sach- und Vermögensschäden ab, die nach versicherungstechnischen Maßstäben eintreten wür- den. Ich betone: Nach bürokratischen Versicherungsmaß- stäben. Denn der Wert eines Menschen ist nicht in Geld messbar, Strahlenschäden, Missbildungen und unendli- ches Leid sind niemals zu bezahlen. Auch die von der Bun- desregierung angedachte Erhöhung der Deckungsvorsor- ge auf 5 Milliarden DM würde daran nichts ändern. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Initiative gegrün- det, welche unverzüglich als Risikovorsorge für den Be- trieb von Atomkraftwerken eine Betriebshaftpflichtversi- cherung mit unbegrenzter Deckung für alle Gesundheits-, Sach- und Vermögensschäden fordert. Auf ihrer Homepa- ge lacht einen übrigens als erstes Norbert Blüm als pro- minenter Unterstützer an. Schönen Gruß an Herrn Grill. Auch diese Initiative ist nicht der Meinung, dass Hundert- tausende von Toten infolge eines Super-Gaus tatsächlich mit Geld aufzuwiegen sind. Der Ansatz ist eine andere Überlegung: Wenn schon das nach versicherungstechni- schen Methoden ermittelte Schadensmaß unversicherbar ist, dann kann die Konsequenz nur lauten: Atomkraftwer- ke sofort abschalten! Sofort und nicht in 20 Jahren, wie es Rot-Grün meint gegenüber der europäischen Bevölkerung vertreten zu können. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 122. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. September 200011782 (C)(A) Anlage 7 Amtliche Mitteilung ohne Verlesung Die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU „Erweiterung der Europäischen Union“ – Druck- sache 14/3872 – wurde auch von Abg. Wolfgang Schulhoff unterschrieben. Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der ehemalige Kol-
lege Rudolf Dreßler als ordentliches Mitglied aus dem
Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolgerin
wird die Kollegin Gudrun Schaich-Walch vorgeschla-
gen, die bisher stellvertretendes Mitglied war. Neues stell-
vertretendes Mitglied soll die Kollegin Regina Schmidt-
Zadel werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kollegin-
nen wie vorgeschlagen als ordentliches bzw. stellvertre-
tendes Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nung um die Beratung der Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses zum Rindfleischetikettierungs-
gesetz und zum Grundstücksrechtsänderungsgesetz,
Drucksache 14/4164 und Drucksache 14/4165, zu erwei-
tern. Die Punkte sollen sogleich aufgerufen werden.

Der Haushaltsausschuss hat jeweils um die nachträgli-
che Überweisung gemäß § 96 der Geschäftsordnung zum
Gesetzentwurf über die Erhebung von Gebühren für die
Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahr-
zeugen, Drucksache 14/3651, und zum Gesetzentwurf zur
Senkung der Mineralölsteuer und zur Abschaffung der
Stromsteuer, Drucksache 14/4097, gebeten.

Sind Sie mit der Ergänzung der Tagesordnung und den
nachträglichen Ausschussüberweisungen einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.

Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

rung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
– Drucksachen 14/3369, 14/3648, 14/3700,
14/3906, 14/4164 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-
wünscht? – Das ist ebenfalls nicht der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 14/4164? – Gegenprobe! – Enthaltungen?
Ich bin ein bisschen ratlos. Die CDU/CSU hat sich nicht
entschlossen, irgendetwas zu tun.


(Heiterkeit)

Bisher haben Sie weder Ja noch Nein gesagt, noch sich
der Stimme enthalten.

Ich frage also noch einmal: Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 14/4164? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

an Grundstücken in den neuen Ländern (Grund-
stücksrechtsänderungsgesetz – GrundRÄndG)
– Drucksachen 14/3508, 14/3824, 14/3905,
14/3999, 14/4165 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-
wünscht? – Auch das ist nicht der Fall.

Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermitt-
lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-
schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes-
tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.

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(B)


122. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. September 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses auf Drucksache 14/4165? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der F.D.P. bei Stimmenthaltung der PDS angenom-
men.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16 sowie die
Zusatzpunkte 8 bis 11 auf:
16. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

zum Stand des Vereinigungsprozesses zehn
Jahre nach Herstellung der staatlichen Einheit

ZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung Jahresbericht 2000 zum Stand der deut-
schen Einheit
– Drucksache 14/4129 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Kaspereit, Dr. Mathias Schubert, Christel Deich-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz

(Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zehn Jahre Einheit Deutschlands
– Drucksache 14/4132 –

ZP 10 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen,
Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken
an die früheren Eigentümer und zur Änderung
anderer Vorschriften
– Drucksache 14/4140 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

ZP 11 Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS
Rückgabe von Grundstücken und Gebäuden
im ehemaligen Grenzgebiet zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Deut-


(einschließlich Berlin)

– Drucksache 14/4149 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungs-
antrag der Fraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS
vor.

Es ist interfraktionell vereinbart worden, die heutige
Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU mit dem Titel „Zehn Jahre deutsche Ein-
heit“ auf Drucksache 14/4168 zu erweitern und mit die-
sem Tagesordnungspunkt zu beraten. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zwei Stunden vorgesehen. Die Fraktion der PDS soll
zwölf Minuten erhalten. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1412200100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Jahre
deutsche Einheit sind ein Grund, dankbar zu sein, und si-
cher auch ein Grund, stolz zu sein. In diesen zehn Jahren
seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit hat
Deutschland seinen politischen Rang in der Mitte Europas
wieder einnehmen und auch festigen können.

Die europäische Werteordnung, der Deutschland viel-
leicht mehr als jedes andere Land verpflichtet ist, hat es
nicht nur uns Deutschen ermöglicht, unser Leben in Frie-
den und Freiheit zu gestalten. Nein, sie bietet auch die
Chance, dass die Menschen in Europa ihre Traditionen
und Talente nach einem Jahrhundert der Zerstörung in ein
gemeinsames Aufbauwerk von Freiheit und auch von
Wohlstand einbringen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer heute über die deutsche Einheit spricht, der muss
also auch über die europäischen Erfordernisse sprechen.
Hier reicht es gewiss nicht aus, den technischen Prozess
der fortschreitenden europäischen Einigung zu benen-
nen. Für mich kommt es darauf an, eine praktische Poli-
tik der Modernisierung, der Teilhabe und der Chancen-
gerechtigkeit sowie der guten Nachbarschaft in Europa zu
betreiben. Eine solche Politik fängt hier bei uns zu Hause
an. Der entscheidende Beitrag zu einem modernen und
gerechten Europa steht nicht in den Geschichtsbüchern,
sondern muss hier und heute und auch in aller Zukunft
von uns zusammen geleistet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das vereinte Deutschland und das sich weiter eini-
gende Europa müssen zukunftsfähig gemacht werden.
Das bedeutet: Die Politik und die Bürger müssen große




Präsident Wolfgang Thierse
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Anstrengungen unternehmen, um eben nicht nur für uns,
sondern auch für unsere Kinder und Enkelkinder eine le-
benswerte Welt zu erhalten. Das ist der politische Auftrag
des deutschen und des europäischen Vereinigungsprozes-
ses.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Europa kann es sich beispielsweise nicht leisten, dass
eine führende Wirtschaftsmacht reformunfähig an der
„German disease“ laboriert. Der Reformstau, der sich in
Deutschland über Jahre hinweg aufgebaut hat, war zur
Bedrohung für die Zukunftsfähigkeit ganz Europas ge-
worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diesen Reformstau hat die Bundesregierung aufgelöst.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Große Angeberei!)

Das ist eine gute Nachricht nicht nur für Deutschland,
sondern auch für Europa.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Ein solches Jubiläum wie der zehnte Jahrestag der
deutschen Vereinigung eignet sich gut dafür, eine Zwi-
schenbilanz zu ziehen, sich das Erreichte vor Augen zu
führen und den Blick für die Notwendigkeiten der Zu-
kunft zu schärfen. Wozu sich der Jahrestag der deutschen
Einheit hingegen überhaupt nicht eignet ist der Versuch,
das großartige Ereignis der unblutigen Revolution in
Ostdeutschland parteipolitisch auszubeuten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS] – Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann lassen Sie das doch!)


Ich schlage vor, dass wir uns in dieser Frage auf eine
historische Einordnung einigen, die ich Ihnen einmal vor-
lese:

Dass wir Deutsche in diesem Herbst eine glückliche
Wende unserer Geschichte erleben und zugleich eine
große Zukunft für ganz Europa mitgestalten dürfen,
verdanken wir vor allem zwei historischen Entwick-
lungen:

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt zitiert er Helmut Kohl!)

Präsident Gorbatschow hat in der Außen- und Si-
cherheitspolitik der Sowjetunion „Neues Denken“
durchgesetzt und die Völker Mittel-, Ost- und Süd-
osteuropas sind in festem Vertrauen auf die Ideale der
KSZE mutig für ihr Recht, für ihre Freiheit und für
ihre Selbstbestimmung eingetreten.

Ich fahre fort:
Wir, die Unionsparteien, haben sie

– die KSZE-Schlussakte –
damals mit Skepsis aufgenommen, eine Skepsis, die
sich glücklicherweise als unbegründet herausgestellt

hat. Ich nehme deshalb diese Debatte zum Anlass,
der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanz-
ler Helmut Schmidt und Bundesminister Hans-
Dietrich Genscher meinen besonderen Respekt für
diese Entscheidung zu bezeugen ...


(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!)

Ich schließe die Kollegen Willy Brandt und Walter
Scheel ausdrücklich in diese Feststellung ein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

So Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in der 236. Sitzung
des Deutschen Bundestages am 22. November 1990.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir sollten es bei dieser historischen Einordnung belas-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN –Michael Glos [CDU/CSU]: Er hat im Gegensatz zu Ihnen Anstand gehabt!)


Vielleicht sollten wir eines noch hinzufügen: Diejeni-
gen, die damals in Ost- und in Westdeutschland politische
Verantwortung getragen haben, sind ihren Verpflichtun-
gen sehr gut gerecht geworden. Dafür sind wir ihnen al-
len zu Dank verpflichtet. Das stellt auch niemand in Ab-
rede.

Der Beitrag unserer Freunde in den Regierungen unse-
rer Partnerstaaten, aber auch und vor allem der Beitrag
von Michail Gorbatschow in der damaligen Sowjetunion
verdient wirklich größte Würdigung. Wir alle werden da-
rüber hinaus nie vergessen, was die Völker in unseren ost-
und mitteleuropäischen Nachbarstaaten in ihrem
Kampf für Freiheit und Menschenrechte auch für ein
freies Deutschland getan haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Aber, es bleibt doch wahr: Die Mauer ist nicht in Bonn,
in Washington oder in Moskau gefallen; sie ist buchstäb-
lich auf der Straße eingedrückt worden, und zwar von Ost
nach West.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland waren es,
die es durch ihre Zivilcourage und ihren friedlichen Pro-
test möglich gemacht haben, dass Familien, die jahrzehn-
telang getrennt waren, wieder zusammenfinden konnten.
Bei aller Würdigung des Streites, wer welchen Anteil an
der Einheit hatte, ist das der entscheidende Faktor, an den
wir uns und unsere Kinder sich ebenfalls immer erinnern
werden, wenn es um die geschichtliche Einordnung der
wieder hergestellten deutschen Einheit geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)





Bundeskanzler Gerhard Schröder

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In den zehn Jahren des Vereinigungsprozesses hat Ost-
deutschland eine beispielhafte Entwicklung vollzogen.
Die Leistungskraft der Wirtschaft hat sich mehr als ver-
doppelt, und das vor allem, weil mehr als eine halbe
Million neue, meist kleine und mittlere Unternehmen ent-
standen sind, in denen mehr als drei Millionen wettbe-
werbsfähige Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Mit der Wirtschaftskraft hat sich auch das Pro-Kopf-
Einkommen mehr als verdoppelt. Die verfügbaren Net-
toeinkommen liegen heute durchschnittlich bei fast
90 Prozent des westlichen Niveaus.

Auch bei der Versorgung der älteren Menschen, zum
Beispiel bei der Höhe der ausbezahlten Renten, gibt es im-
mer weniger Unterschiede zwischen Ost und West. Die
Wohnqualität hat deutlich zugenommen und die Belas-
tung der Umwelt durch Schadstoffe konnte drastisch re-
duziert werden. Beim Ausbau der Infrastruktur, bei
Schiene und Straße sind erhebliche Fortschritte gemacht
worden; das Telekommunikationsnetz gehört zu den mo-
dernsten der Welt.


(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Da hat er Recht!)


Aber natürlich haben wir es nach wie vor mit enormen
Schwierigkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung zu
tun. Aufgrund falscher wirtschaftspolitischer Anreize An-
fang der 90er-Jahre steckt die ostdeutsche Bauwirt-
schaft in einer ernsten Krise. Das betrifft übrigens nicht
nur das Bauhauptgewerbe, sondern auch, wenn auch nicht
ganz so ausgeprägt, das Baunebengewerbe.

Das verarbeitende Gewerbe aber hat gerade im Osten
unseres Landes bis zu zweistellige Zuwachsraten. In den
produktiven Branchen wächst die ostdeutsche Wirtschaft
inzwischen doppelt so stark wie die westdeutsche – ein
Zeichen, das uns stolz auf die Leistungskraft der Men-
schen machen sollte, die dahinter steht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nach neuesten Prognosen können wir sogar damit rech-
nen, dass die Konjunktur in Ostdeutschland im nächsten
Jahr wieder mit der in Westdeutschland gleichzieht. Das
heißt, der andauernde, durch den Abbau von Überkapa-
zitäten bedingte Abschwung im Baugewerbe wird durch
die Zuwachsraten im verarbeitenden Gewerbe mehr als
kompensiert – eine außerordentlich erfreuliche Entwick-
lung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Natürlich ist die fortdauernde Solidarität der Men-
schen in ganz Deutschland nach wie vor wesentlich für
diese positiven Entwicklungen. Aber ich denke, es ist an
der Zeit, dass wir aufhören, den deutschen Vereinigungs-
prozess immer nur unter dem Gesichtspunkt von Trans-
ferleistungen zu diskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Denn erstens hätte auch bei noch so hohen Zuschüssen
das jetzige Wachstum nicht ohne die wirklich großartige
Leistungs- und Veränderungsbereitschaft der Menschen
in Ostdeutschland erreicht werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich denke, die Ostdeutschen können auf das bisher Geleis-
tete stolz sein. Sie haben allen Grund, Vertrauen in ihre
Kreativität, ihre Erfahrungen, aber eben auch in ihre Qua-
lifikation zu haben.

Übrigens gilt das nicht nur für die Leistungen der letz-
ten zehn Jahre; es gilt auch für die Lebensleistung jedes
Einzelnen, zumal diese Leistungen in der Vergangenheit
unter ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen
erbracht werden mussten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU])


Diese Lebensleistungen werden nicht dadurch unbedeu-
tender, dass der DDR-Staat die Beiträge seiner Bürgerin-
nen und Bürger nicht optimal zu nutzen wusste, sondern
sie im Gegenteil häufig genug entwertete und die Men-
schen buchstäblich um die Früchte ihrer Arbeit betrog.

Zweitens hat eine vernünftige Politik für die Rahmen-
bedingungen zu sorgen, unter denen sich der Ehrgeiz und
die Kreativität der Menschen auch auszahlen. Deshalb
wird die Bundesregierung auch weiterhin alle Aktivitäten
unterstützen, die zu Modernisierung und als Folge dessen
zu mehr Beschäftigung führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unsere Maßnahmen etwa für Bildung, Forschung
und Entwicklung sind heute schon so angelegt, dass die
neuen Bundesländer in ihren Wachstumschancen beson-
ders gefördert werden. Wir alle wissen nämlich: Die noch
immer bedrückend hohe Arbeitslosigkeit besonders in
den ostdeutschen Ländern kann auf Dauer nur durch neue
Arbeitsplätze, mit neuen Produkten und neuen Verfahren
auf den Märkten wirklich beseitigt werden. Solche Ent-
wicklungen zu unterstützen ist das Hauptanliegen der
Bundesregierung.

Wir stehen insbesondere in den neuen Ländern für Mo-
dernisierung, verbunden mit Gerechtigkeit. Das heißt,
dass wir alles dafür tun müssen, um Arbeit und Ausbil-
dung zu fördern, anstatt als Folge unterlassener Leistun-
gen Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Deshalb ist auch weiterhin eine Flankierung des Wachs-
tumsprozesses, auf den es uns vor allen Dingen ankommt,
durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau
notwendig.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

Drittens aber sollten wir endlich anerkennen, dass die

deutsche Vereinigung keine Alimentierung ist. Das ge-
samte Deutschland und damit auch ganz Europa ist durch




Bundeskanzler Gerhard Schröder
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(A)



(B)


diese Vereinigung reicher geworden – reicher an Wirt-
schaftsleistung, die wir heute schon mit Händen greifen
können. Die in den letzten zehn Jahren von Grund auf
modernisierten Produktionsanlagen und die neuen Be-
triebe Ostdeutschlands haben schon heute auf den Welt-
märkten deutliche Wettbewerbsvorteile.

Reicher geworden sind wir durch die Vereinigung aber
auch an Kultur und daraus folgender Kreativität.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang eine erns-
te Mahnung an die – vor allem süddeutschen – Bundes-
länder richten, die jetzt die föderale Finanzarchitektur be-
klagen, weil sie glauben, im Finanzausgleich ungerecht
behandelt zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Diese Länder und ihre Regierungen sollen wissen, dass
das Bekenntnis zur deutschen Einheit fortdauern muss
und eine Verweigerungshaltung nicht nur den Menschen
in den ostdeutschen Ländern schadet, sondern im Ergeb-
nis uns allen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Mark von den niedersächsischen Steuerzahlern für den Aufbau Ost! Das waren doch Sie, der das gesagt hat!)


Die Bundesregierung wird noch in dieser Legislaturperi-
ode den Bund-Länder-Finanzausgleich auf eine neue
gesetzliche Grundlage stellen und sie wird in einem Soli-
darpakt II die ausreichende Ausstattung der ostdeut-
schen Länder nach 2004 sicherstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Moderne Arbeitsmarktpolitik folgt einem hohen Ziel:
der Herstellung von Chancengerechtigkeit. Deshalb wer-
den wir die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik den ge-
wandelten Bedingungen anpassen und für verbesserte
Übergänge vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt sor-
gen. Wir brauchen mehr Flexibilität und nicht unbedingt
mehr Mittel.

Neben verstärkten Anstrengungen für Bildung und
Ausbildung sowie für den Bereich der industrienahen
Forschung und Entwicklung wird die Schließung der im-
mer noch erheblichen Infrastrukturlücken im Verkehrs-
und Wohnungsbaubereich weiterhin ein entscheidender
Faktor sein, um eine selbst tragende Wirtschaftsstruktur in
Ostdeutschland zu erreichen.

Wer noch Beweise dafür benötigt, wie erfolgreich die
bisherige Aufbauleistung der Ostdeutschen und wie gut
deshalb die solidarische Unterstützung angelegt ist, muss
sich in Ostdeutschland nur umsehen. Auch jenseits der be-
kannten ökonomischen „Leuchttürme“ wie Infineon in
Dresden oder Opel in Eisenach gibt es in Ostdeutschland
inzwischen eine Vielzahl hochinnovativer Unternehmen.
Ich nenne als Beispiel nur die Stadt Teterow: Dort trägt die

Firma Plasma-Select dazu bei, dass Deutschland mittler-
weile einen Spitzenplatz in der Biotechnologie einnimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Dies ist ein Beispiel für die Standortvorteile Ost-
deutschlands: Es gibt dort hervorragende und hoch mo-
tivierte Wissenschaftler, gute Förderbedingungen und – in
diesem Fall – in der Mecklenburger Schweiz eine Umge-
bung, die ohne weiteres mit dem Münchener Umland mit-
halten kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Haben Sie die auch geschaffen?)


– Nein, Herr Glos, die haben wir nicht geschaffen, Sie
aber auch nicht, damit das zwischen uns klar ist – nicht,
dass Sie nachher kommen und auch das für sich rekla-
mieren. Das hätte ich nicht so gerne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gregor Gysi [PDS]: Was ist mit der Märkischen Schweiz?)


– Die reklamieren Sie für sich, Herr Gysi; das weiß ich.
Diese zukunftsweisenden Entwicklungen sind nicht

zuletzt das Werk von Menschen, die eine umfassende ge-
sellschaftliche und persönliche Neuorientierung zu be-
wältigen hatten; von Frauen und Männern, die ergebnis-
orientiert und pragmatisch denken, die neuen Ideen offen
gegenüberstehen und ohne ideologische Barrieren, aber
mit einem hohen Maß an sozialer Verantwortung arbeiten,
auch von jungen Menschen, die höchstens noch aus geo-
graphischer Neugier danach fragen, aus welchem Teil
Deutschlands die Kolleginnen und Kollegen in ihrem
Team stammen, die für Begriffe wie „Besser-Wessis“ und
„Jammer-Ossis“ gerade noch ein nostalgisches Lächeln
übrig haben, vor allen Dingen auch von Menschen, die
nicht zulassen wollen, dass ihre großen Aufbauleistungen
und das Ansehen Deutschlands insbesondere in den neuen
Ländern durch fremdenfeindliche Gewalt beschädigt wer-
den.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Wenn diese Menschen uns eines vermitteln wollen – dies
habe ich überall spüren können –, dann dies: Wir sind
nicht für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegan-
gen, um diese Straße heute Schläger- und Mörderbanden
zu überlassen, die bestimmen wollen, wer in unserem
Land leben und arbeiten darf.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Aus-
länderhass ist nicht allein ein Gebot deutscher Standort-
sicherung. Es geht um mehr: um die Verteidigung jener




Bundeskanzler Gerhard Schröder

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(D)



(A)



(B)


Werte, die unsere Gesellschaft im Innersten zusammen-
halten. Dafür brauchen wir harte und entschiedene Reak-
tionen von Polizei und Justiz gegen Gewalttäter. Der
Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol müssen mit Fahn-
dungsdruck, mit Anwendung der Gesetze und, wo es nötig
und möglich ist, auch mit Verboten von Vereinen und Par-
teien, die den Rechtsradikalismus fördern und unterstüt-
zen, verteidigt werden.

Wir alle zusammen – ich bin froh, dass das in der
gestrigen Debatte deutlich geworden ist – müssen Ju-
gendlichen, die mitrennen, persönliche und berufliche
Perspektiven geben, damit sie nicht in den Extremismus
abrutschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


Neben den Schutz von Verfolgten und Minderheiten stel-
len wir das Gesprächsangebot an alle, die gesprächsbereit
sind.

Des Weiteren brauchen wir ein konsequentes zivilge-
sellschaftliches Engagement. Gerade in Ostdeutschland
gibt es Beispiele, in denen gesellschaftliche Verantwor-
tung und Bürgermut vorgelebt werden. An diese Initiati-
ven und an das, was in der friedlichen Revolution vor
zehn Jahren deutlich geworden ist, sollten wir anknüpfen
und uns auch darauf verlassen, wenn es um die Bekämp-
fung von Rechtsradikalismus durch die ganze Gesell-
schaft geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zehn Jahre deutscher Vereinigungsprozess sind zehn
Jahre gelebte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch
hierbei gilt, dass die Grund- und Menschenrechte immer
nur im Ganzen durchgesetzt werden können. Ich habe
vorhin von der Bereicherung der deutschen Gesellschaft
durch den Vereinigungsprozess gesprochen. Diese Berei-
cherung gilt ganz besonders auf dem Gebiet der Zivilcou-
rage und der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit.
Ich freue mich in diesem Zusammenhang, dass der schei-
dende Beauftragte für die Stasiunterlagen, Herr
Joachim Gauck, heute hier im Deutschen Bundestag an-
wesend ist.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Lieber Herr Gauck, Sie haben zu Zeiten des SED-Re-
gimes Mut zum Widerstand bewiesen. Sie waren eine der
treibenden Kräfte beim friedlichen Umsturz in der dama-
ligen DDR. Sie haben mit Ihrer unbeirrten und unbe-
stechlichen Arbeit in der zu Recht nach Ihnen benannten
Behörde die Deutschen in Ost und West gelehrt, wie scho-
nungslose Aufklärung und demokratischer Neubeginn
miteinander in Einklang zu bringen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich denke, ich spreche im Namen aller hier im Hohen
Hause Anwesenden, wenn ich Ihnen für die geleistete Ar-
beit aufrichtigen Dank sage.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, unsere Politik für den Auf-
bau Ost war von Anfang an darauf ausgerichtet, alle Maß-
nahmen und Programme für den Aufbau Ost so zu gestal-
ten, dass sie eine eigenständige Entwicklung und die
Mobilisierung der eigenen Kräfte in den neuen Ländern
ermöglichen. Die Orientierung an den Erfolgsmustern der
alten Bundesrepublik, die zu Anfang des Aufbaus in den
neuen Ländern im Vordergrund stand und stehen musste,
kann heute kein Maßstab mehr sein. Entscheidend ist, das
vorhandene Leistungspotenzial zu entfalten und im Wett-
bewerb zur Geltung zu bringen.

In der Förderpolitik für Ostdeutschland haben wir des-
halb neue Schwerpunkte gebildet: als ersten Schwerpunkt
die Stärkung der Innovationskraft der ostdeutschen
Wirtschaft; denn nur mit neuen Produkten und neuen
Dienstleistungen werden ostdeutsche Unternehmen in der
Lage sein, sich auch auf den Märkten der Welt durchzu-
setzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gefördert werden deshalb verstärkt die Kooperation von
Unternehmen mit Einrichtungen der Wissenschaft und auf
diese Weise die Erschließung neuer wirtschaftlicher Mög-
lichkeiten.

Wie sich beides miteinander erreichen lässt, zeigt ins-
besondere das seit 1999 bestehende neue Förderpro-
gramm „Inno-Regio – Innovative Impulse für die Re-
gion“. Durch Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure
aus Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtun-
gen, aus Verwaltung und Verbänden wird das kreative Po-
tenzial einer Region genutzt und wird auf diese Weise
Wirtschaftskraft gestärkt.

Damit korrespondiert als zweiter Schwerpunkt die
Wirtschaftsförderung.Wir brauchen eine Verbreiterung
der industriellen Basis in Ostdeutschland und wir brau-
chen mehr produktionsnahe Dienstleistungen und daraus
folgende Existenzgründungen. Die bestehenden mittel-
ständischen Unternehmen müssen konsolidiert und in ih-
rer Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.

Die Bundesregierung stellt sich dieser Herausforde-
rung mit einem differenzierten Instrumentarium: Neben
der Gemeinschaftsaufgabe und einer verbesserten Inves-
titionszulage als den Kernstücken der Investitionsförde-
rung unterstützen wir verstärkt vor allen Dingen innova-
tive Existenzgründungen. Hinzu kommen Programme
zur Stärkung der Eigenkapitalbasis, zur Absatz- und Ex-
portförderung und – wichtig vor allen Dingen für das
Handwerk – die neuen Regelungen zur Verbesserung der
Zahlungsmoral.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abg. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Bundeskanzler Gerhard Schröder
11704


(C)



(D)



(A)



(B)


Ein dritter entscheidender Faktor für die wirtschaftli-
che Entwicklung ist der Ausbau der Infrastruktur; ins-
besondere auf den Gebieten Verkehr, Kommunikation,
Wohnungs- und Städtebau. Mit dem Verkehrsinvesti-
tionsprogramm 1999 bis 2002 hat die Bundesregierung
den Schwerpunkt Ost ausdrücklich bekräftigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Vorrang der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
bleibt gewahrt. Man muss sich einmal klar machen, meine
Damen und Herren: 59 Prozent der Straßenbau- und
45 Prozent der Schienenbauinvestitionen fließen nach
Ostdeutschland. Das sind wahrlich wichtige Vorausset-
zungen für die Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte.

Zur weiteren Verbesserung der Wohnverhältnisse hat
die Bundesregierung auf die aktuellen Probleme durch die
Folgen des Leerstandes auf dem ostdeutschen Woh-
nungsmarkt mit der Novelle des Altschuldenhilfegeset-
zes rasch und – wie wir feststellen – wirksam reagiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der in diesem Jahr eingerichteten Kommission
„Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel“ entwickeln
die Beteiligten aus Bund, Ländern und Kommunen Hand-
lungskonzepte zur Lösung der noch offenen Probleme
beim Städtebau und bei der Wohnungswirtschaft.

Die Infrastruktur bleibt auch für die weitere wirt-
schaftliche Entwicklung in Ostdeutschland von ganz
enormer Bedeutung. Dem tragen wir durch eine weitere
Verstärkung der Infrastrukturinvestitionen auch Rech-
nung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der deutsche
Vereinigungsprozess ist nicht denkbar ohne die Einbet-
tung in den fortschreitenden europäischen Einigungs-
prozess. Insofern ist es nicht nur recht und billig, dass wir
gerade den Völkern in unseren östlichen Nachbarstaaten,
ohne deren praktische Solidarität wir Deutschen diese
neue Chance zum Aufbau eines demokratischen Gemein-
wesens in ganz Deutschland nicht erhalten hätten, auf
ihrem Weg in die Europäische Union helfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ohne die Osterweiterung bliebe der europäische Integra-
tionsprozess Stückwerk. Die Osterweiterung geschieht
nicht nur aus Dankbarkeit. Nein, sie ist die logische Kon-
sequenz aus unserer gemeinsamen europäischen Perspek-
tive.

Natürlich weiß ich, dass dieser Prozess auch mit Ängs-
ten besetzt ist. Übrigens sind das, wenn man genau hin-
schaut, häufig sehr unbegründete Ängste. Wer sich zum
Beispiel entlang der Oder umtut, der wird finden, dass es
in diesen Bereichen sehr viele auch internationale Unter-
nehmen gibt, die nicht zuletzt diesen Standort deshalb ge-
wählt haben, weil sie von dort aus osteuropäische
Märkte erobern und entwickeln wollen. Diese Brücken-
funktion kann auf Dauer nur dann ausgeübt werden, und
die dort entstandenen Arbeitsplätze können auf Dauer nur

dann gesichert werden, wenn es jene Märkte, denen man
sich widmen will, auch wirklich gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Märkte wird es nur geben, wenn es gelingt, die bal-
tischen Staaten, Polen, Tschechien, alle Staaten des
Grenzgebietes, in die Europäische Union zu integrieren
und ihnen wie uns auf diese Weise eine Perspektive in der
Union zu geben und damit nicht nur Freiheit, sondern
auch wirtschaftliches Wohlergehen zu sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage das insbesondere den Menschen, die als Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor kommender Frei-
zügigkeit – wir werden sie sozial gestalten – Angst haben,
oder jenen Handwerkern, die Dienstleistungen anbieten
und die vor Konkurrenz mit niedrigen Löhnen Angst ha-
ben. Die Osterweiterung, sozial gerecht, aber auch ent-
schieden und zügig durchgeführt, liegt nicht nur aus
Gründen von Demokratie und Stabilität im unmittelbaren
nationalen Interesse Deutschlands, nein, sie liegt in unse-
rem nationalen Interesse auch aus ganz handfesten wirt-
schaftlichen Gründen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So sichern schon heute allein die Handelsbilanzüber-
schüsse, die wir im wirtschaftlichen Austausch mit Polen,
Ungarn, Tschechien und der Slowakei erzielen, in
Deutschland direkt mehr als 40 000 und unter Einschluss
indirekter Effekte sogar mehr als 80 000 Arbeitsplätze,
und dies jedes Jahr. Ohne Beitrittsperspektive würden
diese Länder ihre Handelsschranken nicht in dem Maße
abbauen können, wie es für beide Seiten vorteilhaft wäre.
Ohne die Aussicht auf Beitritt zur Europäischen Union
würden diese Staaten wohl auch nicht die hohen europä-
ischen Standards zum Beispiel beim Arbeits- oder
Umweltschutz übernehmen. Aber beides brauchen wir.
Das schafft wiederum den Unternehmen Wettbewerbs-
vorteile, die sich rechtzeitig auf moderne Verfahren um-
gestellt haben. Ich habe persönlich erfahren können, dass
ostdeutsche Unternehmen, die bereits heute mit der EU-
Erweiterung kalkulieren, beachtliche Wachstumschancen
in den Grenzregionen realisieren können.

In den zehn Jahren des deutschen Vereinigungsprozes-
ses ist wirklich Beachtliches geleistet worden. Man kann
heute ohne weiteres sagen, dass beim so genannten Auf-
bau Ost die Hälfte des Weges bewältigt worden ist. Un-
sere Aufgabe ist es, miteinander dafür zu sorgen, dass
auch die zweite Hälfte dieses Weges eine deutsche – bes-
ser: eine europäische – Erfolgsgeschichte wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200200
Ich erteile das Wort
Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.




Bundeskanzler Gerhard Schröder

11705


(C)



(D)



(A)



(B)


Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der 3. Oktober ist ein glücklicher Tag für alle
Menschen in ganz Deutschland, in Ost und West. Er ist der
Tag, an dem die staatliche Einheit Deutschlands wieder
hergestellt wurde. Dies bedeutete den Sieg der Freiheit
über Diktatur und Unfreiheit. Dies bedeutete, dass die
Menschen im Osten mit ihrem Mut und die Menschen im
Westen mit ihrer Solidarität bereit waren, Deutschland als
ein vereintes Vaterland in Partnerschaft und Freundschaft
mit seinen Nachbarn weiterzuentwickeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dies bedeutete den Sieg einer marktwirtschaftlichen Ord-
nung unter freiheitlichen Bedingungen über ein planwirt-
schaftliches System, das, Herr Bundeskanzler, nicht nur
„nicht optimal“ funktioniert hat, sondern überhaupt nicht
funktionieren konnte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es hat 40 Jahre und länger gedauert, bis die Ordnung

der Freiheit in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas
wieder hergestellt wurde. In diesen Jahren sind Schäden
materieller und immaterieller Art entstanden, die ganze
Generationen in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt
haben. Heute ist der Tag, all denen Dank zu sagen, die für
die Einheit eingetreten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Menschen haben sich nicht irremachen lassen. Sie
haben daran geglaubt, dass der Gedanke der Freiheit
grundsätzlich und unteilbar ist. Heute ist der Tag, all de-
nen Dank zu sagen, die in den letzten zehn Jahren durch
ihre Bereitschaft zur Veränderung und durch ihre Hilfe ei-
nen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir auf dem Weg
der inneren Einheit Deutschlands weit vorangekommen
sind. Es ist unstrittig: Es gibt einen Gewinner dieser Ent-
wicklung, das sind die Menschen in unserem Lande, die
Menschen in ganz Europa. Die deutsche Einheit gehört
keiner Partei, sie gehört den Menschen.


(Beifall im ganzen Hause)

Deshalb, meine Damen und Herren von den Regie-

rungsparteien, ist es mir völlig unverständlich – ich finde
es auch inakzeptabel –, was für einen Ton Sie in den letz-
ten Tagen angeschlagen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn die Tatsache, dass die deutsche Einheit keiner Par-
tei, sondern den Menschen gehört, verbietet uns doch
nicht, darüber zu sprechen, wer wann wo die Weichen
richtig oder falsch gestellt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich frage Sie allen Ernstes: Ist es denn wirklich egal,

wer in einer bestimmten historischen StundeVerantwor-
tung trägt und sich entscheidet, einen Weg so und nicht
anders zu gehen? Ist es wirklich egal, ob man eine Chance

beherzt ergreift, sich über Kostenfragen und andere Be-
denken hinwegsetzt oder ob man diese Aspekte in den
Vordergrund stellt? Was für ein Verständnis von Politik
haben wir eigentlich, wenn wir das alles für völlig egal
halten und sagen: Es macht keinen Unterschied, wer ge-
rade Kanzler ist? Ich habe nicht den Eindruck, dass Ihr
Bundeskanzler in anderen politischen Fragen die Auffas-
sung vertritt, dass es ganz egal ist, wer Kanzler in
Deutschland ist.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Politik darf sich nicht von Ereignissen treiben lassen.
Politik muss Ereignisse bestimmen und gestalten. Politik
muss zugreifen und handeln. Die Menschen haben die
Mauer zum Einsturz gebracht. Helmut Kohl und die von
ihm geführte Bundesregierung haben die Weichen für die
Wiedervereinigung gestellt – vor und nach 1989.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es geht auch nicht um einen Streit über Zitate, die wir

den Sozialdemokraten – dem heutigen Bundespräsidenten
oder dem heutigen Bundeskanzler – vorhalten. Es geht
nicht darum, dass Herr Eichel, der heute leider nicht da ist,
als SPD-Landesvorsitzender in Hessen im November
1989 in einem Papier der SPD-Landtagsfraktion ge-
schrieben hat, dass diejenigen, die derzeit von Wie-
dervereinigung reden – –


(Zurufe von der SPD: Kein Zitat! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ist das ein Zitat oder nicht? – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kleinkariertes Getue!)


– Herr Präsident!


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200300
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte bei aller Erregung zwischendurch
immer wieder zuzuhören.


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1412200400
Auch ich bitte da-
rum, damit Sie mitbekommen, worum es geht.

Es geht nicht darum, vordergründig darüber zu spre-
chen, dass Herr Eichel als SPD-Landesvorsitzender und
als SPD-Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag im
November 1989 gesagt hat, dass diejenigen, die derzeit
von Wiedervereinigung reden, aus der Geschichte nichts
gelernt haben und deshalb keine vernünftige Realitätsper-
spektive haben. Es geht auch nicht darum, dass der Herr
Bundesaußenminister, der leider ebenfalls nicht anwe-
send ist, gesagt hat: „Vergessen wir die Wiedervereini-
gung, halten wir die nächsten 20 Jahre die Schnauze da-
rüber.“ Ich bin froh, dass ich die „Schnauze“ nicht halten
muss. Vom Ton, der damals im Hessischen Landtag of-
fensichtlich geherrscht hat, bitte ich Sie, hier einmal ab-
zusehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es geht vielmehr um die Frage, ob diese historisch

falschen Einschätzungen symptomatisch für ein gesamtes






(C)



(D)



(A)



(B)


Politikverständnis sind oder nicht. Deshalb muss man da-
rüber sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen Sie etwas zum Verhalten der CDU zum Einheitsvertrag!)


Es muss darum gehen, dass man in der Politik einen inne-
ren Kompass haben muss, dass man Politik nicht einfach
als Pragmatismus begreifen darf und dass es nicht belie-
big ist, welche Weichenstellungen man wann und wo vor-
nimmt; das haben wir doch mit Sicherheit gelernt:


(Lothar Mark [SPD]: Einschätzung Portokasse!)


Die Menschen in Ostdeutschland haben die Mauer zum
Einsturz gebracht. Die Menschen in Ost- und in West-
deutschland sind die Gewinner der Einheit. Helmut Kohl,
Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel, Wolfgang
Schäuble und anderen ist dann gelungen, die Weichen-
stellung umzusetzen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und anderen!)


Sie hatten einen inneren Kompass. Sie haben nicht ge-
zaudert. Sie sind mit klaren Schritten auf unsere transat-
lantischen Partner, auf unsere Nachbarn und insbesondere
auf die Sowjetunion zugegangen.


(Lothar Mark [SPD]: Wer war gegen die Ostverträge?)


Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Der Herr Bundeskanz-
ler und damalige niedersächsische Ministerpräsident hat
gegen den Vertrag zur Wirtschaft- und Währungs-
union gestimmt. Das ist die Wahrheit. Das ist der Unter-
schied.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und 13 Mitglieder Ihrer Fraktion! Was sagen Sie dazu? Sagen Sie etwas zu Herrn Nooke!)


Es ist eben nicht egal, ob man einfach so dahintreibt,
oder ob man wie Herr Verheugen einfach sagt, es sei der
Flop des Jahres, wenn er von einer Volksbefragung im Zu-
sammenhang mit der EU-Osterweiterung gesprochen
habe. Es ist eben nicht egal, ob man den Euro irgendwann
als Frühgeburt bezeichnet hat und heute freudige Worte
darüber findet, dass er schwach ist. Es ist nicht egal, dass
man einmal darüber gesprochen hat, ob man die neuen
Bundesländer an Polen abtreten könne oder nicht. Das
müssen Sie doch wenigstens zugeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies nimmt überhaupt nichts davon weg – im Gegen-

teil, ich finde, das macht es noch schlimmer –, dass der
Ehrenvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Willy
Brandt, wie andere auch für die deutsche Einheit ge-
kämpft hat und seine Ostpolitik


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kleinkarierter Quatsch!)


als Beitrag dazu verstanden hat, das zusammenwächst,
was zusammengehört. Sie hatten diese Menschen in Ihrer
Partei und haben trotzdem nicht auf sie gehört.

Ich bin außerordentlich darüber erstaunt, Herr Bundes-
kanzler, dass heute in Ihrer Rede nicht ein einziges Wort
über die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in
den neuen Bundesländern gefallen ist, die in der SDP von
Anfang an für die deutsche Einheit waren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich halte Ihnen vor, Herr Bundeskanzler, dass Sie als nie-
dersächsischer Ministerpräsident nur die eine Sorge hat-
ten, dass nämlich die Solidaritätsleistung des Westens
an den Osten Ihnen etwas nehmen könnte. Wie war das
mit der Mark von Steuergeldern, die irgendwo nicht hin-
fließen konnten? Sie hatten damals kein Verständnis
dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie hatten damals kein Verständnis dafür, dass Lothar de
Maizière in seiner ersten Erklärung nach der freien Wahl
zur Volkskammer gesagt hat: „Teilung ist nur durch Tei-
len zu überwinden.“ Dies war der Grundsatz, auf dem die
Einigung zwischen Ost und West dann jahrelang gut vo-
rangekommen ist.


(Zuruf von der PDS: Mit Teilen war nichts!)

Herr Bundeskanzler, Sie sind jemand, der die Ge-

schicke dieses Landes bestimmt, der heute maßgeblich
dafür verantwortlich ist, ob die deutsche Einheit weiter
gelingt, der heute maßgeblich dafür verantwortlich ist,
dass die Völker Mittel- und Osteuropas in die Europä-
ische Union integriert werden. Deshalb erwarte ich von
Ihnen ein Wort, mit dem Sie sagen: Ja, ich habe die Lage
1990 falsch eingeschätzt.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Mann oh Mann! Das ist unglaublich! Das ist eine Arroganz unglaublicher Art!)


Ja, ich habe aus diesem Irrtum etwas gelernt. Ja, ich habe
daraus gelernt, dass es in der Politik Stunden gibt, in de-
nen es um mehr geht als um Posten, Schulden und Steu-
ern, nämlich um sehr grundsätzliche Fragen. Das erwarte
ich von Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Joachim Gauck hat einmal gesagt, mit der friedlichen

Revolution hätten die Ostdeutschen unserer Nation das
Entree-Billett in den Kreis jener Völker gelöst, die eine ei-
gene Freiheitstradition haben. Diese Tradition muss sorg-
sam gepflegt werden. Dagegen hat Karsten Voigt, ein So-
zialdemokrat, am 12. November 1989 gesagt – ich zitiere
ihn wörtlich –:

Der Kern der deutschen Frage ist für eine lange Weile
eben nicht die Freiheit. Es ist die Bewahrung des
Friedenszustandes, also des Status quo. Alles andere
sind Ornamente oder Schlimmeres.

Diese Sätze, die am 12. November 1989, also drei Tage
nach dem Mauerfall, gesagt wurden, sagen genau das




Dr. Angela Merkel

11707


(C)



(D)



(A)



(B)


Gegenteil von dem aus, was Joachim Gauck für die Ost-
deutschen sagte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Ach Angela!)


Es geht dabei um eine ganz elementare Frage, nicht um
einen Streit über Zitate. Es berührt nämlich die Frage, in-
wieweit Freiheit teilbar oder nicht teilbar ist, inwieweit
sie aufgebbar oder nicht aufgebbar ist. Damit wird die
Auffassung vom Menschen an sich berührt. Darin unter-
scheiden wir Sozial – –


(Lachen und Beifall bei der SPD)

Darin unterscheiden wir Christdemokraten uns von

den Sozialdemokraten – Da können Sie noch so lachen.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie haben die Leute ange logen! Das ist der Unterschied!)

Sie haben eben nicht ein Menschenbild, bei dem die Frei-
heit des Menschen über den Frieden geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch endlich einmal zur Sache!)


Ich erkenne an,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie reiten immer auf 1990 herum! Kommen Sie zur Sache! – Weiterer Zuruf von der SPD: Pfui!)


dass Sie in der Frage des Kosovo-Krieges

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Un glaublich!)

aufgrund großen internationalen Drucks und eigener Ein-
sicht den Friedensbegriff in den Freiheitsbegriff integriert
haben. Das haben Sie geschafft, nachdem Sie jahrelang
Verfassungsklage gegen deutsche Kriegsschiffe in der
Adria erhoben haben. Sie, Frau Fuchs, waren damals bei
den Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht
dabei. Das haben wir alles nicht vergessen. Jetzt haben Sie
dazugelernt; wir freuen uns darüber.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Mogelspiele im Kindergarten!)


Ich muss leider feststellen, dass Sie innenpolitisch die-
ser Frage nach wie vor keine grundsätzliche Bedeutung
zumessen. Sie kooperieren in den neuen Bundesländern
mit einer Partei, die gegen die NATO ist und sich massiv
gegen den Kosovo-Krieg einsetzte, nämlich mit der PDS.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen Sie doch auch! Auf kommunaler Ebene machen Sie es doch auch! Das ist doch unglaublich!)


Damit setzen Sie das Signal, dass Sie immer noch nicht
verstanden haben,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch eine neue Freundschaft zwischen Kohl und Gysi!)


dass Freiheit innen- und außenpolitisch gleichermaßen
ein unteilbares Gut ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine oberlächerliche Rede!)


Deshalb war es auch ein Fehler – die Sozialdemokratie
sollte sich damit noch einmal auseinander setzen –, dass
Sie mit der SED auf gleicher Augenhöhe kooperiert ha-
ben. Das ist etwas Grundsätzliches.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich einmal mit Ihren Geschichten auseinander! Das ist besser! –Zuruf von der SPD: Blockflöten!)


Es ist etwas – –

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus welcher Blockpartei kommen Sie denn? – Weitere Zurufe von der SPD)


– Herr Präsident, ich muss wirklich bitten.

(Glocke des Präsidenten)


Man wird doch hier noch etwas sagen dürfen. Das ist
wirklich komisch hier.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie müssen das schon aushalten. – Es ist,


(Jörg Tauss [SPD]: Wie war das mit SchalckGolodkowski, Frau Merkel, und Stoiber und Moksel? Lieber Mann!)


liebe Frau Schmidt, etwas anderes, ob Sie mit einer Par-
tei, die für sich die historische Mission der Arbeiterklasse
und damit die Diktatur reklamiert hat, auf gleicher Au-
genhöhe zusammenarbeiten oder ob man Erich Honecker
empfängt und vor der Öffentlichkeit von Ost und West
Reden hält,


(Zurufe von der SPD: Blockflöte!)

die die Menschen beeindruckten und die nach außen eine
Wirkung hatten. Das ist ein Unterschied für mich. Das
müssen Sie mich schon sagen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das glaubt Ihnen doch keiner! – Weiterer Zuruf von der SPD: Blockflöte!)


Herr Struck, Sie müssen einfach wissen, dass ich, je
lauter Sie schreien, umso mehr Recht habe. Das ist die
ganze Quintessenz aus Ihrem Verhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden.

Dabei ist heute vielen zu danken: den Menschen in den
neuen Bundesländern für ihre Veränderungsbereitschaft,
den Menschen in den alten Bundesländern für ihre
Solidarität. Der Sozialismus hat katastrophale Erblasten
hinterlassen.


(Jörg Tauss [SPD]: Die Treuhand auch!)





Dr. Angela Merkel
11708


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir dürfen Ursache und Wirkung heute nicht durch-
einander bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die durchschnittliche Nutzungsdauer von Maschinen und
Industrieanlagen betrug damals 26 Jahre. Ich hoffe, Herr
Eichel erreicht mit den neuen Abschreibungsfristen diese
Zahl nicht wieder. Aber das nur als kleine Seitenbemer-
kung.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, weite Teile des Straßennetzes
waren nicht mehr zu benutzen. Alte, Kranke und geistig
Behinderte wurden in einer grauenhaften Weise behan-
delt. Die Umweltsituation war dramatisch.


(Anke Fuchs einmal zur Sache kommen!)


Das planwirtschaftliche System war eben vom Ansatz her
nicht in der Lage, eine Wirtschaft irgendwie in Gang zu
halten. Dass wir heute 543 000 selbstständige Unterneh-
mer haben, ist eine der großen Leistungen, die das Rück-
grat für die neuen Bundesländer darstellen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber der Prozess der inneren Einheit ist nicht abge-

schlossen. Wer durch die neuen Bundesländer fährt, sieht
Fortschritte. Aber er sieht auch, dass noch vieles zu tun ist.
So lag in den letzten zwei Jahren das Wirtschaftswachs-
tum in den neuen Bundesländern hinter dem in den alten
Bundesländern. Angesichts der gesamtkonjunkturellen
Lage hätte diese Entwicklung eigentlich schon längst um-
gekehrt sein müssen.

Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen vor, dass Sie in
den letzten zwei Jahren viele Gesetze verabschiedet ha-
ben, die die neuen Bundesländer stärker betroffen haben
als die alten: das 630-Mark-Gesetz, das Gesetz über die
Scheinselbstständigkeit.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Quatsch! Wieder die alte Arie!)


Die Aussetzung der Nettolohnanpassung der Renten hat
ein Jahr lang dazu geführt, dass die Rentnerinnen und
Rentner nicht an der Lohnangleichung teilgehabt haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja nicht zu fassen!)


Die Ökosteuer trifft die neuen Bundesländer stärker, weil
mehr Leute arbeitslos sind, weil mehr Leute keine Entlas-
tung im Rentensystem bekommen, weil die Pendler wei-
ter fahren müssen. Ich sage Ihnen voraus, die Steuer-
reform trifft die neuen Bundesländer auch stärker,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Positiv, genau!)


weil die mittelständischen Unternehmen, von denen in
den neuen Bundesländern sehr viel mehr vorhanden sind
als in den alten, besonders benachteiligt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Christoph Matschie [SPD]: Wer hat Ihnen solchen Quatsch aufgeschrieben? – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deshalb hat Herr Biedenkopf zugestimmt!)


Deshalb ist es so, dass die Chefsache Schröder in vielen
Fällen zu einem Bremsklotz Schröder in den neuen Bun-
desländern geworden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen auch vor, dass Sie

in Ihrer Regierungszeit noch keine einzige politische Ent-
scheidung getroffen haben, die in wirklich wesentlicher
Weise dem Grundsatz gefolgt ist, dass Teilung nur durch
Teilen überwunden werden kann


(Jörg Tauss [SPD]: Fragen Sie einmal Stoiber und Teufel!)


und dass damit auch Verzicht zugunsten der neuen Bun-
desländer verbunden ist. Sie haben den Transrapid von
Berlin nach Hamburg gestoppt. Sie haben den Airbus
A3XX nach Hamburg gegeben.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Quatsch!)

Sie haben – das war Ihre letzte Tat als Ministerpräsident
von Niedersachsen – gesagt: Ich möchte, dass der A3XX
in Hamburg gebaut wird, denn dahin kommen die nieder-
sächsischen Pendler schneller als nach Rostock-Laage.
Das waren die Worte des Herrn Schröder, als er schon
wusste, dass er Bundeskanzler wird. – So wird es nichts!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich glaube, wir sollten an diesem 3. Oktober auch et-

was anderes nicht vergessen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach nee! Eine Viertelstunde hier solche Tiraden! – Jörg Tauss [SPD]: Zu spät! Die Kommentare werden schon geschrieben!)


Neben den materiellen Notwendigkeiten beim Aufbau – –

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200500
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte bei aller gelegentlich verständli-
chen Erregung ausdrücklich darum zuzuhören.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sagen Sie das Ihren Genossen! Ihre Genossen sollen zuhören! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der Ramsauer pöbelt hier rum!)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1412200600
Sie können nicht
zuhören.


(Jörg Tauss [SPD]: Bei Unfug nicht!)

Ich hatte angenommen, mit dem Jahre 1989 sei sozusagen
die freie Wortwahl erlaubt. Da ich mich nicht in Pöbeleien
ergehe, könnten Sie wirklich zuhören. Es dauert auch
nicht mehr lange.


(Beifall bei den Abgeordneten der SPD – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kindergarten, Frau Kollegin!)


An diesem 3. Oktober sollte etwas anderes nicht ver-
gessen werden. Neben den materiellen Notwendigkeiten
beim Aufbau der neuen Bundesländer muss auch über die




Dr. Angela Merkel

11709


(C)



(D)



(A)



(B)


immateriellen Schäden gesprochen werden. Vielleicht
haben wir uns in den letzten Jahren nicht ausreichend mit
den Menschen und ihren Lebensumständen befasst.


(Klaus Hagemann [SPD]: Das stimmt nicht!)

Die Leistungen und das Leben der einzelnen Menschen

in der DDR zeichneten sich dadurch aus, dass sie versucht
haben, unter den Bedingungen eines Unrechtsstaates ein
aufrechtes Leben zu führen, jedenfalls die große Mehr-
heit. Der Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland ist
nur unvollkommen geeignet und in der Lage, die Folgen
einer Diktatur angemessen aufzuarbeiten. Dies haben wir
bei vielen Opfern von Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl,
Enteignung, Bevormundung und beruflichen Benachteili-
gungen gespürt. Dies hat auch zu viel Trauer und Unver-
ständnis in den neuen Bundesländern geführt. Deshalb ist
es so wichtig, dass das, was sich dem Strafrecht entzieht,
dennoch unserer politischen und moralischen Bewertung
unterzogen wird.

Ich möchte an dieser Stelle deshalb auch Joachim
Gauck danken, der als Beauftragter für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR mit
großer Sensibilität viel von dem aufgearbeitet hat, was der
herkömmliche Rechtsstaat nicht leisten kann. Ich wün-
sche seiner vermutlichen Nachfolgerin, Frau Birthler, al-
les Gute.


(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass es gelungen ist, in 40 Jahren Sozialismus trotz ei-
nes diktatorischen Systems aufrechtes Familienleben und
kirchliche Bindungen zu erhalten, ist eine der großen
Leistungen der Menschen in den neuen Bundesländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für mich ist die wunderbarste und erfreulichste Entwick-
lung, dass wir heute in den neuen Bundesländern eine
Welle von persönlichem, privatem und vereins-
rechtlichem Engagement haben, wie dies in seiner Viel-
falt vor zehn Jahren nicht absehbar war.

Die SED hat über Jahrzehnte davon gelebt, die Sub-
stanz, auf der sich eine Gesellschaft aufbaut und deren
Grundlagen sie sich selbst gar nicht schaffen kann, zer-
stören zu wollen. Dies ist aber in 40 Jahren nicht gelun-
gen. Was heute in Heimatvereinen, freiwilligen
Feuerwehren, Musikvereinen, Selbsthilfegruppen und
Sportvereinen an persönlichem, freiwilligem Engage-
ment auf der Tagesordnung steht, war vor zehn Jahren
nicht vorstellbar. Es zeigt sich, dass die Entscheidung der
Menschen, ihre Kreativität zu nutzen und sich für unsere
Gesellschaft einzusetzen, gerade auch in den neuen Bun-
desländern wieder eine Heimstatt gefunden hat. Deshalb
müssen alle Bemühungen gestärkt werden, die dies unter-
stützen.

Ich muss an dieser Stelle aber auch sagen: Es kommt
nicht von ungefähr, dass die neue Landesregierung von
Mecklenburg-Vorpommern unter der Beteiligung von
SPD und PDS als eine der ersten Amtshandlungen die
Förderung von privaten Schulen und Kindergärten einge-
schränkt und nicht weiter ausgebaut hat. Ich sehe darin

eine prinzipielle Entscheidung. Es kommt nicht von un-
gefähr, dass Herr Holter zum dritten Mal die Plattenbau-
ten fördert, aber den Bau von Eigenheimen nicht fördern
will. Dies gehört zwar vielleicht nicht zu den grundsätzli-
chen Entscheidungen zwischen Freiheit und Sozialismus.
Aber es sind Weichenstellungen, die auf Dauer den Cha-
rakter dieser Republik prägen werden. Deshalb sage ich:
Engagement stärken!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Da wir uns darin einig sind, dass die Schule einer der

wesentlichen Grundpfeiler ist, um Fremdenfeindlichkeit,
Gewalt, Rechtsradikalismus und Linksradikalismus Ein-
halt zu gebieten, sollten wir grundsätzlich darüber disku-
tieren, ob wir alle Schüler möglichst lange in einer Ein-
heitsschule unterrichten wollen oder ob wir private
Schulformen unterstützen wollen. Das ist ein entschei-
dender Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, für die Zukunft der neuen Bun-

desländer stehen nicht mehr Reisen in den Osten wie in
ein fremdes Land auf der Tagesordnung.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh lieber Gott!)


Für die Zukunft der neuen Bundesländer steht vielmehr
auf der Tagesordnung, die Punkte herauszustreichen, in
denen die neuen Bundesländer weiter sind als die alten
Bundesländer: beispielsweise schnelleres Planungsrecht
und kürzere Schulzeiten bis zum Abitur. Ich würde mich
freuen, wenn in diesem Punkt – 12 Jahre bis zum Abi-
tur – auch diejenigen neuen Bundesländer nachziehen
würden, die von der SPD regiert werden; Sachsen und
Thüringen haben es bereits geschafft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Dies wäre ein Ansporn für ganz Deutschland.
Für die Zukunft steht außerdem auf der Tagesordnung,

dort, wo strukturelle Benachteiligungen sichtbar sind,
eine gezielte Förderung auf den Weg zu bringen.

Vor der staatlichen Einheit am 3. Oktober haben die
Menschen 1989 gerufen: „Wir sind ein Volk!“ Das hat uns
die Einheit der Nation gebracht. Ich habe den Eindruck,
dass dies auch dazu geführt hat, dass wir wieder von un-
serem Vaterland sprechen können, dass wir in Ost und
West – wie in anderen Länder auch – gemeinsam stolz da-
rauf sein können, als Angehörige unserer Nation, als Bür-
ger unseres Vaterlandes – also als Deutsche – in dieser
Welt Verantwortung zu tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dass wir dies tun können und dass unsere Nachbarn

dies tragen, ist einer der großen Erfolge der deutschen
Einheit. Es ist aber auch eine Verpflichtung. Herr Bun-
deskanzler, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass daraus
die Verpflichtung erwächst, für Mittel- und Osteuropa
klare Perspektiven für den Beitritt zur Europäischen
Union zu entwerfen. Aber ich sage Ihnen auch: Die Sonn-
tagsreden wurden im Wesentlichen vor 1990 gehalten.
Heute geht es um ganz konkrete Taten.




Dr. Angela Merkel
11710


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie haben auf dem Berliner Gipfel die Agenda 2000
nicht so verhandelt, dass die Beitrittsfähigkeit seitens der
EU schon hergestellt ist. Sie haben beispielsweise nicht
dafür gesorgt, dass mit Polen Verhandlungen über die
Landwirtschaftsstruktur geführt werden. Dies werden wir
in den nächsten Jahren konkret fordern. Dies erfordert
eine Politik – das ist eine schwierige Aufgabe –, die nicht
nur an den Augenblick denkt, sondern die zu Ende denkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das sind die Punkte, Herr Bundeskanzler, bei denen

ich mir nicht ganz sicher bin, ob sich Ihr grundsätzliches
Politikverständnis zwischen 1989 und heute geändert hat
oder ob Sie bis heute nicht verstanden haben, dass es nicht
nur um den Augenblick, sondern um die langfristige Per-
spektive und das Zu-Ende-Denken jeder politischen
Frage geht.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Belehrung von Ihnen braucht man dazu nicht! – Weitere Zurufe von der SPD: Lächerlich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200700
Ich erteile nun dem
Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt,
Reinhard Höppner, das Wort.


(SachsenAnhalt)

dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um es vor-
wegzunehmen: Ich bin der Überzeugung, dass die
deutsche Einheit für alle ein wunderbarer und zu diesem
Zeitpunkt wohl auch unerwarteter Glücksfall in der deut-
schen Geschichte war.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer bedenkt, wie viel Leid die Deutschen im vergange-
nen Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht ha-
ben, der wird wohl auch eingestehen müssen, dass wir in
ganz besonderer Weise unseren europäischen Nachbarn
Dank zu sagen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Meine Damen und Herren, wenn es das Glück der
Tüchtigen war, dann waren viele tüchtig daran beteiligt,
und zwar keineswegs erst seit dem Herbst 1989.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein erster Baustein war Willy Brandts kluge Ostpolitik
unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein zweiter war die Beharrlichkeit, mit der der Helsinki-
Prozess vorangetrieben worden ist. Wer daran beteiligt
war, haben wir vorhin gehört.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem möchte ich an die Solidarnosc-Bewegung in
Polen erinnern, die oft vergessen wird. Sie fand schon An-
fang der 80er-Jahre statt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann war da Gorbatschow, der die Fronten gelockert und
vom gemeinsamen europäischen Haus gesprochen hat. Im
Sommer 1989 waren es die Ungarn, die den Mut hatten,
den Zaun zum Westen zu durchschneiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Beteiligt waren natürlich auch die Demonstranten des
Herbstes 1989 in der ehemaligen DDR mit ihrem Ruf
„Wir sind das Volk!“, die ihr eigenes Schicksal in die
Hand genommen und mit dem immer wiederholten Auf-
ruf „Keine Gewalt!“ für eine friedliche Revolution ge-
sorgt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich an diese Tage sehr genau. Die unge-
stüme, auf die sehr baldige Herstellung der deutschen Ein-
heit drängende Bewegung der Demonstranten hat das
Thema der deutschen Einheit auf die Tagesordnung ge-
setzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich auch daran, dass alle Politiker in Ost
und West nur sehr zögernd bereit gewesen sind, dieses
Thema auf die Tagesordnung zu setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Deutschen, die im Osten demonstriert haben, haben
sogar gedroht. Ich erinnere an den Spruch „Kommt die D-
Mark nicht zu uns, geh’n wir zu ihr!“. Das war eine Dro-
hung, weil die Politiker in Ost und West – der Bundes-
kanzler Kohl war damals mit dabei – zunächst nicht bereit
gewesen sind, dieses Thema auf die Tagesordnung zu set-
zen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Aber ich denke, der heutige Tag ist auch ein Anlass zu
danken. Denn schließlich, als alle merkten, wie radikal
sich die Welt verändert, haben alle Politiker diese Auf-
gabe ernsthaft auf die Tagesordnung gesetzt und sich ih-
rer angenommen. Damit haben sie sich der vielleicht
größten Herausforderung in der deutschen Geschichte
nach dem Wiederaufbau Deutschlands aus den Trümmern
des Zweiten Weltkrieges gestellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Dr. Angela Merkel

11711


(C)



(D)



(A)



(B)


Liebe Kollegin Merkel, wir sind in einem Land aufge-
wachsen und wir sind im Herbst 1989 und vor allem im
Jahr 1990 an unterschiedlichen Stellen, aber dennoch in-
tensiv in diese Dinge verwickelt gewesen. Ich hatte heute
bei Ihrer Rede den Eindruck, Sie reden von einem ande-
ren Land und einer anderen Zeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss hinzufügen: Ich habe inzwischen viele
10-jährige Jubiläen hinter mich gebracht und dabei fest-
gestellt, wie viele unterschiedliche Organisationen und
Unternehmen im Lande seit dem Herbst 1989 an der Her-
stellung der deutschen Einheit mitgewirkt haben, und
zwar von unten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Kommunalpolitiker haben hier viel geleistet und
wir sollten ihnen dafür an dieser Stelle einmal Dank sa-
gen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es gab nicht einen einzelnen Architekten der Einheit
und keiner kann sich die Leistungen allein auf seine Fahne
schreiben. Nur Kleingeister können behaupten, sie hätten
das Engagement für die deutsche Einheit für sich ge-
pachtet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Rückblick auf diese Zeit erinnere ich mich immer
an ein Gedicht von Bertolt Brecht, in dem er einen lesen-
den Arbeiter fragen lässt: Wer baute das siebentorige The-
ben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Ha-
ben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Manche erinnern sich, wie es weitergeht. Er schließt mit:
So viele Berichte, so viele Fragen.

Richtig ist: Gewaltiges ist seit dem Jahr 1990 geleistet
worden – das wird niemand ernsthaft bestreiten können –:
der Aufbau einer demokratischen Ordnung, für die die
frei gewählte Volkskammer den Grundstein gelegt hat und
für die heute noch viele engagierte Kommunalpolitiker
stehen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, und die Um-
wandlung der die DDR prägenden Staatsbetriebe inmarktwirtschaftlich orientierte Betriebe durch die
Treuhandanstalt. Das war eine Aufgabe – das will ich hier
nach zehn Jahren sagen –, das war eine Aufgabe, die man
ehrlicherweise nicht fehlerfrei bewältigen konnte und die
im Übrigen erheblich dadurch erschwert wurde, dass der
gesamte Ostmarkt zusammengebrochen war. Wo hat es
das schon einmal gegeben, dass sich eine gesamte Volks-
wirtschaft binnen weniger Jahre einen völlig neuen Markt
erobern musste?

Vergessen wir dabei nicht die Landwirtschaft, die in
kurzer Zeit fast ohne Hilfe von außen außerordentlich
wettbewerbsfähige Strukturen aufgebaut hat! Unsere
Städte und Dörfer waren vom Verfall bedroht und be-
kommen ein neues schönes Gesicht. So etwas war in so
kurzer Zeit noch nie in der deutschen Geschichte möglich
gewesen.

Milliarden sind in die Infrastruktur investiert worden,
und wenn Deutschland mit einem gewissen Recht in den
90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 Reformun-
fähigkeit bescheinigt wurde, so ist das für den Osten

Deutschlands wahrhaft keine treffende Beschreibung. Die
Ostdeutschen haben den Härtetest in Sachen Veränderun-
gen absolviert und bestanden. Darauf können wir stolz
sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Maritta Böttcher [PDS])


Neulich hat mich eine englische Journalistin gefragt:
Warum sind die Deutschen so wenig stolz auf diese ein-
malige Leistung? Das ist in der Tat das eigentlich Ver-
wunderliche und Ärgerliche an unserem Einigungspro-
zess. Offenbar haben wir die Größe der Aufgabe
unterschätzt und uns nur zu gern von der Vorstellung ver-
führen lassen, die deutsche Einheit ließe sich aus der
Portokasse bezahlen


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und es würde bald überall blühende Landschaften geben.

Eines sollten wir für die Zukunft lernen: Nur derjenige,
der die Größe einer Aufgabe realistisch beschreibt, kann
auch die Kräfte mobilisieren, die zur Lösung dieser Auf-
gabe nötig sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier liegt wohl auch der Grund für die vielen immer noch
vorhandenen Ängste im Osten. Manche klagen, wenn sie
hören, wie einige Südländer über den Finanzausgleich re-
den, hätten sie Angst, wir könnten beim Einigungsprozess
auf halbem Wege stehen bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine realistische Beschreibung zeigt, dass wir erst auf
der Hälfte des Weges sind. Gewiss: Es gibt Bereiche, in
denen der Osten bereits jetzt moderner und effektiver ist
als vergleichbare Bereiche im Westen. Es gibt andere Be-
reiche, in denen wir einen deutlichen Nachholbedarf ha-
ben. Das ist eine der Herausforderungen der nächsten
Zeit: Wir müssen diese Ungleichzeitigkeiten aushalten,
wir dürfen ihnen nicht mit Neidkomplexen begegnen.

Die wichtigsten deutschen Wirtschaftsinstitute haben
festgestellt, dass allein im Bereich der Infrastruktur zwi-
schen Ost und West eine Lücke von 300 Milliarden DM
klafft und sicherlich noch einmal 100 Milliarden DM an
Förderung nötig sind, um die Wirtschaftskraft in Ost und
West anzugleichen. Die Zahlen, die in ihrer Größenord-
nung nicht mehr bestritten werden, sind inzwischen nicht
ohne Wirkung. Ich bin darum außerordentlich dankbar –
das will ich hier noch einmal sagen –, dass sich der Bun-
deskanzler eindeutig zum Solidarpakt II bekannt hat.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!)


Ich unterstreiche auch die Schwerpunkte, die er in seiner
Regierungserklärung zur weiteren Arbeit genannt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner (Sachsen-Anhalt)

11712


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Übrigen, wenn ich das einmal sagen darf: Ich habe
den Bundeskanzler auf seiner Reise begleitet. Das war
keineswegs eine Reise in ein unbekanntes Land, sondern
in ein Land, das ihm vertraut ist und in dem während die-
ser Reise Vertrauen gewachsen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich übrigens auch, dass die meisten Fi-
nanzminister der deutschen Bundesländer inzwischen zu
der Ansicht gelangt sind, dass der Solidarpakt I nach 2004
in Dotation und Struktur weitergeführt werden muss. Wir
haben gehört – das ist außerordentlich wichtig für uns –,
dass dies in dieser Legislaturperiode noch gesetzlich ab-
schließend geregelt wird.

Meine Damen und Herren, zu den Schattenseiten
gehört, dass uns noch große Arbeitslosigkeit plagt, was
in einem Sozialstaat Deutschland nicht hinnehmbar ist.
Noch ist die Chancengerechtigkeit zwischen Ost und
West nicht hergestellt, noch leiden die Ostdeutschen unter
dem offenkundig falschen Vorurteil, ihre Arbeit, ihre Pro-
dukte wären schlechter als die im Westen. Dem müssen
und können die Ostdeutschen selbstbewusst begegnen.

Damit bin ich bei dem Punkt, in dem die deutsche Ein-
heit wohl noch am wenigsten gelungen ist, bei der Part-
nerschaft auf Augenhöhe, der Einsicht, dass uns unter-
schiedliche Lebenserfahrungen geprägt haben, dass wir
daran nichts mehr ändern können. Die daraus erwachsen-
den Unterschiede müssen und können wir akzeptieren,
statt uns lediglich darüber zu ärgern oder uns daran zu rei-
ben. Vielfalt ist schön, Unterschiedlichkeit ist eine Be-
reicherung. Am deutlichsten kann man das dort erleben,
wo Menschen aus Ost und West gemeinsam in einem
Team oder Unternehmen an der Lösung wichtiger Aufga-
ben und Probleme arbeiten. Dort redet nämlich niemand
mehr über die nicht gelungene innere Einheit.

Solche Aufgaben stellt uns die Zukunft. Wir müssen
den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen
sein und diesen Prozess aktiv mitgestalten. Wir Deutschen
haben eine besondere Verpflichtung, den europäischen
Einigungsprozess energisch voranzutreiben. Ich bin über-
zeugt, dass die deutsche Einheit erst dann ein Gewinn für
alle Menschen in Europa ist, wenn sie ein Schritt auf dem
Weg zum vereinten Europa ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Auf diesem Wege werden die unterschiedlichen Erfah-
rungen der Deutschen in Ost und West wichtig sein. Hier
haben wir eine besondere Verantwortung.

Vielleicht darf ich es einmal so sagen: Die Freundlich-
keit und Sympathie, die uns unsere Nachbarn 1990 bei
dem Einigungsprozess entgegengebracht haben, können
und müssen wir ihnen jetzt beim europäischen
Einigungsprozess zurückgeben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412200800
Meine Damen und
Herren, die Bundesminister Fischer und Eichel sind vor-
hin angesprochen worden. Ich bin darauf hingewiesen
worden, dass erstens Außenminister Fischer in Vertretung
des Bundespräsidenten in Indien ist und dass zweitens
Bundesminister Eichel wegen der Entscheidung in Däne-
mark beim Ecofin-Rat ist. Ich möchte das nur mitteilen,
damit hier keine Missverständnisse entstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich erteile nun dem Kollegen Klaus Kinkel, F.D.P.-

Fraktion, das Wort.


Dr. Klaus Kinkel (FDP):
Rede ID: ID1412200900
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ein guter ausländischer Freund
hat mir neulich gesagt: Ihr geht den zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit typisch deutsch an. Alle Welt würde
feiern, glücklich sein und das auch zeigen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihr aber gedenkt, treibt Nabelschau – fast beklemmt und
auch ein wenig verklemmt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Sie haben dazu vorhin geklatscht!)


Die grüne Europaabgeordnete Ilka Schröder hat sogar ge-
fordert, die Feiern zum zehnten Jahrestag ganz abzusa-
gen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Was?)

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik, Selbst-

kritik, Problembewusstsein, all das ist wichtig, aber an ei-
nem solchen Tag sollten dann doch in erster Linie Stolz,
Freude und Dankbarkeit für das Erreichte zum Ausdruck
kommen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte für mich selber sagen, dass ich stolz und
glücklich bin, dass ich ein wenig an dieser inneren Wie-
dervereinigung in den Jahren 1989/1990 mitwirken
durfte. Natürlich bedarf es auch ein wenig der Nach-
denklichkeit. Ich will deutlich sagen, was mir bisher ein
bisschen zu kurz gekommen ist: Es wurde zu wenig über
die Menschen gesprochen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Schröder hat das getan!)


Sie sind doch die Hauptbetroffenen.
Niemand, der hier vor dem Reichstag dabei sein durfte,

wird die Wiedervereinigungsnacht vergessen. Ich werde
nie vergessen, dass ich am Vortag in der Dorotheen-
straße 93, im damaligen DDR-Justizministerium – dort
habe ich heute mein Büro –, wo ich achteinhalb Jahre die
deutsch-deutschen Rechtshilfeverhandlungen geführt
habe, im wahrsten Sinne des Wortes das Licht ausdrehen
und tief betroffenen Richtern, Staatsanwälten und Jus-
tizangehörigen sagen musste – das ist mir verdammt




Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner (Sachsen-Anhalt)


11713


(C)



(D)



(A)



(B)


schwer gefallen –, dass wir den Schritt in die Wiederver-
einigung nicht mit ihnen gehen können.

Es ging um Schicksale von Menschen, die ihr Leben
auf einen Staat ausgerichtet hatten, von dem sie glaubten,
er sei ehrenwert. Plötzlich war das ein Unrechtsstaat. Er
war verfemt und mit ihm viele Menschen, die in Armee,
Justiz, Polizei, an den Universitäten und im Ministerium
für Auswärtige Angelegenheiten ihre Arbeit geleistet hat-
ten – teils vom System überzeugt, teils kritisch eingestellt,
aber im Prinzip ohne andere Chance. Wo hätten sie in der
früheren DDR denn arbeiten sollen?

An diejenigen, die die Verlierer der Wiedervereini-
gung sind – und deren gibt es nicht gerade wenige –, ha-
ben wir jedenfalls für meine Begriffe bisher zu wenig ge-
dacht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie standen plötzlich vor einer anderen Lebenssituation,
oft vor dem Nichts, oft mit dem Gefühl – das ist zum Teil
auch heute noch verbreitet –, es gebe in Deutschland Bür-
ger erster und zweiter Klasse. Ich spreche nicht von de-
nen, die moralisch-ethisch oder strafrechtlich Schuld auf
sich geladen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 200 Kilometer Stasi-
Akten haben wir übernommen. Mein Dank und der Dank
meiner Fraktion geht an Herrn Gauck, der Erstaunliches
und Wichtiges geleistet hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Birthler – sie wird wohl gewählt werden – wünsche
ich alles Gute. Wir haben mit ihr in der Fraktion darüber
gesprochen, dass durch das Beibehalten dieser Akten und
die Identifizierung der Opfer und der Täter wahrschein-
lich doch zur Versöhnung beigetragen werden konnte. Ich
will nicht verheimlichen, dass wir uns damals überlegt
hatten, die Akten zu vernichten.

An einem solchen Tag darf auch nicht vergessen und
verdrängt werden, dass wir in einer Generation zwei Un-
rechtsregime aufzuarbeiten haben.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Ich werde nicht vergessen – ich finde schon, dass man an
einem solchen Tag ein wenig besinnlich sein darf –, als
eine meiner ersten Amtshandlungen als Justizminister die
Fahrt nach Bautzen, ins „Gelbe Elend“, war. Dort fand ich
dieselben Tigerzellen vor, die Sie – es ist grausam, aber
ich muss es sagen – auch heute noch in Auschwitz be-
sichtigen können.

Aber natürlich wird alles – zu Recht – durch das
große Geschenk überstrahlt, das uns mit der Wiederver-
einigung zuteil wurde. Die Menschen in der ehemaligen
DDR haben vor zehn Jahren ihr Schicksal in die eigenen
Hände genommen und ihre Freiheit erkämpft. Michail
Gorbatschows mutige Reformen und natürlich die friedli-
chen Revolutionen unserer Nachbarn in Mittel- und Ost-

europa waren dafür die Grundlage. Wir schulden ihnen
wahrhaftig Dank. Auch das kommt manchmal zu kurz.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gerade wir Deutschen sollten das nicht vergessen,
wenn wir über Kosten und Risiken der Osterweiterung
reden. Ich werde nicht müde zu sagen: Es kann doch wohl
nicht richtig sein, dass wir den Menschen in diesen Län-
dern über Jahrzehnte zugerufen haben „Legt den Kom-
munismus, den Marxismus, den Leninismus ab und
kommt zu uns in unsere freiheitliche westliche Wertege-
meinschaft!“, um jetzt, weil es ein paar Probleme gibt –
diese gibt es tatsächlich –, zu sagen: Pardon, in diesem eu-
ropäischen Haus ist auf absehbare Zeit kein Zimmer für
euch frei. Das wäre unhistorisch, fatal und schlimm. Des-
halb müssen wir einen Zeitpunkt nennen, und zwar
schnell, damit es ein Licht am Ende des Tunnels gibt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen haben unsere westlichen Partner uns ver-
traut und uns geholfen, das zu erreichen, was wir als das
größte Glück für die Deutschen in den letzten Jahrzehn-
ten bezeichnen. Wir, die Politiker in Ost und West, die da-
mals Regierungsverantwortung hatten, haben die Chance
beim Schopf gepackt, eine Chance – das will ich nicht
verhehlen –, an die viele nicht geglaubt hatten. Wir waren
entschlossen, mutig neue Wege zu gehen – unter großem
zeitlichen Druck von innen und außen. Wir konnten die
Wiedervereinigung nicht proben; das ist weitgehend ver-
gessen worden. Manches ist nicht ideal gelaufen; man-
ches ist auch schief gelaufen. Aber die Wiedervereinigung
ist gelaufen, dass ist das Entscheidende.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Die Bürger in Ost und West, die Politiker und nicht zu-
letzt der öffentliche Dienst haben damals Großes geleis-
tet. Es ist oft die Frage gestellt worden: Hätte das weltweit
ein anderer öffentlicher Dienst gemeistert? Ich glaube, die
Frage ist berechtigt. Man sollte auch einmal daran den-
ken, dass wirklich Einmaliges geleistet wurde, natürlich
vor allem mit Hilfe unserer ausländischen Freunde –
Gorbatschow, Schewardnadse und Bush – und natürlich
von Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel und –
das werden Sie mir nicht übel nehmen – vor allen Dingen
Hans-Dietrich Genscher, auf den wir in der F.D.P., was
seine Leistungen zurWiedervereinigung anbelangt, be-
sonders stolz sind.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber, ich will auch deutlich sagen, dass die Einheit
nicht möglich geworden wäre ohne die Vorarbeit von
Willy Brandt, Walter Scheel und anderen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Klaus Kinkel
11714


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich finde es wirklich kleinkariert und töricht, wenn heute
darüber gesprochen wird – das ist schon angedeutet
worden –, wem die Einheit gehört.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie gehört uns allen und wenn jemandem in besonderer
Weise, dann den Menschen in den neuen Bundesländern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Jahre seit 1989/90 – wir durften sie zum Teil mit-
gestalten, zum Teil miterleben – werden in die Ge-
schichtsbücher eingehen, und zwar nicht nur in die deut-
schen. Darin werden sich auch einige aus der jetzigen
Bundesregierung mit ihrer damaligen Haltung zur Wie-
dervereinigung wieder finden.

Ich wende mich gegen jedes Pauschalurteil. Ich sage
nochmals: Die Auseinandersetzung, wem die Einheit
gehört, ist töricht. Aber der Bundeskanzler – ich finde
nicht gut, dass er bei einer solchen Debatte nicht anwe-
send ist;


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

der Außenminister ist entschuldigt, jedenfalls für mich –
muss sich als Hauptverantwortlicher in der Politik schon
sagen lassen, welchen Schwenk er vollzogen hat. 1989
waren drei Dinge gefragt: Handlungsbereitschaft, Mut
und – jetzt kommt das Entscheidende – der unbedingte
Wille zur Einheit. Der hat bei Ihnen gefehlt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat damals als niedersächsischer

Ministerpräsident eine Haltung eingenommen, die hier
schon mehrfach apostrophiert wurde. Übertroffen wurde
das Herumeiern – so nenne ich das jetzt – nur noch von
den Grünen: Sie plädierten für die totale Verweigerung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bedaure, dass Joschka Fischer nicht da ist. Er hat erst
im Februar 1990 mit schon damals von Sorgen zerfurch-
ter Stirn erklärt: „Wir müssen die deutsche Einheit akzep-
tieren.“


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Notgedrungen, hat er noch hinzugefügt!)


Er hat auch gesagt, wir sollten die Wiedervereinigung ver-
gessen: Warum halten wir für die nächsten zwanzig Jahre
nicht die Schnauze? – Es ist erstaunlich, welche waghal-
sigen Pirouetten Joschka Fischer in der deutschen Politik
unwidersprochen drehen darf.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht zu vergessen die Pirouetten, die ihr dreht!)


Darüber kann man sich nur wundern. Manchmal wünscht
man sich, man dürfte sich genauso verhalten.

Im Übrigen: Wie ernst er die Wiedervereinigung
nimmt, zeigt die Tatsache, dass die Gelder für die Feiern
am 3. Oktober in den Botschaften gestrichen worden
sind. Das ist eine Schande. Es können keine Feiern statt-
finden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich habe persönlich als früherer Außenminister Gelder für
die Botschaften gesammelt, damit sie die Feiern abhalten
können. Das heutige Verhalten ist unhistorisch. Wir haben
als F.D.P. einen Antrag eingebracht, durch den das korri-
giert werden soll.

Meine Damen und Herren, ich komme auf die Men-
schen in den neuen Ländern zurück. Sie haben uns viel zu
sagen. Mit ihrem Freiheitswillen und der friedlichen Re-
volution haben sie nicht nur die Wiedervereinigung her-
beigeführt; sie haben sich auch danach in die Wiederver-
einigung eingebracht: mit ihrem Leben, ihren Biografien
und ihrer Lebensleistung. Sie haben Gleichwertiges ein-
gebracht. Sie brauchen sich nicht zu verstecken. Sie ha-
ben Anspruch darauf, dass sie gleich behandelt werden,
weil sie Gleiches eingebracht haben. Um sie, um die Men-
schen vor allem in den neuen Bundesländern, geht es bei
der heutigen Debatte.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Blick muss nach vorn gerichtet sein. Wir sollten
uns nicht im Gemecker darüber verlieren, dass die Land-
schaften im Osten nicht ganz so heftig blühen, wie wir es
uns erträumt haben. Wir würdigen zu wenig, dass damals
ungewöhnlich viel Vernunft in der Politik waltete und
dass uns die Mächte der Welt und die Geschichte noch
einmal eine Chance gegeben haben, die Vielfalt der deut-
schen Länder in staatlicher Einheit zu leben. Wir zu oft
Kleinmütigen könnten um ein Quäntchen fröhlicher und
dankbarer sein, nicht nur an einem solchen Tag.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412201000
Das Wort zu einer
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Ludger
Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412201100

Lieber Herr Kinkel, mit untrüglichem Gespür haben Sie
wieder einmal den entscheidenden Punkt getroffen, näm-
lich ob es genug Geld zum Feiern gibt.


(Zurufe von der F.D.P.: Oh!)

Im Ernst, Herr Kinkel: Wenn Sie vor der Frage stün-

den, ob Sie Botschaften schließen oder den Festetat kür-
zen müssen, wie würden Sie dann entscheiden?


(Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU)

Schließlich sind Sie der Hauptverantwortliche für die Fi-
nanzmisere des Auswärtigen Amtes von 1989 bis 1998.
Während Ihrer Regierungszeit ist der Anteil des Haushal-
tes des Auswärtigen Amtes am Gesamthaushalt von 1 Pro-
zent auf 0,75 Prozent gesunken. Das heißt, Sie sind




Dr. Klaus Kinkel

11715


(C)



(D)



(A)



(B)


persönlich einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass
das Auswärtige Amt nur sehr unzureichende Mittel hat.

Aber ich kann Sie beruhigen: Das Auswärtige Amt
weiß, wie bedeutsam die Feiern sind. Wir haben Sorge
dafür getragen, dass auch in diesem Jahr die Feiern wür-
dig begangen werden können. Wir haben den Etat auch
nicht gestrichen, sondern nur gekürzt. Wir haben zudem
die Aufwandspauschalen für die Botschafter neu zuge-
schnitten. In den neuen Pauschalen für den Aufwand, den
sie zu besonderen Anlässen haben, sind die Feiern der
deutschen Einheit berücksichtigt.

Zum Dritten haben wir etwas neu eingeführt: das
privatwirtschaftliche Sponsoring, die Kooperation mit der
deutschen Wirtschaft in den jeweiligen Ländern, die auch
ein großes Interesse daran hat, dass der Einheitsfeiertag
begangen werden kann. Sie als F.D.P.-Mann sollten,
denke ich, diesen privatwirtschaftlichen Ansatz unterstüt-
zen. Er funktioniert im Übrigen sehr gut. Die Feiern wer-
den überall sehr würdig vorbereitet.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Si tacuisses!)

Herr Kinkel, Sie sind kein armer Mann. Sie sind zudem

der Hauptverantwortliche für die Haushaltsmisere des
Auswärtigen Amtes.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben mehrere Einkommen. Ich schlage Ihnen vor:
Suchen Sie sich eine Botschaft, zücken Sie Ihr Portemon-
naie, und beteiligen Sie sich am Sponsoring!


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dirk Niebel [F.D.P.]: Hier kann wirklich jeder Staatssekretär werden! Das beruhigt mich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412201200
Kollege Kinkel, bitte.


Dr. Klaus Kinkel (FDP):
Rede ID: ID1412201300
Lieber Herr Kollege
Volmer, si tacuisses, philosophus mansisses. Sie hätten
besser geschwiegen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was Sie gesagt haben, war Unsinn. Ich glaube, dass ich
das nach sechseinhalb Jahren als Außenminister ein biss-
chen besser beurteilen kann als Sie. Das soll nicht über-
heblich klingen.

Zu Ihrer Aufforderung: Klaus Kinkel hat als früherer
Außenminister Botschaftern für diese Feiern sehr viel
Geld besorgt. Fragen Sie einmal, wie viel! Denn ich habe
mich geniert, dass das Auswärtige Amt große und wich-
tige Botschaften nicht in die Lage versetzt hat, bei Freun-
den und Partnern aus Dankbarkeit Veranstaltungen am
Abend des 3. Oktober abzuhalten. Sie sollten, bevor Sie
solche Behauptungen aufstellen, erst einmal nachfragen.
Ich warte auf Ihre schriftliche Antwort.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Der neue Doppelname: Volmer-Peinlich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412201400
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn
Jahre deutsche Einheit – ein tief greifender, spannender
Zeitabschnitt liegt hinter uns, eine Zeitdauer, die man
– um uns das einmal vor Augen zu führen – an der Real-
schule verbringt, also ein Lernprozess, ein Erkenntniszu-
wachs, im vorliegenden Falle für eine ganze wiederverei-
nigte Nation.

Es ist noch zu früh für eine Abschlussbilanz, aber es ist
nie zu spät für eine ehrliche Zwischenbilanz. Ich will dies
versuchen, denn Deutschland wächst zusammen, aber es
ist ein mühsamer Prozess. Ich will nicht der klassischen
Philosophiefrage nachgehen, ob das Glas halb voll oder
halb leer ist. Ich hatte in den letzten Jahren eher das Ge-
fühl und die Sorge, dass ein Sprung im Glas ist, dass es so
verkrustet ist, dass wir nicht mehr erkennen können, was
sich darin bewegt. Dass dieser Reformstau aufgelöst wor-
den ist, dass wir wieder Klarheit haben, dass wir sehen,
wo es hingeht, dass da was fließt – auch Mittel kontinu-
ierlich in den Aufbau Ost –, das haben wir nun einmal
wirklich dieser Bundesregierung zu verdanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU)


Der Vergleich mit dem Glas oder mit dem halben Weg
ist aber nicht das richtige Bild; denn die Anfangserwar-
tungen zu Beginn der deutschen Einheit waren eher mit
kommunizierenden Röhren zu vergleichen. In den beiden
Röhren befand sich ein unterschiedlicher Niveaustand
und es wurde erwartet, dass sich das durch den Anschluss
relativ schnell ausgleicht.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das war kein Anschluss!)


Das ist ein physikalisches Gesetz, das sich offensichtlich
auf die Politik nicht übertragen ließ, weil dort die Behar-
rungskräfte größer waren als der Veränderungsdruck und
im Grunde genommen die Bundesrepublik Deutschland
die alte geblieben ist, also kein neuer Staat, keine wesent-
lich andere Republik entstanden ist. Erst durch den Um-
zug von Parlament und Regierung nach Berlin ist einiges
in Fluss geraten.

Das Wahnsinnsexperiment hat mehr oder weniger auf
der einen Seite stattgefunden, auf der anderen Seite
konnte man unter dem Motto „Keine Experimente!“
Wahlen gewinnen. Der revolutionäre Elan ist mit der De-
batte über die Rechtschreibreform oder die Ladenöff-
nungszeiten erschöpft worden. Vielleicht ist dieser an-
fänglich überspannte Erwartungshorizont, dass sich hier
ein zweites Wirtschaftswunder wiederholen könnte,
heute, nach zehn Jahren, der Grund, warum Erfolg und
Misserfolg in dieser Weise abgewogen werden, warum
sich Licht und Schatten so ausschließlich gegenüberste-
hen. Ich finde, die Sache ist recht gut verlaufen, besser, als
dies manche im Osten wahrhaben oder glauben wollen,
allerdings auch problematischer, als man das vom Westen
aus sieht und empfindet.




Dr. Ludger Volmer
11716


(C)



(D)



(A)



(B)


Sicher, dieser spontane Jubel, diese Freude, als der
Trabi wie ein vergessener, aus der Art geschlagener,
schräger Käfer in der Volkswagengemeinschaft aufge-
nommen worden ist, ist vorbei;


(Heiterkeit im ganzen Hause)

er hatte über den Alltag keinen Bestand. Diese Einheit
kam für uns alle überraschend. Wie ist es denn sonst er-
klärbar, dass in der Nacht der Freude, in der die Mauer
durchbrochen worden ist und sich die Menschen in den
Armen lagen, der Einheitskanzler verreist war,


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

dass die deutsche Einheit mehr als ein Wahlkampfrennen
und weniger als eine Gemeinschaftsaufgabe betrieben
wurde? Ein wunder Punkt, der uns offenbar heute noch
beschäftigt, wenn ich mir diese Debatten anhöre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wäre der demokratische Aufbruch, Angela Merkel, da-
mals wirklich aufgegriffen worden und nicht nur partei-
politisch vereinnahmt worden, wäre sehr schnell klar ge-
worden, dass die Ostdeutschen mehr als marode Betriebe,
ein Dauerlamento und einen Keller unaufgeräumter Stasi-
Akten mit in die Einheit brachten. Dieser Sofortabwick-
lung Ost stand kein Umbauwille West gegenüber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich hätte vor Tagen noch eine andere Rede gehalten,
weil ich mich persönlich mit manchen Dingen, so wie sie
gelaufen sind, abgefunden habe. Es ist müßig, sich da-
rüber den Kopf zu zerbrechen, ob das Tor nur eine kurze
Zeit offen stand. Es stand ja keine Mauer, keine tragende
Wand mehr im Ostblock. Es ist müßig, darüber nachzu-
denken, ob dieser Weg alternativlos war. Es gab Alterna-
tiven, aber sie sind nicht beschritten worden und der be-
schrittene Weg hat sich als richtig erwiesen.

Ich frage mich, was nach diesem 9. November des vo-
rigen Jahres, als wir hier den 10. Jahrestag des Mauerfalls
gefeiert haben und uns ziemlich einig waren – uns allen-
falls noch über die Rednerliste gestritten haben, weil da
überwiegend Redner aufgeführt waren, die mit dem Er-
eignis nichts zu tun hatten und erst danach in die weltpo-
litischen Gänge gekommen sind –, eigentlich passiert ist.
Möglicherweise war das unsere vorweggenommene
Einheitsfeier, weil wir immer den 9. November mit dem
3. Oktober verwechseln,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


weil der 3. Oktober möglicherweise gar nicht so viel mit
der deutschen Einheit zu tun hat, weil er mehr an den To-
destag von Franz Josef Strauß erinnert, an eine kompli-
zierte Männerfreundschaft und deren Verdienste um die
deutsche Einheit.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir dieses

große Volksfest – ich bin durchaus für das Feiern; ich

frage mich bloß, was wir feiern – damals mit einem
großen Volksentscheid verbunden hätten. Wir haben doch
in unserer Verfassung nicht nur das Ziel der Wiederverei-
nigung gehabt, sondern auch die Verpflichtung, dass sich
das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine Ver-
fassung gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine solche demokratische Gründungslegende des wie-
dervereinigten Deutschlands, die die beiden Teile hätte
politisch zusammenführen können, fehlt bis heute.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Dann wäre das Fenster verpasst worden!)


Zum Glück misst sich die innere Einheit nicht an der
Vielzahl der separaten Einheitsfeiern, die momentan ver-
anstaltet werden.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass Sie, Helmut Kohl, am 3. Oktober nicht in Dresden
sprechen können – wo Sie vor der Frauenkirche eine le-
gendäre Rede gehalten haben, als Ihr Zehn-Punkte-Plan
auf einen Punkt zusammenschmolz – haben Sie doch
nicht dieser bösen rot-grünen Regierung zu verdanken,
sondern Ihnen wird in Ihrer eigenen Partei eine kleinka-
rierte, alte offene Rechnung präsentiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Sie sind momentan dabei, Ihr inneres Zerwürfnis in die
Politik und in unsere Gesellschaft hineinzutragen.

Angela Merkel, ich habe mich darüber gefreut, als Sie
gesagt haben, die Einheit gehöre keiner Partei, sondern
den Menschen. Bloß haben Sie dann mit jedem einzelnen
Satz Ihrer Rede diese Grundaussage widerlegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Warum halten Sie hier eigentlich die Rede von Helmut
Kohl? Er könnte sie hier doch selber halten, anstatt im
„Tränenpalast“ auf die Drüsen zu drücken und die Gemü-
ter in Wallung zu bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir mögen ja in vielen Fragen geteilter Meinung sein.
Aber wir müssen den Begriff der inneren Einheit ernst
nehmen und dürfen die Spaltung in Einheitsbewahrer und
-verräter einfach nicht zulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da lachen sich doch diejenigen ins nationale Fäustchen,
die den Ruck durch die Gesellschaft am liebsten mit ei-
nem deutschen Hauruck bewerkstelligen möchten. Genau
denen spielen wir in die Hände.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)





Werner Schulz (Leipzig)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir entwerten damit die Debatte, die wir gestern geführt
haben, wenn sich die Demokraten erst dann einig werden,
wenn die Demokratie bedroht ist, und sich nicht über
Grundsatzfragen einig sind.

Zu diesen Grundsatzfragen gehört für mich die deut-
sche Einheit. Sie hatte einen ganz langen Vorlauf, an dem
sehr viele Personen mitgewirkt haben und für die es sehr
viele Faktoren gegeben hat. Nennen Sie mir doch bitte
eine Bundesregierung, die jemals eine andere Politik als
die des Wandels durch Einwirkung betrieben hätte. Keine
andere Bundesregierung! Willy Brandt gehört zu dieser
deutschen Einheit; denn er hat mit seiner Ostpolitik nicht
nur in Erfurt das Fenster aufgemacht und die erste Mas-
senprotestdemo ausgelöst. Helmut Schmidt hat mit dem
KSZE-Prozess die Dissidenten in Osteuropa angeregt, die
Gründung von Charta 77 und von Solidarnosc; darauf ge-
hen Vaclav Havel und Lech Walesa, der heute Geburtstag
hat, zurück, aber auch Michail Gorbatschow. Erinnern Sie
sich bitte, Helmut Kohl, wie Sie Michail Gorbatschow be-
zeichnet haben, als er von Glasnost und Perestroika gere-
det hat. Ihre Selbstgerechtigkeit ist schon mit ganz viel
Verdrängungskunst verbunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Öffnung der ungarischen Grenze, die vielen Men-
schen, die sich der DDR verweigert haben, die Ausreise-
anträge gestellt und Botschaften besetzt haben, die vielen
mutigen Frauen und Männer, die in Plauen, Leipzig und
anderswo auf die Straße gegangen sind und die friedliche
Revolution ausgelöst haben, aber auch diejenigen, die auf
der westdeutschen Seite an der Staatsbürgerschaft festge-
halten haben – das war in diesem Zusammenhang ein sehr
wichtiger Faktor –, diejenigen wie Helmut Kohl und
Hans-Dietrich Genscher, die mit großem Geschick die
deutsche Einheit außenpolitisch abgesichert haben – sie
alle haben doch nicht dazu beigetragen, damit wir heute
– ich bitte Sie! – diese kleinkarierte Diskussion führen,
wem die deutsche Einheit gehört und wer sie herbeige-
führt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bringt das wirklich etwas oder führen wir diese De-
batte nur, weil Sie sich, Helmut Kohl, mit der Art Ihrer Po-
litik in die Enge gedrückt fühlen und auch Ihre Partei in
die Enge gedrängt haben, sodass Sie plötzlich die deut-
sche Einheit für Ihre politische Rehabilitierung instru-
mentalisieren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Dem Kanzler der Einheit, der Sie sind, wurde zu Leb-
zeiten ein Sockel gebaut. Dass Sie heute im Schatten des
Denkmals des unbekannten Spenders sitzen, ist bitter,
aber das haben Sie sich doch selbst zuzuschreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich wünsche Ihnen die Souveränität, die Sie vor zwei
Jahren am Wahlabend hatten, als Sie – ganz unüblich zu
dem sonstigen Gesülze, wenn Wahlniederlagen immer
noch in Scheinsiege uminterpretiert werden – diese Wahl-
niederlage angenommen, die Verantwortung dafür über-
nommen und Ihren Nachfolgern viel Glück im Interesse
Deutschlands gewünscht haben. Ich wünsche Ihnen diese
Souveränität zurück, dass Sie so wie den Mut zur deut-
schen Einheit auch den Mut zur Wahrheit finden;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


denn nur Sie haben den Schlüssel in der Hand, damit die
Achtung und die Anerkennung zurückkommen können,
die Ihnen eigentlich gebühren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir jungen Kollegen, Kollege Merz, Angela Merkel,
sollten aus den parteipolitischen Schützengräben des ver-
gangenen Jahrhunderts herauskommen, all die verbalen
Platzpatronen da liegen lassen, die sich finden in Zitaten
und dergleichen mehr. Da waren wir, Kollege Merz, unter
Ihrem verehrten Vorgänger Wolfgang Schäuble schon ein-
mal weiter. Der hat ein Buch geschrieben: „Und der Zu-
kunft zugewandt“. „Lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland“, um eine komplette Text-
zeile der DDR-Nationalhymne zusammenzubringen. Das
war nämlich ein Grund, warum wir diese Hymne nicht
mehr singen durften.

Es gab in Deutschland nur eine Einheitspartei, die sich
so genannt hat. Die hatte mit Einheit nichts zu tun. Keiner
der drei Begriffe in ihrem Namen war richtig; das war al-
les falsch und verlogen. Also reden wir nicht von
Einheitspartei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben große Erfolge im Aufbau Ost zu verzeich-
nen. Das haben wir jedes Jahr immer wieder bilanziert.
Das ist der Tatkraft, dem Engagement der Leute im Osten
zu verdanken, aber auch der tatkräftigen Hilfe, der finan-
ziellen Unterstützung im Westen, wofür wir sehr dankbar
sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Hier ist wirklich ein nationales Aufbauwerk in Größen-
ordnungen entstanden, ohne Fünfjahrespläne, wie man
das früher gewohnt war. Ich will das im Einzelnen gar
nicht aufzählen; das ist sehr gut im Bericht zum Stand der
deutschen Einheit bilanziert.

Ich glaube, was wir vernachlässigt haben bei all den
Diskussionen, die wir immer wieder über die Kosten, die
finanziellen Auswirkungen und die Transfers geführt ha-
ben, ist die Frage: In welchem Land, in welcher Gesell-
schaft wollen wir eigentlich leben? Was wir unterschätzt
haben und was durch diesen spontanen Ausbruch an Wi-
derstandskraft, an Aufbegehren im Osten deutlich gewor-
den ist, ist das Ausmaß von Zivilcourage im Alltag. Ich




Werner Schulz (Leipzig)

11718


(C)



(D)



(A)



(B)


glaube, hier haben zwei Diktaturen ihre Spuren hinterlas-
sen in der Erziehung, in den Charakterstrukturen, in den
Verhaltensmustern und, und, und. Damit werden wir noch
viel zu tun haben, da werden wir noch viel aufarbeiten
müssen.

Ich bin deswegen – um das zu wiederholen; das haben
alle Redner vor mir schon getan und in solchen Fragen
können wir uns ja auch sehr schnell einig sein – Joachim
Gauck sehr dankbar dafür, dass diese Behörde diese wirk-
lich schwere Arbeit geleistet hat. Wir müssen jetzt diese
Erkenntnisse auch auswerten. Sie müssen auch Eingang
in die Erziehung und in die Schulbücher finden. Ich
glaube, dort besteht im Moment ein großes Defizit,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


weil viele der Lehrer verunsichert sind, nichts mehr von
Politik wissen wollen, ihre Skepsis gegenüber dem neuen
System ausdrücken und dergleichen mehr. Hier können
wir auch die PDS nicht aus der Verantwortung heraus las-
sen, weil sie hier nicht so tun kann, als seien das nur die
Bruchstücke der Vereinigung. Hier haben wir es auch mit
den Hinterlassenschaften ihrer Pädagogik, ihrer Erzie-
hung, ihrer Ideologie zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Auf jeden Fall müssen wir diesen Prozess, der sich da
momentan ereignet, stoppen; denn eines sollte wirklich
nicht mehr geschehen: dass der Tod ein Meister aus
Deutschland ist. Das müssen wir unter allen Umständen
unterbinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wie gesagt, wir müssen den Aufbau einer zivilen bür-
gerlichen Gesellschaft in den nächsten Jahren viel ent-
schlossener angehen. Das ist kompliziert, weil demokra-
tische Strukturen aufzubauen offensichtlich langwieriger
ist, als Infrastrukturen zu reparieren und in Ordnung zu
bringen.

Ich bin unlängst in einer ostdeutschen Schulklasse ge-
fragt worden: Wie funktioniert eigentlich Demokratie?
Wo kann man ziviles Verhalten lernen? Ich weiß nicht,
was Sie auf diese Fragen geantwortet hätten. Es ist in un-
serer Gesellschaft gar nicht so einfach, solche Fragen zu
beantworten. Wenn ziviles Verhalten nicht in den Eltern-
häusern vermittelt wird – Lehrer können das Vorbild der
Eltern eben nicht ersetzen –, dann sind wir in einer argen
Zwickmühle. Die Elternhäuser, gerade die im Osten, sind
auch die Treibhäuser für das Meinungsklima, das mo-
mentan dort herrscht und das dort hinterlassen worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die deutsche Einheit war der erste Schritt zur EU-
Osterweiterung. In dem Sinne hat eine EU-Osterweite-
rung zum ersten Mal stattgefunden. Wir stehen heute, in
diesem 21. Jahrhundert, vor der Aufgabe, nach der West-

bindung auch die Ostbindung zu vollziehen und aus den
Beitrittsgebieten bzw. aus den Grenzgebieten, wie sie
noch immer aufgefasst werden, eine europäische Verbin-
dungsregion und eine europäische Wachstumsregion zu
machen. Das ist eine Chance für unser gesamtes Land und
für unsere Zukunft. Das heißt, wenn wir über die Zukunft
der ostdeutschen Bundesländer und über das, was sich
dort abspielt und entwickelt, reden, dann reden wir ei-
gentlich über die Zukunft des gesamten Deutschlands.

Vielleicht kann uns – zum Abschluss – ein Zitat von
John F. Kennedy weiterhelfen, der bekanntlich ein beken-
nender Wahlberliner war und der sich in einem Moment
zur Wiedervereinigung der Stadt Berlin bekannt hat, als
wir gerade in Ost- und Westberliner geteilt worden waren.
Er hat seiner durchaus schwierigen und vielfältig farbigen
Nation ins Stammbuch geschrieben:

Wenn wir uns einig sind, gibt es wenig, was wir nicht
tun können. Wenn wir uneins sind, gibt es wenig, was
wir tun können.

In diesem Sinne ist der Aufbau Ost eine Aufgabe, die uns
alle angeht, nicht nur Chefsache, nicht nur Herzenssache,
sondern unser aller Sache.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412201500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412201600
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte um
ein wahrhaft welthistorisches Ereignis. Ich finde, wir
Deutschen sind schon ein merkwürdiges Volk: Wir be-
kommen es tatsächlich fertig, uns aus diesem Anlass Zi-
tate um die Ohren zu hauen und den Etat der deutschen
Botschaften im Ausland zu diskutieren. Das sagt viel-
leicht auch ein bisschen über unseren Zustand aus.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der SPD)


Das für mich wichtigste Ereignis bei der Wiederher-
stellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde
heute noch nicht genannt: 40 Jahre lang bestand die reale
Gefahr, dass der Kalte Krieg zwischen den Blöcken zum
schrecklichsten Krieg der Weltgeschichte und zur Ver-
nichtung der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten
hätte führen können. Mit dem 3. Oktober 1990 war diese
Gefahr gebannt.

Letztlich war das der Besonnenheit von Politikern auf
beiden Seiten zu verdanken. Ich verstehe deshalb nicht die
Angriffe aus den Reihen der CDU/CSU gegen Politiker
der SPD und anderer Parteien sowie auch gegen den Bun-
deskanzler, wenn es um Äußerungen aus den Jahren
1989/90 geht, in denen auf Gefahren hingewiesen wurde.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ach!)

In dieser Zeit konnte doch niemand mit Sicherheit ab-
schätzen, welche Politik Gorbatschow durchsetzen kann
und ob die Sowjetunion wirklich auf ihre Einflusssphären
verzichtet. Gerhard Schröders diesbezügliche Aussagen




Werner Schulz (Leipzig)


11719


(C)



(D)



(A)



(B)


waren deshalb auch Ausdruck von Verantwortungsbe-
wusstsein und nicht von mangelndem Einheitswillen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Lachen bei der CDU/CSU)


Wenn ich den Friedensgedanken so hervorhebe, dann
muss ich andererseits betonen: Die Beendigung des
Gleichgewichtes des Schreckens hat zwar die Gefahren
des ganz großen Krieges gebannt, Kriege in begrenzterem
Umfang aber auf neue Art ermöglicht, und das, wie wir im
letzten Jahr erlebten, auch unter Beteiligung Deutsch-
lands. Ich denke, meine Fraktion hat sich aus sehr guten
und nachvollziehbaren Gründen konsequent gegen diesen
Krieg gestellt.


(Beifall bei der PDS)

Der 3. Oktober 1990 hat durch die Beendigung der

Systemauseinandersetzung auch dazu geführt, dass der
europäische Integrationsprozess eine andere Dimen-
sion und ein anderes Tempo angenommen hat. Erstmalig
besteht die Chance, auch Osteuropa in diesen Prozess ein-
zubeziehen. Es wäre gefährlich, wenn irgendjemand in
diesem Hause oder außerhalb dieses Hauses versuchte,
antislawische Vorbehalte zu nutzen oder zu schüren, um
den europäischen Integrationsprozess zu beschränken.


(Beifall bei der PDS)

Ich bin sicher, meine Damen und Herren von der

Union: Diesbezüglich hat der Altkanzler Helmut Kohl im-
mer so gedacht. Er hat die deutsche und die europäische
Vereinigung immer als Einheit gesehen. Dasselbe gilt für
Wolfgang Schäuble. Daran sollten Sie sich bei den ent-
sprechenden Verhandlungen erinnern.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Zumindest heute und hier ist es eher müßig, darüber zu
streiten, wer sich mit welcher Aussage vor und nach der
Einheit geirrt hat. Tatsache ist, dass die ökonomischen
Strukturen der DDR, insbesondere die Industriestruktu-
ren nach der Einheit, fast völlig zusammenbrachen. Die
am häufigsten wiederholte Erklärung dafür lautet, die
Produktivität sei so extrem niedrig gewesen, dass diese
wirtschaftlichen Strukturen nicht zu retten gewesen
wären. Die Argumentation ist durch einen Umstand aller-
dings nicht ganz schlüssig: In der Landwirtschaft der
DDR war die Produktivität nicht niedriger als in der alten
Bundesrepublik. Dennoch sind auch dort Unternehmen
massenhaft geschlossen und zwei Drittel der Arbeits-
plätze abgebaut worden.


(Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die alten Betriebsleiter!)


Die Treuhandanstalt ist willkürlich verfahren. Das eine
Unternehmen bekam nichts und wurde sofort ins Aus ge-
schickt, während ein anderes wiederum sehr umfangreich
subventioniert wurde. Die Maßstäbe blieben eher unklar.

Mit dem enormen Verlust von Arbeitsplätzen waren
und sind nicht nur soziale Probleme verbunden – es ging
nicht nur massenhaft so genanntes Humankapital verlo-
ren –, sondern auch eine Vielzahl mentaler Probleme, die
bis heute bestehen. Während sich viele von den Langzeit-

arbeitslosen in der früheren DDR gebraucht fühlten, ha-
ben sie heute das Gefühl, überflüssig zu sein. Das löst ei-
nen Verlust von Selbstwertgefühl aus und führt zu Frust,
nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch bis in
die Familien hinein. Die Frauen wurden am konsequen-
testen aus dem Arbeitsprozess gedrängt. Sie werden oft
als die eigentlichen Verliererinnen der Einheit bezeichnet.

Aber das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.
Man muss vor allem die gewonnenen Freiheiten und
Rechte sowie das völlig neue Angebot an Waren und
Dienstleistungen hervorheben. Die wirtschaftlichen Ent-
wicklungen sind enorm, insbesondere durch die Sanie-
rung von Millionen Wohnungen, die Rekonstruktion vie-
ler Stadtzentren und eine ungeheure Entwicklung der
Telekommunikation, des Straßenbaus und anderer Berei-
che.

So finden sich im Osten nur wenige, die über die Ent-
wicklung nach der Einheit ein eindeutiges und klares Ur-
teil fällen. Ein Aber in der einen oder anderen Richtung
werden Sie fast immer antreffen.

Nicht zu unterschätzen waren von Anfang an mentale
Verhaltensweisen und Bewertungen. Wer die DDR kom-
plett delegitimiert sehen wollte, der delegitimierte irgend-
wie immer auch deren Bevölkerung – ob er das wollte
oder nicht. Die Ostdeutschen mussten das Gefühl bekom-
men, 40 Jahre lang irgendwie falsch produziert, falsch ge-
lebt, falsch gedacht, falsch gefühlt und falsch geliebt zu
haben.

Mit dieser Delegitimierung war von Anfang an ver-
bunden, die westdeutschen Strukturen kaum infrage zu
stellen. Es war wichtig und richtig, alles Undemokrati-
sche, Autoritäre, Diktatorische, Antiökologische und öko-
nomisch Ineffiziente aus der DDR zu überwinden. Men-
schen, denen Unrecht geschehen war, musste, so weit es
ging, Wiedergutmachung zuteil werden. Das gilt für viele
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, für Christ-
demokratinnen und Christdemokraten, für Liberale, auch
für nicht wenige Sozialistinnen und Sozialisten, für nicht
wenige Kommunistinnen und Kommunisten und für viele
andere, die sich politisch so nicht einordnen lassen.

Es wäre für die Ost- und die Westdeutschen aber rich-
tig und wichtig gewesen, sich bestimmte Dinge aus der
DDR genauer anzusehen. In diesem Zusammenhang
wurde oft über die Fristenregelung beim Schwanger-
schaftsabbruch, über die flächendeckende Versorgung mit
Kindertagesstätten und schulischen Horteinrichtungen,
über die ökologisch sinnvolle Sekundärrohstofferfassung
und -verwendung, über die zwölf Klassenstufen bis zum
Abitur, über die Vorzüge bei der Berufsausbildung, bei der
Ausbildung von Fachärztinnen und Fachärzten und über
Polikliniken gesprochen. Letztlich ist nichts davon über-
nommen worden. Erst heute wird wieder darüber disku-
tiert, das eine oder andere zu revitalisieren.

Dabei geht es mir viel weniger um das einzelne Mo-
ment, sondern mehr um das damit verbundene Erlebnis:
Was hätte es für das Selbstvertrauen der Ostdeutschen
bedeutet, wenn von den Verantwortlichen in der Politik
akzeptiert worden wäre, dass sie in einzelnen Bereichen




Dr. Gregor Gysi
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(B)


Lösungen gefunden hatten, die über jene in der alten
Bundesrepublik hinausgehen?


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem aber ist zu fragen: Wie anders wäre die Einheit
von den Westdeutschen akzeptiert worden, wenn sie un-
mittelbar erlebt hätten, dass sich durch die Übernahme
solcher Problemlösungen ihr Leben positiv verändert
hätte? Damit hätte verhindert werden können, dass die
Westdeutschen den Eindruck gewannen, das Hinzukom-
men des Ostens habe den meisten von ihnen nichts als
Kosten gebracht. Durch solche Übernahmen wäre mehr
das Bild einer Vereinigung und weniger das Bild eines
Beitritts entstanden. Das wäre umso wichtiger gewesen,
als der Ersatz des sozialen Wettbewerbs der Systeme
durch den Standortwettbewerb frühere soziale Sicherun-
gen gerade für die Westdeutschen in Frage stellten.


(Beifall bei der PDS)

Durch solche Übernahmen hätten wir also mehr erreichen
können.

Am wenigsten habe ich allerdings verstanden, weshalb
der Beitritt so wenig dazu genutzt wurde, verkrustete
Strukturen im Westen zu überwinden.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will mich auf ein einziges Beispiel konzentrieren: Seit
Jahren beklagen fast alle hier im Hause das ausufernde
Heer der Beamten. Die DDR kannte keine Beamten.


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hießen Funktionäre!)


– Sie kannten den Status nicht, Herr Schulz. – Dies wäre
die Chance gewesen, den Status auf den hoheitlichen
Kernbereich des Staates zu reduzieren, ihn in der ehema-
ligen DDR nur insoweit einzuführen und ihn in West-
deutschland in anderen Bereichen schrittweise abzu-
bauen. Wozu muss denn jede Lehrerin und jeder
Hochschullehrer verbeamtet sein? Das konnte mir bislang
noch niemand erklären.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aber nein, das ganze ausufernde, verkrustete System
musste auch im Osten eingeführt werden. Dadurch kam
die PDS selbst in die Bredouille: Einerseits wollten wir
das nicht, andererseits konnten wir aber nicht zulassen,
dass diejenigen nicht verbeamtet werden, die im Westen
das Recht darauf gehabt hätten. Das war eine Frage von
Chancengleichheit und Gleichberechtigung.

Ich weiß, dass die de-Maizière-Regierung die alte Bun-
desregierung darum gebeten hat, den Beamtenstatus,
wenn sie ihn schon einführen wollte, für die Betroffenen
wenigstens gleich einzuführen und eine Klausel aufzu-
nehmen, wonach Einzelne daraus wieder entlassen wer-
den können, wenn sich später herausstellen sollte, dass
Umstände in ihrer Person sie dafür ungeeignet erscheinen
lassen. Das hätte nämlich bedeutet, zunächst einmal allen
zu vertrauen und dann bei Einzelnen zu sagen, man habe

sich geirrt. Sie aber sind den umgekehrten Weg gegangen,
haben die Betroffenen drei Jahre lang nicht verbeamtet,
um erst einmal alle zu überprüfen und dann im Einzelfall
zu entscheiden, wer Beamter werden kann. Das bedeutete,
einen Generalverdacht auszusprechen. Das ist etwas, was
die Einheit auch geprägt hat.


(Beifall bei der PDS)

Vielleicht gab es auch im DDR-Sportmehr als nur Do-

ping. Ich sehe mit Vergnügen, dass französische Ruder-
teams plötzlich Medaillen gewinnen. Das war früher nicht
der Fall; es war nicht ihre Sportart. Nun hörte ich wie der
Sportreporter erklärt, die Mannschaft werde inzwischen
vom ehemaligen Cheftrainer der DDR für Rudern betreut.
Soviel ich weiß, ist gegen diesen Mann nie ein Vorwurf
erhoben worden. Ist es völlig falsch zu glauben, dass es so
sein könnte, dass die westdeutsche Trainerriege ihn erst
gar nicht in ihre Nähe kommen lassen wollte, damit er ih-
nen nicht etwas wegnimmt?


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


War es wirklich unmöglich, diesen Mann einzusetzen?
Ich denke, er hat seinen Job gefunden; die französischen
Teams sind zufrieden.

Das alles sagt aber etwas aus: Der Westen hatte genü-
gend eigene Eliten. Er brauchte die aus dem Osten nicht.
Deren Ablösung wurde aber für die Ostdeutschen zu ei-
nem Identitätsproblem und hat die Umstrukturierungen
erschwert.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Die linken und rechten Eliten in Westdeutschland waren
über Jahrzehnte tief gespalten. Sie vereinigten sich aber
bei der Ablösung der ostdeutschen, denn sowohl der linke
Altachtundsechziger als auch der Konservative erhielten
ihre Professur im Osten.


(Beifall bei der PDS)

Zur Gleichwertigkeit, auch zum Empfinden eigener

Gleichwertigkeit gehört nun einmal, dass man für gleiche
Arbeit auch den gleichen Lohn erhält. Nach wie vor sind
hier die Unterschiede erheblich. Das hat viele Konse-
quenzen: Es bedeutet im Falle von Arbeitslosigkeit gerin-
gere Arbeitslosenunterstützung, geringere Arbeitslosen-
hilfe und im Alter eine geringere Rente. Das werden die
heute Zwanzigjährigen noch in 45 Jahren spüren, wenn
sie ihren Rentenbescheid bekommen. Dieser spiegelt
dann wider, dass sie Ossis waren, denn sie bekommen für
bestimmte Beitragszeiten geringere Renten. Da sie ja
nicht nur ein Jahr, sondern 20 Jahre lang Rentne-
rinnen und Rentner sein werden, bekommen sie das auch
in 65 Jahren noch mitgeteilt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Insofern, Herr Bundeskanzler, ist doch unsere Forderung
nicht unberechtigt, wenigstens einen verbindlichen Fahr-
plan vorzulegen, aus dem sich ergibt, in welchen Schrit-
ten und in welchen Fristen die Angleichung erfolgen soll,
und damit eine Perspektive zu geben.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])





Dr. Gregor Gysi

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Wir hätten dann auch Auskunft darüber, welches der erste
Jahrgang sein wird, der nicht mehr dadurch benachteiligt
sein wird, dass er in Ostdeutschland geboren ist.


(Christel Hanewinckel [SPD]: Der wird dann besonders ertragreich!)


Ich verstehe auch nicht, warum nicht in einem einzigen
Punkt, wenn man ein neues Rentenreformkonzept vor-
legt, darauf eingegangen wird, in welchen Fristen die
Renteneckwertpunkte Ost denen im Westen angeglichen
werden sollen. Das gehört doch zu einem solchen Re-
formprojekt.


(Beifall bei der PDS)

Unabhängig von solchen Fragen mache ich mir aber

keine Illusionen: Meine Generation wird die innere Ein-
heit Deutschlands ebenso wenig wie die europäische In-
tegration vollenden können. Wir konnten Türen auf-
stoßen, aber es wird letztlich die nächste Generation sein,
die solche Prozesse vielleicht auch deshalb anders ab-
schließen kann, weil sie nicht mehr mit den Vorurteilen
meiner Generation behaftet ist. So sehr wir uns mühen
und so sehr auch ich selbst mich bemüht habe: Es fällt
schwer, sich von einmal erworbenen Vorurteilen gänzlich
zu verabschieden. Wir haben aber darauf zu achten, dass
wir wenigstens nichts unternehmen, was es der nachfol-
genden Generation unmöglich macht, die Aufgaben zu lö-
sen, die wir nicht mehr gänzlich packen werden.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich will keinen
Konsens zwischen allen. Der ist weder möglich noch er-
strebenswert. Wir brauchen die politische Auseinander-
setzung, auch die streitige. Es muss legitim sein und blei-
ben, für einen demokratischen Sozialismus zu streiten.
Aber die Auseinandersetzungen müssen auf einer höheren
Ebene politischer Kultur erfolgen, auf der Ebene der Ak-
zeptanz und des Respekts des Gegenübers.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Einen Wunsch habe ich, obwohl es im Augenblick gar
nicht so aussieht, dass der nächsten Generation gelingen
sollte, was uns nicht gelungen ist und zu Katastrophen im
20. Jahrhundert geführt hat: Es geht mir um die Überwin-
dung der Ausläufer des Mittelalters, das heißt des Rassis-
mus, des Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit und
des Nationalismus. Sie haben mit Zukunft, wie ich sie
verstehe, nichts zu tun.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da ich heute das letzte Mal zu Ihnen als Fraktionsvor-
sitzender spreche, gestatten Sie mir wenige abschließende
Sätze: Nicht wenige von Ihnen haben es mir in den ver-
gangenen zehn Jahren schwer gemacht. Ich kann nur hof-
fen, dass ich es Ihnen auch nicht immer leicht gemacht
habe.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich wusste, welche Art Stellvertreterrolle ich hier zuwei-
len zu spielen hatte und dass ich dadurch eine bestimmte
Form der Auseinandersetzung auf mich ziehen musste.

Ich räume ein: Manches ging mir zu weit, war höchstper-
sönlich, verletzend und wohl auch so gemeint. Ich hoffe,
dass Sie mir nachsagen können, in der Auseinanderset-
zung zwar hart, aber nie persönlich oder verletzend rea-
giert zu haben.

Mein besonderer Dank gilt meiner eigenen Fraktion,
die es auch nicht nur leicht mit mir hatte, die sich aber im-
mer solidarisch mir gegenüber verhielt. Er gilt all jenen
Kolleginnen und Kollegen in allen anderen Fraktionen,
die das Gebot der Fairness mir gegenüber nie verletzten.
Ich wünsche mir einfach Normalität, eine neue Form po-
litischer Kultur und des Dialogs zwischen Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten, demokratischen Sozia-
listinnen und demokratischen Sozialisten, aber auch
zwischen Linken und Konservativen; sie sollten sich ge-
genseitig als Herausforderung begreifen und sich nicht je-
weils gegenseitig wegwünschen. Vor diesem Hintergrund
ist es selbstverständlich, dass ich Ihnen allen – nicht flos-
kelhaft, sondern aufrichtig – Gesundheit, persönliches
Glück und Wohlergehen wünsche. Ich möchte mich auch
dafür bedanken, dass ich in den letzten zehn Jahren zu-
mindest mehr Freiheit leben konnte und mehr gelernt
habe als in vielen früheren Jahrzehnten meines Lebens.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412201700
Ich gebe nunmehr
dem Kollegen Markus Meckel für die SPD-Fraktion das
Wort.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1412201800
Sehr geehrter Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Nach zehn Jahren deutscher
Einheit haben wir ein wichtiges Stück geschafft. Aber es
ist uns allen klar und auch schon gesagt worden, dass wir
noch große Herausforderungen vor uns haben.

Das Glas ist halb voll, sagen manche; andere sagen, es
ist halb leer. Es kommt jeweils auf die Perspektive, also
darauf an, ob wir nach Osten oder nach Westen sehen.
Wenn wir unsere östlichen Nachbarn ansehen, müssen wir
mit Bewunderung feststellen, was bei uns alles schon
möglich war. Bei einem Blick nach Westen ist klar, dass
es nach wie vor Ungleichheiten und auch Ungerechtig-
keiten gibt, die noch eine Weile Bestand haben werden.

Es wird auch in Zukunft schwierig sein, diese Heraus-
forderungen und Aufgaben wirklich zu bewältigen. Herr
Stoiber, Sie werden im Anschluss Gelegenheit haben, zu
erklären, dass sich eine gesamtdeutsche Solidarität auch
auf den künftigen Länderfinanzausgleich entsprechend
auswirken wird,


(Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident [Bayern]: Das war in der Vergangenheit auch so!)


dass der Länderfinanzausgleich auch in Zukunft bestehen
bleiben wird. Auch Sie selbst haben als Bayer lange da-
von profitiert. Wir hoffen, einen Weg zu gehen, wie ihn
Bayern in den letzten Jahrzehnten hat gehen können; nicht
von der politischen Richtung, aber von der Entwicklung
der Wirtschaft und der Menschen her.




Dr. Gregor Gysi
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Viele Menschen in Ostdeutschland feiern diesen Tag
nicht. Ich bedaure das sehr, denn ich glaube, wir dürfen
uns den Blick auf diese große Sternstunde, die wir vor
zehn Jahren miteinander erleben durften, nicht von den
Schwierigkeiten der deutschen Einheit verstellen lassen.
Was wären die Alternativen zu den Schwierigkeiten ge-
wesen, die wir gehabt hätten, wenn dies alles vor zehn
Jahren nicht passiert wäre? Ich wage nicht daran zu den-
ken und bin heilfroh, dass wir eben nicht mehr in einem
geteilten Deutschland, in dem die Nuklearwaffen gegen-
einander gerichtet sind, sondern in einem vereinten
Deutschland in der Mitte Europas leben, fest verankert in
der Europäischen Union und der NATO, zu der jetzt – da-
rüber bin ich auch sehr froh – auch unsere östlichen Nach-
barn gehören: die Polen, die Tschechen und die Ungarn.
Und es sollen, wie ich hoffe, bald noch mehr werden;
nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in der
NATO.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor zehn Jahren tat sich die Chance der Vereinigung
auf. Da gab es manche Befürchtungen bei unseren
Nachbarn, was aus diesem großen Deutschland in der
Mitte Europas werden könnte. Wir sind froh darüber, dass
wir heute feststellen können, dass diese Ängste ver-
schwunden sind, weil dieses vereinte Deutschland – ge-
nauso wie die alte Bundesrepublik vorher – Vertrauen bei
allen Nachbarn im Osten und im Westen gewonnen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich halte es für wichtig, dass dies für die neue Bundesre-
gierung genauso gilt wie für die alte. Ich meine, dass jede
Art der Disqualifizierung der deutschen Regierung, wer
auch immer regiert, uns allen nur schaden kann, wenn wir
uns die Entwicklung in Europa ansehen.


(Beifall bei der SPD)

Deutschland ist heute ein verlässlicher Partner, ver-

söhnt mit seinen Nachbarn, in anerkannten Grenzen. Ich
denke noch daran, Herr Kohl, wie wir damals, vor zehn
Jahren, über die Frage der Grenze gestritten haben. Man-
ches fand ich damals unerfreulich. Heute ist dies alles
glücklicherweise Geschichte.

Deutschland – Motor der europäischen Integration,
engagierter Befürworter einer zügigen Erweiterung der
Europäischen Union. Der Kanzler hat vorhin die Interes-
senlage deutlich gemacht. Herr Kinkel hat von der his-
torischen Verantwortung gesprochen, die wir in dieser
Frage haben. Wie glücklich können wir sein, dass für uns
Deutsche in diesem Prozess beides zusammenfällt: die
historische Verantwortung, aber auch unser eigenes öko-
nomisches Wohlfahrtsinteresse als Deutsche. Wir haben
allen Grund und Anlass zum Feiern. Gleichzeitig erleben
wir unsere eigene Unfähigkeit, nicht nur – wie früher ge-
sagt wurde – zu trauern, sondern auch gemeinsam in an-
gemessener Weise zu feiern.

Die meisten unter uns haben ja wohl nicht daran ge-
glaubt, dies jemals erleben zu können. Ich jedenfalls be-
kenne, dass ich zu denen gehört habe. Trotzdem habe ich
es mir immer gewünscht. Es muss deutlich unterschieden

werden, ob man die deutsche Einheit wollte oder ob man
sie konkret für möglich hielt und wenn ja, zu welchem
Preis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen die Situation vor 1989 nicht vergessen. Ich
habe schon von der besonderen Situation Deutschlands
gesprochen, die sich durch die Stationierung der Nuklear-
waffen ergeben hat. Angela Merkel, Sie müssten es wirk-
lich wissen: Frieden war die zentrale Voraussetzung
dafür, damit etwas für Freiheit und Demokratie getan
werden konnte.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Nein!)

Das war ein ganz wichtiger Aspekt, den wir in der Frie-
densbewegung der DDR immer beherzigt haben. Der
Frieden war die Voraussetzung dafür, dass das Streben
nach Freiheit im Herbst 1989 zum Erfolg führte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu gehört natürlich auch die Politik der kleinen
Schritte, die den Zusammenhalt von Ost und West er-
möglichte. Mit einer Politik der reinen Konfrontation
wäre das nicht möglich gewesen. Die Adenauer‘sche Po-
litik ist deswegen zu Ende gegangen, weil eine reine Kon-
frontationspolitik Ende der 60er-Jahre nicht mehr mög-
lich war. Die Ostpolitik und der KSZE-Prozess, der in
diesem Jahr 25 Jahre alt geworden ist, haben neue Di-
mensionen eröffnet, Menschen zusammengeführt und
den Dissidenten- und Menschenrechtsgruppen sowie den
Oppositionsbewegungen im Osten neue Möglichkeiten
geschaffen. All dies waren wesentliche Stationen auf dem
Weg zur deutschen Einheit, die wir vor zehn Jahren mit-
einander feiern konnten.

Ich muss gestehen, dass die Selbstgerechtigkeit, von
der schon die Rede war und mit der wir heute leider wie-
der konfrontiert worden sind, für mich ihresgleichen
sucht.


(Beifall bei der SPD)

Geschichtsklitterung ist es eben auch, wenn man nur die
halbe Wahrheit sagt oder wenn man Akten vernichtet. Wir
haben in der Enquete-Kommission des Deutschen Bun-
destages versucht, auf diese Fragen eben nicht nur die
halbe Wahrheit zu sagen. Wir haben auch keine Akten ver-
nichtet. Joachim Gauck ist schon mehrfach angesprochen
worden. Marianne Birthler wird diese Akten weiterver-
walten. Es ist wichtig, dass wir mit unserer Tradition in
angemessener Weise, aber auch offen umgehen. Ich kann
die entsprechende Seite dieses Hauses nur aufrufen, dazu
auch in Zukunft wieder beizutragen.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe einmal gedacht, dass das Geschichtsministerium
à la Orwell nur eine Erscheinung sei, die es in kommunis-
tischen Staaten gibt. Leider muss ich mich jetzt eines Bes-
seren belehren lassen.

Ich könnte Ihnen viel aus der Zeit berichten, in der
die Sozialdemokratie in Ost und West – damals noch




Markus Meckel

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getrennt – in Fragen der deutschen Einheit zusammenge-
arbeitet hat. Ich möchte neben vielen Persönlichkeiten,
die schon genannt worden sind – angefangen bei Willy
Brandt bis hin zu Hans-Jochen Vogel –, Erhard Eppler er-
wähnen, der eine beachtenswerte Rede am 17. Juni 1989,
also vor dem Mauerfall, gehalten hat. Ich möchte eben-
falls unsere frühere Kollegin Matthäus-Maier nennen, die
als erste die Währungsunion vorgeschlagen hat. All das
waren wichtige Stationen auf dem Weg zur deutschen
Einheit.

Historische Irrtümer gab es viele, zu allen Phasen, in
jeder Partei und in jeder politischen Biografie. Wir sollten
uns dazu bekennen. Ich möchte daran erinnern, dass wir
ostdeutsche Sozialdemokraten ziemlich sauer gewesen
wären, Herr Kohl, wenn wir damals gewusst hätten, dass
Sie Herrn Krenz, nachdem er Staatsratsvorsitzender ge-
worden war, am Telefon gesagt haben, Sie würden nichts
tun, um seine Position zu destabilisieren. Unsere Position
in jener Phase war klar. Wir haben gesagt: Dieser Mann
muss weg, weil er illegitim an die Macht gekommen ist.
Wir brauchen freie Wahlen.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kohl, niemand in diesem Hause bestreitet, dass

Sie große Verdienste um die deutsche Einheit haben. Aber
ich muss sagen, dass Sie eines nicht gemacht haben: Sie
haben nicht die Weichen gestellt. Sie haben andere sehr
große Verdienste. Ich sehe ein großes Verdienst insbeson-
dere darin, wie Sie die deutsche Einheit in die europä-
ischen Strukturen integriert haben. Hier war – Sie haben
in den letzten Tagen selbst darauf hingewiesen – Jacques
Delors ein ganz wichtiger Partner in Europa.Dies war ein
Meisterstück. Dafür sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet.
Ebenso spielte Ihr Vertrauensverhältnis zu George Bush
und Gorbatschow eine wesentliche Rolle.

Obwohl ich dies klar und deutlich anerkenne, muss ich
aber doch sagen: Jeder Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland seit 1949 – jeder mit seinen Stärken und je-
weils konkreten Schwächen –, der diese Chance gehabt
hätte, hätte sie mit Freude ergriffen. Denn dies wäre seine
Verantwortung gewesen. Sie haben sie wahrgenommen.
Jeder andere hätte dies auch getan.


(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig haben Sie aber manchen Schatten auf die

deutsche Einheit geworfen. Ich erinnere daran, dass Sie
noch nicht einmal Ihren eigenen Koalitionspartner über
Ihren ersten Zehn-Punkte-Plan informiert haben. Sie ha-
ben die Gestaltung der deutschen Einheit ganz klar unter
ein wahltaktisches Kalkül gestellt. Dies hat den Prozess
selber in ganz klarer Weise beschädigt. Statt deutlich zu
machen, dass Transformation und Vereinigung kein
Zuckerschlecken sein werden, sondern dass vielmehr
auch Lasten zu tragen und zu teilen sein werden, verspra-
chen Sie mit der schnellen Einheit den schnellen Wohl-
stand. Ihnen war ein sicherer Wahlsieg wichtiger als eine
die Schwierigkeiten ernst nehmende Organisation der
deutschen Einheit.


(Beifall bei der SPD – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Und dann noch mit schwarzen Kassen!)


Dies hatte in den Jahren danach wirklich schwere Fol-
gen. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn Machterhalt
über Gesetzestreue steht – auch diese Erfahrung machen
wir jetzt –, dann ist dies eine schwere Belastung für das
Demokratieverständnis vieler Bürger nicht nur im Osten,
sondern auch im Westen. Ich glaube, dass dies eine ganz
wichtige Frage ist. Gestern haben wir über Rechtsradika-
lismus diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir das Vertrauen in die Demokratie stärken müssen.
Hier gibt es leider einen Schatten, der so schnell wie mög-
lich beseitigt werden sollte.


(Beifall bei der SPD)

Die Art und Weise, wie wir die Ereignisse von vor zehn

Jahren heute feiern und begehen, ruft in vielen Menschen
in Ostdeutschland das Gefühl der Enteignung ihrer eige-
nen Geschichte hervor. Werner Schulz hat schon davon
gesprochen, als wir den 9. November gefeiert haben. Sie
wissen: Ich bin – wie Herr Nooke, Herr Schulz und Frau
Pieper – ein vehementer Befürworter eines Freiheits-
und Einheitsdenkmals. Aber ich muss gestehen: Ich
halte es in der augenblicklichen Situation für kaum mach-
bar, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Hier müs-
sen wir noch einmal genau nachdenken. Denn eines muss
doch ganz deutlich sein: Nur wenn wir dies in einem brei-
ten Konsens hinbekommen, der die verschiedenen Leis-
tungen anerkennt und fähig ist, gemeinsame Linien zu
ziehen, werden wir fähig sein, dem entsprechend Gestalt
zu geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


In der öffentlichen Debatte sieht es oft so aus, als wären
die Ostdeutschen mutig auf die Straßen gegangen, hätten
ein Schild hochgehalten – zuerst mit der Aufschrift: „Wir
sind das Volk!“, dann mit der Aufschrift „Wir sind ein
Volk!“ – und dann sei die Mauer gefallen. Daraufhin sei
Helmut Kohl gekommen und hätte uns alle in die deutsche
Einheit gerettet. Aber dies war mitnichten so. Denn eines
muss deutlich sein: Auch im Osten Deutschlands gab es
politisches Handeln, das nicht nur darin bestand, auf die
Straße zu gehen. Vielmehr stand im Herbst 1989 viel kon-
kretes und konzeptionelles politisches Handeln im Hin-
tergrund: Honecker ist gestürzt worden. Auf dem Weg
über den Runden Tisch haben wir uns dann zu einer par-
lamentarischen Demokratie entwickelt. Die Demokratie
in der DDR war die Voraussetzung für die deutsche Ein-
heit. Niemand außer den Ostdeutschen selbst konnte sie
herstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die beiden Regierungen handelten die notwendigen
Verträge aus und nahmen an den Zwei-plus-Vier-Ge-
sprächen teil. Gestern waren wir mit den Außenministern
zusammen. Wir müssen ihnen und den beteiligten Län-
dern noch einmal den herzlichen Dank sagen, der heute
hier schon ausgesprochen worden ist. Die Entscheidung
zur deutschen Einheit hat das frei gewählte ostdeutsche
Parlament, die Volkskammer, getroffen. Dort sind die ent-
sprechenden Weichen gestellt und die Konsequenzen aus
dem, was im Herbst 1989 begonnen hat, gezogen worden.




Markus Meckel
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(D)



(A)



(B)


Selbstbestimmt und selbstbewusst sind wir damals in die
deutsche Einheit gegangen, nicht etwa – trotz aller wirt-
schaftlichen Schwierigkeiten, die es gab und für die wir
im Nachhinein dankbar sind – wie ein fauler Sack bzw.
wie ein fauler Apfel als Rest eines abgewirtschafteten
Teilstaates.

Weil dieser Prozess so vielfältig war und wir diesen
Weg gegangen sind, können wir heute hier im Zentrum
Berlins zu dieser Stunde tagen, und zwar an einem Ort, an
dem früher Menschen in der geteilten Stadt starben. Dafür
sollten wir dankbar sein und versuchen, differenzierter
und dann auch gemeinsam über diese Geschichte zu re-
den.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412201900
Das Wort hat nun-
mehr der Ministerpräsident des Freistaates Bayern,
Dr. Edmund Stoiber.

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern)


(von Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Her-
ren! Zehn Jahre staatliche Einheit: Damit verbinden wir
Deutschen zunächst die Erinnerung – vielleicht unter-
schiedliche – an ergreifende und bewegende Momente in
den Jahren 1989 und 1990.

Hier in Berlin war das Gemeinschaftsgefühl in der
deutschen Nation am unmittelbarsten zu spüren. Wer die
Öffnung der Mauer oder die bewegenden Friedensgebete
in der Nikolaikirche zu Leipzig oder Kundgebungen auf
dem heutigen Augustusplatz miterlebt hat, dem werden
diese Ereignisse Zeit seines Lebens im Gedächtnis und in
der Seele eingeprägt sein. Ich werde meine persönlichen
Begegnungen damals in Leipzig und Dresden nicht ver-
gessen.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde eine
schreckliche und blutige Wunde im Herzen Europas ge-
schlossen. Die Opfer der Teilung Deutschlands, die Opfer
von Mauer und Stacheldraht bleiben unvergessen. Sie
wollten von Deutschland nach Deutschland und haben
dafür mit ihrem Leben bezahlt. Deutsche Schicksale wie
die von Peter Fechter bis Chris Gueffroy bleiben Mah-
nung gegen Diktatur und Teilung, und sie bleiben Mah-
nung für die Freiheit und die Einheit Deutschlands.

Ohne Zweifel: In der Aufbruchstimmung der Jahre
1989/90 haben wir im Westen Dauer und Größe der Auf-
gabe des Einigungsprozesses zunächst unterschätzt. Ich
möchte das jedenfalls für mich sagen. Auch haben wir erst
lernen müssen, wie unterschiedlich die Biografien und
Prägungen in Ost und West verlaufen sind.

Dennoch meine ich: Die große Mehrheit der Menschen
zwischen Rhein und Oder, zwischen Ostsee und Alpen
blickt auf die letzten zehn Jahre insgesamt dankbar
zurück. Alle Erfahrungen und Umfragen in den letzten
Wochen zeigen, dass das Empfinden, ein Volk zu sein,
heute bei der großen Mehrheit der Deutschen tief veran-

kert ist. Wenn wir auf das 20. Jahrhundert mit seinen
Kriegen und schlimmen Verbrechen und Vertreibungen
zurückblicken, wissen wir: Die letzten zehn Jahre des ver-
gangenen Jahrhunderts waren die besten zehn Jahre, die
unser Vaterland im 20. Jahrhundert erlebt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die große Mehrheit der Deutschen weiß auch: Die Ein-
heit war keine Selbstverständlichkeit; die Einheit war
kein historischer Selbstläufer. Der zeitlich so kurze Weg
vom Sommer 1989 bis zum 3. Oktober 1990 war politisch
ein sehr weiter und ein sehr schwieriger Weg. Dass dieser
Weg letztlich zur Einheit führte, war und bleibt vor allem
das historische Verdienst von Helmut Kohl, aber auch
von Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel und Wolfgang
Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gemessen an vielen anderen Entwicklungen in unse-
rem Land war diese Leistung, Herr Bundeskanzler, schon
weit mehr als dass sie nur „ihren Verpflichtungen sehr gut
gerecht geworden sind“, wie Sie es heute Morgen formu-
liert haben.

Ein Zweites: Wenn wir heute zehn Jahre deutsche Ein-
heit feiern, dann hat die Darstellung der historischen
Wahrheit und der damals bestehenden unterschiedlichen
Auffassungen über die Frage der Wiedervereinigung
nichts mit parteipolitischer Ausbeutung zu tun.

Wenn Sie zu Recht auf die Verdienste hinweisen, die
Ihre Partei durch die klare Ablehnung des Ermächti-
gungsgesetzes hat, wenn Sie auf Ihre Verdienste im Zu-
sammenhang mit den Ostverträgen hinweisen, die damals
sehr umstritten waren, dannmüssen Sie aber auch uns und
mir zugestehen, Sie in einer solchen Stunde an die De-
batte von 1990 im Bundesrat über die Einführung der
D-Mark in den neuen Ländern zu erinnern, und dann
müssen Sie auch akzeptieren, dass man Ihnen heute vor-
hält, was Sie damals gesagt haben und dass Sie heute froh
sein können, dass andere Länder Ja gesagt haben und die
D-Mark eingeführt wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es war vor allen Dingen die politische Leistung der da-

maligen Bundesregierung, dass sie 1989/90 in Europa
vielerorts bestehende Besorgnisse und Ängste gegenüber
einem wiedervereinigten Deutschland, gegenüber einem
wiedervereinigten 80-Millionen-Volk der Deutschen in
der Mitte des Kontinents überwunden hat. Es gab viele
Vorbehalte. Ich habe noch das Wort „Pangermanismus“,
das aus dem Süden des Kontinents kam, im Ohr. Ich hatte
gar nicht erwartet, dass aus Rom solche Bedenken ange-
meldet wurden. Dass das alles gelungen ist, dies war ein
Meisterstück an politischer Weitsicht und diplomatischer
Feinarbeit.

Unvergessen ist aber auch – das muss man in dieser
Stunde sagen – der Einsatz von Freunden wie George
Bush und Gyula Horn sowie der Beitrag von Michail




Markus Meckel

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Gorbatschow. Gerade unseren Freunden in den Vereinig-
ten Staaten war es zu verdanken, dass das Ziel der Einheit
in Frieden und Freiheit erreicht werden konnte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch die volle Mitgliedschaft von ganz Deutschland in

der NATO war alles andere als eine Selbstverständlich-
keit.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl wahr!)


Das gilt ebenso für den Abzug der Roten Armee mit
600 000 Mann in Frieden und Freundschaft.

Das gilt auch für die Leistung, die wir zwar hier viel-
leicht würdigen, die aber in der Bevölkerung viel zu we-
nig gewürdigt wird, aus zwei sich letztlich feindlich ge-
genüberstehenden Armeen in Deutschland eine Armee
geformt zu haben. Deswegen sollte man das in dieser
Stunde auch gegenüber unseren Soldaten zum Ausdruck
bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bilanz des Weges zur Einheit setzt voraus, dass
man sich mit aller Ernsthaftigkeit an die politischen Aus-
gangslagen in den späten 80er-Jahren erinnert. In der al-
ten Bundesrepublik hatten sich viele innerlich und auch
politisch mit dem Status quo der Teilung abgefunden.
Nicht wenige auch in den politischen Eliten wurden auf-
geschreckt durch die mutigen Rufe im Osten nach Demo-
kratie: „Wir sind das Volk!“ Ich werde nie vergessen, wie
erschrocken viele waren, als plötzlich aus diesem „Wir
sind das Volk“! – der Ruf „Wir sind ein Volk!“ geworden
ist.

Viele Bürger im Westen hatten sich nach 40 Jahren Tei-
lung in der alten Bundesrepublik Deutschland mit festem
Blick nach Westen und festem Blick nach Süden einge-
richtet. Der Einheitsruf der Deutschen im Osten stieß bei
vielen im Westen nicht auf eine gleiche Bewusstseinslage
und freudige Resonanz.

Wir verdanken es standhaften Persönlichkeiten mit ei-
nem langen historischen Atem und der Kraft, gegen den
Strom des Zeitgeistes zu schwimmen, dass die deutsche
Frage offen gehalten werden konnte.

Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich als
bayerischer Ministerpräsident und als CSU-Vorsitzender
in diesem Zusammenhang heute auch an meinen Vorgän-
ger Franz Josef Strauß erinnere. Gegen massive Wider-
stände und gegen Diffamierungen im In- und Ausland
hat Franz Josef Strauß mit dem Gang vor das Bundes-
verfassungsgericht 1973 erreicht, dass für alle verbind-
lich festgeschrieben wurde – das war damals sehr, sehr
strittig –: Die Einheit bleibt verpflichtendes Ziel deut-
scher Politik. – Das ist der Kernsatz dieser Entscheidung
damals gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dadurch wurde auch die Anerkennung zweier deut-

scher Staatsangehörigkeiten verhindert. Durch dieses un-
verrückbare Festhalten am Einheitsgebot des Grundge-

setzes blieb die deutsche Frage für die Antwort in den Jah-
ren 1989/1990 offen. Bayern und die CSU haben sich
auch in schwierigen Zeiten gegen Widerstände zur Ein-
heit der Deutschen und zur nationalen Solidarität bekannt
und tun das auch in Zukunft.

Selbstverständlich brauchen wir einen Solidarpakt II
für den Aufbau Ost.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Die süddeutschen Länder brauchen von Ihnen, sehr ge-
ehrter Herr Bundeskanzler, keinen Nachhilfeunterricht in
Sachen Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Herr Teufel schon!)


Im Übrigen sollten Sie sich auch als Bundeskanzler des
Südens unseres Landes begreifen; denn Sie können froh
sein, dass es dort ein so hohes wirtschaftliches Wachstum
gibt, was für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt
günstig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Der jet-
zige Finanzausgleich ist verfassungswidrig. – Aber es
ging doch nicht darum, dass er wegen des Ost-West-Aus-
gleichs verfassungswidrig ist. Dieser steht doch außerhalb
der Debatte. Der Finanzausgleich ist nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vielmehr deshalb verfas-
sungswidrig, weil sich in den alten Ländern zu große Un-
gleichheiten entwickelt haben und falsche Kriterien die
starken Länder nach wie vor belasten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Da Sie es aber in Ihrer Rede hier schon angesprochen
haben, darf ich dazu feststellen: Baden-Württemberg,
Hessen und Bayern


(Zuruf von der SPD: Herr Teufel auch?)

wollen gemeinsam mit der Bundesregierung und mit allen
anderen Ländern einen fairen, der Solidarität und der
Leistung verpflichteten neuen Finanzausgleich. Alle
Deutschen haben gemeinsam die Lasten der deutschen
Vergangenheit zu tragen; denn eines steht fest: Je östlicher
die Menschen im Deutschen Reich gelebt haben, desto
bitterer haben sie unter den Folgen des dunkelsten Ab-
schnittes der deutschen Geschichte zu leiden gehabt und
zu leiden. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Der Aufbau
Ost ist ein Aufbau für ganz Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland war schon immer ein Land der Vielfalt
und der regionalen Unterschiede. Das ist keine Schwäche,
sondern eine wertvolle Stärke Deutschlands in Europa.
Die Erfahrung der Geschichte lehrt uns, dass Deutschland
mit föderaler Vielfalt immer gut gefahren ist. Zentralis-
mus dagegen ist unserer Geschichte und Tradition nicht
gemäß. Gute Erfahrungen mit dem Zentralismus haben
wir auch im letzten Jahrhundert bestimmt nicht gemacht.




Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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Der föderale Charakter des deutschen National-
staates ist der Ausgangspunkt für die innere Einheit
Deutschlands; denn trotz des sozialistischen Zentralismus
in der DDR und nicht selten im Kampf gegen die SED-
Zwangsherrschaft haben die Deutschen in Thüringen, in
Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, in Berlin
und in Mecklenburg-Vorpommern ihre historisch ge-
wachsene Identität bewahrt und in das wiedervereinigte
föderale Deutschland eingebracht. Das ist ein großer Ge-
winn für den Föderalismus in ganz Deutschland.

Von manchen wird immer noch mit zum Teil nostalgi-
schem Unterton die Frage gestellt: Was blieb von der
DDR? Ich meine, die Frage ist falsch gestellt. Besser
sollte man fragen: Was hat 1989/1990 die DDR überlebt?
Eine Antwort lautet meines Erachtens: Das wertvollste
Erbe aus der Zeit der DDR sind der Mut, die Zivilcourage
und der Zusammenhalt vieler aufrechter Bürgerinnen und
Bürger.

Viele von ihnen haben die Kraft zum Widerstand auch
aus dem christlichen Glauben und aus der Kultur und Ge-
schichte ihrer Heimatregionen geschöpft. In diesem Sinne
waren die ostdeutschen Länder niemals neue Länder, son-
dern sie waren und sind das, was sie im Bewusstsein der
Menschen immer waren: vitaler und alter Kernbestand
der deutschen Nation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich war 1990 erstaunt, als ich als damaliger bayerischer
Innenminister bei den Demonstrationen in Dresden ein
Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen gesehen habe –
so viele wie bei keiner Veranstaltung in der alten Bundes-
republik. Aber nicht weniger hat mich berührt, dass viele
Menschen auch die weiß-grünen Farben Sachsens
schwenkten. Auch das waren Zeichen: Das Fundament
der nationalen Identität der Deutschen ist die föderale
Vielfalt und die regionale Heimat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Verwurzelung in der Region haben selbst 40 Jahre
SED-Regime nicht zerstören können. Föderalismus ist
der Beitrag Deutschlands für das Gleichgewicht Europas.

Was mit dem Fall der Mauer begonnen hat, das wird
mit der Osterweiterung der Europäische Union vollen-
det. Die Osterweiterung, die politisch entschieden ist,
muss im Interesse Deutschlands und im Interesse Europas
ein Erfolg werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])


Deshalb warne ich davor, die Sorgen und die Ängste der
Menschen einfach als unbegründet abzutun. Wir müssen
die Probleme einer unzureichend vorbereiteten Osterwei-
terung jetzt lösen und dann die Menschen von der Rich-
tigkeit dieses Weges überzeugen.


(Markus Meckel [SPD]: Genau das passiert doch!)


Es bleibt dabei: Die 15 alten Länder der Europäischen
Union, die sich in der Agenda 2000 für die Jahre von 2000
bis 2006 noch einmal 668 Milliarden Euro zugebilligt ha-
ben, müssen mehr Solidarität leisten. 68 Milliarden Euro
für die Osterweiterung in den Jahren von 2000 bis 2006,
also 10 Prozent, sind zu wenig. Wer das hehre Ziel an-
spricht, muss auch bereit sein zu sagen: Es kostet noch ein
Stück mehr Solidarität, um diesen großen Erfolg zu errei-
chen. Daran mangelt es, meine sehr verehrten Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])


Wenn wir über die Gestaltung Europas nachdenken,
müssen wir uns als Deutsche auch fragen: Was bringt un-
sere Nation mit den Brüchen ihrer Geschichte, aber auch
mit den positiven Traditionen in Europa ein?

Für mich ist eine entscheidende Konsequenz aus unse-
rer Geschichte, dass das zusammenwachsende und erwei-
terte Europa nur gelingen kann als ein Europa der Na-
tionen und Regionen. Die Identifikation mit der Nation
ist eine europäische und atlantische Normalität. Dabei
können und wollen wir Deutsche unter unsere Geschichte
keinen Schlussstrich ziehen. Wir müssen nach wie vor zu
einem geläuterten Verhältnis zur Nation und zu einem auf-
geklärten Patriotismus finden.

Das Wissen über Höhen und Tiefen unserer gemeinsa-
men Geschichte und ein ruhiges, gelassenes Selbstbe-
wusstsein im Kreise unserer Nachbarn sind wichtig, da-
mit unser Volk und unsere Jugend nicht wieder in
Irrwegen landen.

Nicht zuletzt deshalb ist ein vernünftiger Patriotismus
nötig, weil eine gefestigte nationale Identität unsere Ge-
sellschaft widerstandsfähiger gegen die Gefahren des Ex-
tremismus macht – gegen die Gefahren des Extremismus
aus Ablehnung der Nation genauso wie gegen die Gefah-
ren des Extremismus aus einem übersteigerten Nationa-
lismus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Die ernsthafte Bilanzierung von zehn Jahren Einheit
erfordert natürlich auch die ernsthafte Auseinanderset-
zung mit der historischen Wahrheit. Weil es in vielen Re-
den und Kommentaren durchgängig so klingt, als wäre die
deutsche Einheit so logisch gewesen, möchte ich zum
Schluss noch einmal betonen: Uns Deutschen ist die Ein-
heit wahrlich nicht in den Schoß gefallen. Genau das wol-
len manche heute vergessen machen.

Ich wiederhole: Der Weg zur Einheit war keine Selbst-
verständlichkeit. Er musste unter Risiken und gegen Wi-
derstände in einem schmalen historischen Zeitfenster ge-
bahnt werden. Auch der Beitritt der DDR über Art. 23
des Grundgesetzes durch die Entscheidung der ersten frei




Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)


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gewählten Volkskammer war ein höchst kontroverses
Thema,


(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr richtig! Sehr wahr!)


aber der einzig richtige Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wer aber in der Vergangenheit das Ziel der Einheit –
aus welcher Motivation auch immer– als illusionär oder
gar als gefährlich bezeichnet hat, hat heute sicherlich kein
Recht, die Leistungen für die Einheit zu relativieren. Ge-
rade nach Ihrer heutigen Rede, Herr Bundeskanzler, bin
ich sicher, dass Sie Ihre politische Einstellung aus den
Jahren 1989/90 und Ihre damaligen Äußerungen gegen
die Wiedervereinigung, die ich im Bundesrat selbst gehört
habe, heute bedauern. Die historische Wahrheit ist: Politi-
ker, die noch im Herbst 1989 von Illusionen und Gefah-
ren durch die Einheit sprachen, hätten die Tür zur Einheit
nicht so aufgestoßen. Sie hätten die historische Chance
zur Einheit damals nicht genutzt. Die Wiedervereinigung
war für viele nicht mehr politisches Programm und Her-
zensanliegen. Für die damals Verantwortlichen war sie ein
Herzensanliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

So richtig die Aussage ist, die heute mehrfach getrof-

fen wurde, dass die deutsche Einheit keiner Partei allein
gehört – sie gehört Deutschland –, so richtig bleibt auch,
dass die CDU und die CSU damals die Motoren der Wie-
dervereinigung gegen manche Widerstände waren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute kön-
nen wir uns alle über zehn Jahre Einheit freuen. Zwei-
felsohne gibt es Probleme. Aber Deutschland ist auf ei-
nem guten Weg. Wir sollten gemeinsam um die besten
Wege und Lösungen für ganz Deutschland und seine Zu-
kunft in Europa ringen.

Zehn Jahre nationale Einheit sind Anlass für Dank, Op-
timismus und Zuversicht. Wir haben allen Grund dazu.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Arme Frau Merkel!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202000
Das Wort hat der
Staatsminister beim Bundeskanzler Rolf Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1412202100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir heute
Morgen den Bundestag betraten, waren draußen viele
Pressevertreter unterwegs.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ach! Ist ja unglaublich! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Mich haben Journalisten im Hinblick auf die heutige De-
batte gefragt: Werden Sie es hinkriegen, diese Debatte
über zehn Jahre deutsche Einheit zu führen über das par-

teipolitische Kleinklein hinaus? Ich will Ihnen sagen:
Mein Eindruck ist, dass dies eher verneint werden muss.


(Beifall bei der SPD)

Herr Stoiber, keine Frage: Sie haben hier einen dezen-

teren Ton angeschlagen. Aber die Schlussphase Ihrer
Rede schlägt sehr wohl in diese negative Kerbe.

Wir müssen aufhören, uns bei solchen Debatten wech-
selseitig Vorhaltungen zu machen, wer wann einmal ir-
gendetwas falsch gemacht hat. Ich glaube, das ist nicht
das, was die Menschen draußen erwarten.

Ich will Ihnen aus der Sicht eines Ostdeutschen aus-
drücklich sagen: Natürlich ist damals im Kreise derer, die
in der DDR Zeitgeschichte kritisch verfolgten, das ge-
meinsame Papier der SPD und der damaligen Staatspartei
SED mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden;
völlig klar. Aber mit genauso gemischten Gefühlen ist von
uns beispielsweise der Milliardenkredit von Franz Josef
Strauß aufgenommen worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, hören wir doch auf, diese

alten – ich sage ausdrücklich: westdeutschen – Schlach-
ten anlässlich eines solchen zehnjährigen Jubiläums hier
im Deutschen Bundestag zu schlagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wird den Verdiensten nicht gerecht.
Gerade ist ausgeführt worden, die CDU/CSU sei Mo-

tor der deutschen Einheit gewesen. Das ist in Ordnung.
Der Zehn-Punkte-Plan war – ich habe nachgelesen, wie
das im Deutschen Bundestag debattiert worden ist – in
den alten Bundesländern eine Sensation, das ist völlig
klar. Aber er war bei den Demonstrationen in Ostdeutsch-
land schon längst überholt. Der Motor musste ganz kräf-
tig angeschoben werden; das war die Situation.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen will ich ausdrücklich sagen: Mich bewegen
bei der heutigen Debatte zwei Gefühle ganz stark: Das
eine ist Dankbarkeit und das andere ist Stolz. Beim Ge-
fühl der Dankbarkeit frage ich: Wo würden wir alle heute
stehen, wenn es die friedliche Revolution und die staatli-
che Einheit vor zehn Jahren nicht gegeben hätte? Auch
das prägt mich. Ich meine Dankbarkeit nicht nur dafür,
dass das möglich geworden ist, sondern natürlich auch
dafür, das miterleben zu können, in freiheitlich-demokra-
tischen Grundstrukturen leben zu können, die eigenen
Kinder nicht mehr in einem doppelten Bewusstsein erzie-
hen zu müssen, das heißt nach außen darzustellen, was in
den Schulen, öffentlichen Veranstaltungen und anderem
mehr abverlangt worden ist, und nach innen, in der fami-
liären Erziehung, Grundwerte wie Freiheit und Men-
schenwürde trotzdem als wichtige Elemente ansprechen
und vermitteln zu können. Es ist für mich ein Gefühl von
großer Freude und Dankbarkeit, dass wir nicht mehr in ei-




Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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ner solchen schizophrenen Art und Weise leben müssen,
gebückt leben müssen, was ja die meisten getan haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch daran sollte man heute erinnern: Ich empfinde
ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, wenn ich an diejenigen
denke, die das in der DDR nicht mehr miterlebt haben. Ich
hatte heute stellenweise den Eindruck, als wären alle mit
dem Plan der deutschen Einheit vierzig Jahre lang poli-
tisch tätig gewesen – und keine Hoffnung mehr hatten,
dass sich die politische Situation in der DDR eines Tages
verändern würde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, wir können alle auf die erbrachten Leistun-
gen stolz sein, und zwar sowohl auf die Leistungen der
Menschen in Ostdeutschland, die natürlich die härtesten
Anstrengungen zu meistern hatten, als auch auf die Soli-
darität der Menschen in den alten Bundesländern, die eine
Voraussetzung für das geschaffen haben, was in den letz-
ten zehn Jahren in Ostdeutschland passierte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Ich wünsche mir, dass dieser Stolz – vor allem vonseiten
der Westdeutschen – nicht mit Neid vermischt wird. Ich
weiß, dass es zum Beispiel im Telekommunikationsbe-
reich im Osten mittlerweile Entwicklungen gibt, auf die
man auch aus den alten Bundesländern neidvoll schaut.
Ich glaube aber, man kann auch als Westdeutscher auf das
stolz sein, was in Ostdeutschland geschaffen worden ist.
Dies ist letztendlich eine Gemeinschaftsleistung für die
Menschen in Deutschland insgesamt. Auch das halte ich
für ganz wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr froh, dass das Thema Europa eine so große
Rolle gespielt hat. Ich bin sicher, dass wir dem europä-
ischen Kontext,wenn wir in die Zukunft schauen und die
Frage beantworten könnten, wie am 20. Jahrestag der
deutschen Einheit über diese Fragen geredet wird, dann
einen größeren Stellenwert einräumen würden, als wir es
jetzt in der Perspektive von zehn Jahren deutscher Einheit
tun. Wir müssen sehr intensiv darüber reden, dass die
neuen Länder durch die EU-Osterweiterung eine zentrale
neue ökonomische Chance bekommen, Positionen
zurückzugewinnen und ökonomische Potenziale zu er-
schließen, die in den letzten zehn Jahren verloren gegan-
gen sind, vor allen Dingen auf den mittel- und osteu-
ropäischen Märkten.

Die Ostdeutschen haben dafür hervorragende Voraus-
setzungen. Sie haben nicht nur aus ihrer Geschichte der
letzten 50 Jahre ein ganz besonderes Gefühl für die Kul-
tur der mittel- und osteuropäischen Länder, sie haben
natürlich auch mit dem, was sie in den letzten zehn Jah-
ren haben schultern müssen, mit dem Wissen um die
Transformation, die auch in den osteuropäischen Ländern
noch nicht abgeschlossen ist, hervorragende Standortvo-

raussetzungen für diesen Prozess. Auf diese Tatsache hin-
zuweisen halte ich für völlig legitim.

Auch das Thema Ängste hat eine Rolle gespielt. Wir
müssen in diesem Zusammenhang – ich tue dies aus-
drücklich als Ostdeutscher – nicht nur das Ökonomische,
sondern auch die besondere moralische Dimension aus
ostdeutscher Sicht ansprechen. Natürlich konnten wir in
der ehemaligen DDR bis 1989 und seit zehn Jahren in den
neuen Ländern einen besonderen Weg gehen. Wir erfuh-
ren besondere Hilfen und Transfers, die natürlich aus der
deutsch-deutschen Teilung und aus der besonderen Rolle
erwachsen sind, die wir innerhalb der früheren RGW-
Staaten gespielt hatten. Wäre das nicht gewesen, würden
auch wir heute draußen stehen, anklopfen und bitten, dass
die Tür aufgemacht wird. Auch das muss man ab und zu
einmal ansprechen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Jetzt geht es also um die zweite Hälfte des Weges. Ich
halte dieses Bild für sehr angemessen, weil es deutlich
macht, dass wir noch nicht am Schluss eines Prozesses
stehen. Jetzt geht es darum, eine zweite Wegstrecke zu be-
schreiten. Dabei stehen wir vor der Situation, zum einen
auf den wichtigen ökonomischen Veränderungen aufzu-
bauen, die sich in den letzten zehn Jahren in den neuen
Ländern vollzogen haben, zum anderen aber auch die an-
haltenden Probleme zu sehen, vor allen Dingen den noch
nicht abgeschlossenen strukturellen Umbruch in der ost-
deutschen Wirtschaft – die schwierige Situation in der
Bauwirtschaft ist schon angesprochen worden –, und da-
raus eine pragmatische Politik der Modernisierung für die
neuen Länder zu entwerfen. Genau das ist das Bestreben
der Bundesregierung.

Ich bin sehr froh, dass die positiven Tendenzen nicht
nur aus den traditionellen Branchen kommen. Wer sich
heute in Ostdeutschland umschaut, wird auch in den Be-
reichen, die wir mit dem Modewort „New Economy“ be-
schreiben, hochinteressante Entwicklungen erkennen.
Wer beispielsweise nach Jena guckt, wird dort einen
Standort für Softwareentwicklungen und neuen Kommu-
nikationstechnologien vorfinden, der deutschlandweit
Spitze ist. Wer sich in Mecklenburg-Vorpommern – das
Stichwort „Biocon Valley“ tauchte heute bereits auf – an-
schaut, wie im Fadenkreuz von Hochschulen und Univer-
sitäten neue, junge Unternehmen entstehen und in die
Märkte eintreten, stellt fest, dass sich in Ostdeutschland
nicht nur im traditionellen produzierenden Gewerbe et-
was tut, sondern dass auch dort, wo es enorme Expan-
sionsmöglichkeiten für kleine und mittelständische
Unternehmen gibt, die Entwicklungspotenziale genutzt
werden.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass wir diese

Entwicklung durch neu justierte und passend gemachte
Förderinstrumente und Angebote unterstützen. Das ha-
ben wir in den letzten beiden Jahren getan; das Förder-
programm Inno-Regio ist hier schon genannt worden. Die
besondere Unterstützungsleistung des Bundes besteht
darin, Netzwerkstrukturen zu etablieren, die es kleinen




Staatsminister Rolf Schwanitz

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und mittelständischen Unternehmen in der Verbindung
mit Hochschulen, Fachhochschulen und öffentlicher Ver-
waltung ermöglichen, neue Märkte zu erschließen, und
ihnen Innovationspotenziale eröffnen. Wir werden aber
auch über die Programme hinaus, die zum Teil im Etat des
Bundeswirtschaftsministers stehen – als Beispiel nenne
ich Pro Inno –, diese Aufbaustrukturen verstärken. Die
Unterstützung regionaler Wachstumskerne in den neuen
Ländern ist gerade dort, wo wir zusätzliche Haushalts-
möglichkeiten haben – Sie wissen, wir beraten darüber
gerade –, ein vorrangiges ostdeutsches Anliegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir tun gut daran, auch über die ostdeutschen Erfolge
zu reden. Herr Nooke, ich habe kürzlich den Ausspruch
von Ihnen gelesen, die Wirtschaftsdaten in Ostdeutsch-
land seien „niederschmetternd“. Ich habe Respekt davor,
dass die Opposition Probleme beschreibt. Das musste ich
auch acht Jahre lang tun. Aber ich werbe sehr dafür, die
positiven Dinge nicht zu verschweigen und die Scheu zu
verlieren, über Erfolge gerade in Ostdeutschland zu spre-
chen.


(Beifall bei der SPD)

Die Journalistin vom „Economist“ war nicht nur bei Mi-
nisterpräsident Höppner, sondern auch bei mir und stellte
die Frage: Warum können sich die Ostdeutschen nicht
freuen? Warum fällt es uns so schwer, auch einmal über
Erfolge zu reden? Ich glaube, das müssen wir viel inten-
siver tun.

Zum Schluss, Herr Gysi, will ich noch ausdrücklich ei-
nen Punkt klarstellen, den ich bei Ihrer Rede als falsch
empfunden habe und der, wie ich finde, nicht so stehen
bleiben darf. Herr Gysi hat im Zusammenhang mit den
Renten in Ostdeutschland ausgeführt, dass auch die jetzt
20-Jährigen quasi lebenslang in ihrer Rentenbiografie die
Nachteile der geringen Beiträge verspüren. Ich will aus-
drücklich darauf hinweisen – Herr Gysi hat das schon
mehrfach in Debatten hier im Deutschen Bundestag so ge-
sagt –: Das ist einfach falsch. Richtig ist natürlich, dass
wir aufgrund der Lohnunterschiede – die Rentenbewer-
tungen sind ja an die Lohnentwicklungen gekoppelt –
noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland
haben. Die Lohndynamik wird in den nächsten Jahren die
Angleichung thematisieren.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Auch im öffentlichen Dienst!)


Aber völlig falsch ist es, wenn es so dargestellt wird, als
würden dort Anwartschaften minderer Qualität erworben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Anwartschaften werden in getrennten Gebieten er-
worben und nach einem zwischen Ost- und Westdeutsch-
land, zwischen den alten und den neuen Bundesländern,
getrennten Durchschnittswert errechnet. Deswegen müs-
sen wir auch aufhören, Dinge zu dramatisieren und eine
Perspektive von 65 Jahren aufzuzeigen, was der Realität
einfach nicht entspricht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss will ich noch einmal ausdrücklich – das
haben mehrere Redner getan, aber es ist auch mir ein
wichtiges Anliegen – Herrn Gauck herzlich gratulieren
und ihm für die erfolgreiche Arbeit, die er geleistet hat,
meinen herzlichen Dank sagen, für das, was dort schwer,
auch unter harten Anwürfen gegen ihn persönlich in den
letzten Jahren, im Interesse von uns allen getragen werden
musste.

Ich habe es immer als sehr wichtig empfunden, dass die
Öffnung der Stasi-Akten – eine Erwartungshaltung, die
die Ostdeutschen aus der friedlichen Revolution mitge-
bracht haben –, nicht im parteipolitischen Streit zerredet
worden ist. Wir waren damals alle – egal, auf welcher
Seite wir jetzt hier in diesem Haus sitzen – in einer
bequemeren oder unbequemeren Situation.

Wenn sich dieser Konsens hier halten lässt, dann ist mir
überhaupt nicht bange, dass auch Frau Birthler in be-
währter Art und Weise dieses Amt im Interesse von uns al-
len ausüben wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202200
Ich gebe das Wort der
Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1412202300
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Allen Pessimisten zum
Trotz, die Umfragen im zehnten Jahr der deutschen Ein-
heit bestätigen es: Für die Mehrheit der Deutschen ist die
Wiedervereinigung Grund zur Freude.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


80 Prozent der Ostdeutschen blicken optimistisch in
die Zukunft. Während vor sieben Jahren nur ein knappes
Drittel der Bevölkerung sich zu den Gewinnern der Ein-
heit zählte, sind es heute fast doppelt so viele. Wir sind mit
der Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück vo-
rangekommen, dank des Mutes und der Flexibilität der
Ostdeutschen. Ich denke, das kann auch nicht oft genug
gesagt werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber vielleicht sollte ich nicht „der Ostdeutschen“ sagen,
sondern eher: der Mecklenburger, Brandenburger, Berli-
ner, Sachsen-Anhaltiner, Sachsen und Thüringer. In der
Tat ist zehn Jahre danach die Bezeichnung „neue Länder“
wohl in die Jahre gekommen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Schließlich – da stimme ich Ministerpräsident Stoiber
zu – identifizieren sich viele Ostdeutsche mit ihrer Hei-
mat. Ich habe noch vor Augen, dass der damalige Außen-
minister Hans-Dietrich Genscher, noch zurzeit der alten
Bundesrepublik und der DDR, durch die Welt gereist ist
und nirgendwo einen Hehl daraus gemacht hat, dass er in




Staatsminister Rolf Schwanitz
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Sachsen-Anhalt zu Hause ist und in Halle geboren wurde.
Auch das hat toll zum Ausdruck gebracht, dass wir im
Geiste ein Volk sind. Er hat damit deutlich gemacht, wel-
che Bedeutung dieses Thema für uns als Liberale hat.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir, die Freien Demokraten, haben mit der Politik un-
serer Außenminister Walter Scheel und Hans-Dietrich
Genscher zu jeder Zeit deutlich gemacht, dass wir uns bei
allen politischen Zielen vom Einheits- und Freiheitsge-
danken leiten lassen. In dieser Frage erwarten wir auch
von der Bundesregierung mehr Glaubwürdigkeit. Ich sage
das an dieser Stelle ganz bewusst: Der Bundeskanzler hat
zwar heute die Leistungen der Ostdeutschen, die diese in
den letzten zehn Jahren für das Aufbauwerk erbracht ha-
ben, anerkannt. Aber es war zu viel der Worte, wo er sich
als Ministerpräsident 1990 so geäußert hat: Ihr Ostdeut-
schen müsst euch erst einmal krumm legen. Die DDR-
Hilfen dürfen nicht dazu führen, dass am sozialen Netz
der alten Bundesrepublik gerüttelt wird.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur Glaubwürdigkeit gehört auch dazu, dass diese
Bundesregierung den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt
hat. Darüber kann auch die gut vermarktete Sommerreise
des Bundeskanzlers in der Tat nicht hinwegtäuschen.
Aber 59 Prozent der Ostdeutschen sind noch immer davon
überzeugt, dass sich der Kanzler nicht genügend für den
Osten engagiert. Dazu sage ich ganz deutlich: Eine
Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Schwanitz
erst recht keinen Aufbau Ost.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lieber Kollege Schwanitz, eine Kausalität zwischen
den Aktivitäten des Staatsministers für den Aufbau Ost
und der Entwicklung der gesamtdeutschen Konjunktur ist
ebenfalls nicht belegt. Wir erwarten von Ihnen mehr En-
gagement, auch beim wirtschaftlichen Aufbau in den
neuen Bundesländern.


(Beifall des Abg. Dr. Klaus Kinkel [F.D.P.])

Wir erwarten von Ihnen ein Gesamtkonzept für eine „Zu-
kunftsoffensive neue Bundesländer“.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Bundeskanzler hat die Richtung hinsichtlich Infra-
strukturausbau und Innovationsförderung vorgegeben.
Das halten wir zwar ebenso für wesentlich, aber wir wol-
len nicht nur Worte hören, sondern auch Taten dieser
Bundesregierung sehen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage namens meiner Fraktion: Uns ist die Anglei-
chung der Lebensverhältnisse der Menschen in den al-
ten und neuen Bundesländern wichtig. Die Schaffung
einheitlicher Lebensverhältnisse ist übrigens auch Verfas-
sungsauftrag. Wir werden diesen Prozess vorantreiben.

Ich habe hier ein aktuelles Beispiel vor Augen: Ich war
gestern in Sachsen-Anhalt unterwegs. Dort finden im Mo-
ment sehr viele Demonstrationen gegen die Gesundheits-
strukturreform statt. Mich haben die dort arbeitenden
Ärzte, Schwestern und Heilberufler gefragt: Werden wir
jetzt dafür bestraft, dass wir im Osten Deutschlands ge-
blieben sind? Es kann doch nicht sein, dass wir die Men-
schen nur noch zu 70 Prozent – entsprechend der Budge-
tierung – gesund machen sollen.

Ich glaube, wir müssen darüber nachdenken, wie wir
die Angleichung der Lebensverhältnisse in den einzelnen
Bereichen mehr voranbringen können. Wir werden dazu
beitragen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Aufbau Ost und die Vollendung der inneren Ein-
heit bleiben Aufgabe für uns alle. Wenn es wirklich als
Herzenssache gemeint ist, dann eignet sich dieses Thema
nicht für politische und ideologische Auseinandersetzun-
gen. Deshalb möchte ich Sie heute an dieser Stelle namens
meiner Fraktion bitten und auffordern, dass die Chance
genutzt wird, gemeinsam für den Aufbau Ost zu kämpfen
und alles möglich zu machen, damit die Angleichung der
Lebensverhältnisse erreicht wird.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss sagen: Er-
kennen wir gemeinsam die Chancen, die sich aus der deut-
schen Wiedervereinigung ergeben! Der Mut zu Reformen
kommt aus dem Osten Deutschlands. Wir sollten vielmehr
auf die Lebens- und Berufserfahrungen der Menschen in
Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Ber-
lin und Mecklenburg-Vorpommern zurückgreifen. Darauf
kommt es in Zukunft an.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202400
Als letzte Rednerin in
dieser Debatte spricht nunmehr die Kollegin Anke Fuchs
für die sozialdemokratische Fraktion.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412202500
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte mich vor allen Dingen
mit dem beschäftigen, was ich als die wichtigste Aufgabe
ansehe. Dann komme ich nachher auf Frau Merkel zu
sprechen. Ich habe mir zwar zuerst überlegt, ob ich das
umgekehrt machen soll. Aber ich beginne mit dem, was
als Aufgabe vor uns liegt.

Willy Brandt hat damals gesagt: „Jetzt wächst zusam-
men, was zusammengehört.“ Er wollte also nicht, dass wir
„zusammenpoltern“ oder „zusammenspringen“. Er war
sich bewusst, dass der Weg zur deutschen Einheit ein Pro-
zess ist. Diesen haben wir bis jetzt höchstens zur Hälfte
zurückgelegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Cornelia Pieper

11731


(C)



(D)



(A)



(B)


Deswegen geht es um die Frage: Wie geht dieser Prozess
weiter?

Heute ist vieles angesprochen worden, was erreicht
worden ist. Ich finde, diejenigen, die das betont haben, ha-
ben Recht – egal, wer dafür zuständig war oder die Ver-
antwortung trägt. Ich empfehle Ihnen allen die aktuelle
Ausgabe der Zeitung „Die Woche“. Dort wird auf einer
Doppelseite sehr gut dargestellt, wie sich der Lebensstan-
dard Ost und West verändert hat. Man ist überrascht, wie
viel positive Veränderungen sich auch für die ostdeut-
schen Normalbürgerinnen und -bürger ergeben haben.
Wir sollten das zur Kenntnis nehmen, sagen und nach
draußen tragen.


(Beifall bei der SPD)

Alle neuen Instrumente, die der Bundeskanzler ange-

boten hat – Herr Schwanitz hat das vertieft –, sind richtig.
Der Weg geht weiter. Das Wichtigste wird nach wie vor
sein, nicht nachzulassen in dem Bemühen, für jeden Men-
schen Arbeit zu schaffen. Das wird unser vorrangiges Ziel
bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Herr Ministerpräsident Stoiber, ich will Sie beim Wort
nehmen: Ich freue mich, dass Sie den Länderfinanzaus-
gleich – Maßstäbegesetz – und den Solidarpakt II noch in
dieser Legislaturperiode unterstützend begleiten wollen.
Ich bin zuversichtlich, dass Bayern nicht zu knauserig ist,
wenn es darum geht, entsprechende Leistungen zu erbrin-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von Herrn Teufel dagegen hört man anderes. Und auch
die hessische Regierung will ich noch einmal darauf hin-
weisen, dass wir auch aus Hessen Signale der Solidarität
brauchen, wenn es um so einen kleinen Beitrag wie den
Risikostrukturausgleich der Krankenkassen geht. An sol-
chen Punkten können wir beweisen, ob wir Solidarität
üben oder ob wir das Geld knauserig in der Tasche lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Nun zu einem Punkt, bei dem ich mir überlegt habe, ob
ich ihn hier lieber nicht anspreche: Die Rollenverteilung
in der CDU/CSU, zwischen einem Ministerpräsidenten
und der Parteivorsitzenden, aber auch die zwischen Mann
und Frau, wie sie hier praktiziert worden ist, lag an der
Grenze zur Infamie: Der eine darf den Staatsmann spie-
len, während die Parteivorsitzende die Drecksarbeit ma-
chen darf. – Unappetitlich, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Jenseits dessen geht es mir nicht so sehr um die Insti-
tutionen und um das, was wir miteinander im Einverneh-
men regeln; die Frage ist vielmehr, wie wir den Zusam-
menhalt so regulieren, dass die Menschen begreifen: Es
lohnt sich, sich in dieser Demokratie zu engagieren und
die Einstellung „Was soll das alles?“ abzulegen. Schließ-

lich müssen wir den Weg nach Europa miteinander ge-
hen. Das ist unsere Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir konnten die Einheit deswegen erreichen, weil uns die
osteuropäischen Länder geholfen haben. Es ist doch eine
spannende Aufgabe, mit diesen Ländern nun gemeinsam
den Weg nach Europa zu gehen. Etwas Faszinierenderes
kann es eigentlich gar nicht geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich ringe darum, wie wir die Menschen dazu bekom-
men, dass sie sich, wo auch immer, in der Gesellschaft en-
gagieren und nicht sagen: „Was die da machen, ist mir
egal!“ Das Fatale an der jüngsten Entscheidung in Däne-
mark ist, dass es junge Frauen sind, die gegen den Euro
eintreten, weil sie Angst davor haben, dass der Sozialstaat
auf dem Weg nach Europa abgebaut wird. Unsere Auf-
gabe besteht genau darin, dafür zu sorgen, dass Europa
nicht nur ein Europa der Gelder und der Unternehmen
wird; vielmehr müssen wir ein soziales Europa gestalten.
Das wird für uns eine wichtige Zukunftsaufgabe sein.


(Beifall bei der SPD)

Auf dem Weg dorthin müssen wir aufpassen, dass nicht

zu viele auf der Strecke bleiben. Wir sollten uns mehr zu-
trauen; denn alle europäischen Länder, auch die aus Ost-
europa, die bald dazukommen, haben – egal, welche Par-
tei dort regiert, insofern parteiübergreifend – eine sozial
verfasste Vergangenheit. Dies werden wir in diesem Eu-
ropa nicht aufgeben. Stellen Sie sich vor, dieses Europa
spricht in dieser globalisierten Wirtschaft mit einer
Stimme! Wenn das geschieht, dann werden die WTO, die
ILO, der IWF und die Weltbank andere Standards setzen.
Schließlich hängt es von uns ab, wer dort arbeitet und re-
giert und wie die Menschen dort mit vernünftigen Kon-
zepten ausgestattet werden.


(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Ich halte das
für das wichtigste Ziel. Ich glaube, dass es die Anstren-
gungen wert ist.

Nun ist die Frage: Wie macht man das? – Ich weiß es
auch nicht. Man könnte, wenn man mit jungen Men-
schen spricht, manchmal verzweifeln. Deswegen gilt es –
wie ich es immer sage –, dicke Bretter zu bohren.

Ich habe in meinem politischen Leben erfahren, dass
jeder Fortschritt hin zu Gleichheit, Gerechtigkeit und De-
mokratie eine unheimliche Anstrengung war. Nie ist uns
etwas in den Schoß gefallen. Aber wir haben doch mitei-
nander in dieser gesellschaftlichen Ordnung für die Men-
schen insgesamt eine Menge erreicht. Wir leben in einem
Staat der Freiheit, der Demokratie und der sozialen Si-
cherheit. Wann hat es das in diesem Ausmaß in Deutsch-
land gegeben? Wir haben uns das erarbeitet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das müssen die Menschen begreifen. Ich habe die Er-
fahrung gemacht, dass wir daran weiter arbeiten müssen.




Anke Fuchs (Köln)

11732


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir werden Formen finden müssen, müssen auf die Men-
schen zugehen und an der Basis, in den Vereinen oder wo
auch immer, mit ihnen reden. Das wird uns nicht erspart
bleiben. Aber ich glaube, es lohnt sich. Es kann allerdings
nicht so gehen, wie sich das manche vorstellen: Die Poli-
tik baut ein europäisches Haus und die Spaßgesellschaft
Bürger fühlt sich darin wohl. So habe ich mir das nicht ge-
dacht. Wir brauchen das Engagement aller Bürger.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Nun ein kurzer Rückblick. Ich gehöre noch zu der Ge-
neration – das darf ich eigentlich gar nicht sagen –, die
Kerzen ins Fenster gestellt hat. Solidarisch, wie ich in
meinem Leben immer war, habe ich das gemacht, wenn
der Parteivorstand das verordnet hat. Deswegen waren
wir emotional immer für die Wiedervereinigung. Es gab
einige bei uns, die das anders gesehen haben; das gebe ich
zu. Aber ich möchte daran erinnern: Die sozialdemokrati-
sche Bundestagsfraktion hat am 20. September 1990 ge-
schlossen für den Einigungsvertrag gestimmt. Bei der
CDU/CSU waren 13 dagegen.


(Beifall bei der SPD)

Auf die außenpolitische Flankierung ist schon hinge-

wiesen worden. Deshalb gleich zu einem Punkt, auf den
mich die Kollegin Hanewinckel aufmerksam gemacht
hat: Wir haben ein Grundgesetz, auf das wir stolz sein
können, auch deshalb, weil wir auf dem Weg zur Wieder-
vereinigung das Grundgesetz nicht ändern mussten. Wir
haben es ja offen gelassen und hätten sogar zwei Mög-
lichkeiten gehabt. Im Übrigen – auch daran gilt es zu er-
innern –: Konrad Adenauer war damals dagegen, er wollte
diese Offenheit des Grundgesetzes nicht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann noch zu der Frage, wer wann etwas geahnt hat.
1987 – ich war damals Bundesgeschäftsführerin der
SPD – hatte ich die große Ehre, zum Staatsbesuch von
Herrn Honecker eingeladen zu werden. Diesen Besuch
haben aber nicht die Sozialdemokraten organisiert; den
roten Teppich hat vielmehr der damalige Bundeskanzler,
Herr Kohl, ausgerollt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten das gemacht. Wie
hätte sich die CDU/CSU darüber aufgeregt! Aber alle sind
brav gekommen. Auch wenn einigen Nuancen anders wa-
ren, so war doch formal ein ausländisches Staatsober-
haupt zu Gast. Es war die Zeit, wo Herr Kohl wusste, dass
er sich mit Herrn Honecker als Staatsoberhaupt treffen
und mit ihm reden musste.

Dann hat Herr Kohl im November 1989 ein Zehn-
Punkte-Programm über das langsame Zusammenwach-
sen der beiden deutschen Staaten in einem längeren Pro-
zess vorgelegt. Erinnern wir uns daran noch? – Ja. Unser
Kollege Karsten Voigt hat damals für die SPD-Bundes-
tagsfraktion Zustimmung signalisiert. Der Ehrlichkeit
halber will ich aber hinzufügen, dass ihn manche dafür
kritisiert haben. Ich erinnere deswegen daran, weil da-

raufhin eine Dynamik eintrat, mit der wir alle nicht ge-
rechnet haben; zum Beispiel erfolgte bei uns die Vereini-
gung mit der zuvor gegründeten SDP. Zusammen mit
meinem Kollegen Hilsberg habe ich damals den Vereini-
gungsparteitag organisiert.

Der Kern aber war die Wahl zur Volkskammer 1990.
Viele, vor allem diejenigen, die bürgerrechtliche Bewe-
gungen unterstützt hatten, waren enttäuscht. Da war klar,
was die Menschen wollten. Sie wollten, wie heute schon
gesagt worden ist, die Einheit, und zwar schnell. Ihrer
Stimmung gaben die Menschen wie folgt Ausdruck:
„Kommt die Mark, dann bleiben wir; kommt sie nicht,
geh´n wir zu ihr.“ – Das war die Stimmung, deshalb sollte
man sich heute keinen Illusionen hingeben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Schäuble hat im Frühjahr 1990 die Bundesge-

schäftsführer und die Generalsekretäre zusammengeholt.
Er war damals entschlossen, eine gesamtdeutsche Wahl zu
veranstalten und wollte die verfassungsrechtlichen Krite-
rien dafür ausarbeiten. Wir haben uns damals auf den Weg
gemacht und haben unsere Partei vereinigt. Wir haben
natürlich auch über Fehler geredet. Jetzt so zu tun, als ob
keine Fehler gemacht worden wären, unter denen wir
noch heute zu leiden haben, ist unehrlich.

Ich sage nach wie vor: Dieses grässliche Kriterium
„Rückgabe vor Entschädigung“ war falsch und bleibt
falsch und hat vieles in die falsche Richtung gebracht.


(Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sieht ja auch Herr Nooke so. Herr Nooke, heute stell-
vertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, hat da-
mals dem Vertrag nicht zustimmen können, weil, wie er
sagte, die Eigentumsverhältnisse falsch gelöst seien.
Überhaupt wundere er sich über diesen „Wohlstands-
wahlkampf“, das sei keine moralische Veranstaltung, so
Herr Nooke im Jahre 1990. Auch daran gilt es zu erinnern.

Auch die Regelungen im Altschuldenhilfe-Gesetz
waren falsch. In verschiedenen Novellen haben wir dieses
jetzt endlich dank der neuen Bundesregierung ändern
können. Während Herr Stoiber sagt, die letzten zehn Jahre
waren die schönsten für Deutschland, sage ich, die letzten
zwei Jahre waren die schönsten.


(Beifall bei der SPD)

Meine Kollegin Sabine Kaspereit weist mich immer

darauf hin, ich solle das nicht zu konkret sagen, sondern
es so zusammenfassen: Das Schlimmste war eigentlich
damals, dass den Bürgerinnen und Bürgern in Ost-
deutschland nicht die Wahrheit gesagt wurde:


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

„Keinem wird es schlechter gehen, jedem wird es besser
gehen. Das zahlen wir aus der Portokasse.“ Was für eine
Bereitschaft bestand damals auch im Westen, Opfer zu
bringen, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD)





Anke Fuchs (Köln)


11733


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben uns engagiert. Deswegen war es falsch, die da-
malige Opferbereitschaft nicht zu nutzen und stattdessen
einen Schuldenberg aufzuhäufen, unter dem wir noch
heute leiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU])


Es gäbe noch einiges anderes über die Fehler und den
Reformstau zu sagen, zum Beispiel: Hätten wir die Poli-
kliniken wirklich nicht erhalten können? Das wäre doch
vernünftig gewesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich schließe damit ab und sage nur noch: Wer damals kri-
tisiert hat, war nicht gegen die Einheit. Wir hätten uns
manche Fehler ersparen können.

Ich komme zum Schluss und darf, Herr Präsident, noch
zwei Zitate bringen, weil diese besonders deutlich die Be-
findlichkeit von Sozialdemokraten darstellen, die damals
dabei waren. Das erste stammt von unserem verstorbenen
Vizepräsident Heinz Westphal. Er sagte damals in seiner
Freude über die Einheit:

Wenn man zu denjenigen gehört, die damals in Ber-
lin 1945, 1946, 1947 usw. dabei waren im Kampf ge-
gen die Entstehung einer neuen Einparteienherr-
schaft durch die Kommunisten, wenn man, als die
Mauer gebaut wurde, nicht aufgab, sondern statt der
schal gewordenen Parolen den neuen Weg zur Ein-
heit der Deutschen über die Politik der Entspannung
einschlug, der nun als die Voraussetzung für den Er-
folg der friedlichen Revolution selbst von den dama-
ligen Gegnern anerkannt wird, dann hat man tatsäch-
lich Grund zur Freude über das nun erreichte Ziel der
deutschen Einheit. Um auch das klar zu sagen, über
den in diesem Zusammenhang erreichten endgülti-
gen Sieg des demokratischen Teils der Arbeiterbe-
wegung.


(Beifall bei der SPD)

Ich zitiere, wie es sich gehört, zum Schluss aus der

Rede, die Willy Brandt als Alterspräsident des ersten ge-
samtdeutschen Bundestages am 20. Dezember 1990 ge-
halten hat:

In besonderer Verbundenheit begrüße ich die Lands-
leute in den neuen Bundesländern, in Goethes und
Schillers Thüringen, in Bachs und Leibnitz’Sachsen,
in Luthers und Nietzsches Sachsen-Anhalt, wenn es
das schon gegeben hätte, in Fritz Reuters und Ernst
Barlachs Mecklenburg, in Caspar David Friedrichs
Vorpommern, in Schinkels und Fontanes Branden-
burg, in Humboldts und Hegels jetzt nicht mehr zer-
klüfteten Berlin.

Und zum Schluss sagte er:
Menschen, die mir freundlich gesonnen sind, bemer-
ken dann und wann, der Tag, an dem sich die Deut-
schen in Freiheit vereinten, müsste die Erfüllung
meines politischen Lebens sein. Das ist zu kurz ge-
dacht und zu eng. Ich möchte den Tag sehen, an dem
Europa eins geworden ist.

Diesem Vermächtnis Willy Brandts fühlen wir uns im-
mer noch verpflichtet.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202600
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst zu den Entschließungsanträgen zur Regierungs-
erklärung:

Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/4154. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/4143. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.

Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Titel „Zehn
Jahre Einheit Deutschlands“ auf Drucksache 14/4132.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Zehn Jahre deutsche Einheit“
auf Drucksache 14/4168. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der F.D.P. abgelehnt.

Wir kommen nun zu den Überweisungen. Interfraktio-
nell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 14/4129, 14/4140 und 14/4149 (neu) an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe
Kollegen, der Deutsche Bundestag wählt heute eine
Nachfolgerin des Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR,
Joachim Gauck. Ich darf auch ganz offiziell im Namen
des Hauses Herrn Joachim Gauck, der den Beratungen des
Deutschen Bundestages auf der Tribüne folgt, herzlich
begrüßen und willkommen heißen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Lieber Herr Gauck, der Bundeskanzler hat in seiner
Regierungserklärung Ihr Wirken zu Recht gewürdigt.
Auch für den Deutschen Bundestag will ich feststellen:
Sie haben in den letzten zehn Jahren ein einzigartiges Amt




Anke Fuchs (Köln)

11734


(C)



(D)



(A)



(B)


wahrgenommen, das ohne Beispiel in der Geschichte ist.
Sie haben nicht nur die Akten und Unterlagen des Staats-
sicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verwaltet, den
Opfern Zugang zu den Akten verschafft, die die Staatssi-
cherheit über sie angelegt hatte, und Forschungen über
den Repressionsapparat ermöglicht, Sie haben sich auch
ganz persönlich als Anwalt der Opfer gefühlt und mit Ih-
rer Behörde zur Rehabilitierung der Opfer beigetragen.
Sie haben dabei stets nach der Maxime gehandelt, dass
nur die konsequente Suche nach der Wahrheit uns von den
– wie Sie es einmal ausdrückten – „Gespenstern der Ver-
gangenheit“ befreien kann. Für die von Ihnen geleistete
Arbeit und Aufklärung danke ich Ihnen im Namen des
ganzen Hauses.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterla-
gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali-
gen Deutschen Demokratischen Republik

Einige kurze Hinweise zum Wahlverfahren: Sie brau-
chen die blaue Stimmkarte und Ihren weißen Wahlaus-
weis. Die Wahlen finden offen statt. Sie können also an
Ihrem Platz die entsprechenden Felder auf den Stimmkar-
ten ankreuzen.

Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagengesetzes wird
der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssi-
cherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati-
schen Republik auf Vorschlag der Bundesregierung vom
Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte der gesetz-
lichen Mitglieder gewählt. Zur Wahl sind also mindestens
335 Stimmen erforderlich.

Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom 4. Sep-
tember 2000 Frau Marianne Birthler vorgeschlagen. Be-
vor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen,
müssen Sie Ihren Wahlausweis einer der Schriftführerin-
nen oder einem der Schriftführer geben. Die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, dass
dies geschieht.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Darf ich fragen, ob
alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze ein-
genommen haben? – Das ist offenbar der Fall. Ich eröffne
die Wahl.

Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgegeben? –
Das ist offenbar der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird später be-
kannt gegeben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
Platz zu nehmen, damit wir mit den Beratungen fortfah-
ren können.

Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter
Rauen, Gerda Hasselfeldt, Dietrich Austermann,

weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Senkung der Mineralölsteuer und zur Abschaf-

(Ökosteuer-Abschaffungsgesetz)

– Drucksache 14/4097 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württem-
berg, Erwin Teufel, das Wort.


(Baden-Württemberg)

sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am An-
fang der so genannten Ökosteuer stand nicht Vernunft,
sondern Ideologie.


(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!)

Am Anfang stand der Beschluss des Bundesparteitages
der Grünen von Magdeburg im Jahre 1998. Ich zitiere
wörtlich:

Wir halten eine schrittweise und berechenbare Er-
höhung der Mineralölsteuer für notwendig. Um die
Verkehrswende einzuleiten, ist eine Erhöhung der
Mineralölsteuer als Teil einer auf zehn Jahre ange-
legten ökologisch-sozialen Steuerreform ein sozial
verträgliches Mittel.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das spürt man!)


Anschließend wird eine Erhöhung um 50 Pfennig am
Anfang und von 30 Pfennig in jedem weiteren Jahr gefor-
dert, bis es in rund zehn Jahren einen Benzinpreis von
5 DM gibt.


(Michael Glos [CDU/CSU]: So hätten Sie es gerne!)


Das war der Anfang.
Dann heißt es weiter:

In der vor uns liegenden Legislaturperiode muss
dafür der wirksame Einstieg erkämpft werden.

Dieser wirksame Einstieg ist den Grünen bzw. der rot-grü-
nen Bundesregierung gelungen. Der Benzinpreis liegt bei
über 2 DM.

Meine Damen und Herren, natürlich gibt es dafür eine
Reihe von Ursachen. Wer will das bestreiten? Es sind zum
Beispiel die OPEC-Preise und das Verhältnis des Euro




Vizepräsident Rudolf Seiters

11735


(C)



(D)



(A)



(B)


zum Dollar. Aber Sie können nicht bestreiten, dass Sie
eine der Ursachen gesetzt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Auf die OPEC-Verhandlungen und den Wechselkurs ha-
ben Sie keinen kurzfristigen Einfluss. Aber Sie haben ei-
nen Einfluss auf den Benzinpreis, wenn Sie die Ökosteuer
beseitigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [F.D.P.])


Es wird an jedem 1. Januar zu einer Mineralölsteuerer-
höhung um 6 Pfennig plus Mehrwertsteuer kommen. Wei-
tere Energiearten werden belastet. Es handelt sich nicht
um Ökologie, sondern um eine reine Steuererhöhung und
eine Belastung der Bürger. Mit Ökologie hat diese Kon-
zeption überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Sie haben es nur nicht verstanden!)


Sie knüpft nämlich nicht an Immissionstatbeständen bzw.
an umweltschädlichen Immissionen der einzelnen Ener-
gieträger an. Sie belastet vielmehr saubere Energiearten
und entlastet umweltbelastende Energien.


(Zuruf von der SPD: Wie ist denn das mit dem Wasserpfennig?)


Ich nenne einige Beispiele: Strom aus umweltfreundlicher
Wasserkraft wird ab 10 Megawatt belastet. Gas, eine sau-
bere Energie, wird belastet. Die CO2-Belastung durch dieKohle wird überhaupt nicht berücksichtigt. Die Kohle
wird nicht belastet, sondern mit Milliardenbeträgen sub-
ventioniert.

Als Begründung wurde von den Befürwortern der so
genannten Ökosteuer noch heute Morgen im Bundesrat
die hohe moralische Standarte vorangetragen, das Geld
komme der Rentenversicherung zugute. Wer konnte
schon gegen eine Beitragsentlastung bei der Rentenver-
sicherung sein? Das hat so von Anfang an nicht ge-
stimmt, weil nur ein Teil der Einnahmen in die Renten-
versicherung ging, der andere jedoch in den normalen
Haushalt floss. Es gab bis zur Stunde auch keine Senkung
der Rentenversicherungsbeiträge.


(Joachim Poß [SPD]: Glatte Lüge!)

Jetzt aber hat der Bundesfinanzminister die Standarte

eingeholt. In dieser Woche hat er im „Spiegel“ wörtlich
erklärt: „Die Verknüpfung der Ökosteuer mit der Absen-
kung der Rentenbeiträge ist falsch.“


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kollege Metzger, der Bundesvorsitzende der Grü-
nen, Herr Kuhn, hat ihm ausdrücklich zugestimmt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!)

Der Weihrauch, mit dem Sie in den letzten Monaten eine
reine Steuererhöhung eingenebelt haben, ist weg. Deswe-
gen sollten Sie auch die Ökosteuer wegputzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die gleichen schlimmen Folgen wie die steigenden
Benzinpreise haben die gestiegenen Heizöl- und Gas-
preise. Sie reißen in die Haushalte von Arbeitnehmerfa-
milien mit einem Normaleinkommen Löcher, die nicht
gestopft werden können. Es gibt auch hier wieder ver-
schiedene Ursachen. Aber Ihre Politik hat mit dazu beige-
tragen, dass auf der einen Seite des Spektrums die Men-
schen stehen, die gut verdienen und die Steuererhöhungen
verkraften können und die höheren Heizölpreise bezahlen
können, und auf der anderen Seite des Spektrums Entlas-
tung gegeben wird und die Mehrkosten auf die Sozialhilfe
oder das Wohngeld ausgeglichen werden. Aber dazwi-
schen sind 80 Prozent der Haushalte, die Sie mit den Maß-
nahmen, die Sie angekündigt haben, nicht entlasten,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

80 Prozent, für die Sie ebenfalls Verantwortung tragen
und an die Sie denken müssen. Sie denken aber nicht an
diese Menschen, weder bei den laufenden und nach wie
vor geplanten Steuererhöhungen noch bei den von Ihnen
in Aussicht gestellten Entlastungen. Sie machen eine Po-
litik, die an 80 Prozent der Bürger vorbeigeht. Das aber ist
die Mitte in Deutschland; das muss man dem Bundes-
kanzler und dieser Bundesregierung sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denken Sie nicht nur vor Wahlen und auf Wahlplaka-

ten an die Mitte, sondern denken Sie in Ihrer praktischen
Politik daran! Zur Mitte gehört der Taxifahrer, der
1 200 DM Mehrbelastung tragen muss. Zur Mitte gehört
das Transportgewerbe. Es ist mittelständisch struktu-
riert, 70 Prozent der Transportunternehmer haben nur ein
bis zwei Lastzüge. Auch auf sie kommt eine gewaltige
Mehrbelastung zu, die zur Konkurrenzunfähigkeit gegen-
über den Betrieben aus den europäischen Nachbarländern
führt.

Zur Mitte gehört das Busreiseunternehmen. Es trägt
35 000 DM Mehrbelastung. Zur Mitte gehören auch die
Bauern und die Gartenbaubetriebe. Zur Mitte gehören die
Rentner. Alle diese Berufsgruppen werden von Ihnen be-
lastet. Sie begünstigen keine einzige von ihnen mit den
Entlastungsmaßnahmen, die Sie beschließen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, Sie gefährden mit Ihrer Po-
litik auch die Konjunktur in der Automobilindustrie.Die
Räder laufen nicht automatisch; das möchte ich Ihnen sa-
gen.


(Ilse Janz [SPD]: Woher wissen Sie das?)

Zurzeit haben wir eine sehr günstige Konjunktur in der
Automobilindustrie; aber sie ist ausschließlich vom Ex-
port getragen. Es kann doch niemand übersehen, dass wir
seit 1. Januar dieses Jahres Monat für Monat einschließ-
lich August einen Rückgang der Zulassungen von 10 bis
12 Prozent auf unserem Binnenmarkt haben.


(Joachim Poß [SPD]: Beim Teufel merkt man schon, dass er noch nicht oft im Bundestag gesprochen hat!)





Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg)

11736


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn sich das Euro-Dollar-Verhältnis in die andere Rich-
tung entwickelt, was wir alle hoffen, dann schaffen Sie
mit Ihrer Politik große Probleme für die Binnenkonjunk-
tur.

Ein Beispiel sind die Nutzfahrzeuge. Sie haben vor, die
Abschreibungsfristen für die Nutzfahrzeuge nennenswert
zu verlängern.


(Joachim Poß [SPD]: Was heißt: „Sie haben vor“? Da sind doch alle Länder dabei!)


Das wird natürlich zu einem Rückgang der Bestellungen
führen. Sie nehmen dem Mittelstand die Möglichkeit der
Refinanzierung. Ich sage daher noch einmal: Wir haben es
mit einem mittelständischen Gewerbe, mit kleinen Mittel-
ständlern zu tun, mit 150 000 Betrieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Was Sie also zur Entlastung vorhaben, ist ein Kurieren

an Symptomen,

(Joachim Poß [SPD]: Die Abschreibungsfristen haben Sie doch auch in Ihrem Steuerkonzept! Sie werfen uns vor, was Sie selber vorschlagen!)


aber nicht die Beseitigung der Krankheit. Es ist ein klei-
nes Justieren in Randbereichen;


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Zumutung! Da redet einer, der sein eigenes Konzept nicht kennt!)


es ist eine kosmetische Operation. Zudem kommt die Ak-
tion Entfernungspauschale nur wenigen und diesen
auch noch ganz und gar unzureichend zugute.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, der Gipfel ist die Finanzie-
rung der so genannten Entlastungsmaßnahmen. Die Ein-
nahmen aus der Mineralölsteuererhöhung fließen zu
100 Prozent in die Bundeskasse, während die Entlas-
tungsmaßnahmen mehrheitlich von den Ländern und den
Gemeinden getragen werden sollen. 860 Millionen DM
trägt der Bund, 670 Millionen DM die Länder und
270 Millionen DM die Gemeinden. Das sind doch Ge-
schäfte zulasten Dritter, die wir auf keinen Fall mitma-
chen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist nicht nur unseriös, das ist auch unzulässig. Nicht
nur die Länder müssen sich bundesfreundlich verhalten,
sondern auch der Bund muss sich länder- und gemeinde-
freundlich verhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vor allem aber muss sich der Bund verfassungskonform
verhalten.

Am Anfang stand nicht Vernunft, sondern Ideologie.
Jetzt marschieren Sie jeden Tag weiter in eine Sackgasse.
Der Rückweg zur Vernunft ist für Sie sicher schwierig;
aber er ist der allein richtige. Der vorliegende Gesetzent-
wurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Ausstieg

aus der so genannten Ökosteuer gibt Ihnen Gelegenheit
zur Rückkehr zur Vernunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von

Baden-Württemberg sagte in der „Eßlinger Zeitung“ vom
27. Mai dieses Jahres wörtlich:

Wir hatten vergangenen Freitag im Landtag den
Mädchentag mit 450 Mädchen von 15 bis 17 Jahren.
Denen haben wir die Frage gestellt, was ihnen an den
Grünen auffällt. Es kam die Antwort: Die müssen
entweder reich sein oder kein Auto fahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Michael Glos [CDU/CSU]: Die kennen den Rezzo nicht!)


Das genau ist die Situation, eine wichtige Selbsterkennt-
nis.

Meine Damen und Herren, die ganz große Mehrheit
der Deutschen ist nicht reich, will aber dennoch Auto fah-
ren. Machen Sie nicht an dieser ganz großen Mehrheit der
Deutschen vorbei Politik! Kehren Sie um! Machen Sie
keine Politik gegen die Bürger! Weg mit der Ökosteuer!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202700
Bevor ich das Wort
weitergebe, komme ich noch einmal zum Tagesordnungs-
punkt 17 zurück.

Ich gebe das Ergebnis der Wahl der Bundesbeautragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe-
maligen Deutschen Demokratischen Republik bekannt.

Mitglieder im Deutschen Bundestag 668, abgegebene
Stimmen 496, davon gültig 496. Mit Ja haben gestimmt
419 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 43, Enthal-
tungen 34.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Damit stelle ich auch förmlich fest, dass Frau
Marianne Birthler die erforderliche Anzahl von Stim-
men erhalten hat und somit zur Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe-
maligen Deutschen Demokratischen Republik gewählt
ist.

Sehr verehrte Frau Birthler, ich wünsche Ihnen im Na-
men des Hauses alles Gute bei der Wahrnehmung dieses
wichtigen Amtes, beglückwünsche Sie und wünsche Ih-
nen vor allen Dingen Gottes Segen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort
Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.


(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommt die Zukunft! Die Vergangenheit haben wir gerade gehört! – Heiterkeit und Beifall bei der SPD)





Ministerpräsident Erwin Teufel (Baden-Württemberg)


11737


(C)



(D)



(A)



(B)



Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1412202800
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
teuer, was wir am dringendsten brauchen – Arbeits-
plätze. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen,
eher zu billig zu haben – Energie- und Rohstoffein-
satz. Dieses Ungleichgewicht müssen wir wieder
stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren beiden
Hauptzielen mehr Beschäftigung und weniger Um-
weltbelastung näherkommen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte brausenden

Applaus erwartet. Ich habe das Zukunftsprogramm der
CDU aus dem Jahre 1998 verlesen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Lang, lang ist’s her!)


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, bei aller Wert-
schätzung Ihrer Person – die fehlende Seriosität Ihrer Ar-
gumente hat mich doch sehr verwundert. Wenn Sie den
Bürgerinnen und Bürgern hier vormachen, durch die Ab-
schaffung der Ökosteuer könnte der Benzinpreis auf
Dauer gesenkt werden, dann ist das so ähnlich, wie wenn
Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Löscht euren
Durst mit Salzwasser!, und es ist genauso schädlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist aus meiner Sicht kaum nachzuvollziehen, wie
sehr sich die Meinungen insbesondere bei der CDU in die-
sem Punkt mit dem Wind gedreht haben.


(Iris Gleicke [SPD]: Mit den schwarzen Koffern!)


Der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete
Hans-Peter Repnik sagte noch 1995 ganz klar und ent-
schieden:

Umweltverbrauch ist zu billig, Arbeit zu teuer.
Deutschland muss notfalls im Alleingang die Öko-
steuer einführen und die Lohnnebenkosten senken.

(Beifall bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt machen Sie doch nicht den Repnik kaputt, der ist doch gar nicht da!)


Genau das haben wir getan.
Wenn jetzt besondere Härten ausgeglichen werden,

dann hätte ich erwartet, Herr Teufel, dass gerade von Ih-
nen als Ministerpräsident eines Flächenlandes Jubel-
schreie erklingen, weil wir den Pendlern helfen, und dass
Sie es begrüßen, wenn wir in einem Flächenland die Be-
rufspendler unterstützen.


(Beifall bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal die Pendler, was die jetzt vom Jubeln halten! Da jubelt keiner von den Pendlern!)


Ich weiß, dass es Ihnen insgesamt nicht leicht fällt – Sie
haben damals in Ihrem Steuerkonzept schließlich eine Ab-
senkung der Pendlerpauschale vorgeschlagen –: Aber

wenn wir heute die Entfernungspauschale erhöhen und
insgesamt diejenigen, die auf ein Fahrzeug angewiesen
sind, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, unterstützen,
dann hätte ich erwartet, dass Sie im Interesse der Men-
schen dieses Landes zustimmen.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: 5,1 Milliarden DM Gegenfinanzierung!)


Eines verwundert mich schon:

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Mich verwundert bei Ihnen nicht nur eines!)

Es gibt große Zukunftschancen in diesem Bereich, die im
Moment völlig vergessen sind. Gerade für uns in Baden-
Württemberg spielt die Automobilindustrie eine zentrale
Rolle. Natürlich ist es wichtig, dass die Räder auch noch
in vielen Jahren rollen. Darin sind wir völlig einer Mei-
nung. Aber wir wissen, sie können in 20, 30 oder 40 Jah-
ren nicht mehr mit Diesel bzw. mit klassischem Benzin
rollen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das stimmt allerdings nicht! Das ist Unsinn! Frau Vogts Märchenstunde!)


Herr Schrempp von Daimler-Chrysler hat selbst ganz
deutlich gesagt: Der Konzern hält die Betriebsstoffart
Brennstoffzelle mit Wasserstoff für die ganz große Alter-
native. Wenn wir heute erkennen, dass Benzin nicht mehr
unendlich zu haben ist, dann geht es jetzt darum, umzu-
steuern und Initiativen zu unterstützen, um Brennstoffzel-
len schnell auf den Markt zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und das Autofahren so teuer zu machen, dass es sich die kleinen Leute nicht mehr leisten können!)


Daimler-Chrysler hat die Modelle bereitstehen und ist in
der Lage, in den nächsten Jahren Diesel- und Benzinmo-
toren durch Brennstoffzellen serienmäßig auszutauschen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist echter Ökosozialismus, den Sie hier predigen!)


Ein weiterer Punkt, der insbesondere für den ländli-
chen Raum interessant ist – hierbei sind die Bayern weit
besser als die Baden-Württemberger, wie ich leider geste-
hen muss –: Wir haben die Möglichkeit, auch auf den An-
trieb mit Rapsöl umzusteigen.


(Joachim Poß [SPD]: Der Stoiber ist schon ein bisschen besser als der Teufel!)


Wir hätten die Chance, den Landwirten eine Verdienst-
möglichkeit anzubieten und gleichzeitig eine Raffinerie
einzurichten, in der Arbeitsplätze geschaffen werden, wo-
durch wir auch die hohen Ölpreise unterlaufen könnten,
weil wir Alternativen anzubieten hätten.


(Beifall bei der SPD)

Die Realität war leider anders: In der vergangenen Wo-

che war das Rapsdiesel bei uns in Baden-Württemberg
leider ausverkauft,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Da haben Sie es!)







(C)



(D)



(A)



(B)


weil die Nachfrage so groß war und nicht vorgesorgt wor-
den war. Statt dass Sie populistische Kampagnen machen,
wäre es viel wichtiger, im eigenen Land die Zukunft zu or-
ganisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Die Vergangenheit kann nicht die Zukunft organisieren! – Joachim Poß [SPD]: Das kann der Dumm-Teufel doch gar nicht!)


In der Heizungsbranche steigt jetzt beispielsweise die
Firma Vaillant um und wird in den nächsten Jahren eine
Serienproduktion von Brennstoffzellenheizungen auf-
nehmen. Die Konzerne Shell und BPhaben in erneuerbare
Energien investiert. Nicht nur in Deutschland, sondern in-
ternational werden Milliarden investiert, um den Energie-
verbrauch an die ökologischen Erfordernisse anzupassen,
während wir hier über 30 Pfennig in fünf Jahren diskutie-
ren.

Wir dürfen vor der notwendigen Entwicklung nicht die
Augen verschließen. Wir müssen ehrlich zu den Men-
schen sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind nicht bereit, den Menschen vorzugaukeln, dass
es auf ewig so weitergehen kann. Aber wir sind bereit zu
sagen: Wir bieten die Sicherheit, dass man auch in Zu-
kunft weiterhin Auto fahren kann, jedoch auf eine andere
Art, nämlich so, dass es umweltverträglich ist und dass
unseren Kindern die Umwelt erhalten bleibt.


(Beifall bei der SPD)

Es ist die Aufgabe der Politik, vorausschauend zu ar-

beiten und vorausdenkend zu planen. Wir als Bundesre-
gierung nehmen diese Aufgabe sehr ernst und wünschen
uns für das eine oder andere Bundesland, dass die dorti-
gen Landesregierungen diese Aufgabe ähnlich ernst und
ähnlich ehrlich angehen. Ich wünsche mir, dass wir im
Sinne einer vernünftigen politischen Streitkultur wieder
dahin kommen,


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Und ich wünsche mir, dass Sie bald zum Ende kommen!)


dass wir Fakten gemeinsam akzeptieren. Wir können
durchaus unterschiedlicher Meinung sein; aber wir müs-
sen aufhören, Halbwahrheiten zu verbreiten und, vor al-
len Dingen die Menschen pauschal zu verunsichern,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber wenn Sie falsch liegen, muss man ihnen das sagen! So ist es!)


wie zum Beispiel beim Heizölpreis, bei dem ja ganz klar
und deutlich erwiesen ist, dass es keinen Zusammenhang
mit der Ökosteuer gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man in diesem Zusammenhang behauptet, dass aus-
gerechnet das Heizöl preiswerter würde, dann es ist eine

ganz bewusste Täuschung, nur um entsprechende kurz-
fristige Erfolge zu verbuchen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der Mosdorf wäre besser gewesen als Sie!)


Ich bin mir sehr sicher, dass diese Rechnung nicht auf-
gehen wird und dass die Bürgerinnen und Bürger durch
diese Diskussion lernen, wer es mit den Problemen ernst
meint und wer hier nur versucht, eine populäre Show ab-
zuziehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Unruhe bei der F.D.P. – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie sind keine Vertreterin des kleinen Mannes!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412202900
Ich will nur vorsorg-
lich sagen, Herr Kollege Niebel: Die Liberalität in diesem
Hause geht nicht so weit, dass Sie hier die Stühle kaputt
machen können; damit das klar ist.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Kein Wunder bei der Rede!)


Nun gebe ich das Wort dem Bundesminister für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-

(vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt)

Damen und Herren! Herr Teufel, ich verstehe ja, dass Sie
meinen, den Bundestag auch für Wahlkämpfe nutzen zu
dürfen. Das ist legitim und Sie haben aus Wahlkampfsicht
ja auch eine gute Antwort bekommen.

Aber ich habe mich beim Zuhören Ihrer Rede gefragt:
Wer hat Ihnen diese Rede aufgeschrieben?


(Beifall bei der SPD)

Sie sollten dem nachgehen. Es war jemand, der Ihnen
nicht wohlgesonnen war; denn jemand, der Ihnen wohl-
gesonnen wäre, hätte Ihnen nicht zu einem Einstieg über
Magdeburg und den Benzinpreisbeschluss der Grünen
geraten. Er hätte Ihnen aufgeschrieben, dass die jetzige
Parteivorsitzende der Christlich Demokratischen Union,
Ihre Vorsitzende, diesen Beschluss damals eine – ich zi-
tiere – „richtige Grundidee“ genannt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich füge ein Weiteres hinzu: Er hätte Sie vielleicht auch
auf eine Reihe von Zitaten von baden-württembergischen
CDU-Mitgliedern hingewiesen. Ein Teil von ihnen – Frau
Vogt hat sie gerade zitiert – hat sich genau für dieses Prin-
zip ausgesprochen. Das Verblüffende ist: In dem Moment,
in dem die jetzige Bundesregierung das umsetzt, was Herr
Repnik gefordert hat, nämlich Arbeit billiger machen,
Umweltverbrauch verteuern – notfalls im nationalen Al-
leingang –, steuern Sie eine Kampagne, die die Ideen und
den Grundgedanken Ihrer eigenen Vorsitzenden ad absur-
dum führt.


(Beifall bei der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dem SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott! Ach Gott!)





Ute Vogt (Pforzheim)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Sie behaupten sogar, dieser nationale Alleingang sei eine
Belastung für die deutsche Wirtschaft. Sie sind nicht ein-
mal in der Lage, zu lesen und Tatsachen zur Kenntnis zu
nehmen.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Und Sie sind vom Mond!)


Tatsache ist: Durch die Mechanik der Ökosteuer – Sen-
kung der Sozialversicherungsbeiträge bei moderater,
schrittweiser Verteuerung von Mineralöl- und Stromver-
brauch; so viel zum Thema Kohle – ist die deutsche Wirt-
schaft in diesem Jahr um 2 Milliarden DM entlastet wor-
den.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

Diese Entlastung hätten wir als Bundesregierung sogar
im Subventionsbericht der EU zu nennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Ökosteuer, verehrter Herr Teufel, verehrter Herr Mi-
nisterpräsident, bedeutet keine Schwächung, sondern
nachlesbar eine Stärkung des Standortes Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Dann verdoppeln Sie sie doch! Dann wird es noch besser!)


Ich verstehe, dass der wirtschaftspolitische Sachver-
stand Ihnen abhanden gekommen ist,


(Lachen bei der CDU/CSU)

als Sie eine Koalition mit Herrn Döring eingehen durften.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ein Dummredner!)


Vielleicht hätte Ihnen jemand anders einen Hinweis da-
rauf gegeben, dass es keinen zwingenden Zusammenhang
zwischen Steuersenkung und Preissenkung gibt. Denn
sonst wäre es nicht erklärlich, dass der Unterschied zwi-
schen den Benzinpreisen in Luxemburg und Trier vor Ein-
führung der Ökosteuer 32 Pfennig betrug und nach Ein-
führung der Ökosteuer, zwei Jahre später, immer noch
32 Pfennig beträgt. In Luxemburg sind also die deutschen
Erhöhungen einfach mitgenommen worden.


(Zuruf von der SPD: Ja! Klar!)

Nun kann man sagen: In Luxemburg sind die Konzerne

anders als in Deutschland. Sie haben sich aber das fal-
scheste Beispiel gegriffen – nein, aufschreiben lassen; das
will ich Ihnen zugute halten –, als Sie sagten, es liege an
der steigenden Belastung durch die Ökosteuer, dass die
Heizölkosten so gestiegen sind.


(Zurufe von der SPD: Keine Ahnung!)

Ich darf Sie informieren: Erstens. Der Steuersatz bei Heiz-
öl ist der niedrigste von allen Mineralölsteuersätzen.
Zweitens. Es gibt keine weiteren Steigerungen. Dennoch
steigt der Preis.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ihr habt Ökosteuer draufgelegt!)


Was schließen wir daraus? Die Unternehmen tun das,
was Unternehmen tun. Sie werden den Preis nehmen, den
sie am Markt bekommen können. Jede Luft, die man ih-
nen mit Steuersenkungen gibt, werden sie genau in der
Weise ausnutzen, wie sie es beim Heizöl gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb haben wir gesagt, dass denjenigen, die sozial
schwächer sind als andere und die die Preistreiberei nicht
durch umweltgerechtes Verhalten kompensieren können,
geholfen werden muss. Wir haben die Soforthilfe für
Menschen, die Wohngeld bekommen, und Studierende
aufgelegt, um diese preispolitische Entwicklung, die die
Menschen nicht durch umweltgerechtes Verhalten aus-
gleichen können, sozial abzufedern.

Sie haben gesagt, das mit dem Heizöl sei nicht genug;
das mit der Entfernungspauschale – Bayern und Baden-
Württemberg hatten das noch in diesem Frühjahr in den
Bundesrat eingebracht – sei nicht genug, bringe überhaupt
nichts. Dann sind Sie Gott sei Dank – ich hätte es Ihnen
noch vorgehalten – zum Kern Ihrer Rede gekommen.
Nachdem Sie sich hier sieben Minuten als ein sozial Ge-
rechter echauffiert hatten, sind Sie zu dem zurückgekom-
men, was Sie eigentlich sind: ein ebenso bigotter wie
sparsamer Mensch. Was Sie an der Heizölhilfe und an der
Entfernungspauschale stört, ist doch schlicht und ergrei-
fend, dass Sie sie mittragen müssten. Sie wollen sich an
der sozialen Entlastung nicht beteiligen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!)


Wenn man sich auf der einen Seite in einer Kampagne als
Rächer sozial Schwacher und Belasteter darstellt und auf
der anderen Seite bei nächster Gelegenheit sagt: „Mir gä-
bet nix“, dann ist das bigott und verlogen. Das lassen wir
Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Letzte Bemerkung. Wenn Sie sich einmal ein bisschen
mit dem Thema beschäftigt hätten und sich nicht vor al-
len Dingen darauf kapriziert hätten, zum Beispiel als Land
Baden-Württemberg das Erneuerbare-Energien-Gesetz
im Bundesrat abzulehnen,


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

von dem Tausende Bauern leben – wir haben eine welt-
weit beachtete Entwicklung; wir sind bei erneuerbaren
Energien heute Spitze –, dann hätten Sie begriffen, dass
wir die Besteuerung der erneuerbaren Energien mit ei-
nem Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien
zurückgeben. 200 Millionen DM jedes Jahr bedeuten
12 000 bis 15 000 Arbeitsplätze. Nicht einmal das hat man
Ihnen aufgeschrieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Geht es in die Rente oder in die Investitionszulage?)





Bundesminister Jürgen Trittin
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(C)



(D)



(A)



(B)


Einen Hinweis will ich Ihnen gerne noch geben, für
den Fall, dass Sie eine Diskussion mit Taxifahrern suchen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Gehen Sie mal zu den Taxifahrern hin! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Machen Sie erst einmal einen Führerschein! Dann können Sie weiterreden!)


Sie brauchen noch nicht die Brennstoffzelle. Aber sie ha-
ben heute schon eine praktische Alternative. Im Rahmen
der Ökosteuer ist nämlich eine Mineralölsteuerentlastung
für Benutzer von Erdgasfahrzeugen beschlossen worden.
Der Steuersatz liegt heute bei 20 Prozent der sonstigen
Mineralölsteuer. Die Mehrkosten für die Umrüstung einer
Taxe sind nach spätestens 80 000 Kilometern – bei einer
Lebensfahrleistung pro Taxe von 800 000 bis 1 Million
Kilometer – über die Steuerersparnis wieder aufgeholt.
Somit kann ich sagen: Die Entlastung für die Taxifahrer
liegt auf der Hand. In Hannover sind zum Beispiel 100 Ta-
xifahrer bereits diesen Weg gegangen, sie haben auf Erd-
gas umgestellt, im Sinne von Klimaschutz, im Sinne einer
verbesserten Energieausnutzung und aus Sparsamkeits-
gründen; sie haben nämlich ein besseres Betriebs-
ergebnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412203000
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Brüderle.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1412203100
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ihre Rede, Herr Trittin, zeigt, dass Sie
dialektisch gut geschult sind, aber nicht bereit sind, die
Zusammenhänge korrekt wiederzugeben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Man sollte ihn noch eine Viertelstunde reden lassen, damit es noch mehr Leute abschreckt!)


Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber aus-
drücken, dass sich der Finanzausschuss am Mittwoch
nicht in der Lage sah, unseren Antrag zur Abschaffung
der Ökosteuer abschließend zu beraten. Mir ist dieses
Manöver zu durchsichtig. Vor allem die Grünen wollen
eine Debatte im Parlament über unsere Vorschläge ver-
hindern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Grünen wollen der Öffentlichkeit vorenthalten, dass
sie die Forderung nach einer verkehrsmittelunabhängigen
Entfernungspauschale bei der F.D.P. abgeschrieben ha-
ben.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber hallo!)


Es ist okay, wenn Sie unsere Ideen übernehmen – das kann
ich nachvollziehen –, aber dass Sie mit Geschäftsord-
nungstricks Ihre eigene Ideenlosigkeit kaschieren wollen,
ist politisch schwach und einer Regierungspartei unwür-
dig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Menschen in Deutschland – Pendler, Rentner, Taxifah-
rer und Trucker – verdienen Lösungen für die drängenden
Probleme. Parlamentarische Spielchen sind hier nicht an-
gebracht, denn die Lage ist ernst. Der Konjunkturhimmel
verdunkelt sich. Der ifo-Index für das Geschäftsklima ist
zum wiederholten Male zurückgegangen. In der Wirt-
schaft macht sich langsam eine gefährliche Ab-
wartehaltung breit, die das Wachstum gefährdet. Die Ver-
teuerung des Erdöls trägt zu einer Verschlechterung des
Geschäftsklimas bei. Die Kerninflation fängt an zu stei-
gen, da mittlerweile der Zweitrundeneffekt zum Tragen
kommt, das heißt, Unternehmen geben ihre gestiegenen
Kosten aus teuren Importen und hohen Energiepreisen an
ihre Kunden weiter. Wenn das so weitergeht, lässt die
nächste Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank
nicht lange auf sich warten. Was das für Investitionen,
Wachstum und Arbeitsplätze bedeutet, brauche ich nicht
zu erklären.


(Zuruf von der F.D.P.: Herrn Trittin schon!)

Der Euro schwächelt weiter vor sich hin, die Volksab-

stimmung in Dänemark hat das Vertrauen in den Euro
nicht gerade gestärkt. Die direkten und indirekten Inter-
ventionen der Europäischen Zentralbank sind an den
Devisenmärkten verpufft, und zwar deshalb, weil die
großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Italien
keinen Politikwechsel hin zu mehr Flexibilität auf den Ar-
beits- und Gütermärkten vornehmen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Binnennachfrage ist mangels privater Kaufkraft
nach wie vor schwach. Das wird sich auch nach In- Kraft-
Treten der Steuerreform nicht ändern, weil die Entlastung
der privaten Haushalte durch die hohen Energiekosten
aufgefressen wird. Die angekündigte Erhöhung des Kilo-
metergeldes werden die Bürger erst im Jahre 2002 spüren.
Im Übrigen ist sie in der Summe zu niedrig und außerdem
hilft es den auf das Auto angewiesenen Pendlern wenig,
wenn Sie den Fußgängern pro Kilometer 80 Pfennig Pau-
schale geben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Ökosteuer verstärkt auch das Rezessionsrisiko.
Die Sympathien in breiten Kreisen unserer Bevölkerung
für die Proteste gegen die Ökosteuer machen auch die
Steuermüdigkeit der deutschen Bevölkerung deutlich.
Die Menschen haben die Schnauze von dem vielen Ab-
kassieren in Deutschland voll.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Das sagt ausgerechnet er! Um 50 Pfennig haben Sie in vier Jahren erhöht!)


– Wer schreit, hat Unrecht, also schreien Sie ruhig weiter.
Die Entfernungspauschale ist keine Antwort auf die

Existenzsorgen der Fuhrunternehmer, der Taxifahrer und
weiter Teile unseres Mittelstandes. Die Ökosteuer muss
weg und der von Herrn Trittin wiederholte Einwand,
wenn man die Mineralölsteuer senkt, würden die Mine-
ralölkonzerne – dies sind die neuen dunklen Kräfte, früher




Bundesminister Jürgen Trittin

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(C)



(D)



(A)



(B)


in der Geschichte hat man andere dunkle Kräfte be-
schworen, um die eigene Unfähigkeit zu kaschieren – dies
zu einer Preiserhöhung nutzen, ist falsch.

In den Vereinigten Staaten ist der Steueranteil um
ein Vielfaches geringer als bei uns. Wäre Ihre Milch-
mädchenökonomie richtig, müsste es dort ein Superab-
zocken durch die Scheichs geben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Allerdings machen die Amerikaner die bessere Nahostpo-
litik, die bessere Südamerikapolitik, die bessere Afrika-
politik als Ihr Kollege Joseph Fischer,


(Beifall bei der F.D.P.)

der mittlerweile Bewerbungsreden für den Posten des Ge-
neralsekretärs der UNO hält, weil ihm die deutsche
Außenpolitik offenbar schon zu langweilig wird.

Die Grünen wollen lieber den Bürgern den Urlaub
streichen, als endlich ihr verfehltes Ökosteuerkonzept
aufzugeben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Argument, ohne die Ökosteuer gebe es ein großes
Loch in der Rentenkasse, stimmt nicht, weil Sie ja einen
Teil des Geldes – bei der zweiten Stufe sind es 6 Milliar-
den DM – im Haushalt verschwinden lassen, indem Sie
die Beiträge für Zivildienstleistende, Arbeitslose und
Wehrdienstleistende zu den Sozialversicherungssystemen
anstatt aus dem Haushalt aus den Ökosteuereinnahmen
zahlen. Es ist doch ein Schwindel, wenn Sie sagen, jede
Mark gehe in die Rente. Gleichwohl bleibt leider die
These „Rasen für die Rente“ richtig.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Trittin, Sie haben im Umweltausschuss auf die im

Koalitionsvertrag von Rheinland-Pfalz enthaltene Rege-
lung zur Entfernungspauschale verwiesen. Das ist ja drol-
lig. Diese Regelung ist eine sinnvolle Maßnahme, aber
natürlich keine adäquate Antwort auf die Probleme, die
wir jetzt haben. Von ihnen können Sie nicht ablenken. Sie
sind ja auch erst seit Neuestem für die Erhöhung des Ki-
lometergeldes. Als Herr Beck das in Rheinland-Pfalz ge-
fordert hat, haben Sie ihn vehement angegriffen und laut
beschimpft. Für Sie ist das doch nur der kaschierte Aus-
stieg aus der Ökosteuer. Sie nehmen die Hintertür, weil
Sie nicht den Mut haben, durch die Vordertür zu gehen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Frau Kollegin Wolf hat
vor kurzem in diesem Hause so schön aus einer Umfrage
zitiert, die besagte, dass die Rheinland-Pfälzer die opti-
mistischsten Bundesbürger seien. Das hat seinen Grund
darin, dass in Rheinland-Pfalz die Grünen nie regiert ha-
ben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie werden auch nicht regieren; dafür werden wir sorgen.
Die Chancen sind sehr gut, dass die Grünen dem nächsten
Landtag nicht mehr angehören. Ich sage Ihnen vorher: Die

Erhöhung der Ökosteuer Anfang 2001 wird zum Sargna-
gel der Grünen in Rheinland-Pfalz werden. Die rheinland-
pfälzischen Bürgerinnen und Bürger werden Ihnen die
Quittung dafür erteilen, dass Sie Ihre Ideologie auf dem
Rücken der kleinen Leute austoben. Das ist Ihr Verständ-
nis von Politik und das werden wir Ihnen nicht durchge-
hen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist nicht der Weg, wie man vernünftig Zukunft ge-
staltet, sondern das krampfhafte Aufrechterhalten einer
Begründung dafür, den Dienstwagen weiter fahren zu
können. Sie wollten das Staatsangehörigkeitsrecht für alle
in der Welt öffnen und sind damit an die Wand gefahren;
es kam die rheinland-pfälzische Lösung. Sie wollten
schnell aus der Kernkraft aussteigen und haben jetzt einen
Kompromiss mit 32 Jahren; so lange halten die Kraft-
werke gerade. Auch das ist wieder nichts für Ihre Wähler.
Deshalb klammern Sie sich an den Titel der Ökosteuer,
die keine ist. Sie wollen einen Rest Pseudobegründung
dafür haben, dass Sie noch auf der Regierungsbank sitzen.
Hören Sie auf, die Leute im Lande weiter zu drangsalie-
ren, nur damit Sie Ihre Dienstautos behalten!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das ist aber billig! – Ute Vogt [Pforzheim] [SPD]: Weil Sie traurig sind, dass Sie kein Dienstauto mehr haben ! – Weiterer Zuruf von der SPD: Der Realitätsverlust ist frappierend! Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Dr. Barbara Höll. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab einmal den schönen Fernsehspot „Wir haben nur diese eine Erde, schützen wir sie.“ Er brachte punktgenau ein Hauptproblem unserer Zeit sinnlich wahrnehmbar in unser Fernsehen. Die Berichte des Club of Rome sowie das politische Engagement erst einzelner Belächelter, später ganzer Gruppen von Menschen, in Deutschland in Gestalt der grünen Partei, stellten das bisherige ungebrochene Wachstumsdenken und den sorglosen, ja fahrlässigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und die damit verbundene Verschmutzung unserer Umwelt infrage. Gerade deshalb, weil in diesem Bereich auch Verdienste der grünen Partei liegen, ist es heute schon fast tragisch, dass nun eine Regierung unter Beteiligung der Grünen durch ihre schlechte Politik die Notwendigkeit ökologischen Handelns diskreditiert. Mit einer Ökosteuer, die ökologisch weitgehend wirkungslos und sozial ungerecht ist, die in Wahrheit eine weitere Umverteilung von unten nach oben beinhaltet, die die Haushaltslöcher des Finanzministers stopft und die gerade die Großindustrie entlastet, (Peter Dreßen [SPD]: Das war früher mal so!– Ute Vogt [Pfortzheim] [SPD]: Aber das müsstest du doch besser wissen!)

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412203200
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412203300

(Peter Dreßen [SPD] Das ist auch nicht wahr!)





Rainer Brüderle
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(C)



(D)



(A)



(B)


haben Sie von der rot-grünen Regierungskoalition dem
ökologischen Denken und Handeln nachhaltig geschadet
und der CDU/CSU den Vorwand für eine flache, populis-
tische Kampagne geliefert.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich gleich am Anfang klarstellen: Die Par-

tei des Demokratischen Sozialismus bekennt sich dazu,
dass es notwendig ist, auch über eine Verteuerung der
natürlichen Ressourcen einen Umschwung zum nachhal-
tigen Wirtschaften und zum sparsamen Umgang mit den
Rohstoffen der Natur zu vollziehen.


(Peter Dreßen [SPD]: Na also!)

Wir sind für eine Ökosteuer, aber nur für eine Ökosteuer,
die diesen Namen auch tatsächlich verdient.


(Beifall bei der PDS)

Die jetzige Ökosteuer gehört ausgesetzt, abgeschafft und
muss durch eine neue ersetzt werden.

Die CDU/CSU nutzt die aus der Verteuerung der Welt-
marktpreise für Rohöl und aus der von Rot-Grün einge-
leiteten steuerlichen Verteuerung der Produkte des Rohöls
und des Stroms entstandene Situation, um die Menschen
vom ökologischen Grundgedanken abzubringen. Ihr
Gesetzentwurf, der heute vorliegt, fordert nur die Rück-
nahme der jetzigen Ökosteuer. Ich frage Sie: Wo sind Ihre
Antworten auf die Probleme? Wie wollen Sie sie lösen?
Die Atomkraft, mit der zukünftige Generationen belastet
werden, kann es als einzige Antwort ja wohl nicht sein.


(Beifall bei der PDS)

An dem Punkt unterscheiden wir uns grundsätzlich von

der rechten Opposition dieses Hauses. Seit Beginn der
Diskussion über eine Ökosteuer haben wir unsere grund-
legende Kritik an den rot-grünen Vorschlägen stets ver-
bunden mit eigenen realisierbaren Vorschlägen für eine
ökologisch wirksame und sozial gerechte Ökosteuer.


(Beifall bei der PDS)

Erstens. Um eine ökologische Lenkungswirkung

tatsächlich zu erzielen, ist es notwendig, bei der Erzeu-
gung der Energie anzusetzen. Selbst die alternative
Stromerzeugung wurde ja von Ihnen in der ersten Stufe
mit belastet, und die 200 Millionen DM für die angeführ-
ten Programme sind zuerst überhaupt nicht im Haushalt
verankert gewesen. Auch da bedurfte es des Drucks der
Opposition.

Zweitens. Die Verteuerung des Energieverbrauchs darf
unserer Meinung nach das produzierende Gewerbe eben
nicht außen vor lassen. Die Unternehmen sind nun einmal
die größten Energieverbraucher und sie bekommen der-
zeit durch die interne Regelung der Ökosteuer von der er-
höhten Strom- und Mineralölsteuer, die sie über 1 000DM
zu zahlen haben, 96 Prozent erstattet. Das bedeutet, dass
kleine und mittelständische Betriebe gegenüber den
Großbetrieben wieder ungerecht behandelt werden.

Drittens kann unserer Meinung nach eine Ökosteuer
nur dann eine ökologische Lenkungswirkung entfalten,
wenn Bürgerinnen und Bürger reale Alternativen haben,
ihr Verhalten zu ändern. Ich nehme nur ein Beispiel: Die

Zahl der Berufspendler ist durch die Knappheit der
Arbeitsplätze, durch Standortwechsel der Unternehmen
und durch steigende Spezialisierung der Arbeitskräfte in
den letzten zehn Jahren sehr angestiegen. Die durch-
schnittliche Entfernung zwischen Wohnung und Arbeits-
platz hat sich von 1987 bis 1997 von 9,7 auf 10,7 km er-
höht. Insbesondere die Zahl der Pendler, die einen
Arbeitsweg zwischen 10 und 40 km zurückzulegen haben,
hat zugenommen.

Dieser Prozess wurde begleitet von einem eklatanten
Rückgang des Angebotes der Bahn, einer vehementen
Verteuerung des öffentlichen Personennahverkehrs, so-
dass die realen Alternativen zum Umstieg für eine Viel-
zahl von Menschen überhaupt nicht mehr gegeben sind.
Ich erinnere nur an die Preise für S- und U-Bahn in Ber-
lin: 4 DM für eine Streckenbenutzung.

Viertens. Die Anbindung der Ökosteuer an die Ren-
tenversicherung war von Beginn an falsch. Es ist er-
staunlich, aber auch begrüßenswert, dass Herr Eichel in-
zwischen laut darüber nachgedacht hat, ob man diese
Anbindung nicht auflösen müsste. Wir fordern: Tun Sie
diesen Schritt sofort. Beginnen Sie damit im Jahre 2001.


(Beifall bei der PDS)

Denn während Unternehmen fast uneingeschränkt von
der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge profitie-
ren, werden ganze Bevölkerungsgruppen von dieser
Kompensation ausgeschlossen: Rentner und Rentnerin-
nen, Studenten, Kinder, Sozialhilfeempfänger, Arbeits-
lose. Wenn man gerade diese Bevölkerungsgruppen mit
einer neuen Steuer belastet, kann man nicht erwarten, dass
diese Bevölkerungsgruppen dem dann noch begeistert
folgen. Das ist sozial ungerecht. Nur eine sozial gerechte
Steuer kann auch tatsächlich von der Bevölkerung getra-
gen werden. Es ist deshalb notwendig, sofort mit Beginn
einer ökologischen Besteuerung einen unmittelbaren so-
zialen Ausgleich für sozial Schwache zu schaffen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412203400
Frau Kollegin Höll,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412203500
Die Vorschläge dafür liegen
auf dem Tisch. Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zur
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale sa-
gen. Ich bin froh, dass es nun auf Druck gelungen ist, die
von uns jahrelang erhobene Forderung zu verwirklichen,
und zwar so, wie es auch im Koalitionsvertrag steht. Ich
glaube, sie ist noch nicht sozial gerecht ausgestaltet. Aber
sie ist immerhin ein erster großer Schritt im Autoland
Deutschland.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412203600
Frau Kollegin, ich
bitte Sie, zum Schluss zu kommen.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412203700
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Unglaublich! Schon drei Minuten über die Zeit!)





Dr. Barbara Höll

11743


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412203800
Das Wort für die Bun-
desregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekre-
tärin Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1412203900
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in den letz-
ten Tagen eine Kampagne, die sich aus Populismus, Heu-
chelei und Lügen zusammensetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh ja!)


Es ist gar nicht so einfach, zu sachlichen Fragestellungen
zurückzukommen, wenn zum Beispiel Herr Brüderle
heute hier eine Mischung aus Kassandra und Klippschule
bietet. Darauf kann man sachlich wirklich nur noch
schwer eingehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Joachim Poß [SPD]: Der kann nicht anders! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich bin neugierig, was Sie bieten, Frau Kollegin!)


Es ist ja wohl fast zu vermuten, dass Sie entweder die
tatsächlich positiven ökonomischen Basisdaten einfach
nicht zur Kenntnis genommen haben oder dass Sie sie be-
wusst schlechtreden, um daraus einen parteipolitischen
Vorteil zu ziehen. Ich weiß nicht, ob das ein verantwor-
tungsbewusster Politiker machen sollte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Tatsache ist – darum geht es heute –: Der Rohölpreis
hat sich seit Ende 1998 mehr als verdreifacht. Das ist die
wichtigste Ursache für das gegenwärtig hohe Niveau der
Kraftstoffpreise. Natürlich wird die Mineralölsteuer von
den Konzernen über die Preise überwälzt. Aber ich darf
daran erinnern: 51 Pfennig Mineralölsteuererhöhung ge-
hen auf das Konto der letzten CDU/CSU-F.D.P.-Regie-
rung unter Kohl. Die Erhöhungen fanden in einem sehr
kurzen Zeitraum statt, nämlich von 1990 bis 1994.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben von der Wiedervereinigung scheinbar nichts gehört! Im Übrigen hat die SPD jedes Mal mitgestimmt!)


– Das hören Sie nicht gern; das würden Sie gern verges-
sen, Sie haben die Mineralölsteuer in zwei Schritten, näm-
lich 1992 und 1994, erhöht.

Damals stieg parallel auch der Rentenversicherungs-
beitrag. Er blieb nicht auf gleicher Höhe, nein, der Ren-
tenversicherungsbeitrag stieg, und zwar fortwährend. Wir
dagegen entlasten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie auch die Arbeitgeber durch eine Senkung des
Rentenversicherungsbeitrags. Auch das wollen Sie nicht
hören.

Die Opposition fordert die Abschaffung der Ökosteuer.
Wer ist das eigentlich, der das fordert? Sind das nicht die
gleichen Leute, die sich noch vor wenigen Jahren für eine
Ökosteuer stark gemacht haben? Haben Sie plötzlich den
Glauben an die Lenkungswirkung von Preisen verloren,
meine Damen und Herren von der F.D.P.? Was ist da ei-

gentlich in Ihren Köpfen geschehen, oder ist die Umwelt
für die Opposition kein schützenswertes Gut mehr?


(Joachim Poß [SPD]: So ist es! Umweltfrevler! – Weiterer Zuruf von der SPD: Alterserscheinung!)


Die Länder hätten schon bald Gelegenheit, die Auto-
fahrer zu entlasten, – wenn das Ihr Anliegen ist. Sie könn-
ten auf die Anhebung der Kfz-Steuer zum 1. Januar
2001 verzichten. Auch Sie, Herr Ministerpräsident Teufel,
könnten das. Das beruht auf einer Gesetzesänderung aus
dem Jahre 1997. Das haben wir nicht in unserer Regie-
rungszeit zu verantworten. Die Kfz-Steuer, deren Auf-
kommen allein den Ländern zugute kommt, steigt im Ja-
nuar um rund 20 Prozent. Wo ist denn da die Initiative der
Länder? Offenbar wollen die Länder im nächsten Jahr auf
die zusätzlichen 2,5 Milliarden DM nicht verzichten. Hier
könnten sie initiativ werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Dreßen [SPD]: Mir gäbet nix!)


Von Ihnen, Herr Teufel, höre ich dazu nichts. Es wäre
doch gar nicht so schlecht, wenn da einmal etwas käme.
Ihnen geht es natürlich nicht um die Sache, sondern um
eine Attacke auf die Bundesregierung. In diesem
Zusammenhang muss ich noch einmal auf Ihre Rede ein-
gehen. Sie haben die zu erwartenden Veränderungen der
Abschreibungstabellen beklagt. Sie wissen doch, das
geht auf ein Urteil des Bundesfinanzhofes zurück, an des-
sen Umsetzung alle Länder beteiligt sind. Dieser Umset-
zungsprozess ist noch nicht zu Ende.

Ich darf auch daran erinnern, dass Sie von der Union in
ihrem Steuerkonzept genauso wie wir in unserem jetzi-
gen Finanztableau von 3,5 Milliarden DM Mehreinnah-
men ausgehen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass es
nicht mehr wird.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen 15 Milliarden abkassieren!)


Ich darf auch daran erinnern, dass Sie von der Union
Ihr Steuerkonzept nur deshalb finanzieren konnten und
nur deshalb den Spitzensteuersatz für die wirklich Gut-
verdienenden auf 35 Prozent senken konnten, weil Sie
zwar wie wir jetzt auch die Einführung einer Entfer-
nungspauschale – das ist ökologisch vernünftig – vorsa-
hen. Aber Sie wollten diese auf 50 Pfennig senken und
zugleich die ersten 15 Kilometer nicht mehr als anrech-
nungsfähig anerkennen.


(Beifall bei der SPD)

So sollten die Autofahrer mit mehr als 5 Milliarden DM
zur Senkung des Spitzensteuersatzes beitragen. Das war
Ihr Steuerkonzept.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie verkaufen die Leute für dumm, Frau Staatssekretärin!)


Dieses Steuerkonzept ist nicht alt. Sie haben dafür noch in
diesem Jahr in diesem Haus und im Bundesrat gefochten.
Die Autofahrer sollten mit über 5 Milliarden DM zur Sen-






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(D)



(A)



(B)


kung des Spitzensteuersatzes beitragen. Das war Ihr Kon-
zept.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Vorher hat man von Halbwahrheiten geredet!)


Die Ökosteuerreform wird von uns so weitergeführt,
wie es im Gesetz steht. Wir spüren bereits die positiven
Folgen für den Arbeitsmarkt. Auch die ersten positiven
Effekte für die Umwelt treten ein. In der Wirtschaft wer-
den neue Produkte entwickelt. Das Innovationspotenzial
ist noch längst nicht ausgeschöpft. Die Automobilindus-
trie hat beispielsweise Autos entwickelt, die mit weniger
Benzin als früher auskommen. Nach und nach werden die
alten Spritfresser durch moderne Autos ersetzt werden.
Der Benzinverbrauch wird zurückgehen, auch wenn die
Fahrleistung nicht abnimmt.

Herr Ministerpräsident Teufel, in diesem Zusammen-
hang möchte ich Folgendes sagen: Es ist schon richtig,
dass die Kfz-Anmeldezahlen in der Bundesrepublik
Deutschland zuletzt zurückgegangen sind. Es ist aber
auch richtig, dass der Grund für die gute Konjunktur nicht
nur der gegenwärtige Euro-Kurs ist. Wie Sie alle wissen,
gehen ungefähr 50 Prozent unserer Exporte in den
Euro-Raum. Daran kann die Veränderung der Paritäten in
der Währung überhaupt nichts geändert haben.

Ich darf Sie darauf aufmerksam machen – als Minis-
terpräsident eines „Autolandes“, das darf man durchaus
so sagen, müssten Sie das wissen –: Wir haben in der Bun-
desrepublik Deutschland zurzeit die historisch jüngste
Autoflotte, die es jemals gegeben hat. Wenn die Marktge-
setze also noch irgendwie gelten, dann scheint es so zu
sein, dass derzeit bei uns ein gewisser Sättigungsgrad er-
reicht ist. Wenn es so ist, dass in Deutschland die durch-
schnittlich jüngste Autoflotte, die es seit Bestehen der
Bundesrepublik gibt, unterwegs ist, dann sind die Auto-
besitzer wohl mit relativ neuen Autos versorgt und es wird
irgendwann eine Welle geben, wo mehr neue Autos ge-
kauft werden.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wenn wir wieder regieren! – Zuruf von der SPD: In Stuttgart wird es auch eine Verjüngung geben!)


In Frankreich haben die Anmeldezahlen deutlich zuge-
nommen, bei gleichzeitig hohen Energiepreisen, die auch
für Privatleute nicht gesenkt worden sind. Das ist aber auf
der Basis einer ganz anderen, viel älteren Autoflotte ge-
schehen. Das können Sie sehen, wenn Sie durch eine fran-
zösische Stadt gehen. Die Wirtschaft in Frankreich ent-
wickelt sich jetzt positiv. Die Menschen haben mehr Geld
in der Tasche und kaufen sich neue Autos. Bei uns ist das
schon seit zwei Jahren der Fall und deswegen haben wir
die historisch jüngste Autoflotte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso beliebig wie Ihre Prinzipien in der Umwelt-
politik – ich bin eben schon darauf eingegangen – ist auch
Ihre Haltung zur Entfernungspauschale.Wir werden ei-
nen Gesetzentwurf Entfernungspauschale, auf die sich die
Regierungsparteien schon in der Koalitionsvereinbarung

geeinigt haben – Herr Brüderle, wir haben das nicht von
Ihnen abgeschrieben, wie Sie meinten; das gilt auch für
die Grünen –, in den Bundestag einbringen.

Die Umsetzung zum 1. Januar 2001 wird allen Arbeit-
nehmern zugute kommen. Da die Entfernungspauschale
mit 80 Pfennig je Kilometer höher als die bisherige Kilo-
meterpauschale für PKW ist, fällt die Entlastung für
Pendler sogar höher aus als die Bruttobelastung durch die
Ökosteuer. Dabei ist die Entlastung durch die Rentenver-
sicherung noch nicht einmal gegengerechnet. Gleichwohl
werden die insgesamt steigenden Benzinpreise nicht voll-
ständig aufgefangen werden können. Zumindest wird
aber die Belastung durch die Ökosteuer aufgefangen.

Herr Brüderle, in diesem Zusammenhang möchte ich
Ihnen eine kleine Nachhilfe in Sachen Umsetzung des
Steuerrechts – das muss man nicht wissen – geben:


(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Frau Lehrerin! Frau Oberlehrerin!)


Unsere Maßnahmen wirken natürlich schon ab dem 1. Ja-
nuar 2001, weil sich jeder Bürger einen entsprechenden
Freibetrag, auf der Lohnsteuerkarte eintragen lassen kann,
sodass er von da an monatlich weniger Steuern zahlt.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das machen die meisten nicht! – Gerda Hasselfeldt [CDU/ CSU]: Was macht derjenige, der keine Steuern zahlt?)


– Diejenigen, die keine Steuern zahlen, sind in der Tat
steuerlich schwer zu entlasten. Das ist nun einmal so.
Dasselbe würde für andere Formen der Entlastung, zum
Beispiel für eine Kilometerpauschale, wie Sie sie vorge-
sehen haben, gelten.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Wir haben aber nicht eine zusätzliche Belastung eingeführt!)


Dort, wo die Preisentwicklung auf den Rohölmärkten
zu sozialen Härten führt, greift die Bundesregierung ein.
Sozialhilfeempfänger, Wohngeldbezieher und Studenten,
die BAföG beziehen, werden einen einmaligen Heiz-
kostenzuschuss bekommen. Dies hat gar nichts mit der
Ökosteuer zu tun; vielmehr geht es um die Preisexplosion,
auf die sich die Menschen so kurzfristig nicht einstellen
konnten. Deswegen wollen wir ihnen mit einer einmali-
gen Beihilfe zur Seite stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich hoffe, dass wir in diesem Hohen Hause eine Min-

destübereinkunft darüber erzielen – ich denke insbeson-
dere an diejenigen, die die Marktwirtschaft so hochhalten,
wie Sie das zumindest sonst immer tun; jetzt scheint Ih-
nen das auf einmal nicht mehr so wichtig zu sein –, dass
der Staat nicht auf Dauer mit Beihilfen gegen weltweit
steigende Preise angehen kann. Deswegen muss dies eine
einmalige Hilfe bleiben. Wir müssen die Bürgerinnen und
Bürger leider bitten, sich darauf einzustellen, dass die
Preise im Laufe des Jahres anhaltend hoch bleiben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204000
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt.




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

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(A)



(B)


Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) (von der CDU/CSU
mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Geschichte der Ökosteuer ist ein Paradebei-
spiel für die fehlende Glaubwürdigkeit dieser Bundesre-
gierung und insbesondere des Bundeskanzlers.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das will ich Ihnen im Folgenden begründen. Erstens.

In der Koalitionsvereinbarung, die Sie am Anfang die-
ser Legislaturperiode abgeschlossen haben, heißt es wört-
lich:

Bei der konkreten Ausgestaltung dieser Schritte
muss auch die konjunkturelle Lage und die Preisent-
wicklung auf den Energiemärkten berücksichtigt
werden.

Mit den Schritten sind die weiteren Schritte der Ökosteuer
gemeint. Die Preisentwicklung und die konjunkturelle
Entwicklung sind also zu beachten. Und was tun Sie?


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Genau das Gegenteil!)


Bei steigenden Preisen und bei Problemen mit der kon-
junkturellen Entwicklung senken Sie nicht die Steuern,
sondern erhöhen sie. Sie machen also genau das Gegen-
teil dessen, was Sie in der Koalitionsvereinbarung ge-
schrieben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Was?)


Wenn Sie glaubwürdig sein wollten, dann müssten Sie das
Kommando schnellstens zurücknehmen und die Öko-
steuer abschaffen.


(Peter Dreßen [SPD]: Außer Schulden machen könnt ihr doch nichts!)


Zweitens. In der Debatte um die Ökosteuer hieß es
vonseiten des Bundeskanzlers von Anfang an, die weite-
ren Schritte würden auf EU-Ebene abgestimmt und har-
monisiert. Das hat er versprochen. Ist dies tatsächlich ein-
gehalten worden? Auf EU-Ebene ist über nichts
abgestimmt worden. Im Gegenteil: Mittlerweile reagieren
andere Länder wie zum Beispiel Frankreich oder die Nie-
derlande auf die gestiegenen Preise und ergreifen eigene
Maßnahmen. Die deutsche Regierung dagegen lässt die
Spediteure, die Landwirte, die Unternehmer und die Bür-
ger im Regen stehen. Das ist das Ergebnis dieser Regie-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Drittens. Der Bundeskanzler hat bei der Verabschie-

dung der ersten Stufe der Ökosteuer gesagt: Ich bedauere,
dass der Eine oder Andere im Monat 10 DM mehr für das
Autofahren, für das Heizen, für Gas zu zahlen hat. Auch
im ungünstigsten Fall ist es nicht mehr; bei 6 Pfennig ist
Ende der Fahnenstange. – Tatsächlich aber sind es eben
nicht 10 DM pro Monat, sondern das Vielfache davon.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: 10 DM pro Woche!)


Tatsächlich ist nicht bei 6 Pfennig Schluss gemacht wor-
den, sondern erst bei 30 Pfennig; das ist also eine Er-

höhung um fünfmal 6 Pfennig. Zusätzlich kommt darauf
noch die Mehrwertsteuer. An diesem Beispiel wird deut-
lich: Diesem Bundeskanzler darf man gar nichts mehr
glauben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Haben Sie einmal in den Kalender geguckt? Sind wir jetzt im Jahr 2005?)


Wenn Sie in Ihren Reihen noch einen Funken an
Glaubwürdigkeit haben, dann müssen Sie die berechtig-
ten Sorgen der Bürger ernst nehmen, auch derjenigen, die
in diesen Tagen demonstriert haben, die uns täglich Briefe
schreiben, die Familien, die Landwirte, die Spediteure,
die Geringverdiener und die Gartenbaubetriebe. Ange-
sichts deren Existenzsorgen müssen Sie die Konsequenz
ziehen und die Ökosteuer abschaffen. Sie passt nicht in
die konjunkturelle Lage, sie passt nicht zur Preisentwick-
lung, sie schwächt die Wettbewerbsposition unserer Be-
triebe und schadet vor allem den sozial schwächeren Bür-
gern.

Es wird immer wieder gesagt, die Einnahmen aus der
Ökosteuer würden für die Rentenversicherung verwen-
det. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, die
Probleme in der Rentenversicherung müssten durch eine
Reform in diesem Bereich gelöst werden. Wenn Sie nach
der Bundestagswahl nicht das, was wir beschlossen hat-
ten, zurückgenommen hätten, dann hätten Sie in der Ren-
tenversicherung heute nicht die Probleme, die Sie nicht
lösen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sogar der Bundesfinanzminister hat gesagt, die Ver-

knüpfung der Ökosteuer mit der Absenkung der Renten-
beiträge – so haben Sie die Ökosteuer immer begründet –
sei falsch. Wo er Recht hat, hat er Recht.


(Joachim Poß [SPD]: Er hat gleichzeitig gesagt, dass wir in den nächsten Jahren keine Veränderungen zu erwarten haben! Sie dürfen nicht immer nur die Hälfte zitieren!)


Wenn aber selbst der Finanzminister das zugesteht, dann
muss die logische Konsequenz sein, dass sie abgeschafft
wird. Man darf sie auf keinen Fall aufrechterhalten oder
sogar noch erhöhen, wie Sie es vorhaben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun wird in diesen Tagen ja angekündigt – auch jetzt

wieder –, dass Sie die Pendler durch die Erhöhung der Ki-
lometerpauschale bzw. die Umgestaltung dieser Kilome-
terpauschale in eine Entfernungspauschale entlasten. Es
wird angekündigt, dass die Wohngeldempfänger und die
Sozialhilfeempfänger durch einen Heizkostenzuschuss
entlastet werden. Ich frage Sie: Was machen Sie dann mit
den Spediteuren und den Gartenbaubetrieben, was ge-
schieht mit den Landwirten und anderen mittelständi-
schen Unternehmen, die zusätzlich belastet sind und in ei-
nem enormen internationalen Wettbewerb mit Firmen in
Ländern stehen, in denen die Regierungen andere Maß-
nahmen ergriffen haben? Was geschieht mit den Familien,
die kein Wohngeld und keine Sozialhilfe beziehen, weil
deren Einkommen etwas darüber liegt, aber sehr wohl






(C)



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niedrige Einkommen haben? Was geschieht mit Auszu-
bildenden, die pendeln müssen, oder mit denjenigen, die
wenig verdienen, weil es zum Beispiel nur einen Verdie-
ner gibt? Diese bezahlen nur wenig Lohn- oder Einkom-
mensteuer und haben deshalb überhaupt nichts von der
Entfernungspauschale, müssen aber trotzdem die gestie-
genen Benzinpreise bezahlen.

Meine Damen und Herren, Sie schaffen mit diesen
Maßnahmen neue Ungerechtigkeiten. Es handelt sich um
eine Flickschusterei. Es wäre viel konsequenter und sozial
gerechter, wenn Sie den Schluss ziehen würden, diese
Ökosteuer ganz abzuschaffen. Dann nämlich könnten Sie
sich all diese Flickschusterei sparen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Zulasten der Länder!)


– Richtig, Herr Kollege Seiffert, zulasten der Länder und
Kommunen.

Der Herr Ministerpräsident hat es ja schon angespro-
chen: Die Länder und Kommunen zahlen bei diesen Aus-
gleichsmaßnahmen – Entfernungspauschale, Heizkos-
tenzuschüsse – mehr als die Hälfte. Die Einnahmen aus
der Ökosteuer aber kassiert der Finanzminister alleine,
genauso wie er die Einnahmen aus den UMTS-Lizenzen
alleine kassiert.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was macht er damit?)


Da kann er natürlich schön den braven Buchhalter spie-
len, wenn er alle Gelder aus dem Abkassieren behält, aber
bei Ausgaben und Mindereinnahmen die Länder und
Kommunen mit einbezieht. Die Kommunen haben – das
möchte ich noch dazu sagen – nicht nur Mindereinnah-
men aufgrund dieser Entscheidungen, sondern sie müssen
auch noch die gestiegenen Preise und die erhöhten Steu-
ern bezahlen, beispielsweise bei den Hallenbädern, den
Bauhöfen, den Schulbussen und dergleichen mehr. In die-
sen Bereichen werden sie noch zusätzlich belastet. Solch
eine Ungerechtigkeit ist nicht mehr tragbar. Ich bin sehr
froh, dass auch einige Ministerpräsidenten aus der SPD
dieses mittlerweile erkannt haben. Ich bin auch gespannt
darauf, welche Entscheidung dann der Bundesrat treffen
wird.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Die werden gekauft!)


Die ganze Ökosteuer-Geschichte war von Anfang an
eine Missgeburt; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Die Entwicklung der Ökosteuer und die Entscheidungen
für die Ökosteuer waren von Anfang an durch nicht ein-
gehaltene Versprechungen der Regierung und des Bun-
deskanzlers begleitet.


(Joachim Poß [SPD]: Was?)

Was jetzt vorgelegt wird, ist nichts anderes als Flickschus-
terei.

Ich möchte Sie deshalb herzlich bitten, einmal über
Ihren Schatten zu springen, einzusehen, dass dies eine
falsche Entscheidung war, und Bereitschaft zu zeigen, die
damals getroffene falsche Entscheidung zu revidieren und
die Steuer endgültig abzuschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204100
Frau Kollegin
Hasselfeldt, es gab noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Berg, aber sie wurde mir leider zu spät signalisiert.

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412204200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man
kann es kurz machen. Da wir heute einen CDU/CSU-An-
trag vorliegen haben, macht es Sinn, noch einmal kurz die
Glaubwürdigkeit der CDU/CSU in dieser Angelegenheit
zu betrachten, und zwar auf zweierlei Weise,


(Joachim Poß [SPD]: Wie können Sie CDU und Glaubwürdigkeit in einem Atemzug nennen, Herr Kollege! Empörend ist das! – Weiterer Zuruf von der SPD: Welche Glaubwürdigkeit?)


indem wir zum einen schauen, was sie früher gesagt ha-
ben und was sie heute sagen, und zum anderen, was sie
hier im Parlament und was sie auf der Straße sagen.

Zu dem Punkt, was sie früher gesagt haben, könnte
man viel zitieren. Das haben wir schon oft gemacht. Wir
haben Herrn Schäuble zitiert, wir haben Herrn Repnik zi-
tiert, wir haben Frau Merkel zitiert und auch Herrn Merz
zitiert. Sie alle waren früher für die ökologische Steuer-
reform.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: In einem ganz anderen Kontext!)


Interessant ist für mich auch, dass sich unter den Namen
auf dem hier vorgelegten Gesetzentwurf weder Herr
Repnik noch Herr Schäuble, noch Frau Merkel, noch Herr
Merz finden, sondern nur Herr Michelbach und die ande-
ren militanten Kämpfer gegen die Ökosteuer.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Joachim Poß [SPD]: Herr Rauen, Frau Hasselfeldt!)


Das heißt also, es gibt offenbar noch gewisse moralische
und intellektuelle Skrupel bei der Führungsspitze der
CDU/CSU. Das ist absolut zu begrüßen. Frau Merkel
wird früher oder später realisieren, dass man nicht nach
dem Motto operieren kann: Was ich früher prima fand,
bekämpfe ich heut’ im ganzen Land! Das glauben die
Leute nicht. – Das ist das Erste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Frau Merkel hat klar Stellung bezogen hier im Parlament! Sie wollten es nur nicht hören!)


Der zweite Punkt ist: Wie redet man hier im Parlament
und wie redet man auf der Straße? Hier im Parlament
heißt es: Wir wären ja für die ökologische Steuerreform,
wenn sie denn ökologisch zielführender wäre, wenn sie
denn europäisch harmonisiert wäre und wenn sie denn
wirtschaftsverträglicher wäre. Draußen auf der Straße
randaliert Michelbach und beklebt Autos des Bundestags-
Fahrdienstes mit „K.O.-Steuer“-Aufklebern. Wer wird
wohl die Kosten für die Reinigung der Autos bezahlen?
Aber das ist eine Nebenfrage.




Gerda Hasselfeldt

11747


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir wollen uns den Argumenten zuwenden. Wie sieht
es denn mit der europäischen Harmonisierung aus? Wie
war es, als die CDU regiert hat? 1990 wollte Klaus Töpfer
eine nationale CO2-Steuer einführen: 10 DM pro TonneCO2. Damit haben ihn seine Parteifreunde aber im Regenstehen lassen; sie haben gesagt: Hier muss es zu einer eu-
ropäischen Harmonisierung kommen. Und was geschah
auf europäischer Ebene? Die Harmonisierung stand kurz
vor dem Abschluss, als sie von Waigel und Bangemann,
die hier so getan haben, als sei dies nur europäisch zu re-
geln, verhindert wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist die gespaltene Zunge, mit der Sie schon damals
gesprochen haben und mit der Sie auch heute sprechen.

Nun zur europäischen Harmonisierung: Wo stehen wir
denn in Europa? Bei den Benzinpreisen liegen wir auf
Platz neun, im hinteren Mittelfeld, beim Strompreis und
beim Heizölpreis im Mittelfeld. Auch von daher ist Ihr Ar-
gument „nationaler Alleingang“ töricht, falsch und irre-
führend.

Wie steht es mit der ökologischen Zielführung der
Ökosteuer? Wir haben neben dem allgemeinen Len-
kungseffekt dieser Ökosteuer verschiedene Begünsti-
gungstatbestände vorgesehen: für die Kraft-Wärme-Kop-
pelung, für die Blockheizkraftwerke, für die Bahn, für den
ÖPNV, für die Erdgasfahrzeuge und für hoch effiziente
Kraftwerke. Dies wirkt. Das sind jedoch die Details, die
Sie überhaupt nicht interessieren.

Was aber wehtut – das führt zum Thema Wirtschafts-
verträglichkeit – ist Folgendes: In Memmingen demons-
trieren die Bauern, und zwar nicht gegen die Ökosteuer,
sondern dafür, dass man mehr für erneuerbare Energien
und nachwachsende Rohstoffe tut – genau das, was wir
wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Berg [SPD])


Die Waldbesitzer geben heute eine Erklärung heraus, in
der es heißt, dass von den hohen Mineralölpreisen der
Rohstoff Holz profitiert, wovon man sich große Zukunfts-
chancen verspricht. In Uelzen gibt es eine ganzseitige An-
zeige des gesamten Handwerks, die etwa so lautet: Leute,
ihr braucht nicht zu demonstrieren! Kommt zu uns, wir
halbieren sofort eure Heizkostenrechnungen! –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Piëch kündigt öffentlich an, VW werde bald das Einliter-
auto bauen, Daimler und BMW setzen auf Wasserstoffau-
tos und Gesamtmetall ist gegen die Abschaffung der Öko-
steuer. Meine Damen und Herren von der Union, ich
verstehe, dass das wehtut. Sie stehen bald allein im Re-
gen. Deshalb ist Ihr Gezeter auch so heftig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Rauen [CDU/CSU]: Ihr werdet noch sehen, worum es geht!)


Abschließend zu Baden-Württemberg und Rheinland-
Pfalz: Herr Ministerpräsident, wir kennen uns nicht per-

sönlich. Ich habe Sie immer als knorrigen Konservativen
wahrgenommen. Aber gerade deshalb verstehe ich Ihr
Staatsverständnis überhaupt nicht. Sind Sie denn ernsthaft
der Meinung, dass wir demnächst neben den Preissäulen
der Tankstellen Finanzbeamte platzieren sollen, und wenn
die Preise steigen, senken wir die Steuer, und wenn die
Preise fallen, erhöhen wir die Steuer? Das kann doch nicht
Ihr Ernst als Konservativer sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich lebe im Rheinland, die Landesgrenze verläuft
200Meter hinter meinem Haus. Deshalb hätte ich gern et-
was zu den fröhlichen Leuten in Rheinland-Pfalz gesagt.
Ich glaube, dass gestern die Stimmung bei den lustigen
Leuten in Rheinland-Pfalz noch erheblich gestiegen ist;
denn die jüngste Umfrage besagt, dass die F.D.P. in der
Wählergunst von 10 auf 7 Prozentpunkte gefallen ist.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Und die Grünen?)

Abschließend zur Kampagne der Union und der F.D.P.

Zur Abschaffung der Ökosteuer möchte ich, leicht modi-
fiziert, Wilhelm Busch zitieren – den kennen Sie alle –:
Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Falsche, das
man lässt. Das geht an Ihre Adresse.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204300
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Nina Hauer von der SPD-
Fraktion.


Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1412204400
Frau Präsidentin! Verehrte Damen
und Herren! Dass Sie hier unlauteres Spiel betreiben, weil
Sie früher selbst die Notwendigkeit einer ökologischen
Steuerreform bejaht haben, ist Ihnen heute schon oft ge-
nug vorgehalten worden. Aber unlauter ist Ihr Spiel auch
deshalb, weil Sie die eigentliche Ursache der hohen Ben-
zinpreise, die die Leute drücken, immer noch nicht be-
griffen und hier auch nicht genannt haben. Die eigentliche
Ursache ist die Preiserhöhung durch die Mineralölkon-
zerne und nicht die Ökosteuer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Rauen [CDU/CSU]: Und der Kanzler, dem der schwache Euro gefällt!)


In Ihrem Antrag verweisen Sie mit Recht darauf, dass
wir einen bemerkenswert guten wirtschaftlichen Auf-
schwung in Deutschland genommen haben, seit die rot-
grüne Koalition an der Regierung ist. Für diesen Auf-
schwung gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser
Gründe ist sicherlich, dass es uns gelungen ist, die Ar-
beitskosten zu senken.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Ach was! Wer glaubt denn dieses Märchen?)


Dies ist uns gelungen, weil wir die Ökosteuer eingeführt
haben. Das Prinzip der Ökosteuer ist: Wir verteuern die
Energie ein bisschen, senken aber dafür die Beiträge für
die gesetzliche Rentenversicherung.




Dr. Reinhard Loske
11748


(C)



(D)



(A)



(B)


Dass diese Steuer ökonomisch sinnvoll ist, zeigt sich
an den Beschäftigungszahlen – wir haben allein in diesem
Jahr 171 000 Beschäftigte mehr – und an der Tatsache,
dass die Arbeitnehmereinkommen entlastet werden, weil
die Menschen weniger in die Rentenversicherung ein-
zahlen. Wir entlasten damit natürlich auch die Arbeitge-
ber. Zu diesen Entlastungen gibt es wirtschaftspolitisch
keine Alternative. Es wäre ausgesprochen unsinnig, diese
Entlastungen zurückzunehmen,


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wartet es mal ab! Mal gucken, was die nächste Wahl so bringt!)


weil das dazu führen könnte, dass wir diesen erfolgrei-
chen wirtschaftspolitischen Kurs nicht fortsetzen können.

Es ist natürlich auch klar, was passieren würde, wenn
wir heute beschließen würden, die Ökosteuer zu strei-
chen. Jeden Pfennig, den wir mit der Steuer herunterge-
hen, zahlen wir morgen aufgrund einer Benzinpreiser-
höhung an der Tankstelle wieder zurück. So funktioniert
das marktwirtschaftliche Prinzip. Es wundert mich, dass
Sie von der CDU/CSU, aber auch Sie von der F.D.P. im-
mer noch nicht richtig verstanden haben, wie dieses Prin-
zip funktioniert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: Vielen Dank für die Nachhilfestunde!)


Angenommen, wir würden mitspielen und die Öko-
steuer streichen: Was würden Sie eigentlich machen,
wenn zum Beispiel die Shell AG ihre Ankündigung wahr
macht, im Falle eines gesunkenen Barrelpreises beim
Benzinpreis nachzugeben? Dann würde das Benzin zwar
weniger kosten, aber die Menschen müssten einen höhe-
ren Rentenversicherungsbeitrag zahlen. Das würde die
Einkommen und den Mittelstand wieder belasten. Von
Entlastung kann dann also keine Rede sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu Ihrem Antrag. Phantasievolle Finanzpolitikmag ja
den einen oder anderen in der CDU/CSU-Fraktion an-
sprechen. Aufgrund dieses bemerkenswerten wirtschaftli-
chen Aufschwungs haben wir natürlich mehr Steuerein-
nahmen.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Kassiert alle der Finanzminister!)


Diese Steuereinnahmen schätzen Sie in Ihrem Antrag auf
18 Milliarden DM. Sie wollen diese Einnahmen verwen-
den, um die Abschaffung der Ökosteuer gegenzufinanzie-
ren. Diese Mehreinnahmen stehen aber dem Bund, den
Ländern und den Kommunen zu. Ich weiß nicht, ob Sie
sich einmal überlegt haben, ob die Länder und die Kom-
munen dem Bund ihren Anteil für die Gegenfinanzierung
überlassen würden. Ministerpräsident Teufel hat heute
Morgen nichts darüber gesagt, ob er diese Einnahmen
dem Bund zur Verfügung stellen würde. Diese Einnahmen
stehen nicht dem Bund alleine zu, sie müssen aufgeteilt
werden.

Nach Ihrer eigenen Berechnung – das ist übrigens auch
das Ergebnis unserer Berechnung – sollen die Ausfälle al-
lein im ersten Jahr 22 Milliarden DM betragen. Diese
müssten durch die Mehreinnahmen aufgrund der guten
Konjunktur gegenfinanziert werden. Auf der einen Seite
haben wir also Mehreinnahmen von 18 Milliarden DM,
die unter den drei staatlichen Ebenen aufgeteilt werden
müssen, und auf der anderen Seite gibt es Ausfälle von
22 Milliarden DM, die gegenfinanziert werden müssen.
Meine verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU,
wenn Sie so rechnen, dann wird mir klar, warum wir zu
1,4 Billionen DM Schulden gekommen sind.


(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: 1,5 Billionen DM waren es!)


Das ist eine Finanz- und Haushaltspolitik, die zwar sehr
phantasievoll sein mag, die aber doch riskiert, dass wir
eine solide Konsolidierung unserer Finanzen nicht errei-
chen können. Sie sollten sich das also noch einmal über-
legen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Sie müssen in der Historie ein bisschen weiter zurückgehen, bevor Sie so kluge Reden halten!)


Sie argumentieren mit den Belastungen für die mittel-
ständischen Unternehmen.Wir wissen, dass die kleinen
und mittelständischen Unternehmen unter der hohen Ab-
gabenlast gelitten haben, die Sie während Ihrer Regie-
rungszeit verursacht haben. Wir konnten dies den vielen
Gesprächen entnehmen, die wir mit ihnen geführt haben.
Wir haben deshalb immer wieder gesagt – beispielsweise
im Rahmen der Debatte über die Steuerreform –: Wir kön-
nen uns nicht darauf einlassen, dass Sie gemeinsam mit
wenigen Funktionären, zum Beispiel mit Funktionären
der Handwerksverbände, immer nur darauf insistieren,
den Spitzensteuersatz auf abenteuerliche 38 Prozent zu
senken.

Wir haben immer wieder gesagt, dass diese Maßnahme
den kleinen und mittelständischen Unternehmen in unse-
rem Land nicht gerecht wird. Diese Unternehmen brau-
chen eine ganz andere Entlastung. Wir können ihnen nicht
mit einer Senkung des Spitzensteuersatzes helfen.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Ach du meine Güte! Sie durchblicken nichts! Gebetsmühlenartig wird der Unfug permanent wiederholt! Unglaublich!)


Diesen Unternehmen helfen wir, indem wir sie auf breiter
Front entlasten. Das haben wir getan. Die kleinen und mit-
telständischen Unternehmen spüren das. Von einer Belas-
tung kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: Es gibt eine
Entlastung für die kleinen und mittelständischen Betriebe,
für die Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenhaushalte
von 93 Milliarden DM. Ich denke, das kann sich sehen
lassen. Wir haben das im Gegensatz zu Ihrem Antrag – das
habe ich Ihnen eben vorgerechnet – auch solide finanzie-
ren können.

Wir tun aber noch mehr. Wir entlasten auch diejenigen,
die darauf angewiesen sind zu pendeln. Es sind übrigens
ungefähr 14 Prozent aller berufstätigen Menschen in




Nina Hauer

11749


(C)



(D)



(A)



(B)


unserem Land, die mehr als 25 Kilometer zur Arbeit
fahren.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: 5,60 DM mehr an jedem ersten Januar! Damit das klar ist! Rechnen Sie das ruhig mal aus!)


Ich weiß, dass in der einen oder anderen Region mehr
oder weniger Menschen – auch in meiner Region sind es
übrigens mehr Menschen – auf das Auto angewiesen sind.
Denen wollen wir jetzt helfen, indem wir die Entfer-
nungspauschale einführen. Dass wir dies als eine Maß-
nahme, um die Mobilität zu unterstützen, sowieso getan
hätten, passt in die politische Konzeption unserer Politik.

Wir unterstützen mit unserer Ökosteuer eine Konstruk-
tion, die die Belastungen vom Faktor Arbeit wegnimmt
und die Energiekosten anhebt, indem eine Querfinanzie-
rung stattfindet. Dies ist ein sinnvoller Vorgang. Unsere
wirtschaftlichen Daten sprechen dafür. Insofern können
Sie Ihren öffentlichen Druck meinetwegen auf der Straße
oder auch mit anderen Kampagnen fortsetzen. Wir wer-
den uns diesem Druck nicht beugen. Vor allen Dingen,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sind wir
nicht erpressbar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der F.D.P.: Warten Sie mal, was Ihr Kanzler macht!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204500
Frau Kollegin Hauer,
bevor wir fortfahren, möchte ich eine Bemerkung ma-
chen. Dem Präsidium ist eben die Nachricht zugetragen
worden, dass Sie morgen heiraten. Im Namen des Hauses
wünsche ich Ihnen „Toi, toi, toi!“ für den morgigen, wich-
tigen Tag in Ihrem Leben.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die

Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
14/4097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes

(5. StVollzGÄndG)

– Drucksache 14/4070 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Stünker, Götzer, Beck, van Essen und
Jelpke haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. – Ich sehe
im Namen des gesamten Hauses Einvernehmen damit,
dass sie dies getan haben.

Deshalb sind wir bereits beim Überweisungsvorschlag.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 14/4070 an den in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Auch das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe deshalb den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Namens-
aktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsaus-
übung (Namensaktiengesetz – NaStraG)

– Drucksache 14/4051 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Brinkmann, Tiemann, Margareta Wolf
und Barbara Höll haben ihre Reden bereits zu Protokoll
gegeben. Es gibt jedoch seitens der F.D.P.-Fraktion einen
Redewunsch. Deshalb erteile ich dem Kollegen Rainer
Funke das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1412204600
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen.
Ich halte Sie hier nicht im Schnack auf, wie man in Ham-
burg sagen würde. Ich habe vielmehr um das Wort gebe-
ten, weil ich das Namensaktiengesetz durchaus begrüße.
Wir werden daran mitwirken, dass dieses Gesetz im
Rechtsausschuss schnell beraten wird. Wir möchten aber
auch, dass die Regelung des so genannten VW-Gesetzes,
dass Dauervollmachten bei der Hauptversammlung von
VWnicht möglich sind, mitberaten und aufgehoben wird.
Das ist der eine Punkt.

Weiterhin möchten wir anregen, dass die Unsitte eini-
ger Daueropponenten in den Hauptversammlungen, An-
fechtungsklagen anzukündigen und häufig auch umzu-
setzen, gesetzlich untersagt werden muss. Die Firmen und
damit auch die Arbeitnehmer nehmen dadurch nämlich in
erheblichem Maße Schaden. Die Daueropponenten tun
dies nicht etwa, weil es Ihnen um den Minderheitenschutz
geht, sondern ausschließlich, um sich selber zu berei-
chern, indem sie die Gesellschaft abzocken. Sie verlangen
von ihr, bestimmte Beträge zu zahlen. Anschließend neh-
men sie die Anfechtungsklage zurück. Diese Unsitte muss
endlich aufhören.

Beim Deutschen Juristentag ist darüber debattiert wor-
den. Es wäre denkbar – ich bitte Herrn Staatssekretär
Pick, sich dafür einzusetzen –, dass wir in den Bericht-
erstattergesprächen eine Formulierung finden, die analog
zu § 16 Abs. 3 Umwandlungsgesetz ist, damit diese Un-
sitte endlich bekämpft wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204700
Der Parlamentarische
Staatssekretär Eckhart Pick gibt seine Rede ebenfalls zu
Protokoll.




Nina Hauer
11750


(C)



(D)



(A)



(B)


Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/4051 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Finanzgerichtsordnung und an-
derer Gesetze (2. FGOÄndG)

– Drucksache 14/4061 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Hartenbach, Tiemann, Wilhelm, Funke,
Kenzler sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Eckhart Pick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. –
Ich sehe keinen Widerspruch gegen dieses Verfahren.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzes-
entwurfs auf Drucksache 14/4061 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 e sowie Zusatz-
punkt 13 auf:
23. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Gemeinsamen Protokoll vom 21. September
1988 über die Anwendung des Wiener Über-
einkommens und des Pariser Übereinkommens

(Gesetz zu dem Gemeinsamen Protokoll über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens)

– Drucksache 14/3953 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit

ZP 13 Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur

( setz zur Änderung des Atomgesetzes)

– Drucksache 14/3950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Kubatschka, Grill, Hustedt, Homburger
sowie Bulling-Schröter haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben. – Auch hier sehe ich keinen Widerspruch im
Hause.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/3953 und 14/3950 an die

in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Auch hier gibt es keine anderweitigen Vor-
schläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur anhaltenden
öffentlichen Diskussion über den weiter zuneh-
menden Wohnungsleerstand in Ostdeutschland
und zum Arbeitspapier der ostdeutschen Län-
der anlässlich der 101. Bauministerkonferenz

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die PDS-
Fraktion der Kollegin Christine Ostrowski das Wort.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1412204800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Haus war heute Vormittag voll
besetzt, als wir die Debatte zum zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit führten. CDU und SPD haben die Er-
folge benannt und sich die Argumente gebührend um die
Ohren geschlagen. Dabei waren Sie sich in einem einig:
Es wächst zusammen, was zusammengehört.

Nichts aber hat sich in den zurückliegenden Jahren so
weit auseinander entwickelt wie der Wohnungsmarkt in
Deutschland. Hier ist nichts von Einheit zu spüren. Er
wächst auch nicht zusammen. Er ist so gespalten, wie er
es noch nie zuvor war. Über leer stehende Wohnungen
wurde heute früh kein Wort verloren. Tote Fenster passen
auch schlecht zu Jahrestagen.

Der Wohnungsleerstand kommt jetzt vor leerem Haus
zur Sprache, aber über 1 Million leere Wohnungen in Ost-
deutschland gehören zur Bilanz deutscher Einheit. Zum
ersten Mal in der neueren deutschen Geschichte steht der
Abriss von Wohnungen auf der Tagesordnung. Es gibt
eine Vermögensentwertung, die ohne Beispiel ist. Zum
ersten Mal gibt es Konkurse kommunaler Wohnungsun-
ternehmen. Zum ersten Mal schrumpfen Städte und es be-
steht die Gefahr ihres Zerfalls, nicht nur baulich, sondern
auch sozial. Das ist ein historisch einzigartig negativer
Zustand. Leere Wohnungen sind der äußere Ausdruck tie-
fer liegender Prozesse. Ich rede jetzt hier nicht von der
Standortpolitik der DDR, nicht vom Wegbrechen von Ar-
beitsplätzen und auch nicht von ungeahnten Forderungen
nach Sonderabschreibungen und ähnlichem. Das alles
trifft zu. Ich rede hier und jetzt von einer Völkerwande-
rung, die für Deutschland in diesem Jahrhundert – wenn
ich die Kriegsfolgen ausnehme – ohne Beispiel ist.

Über 2 Millionen Menschen haben in den letzten zehn
Jahren den Osten verlassen und sich im Westen angesie-
delt, haben dort einen neuen Lebensmittelpunkt gefun-
den. Es sind vorwiegend die Jüngeren gegangen, die
Flexibleren. Zurückgeblieben sind die Älteren, die weni-
ger Flexiblen. Die Tatsache, dass auch von West nach Ost
1 Million Menschen wanderten, konnte den absoluten
Verlust nicht kompensieren. Die Bevölkerungsbilanz von
zehn Jahren deutsche Einheit heißt eben ein Defizit von
weit über 1 Million Menschen, das nicht rückgängig zu
machen ist.




Vizepräsidentin Petra Bläss

11751


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Abwanderung wird allen Prognosen nach weiter
anhalten, aber – das ist das nunmehr gravierendere Pro-
blem – sie wird überlagert durch den natürlichen Bevöl-
kerungsrückgang. In den nächsten 15 Jahren wird die Zahl
der Todesfälle die Zahl der Geburten übersteigen. Zu wei-
ter anhaltender Abwanderung wird ein weiteres Defizit
von 10 Prozent hinzukommen, das durch nichts und durch
niemanden aufzuhalten ist. Dazu sinkt die Zahl der Jün-
geren rapide und die Zahl der Älteren nimmt rapide zu.

Betroffen sind wiederum jene Städte, die heute schon
unter Abwanderung leiden, wie Wittenberge, Hoyers-
werda, Wolfen, Schwedt usw. Und so sind leere Wohnun-
gen nur die Spitze des Eisberges eines wirklich ernsthaf-
ten Prozesses.

Heute noch unsichtbar sind Vermögensentwertungen.
Sie beginnen bei einer Wohnung, bei einem Gebäude, und
sie werden sich bei der Infrastruktur fortsetzen und auf sie
übergreifen. Unsichtbar sind auch noch die Folgen der
mangelnden, der sinkenden Nachfrage nach Wirtschaft,
nach Dienstleistungen, die Folgen der wegen der Alterung
veränderten Nachfrage. Verdeckt sind noch die Folgen für
die Sozialstrukturen der Städte.

Im Moment schlägt dieser Prozess unerbittlich und
knallhart auf die wirtschaftliche Seite der Wohnungsun-
ternehmen durch. Leere Wohnungen verursachen – so hat
das Institut Empirica bilanziert – Kosten von 2,2 Milliar-
den DM pro Jahr. Ich wiederhole diese Zahl: 2,2 Milliar-
den DM pro Jahr. Allen hier ist klar, dass diesen 2,2 Mil-
liarden DM Kosten keine 2,2 Milliarden DM Einnahmen
gegenüberstehen. Im Gegenteil, denn die Wohnungsun-
ternehmen sind gleichzeitig durch finanzielle Forderun-
gen belastet, die sie aufgrund von für die Modernisierung
aufgenommenen Krediten zu erfüllen haben.

Leere Wohnungen gibt es überall. Es gibt sie im Altbau
in den Innenstädten, zum Beispiel in Görlitz, in Leipzig,
in Wittenberge. Es gibt sie in Plattenbaugebieten wie
Hoyerswerda, Schwedt und Weißwasser. Es gibt sie in un-
terschiedlichem Ausmaß, in Dranske schon über 50 Pro-
zent, in Hoyerswerda bei 30 Prozent. Aber selbst ein
Wachstumsknoten wie die Landeshauptstadt Dresden hat
einen Wohnungsleerstand von 17 Prozent.

Meine Damen und Herren, der Markt wird hier nichts
richten. Die Bundesregierung wird vor einer Grund-
satzentscheidung stehen. Entweder sie verhält sich so, wie
sie sich bisher verhalten hat, das heißt, außer einigen kos-
metischen Maßnahmen tut sie nichts. Dann wird sich die
Lage, weil die natürliche Bevölkerungsentwicklung nicht
zu ändern ist, unabänderlich zu einer extremen Lage aus-
weiten. Wir werden mit dem weiteren Zerfall von Sozial-
strukturen, mit dem Zerfall von Infrastruktur, mit Kon-
kursen, mit der Ausweitung von Vermögensentwertung,
auch mit sterbenden Orten zu tun haben. Oder die Bun-
desregierung nimmt die bestehenden Tatsachen zur
Kenntnis und macht sie zur Grundlage ihres Handelns und
entscheidet sich im Wissen darum, wie dieser Prozess ver-
läuft, für das einzig Mögliche, nämlich für einen hohen
Subventionsaufwand.

Dieser Subventionsaufwand ist gerechtfertigt und not-
wendig, wenn man nicht die Gefahr des Auseinanderbre-

chens von Städten in Kauf nehmen will. Diese Gefahr ist
ernst und sie erzwingt diesen Aufwand, den die
Bundesregierung zu leisten hat, auch unter Beteiligung
der Länder und Kommunen, aber auf gar keinen Fall mit
einem Anteil der Bundesregierung, der unter demjenigen
der Städte, der Länder und der Wohnungsunternehmen
liegt.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412204900
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Kollege Peter Danckert.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1412205000
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren Kollegen! Der strukturelle Woh-
nungsleerstand, über den wir heute hier reden, ist – darü-
ber gibt es gar keinen Zweifel, Frau Ostrowski – in Ost-
deutschland ein wichtiges Problem. Es ist aber auch ein
sehr schwieriges und vielschichtiges Problem, für dessen
Lösung es keine Patentrezepte gibt. Das ist auch das Er-
gebnis der Bauministerkonferenz vom 4. September die-
ses Jahres.

Ich füge hinzu: Es ist in meinen Augen auch ein ge-
samtdeutsches Problem – das übersehe ich keineswegs –
mit erheblichem sozialen Sprengstoff. Das bedeutet, dass
wir uns gemeinsam bemühen müssen. Insofern ist dies gar
kein Feld für parteipolitische Auseinandersetzungen.
Deshalb verkneife ich mir jeden Rückblick auf die Ent-
stehungsgeschichte dieses Problems an dieser Stelle. Das
hilft weder uns noch den Menschen.

Wir brauchen für die Lösung einen Gesamtansatz, an
dem alle mitwirken müssen: Der Bund – darauf komme
ich nachher noch –, die Länder, die Kommunen, die Woh-
nungswirtschaft und – auch das ist für mich ein ganz
wichtiger Gesichtspunkt – die Kredit gebenden Banken
müssen mitwirken. Sie haben an diesem Vorgang etliche
Märker verdient und sollten jetzt, wie es in jeder krisen-
haften Situation bei jedem Wirtschaftsunternehmen der
Fall ist, ihren Beitrag zur Lösung des Problems leisten.

Wir alle kennen die Ursachen für diesen strukturellen
Leerstand. Das sind die hohe Arbeitslosigkeit, der Weg-
zug jüngerer Menschen, der damit in Verbindung steht,
der Geburtenrückgang, der damit ebenfalls zusammen-
hängt, und die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. All
diese Gesichtspunkte machen deutlich, dass es sich hier
um ein Problem handelt, das so vielschichtig ist, dass man
hier nicht mit einer einzigen gesetzlichen Regelung etwas
verbessern kann.

Jeder hat in seinem Wahlkreis Beispiele für die ka-
tastrophale Situation. Ich kann aus Luckenwalde, der
Kreisstadt meines Wahlkreises, berichten. Die Zahl der
Bevölkerung ist von 1990 bis jetzt etwa um 12 Prozent
zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa
17,4 Prozent. Der Wohnungsleerstand beträgt über das
Ganze gesehen etwa 23 Prozent. Bei den Wohnungsun-
ternehmen sind es 45 Prozent, bei dem restitutionsbe-
hafteten Wohnungsbestand sogar 75 Prozent. Das sind
erschreckende Zahlen. Sie zeigen, dass wir an dieser




Christine Ostrowski
11752


(C)



(D)



(A)



(B)


Stelle eingreifen müssen. Aber wie gesagt, ein Patent-
rezept gibt es dafür nicht. Wir müssen mit einem Bün-
del von Maßnahmen versuchen, dieses Problem zu lö-
sen.

Es ist klar, dass sich in den Bereichen, in denen es Leer-
stand gibt, soziale Verwerfungen ergeben: für die Mieter,
die sich in diesem Umfeld natürlich nicht besonders wohl
fühlen, und für die Wohnungsunternehmen, denen der
Leerstand wirtschaftliche Probleme verursacht. Insofern
sind alle aufgerufen, hier mitzuwirken und diesen Miss-
stand zu beseitigen.

Ich will nur einmal andeuten, dass wir die Wohngeld-
Novelle auf den Weg gebracht haben. Andere Verbesse-
rungen in dem sozialen Bereich sind die Erhöhung des
Kindergeldes und die Auswirkungen der Steuerreform.
Aber wir werden versuchen, das Problem der Wohnungs-
wirtschaft mit der Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz
und hier insbesondere mit dem § 6a anzugehen, der die
Ermächtigung für den Erlass einer Rechtsverordnung be-
inhaltet. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz in Kürze
auf den Weg gebracht werden kann.

Aber es geht nicht nur darum, dass wir hier eine
Rechtsverordnung vorlegen, die den Bedürfnissen, die für
alle klar zu erkennen sind, Rechnung trägt. Wir müssen
auch – das ist das Entscheidende – im Haushalt die Mit-
tel zur Verfügung stellen, um dieseAufgabe zu lösen. Das
ist etwas, von dem ich hoffe, dass es in diesenWochen an-
gegangen werden kann; denn wir haben 1Million leer ste-
hende Wohnungen. Wir müssen bei den Wohnungsunter-
nehmen, die von der Krise besonders betroffen und in
ihrer Existenz gefährdet sind, rund 100 000 Wohnungen
rückbauen. Das bedeutet in vielen Bereichen einen er-
heblichen finanziellen Kraftakt. Der Bund muss dazu sei-
nen Anteil leisten, indem er weitere Teilentlastungen be-
willigt. Die Länder müssen bei der Erstellung eines
Sanierungskonzeptes mitwirken. Ebenso müssen die
Kommunen mitmachen. Und auch – so steht es auch in
der amtlichen Begründung zum Altschuldenhilfe-
Gesetz – die Kredit gebenden Banken müssen ihren Bei-
trag leisten.

Wir müssen weitere Verbesserungen vornehmen. Auch
das, was im Rahmen der Mietrechtsreform gemacht wird,
ist wichtig. Wir müssen die Verwertungsmöglichkeiten
eröffnen. Wenn ein Rückbau vorgesehen ist und die Mit-
tel dafür zur Verfügung stehen, kann es nicht sein, dass ein
einzelner Mieter diese Sanierung verhindern kann.

Wir können also sehen, dass an verschiedenen Stellen
eingegriffen werden muss, um einen gemeinsamen Lö-
sungsansatz für dieses doch sehr schwierige Problem zu
finden. Wir sind alle aufgerufen, hieran mitzuwirken. In-
sofern kam die Aktuelle Stunde an diesem Tage, an dem
heute Morgen im Plenum der Verwirklichung der deut-
schen Einheit große Aufmerksamkeit geschenkt wurde,
noch im richtigen Moment. Übrigens hat Bundeskanzler
Schröder sehr wohl etwas zu der Problematik gesagt.


(Widerspruch der Abg. Christine Ostrowski [PDS])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412205100
Herr Kollege
Danckert, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1412205200
Natürlich kann man in ei-
ner so umfassenden Regierungserklärung diesen Punkt
nur streifen, aber er hat es erwähnt.

Ich finde, wir sollten alle daran mitwirken, dass es zu
einem erfolgreichen Abschluss bei der Lösung dieses
schwierigen Problems kommt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412205300
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt Kollege Manfred Grund.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1412205400
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Probleme
sind durch die Vorredner hinreichend beschrieben wor-
den. Ungefähr 1 Million Wohnungen stehen in den neuen
Bundesländern leer, Fluktuation und Wegzug sind nicht
zu stoppen, das Überangebot von Wohnungen führt zu
Mietpreisverfall, Angebot und Nachfrage am Wohnungs-
markt stehen in keiner Relation. Im Ergebnis droht jedem
sechsten kommunalen Wohnungsunternehmen in den
neuen Bundesländern die Pleite.

Dies ist im zehnten Jahr der deutschen Einheit – wir ha-
ben heute Morgen Bilanz gezogen – keine zufrieden stel-
lende Bilanz. Wir wünschten uns, weiter zu sein. Aber wir
hätten es auch schlechter treffen können.

Wie war die Ausgangslage? Nach dem 8. Parteitag der
SED war das Wohnungsbauprogramm Schwerpunkt ei-
ner proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozial-
politik; das Wohnungsproblem als soziales Problem
sollte bis 1990 in der damaligen DDR gelöst sein. Der
Volksmund spottete: Bis 1990 jedem eine Wohnung und
bis 1995 jedem seine Wohnung. Es entstanden Platten-
bauten mit zunehmend schlechterer Qualität undAusstat-
tung. Heizungen waren nicht regulierbar, Dichtungsfugen
in Plattenbauten wurden nicht mehr abgedichtet und
Wohngebietsstraßen wurden als sandgeschleppte Schot-
terwege ausgeführt. Arbeiterschließfächer, Arbeiterinten-
sivhaltung – das war die spöttische Umschreibung dieses
kollektivierten Wohnens.

Und doch: Neubauwohnungen, Plattenbauten waren
begehrt. Hier gab es Zentralheizung, warmes Wasser und
meist ein intaktes Dach. Denn mit der Konzentration auf
den Bau von Neubauwohnungen gingen der Verfall und
die Verwahrlosung der Altbausubstanz einher: defekte
Fenster, undichte Dächer, aufsteigende Feuchtigkeit,
keine ausreichenden Sanitäranlagen. Dies war der Alltag
kommunaler Altbauwohnungen und zunehmend auch der
noch privaten Mietshäuser, für die es keine Baubilanzen
gab, sodass vielen Eigentümern nichts anders übrig blieb,
als ihre Häuser dem Staat zu schenken.

Die Verwahrlosung der Innenstädte, der Verfall der Alt-
bausubstanz hatte System: Ruinen schaffen ohne Waffen.




Dr. Peter Danckert

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(D)



(A)



(B)


Sarkastischer und hoffnungsloser als der Volksmund
konnte man diesen von der SED zu verantwortenden Ver-
fallsprozess nicht umschreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.] – Zuruf des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])


– Da kann man lachen? Ich kann nicht darüber lachen; mir
fehlt da wahrscheinlich Ihr Humor.

Dies war 1990 die Ausgangslage: Millionen nicht be-
wohnbarer Altbauwohnungen, Millionen sanierungsbe-
dürftiger Neubauwohnungen. Die Quote an Eigenheimen
und privatem Wohnraum lag weit unter dem Durchschnitt
Westdeutschlands und der europäischen Staaten.

Seit 1990 sind in die Wohnungsmodernisierung in den
neuen Bundesländern Milliarden investiert worden, öf-
fentliche Mittel und private Gelder. Aus Ruinen wurden
blühende Städte.


(Christine Ostrowski [PDS]: Ja, natürlich!)

In Erfurt konnte das historische, zum Abriss preisgege-
bene Andreasviertel gerettet werden.

Das Wohnungsproblem als soziales Problem ist gelöst.
Aus Mietersicht sind Wohnungsleerstand und Mietpreis-
verfall keine schlechte Sache. Aber ein auf Dauer funk-
tionierender Markt braucht ein Gleichgewicht zwischen
Angebot und Nachfrage. Das heißt, dauerhaft leer ste-
hende Wohnungen müssen durch Rückbau oder durch Ab-
riss vom Markt genommen werden. Dazu braucht es öf-
fentliche Gelder und gute Konzepte. Hier ist zuerst der
Bund gefragt, aber auch Länder und Kommunen.

Es gibt noch eine andere Dimension – auch sie ist an-
gesprochen worden –: Dem Bevölkerungsrückgang, dem
Wegzug in die alten Bundesländer muss gegengesteuert
werden. Es darf keine Wegzugprämie geben, wie sie im
SGB III beim Wechsel des Arbeitsplatzes oder bei der
Aufnahme einer Ausbildung in den alten Bundesländern
vorgesehen ist.

Der Freistaat Sachsen hat ein Ausbildungsprogramm
aufgelegt, wonach es einen Kredit gibt, den man nur dann
zurückzahlen muss, wenn man sich in den alten Bundes-
ländern ausbilden lässt und nicht nach Sachsen zurück-
kommt.


(Christine Ostrowski [PDS]: Die haben den größten Bevölkerungsrückgang!)


Das ist eine Stimulierung zur Rückkehr. Ich glaube, das
müssen wir einmal miteinander diskutieren. Wir müssen
schauen, ob man da nicht mehr machen kann.

Die öffentlichen Mittel, die zurzeit für Abwanderung
gezahlt werden, müssen in Arbeitsplätze und Ausbil-
dungsplätze in den neuen Bundesländern investiert wer-
den. Dies ist eine Investition, die sich auch für die
Wohnungsbauunternehmen lohnen wird.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412205500
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Erst einmal muss ich, ähnlich wie die Kollegin
Ostrowski, mein Bedauern ausdrücken, dass die Diskus-
sion über die deutsche Einheit heute Morgen teilweise zu
einer Aufrechnung über bessere und schlechtere Vereini-
gungsmacher missbraucht wurde.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das haben Sie nicht nötig, Frau Eichstädt-Bohlig!)


Das fand ich sehr problematisch. Ich freue mich, dass wir
uns überwiegend einig sind, dass die Menschen und die
Städte in Ostdeutschland es durchaus verdient haben, dass
wir über ihre Probleme sehr ernsthaft und nicht mit Recht-
haberei, wie sie heute Morgen inszeniert wurde, diskutie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, inzwischen besteht auch darüber Einigkeit –

es hat ein Jahr intensiven Anstoßens gebraucht, dass die-
ses Problem überhaupt ins Bewusstsein kam; bei vielen
Westdeutschen ist es noch gar nicht im Bewusstsein, weil
sie nicht wissen, wie die Verhältnisse im Ostteil sind –,
dass wir einen dramatischen Bevölkerungsrückgang und
Strukturwandel haben. Insgesamt sind die Bevölke-
rungszahlen im Osten bis 1998 um 5 Prozent zurückge-
gangen. Entscheidend ist aber, dass die Städte 12 bis
15 Prozent der Bevölkerung verloren haben, die eine
Hälfte durch Arbeitsplatzsuche – sei es nach West-
deutschland, sei es in andere Städte –, die andere Hälfte
durch wohnungsbezogene Stadt-Umland-Wanderung, in
der Regel in die kleineren Umlandgemeinden.

Herr Kollege Grund, Sie haben das Herunterwirtschaf-
ten der Innenstädte und Altstädte durch die SED-Politik
stark kritisiert. Diese Kritik teile ich völlig. Aber ich muss
schon sagen, dass die Politik der gießkannenmäßigen För-
derung von Neubauten in den Umlandgemeinden in Ost-
deutschland nach dem Fördergebietsgesetz Ihrer Regie-
rung – ohne Prüfung der Bevölkerungsentwicklung und
des Wohnungsbedarfs – eine Übersubvention gewesen ist.
Wir alle sind froh, dass sie inzwischen abgebaut ist. Sie
hat dem Osten tatsächlich geschadet. Wir haben heute die
Situation, dass die Innenstädte den Großsiedlungen
Konkurrenz machen und beide zusammen den Einfamili-
enhaus- und Kleinsiedlungsgebieten. Die Bürgermeister
wissen praktisch nicht, wohin sie ihre Potenziale stecken
sollen. Denn natürlich wollen viele Leute möglichst im
Einfamilienhaus leben, wenn sie es sich leisten können.
Ich sage es ohne Häme: Auch diese Verantwortung muss
man als ein Stück Vereinigungsgeschichte sehen; wir alle
müssen sie heute tragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Die Zahlen sind schon genannt worden: 1 Million
Wohnungen stehen leer. Das sind 13 Prozent aller Woh-
nungen in Ostdeutschland. Das muss man sich einmal




Manfred Grund
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(C)



(D)



(A)



(B)


vorstellen. In Sachsen stehen 16 Prozent der Wohnungen
leer. Das bedeutet eine wirklich sehr schwierige Aufgabe.

Es geht nicht nur um das Thema Leerstand. Vielmehr
geht es auch darum, dass die Städte in Zukunft ihr
Schrumpfen planen müssen. Stellen Sie sich bitte einmal
einen Bürgermeister vor, der mit seiner Stadtverord-
netenversammlung den Rückbau eines Stadtteils be-
schließen muss. Eine so dramatische Entwicklung können
wir uns alle bisher gar nicht vorstellen. Teilweise haben
wir da eine innere Barriere. Ich möchte nur darauf hin-
weisen, wie schwierig die Aufgabe ist. Es ist nicht nur
eine kurzfristige Aufgabe, sondern wir müssen damit
rechnen, dass die nächsten zehn bis zwanzig Jahre ge-
braucht werden, um diese Anpassung an die rückläufigen
Bevölkerungszahlen vorzunehmen, die generell zu einer
Herausforderung des Stadtumbaus im Osten werden.

Ich möchte dafür werben, dass es nicht nur darum geht,
über Leerstände, Rückbauten und Abrisse zu reden, viel-
mehr müssen wir es mit positiven Bildern verbinden. Für
die Menschen ist es sehr wichtig, dass der Stadtumbau mit
einem positiven Bild zum Bleiben in den Städten
herausfordert. Das heißt; wenn ich auf der einen Seite den
Rückbau sehe, möchte ich auf der anderen Seite die Rei-
henhaussiedlung, die schöne Grünanlage oder florierende
Gewerbebetriebe sehen, die wieder Mut machen, in der
Stadt oder in dem Stadtteil zu wohnen, zu leben und dort
in Zukunft zu bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben das Thema auf Bundesseite intensiv ange-
stoßen und sind inzwischen schon sehr weit. Wir haben
mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz und dessen Ergänzung
durch den berühmten Paragraphen 6a, den wir vor der
Sommerpause verabschiedet haben, Zeichen dafür ge-
setzt, dass die Koalition dazu bereit und daran interessiert
ist, insbesondere der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
zu helfen. Wir werden das tun und im Rahmen der Haus-
haltsberatungen auf den Weg bringen. Ich möchte aber
auch die Kommunen, die Länder und die Wohnungswirt-
schaft auffordern, ihrerseits nicht immer nur Forderungen
an den Bund zu stellen, sondern auch von sich aus aktiv
daran zu arbeiten, dass der Einstieg in diesen Stadtumbau,
den wir alle dringend brauchen, Schritt für Schritt positiv
begonnen und begleitet wird.

Ich glaube, insofern müssen alle die Ärmel hochkrem-
peln und wir müssen das gemeinsam nach vorne treiben,
und zwar nicht nur auf der Bundesebene, sondern genauso
in den Ländern und Kommunen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412205600
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.


Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP):
Rede ID: ID1412205700
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben

heute Vormittag in einer sehr eindrucksvollen Debatte an
den zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung unseres
Vaterlandes erinnert, in der wir sowohl die Probleme auf-
gezählt als auch die Erfolge genannt haben.

Ich glaube, eines der größten Probleme, das wir bei der
Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland
hatten, war die Umstrukturierung der Wirtschaft von einer
klassischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirt-
schaft.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das führte dazu, dass wir als Ausgangsbasis sehr große
Kombinate hatten, in denen 20 000, 30 000 Menschen ge-
arbeitet haben, verbunden mit der Konzipierung der ehe-
maligen DDR, die Wohnsiedlungen als kleine Satelliten-
städte den Kernstädten anzugliedern. Aufgrund des
Wegfalls der Kombinate, des Wegfalls des Jobs und natür-
lich auch des Wegfalls des Bodenplatzes erfolgten große
Veränderungen. Die Menschen haben sich letztlich einen
neuen Job und eine neue Wohnung gesucht. Das ist das
dramatische Problem, vor dem wir heute stehen.

Deswegen beklagen wir heute – zehn Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung –, dass wir einen Leerstand
an Wohnungen in der Größenordnung von 1 Million ha-
ben. Frau Eichstädt-Bohlig, der Wert von 13,2 Prozent
geht auf eine Analyse von 1998 zurück. Ich behaupte, dass
diese Zahl heute wesentlich höher liegt. Deswegen wun-
dert es mich nicht, dass im Arbeitspapier der ostdeutschen
Bauminister das Problem des Leerstandes als ein Alarm-
zeichen angeführt wird.

Ich kann mich erinnern, dass diese Bauminister, nach-
dem wir wenige Wochen zuvor im Bundestag über die
Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes debattiert
hatten, dieser Novelle der rot-grünen Bundesregierung im
Bundesrat zugestimmt haben. Nun kommen sie und sa-
gen: Wir haben hier ein Kardinalproblem, das wir drin-
gend lösen müssen.

Herr Dr. Danckert, ich schätze Sie ja sehr und kenne,
auch Ihre Haltung zum Altschuldenhilfe-Gesetz sowie zu
dem von uns eingebrachten Vorschlag in Bezug auf den
strukturellen Leerstand. Danach sollte in das Altschulden-
hilfe-Gesetz ein Passus aufgenommen werden, der be-
sagt, dass alle Wohnungsunternehmen, die einen größeren
Wohnungsleerstand und damit einen strukturellen Leer-
stand haben, von der Altlastenschuld in Höhe von
150 DM pro Quadratmeter entlastet werden. Mit bis zu
5 Prozent Leerstand muss ein jedes Wohnungsunterneh-
men ordentlich umgehen können.

Sie haben unserem Antrag nicht folgen können, son-
dern einen § 6a mit der Ermächtigung, eine Rechtsverord-
nung zu erlassen, in das Altschuldenhilfe-Gesetz aufge-
nommen. Heute haben auch Sie dankenswerterweise
gesagt, dass jetzt etwas gegen den Leerstand getan und
§ 6a jetzt umgesetzt werden müsse. Wenn man ehrlich ist,
muss man zugeben, dass wir das alles schon hätten haben
können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deswegen, meine Damen und Herren, bitte ich Sie,

durch eine Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes in




Franziska Eichstädt-Bohlig

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(D)



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(B)


der Form, wie ich es eben dargestellt habe, alle Woh-
nungsunternehmen, die einen höheren strukturellen Woh-
nungsleerstand als 5 Prozent aufweisen, grundsätzlich
von den restlichen Altschulden in Höhe von 150 DM pro
Quadratmeter zu entlasten. Als Voraussetzung für eine
solche Entlastung müssen die Wohnungsunternehmen
über ein Unternehmenkonzept verfügen, das die beab-
sichtigten Instandsetzungs-, Modernisierungs-, Wohn-
geld-, Rückbau- und Abrissmaßnahmen enthält. Des Wei-
teren sollten sie eine Bescheinigung der Kommune
vorlegen, die besagt, dass ihr Konzept in das jeweilige
Städte- bzw. Gemeindebaukonzept hineinpasst. Auf diese
Weise könnten wir noch in den nächsten Monaten den
Kommunen eine Hilfestellung bei der Überwindung ihres
strukurellen Wohnungsleerstandes geben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle sehr herz-

lich, die Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
nicht im Stich zu lassen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412205800
Es spricht jetzt der
Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion.


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1412205900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situationsbeschrei-
bung und den Katalog von denkbaren Maßnahmen, die
die Bauminister nach ihrer Sitzung in Dessau vorgelegt
haben, hätte ich mir schon viel früher als gemeinsame Po-
sition der Fachminister gewünscht.

Wenn der Bundeskanzler heute Morgen in seiner Re-
gierungserklärung gesagt hat, dass in Bezug auf die be-
sonderen Probleme der ostdeutschen Wohnungsunterneh-
men mit der Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
schnell reagiert worden sei, dann stimmt dies im Ver-
gleich zur üblichen Zeit, die für Gesetzgebung erforder-
lich ist. Ich erlaube mir aber angesichts der Kenntnisse,
die ich in meinem Wahlkreis sammeln musste, den Hin-
weis, dass es aus dem Blickwinkel betroffener Woh-
nungsunternehmen und Kommunen lange gedauert hat,
bis der strukurelle Leerstand mit den aus ihm resultieren-
den Problemen für die Wohnungsunternehmen und Kom-
munen von der Landespolitik und auch von der Bundes-
politik als eigenständiges Thema akzeptiert wurde.

Damit meine ich nicht die heutige Debatte, denn lange
im Vorfeld der Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz ist
zum Beispiel Staatssekretär Großmann auch in Stendal
gewesen, einem Ort, der in allen Aufzählungen von Pro-
blemkommunen vorkommt – darüber bin ich überhaupt
nicht glücklich –, die im Zusammenhang mit Leerstand
genannt werden. Als er Ende 1998 bei uns in Stendal war,
tagte dort schon zwei Jahre lang eine Arbeitsgruppe, be-
stehend aus Vertretern der betroffenen Wohnungsunter-
nehmen, aus Vertretern der Stadt und der Landespolitik –
zeitweise bestanden auch Verbindungen in das Bundes-
ministerium –, ohne dass die Bereitschaft erkennbar ge-

wesen wäre, diese speziellen Lasten über die kommunale
Verantwortung hinaus zu verteilen. Heute ist die
Erkenntnis Allgemeingut, dass der örtlich drohende Kol-
laps der Wohnungswirtschaft eine Lastenverteilung zwi-
schen Wohnungsunternehmen, Kommunen, Landespoli-
tik, Bundespolitik und Gläubigerbanken erfordert. In
Stendal ist dies seit langem klar. Es gibt eine veränderte
Stadtplanung, an der auch die Bürger beteiligt sind, und
eine Zielkonzeption für die Stadtentwicklung.

Da die fünf Minuten Redezeit in einer Aktuellen
Stunde nicht viel zulassen, möchte ich einen einzigen
Aspekt dieses komplexen Themas konkret benennen, aus
dem deutlich wird, mit welchen Erwartungen ich in die
Beratungen gehen möchte, die wir nach der Vorlage der
Kommissionsergebnisse hier werden führen müssen.

Das Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunterneh-
men Empirica begleitet die Kommissionsarbeit im Auf-
trag der Bundesregierung. Diese Empirica GmbH hat dar-
gelegt, dass die Nachfrage nach Mietwohnungen in den
neuen Bundesländern noch kurze Zeit stagnieren, dann
aber bis zum Jahr 2015 um 15 Prozent absinken wird.

Da deutet sich für die Stadtentwicklung – Frau
Eichstädt-Bohlig hat dieses Thema auch angesprochen –
ein dramatischer Zustand an. Abrisse, die sich zum Bei-
spiel aufgrund von Stadtentwicklungsplänen ergeben,
die umgesetzt werden müssen, sollten nach meiner
Überzeugung deswegen in den nächsten fünf Jahren mög-
lich werden. Die Programme, die wir dafür entwickeln,
müssen das ermöglichen, damit die Recyclingflächen – es
geht da um Gebiete, die mit Infrastruktur erschlossen
sind – auch vermarktet werden können und in der Zeit bis
zum Wegbrechen der Nachfrage nach Mietwohnungen in
den neuen Bundesländern für Wohneigentum in der Stadt
zur Verfügung stehen.

Ich denke, dass wir uns über die Probleme der Finan-
zierung des Abrisses hinaus mit den Ländern zusammen
überlegen müssen, wie wir alles das, was an Städte-
bauförderung möglich ist, auf den Weg bringen können.
Ich denke hier an eine Kampagne – um nicht wieder „För-
derprogramm“ zu sagen – unter der Überschrift „Wohnen
in der Stadt attraktiv machen“. Denn nur funktionsfähige
Städte können ihre Funktionen, die sie auch für das Um-
land bieten, erfüllen, und nur funktionsfähige Städte ma-
chen Regionen lebenswert. Ich denke nur an Vorhaltungen
im kulturellen Bereich, die sich keine Gemeinde im länd-
lichen Raum leisten kann. Hierfür haben wir unter
Raumordnungs- und Städtebaugesichtspunkten Verant-
wortung zu tragen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206000
Nächster Redner ist
der Kollege Günter Nooke für die CDU/CSU-Fraktion.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1412206100
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde es auch
ganz gut, dass wir jetzt wieder über die konkreten Dinge




Dr. Karlheinz Guttmacher
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(C)



(D)



(A)



(B)


reden. Aber, Frau Eichstädt-Bohlig, dass solche Debatten
wie heute früh gleich immer diffamiert werden müssen,
weil es in diesem Haus endlich wieder Debatten gibt, in
denen wichtige Dinge ausgehandelt werden, finde ich ein-
fach nicht richtig. Ich fand die Debatte sehr angenehm,
und ich fand es auch richtig, dass wir dahin gehend Posi-
tion bezogen haben, dass man auch die grundsätzlichen
Dinge sagen darf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gut, dass wir das unterschiedlich sehen!)


Wir verweigern uns nicht den Niederungen des Leer-
standes in Ostdeutschland und reden auch dazu. Aber las-
sen Sie uns noch einmal deutlich sagen: Politische Debat-
ten – und wenn es um zehn Jahre deutsche Einheit geht,
ist das eine politische Debatte – sind nötig. Ich denke, am
20. Jahrestag wird alles das, was wir hier gesagt haben,
auch wieder richtig sein. Auch von Ihnen wird das aner-
kannt werden.

Ich will mit einem Punkt anfangen: 1983 oder 1984 saß
ich im Keller der Moritz-Bastei in Leipzig und fragte den
Architekten von Leipzig-Grünau, dem zweitgrößten Neu-
baugebiet der DDR, ob er sich denn auch mal überlegt
habe, wie er die Dinger wieder abreißen könne. Das war
zu DDR-Zeiten eine nicht ganz beliebte Frage und der Ar-
chitekt war auch stolz auf das, was er baute. Aber dass
diese Städte, die dort entstanden, nun wirklich für alle
Zeiten Grundlage für ein menschliches Miteinander und
ein schönes Leben für alle Bürgerinnen und Bürger, egal
in welchem System, sein könnten, diesen Glauben hatte,
glaube ich, in der DDR nicht jeder. Darüber wurde bei ei-
nem Vortragsabend in Studentenkreisen sogar öffentlich
diskutiert.

Wir sind nach 1990 also vielleicht auch ein bisschen
der Versuchung erlegen, die Plattenbauten und die Sied-
lungen als besser hinzustellen, als sie im Grunde je waren.
Die drastischen Ausdrücke hat Manfred Grund hier ge-
nannt. Ich finde es wichtig, dass wir uns noch einmal klar
machen: Es ist dort nicht alles erhaltenswert. Vielleicht ist
manches sogar schon zu viel saniert worden. Das ist für
mich ein größeres Problem als die sentimentale Befind-
lichkeit, dass das eine oder andere davon abgerissen wer-
den muss.

Wichtig ist, dass zu all dem ein wahnsinniger Weggang
aus den neuen Bundesländern hinzu kommt. 1997 lag die
Zahl derjenigen, die weggezogen sind bei „nur“ 10 000.
Diese Zahl stieg – wenn ich die Zahlen richtig im Kopf
habe – 1998 auf über 30 000, 1999 auf über 40 000 oder
sogar 44 000 an. Wir gehen für dieses Jahr 2000 von netto
über 60 000 Menschen aus, die sich quasi von Ost nach
West weg bewegen und die neuen Bundesländer verlas-
sen.


(Christine Ostrowski [PDS]: Der Saldo liegt bei 160 000!)


– Es kommen ja auch ein paar wieder zurück. Ich habe ge-
rade die Nettozahlen genannt.

Wenn wir jetzt darüber debattieren, was wir tun kön-
nen, möchte ich auf ein weiteres Problem deutlich hin-
weisen – auch wenn jetzt keine Medien mehr da sind; das
ist vielleicht auch für die Menschen auf den Besucher-
tribünen, die uns jetzt noch zuhören, interessant –: Wir
müssen aufpassen, dass wir den Solidarpakt II für die
neuen Bundesländer nicht zu einem Zeitpunkt verhan-
deln, zu dem einige Medien aus dem Westteil unseres
Landes den ebenfalls mit Steuergeldern finanzierten Ab-
riss von sanierten Plattenbauten zeigen. Wir müssen sehr
sensibel über dieses Thema hier reden und bedenken, in
welche Gefahren wir uns begeben, wenn wir in diesem
Zusammenhang zu oft über öffentliche Gelder reden;
denn es macht keinen allzu guten Eindruck, wenn wir nur
fordern: Das muss jetzt hoch subventioniert werden!

Es geht darum, eine verantwortliche Stadtpolitik zu ini-
tiieren, positive Bilder einer Stadtentwicklung in den Vor-
dergrund zu stellen und möglichst zu verhindern, dass zu
viele Bilder über den Abriss von Plattenbauten und von
anderen Gebäuden mitten in der Stadt gezeigt werden. Ich
sehe auch das Problem, dass es sich zwischen Baustellen
schwierig wohnen lässt. Aber es wohnt sich erst recht
schwierig auf Baustellen, auf denen Häuser abgerissen
und keine neuen gebaut werden. Wir alle sind aufgerufen,
mit diesem Thema sehr sensibel umzugehen und zu ver-
antwortlichen Lösungen zu kommen.

Ich möchte jetzt als letzten Punkt den Lösungsweg be-
schreiben, der mir der einfachste zu sein scheint. Wir hät-
ten – Herr Goldmann, Sie haben es bereits gesagt – schon
weiter sein können. Nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz
war es ja möglich, den Ländern und Kommunen hier Pla-
nungssicherheit anzubieten. Ich schlage einfach vor: Ehe
wir wieder neue Förderprogramme, -kampagnen und
-richtlinien auflegen und der Bund für den Abriss von leer
stehenden Wohnungen zahlt, sollten wir lieber dafür sor-
gen, dass jede Wohnung, die jetzt vom Markt genommen
wird, ohne Altschuldenbelastung vom Markt genommen
werden kann, das heißt: Wir streichen einfach die im Alt-
schuldenhilfe-Gesetz vorgesehenen 150 DM.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn ich die 100 000 Wohnungen, von denen Sie ge-

sprochen haben, als Grundlage nehme, dann kostet das
etwa 1 Milliarde DM. Das ist gar nicht so viel Geld. Mit
einer solchen Streichung würde man die Länder und
Kommunen in der Verantwortung lassen, selbst auszu-
wählen. Die Bürgermeister würden dann wissen, wie viel
Geld sie zu erwarten hätten. Das würde keine zusätzlichen
Kontrollmechanismen notwendig machen, denn für die
Wohnung, die vom Markt genommen wird – das lässt sich
haushaltsrechtlich ganz einfach nachprüfen –, müssten
keine Altschulden in Höhe von 150 DM pro Quadratme-
ter mehr getilgt werden. Das wäre ein sehr einfaches Ver-
fahren, mit dem man schon jetzt den Ländern und Kom-
munen sehr schnell Planungssicherheit verschaffen
könnte.

Wir sollten die Lösung dieses Problems nicht vertagen,
sondern schnell angehen. Auch ich bin dafür, hier schnell
zu handeln und das Schaffen von neuem Wohneigentum
in der Stadt, wie Sie es gefordert haben, zu propagieren.




Günter Nooke

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(C)



(D)



(A)



(B)


Da können durchaus noch ein paar hübsche Siedlungen
entstehen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206200
Das Wort hat die Kol-
legin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412206300
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kollegin-
nen! Man muss das Problem des Wohnungsleerstandes
aus meiner Sicht, Frau Ostrowski, nicht zum Thema einer
Aktuellen Stunde machen; denn das Problem ist seit min-
destens einem Jahr bekannt. Solange wird darüber auch
schon diskutiert. Bündnis 90/Die Grünen haben es schon
seit mindestens einem Jahr in die öffentliche Debatte
eingebracht.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Aber nichts gemacht!)


Der Sachstand und die Vorschläge zur Lösung des Pro-
blems sehen so aus, dass sich im Wesentlichen die Betei-
ligten bereit erklärt haben, ihren Anteil zu übernehmen.
Der Bund hat signalisiert, dass er sich auch finanziell an
der Lösung des Problems beteiligen wird. Ich denke, dass
insbesondere die Länder und die Kommunen ihren Anteil
zu leisten haben und dass Bund, Länder und Kommunen
dieses Problem gemeinsam lösen können.

Herr Nooke, ich möchte Ihnen an einer Stelle wider-
sprechen. Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns mit den
konkreten Problemen beschäftigen, die momentan in Ost-
deutschland herrschen. Ich finde das wichtiger als die ab-
solut peinliche Debatte, die in den letzten Tagen und Wo-
chen in den Medien über die Fragen geführt worden ist,
wer denn nun weniger die Einheit gewollt habe, wer an ihr
wohl mehr Verdienste habe und ob die Einheit ein Ver-
dienst der Parteien sei oder nicht, und an der die Medien
wesentlich mehr interessiert hat, ob Exkanzler Kohl zur
deutschen Einheit redet oder nicht. Ich kann Ihnen nur sa-
gen: In meinem Umfeld wurde diese Debatte als absolut
negativ empfunden. Die Bürger haben sich von dieser De-
batte eher ignoriert als angenommen gefühlt. Sie haben
sie als abstoßend empfunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu den konkreten Problemen. In Ostdeutschland sind
fast alle Städte von der Leerstandsproblematik betroffen,
die einen mehr, die anderen weniger. Mit Durchschnitts-
werten aus der Statistik lässt sich davon nur sehr schlecht
ein Bild zeichnen. Die Hilfe muss daher in den jeweiligen
Städten individuell geleistet werden. Es ist klar, dass
selbst dann, wenn Bevölkerungsrückgang und Arbeitslo-
sigkeit gestoppt werden könnten – diese Entwicklung ist
leider nicht in Sicht –, mindestens 250 000 Wohnungen in
Ostdeutschland in den nächsten Jahren abgerissen wer-
den. Man weiß inzwischen, dass davon sowohl Woh-
nungsunternehmen als vor allem auch Eigentümer betrof-
fen sein werden. Man wird nicht umhin kommen, ein
Programm – ich denke an steuerliche Regelungen oder
andere Maßnahmen – aufzulegen.

Die eigentlich Betroffenen der derzeitigen Entwick-
lung sind allerdings die Einwohner. Wohnungsunterneh-
men und Wohnungs- bzw. Hauseigentümern kann gehol-
fen werden.Wenn sich das Bild von Gettos in den Städten
Ostdeutschlands verfestigt – es gibt bereits einzelne
Stadtteile, in denen kaum noch oder sogar gar keineWoh-
nungen bewohnt sind –, dann ist das Problem in sozialer
Hinsicht – Jugendarbeitslosigkeit, Zukunftsbild dieser
Städte – viel gravierender. Ich sehe bisher noch nicht, dass
sich die Bürgermeister in den Kommunen darauf ausrei-
chend eingestellt haben.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt nach wie vor viele Kommunen, in denen gi-
gantische Straßenbauten geplant und Eigenheimsiedlun-
gen auf der grünen Wiese ausgewiesen werden. Natürlich
gibt es einen entsprechenden Bedarf gerade bei jungen
Familien mit Kindern. Wenn aber kein Umdenken ein-
setzt, dann werden die Städte in Ostdeutschland in eine
absolut negative strukturelle Situation hineingeraten, weil
die von mir beschriebene Entwicklung nicht zu bewälti-
gen sein wird. Die notwendige Infrastruktur lässt sich
nicht bereitstellen und die Flächenausweisungen sind
nicht möglich. Ich glaube, dass sich die Bürgermeister
diesem Problem – nicht so sehr, was die finanzielle Seite
angeht, sondern im Hinblick auf die notwendigen Pla-
nungen – noch viel stärker werden stellen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wurde das Bild gezeichnet, dass der Wohnungsbe-

stand einzelner Gebiete verändert werden muss, weil es
zum Wohnen nicht mehr attraktiv ist. Vielleicht wird es
dafür in der jeweiligen Stadt ein kleines Eigenheimgebiet
mit sehr viel Grün und ansprechenden Wohnbedingungen
für junge Familien mit Kindern – man muss sich dort nicht
über Jahre hinweg über den Spielplatz streiten – geben.
Wenn das geschieht, dann kann man eine Entwicklung in
Gang setzen, die die Innenstädte attraktiv macht.

Ich appelliere an die PDS, mit der endlosen Nörgelei,
dass Ostdeutschland nur mit Problemen behaftet ist, auf-
zuhören. Sie sollten wenigstens ab und zu einmal versu-
chen, ein positives Bild von dem zu zeichnen, was sich
dort in den letzten Jahren getan hat.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genau das tun wir!)

– Es tut mir Leid: Genau das tun Sie nicht. Sie sprechen
nur die eine Seite des Problems an. Ich bin immer dafür,
zu sagen, wo es Missstände gibt. Dafür muss man aber
auch Lösungsvorschläge machen. Man sollte definitiv
herausstellen, dass sich in den letzten zehn Jahren in den
ostdeutschen Städten sehr viel zum Positiven gewandelt
hat.

Die Aufgabe besteht darin, den Wohnungsleerstand als
Problem zu behandeln, damit wir keine sich selbst erfül-
lende Prophezeiung erleben und sich der nach wie vor
prognostizierte Abwanderungstrend eventuell noch ver-
stärkt.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)





Günter Nooke
11758


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206400
Das Wort hat die Kol-
legin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1412206500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Politiker sind auch nur Menschen. Im
Nachhinein wundere ich mich, dass man Anfang der 90er-
Jahre, als jedes Schulkind anhand des Geburtenknicks ei-
gentlich hätte vorausberechnen können, wann wir in die
Situation kommen, in der wir uns jetzt befinden, nämlich
dass die Anzahl der Todesfälle die der Geburten – über-
steigt, nicht vorausgedacht hat. Stattdessen haben wir,
lieber Herr Nooke, lieber Herr Grund, immer mehr Steu-
ermittel in einen sinnlosen Wohnungsneubau hineinge-
buttert.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Weil Sie danach immer geschrien haben! Sie haben immer Druck erzeugt!)


– Ich wollte politische Polemik wirklich vermeiden. Ich
glaube, Sie können sich erinnern, dass dies in meiner ers-
ten Rede geschehen ist. Mir wird wirklich ein bisschen
angst – nicht so sehr wegen Ihres „Ruinen schaffen ohne
Waffen“ und Ähnlichem; das stecke ich weg –, weil ich
den Eindruck habe, dass Sie die Brisanz, nämlich dass wir
die Entwicklung – man kann es einfach nicht ändern,
wenn Menschen sterben – nicht beeinflussen können,
überhaupt nicht begriffen haben. Das ist überhaupt nicht
in Ihrem Kopf. Das ist übrigens eine Beobachtung, die ich
bei vielen Politikern mache, und zwar auf allen Ebenen,
auch – um eine Reverenz an die Grünen zu machen – bei
Kommunalpolitikern, zum Beispiel bei Bürgermeistern.
Auch die haben das bis heute nicht verstanden.

Ich gebe Ihnen Recht: Es gibt keine Patentrezepte. Wo-
her sollten wir sie auch haben? Wir stehen zum allerersten
Mal vor dieser dramatischen Situation. Aber wenigstens
in zwei Punkten, denke ich, müsste es eigentlich Einigkeit
über eine Art Grundsatzentscheidung – Herr Staatssekre-
tär Großmann, Sie werden ja nach mir noch sprechen –
geben. Empiriker prognostizieren, dass sich die Zahl der
leer stehenden Wohnungen auf zwei Millionen erhöhen
wird. Ich denke, sie haben Recht.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Na, na, na!)

– Sie haben keine Ahnung, Herr Grund, Sie sind ungetrübt
von jeder Sachkenntnis. Aber das ist Ihr Problem.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sparen Sie sich Ihre Prädikate! Das ist ja ekelhaft!)


– Dabei muss man wissen, dass sich das nicht von selbst
regulieren wird. Wenn es zu einem Schrumpfen der Zahl
der Einwohner – zu einem von uns gewünschten geord-
neten Schrumpfen – in den Städten kommen wird und
gleichzeitig weiterhin eine hohe Lebensqualität gewähr-
leistet werden soll, dann muss man wissen; dass das ohne
hohe Subventionen nicht gehen wird. Oder man gibt die-
ses Ziel auf.

Wenn das klar ist, dann kann man sich in einem zwei-
ten Schritt darüber verständigen, zu welchen Anteilen
Bund, Länder, Kommunen und Unternehmen daran betei-
ligt werden. Klar ist: Diese Anteile müssen gerecht sein.
Es kann nicht sein, dass beispielsweise der Bund, wenn

jährlich insgesamt 2,2 Milliarden DM Kosten allein für
leer stehende Wohnungen anfallen, bereit ist, wie ich le-
sen konnte im Rahmen der Härtefallregelung in § 6 a,
500 Millionen DM zu geben – vielleicht auch noch bis zu
700 Millionen. Ich habe das umgerechnet: Dieser Betrag
reicht – Sie wollen ja bis zu maximal 150 DM pro Qua-
dratmeter für die Streichung der Altverbindlichkeiten zu-
schießen, je nach Haushaltslage, nach Schlussbescheid
usw. – ungefähr für 44 000 bis 88 000 Wohnungen und das
reicht nicht. Sie kennen die Zahlen; Sie haben sie ja alle
genannt. Da muss man sagen: Da sind die Anteile ver-
schoben.

Auch hinsichtlich des Wohnungsmarktes müsste es ei-
gentlich Einigkeit geben. Der Wohnungsmarkt ist völlig
unterschiedlich. Deswegen muss man unterschiedliche
Instrumente anwenden. Man kann nicht die gleichen För-
derinstrumente, die man seit Jahrzehnten in der alten Bun-
desrepublik verwendet hat und die man Anfang der 90er-
Jahre für den Osten neu entwickelt hat, einfach bis heute
fortführen. Genau das machen wir aber im Jahr 2000.

Frau Lemke, Sie plädieren für Eigenheime in der In-
nenstadt. Dann hätten Sie aber schon längst die Eigen-
heimzulage erhöhen und die Zulage für Neubauten sen-
ken können. Das könnte man zumindest im Wesentlichen
kostenneutralmachen. Solch eineMaßnahme, zugeschnit-
ten auf die besondere Situation im Osten, hätten Sie schon
längst einführen können. Außerdem denke ich hier an die
Erhöhung der Investitionszulage für Altbauten.

Das alles sind Dinge, die Sie unterlassen haben. Selbst-
verständlich gehört die Streichung der Altschulden auf
dauerhaft leer stehende Wohnungen dazu; das haben wir
übrigens als Erste beantragt. Alles das, was die Bauminis-
ter jetzt geschrieben haben, können Sie in all unseren An-
trägen seit 1998 nachlesen. In Wirklichkeit tun Sie bis
jetzt nichts. Im Oktober soll die Rechtsverordnung hier
vorliegen. Darauf bin ich gespannt. Ich denke, ich weiß
ungefähr, was darin stehen wird. Deswegen glaube ich,
dass das insgesamt nicht reicht.

Lassen Sie mich eine Bemerkung zu Leipzig-Grünau
und den dortigen Plattenbauwohnungen machen. Herr
Nooke, ich bin dankbar, dass Sie dieses Beispiel angeführt
haben. Wie man es von konservativer Seite gewöhnt ist,
ging es auch dort gegen „die Platte“. Plattenbauwohnun-
gen und das Umfeld drumherum sind nicht besonders
schön; das ist klar.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich wohne in einer Platte!)


Aber, Herr Nooke, der Wohnungsleerstand zeigt sich
eben nicht in Leipzig-Grünau, sondern in den wunder-
schönen, modernisierten Altbauten der Innenstadt. Und
warum? Wahrscheinlich, weil sich viele Leipziger die
Mieten für diese Altbauwohnungen, die höher sind als die
für Plattenbauwohnungen, nicht leisten können. Es geht
also keineswegs um den Abriss von Plattenbausiedlungen
querbeet. Das wissen alle, auch die Bauminister, egal, in
welcher Partei sie sind. Fragen Sie Herrn Dr. Buttolo oder
Herrn Minister Hardrath.

Letzte Bemerkung zu Frau Lemke: Welches Thema wir
für eine Aktuelle Stunde wählen, ist unsere Sache. Das ist






(C)



(D)



(A)



(B)


völlig klar. Das muss ich Ihnen nicht erzählen. Das müs-
sen Sie schon uns überlassen. Außerdem sollten Sie doch
auch wissen, dass es nicht um einen Missstand im Osten
geht. Ich dachte, ich hätte klar gemacht, dass wir es mit ei-
ner Entwicklung zu tun haben, für die überhaupt niemand
direkt verantwortlich ist.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Na ja! )



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206600
Frau Kollegin
Ostrowski, ich muss Sie an die Redezeit erinnern.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1412206700
Ich komme sofort zum
Schluss. – Es gibt eine natürliche Bevölkerungsentwick-
lung, die von niemandem direkt verschuldet ist und die
nicht aufzuhalten ist. Bezüglich Ihrer Vorschläge bitte ich
Sie: Schauen Sie bitte ins Netz und lesen Sie alle unsere
Anträge noch einmal nach.

Ich hoffe und wünsche mir, dass der Bund alle ihm zur
Verfügung stehenden Mittel nutzt, um die Entwicklung in
Ostdeutschland einigermaßen geordnet ablaufen zu las-
sen.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206800
Es spricht jetzt für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann.

Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bundes-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412206900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht im
Wesentlichen um zwei große Fragenkomplexe, die wir
klären müssen.

Die erste Frage lautet: Wie schaffen wir es, die Woh-
nungswirtschaft in den ostdeutschen Ländern wieder un-
ternehmerisch handeln zu lassen, wie schaffen wir es, sie
wirtschaftlich auf eine solche Basis zu stellen, dass sie mit
Problemen, die auch Wohnungsgesellschaften im Westen
haben, selber fertig werden können?


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Ja!)

Die zweite Frage lautet: Wie sieht die Zukunft der

Städte in den neuen Bundesländern aus? Das ist schon
deshalb hochinteressant, weil wir unter Umständen das
Problem, das wir dort heute haben, mit einer Verzögerung
von 10 oder 20 Jahren auch im Westen haben werden.


(Christine Ostrowski [PDS]: Genau!)

Es wird auch in Westdeutschland in den nächsten 10 bis
20 Jahren zu einem weiteren Zuzug in einige Ballungsge-
biete kommen. Es wird aber auch Städte geben, die sich
ähnlichen Problemen wie in den neuen Ländern stellen
müssen. Es wird auch dort zu einem Bevölkerungsrück-
gang kommen und man wird dort darüber nachdenken
müssen, wie man Städte zurückbaut.

Das ist wiederum keine völlig neue Erfahrung, weil sie
auch schon in anderen europäischen Ländern gemacht
wurde. Am Montag und Dienstag fand die EU-Bauminis-
terkonferenz in Paris statt. Dort haben wir uns ausge-

tauscht. Natürlich haben Länder wie England – ich
erinnere an Glasgow, Liverpool, Newcastle und andere
Städte – die Erfahrung schon gemacht, was mit Städten,
in denen große Brachflächen entstanden sind und zurück-
gebaut werden müssen, passiert. Ähnliche Erfahrungen
haben wir auch schon im Ruhrgebiet gemacht. Das heißt,
diese Frage muss uns alle interessieren. Diese Frage ist
nicht allein auf Ostdeutschland zugespitzt, auch wenn die
Probleme im Moment in Ostdeutschland kulminieren.

Schauen wir uns jetzt den ersten Fragekomplex an.
Hier ging es darum, wie man die Wohnungswirtschaft so
stärkt, dass sie wieder unternehmerisch handeln kann. Als
wir nach der Bundestagswahl 1998 die Regierungsverant-
wortung übernommen haben, stellte sich die Situation so
dar, dass von den 2 079Wohnungsgesellschaften, die Alt-
schuldenhilfe in Anspruch genommen hatten, erst ganze
26 einen so genannten Schlussbescheid bzw. einen Be-
scheid des Nichtvertretens erhalten hatten, also nur eine
ganz geringe Anzahl. Wir haben dann sofort untergesetz-
lich gehandelt. Das heißt, wir haben all das aus dem Weg
geräumt, was wir ohne Gesetzesänderung machen konn-
ten. Dann haben wir die Altschuldenhilfenovelle ins Par-
lament eingebracht und verabschiedet.

Noch bevor die Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes
greifen kann – das ist ja diese Woche mit einem An-
schreiben der KfW an die Unternehmen eingefädelt wor-
den –, haben die Maßnahmen, die wir vorher schon ein-
geleitet hatten, dazu geführt, dass Ende August 2000 von
den 2 079 Wohnungsgesellschaften 1 340 den Schlussbe-
scheid erhalten haben oder ihr Antrag auf Nicht-Vertre-
ten-Müssen positiv beschieden wurde. 65 Prozent der ost-
deutschen Wohnungsunternehmen sind damit aus dem
Geltungsbereich des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit sei-
nen Verpflichtungen herausgefallen. Diesen Erfolg haben
wir in weniger als zwei Jahren geschafft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die KfW hat am Montag die ostdeutschen Wohnungs-
unternehmen angeschrieben und sie aufgefordert, letzt-
malig einen Bericht über die Privatisierungen des Jahres
1999 zu geben. Das heißt, wir sind jetzt dabei, die Erfül-
lung ihrer Privatisierungspflicht ein letztes Mal, nun vor
dem Hintergrund der Erleichterungen, die wir beschlos-
sen haben, zu prüfen. Das bedeutet wiederum, dass viel-
leicht noch 100 oder 150 – keiner kennt die genaue
Zahl – übrig bleiben werden. Das sind dann Wohnungs-
gesellschaften, die unter Umständen noch einmal darle-
gen müssen, warum sie noch nicht privatisiert haben oder
unter Umständen diesen Nachweis gar nicht führen kön-
nen.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das ist ja okay!)


Aber alle anderen, die wirklich guten Willens waren
und privatisiert haben, was zu privatisieren war, können
wieder wirtschaftlich handeln, sie können planen, sie kön-
nen Drohverlustrückstellungen, die sie gebildet haben,
wieder aktivieren und in den Wohnungsbau investieren.
Das meine ich mit „wirtschaftlich aufstellen“. Sie haben
die starren 15 Prozent kritisiert und damit Recht gehabt,
wir verabschieden uns jetzt von dieser Zahl. Das heißt,




Christine Ostrowski
11760


(C)



(D)



(A)



(B)


wir haben innerhalb kürzester Zeit dafür gesorgt, dass die
meisten Wohnungsunternehmen wieder in der Lage sind,
sich am Markt zu behaupten.

Es gibt einige, die Schwierigkeiten haben werden. Das
bedeutet, dass wir ihnen helfen müssen. Es sind die Woh-
nungsunternehmen, die unter Umständen in wirklich exis-
tenzielle Nöte kommen. Nur um diese, Herr Nooke und
Herr Guttmacher, kann es gehen. Wenn wir Ihren Vor-
schlag aufnehmen würden, allen Wohnungsunternehmen
die Altschulden zu erlassen, auch denen, denen es wirt-
schaftlich gut geht, würde das eine Ausgabe von über
9Milliarden DM und nicht von 1 Milliarde DM bedeuten.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Oberhalb 5 Prozent! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Nur für die abgerissenen Wohnungen, nicht vorher!)


– Ich habe von 1 Million Wohnungen gesprochen. Wenn
Sie den Bericht, den wir Ende Oktober vorlegen werden,
in dem von 1 Million Wohnungen die Rede ist, nehmen
und das hochrechnen, kommen Sie auf 9 Milliarden DM.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Die müssen nicht alle abgerissen werden! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Eine Million reißen wir nicht ab!)


– Stellen Sie sich doch einmal diesen Zahlen! Das ist eine
unvorstellbare Summe, abgesehen davon, dass es völlig
unsinnig ist. Das gibt es in keinem anderen Wirtschafts-
zweig, dass man einem Unternehmen, dem es wirtschaft-
lich so geht, dass es mit seinen Problemen selbst fertig
werden kann, Subventionen des Staates einräumt. Das
machen wir in anderen Bereichen auch nicht, dazu haben
Sie uns übrigens auch zu viele Schulden hinterlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb haben wir mit den Ländern – auch mit den
CDU-geführten Ländern, damit das völlig klar ist – ver-
einbart, dass wir ein Programm für die in ihrer Existenz
gefährdeten Wohnungsunternehmen erarbeiten. Es legt
fest, dass wir dort, wo abgerissen wird und ein Unterneh-
men in existenzielle wirtschaftliche Schwierigkeiten
kommt, die Altschulden übernehmen, wenn bestimmte
Bedingungen erfüllt sind – hier bin ich wieder beim Städ-
tebau –: Es müssen städtebauliche Konzepte vorgelegt
werden, denn das alles muss sich in einem vernünftigen
Rahmen vollziehen.

Ich möchte noch eines Ihrer Argumente zurückweisen.
Sie haben eben so locker gesagt, dass man das schon lange
hätte haben können. Wir haben den Ländern vorgeschla-
gen, in § 6a des Altschuldenhilfe-Gesetzes festzulegen,
dass bis zum Jahr 2003 Anträge auf Abriss gestellt werden
können und man dann bis zum Jahr 2005 Wohnungen ab-
reißen kann. Die Länder haben uns geantwortet, sie
schafften das nicht; die Städte hätten keine Konzepte und
die Länder hätten dafür keine Haushaltsmittel; sie müss-
ten erst das Geld besorgen und könnten diese Maßnahme
erst dann umsetzen. Die Länder flehen uns also an, diese
Fristen zu verlängern. Es gibt zwar den Fall Stendal, aber
es gibt auch sehr viele Städte und Gemeinden, die keinen

Plan in der Schublade haben. Sie sind völlig überfordert,
wenn sie ein städtebauliches Konzept in diesem Umfang
erstellen sollen.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Die wird es auch geben!)


– Tun Sie nicht so, als ob man das alles einfach so machen
könnte! Das muss solide und seriös vorbereitet werden.
Dazu müssen Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt wer-
den. Wir brauchen Konzepte; die Städte müssen planen
können. Wir müssen den Städten helfen. Deshalb werden
wir überlegen, ob wir das Erarbeiten von Konzepten
durch die Städte aus Städtebaumitteln unterstützen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben Anfang der 90er-Jahre ein so genanntes Mo-
dellstadtprogramm für die Innenstädte gehabt. Damit ha-
ben wir den Städten Know-how zur Verfügung gestellt,
denn das fehlte ihnen. Jetzt müssen wir das in ähnlicher
Form wiederholen. Wir haben denen, die schon weiter
sind, die Wohnungen abreißen können, zum Beispiel
Schwedt, gesagt: Wenn ihr diese Gebiete als Sanierungs-
gebiete ausweist, könnt ihr aus Städtebaumitteln den Ab-
riss bezahlen. Das heißt, wir finanzieren jetzt schon mit
Bundesgeldern den Abriss von Wohnungen. Da, wo das
möglich ist, geschieht es bereits. Dort, wo das nicht ge-
schieht, ist es teilweise nicht möglich, weil die Konzepte
fehlen und die Rahmenbedingungen nicht stimmen.

Ich meine also, wir haben eine Menge auf den Weg ge-
bracht. Deshalb haben uns die Bauminister in Dessau
durch die Bank, völlig unabhängig von ihrer Parteizu-
gehörigkeit, dafür gelobt, dass wir richtig Schwung in
diese Frage gebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war richtig!)


Zum Abschluss möchte ich einiges zu den Ländern sa-
gen. Eine Zeit lang haben die Länder immer auf uns ge-
zeigt. Allmählich begreifen sie, dass sie selbst mitmachen
müssen. Sie haben in Dessau gesagt, wir sollten doch
Bürgschaftsprogramme für die Wohnungsunternehmen
machen, denen es nicht gut geht. Ich habe gefragt, warum
sie nicht selbst Bürgschaften übernehmen. Daraufhin ha-
ben sie gefragt: Warum macht ihr nichts mit der Grund-
erwerbsteuer, denn wenn eine Wohnungsgesellschaft vor
der Insolvenz steht und von einer anderen, größeren Ge-
sellschaft übernommen wird, fällt Grunderwerbsteuer an.
Das ist unsinnig. Die Grunderwerbsteuer ist eine Länder-
steuer. Die Länder könnten hingehen und sagen: Wir än-
dern das Gesetz an dieser Stelle, sodass das jeweilige
Bundesland selbst in der Lage ist, in solchen Fällen die
Grunderwerbsteuer zu erlassen.

Meine letzte Bitte an die Länder und Kommunen: Neh-
men Sie das Angebot des Bundes an, das ausgebreitet auf
dem Tisch liegt! Dann können wir zuversichtlich sein,
eine gute Städtebaupolitik zu machen. Damit können wir




Parl. Staatssekretär Achim Großmann

11761


(C)



(D)



(A)



(B)


der Wohnungswirtschaft helfen, dass sie wieder auf einer
gesunden Basis steht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412207000
Der letzte Redner in
dieser Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU
der Kollege Manfred Grund.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1412207100
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich
zu Wort gemeldet, um uns anhand eines guten Beispiels
von einem gelungenen Strukturwandel ermutigt ins Wo-
chenende zu entlassen; denn bei der Diskussion über den
Wohnungsleerstand stehen – sicher zu Recht – ungelöste
Probleme im Vordergrund, so auch im Arbeitspapier der
ostdeutschen Länder anlässlich der 101. Bauminister-
konferenz.

Doch es gibt Lichtblicke und Beispiele gelungenen
Strukturwandels. Ich denke in diesem Zusammenhang an
eine Stadt, die es geschafft hat, den ökonomischen, sozia-
len und ökologischen Strukturwandel so zu gestalten, dass
es zu einer spürbaren Verbesserung der Wohn- und Ar-
beitssituation gekommen ist. Dieser gelungene Struktur-
wandel ist Teil der EXPO-Präsentation des Freistaates
Thüringen.

Dieses Projekt „Exemplarische Umgestaltung von
Plattenbauwohnungen“ gilt deutschlandweit als führend
und findet internationale Beachtung. So ist der Bürger-
meister dieser Stadt nach Japan eingeladen worden, um
dort in fünf Vorträgen über Lösungsansätze und Erfah-
rungen zu berichten. Es handelt sich um die Stadt Leine-
felde im thüringischen Eichsfeld.

Mit der Ansiedlung von Großbetrieben wie einem Tex-
tilkombinat und einem Zementwerk wurden – 1962 be-
ginnend – Plattenbauten aus dem Boden gestampft. Aus
einem Dorf mit ursprünglich 2 300 Seelen wurde eine In-
dustriestadt mit mehr als 15 000 Bürgern. Mit dem politi-
schen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruch
haben sich 1989 die Rahmenbedingungen für Leinefelde
radikal verändert. Der Wegbruch des größten Teiles der
industriellen Arbeitsplätze der Region stellte die Bewoh-
ner vor die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Pendeln in
die benachbarten Wirtschaftsräume, Abwanderung, Um-
lernen oder Selbstständigkeit. In den ersten Jahren nach
der Wende hat Leinefelde jährlich circa 1 000 Einwohner
verloren – mit entsprechend hohem Wohnungsleerstand,
der doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt der neuen
Bundesländer.

Langfristige Trendanalysen machten deutlich, dass
sich der Bedarf an Plattenbauwohnungen um bis zu
50 Prozent reduziert, sofern sich Wohnungsqualität und
das Wohnumfeld nicht grundlegend verbessern. Dies war

die Ausgangslage und genau an diesem Punkt begann die
Stadtverwaltung zu handeln. Aus dem Plattenbauwohnge-
biet „Südstadt Leinefelde“ wurde die „Zukunftswerkstatt
Leinefelde“. Mit dem Start der Rahmenplanung im Jahre
1994 – wir hörten gerade, dass manche Städte bis heute
noch keine vernünftige städtebauliche Planung haben –
begann ein komplexer Entwicklungsprozess mit sozialen,
städtebaulichen, ökonomischen und ökologischen Ziel-
setzungen. In einem beispielhaften Prozess wurden Städ-
tebaumittel und Mittel der Wohnungsbauförderung kom-
biniert. Die EXPO diente als Katalysator.

Die Entwicklungsstrategie für die „Südstadt Leine-
felde“ hat frühzeitig den Rückbau und die damit verbun-
denen Chancen einer städtebaulich funktionalen Aufwer-
tung zum Kernpunkt einer künftigen Entwicklung
gemacht. Die durch den Rückbau gewonnenen Spiel-
räume wurden genutzt, um die gravierenden Mängel im
Wohnumfeld zu beseitigen. So entstehen attraktive Frei-
räume in unmittelbarer Wohnungsnähe. Es wurde ein
Wohnungsangebot entwickelt, das in seiner Qualität und
in seiner Quantität den veränderten Bedürfnissen ange-
passt wurde – auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit
dieser Wohnungen. Dazu kommt die kommerzielle und
soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt wird die Natur, die
Ökologie, in die Stadtentwicklung einbezogen.

Entscheidend bleiben das Engagement der Menschen
vor Ort, das Eintreten der Bürger für ihre Stadt. Genau
hier hat die „Zukunftswerkstatt Leinefelde“ beispielhaft
das bürgerschaftliche Engagement gefördert. Mieterbin-
dung und -akzeptanz – wir diskutieren heute über dieses
Thema – sind eine Herausforderung an Kommunen und
an Wohnungsbauunternehmen in den neuen Bun-
desländern. Leinefelde hat Vorzeigenswertes und Bei-
spielhaftes auf den Weg gebracht. Dies wollte ich vor dem
Wochenende kurz berichten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Gutes Beispiel!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412207200
Ich schließe die Aus-
sprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit
am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 11. Oktober 2000, 13 Uhr, ein.
Ich möchte mich ausdrücklich für die intensive Mitarbeit
in dieser Aktuellen Stunde bedanken. Es gab, wenn wir
auch nur wenige waren, sehr große Aufmerksamkeit. Vie-
len Dank für Ihr Durchhalten und auch für das Interesse
dort oben auf der Besuchertribüne.

Die Sitzung ist geschlossen.