Protokoll:
14121

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 121

  • date_rangeDatum: 28. September 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:12 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Dank an den in Ruhestand tretenden Platzmeis- ter Herrn Glomb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11541 A Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Dr. Klaus Grehn . . . . . . . . 11541 A Wahl der Abgeordneten Bernd Reuter, Wolfgang Bosbach, Volker Beck (Köln), Dr. Max Stadler und Ulla Jelpke als ordentli- che Mitglieder in das Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ . . 11541 B Wahl der Abgeordneten Dietmar Nietan, Dr. Hans-Peter Uhl, Günter Saathoff, Günter Rexrodt und Dr. Heinrich Fink als stellvertretende Mitglieder in das Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11541 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . 11541 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 a bis c, 10 und 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11542 C Geänderte Ausschussüberweisungen . . . . . . . 11542 D Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 11542 D Gratulation an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zur Verleihung des Ignatz- Bubis-Preises der Stadt Frankfurt am Main . . 11551 D Begrüßung des Vizepräsidenten des Bundes- rechnungshofes, Herrn Dr. Engels . . . . . . . . . 11642 B Tagesordnungspunkt 3: a) Vereinbarte Debatte: FürToleranz und Menschlichkeit – gegen Fremden- feindlichkeit, Antisemitismus und Ge- walt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 11543 C b) Antrag der Fraktion CDU/CSU: Nach- haltige Bekämpfung von Extremis- mus, Gewalt und Fremdenfeindlich- keit (Drucksache 14/4067) . . . . . . . . . 11543 C c) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Handeln gegen Ras- sismus, Antisemitismus, Fremden- feindlichkeit und daraus resultieren- der Gewalt (Drucksache 14/4145) . . . 11543 D Wolfgang Thierse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11543 D Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11546 C Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11549 D Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 11551 D Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11554 A Ute Vogt (Pforzheim) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11555 A Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (Bayern) 11556 C Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . 11558 A Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11560 C Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11562 C Heiner Bartling, Minister (Niedersachsen) . . . 11563 C Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11565 A Sebastian Edathy SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11566 A Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU . . 11567 D Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11570 A Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11571 A Angela Marquardt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11572 D Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . 11573 C Plenarprotokoll 14/121 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 121. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 23: Überweisungen im vereinfachten Verfah- ren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Dienstleistungsstatistik und zur Än- derung statistischer Rechtsvorschrif- ten (Drucksache 14/4049) . . . . . . . . . . . . . . 11576 B b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vier- ten Buches Sozialgesetzbuch (Erstes SGB IV Änderungsgesetz) (Drucksache 14/4053) . . . . . . . . . . . . . 11576 B c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Opferent- schädigungsgesetzes und andererGe- setze (Drucksache 14/4054) . . . . . . . . . . . . . 11576 B d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungsurkunden vom 6. November 1998 zur Konstitu- tion und zurKonvention der Interna- tionalen Fernmeldeunion vom 22. De- zember 1992 (Drucksache 14/3952) . . . . . . . . . . . . . 11576 C f) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessord- nung (§§ 57 ff. StPO) und andererGe- setze (Drucksache 14/3205) . . . . . . . . . . . . . 11576 C g) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungs- recht (§ 76 Abs. 2, § 122 Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG) (Drucksache 14/3831) . . . . . . . . . . . . . 11576 C h) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Begriffs „Erzie- hungsurlaub“ (Drucksache 14/4133) . . . . . . . . . . . . . 11576 D i) Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion F.D.P.: Kinderhandel in Afrika verhindern (Drucksache 14/2705) . . . . . . . . . . . . . 11576 D j) Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS:Fer- tigung des Airbus A3XX struktur- und umweltpolitisch sinnvoll organi- sieren (Drucksache 14/3677) . . . . . . . . . . . . . 11576 D k) Antrag der Fraktion PDS: Neue nu- kleare Abrüstungsinitiativen statt neuer Raketenabwehrprojekte (Drucksache 14/3875) . . . . . . . . . . . . . 11577 A l) Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und der Fraktion PDS: Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums für Informationstechnik und der Fraun- hofer-Gesellschaft (FhG) zulasten der IuK-Grundlagenforschung (Drucksache 14/4037) . . . . . . . . . . . . . 11577 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 23) a) Antrag der Fraktion PDS: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Drucksache 14/3822) . . . . . . . . . . . . . 11577 A b) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Bürgerbahn statt Börsenbahn (Drucksache 14/3784) . . . . . . . . . . . . . 11577 B Tagesordnungspunkt 24: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 1998 zwischen der Regierung der Bundes- republik Deutschland und der Regie- rung derRepublik Südafrika über die Seeschifffahrt (Drucksachen 14/3091, 14/3846) . . . . 11577 C b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zurÄnderung des Perso- nenbeförderungsgesetzes (PBefG) (Drucksachen 14/2995, 14/3843) . . . . 11577 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000II c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Paul Laufs, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion CDU/CSU: Re- aktor-Sicherheitskommission mit un- abhängigen, fachlich hoch qualifi- zierten Experten besetzen (Drucksachen 14/1010, 14/2112) . . . . . 11577 D d) – j) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses Sammelübersichten 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193 zu Petitionen (Drucksachen 14/4078, 14/4079, 14/4080, 14/4081, 14/4082, 14/4083, 14/4084) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11578 A Tagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Christel Humme, Dr. Hans Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Marieluise Beck (Bremen), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neue Initiativen zur Frauenbeschäf- tigung – zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Maritta Böttcher, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der PDS: Gleichstellung von Frauen und Män- nern im Erwerbsleben – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Hannelore Rönsch (Wiesba- den), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit in Deutschland – zu der Unterrichtung durch das Europä- ische Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den be- sonderen Auswirkungen der Frauen- arbeitslosigkeit (Drucksachen 14/1195, 14/1529, 14/1549, 14/155 (neu) Nr. 1.1, 14/2746) . . . . . . . . . . 11578 D Dr. Edith Niehuis, Parl. Sataatssekretärin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11579 A Dorothea Störr-Ritter CDU/CSU . . . . . . . . . . 11581 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11583 C Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11586 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11587 B Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11589 B Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11590 C Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . 11591 B Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11592 D Ingrid Fischbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11593 C Andrea Nahles SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11595 D Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . 11596 B Dr. Martina Krogmann CDU/CSU . . . . . . . . . 11597 A Ulla Schmidt (Aachen) SPD . . . . . . . . . . . . . . 11598 B Ingrid Fischbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11599 C Ulla Schmidt (Aachen) SPD . . . . . . . . . . . . . . 11599 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen – zu dem Antrag der Abgeordneten Georg Brunnhuber, Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Transrapidprojekt zügig realisieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling- Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Gesetzliche Verpflich- tung zum Bau der Transrapidstrecke Berlin–Hamburg aufheben – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Rudolf Seiters, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Ausbau und Mo- dernisierung der Transrapidver- suchsanlage Emsland und Fortset- zung der Planfeststellungsverfahren für die Magnetschwebebahn-Refe- renzstrecke Hamburg–Berlin (Drucksachen 14/2359, 14/2524, 14/3183, 14/4135) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11600 C Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . . . . 11601 A Reinhard Weis (Stendal) SPD . . . . . . . . . . . . . 11603 A Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . . 11604 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 III Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11606 A Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11607 B Dr. Hermann Kues CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11608 B Georg Brunnhuber CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11609 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zurFortgeltung des Laden- schlussgesetzes nach den Sanktionen ge- gen eine thüringische Frisörin Jürgen Koppelin F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . . 11611 A Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11611 C Konrad Gilges SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11612 C Manfred Grund CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11613 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11614 B Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . . 11615 A Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11616 A Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 11617 A Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11618 A Brigitte Baumeister CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11619 C Siegfried Helias CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11620 D Tagesordnungspunkt 12: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur technologischen Leistungsfä- higkeit Deutschlands 1999 und Stellung- nahme der Bundesregierung (Drucksache 14/2957) . . . . . . . . . . . . . . . . 11621 C Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11621 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU 11623 C Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11625 D Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11627 A Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11628 B Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11629 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Bernd Neumann (Bremen), Dr. Norbert Lammert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Verbesserung der Rahmenbedingungen für den deutschen Film (Drucksache 14/3375) . . . . . . . . . . . . . . . . 11630 C Bernd Neumann (Bremen) CDU/CSU . . . . . . 11630 C Gisela Schröter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11633 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . . . . . . 11635 C Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 11636 D Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11637 C Dr. Michael Naumann, Staatsminister BK . . . 11638 D Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses – zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Entlastung der Bundes- regierung für das Haushaltsjahr 1998 – Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung 1998) – – zu der Unterrichtung durch den Bun- desrechnungshof: Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1999 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung (einschließlich der Feststellungen zur Jahresrechnung des Bundes 1998) (Drucksachen 14/737, 14/1667, 14/3869) 11640 B Siegrun Klemmer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11640 C Josef Hollerith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11642 B Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11644 A Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11645 A Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11645 D Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Für ei- ne mutige Reform des Internationa- len Währungsfonds (IWF) (Drucksache 14/3861) . . . . . . . . . . . . . . 11646 D b) Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Reform der in- ternationalen Finanzarchitektur (Drucksache 14/4069) . . . . . . . . . . . . . 11646 D Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11647 A Bernd Scheelen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11647 D Leo Dautzenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11649 C Christine Scheel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11651 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000IV Ursula Lötzer PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11652 A Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11652 D Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusam- menarbeit von Arbeitsämtern und Trä- gern der Sozialhilfe (Drucksachen 14/3765, 14/4163) . . . . . . . 11654 C Brigitte Lange SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11654 D Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 11656 C Dr. R. Werner Schuster SPD . . . . . . . . . . . . 11656 C Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 11657 D Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11658 D Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11659 D Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMA . . . . . 11660 B Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski (Reckling- hausen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gleichbehand- lung im öffentlichen Dienst – Tarifergeb- nis auf Beamte übertragen (Drucksache 14/3772) . . . . . . . . . . . . . . . . 11661 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Edzard Schmidt- Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000 (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2000 (Drucksache 14/4134) . . . . . . . . . . . . . . . . 11661 D Meinrad Belle CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11662 A Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11663 A Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11664 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11665 A Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11666 A Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 11666 C Meinrad Belle CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11666 D Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 11667 D Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Günter Nooke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion CDU/CSU: Uran- erzbergbau-Schäden beseitigen (Drucksache 14/3373) . . . . . . . . . . . . . . . . 11668 B Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11668 C Werner Labsch SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11670 C Birgit Homburger F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11672 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11672 D Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11674 A Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD . . . . . . . . . 11675 A Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur 22. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG zurAngleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschrif- ten der Mitgliedstaaten für Beschrän- kungen des Inverkehrsbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stof- fe und Zubereitungen (Phthalate) sowie zur Änderung der Richtlinie 88/378/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug (Drucksachen 14/2747 Nr. 2.32, 14/3710) 11676 C Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Monika Balt, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten von Selbst- ständigen und deren mithelfenden Familienangehörigen in Land- und Forstwirtschaft und im Handwerk der DDR (Drucksache 14/4038) . . . . . . . . . . . . . 11676 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 V b) Antrag der Abgeordneten Monika Balt, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Anerkennung der Rentenversicherungszeiten von Blin- den- und Sonderpflegegeldempfänge- rinnen und Sonderpflegegeldempfän- gern der DDR (Drucksache 14/4041) . . . . . . . . . . . . . 11677 A c) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses: Sammelübersicht 70 zur Petition (Gesetzliche Regelungen zur Berücksichtigung niedriger freiwilliger Beiträge in der ehemaligen DDR) (Drucksache 14/1563) . . . . . . . . . . . . . 11677 A Monika Balt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11677 B Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz (Drucksache 14/4036) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze (Drucksache 14/4130) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), weiteren Abgeordneten und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes (Drucksache 14/4131) . . . . . . . . . . . . . . . . 11678 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11679 C Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11679 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11681 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur 22. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrbringens und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen (Phthalate) sowie zur Än- derung der Richtlinie 88/378/EWG zur Anglei- chung der Rechtsvorschriften der Mitglied- staaten über die Sicherheit von Spielzeug (Tagesordnungspunkt 6) Jürgen Wieczorek (Böhlen) SPD . . . . . . . . . . . 11682 A Dr. Paul Laufs CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11683 B Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11684 B Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11685 A Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 11685 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten von Selbstständigen und deren mithelfende Familienangehörigen in Land- und Forstwirtschaft und im Handwerk der DDR, Anerkennung der Rentenversicherungszeiten von Blinden und Sonderpflegeempfängerinnen und Sonderpflegeempfängern der DDR Sammelübersicht 70 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 13 a bis c) Angelika Krüger-Leißner SPD . . . . . . . . . . . . 11686 B Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11687 C Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11688 C Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11688 D Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung ar- beitsmarktpolitischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz (Tagesordnungspunkt 22) Klaus Wiesehügel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11689 B Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11690 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 11691 A Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11692 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000VI Ursula Lötzer PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11692 C Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 11693 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze; – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes (Zusatztages- ordnungspunkte 6 und 7) Horst Schild SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11694 C Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11695 A Dr. Michael Meister CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11695 D Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11696 C Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . . 11697 A Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 11697 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 Vizepräsident Rudolf Seiters 11679 (C)(A) Berichtigung 120. Sitzung, Seite 11510 (D) Dritter Absatz; Am Anfang des Absatzes ist „Gila Altmann, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit“ einzufügen. 2) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11681 (C) (D) (A) (B) Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 28.09.2000 Gila DIE GRÜNEN Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 28.09.2000 DIE GRÜNEN Behrendt, Wolfgang SPD 28.09.2000* Bindig, Rudolf SPD 28.09.2000* Bohl, Friedrich CDU/CSU 28.09.2000 Brinkmann (Detmold), SPD 28.09.2000 Rainer Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 28.09.2000* Klaus Claus, Roland PDS 28.09.2000 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 28.09.2000 Herta Eich, Ludwig SPD 28.09.2000 Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 28.09.2000 DIE GRÜNEN Elser, Marga SPD 28.09.2000 Fischer (Homburg), SPD 28.09.2000 Lothar Friedhoff, Paul K. F.D.P. 28.09.2000 Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 28.09.2000 Haack (Extertal), SPD 28.09.2000* Karl-Hermann Heise, Manfred CDU/CSU 28.09.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 28.09.2000 DIE GRÜNEN Dr. Hornhues, CDU/CSU 28.09.2000* Karl-Heinz Hornung, Siegfried CDU/CSU 28.09.2000* Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 28.09.2000 Jäger, Renate SPD 28.09.2000* Kasparick, Ulrich SPD 28.09.2000 Kolbe, Manfred CDU/CSU 28.09.2000 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 28.09.2000 Dr. Küster, Uwe SPD 28.09.2000 Lambrecht, Christine SPD 28.09.2000 Lietz, Ursula CDU/CSU 28.09.2000 Lintner, Eduard CDU/CSU 28.09.2000* Lörcher, Christa SPD 28.09.2000* Dr. Lucyga, Christine SPD 28.09.2000* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 28.09.2000* Erich Müller (Berlin), PDS 28.09.2000 Manfred Neumann (Gotha), SPD 28.09.2000 Gerhard Parr, Detlef F.D.P. 28.09.2000 Philipp, Beatrix CDU/CSU 28.09.2000 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 28.09.2000 Dr. Rössel, Uwe-Jens PDS 28.09.2000 Rupprecht, Marlene SPD 28.09.2000 Schemken, Heinz CDU/CSU 28.09.2000 Schily, Otto SPD 28.09.2000 Schloten, Dieter SPD 28.09.2000* Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 28.09.2000* Hans Peter Schmude, Michael von CDU/CSU 28.09.2000* Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 28.09.2000 DIE GRÜNEN Steiger, Wolfgang CDU/CSU 28.09.2000 Stetten, Dr. Wolfgang CDU/CSU 28.09.2000 Freiherr von, Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 28.09.2000* Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 28.09.2000 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 28.09.2000 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 28.09.2000* Zierer, Benno CDU/CSU 28.09.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vor- schlag für eine Richtlinie des Europäischen Par- laments und des Rates zur 22. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit- gliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehr- bringens und der Verwendung gewisser gefährli- cher Stoffe und Zubereitungen (Phthalate) sowie zur Änderung der Richtlinie 88/378/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mit- gliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug (Tagesordnungspunkt 6) Jürgen Wieczorek (Böhlen) (SPD):Chemiepolitische Themen sind im Allgemeinen sehr trocken und deshalb wenig geeignet, große Aufmerksamkeit hervorzurufen. Dabei entspricht diese Tatsache nicht der hohen Bedeu- tung, welche die Chemiepolitik eigentlich hat, und zwar besonders durch die möglichen schädlichen Auswirkun- gen, die chemische Stoffe auf die Umwelt und insbeson- dere auch auf die Gesundheit von Menschen haben kön- nen. Das anstehende Thema sollte aber wohl die Aufmerksamkeit aller Kolleginnen und Kollegen wecken, geht es doch hier um den Gesundheitsschutz von Babys und Kleinkindern. Gegenstand unserer Beratung ist ein EU-Richtlinien- vorschlag, der das Verbot von Phthalaten in Babyspielzeug aus PVC beinhaltet. Es ist unbedingt notwendig, dass wir mit unserer Entschließung dazu beitragen, diesen EU-Vor- schlag möglichst zu erweitern und damit zu verbessern, um die Kinder wirklich zu schützen. Phthalate, diese chemischen Verbindungen, werden nicht jedem bekannt sein und ich will deshalb eine kurze Erklärung geben. Es handelt sich dabei um so genannte „Weichmacher“, die man PVC hinzusetzen muss, um aus diesem an sich starren und spröden Material einen biegsa- men, geschmeidigen Stoff zu machen. Um PVC diese Ei- genschaften zu verleihen, sind in der Regel höhere Bei- mengungen von Weichmachern vonnöten. Das geht bis zu einem Anteil von 40 Prozent. Wir finden Phthalate in zahl- reichen PVC-Produkten, wie zum Beispiel in Fußboden- belag, und eben auch in Baby- und Kinderspielzeug aus Plastik, angefangen vom Beißring über Rasseln bis hin zur beliebten Quietschente. Phthalate – und an dieser Stelle muss ich um Ihre besondere Aufmerksamkeit bitten – sind alles andere als harmlose Substanzen! Tierversuche haben ergeben, dass Phthalate Krebs- und Nierenschäden verur- sachen und wiederholter oder andauernder Hautkontakt Dermatitis hervorrufen kann. Gesicherte Untersuchungen zur Wirkung am Menschen fehlen zwar bislang, jedoch werden Phthalate von Toxikologen als „gesundheitlich be- denklich“ eingestuft. Ich darf ja wohl davon ausgehen, dass sie mein Entsetzen teilen bei der Vorstellung, dass Ba- bys stundenlang auf phthalathaltigen Beißringen oder eben auch auf Quietschtieren herumkauen und dabei die- ses Zeug freigesetzt werden kann! Wie sieht es nun mit der Gesetzeslage aus? In vielen eu- ropäischen Ländern wurden in den letzten Jahren Verbote ausgesprochen. In Deutschland gilt seit März 2000 eine Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums. Damit wurde die Bedarfsgegenständeverordnung dahin gehend verändert, dass die Verwendung von Phthalat-Weichma- chern in allen – ich betone hier ausdrücklich: in allen – Spielzeug- und Babyartikeln für Säuglinge und Kleinkin- der unter drei Jahren verboten ist. Übrigens verzichten die deutschen Hersteller schon seit längerer Zeit bei der Pro- duktion von Babyartikeln im Rahmen einer Selbstver- pflichtung auf PVC und damit auf diese Weichmacher. Aber, wir wissen alle, es befinden sich nicht nur Produkte heimischer Hersteller auf dem deutschen Markt. Der EU-Richtlinienvorschlag, über den wir heute bera- ten, zielt darauf ab, harmonisierte Bestimmungen zum Ge- sundheitsschutz hinsichtlich der Weichmacher in Baby- und Spielzeugartikeln einzuführen. Grundsätzlich ist die- ses Anliegen zu begrüßen. Aber wir wollen bei einem so sensiblen Thema – und der Organismus von Kleinkindern ist zweifellos ganz besonders sensibel – keine Harmoni- sierung, wenn dies eine substanzielle Verschlechterung der geltenden deutschen Rechtsvorschriften bedeutet. Wir müssen uns diesen Richtlinienvorschlag also ge- nauer ansehen. Die Richtlinie beinhaltet das Verbot von sechs namentlich genannten Phthalaten in Baby- und Spielzeugartikeln, die ganz oder teilweise aus Weich-PVC bestehen und die dazu bestimmt sind, von Kindern in den Mund genommen zu werden, wie also zum Beispiel der Beißring. Ferner enthält die Richtlinie die Einführung von Warnhinweisen bei phthalathaltigen Baby- und Spiel- zeugartikeln, die ganz oder teilweise aus Weich-PVC be- stehen und die von Kindern bis zu drei Jahren entgegen ih- rer Bestimmung, aber vorhersehbar in den Mund genommen werden können. Das hat man sich dann so vor- zustellen, dass auf dem Quietschentchen, welches – anders als der Beißring – ja nicht direkt dazu bestimmt ist, in den Mund genommen zu werden, der Warnhinweis „Nicht im Mund behalten“ erscheinen soll. Die Spielzeugver- packung soll ferner mit einem ausführlicheren Warnhin- weis versehen werden. In diesen Babyartikeln also, die nicht ausdrücklich dazu vorgesehen sind, von Babys in den Mund genommen zu werden, dürfte nach dem Vor- schlag für die EU-Richtlinie eine beliebig hohe Menge an Phthalaten enthalten sein. Wie sehr wir das Harmonisierungsstreben in der EU auch begrüßen, für umso unbefriedigender halten wir die- sen Richtlinienvorschlag. In unserer Entschließung for- dern wir die Bundesregierung deshalb auf, sich auf EU- Ebene für eine Nachbesserung einzusetzen. Ich möchte hier nur am Rande erwähnen, dass wir beileibe nicht die einzigen sind, die bei der EU Einwände gegen diesen Vor- schlag erheben. Zahlreiche Länder fordern Veränderungen dieses Richtlinienvorschlags, in dessen Vorfeld die inter- nationale Spielzeugindustrie offensichtlich gute Lobbyar- beit geleistet hat. In Brüssel wird derzeit um eine gemein- same Position gerungen. In der Entschließung geht es uns um zwei Punkte: Ers- tens. Phthalathaltiges Spielzeug darf grundsätzlich nicht in die Reichweite von Kindern unter drei Jahren kommen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011682 (C) (D) (A) (B) weil immer die Gefahr besteht, dass das Spielzeug in den Mund genommen wird. Es ist Kleinkindern egal, ob ein Spielzeug dafür vorgesehen ist, in den Mund genommen zu werden, oder ob es nur dazu verlockt. Diese Unter- scheidung ist absurd. Niemand wird bestreiten, dass die wenigsten Kinder unter drei Jahren in der Lage sind den Warnhinweis zu lesen und sich danach zu richten. Auch ein Appell an die Verantwortung der Eltern hat seine Gren- zen. So weiß doch jeder, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Kinder kurz unbeaufsichtigt sind. Und viel- leicht gibt es ja sogar Eltern, denen solche Warnhinweise egal sind? Haben wir als Gesetzgeber dann nicht eine di- rekte Verantwortung gegenüber diesen Kindern, deren El- tern sich nicht genügend um ihre Gesundheit sorgen? Es ist deshalb einfach notwendig, phthalathaltige Babyspiel- zeuge, unabhängig von ihrer vorgesehenen Verwendung, erst gar nicht zuzulassen! Zweitens. Die Regelungen im Richtlinienvorschlag be- ziehen sich nur auf sechs namentlich genannte Phthalate: Wir fordern eine Ausweitung auf alle Phthalate! Denn es ist nicht ausreichend erwiesen, dass es sich bei den übri- gen Phthalaten um unbedenkliche Substanzen handelt. Und solange keine anderen Ergebnisse, die zweifelsfrei die Unbedenklichkeit belegen, vorliegen, sind wir einem strikten Vorsorgeprinzip verpflichtet und dürfen kein Ri- siko eingehen. Deshalb kann ich auch der Argumentation der CDU, und hier namentlich der des Kollegen Dr. Laufs im Umweltausschuss, nichts abgewinnen. Natürlich kann man auch bei neuen Ersatzstoffen eine Schädlichkeit nicht zu 100 Prozent ausschließen, aber für „Neue Stoffe“ gibt es schon viel strengere Zulassungskriterien und sollten auch hier Verdachtsmomente aufkommen, wären wir dann ebenso zum Handeln verpflichtet. Die deutsche Spielzeug- industrie müssen wir schon gar nicht schützen. Im Gegen- teil, es wird in ihrem Interesse liegen, wenn sich die Her- steller anderer Länder auf deren Level begeben müssen. Sollte der Richtlinienvorschlag in unveränderter Form die europäischen Gremien passieren, so hieße das für das deutsche Recht, dass wir eine Anpassung vornehmen müssten, mit der wir hinter die Verordnung des BMG zurückfallen würden: Phthalathaltiges Babyspielzeug wä- re dann wieder im Handel erhältlich. Es geht um Spielzeug für unsere Kleinsten: Das darf auf keinen Fall bedeuten, dass man mit der Gesundheit von Babys spielt. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie unserer Entschließung zu! Vielen Dank. Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Die vorliegende Ent- schließung zielt darauf, einen Richtlinienvorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates zum vorbeugen- den gesundheitlichen Verbraucherschutz zu verschärfen. Ihre Forderung ist, die Verwendung aller Vertreter einer bestimmten chemischen Stoffklasse – der Phthalate – in al- len Baby- und Spielzeugartikeln generell zu verbieten. Der Richtlinienvorschlag selbst beschränkt das Verbot auf sechs näher aufgeführte Stoffe – so genannte Weichma- cher – und auf bestimmte Konzentrationen in bestimmten Babyartikeln. Diesen Richtlinienvorschlag begrüßen wir und machen ihn uns zu Eigen. Die Union lässt sich von niemandem übertreffen wenn es darum geht, unsere Kinder vor Gefahren zu schützen. Selbstverständlich wollen wir gefährliche Stoffe in Ge- brauchsgegenständen verbieten, wenn sie ein wirkliches Gesundheitsrisiko darstellen. Warum tun wir uns trotzdem –wie der europäische Gesetzgeber – schwer, generelle un- differenzierte Verbote zu befürworten? Wir nehmen dabei auch zur Kenntnis, dass die deutsche Spielzeugindustrie bereits auf die Verwendung von Phthalaten verzichtet. Phthalate werden als Weichmacher von Kunststoffen, insbesondere von PVC, sowie als Emulgatoren, Additive und Entschäumer eingesetzt. Man findet sie in Teppich- böden, Textilien, Fußbodenbelägen, Betonzusatzstoffen, Folien, Klebstoffen, Lacken, Beschichtungen, auch in Me- dizinprodukten und als Hilfsstoffe in Kosmetika, Parfums, Sprays und Nagellacken. Sie werden seit vielen Jahrzehn- ten in großen Mengen produziert, in Deutschland sind es mehrere hunderttausend Tonnen, weltweit einige Milli- onen Tonnen pro Jahr. Sie sind praktisch allgegenwärtig. Man schätzt, dass der Mensch pro Kilogramm Körperge- wicht täglich Phthalate in der Größenordnung von einem bis zehn Mikrogramm aufnimmt. Die Hauptquellen sind Nahrungsmittel aus Weich-PVC-Verpackungen und Haus- staub, an den sich aus besonderen Innenraumausstattun- gen ausgegaste phthalathaltige Partikel angelagert haben. Seit einigen Jahrzehnten sind Phthalate auch in Weich- spielzeugen und Babyartikeln aus PVC enthalten. Beson- dere Aufmerksamkeit verdienen phthalathaltige Babyarti- kel, die – wie zum Beispiel Beißringe – dazu bestimmt sind, längere Zeit in den Mund genommen zu werden. Ei- ne Arbeitsgruppe der EU hat untersucht, welche Mengen an Phthalaten bei täglichem sechsstündigen Kauen und Lutschen aufgenommen werden können. Die Untersu- chungen ergaben eine enorme Spannweite der Aufnahme- mengen, die im unteren Bereich vernachlässigbar klein sind, im oberen Bereich jedoch über den empfohlenen Do- sisrichtwerten liegen können. Anders ist der Umgang von Kindern mit gewöhnlichem Spielzeug zu bewerten. Die Freisetzung von Phthalaten aus Spielzeug wird nicht wesentlich anders verlaufen als die aus anderen Gegenständen. Wenn wir meinen, von un- seren Kindern phthalathaltiges Spielzeug fern halten zu müssen, müssen wir ihnen dann zum Beispiel nicht eben- so verbieten, auf Teppichböden herumzutollen? Dies führt uns zur entscheidenden Frage: Welche Gefahren gehen von Phthalaten aus? Sind sie so schwerwiegend, dass wir weiterreichende Schutzmaßnahmen brauchen? Die Phthalate bilden eine umfangreiche Stoffgruppe, in der die so genannten langkettigen Phthalate mit hohem Molekulargewicht kaum wasserlöslich und flüchtig sind und deshalb dermal praktisch nicht resorbiert werden. Über die am häufigsten verwendeten Phthalate, deren Sei- tenketten kurz bis mittellang sind, gibt es zahlreiche toxi- kologische Untersuchungen. In hohen Einzeldosen sind diese Stoffe ausgesprochen schwach toxisch. Sie sind auch nicht persistent, sondern in der Umwelt normal biologisch abbaubar. Inkorporierte Phthalate akkumulieren sich nicht in Organen. Ihre Meta- boliten sind vollständig ausscheidbar. Studien über die mittel- bis langfristigen Wirkungen hoher täglicher Dosen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11683 (C) (D) (A) (B) haben im Tierversuch endokrine Störungen im Bereich der Fortpflanzung und Entwicklung ergeben. Ein Fall von Zyklus- und Ovulationsstörungen ist nach hoher berufli- cher Langzeitexposition auch beim Menschen berichtet worden. Andere Publikationen stellen fest, dass Erfahrun- gen zu chronischen Wirkungen beim Menschen nach in- halativer, oraler oder dermaler Exposition nicht vorliegen. Die im Versuch mit Ratten und Mäusen beobachteten Leberschäden sowie Begünstigung des Tumorwachstums lassen sich wegen spezifischer physiologischer Unter- schiede wohl kaum auf den Menschen übertragen. Die bisher festgestellten gesundheitsschädlichen Wirkungen bei Mensch und Tier traten erst bei Dosen auf, die viel- tausendfach über normalen täglichen Expositionen lie- gen. Weitere Forschungsarbeiten sind insbesondere zur Kanzerogenität und zu endokrinen Veränderungen erfor- derlich. Dabei ist es schwierig, die Wirkungen von Phthalaten von den Wirkungen anderer Substanzen und Einflussfaktoren abzugrenzen, weil diese unspezifisch sind. Gesundheitsschäden und Entwicklungsstörungen an Kindern, die auf die Benutzung von Weich-PVC-Produk- ten zurückzuführen wären, sind bisher nicht berichtet wor- den. Gleichwohl ist vorsorglicher Gesundheitsschutz an- gezeigt. Im Tierversuch hat sich gezeigt, dass Jungtiere empfindlicher auf Phthalateinwirkungen ansprechen als ausgewachsene Tiere. Vorsorglich nehmen wir dies auch für Kleinkinder an. Bei den Maßnahmen zum vorbeugen- den Gesundheitsschutz geht der europäische Gesetzgeber differenzierend und abwägend vor. Er spricht Verbote aus, wo es angezeigt erscheint. Er setzt im Übrigen Grenzen abhängig vom Stoff, seiner Konzentration und der Migra- tionsgeschwindigkeit beim Ausgasen und Auslaugen. Die- ses Vorgehen ist der Sache angemessen. Das Thema ist in vielen aufgeregten Presseberichten behandelt worden. Für eine Politik, die darauf mit einer möglichst einfachen und eindrucksvollen Medienbot- schaft reagieren will, sind schwierige Unterscheidungen und Abwägungen unerwünscht und lästig. Wir sehen das politische Verhetzungspotenzial. Wir sehen auch, dass ver- unsicherte Eltern ein allgemeines Verbot begrüßen wer- den, wobei sich aber gleich das nächste Problem auftut. Werden die Ersatzstoffe unbedenklicher sein? Bei Citraten und Adipaten sind Zweifel angezeigt. Die CDU/CSU hat in den Ausschussberatungen Ände- rungsanträge gestellt, die teilweise angenommen, teilwei- se zurückgewiesen wurden. Wir halten aus grundsätzli- chen Überlegungen ein undifferenziertes Verbot aller Phthalate angesichts der vorliegenden toxikologischen Er- kenntnisse und angesichts der großen Bedeutung dieser Stoffgruppe im alltäglichen Leben für nicht angemessen. Wir werden uns der Stimme enthalten. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer kennt sie nicht, die „Sesamstraße“? Wenn Ihre Kin- der oder Enkel ebenso begeisterte Zuschauer dieser Kin- dersendung sind, wie ich es einst war, dann kennen sie eines der wichtigsten Requisiten der Sesamstraßenbe- wohner Ernie und Bert: nämlich Ernies quietschegelbe Badeente – längst ein Kult, nicht nur bei Kindern. Doch wer hätte damals gedacht, was wir heute wissen? Dass diese Badeenten, dass Baby-Beißringe, dass das ganze Panoptikum der PVC-Spielzeugindustrie der Ge- sundheit unserer Kinder schaden könnte? Wir haben gehört, wo das Problem liegt: Um die Ver- sprödung von Kunststoffen zu verhindern, werden heute in großem Umfang Weichmacher eingesetzt. Das gilt besonders auch für PVC-Spielzeuge und die mengen- mäßig größte Gruppe der Weichmacher: die so genannten Phthalsäureester, kurz Phthalate. Und wir wissen von vielen Vertretern dieser Phthalate ganz sicher, dass sie im Kinderzimmer absolut nichts zu suchen haben, weil sie gesundheitsschädlich sind. Einmal in Spielzeug eingesetzt, lösen diese Weichmacher sich im Speichel und werden vom Körper aufgenommen. Weitrei- chende Schäden wie eine Schädigung des Hormonsystems und Tumorbildung sind mögliche Folgen. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen eine Be- schlussempfehlung eingebracht, der sich F.D.P und PDS anschlossen. Darin beauftragt der Umweltausschuss die Bundesregierung, die Verwendung dieser Weichmacher in Spielzeugen aller Art zu verbieten – gleichgültig, ob in Spielzeug für Babys oder Kleinkinder, gleichgültig, ob sie zum Nuckeln gedacht sind oder nicht. Eine geplante Änderung der EU-Richtlinien über die Sicherheit von Spielzeug und über gefährliche Stoffe sieht zurzeit nur ein Verbot von Weichmachern in Babyspiel- zeug vor, das „bestimmungsgemäß“ in den Mund genom- men wird. Diese Regelung ist absolut Kinderzimmer untauglich. Wer kann denn Spielzeug für Babys von dem für Klein- kinder trennen, wenn in Familien nun einmal alle zusam- men leben? Und wer kann nicht „bestimmungsgemäßes“ Nuckeln von Babys an Kleinkinderspielzeug verhindern? Die Beschlussempfehlung des Umweltausschusses will die deutsche Delegation daher darin unterstützen, die weit schärfere deutsche Bedarfsgegenständeverordnung in Brüssel europaweit durchzusetzen. Auch andere EU-Staa- ten haben an einem strengen Verbot ein Interesse und da sind wir im hiesigen Recht schon sehr weit. Schließlich hat unsere grüne Gesundheitsministerin nach Phthalatfunden in Babyspielzeug durch Greenpeace bereits im Frühjahr die Bedarfsgegenständeverordnung verschärft. Diese Gesundheitsgefahr in deutschen Kinderzimmern muss gebannt werden. Auch bei anderen als den in der EU- Richtlinie genannten sechs Phthalaten besteht ein Gefah- renverdacht. Umso bedauerlicher, das sich die Fraktion der CDU/CSU im Umweltausschuss dieser Beschlussemp- fehlung nicht anschließen wollte. Und das nur, weil die Ri- sikobewertung anderer Phthalate noch nicht abgeschlos- sen ist. Dabei lautet der erste Grundsatz der Risikovorsorge: „Verantwortliche Umweltpolitik beschränkt sich nicht auf die Abwehr von Gefahren für Mensch und Umwelt, son- dern handelt vorsorgend bereits im Vorfeld der Gefahren- abwehr ... Deshalb müssen auch solche Schadensmög- lichkeiten in Betracht gezogen werden, die sich nur Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011684 (C) (D) (A) (B) deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzei- tigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher in- soweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenver- dacht oder ein ‘Besorgnispotenzial’ besteht.“ Wer es gemerkt hat, meine Damen und Herren von der Union, dies war ein Zitat. Und zwar nicht die Präambel ei- nes grünen Chemieprogramms, sondern aus den „Leitlini- en Umweltvorsorge“ durch Vermeidung und stufenweise Verminderung von Schadstoffen, herausgegeben im De- zember 1986 von der damals unionsgeführten Bundesre- gierung. Warum also so zaghaft? Wenn Sie sich auch nicht erin- nern können, wie sehr Ihre letzte Umweltministerin für ei- ne Ökosteuer war, so sollten Sie diese Blackouts doch nicht zur Gewohnheit werden lassen. Ulrike Flach (F.D.P.): Es liegt eine Beschlussempfeh- lung des Umweltausschusses vom 17. Mai diesen Jahres vor, der die Bundesregierung auffordert, auf eine Reihe von Nachbesserungen bezüglich der Verwendung von che- mischen Weichmachern in Babyspielzeug zu drängen. Kernpunkt der notwendigen Verbesserungen ist eine Ausdehnung des Verwendungsverbotes von den sechs Phtalaten auf alle Weichmacher in Babyspielzeug für Kin- der bis zu einem Alter von 36 Monaten. Die F.D.P.-Frak- tion unterstützt diesen Entschließungsantrag und hat dem- entsprechend in den Beratungen des Umweltausschusses auch dafür gestimmt, weil das Restrisiko einer Verwen- dung dieser chemischen Stoffe in Kinderspielzeug nicht unerheblich ist. Weichmacher, die sich aus verschluckten PVC-Teilen herauslösen, haben beim Menschen zu lebensgefährlichen Verletzungen von Magen und Darm geführt. Im Tierver- such schädigten Phtalate Leber, Nieren und Fortpflan- zungsorgane. Klar wird hieraus: Ein generelles Verbot die- ser Stoffe ist zur Gewährleistung der gesundheitlichen Sicherheit von Babyspielzeug unverzichtbar. Auch SPD und Grüne haben dem Entschließungsantrag des Umwelt- ausschusses zu gestimmt. Lediglich die CDU/CSU-Fraktion hat sich im Aus- schuss der Stimme enthalten mit der Begründung, ein ge- nerelles Verbot von Weichmachern in Babyspielzeug für Kinder bis 36 Monate reiche zu weit, vielmehr müsse es darum gehen, das Verwendungsverbot über die sechs im Richtlinienvorschlag genannten Stoffe auf alle „gesund- heitlich nicht unbedenklichen“ Weichmacher auszudeh- nen. Das ist unklug, denn es ist Opposition um der Oppo- sition willen. Wir von der F.D.P. verschließen uns nicht sinnvollen sachpolitischen Lösungen. Insofern ist das Ausschussergebnis auch ein Sieg der politischen Vernunft über die parteipolitisch gefärbte Haarspalterei. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten – so möchte man auf den ersten Blick meinen – gehandelt: Das in dieser Angelegenheit feder- führende Bundesgesundheitsministerium hat den Inhalt der Beschlussempfehlung des Umweltausschusses in die heute stattfindende Binnenmarktratsitzung der Europä- ischen Union eingebracht. Die Bundesregierung unter- stützt die Ausschussempfehlung eines generellen Verbots aller Weichmacher also vorbehaltlos. Wir werden die Bundesregierung – ob sie es nun will oder nicht – daran messen, inwieweit sie in der Lage ist, die Ausschussemp- fehlung, die in diesem Haus auf einem breiten parteipoli- tischen Konsens beruht, auf europäischer Ebene durchzu- setzen. Ausreden, die Konsensfindung mit Brüssel sei schwie- rig aufgrund der widerstrebenden europäischen Interes- senlage, werden wir als F.D.Pnicht gelten lassen; denn Al- leingänge einzelner Länder zur Verschärfung des Verbots von schädlichen Inhaltsstoffen zur Erhöhung der Produkt- und damit auch der Konsumentensicherheit sind von der Europäischen Union ausdrücklich erlaubt. In Österreich sind chemische Weichmacher in Kinderspielzeug zum Beispiel seit 1998 generell verboten. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf: Haben Sie notfalls den Mut zu einem Alleingang! Geben Sie sich nicht zufrieden mit dem völlig unzureichenden Richtlini- envorschlag der EU! Laut der deutschen Bedarfgegenständeverordnung sind bestimmte Phtalate zwar in Lebensmittelfrischhaltefolie verboten, nicht aber in Kinderspielzeug. Das ist grotesk. Deshalb meine Forderung an Sie: Setzen Sie sich nach- haltig für eine Verbesserung des Verbotes von Phtalaten in Baby- und Kinderspielzeug ein und handeln Sie! Die Ge- sundheit unserer Kinder gehört nicht auf die lange Bank geschoben. Eva Bulling-Schröter (PDS): Das EU-Umwelt- und Gesundheitsrecht ist nicht selten Impulsgeber für die deut- sche Umweltpolitik. In Sachen Phthalate, den Weichma- chern in PVC, droht aber eine Verschlechterung des Status quo. Mit der deutschen Bedarfsgegenständeverord- nung geht unsere Gesetzgebung über den Richtlinienvor- schlag der EU-Kommission hinaus. Die PDS ist sich hier mit der Koalition und der F.D.P. einig: Babyartikel und Spielzeug für Kleinkinder, die in den Mund genommen werden könnten, dürfen diese ge- fährlichen Stoffe nicht enthalten. Der Kommissionsvor- schlag arbeitet dagegen teilweise mit Warnhinweisen, die an die Artikel anzubringen seien – eine merkwürdige Vor- stellung, unsere Jüngsten können nicht lesen und ihre El- tern das In-den-Mund-Nehmen kaum verhindern. Die Kleinen nuckeln halt überall herum. Also ist es konsequent, wenn sich die Bundesregierung für eine Änderung des Richtlinienvorschlages energisch einsetzt. Denn wird er erst mal rechtswirksam – und wir unterstützen hier grundsätzlich eine europäische Rege- lung –, wird die schärfere deutsche Gesetzgebung aus wettbewerbsrechtlichen Gründen unter Druck geraten. Wir kennen das ja. Allerdings bin ich übrigens der Mei- nung, dass in diesem Fall sogar unsere Regelung Bestand haben würde, weil sie gravierende Gesundheitsgefähr- dungen verhindern soll. Die Bedenken der CDU/CSU können wir nur zum Teil nachvollziehen. Es gäbe da kurzkettige und langkettige Phthalate, die einen wären mehr, die anderen weniger schädlich. Nur die wenigsten wären aber näher untersucht – sagt die CDU/CSU selber. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11685 (C) (D) (A) (B) Dann überzeugt es mich auch nicht, wenn das Verwen- dungsverbot nur auf die „gesundheitlich nicht unbedenk- lichen Phthalate“ ausgedehnt werden soll. Eine solche Formulierung lässt Interpretationsspielraum zu. Firmen werden bei Auflagen den Nachweis von den Behörden for- dern, dass bestimmte, von ihnen eingesetzte Stoffe nicht unbedenklich seien. Doch umgekehrt wird doch ein Schuh draus. Viele Phthalate sind gesundheitsschädigend. Und bei vielen an- deren wird die Gesundheitsschädlichkeit vermutet. Der konsequent dem Vorsorgeansatz entsprechende Schritt ist deshalb sicherlich die Beschlussempfehlung des Umwelt- ausschusses: das Verbot dieser Stoffgruppe in Babyarti- keln und Kinderspielzeug, die in den Mund genommen werden können. Der Hinweis von Herrn Laufs, dass auch nicht alle möglichen Ersatzstoffe für Phthalate als PVC-Weichma- cher genau untersucht wären, ist sicherlich ein Hilfsargu- ment. Dennoch, es hat einen bedenkenswerten Aspekt: Die Chlorchemie hat die buntesten Prospekte und die wil- desten Arbeitsgemeinschaften – ich denke da beispiels- weise an „PVC und Umwelt“. Aber an der Tatsache, dass PVC bei der Herstellung, in der Verwendung und bei der Entsorgung nach wie vor höchst problematisch ist, wird sich vorbeigemogelt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung derAnträge: – Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten von Selbstständigen und deren mithelfenden Familienangehörigen in Land- und Forstwirt- schaft und im Handwerk der DDR, – Anerkennung der Rentenversicherungszeiten von Blinden und Sonderpflegeempfängerin- nen und Sonderpflegeempfängern der DDR – Sammelübersicht 70 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 13 a bis c) Angelika Krüger-Leißner (SPD): In einer Wochen- rückschau wird man diese Woche wahrscheinlich als Ren- tenwoche bezeichnen. Mit der Vorstellung des Entwurfes für ein Altersvermögensaufbaugesetz durch Minister Riester haben wir den Einstieg in eine mutige Rentenre- form gemacht, die für die kommenden Generationen eine verlässliche Perspektive geben wird. Wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag der deutschen Einheit ist mir als Bran- denburgerin auch sehr wichtig, daran zu erinnern, dass dies eine Rentenreform ist, die gleichberechtigt für uns al- le in Deutschland, in Ost und West, gelten wird. Allzu schnell sollten wir aber auch nicht vergessen, dass vor wenig mehr als zehn Jahren diese gemeinsame Perspektive außerhalb jeder Reichweite oder gar Vorstel- lung schien. Die Rentnerinnen und Rentner im damals ge- teilten Deutschland hatten gegenüber den Jüngeren einen Vorteil: Sie konnten sich gegenseitig besuchen. Ausreise- anträge mussten die Rentnerinnen und Rentner bei uns in der DDR nicht stellen; ihnen war die Ausreise problemlos möglich. Sicher nicht aus Menschenfreundlichkeit. So sehr wir uns über dieses kleine Stück Freiheit für Eltern oder Großeltern freuten, so sehr spürten wir auch die staat- liche Absicht dahinter. Die dauerhafte Ausreise eines Rentners oder einer Rentnerin war der DDR wohl will- kommen, beide kosteten ja nur Geld. Manche haben daher ihre Ausreisefreiheit auch als unausgesprochene Auffor- derung zum Gehen empfunden. Daran sollten wir heute auch denken, vor allem diejenigen, die sich heute so sehr um die Rentner der ehemaligen DDR kümmern wollen. Die Überleitung der DDR-Renten in bundesdeutsches Recht war eine riesige Aufgabe. Mit dem Rentenüberlei- tungsgesetz wurde für alle Rentnerinnen und Rentner in Deutschland ein einheitliches materielles Rentenversiche- rungsrecht geschaffen. Sicher gab es hier und dort unter- schiedliche Ansichten bei Einzelfragen und unterschiedli- che Verfahren. Aber dennoch möchte ich für die rot-grüne Koalition feststellen: Im Großen und Ganzen sehen wir im Rentenversicherungsrecht keine großen Überführungs- lücken, die es für die Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder zu schließen gilt. Viele soziale und wirtschaftliche Fragen und Probleme sind bei der deutschen Einheit nur ungenügend behandelt worden; aber für die Renten gilt dies ganz sicher nicht. Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass der durchschnittliche Rentenbetrag bei Männern im Osten 1 811 DM beträgt, bei Männern im Westen 1 797; bei Frauen sind es im Osten 1114, im Wes- ten 941 DM. Wenn es denn ein Problem der Gleichbe- rechtigung bei den Renten gibt, dann wohl kaum zwischen Ost und West als eher zwischen Frauen und Männern. In einem Punkt hat die alte Bundesregierung aber bei der Überleitung der Renten sehr schlampig gearbeitet: im Bereich der Anerkennung der zahlreichen Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR. Die SPD-Fraktion hat damals sehr deutlich vor einer Vermengung von Straf- recht und Rentenrecht gewarnt; auch wenn der moralische Hintergrund wohl verständlich war. Unsere Skepsis wur- de schließlich durch das Bundesverfassungsgericht be- stätigt. Wir bzw. die rot-grüne Bundesregierung müssen jetzt eine der Entscheidung des Verfassungsgerichts gemäße Lösung finden, was nicht einfach und – das nur nebenbei – auch teuer ist. Wir sind froh, dass die rot-grü- ne Bundesregierung hier gründlich arbeitet, und das dau- ert eben seine Zeit. Aber Schnellschüsse helfen hier kaum weiter. Die PDS erweckt immer wieder den Eindruck, als gä- be es beim Rentenrecht für die Ostdeutschen noch große Überführungslücken, wie zum Beispiel bei der Anerken- nung der rentenrechtlichen Zeiten von Selbstständigen in der Land- und Forstwirtschaft und im Handwerk, wie dies in dem heute zur Debatte stehenden Antrag wiederum auf- taucht. Nur ganz so einfach ist es eben nicht: Selbstständige in der DDR waren von 1951 bis 1968 von der Versiche- rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung be- freit, konnten aber freiwillig Beiträge leisten. Allerdings, nur die wenigsten haben das getan. Während einige, wie zum Beispiel die Ärzte durchaus verschiedene Sparformen zur Alterssicherung fanden, hat dies ein großer Teil der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011686 (C) (D) (A) (B) Handwerker nicht getan. Für das eigene Einkommen, den eigenen Betrieb wurde jede Mark aktuell gebraucht, leider kam die Altersvorsorge dabei oft zu kurz; übrigens auch bei vielen Selbstständigen im Westen, die sich von der Ver- sicherungspflicht befreien ließen und bis heute, nun in Ost und West, befreien lassen. Was kurzfristig verständlich ist, zahlt sich jedoch lang- fristig nicht aus; auch wenn man die knappe Kasse vieler Handwerker dabei sieht. Die eigene Altersvorsorge – und eben auch den eigenen Beitrag dafür – sollte niemand in der Jugend vergessen. Die PDS fordert nun, diese beitragsfreien Zeiten bei der Rentenberechnung für ehemalige DDR-Bürger zu berück- sichtigen. Das würde kein Handwerker oder Selbstständi- ger im Westen, der von der Versicherungspflicht befreit wurde, verstehen; übrigens auch kein Selbstständiger, der heute in den neuen Ländern von der Versicherungspflicht befreit ist. All diese Leute erhalten für die Zeit ihrer Ver- sicherungsfreiheit keine Rentenleistungen. Es gilt nämlich das grundsätzliche Prinzip der Lohn- und Beitragsbezo- genheit der Rente; das heißt, Rente kann es grundsätzlich nur für die Zeiten geben, für die auch Beiträge geleistet wurden. Würden wir dem PDS-Antrag folgen, so würde dieses Prinzip für eine Gruppe ehemaliger DDR-Bürger nicht gelten, zulasten all der anderen Selbstständigen, die künf- tig in Rente gehen werden oder bis heute im Westen in Rente gegangen sind. Würden wir das für alle gleichbe- rechtigt anwenden, so wäre das Grundprinzip der bei- tragsbezogenen Rente jedoch aufgehoben, und das möch- te eigentlich niemand hier im Hause, abgesehen davon, dass dies überhaupt nicht finanzierbar wäre. Die SED- Übergangsregierung unter Modrow hat diese beitragsfrei- en Zeiten schnell noch anerkannt, so dass diese Regelung im Sinne der PDS bis Ende 1991 – dem Zeitpunkt der Überführung in das westliche Rentenrecht – in den neuen Ländern gültig war. Im Sinne des Eigentumschutzes wur- de dies auch übergangsweise für Rentenzugänge bis De- zember 1996 anerkannt. Seit 1. Januar 1997 gilt aber ein einheitliches Recht mit dem Prinzip der beitragsbezoge- nen Rente in Ost und West. Von der Überführungslücke kann also nicht die Rede sein. Auch bei der Frage der Anerkennung von Rentenversi- cherungszeiten der Bezieher von Blinden- und Sonder- pflegegeld kann man keineswegs von einer Über- führungslücke sprechen. Die Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld, die zum Beispiel Tätigkeiten als Tele- fonisten, Masseure, Bademeister, Fußpfleger oder Schreibkräfte ausgeübt haben, waren von der persönli- chen Beitragspflicht befreit, allerdings waren sie grund- sätzlich sozial- bzw. rentenversichert. Die Zeiten des Be- zugs einer Invalidenrente gehen im bestimmten Umfang in die Berechnung der späteren Altersrente ein, und – soweit Beiträge für die freiwillige Zusatzrentenversicherung ab einem monatlichen Arbeitsentgelt von 600 DM geleistet wurden, sogar als Beitragszeiten. Würden dem PDS-An- trag nach alle Beschäftigungszeiten der Bezieher von Blin- den- und Sonderpflegegeld als vollwertige Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt, so wür- de dies eine umfassende Aktion der Nachversicherung und Nachentrichtung von Beiträgen auslösen, die praktisch und auch rechtlich nicht durchführbar wäre. Dennoch möchten auch wir in diesem Fall die Bundes- regierung bitten, bei dieser Frage eine sachgerechte Lö- sung für diesen nicht allzu großen Personenkreis zu erar- beiten und dies bei den Beratungen im Ausschuss mit den Fraktionen zu diskutieren. Warten wir in dieser Frage al- so die Ausschussberatungen ab. Rentenrecht ist keine leichte Sache, nicht zuletzt wenn es um solche Detailfragen, wie in den vorgelegten Anträ- gen geht. Allzu leicht kann man da auch ungenau werden, Unsicherheit verbreiten oder bei der Suche nach ver- meintlich gerechten neuen Lösungen neue Ungerechtig- keiten hervorrufen. Um so wichtiger ist es, dass die Ren- tenpolitik klare Linien hat, inhaltlich und rechtlich fundiert und solide erarbeitet ist. Im diesem Sinne hat die rot-grü- ne Bundesregierung einen wichtigen und guten Vorschlag für die Rentenreform in dieser Woche unterbreitet. Hier ist unser aller Engagement für eine sichere Rente in den neu- en und alten gefragt. Der Blick und die Arbeit sollte in die Zukunft gehen – wenn möglich in einem Konsens, der die- sem Thema und der Aufgabe angemessen ist. Claudia Nolte (CDU/CSU): Und wieder eine Debatte zu rentenrechtlichen Fragen aufgrund der Überführung des DDR-Rentensystems in das SGB VI. Ich weiß nicht, wie oft diese Thematik uns schon be- schäftigt hat. Auf jeden Fall schon sehr oft. Und eigentlich ist es ja auch nicht verwunderlich. Die Alterssicherung hat eine hohe Bedeutung für die betroffenen Menschen und es ist ein großer Personenkreis, die dieses Thema ganz kon- kret betrifft. Nicht wenige Menschen in der ehemaligen DDR stehen mit geringen Renten bzw. mit geringen Ren- tenanwartschaften da, sodass berechtigte Sorgen vorhan- den sind. Und dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen, wenn diejenigen in Rente kom- men, die heute schon Langzeitarbeitslose sind. Das ändert allerdings nichts daran, dass die überwiegende Zahl der Rentner in einem erheblichen Maß davon profitiert haben, dass das DDR-Rentensystem in das bundesdeutsche Recht überführt wurde. Erstmals erfuhren Renten ohne die Be- liebigkeit von Parteitagsbeschlüssen eine Dynamisierung. Wir hätten sicherlich auch nicht diese vielen Probleme bei der Rentenüberführung gehabt, wenn das ehemalige DDR-Rentensystem gerechter und transparenter gewesen wäre. So waren viele Rechtssachverhalte nicht eindeutig und bis heute schwer nachvollziehbar, sodass berechtigte Erwartungen und Wünsche an uns in der Politik herange- tragen werden, hier weitere Veränderungen vorzunehmen. Ich erinnere beispielsweise, dass noch Anfragen seitens der Beschäftigten der Reichsbahn in der ehemaligen DDR vorliegen, wozu wir ja auch entsprechende Anträge im Bundestag eingebracht haben. Ein ähnlicher Sachverhalt trifft auf die Postler zu und die ehemaligen Beschäftigten des Gesundheitswesens der DDR. Ebenso gibt es die Ur- teile des Bundesverfassungsgerichtes, die uns ebenfalls dazu zwingen, eine Novelle des Ausgleichs- und Anwart- schaftüberleitungsgesetzes, AAÜG, vorzunehmen. Ich hoffe, dass wir hier bald mit einem entsprechenden Ge- setzentwurf von der Bundesregierung rechnen können. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11687 (C) (D) (A) (B) In dieser Debatte geht es um zwei Anträge der PDS und der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses. Gera- de beim Letztgenannten handelt es sich um eine Thema- tik, die uns schon häufig beschäftigt hat. Nämlich mit dem ganzen Komplex der zu DDR-Zeiten freiwillig Versicher- ten, die in der Regel mit einem Monatsbeitrag von 3 Mark sich eine rentenrechtliche Anerkennung erwarteten. Auch diesmal fällt die Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses aus wie einige Male vorher, auch wenn es für die Betroffenen, die ja meistens Frauen sind, die An- gehörige gepflegt haben, unbefriedigend ist, denn es wird empfohlen, an der bestehenden Situation keine Verände- rung vorzunehmen. Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass mit 3 Mark freiwilligen Versicherungsbeitrag, die auch zu DDR-Zeiten nur eine unwesentliche Auswirkung auf die Rente gehabt hätten, da in den meisten Fällen eine Min- destrente erworben wurde, keine Anwartschaften nach dem SGB VI erwartet werden konnte. Würden diese Bei- tragszahlungen nach dem SGB VI anerkannt und aufge- wertet, würden sie demgegenüber einen viel höheren und damit nicht gerechtfertigten Betrag ausmachen. Zudem würde die jetzt schon schwierige Finanzsituation der Ren- tenkasse enorm belastet. Ähnliches stellt sich meines Erachtens auch bei der Personengruppe dar, die die PDS in ihren Anträgen an- spricht: den Selbstständigen und den helfenden Familien- angehörigen in Land- und Forstwirtschaft und im Hand- werk wie auch die Blinden- und Sondergeldempfänger. Ihnen wird eine Rente nach SGB VI zuteil, das heißt, die anrechenbaren Teile wurden wie bei jedem anderen Rentner auch überführt, zum Beispiel die damalige Inva- lidenrente. Es ist, denke ich, nicht durchsetzbar, neue Sondertatbestände zu schaffen, um hier einzelnen Perso- nengruppen entgegenzukommen, wodurch aber neue Un- gleichheiten aufgebaut würden. Nun sind die Anträge auch recht sparsam, was die kon- krete Fallsituation und deren Beschreibung anbelangt, wie viel Petitionen das beträfe und welche Beträge das aus- machen würde und woraus sich hier Anspruchsberechti- gung ableiten ließe. Hier müssen mehr Fakten auf den Tisch. Wenn man bedenkt, dass wir schon bei den vorher- gehenden Änderungen des RÜG und AAÜG soweit es ging alle Petitionen mit beraten und bedacht haben, bin ich skeptisch, inwieweit sich aus den hier aufgeführten Fall- gruppen Handlungsnotwendigkeit ergibt. Ich halte es auch nicht für leistbar, die Rentenbiografie der DDR nach einem nachgezeichneten Wahrscheinlich- keitsverlauf zu berechnen, wie diese Rentenbiografie aus- gesehen hätte, wenn der oder die Betroffene in der Bun- desrepublik Deutschland gelebt hätte. Ich glaube, dann hätten noch ganz andere Berufsgruppen das Recht zu for- dern, ein Äquivalent an Rentenbiografie nachzuzeichnen und entsprechende Rentenbeträge zu erhalten, wie ihre Berufskollegen vergleichsweise im Westen. Weil es hier um sensible Fragen geht, denke ich, ist es unsere Aufgabe im Ausschuss, diese noch mal zu beraten mit den dazu notwendigen Sachinformationen und ein Punkt nach dem anderen abzuschließen. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Sehr geehrte Damen und Herren, sie wollen in Ihrem Antrag die Beschäftigungszeiten der Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld in der ehemaligen DDR durch die Nachversicherung als vollwertige Beitragszeiten in der gesetzlichen Pflegeversicherung anerkennen. Zur Sachlage möchte ich ein paar Worte voraus- schicken: Hier handelt es sich um eine besondere Sachla- ge, denn die Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld galten – anders als Personen mit vergleichbaren Ein- schränkungen oder Behinderungen in den alten Bundes- ländern – automatisch als invalide. Deshalb waren be- schäftigte Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld nach dem Sozialversicherungsrecht der DDR – unabhän- gig von der Höhe ihres Einkommens – ab 1. September 1972 bis Ende 1991 von der persönlichen Beitragszahlung zur Sozialpflichtversicherung bzw. zur Rentenversiche- rung befreit, obwohl sie wie andere beschäftigte Bezieher einer Invalidenrente sozialversichert waren. Für die Be- rechnung der späteren Altersrente oder einer Hinterblie- benenrente waren diese Bezugszeiten den Zeiten einer versicherungspflichtigen Tätigkeit aber gleichgestellt. Nach dem SGB VI gehen die Zeiten des Bezugs einer Invalidenrente oder einer Rente wegen verminderter Er- werbsunfähigkeit bei der Berechnung der späteren Alters- rente in bestimmtem Umfang als Anrechnungszeit und, so- weit Beiträge zur FZR für das Arbeitsentgelt über 600 Mark/Monat gezahlt worden sind, als Beitragszeiten ein. Wegen der eingeschränkten Beitragsmöglichkeiten für das Arbeitsentgelt bis zu 600 Mark/Monat hängt der Renten- ertrag für diesen Personenkreis überwiegend von der in- dividuellen Beitragsleistung vor September 1972 ab. Ich denke, in Anbetracht dieser Sachlage muss einge- hend geprüft werden, wie eine Benachteiligung der Blin- den- und Sonderpflegegeldempfänger verhindert werden kann. Neben dieser Sachlage besitzt der Staat eine Ver- antwortung gegenüber denen, die körperlich benachteiligt sind. Das gilt auch für Korrekturen im Rentenversiche- rungsrecht. Allerdings ist es in rechtlicher Hinsicht nicht möglich, dies, wie in dem Antrag gefordert, auf dem We- ge der Nachversicherung durch eine Ergänzung des § 233a SGB VI zu lösen. Denn dieses Verfahren würde voraus- setzen, dass eine Nachzahlung von Beiträgen durch einen früheren Arbeitgeber möglich ist. Das ist jedoch in recht- licher Hinsicht nicht möglich. Die Bundesregierung prüft deshalb alle sich ergeben- den Möglichkeiten, eine sachgerechte Lösung zu finden. Aufgrund der rechtlichen Nichthaltbarkeit des Antrags bit- te ich darum, diesen Antrag abzulehnen. Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Die vorliegenden Anträge der PDS sind gut gemeint, sie zeigen aber wieder einmal, dass es nicht so einfach möglich ist, das Renten- recht der ehemaligen DDR in systematischer Weise in das jetzt geltende Recht zu überführen. In der Tat gab es in der DDR mithelfende Familienan- gehörige vor allem in Handwerks- und kleinen Gewerbe- betrieben und in der Land- und Forstwirtschaft. In den Jah- ren zwischen 1951 und 1968 war keine Beitragszahlung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011688 (C) (D) (A) (B) dieser Personen zur Sozialversicherung möglich und not- wendig, da sie über die Selbstständigen gesetzlich mitver- sichert waren und einen Rentenanspruch erwarben. Inva- lidenrentner der DDR, die gleichzeitig Blinden- und Sonderpflegegelder erhielten, waren nach DDR-Recht während einer Berufstätigkeit pflichtversichert. Von der eigenen Beitragszahlung zur Sozialversicherung waren sie jedoch befreit. Sie wurden bei der Rentenberechnung wie Pflichtversicherte behandelt. Die PDS-Fraktion beantragt im ersten Fall, für diesen Zeitraum eine rentenrechtliche Regelung herbeizuführen und im zweiten Fall die Entgelte dieser Personen bei der Berechnung der Rente nach dem SGB VI rentenwirksam werden zu lassen. Beide Anträge sind abzulehnen. Denn hier werden die einschlägigen Vorschriften des DDR- Rechts mit dem Recht der Rentenversicherung, Sozialge- setzbuch VI, vermischt. Nach DDR-Recht haben sich die genannten Vergünstigungen bei der Berechnung der Ren- te kaum positiv ausgewirkt, da in der ehemaligen DDR ei- ne Einheitsrente gezahlt wurde. Im Rahmen der Rentenberechnung nach SGB VI kön- nen sich dagegen erhebliche Auswirkungen ergeben. Es könnte nicht nur zu einer unverhältnismäßigen Besser- stellung der Betroffenen führen, die sie in der DDR nicht gehabt hätten. Dies könnte zu einer nicht unerheblichen Mehrbelastung der gesetzlichen Rentenversicherung führen. Darüber hinaus wurden von der früheren Bundes- regierung alle rentenrechtlichen Regelungen in der ehe- maligen DDR im Bereich der Selbstständigen und deren mithelfenden Familienangehörigen in Land- und Forst- wirtschaft und im Handwerk überprüft. In den Fällen, in denen es notwendig erschien, wurden diese bereits in das SGB VI übernommen. Die F.D.P. ist im Übrigen damit einverstanden, dass der Petitionsausschuss die entsprechenden Eingaben nicht be- fürwortet hat. Selbst wenn die PDS in den nächsten Wo- chen und Monaten noch für jede Berufsgruppe, die in der DDR einem Sonderrecht unterlag, Anträge einbringt, wird die F.D.P. immer wieder die inzwischen auch vom Bun- desverfassungsgericht bestätigten Prinzipien als Messlat- te an diese Anträge anlegen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zurBeratung des Antrages: Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzun- gen durch ein Vergabegesetz (Tagesordnungs- punkt 22) Klaus Wiesehügel (SPD): Der Ausgangspunkt des heute vorliegenden Antrages ist offenbar die bevorstehen- de europarechtliche Liberalisierung des öffentlichen Per- sonennahverkehrs, die zu einem Wettbewerb um öffentli- che Aufträge führen wird. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von der PDS gleich zu Beginn sagen: Sie verknüpfen hier zwei Themenkreise, die nur teilweise zu- sammen hängen – das Vergaberecht und die Arbeitsbedin- gungen bei Verkehrsunternehmen. Aber in der Konse- quenz wird auch hier der Wettbewerb in starkem Maße über den Preis ausgetragen werden. Und es besteht für mich kein Zweifel, dass dieser Wettbewerb die bereits jetzt schon zu beobachtende Flucht aus den Tarifverträgen be- schleunigen und den Druck auf die Gewerkschaften er- höhen wird. Diese traurigen Konsequenzen bei der Verga- be öffentlicher Aufträge sind allerdings in der Tat nicht neu. In anderen Bereichen, zum Beispiel in der Bauwirt- schaft, sind sie seit langem zu beobachten. Man kann sich des Eindrucks kaum wehren, dass sich die öffentliche Hand selbst den wenigen Regeln, die für sie noch beste- hen, zum Beispiel der Verdingungsordnung für Bauleis- tungen, entzieht, insbesondere durch die Vergabe an Ge- neralunternehmer. Nun ist seit dem 1. Juli 2000 in § 97 Abs. 4 des Geset- zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgesehen, dass bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit einem Wert oberhalb der europarechtlichen Schwellenwerte ar- beitsrechtliche, soziale und ökologische Standards, insbe- sondere also auch die Tariftreue, nur noch berücksichtigt werden können, wenn diese Standards in Gesetzen des Bundes und/oder der Länder als Vergabekriterien gefor- dert werden. In einigen Ländern ist dies in zum Teil unzu- reichender Form geschehen, aber es kommt gerade durch die Bundesländer Bewegung in dieses Problem. Ich möchte kurz auf die heute vorgelegten Forderungen eingehen und sage offen, dass hier nicht alle Ansätze in- akzeptabel sind. Das Bundeswirtschaftsministerium erar- beitet zur Zeit ein Gesetz zur Bekämpfung illegaler Prak- tiken im öffentlichen Auftragswesen. Darin muss zum einen von den Auftragnehmern öffentlicher Aufträge die Abgabe einer Tariftreuerklärung verlangt werden. Zudem muss dringend die Kontrolle verstärkt und vereinfacht werden. Hierzu gehören auch die Einführung eines Zen- tralregisters für unzuverlässige Unternehmen sowie ent- sprechende Sanktionen. Diese Konkretisierungen fehlen in Ihrem Antrag. Auch was den zweiten Punkt ihrer Forderungen anbe- langt, so muss ich klarstellen, dass Bundesministerin Bergmann mit ihren Planungen über die Position der PDS hinausgeht. Sie hat am 8. September 2000 die Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft vor- gelegt. Danach sollen private Unternehmen verpflichtet werden, Maßnahmen zur Gleichstellung zu ergreifen. Wenn ein solches Gesetz, das zur Zeit noch geprüft wird, umgesetzt werden sollte, kommen mehr Frauen in den Ge- nuss einer solchen Förderung als durch das von Ihnen ge- forderte Gesetz zur Vergabe öffentlicher Aufträge. Was die Forderung anbelangt, den Ausschreibungsge- winner zur Übernahme von Personal des bisherigen Leis- tungserbringers zu verpflichten, so verweise ich darauf, dass hierzu eine umfangreiche Rechtsprechung des Euro- päischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichtes vorliegt. Hier ist die Bundesregierung rechtspolitisch nicht mehr völlig frei, ohne die anderen Mitgliedstaaten der EU die Regeln über den Betriebsübergang durch nationale Ge- setze zu verändern. Wir sollten daher zumindest die wei- tere Entwicklung dieser Rechtsprechung abwarten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11689 (C) (D) (A) (B) Und ebenso sollten wir die Stellungnahme des Ver- kehrsministeriums zum EU-Verordnungsentwurf zur Ver- gabe von Aufträgen/Verträgen beim Öffentlichen Perso- nennahverkehr abwarten, wo sicher auch Teile der von Ihnen aufgestellten Forderungen geregelt werden. Aber noch einmal zum Kern Ihrer Forderung: Sie dür- fen sicher sein, dass die Bundesregierung in absehbarer Zeit ein Gesetz zur Bekämpfung illegaler Praktiken im öf- fentlichen Auftragswesen vorlegen wird, und können da- von ausgehen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie- rung über Ihre Forderungen hinausgehen wird. Insoweit erübrigt sich der heutige Antrag. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das Vergaberecht ist eine wichtige Rechtsmaterie, die einen Wirtschaftsteil besonderen Regeln unterwirft, der in seinen Größenord- nungen nicht zu unterschätzen ist. Alles in allem unterlie- gen den Konsequenzen dieses Rechts rund 400 Milliarden DM; das sind mehr als 10 Prozent des Bruttosozialpro- dukts in Deutschland. Die Grundsatzfrage, die im vorlie- genden Antrag angesprochen wird, ist nicht neu: Sollen systemfremde, das heißt vergabefremde, Elemente in das Vergaberecht eingeführt werden? Dies ist eine ordnungs- politische Frage. Darf die Vergabe öffentlicher Aufträge ausschließlich nach wirtschaftlichen Kriterien erfolgen oder soll sie mit so genannten vergabefremden Aspekten befrachtet werden? Wir sagen mit aller Deutlichkeit wie schon bei der Verabschiedung des Vergaberechtsänderungsgesetzes (VgRÄG) vor zwei Jahren: Ordnungspolitisch ist es ge- boten, vernünftig und richtig, jeden vergabefremden Aspekt grundsätzlich auszuschließen. Zum Schutz des Mittelstands wurde damals lediglich ein Vorrang für mit- telständische Lösungen und für Einzellos- und Fachlos- vergabe aufgenommen. Bei Verstoß der vergebenden Behörde gegen diesen Vorrang hat der unterlegene Mittel- ständler seither die Möglichkeit, den Verstoß gegen den Vorrang für mittelständische Vergabe gerichtlich prüfen zu lassen. Im Streit mit dem Bundesrat wurde 1998 der Kompro- miss zugelassen, dass vergabefremde Kriterien durch Bun- des- oder Landesgesetz möglich sind; hierauf zielt der vorliegende Antrag ab. Als Wirtschafts- und Ordnungspo- litiker bleibe ich aber bei der Grundüberzeugung: So we- nig vergabefremde Kriterien wie möglich. Alles andere kann nicht im Interesse einer vernünftigen Wirtschaftspo- litik liegen. Es bestünde die Gefahr einer nach oben offe- nen Richtwertskala. Sollen alle gesellschafts- und sozial- politischen Begehrlichkeiten künftig bei der Vergabe berücksichtigt werden? Die Bevorzugung von Ausbil- dungsbetrieben, der Ausschluss von Unternehmen, die in Verbindung mit der Scientology-Sekte stehen, eine bevor- zugte Auftragsvergabe an Justizvollzugsanstalten, Um- weltschutz, die Förderung nachwachsender Rohstoffe, die Berücksichtigung umweltfreundlicher Produktionsabläu- fe, Berücksichtigung Unternehmer bestimmter Regionen? Eine nicht enden wollende Liste von Wünschen und Be- gehrlichkeiten würde sich auftun. Das wäre das größte Sparprogramm, das man beschließen kann. Es kommt dann nämlich keine einzige öffentliche Auftragsvergabe mehr zustande. Die Berücksichtigung vergabefremder Aspekte verteuert zudem die öffentlichen Aufträge. Pro- bleme müssen auf dem Feld gelöst werden, auf dem sie entstehen, und mit Mitteln, die ihnen adäquat sind. Das Vergaberecht ist dazu nicht der richtige Ort. Die PDS will ein Vergabegesetz, um vergabefremde Aspekte in die öffentliche Vergabepraxis einzuführen. Wie soll dieser „Widerspruch in sich“ denn nach Ansicht der Kollegen heißen? BundesVergabeGesetz zur Einführung vergabefremder Wünsche bei der Vergabe öffentlicher Aufträge? Vergabeverhinderungsgesetz wäre der ange- messene Name! Die PDS begründet ihren Antrag zuallererst (Punkt 1 Seite 3 der Drucksache) damit, dem Land Berlin in einem Rechtsstreit mit dem Bundeskartellamt einen „verlässli- chen Rechtsrahmen“ zu gewährleisten. Der BGH hat in seinem Beschluss vom 18. Januar 2000 in der hier ange- sprochenen Rechtssache die Praxis des Berliner Senats be- anstandet, die Aufträge für Straßenbauarbeiten von einer so genannten Tariftreueerklärung abhängig zu machen. Laut Kartellsenat des BGH ist das Berliner Vergabegesetz nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der BGH hat daher die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Sieht man einmal von einer rechtlichen Bewertung ab, ob ein zu schaffendes Bundesvergabegesetz zur Einführung verga- befremder Aspekte bei der öffentlichen Auftragsvergabe, das wir überdies ordnungspolitisch nicht wollen, dem Land Berlin in einem anhängigen Rechtsstreit helfen könnte: Ist es rechtspolitisch etwa sinnvoll, in dieses lau- fende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ein- zugreifen? Warum heute dem Land Berlin helfen? Morgen vielleicht durch ein neues Bundesgesetz einem anderen Land, das möglicherweise grundgesetzwidrige Landesge- setze retten will? Betrachtet man den Rechtsstreit konkret in der Sache selbst, muss man überdies zu folgendem Schluss kommen: Auch ein dem Vergabegesetz Berlin entsprechendes Bun- desgesetz würde sich an Art. 9 Abs. 3 GG messen lassen müssen. Soweit im Antrag der PDS-Fraktion auf ein vom DGB in Auftrag gegebenes Gutachten von Professor Däubler verwiesen wird, dürften wir darin übereinstim- men, dass durch ein derartiges Gutachten eine „rechtliche Klärung“ der vom BGH beanstandeten verfassungsrecht- lichen Fragen in keiner Weise herbeigeführt wird. Damit bleibt es dabei, dass vor einer Entscheidung des Bundes- verfassungsgerichts über die Zulässigkeit einer gesetzli- chen Verpflichtung gegenüber öffentlichen Auftraggebern, die Abgabe einer Tariftreueerklärung zur Voraussetzung zu machen, sowohl entsprechendes Landes- als auch Bun- desgesetz möglicherweise verfassungswidrig wären. Das Hauptbegründungsargument der Kollegen der PDS ist da- mit nichtig. Lassen Sie mich abschließend ein paar Worte zu Euro- pa verlieren. Alle Bemühungen der europäischen Ebene im Rahmen ihrer Vergabe-Richtlinien-Praxis haben zu Recht folgenden Kerngedanken: die Bemühung der EU und ihrer Mitgliedstaaten um einen diskriminierungsfrei- en Wettbewerb und um mehr Wirtschaftlichkeit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Alle anderen Vorschriften dienen allein dem Zweck, eine Vergabe nach Fachkunde, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011690 (C) (D) (A) (B) Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Bewerber zu verwirklichen. Nicht nur, dass nach Ansicht des BGH das hier angesprochene Exempel des Berliner Vergaberechts möglicherweise gegen höherrangiges europäisches Recht verstößt und es das Verfahren wahrscheinlich auch dem EuGH noch zur Entscheidung vorlegen will: Die Ein- führung eines deutschen Sonderrechts für vergabefrem- de Entscheidungskriterien würde ein Wettbewerbsgefäl- le zu anderen EU-Ländern schaffen und widerspricht der Grundintention öffentlicher Vergabepraxis: Wirtschaft- lichkeit, Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässig- keit. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Viele der im Entschließungsantrag der PDS enthaltenen Forde- rungen begrüßen wir ausdrücklich – auch wenn sie nicht besonders originell sind. Schließlich sind sie längst ein Anliegen dieser Bundesregierung. Wir teilen die Absicht, bei der Vergabe öffentlicher Auf- träge die Einhaltung von bestehenden Tarifverträgen zum Maßstab zu machen, und das heißt auch: Bei einem Ver- stoß dagegen sind wirksame Sanktionen zu ergreifen – zum Beispiel der Ausschluss bei der Vergabe von Liefer-, Bau- und Dienstleistungen für einen bestimmten Zeit- raum. Auch wir wollen Anreize dafür schaffen, dass Auftrag- nehmer soziale – und ergänzt werden muss: auch ökologi- sche! – Kriterien erfüllen. Wie das zu leisten ist, ist jedoch eine andere Frage. Denn dabei stellen sich wegen dem EU- Recht und der BGH-Rechtsprechung praktische Rechts- fragen. Es geht nicht zuletzt um Verfassungsrechtsaspek- te – vor allem die negative Koalitionsfreiheit –, die ein sorgfältiges Verfahren notwendig machen. Der PDS-An- trag ist ein Hinweis auf Handlungsbedarf, aber bietet aus unserer Sicht keine handhabbaren Vorschläge, zumal die Problemkreise Einkauf von Waren und Dienstleistungen und die Organisation des Nahverkehrs unglücklich mitei- nander vermengt werden. Natürlich gibt es hier Über- schneidungen, aber das Vergaberecht, an dem die Koaliti- on gerade arbeitet, ist nicht der Platz, um den öffentlichen Personennahverkehr zu regulieren. Der Platz hierfür ist im Personenbeförderungsgesetz sowie in einem Verord- nungsentwurf der EU, dessen Beratungen demnächst im Ministerrat beginnen. Noch einige Ausführungen zu den einzelnen Sachver- halten: Innerhalb der Bundesregierung wird ein Gesetz- entwurf abgestimmt, der bei der Vergabe bestimmter Lie- fer-, Bau- und Dienstleistungen von Unternehmen unter anderem die Erklärung verlangt, dass ein Bewerber oder Anbieter keinen Verstoß gegen ihn bindende Tarifverträ- ge begeht. Wird eine solche Erklärung nicht oder wahr- heitswidrig abgegeben, ist das Unternehmen grundsätzlich vom Vergabeverfahren und für einen bestimmten Zeit- raum auch von weiteren Beschaffungsaufträgen auszu- schließen. Damit wird im staatlichen Einkaufsbereich über die arbeitsrechtlichen Vorschriften hinaus dafür gesorgt, dass geltendes Tarifrecht eingehalten wird. Angesichts der im PDS-Antrag zitierten Vorlage des BGH an das Bun- desverfassungsgericht zum Berliner Vergabegesetz ist noch nicht abschließend zu entscheiden, ob darüber hinaus auch Erklärungen verlangt werden können, die auch nicht tarifgebundene Bewerber verpflichten, den üblichen Ta- riflohn zu bezahlen. Die im Antrag zitierte, bejahende Po- sition aus dem Däubler-Gutachten für den DGB wird lei- der nicht von allen Verfassungsrechtlern geteilt. Hier gilt es also, eine weitere Klärung herbeizuführen und Wün- schenswertes mit dem rechtlich Machbaren zu verbinden. Ein weiterer Punkt: Die Bundesregierung – namentlich die Bundesministerin Bulmahn – hat einen Entwurf zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Män- nern in der Privatwirtschaft bis zum Jahresende in Aus- sicht gestellt. Er sollte auch aus unserer Sicht Bonuspunk- te für Maßnahmen der Frauenförderung enthalten, die bei der Vergabe von Aufträgen berücksichtigt werden. Glei- ches gilt im Übrigen für die Ausbildungsförderung. Es fin- den darüber hinaus noch Gespräche mit der Wirtschaft da- rüber statt, welche Maßnahmen, unter Umständen auch gesetzgeberische, dem Ziel der Chancengleichheit am bes- ten gerecht werden. Noch ein bedenklicher Punkt im PDS-Antrag darf nicht unerwähnt bleiben: Bei der Vergabe von Dienstleistungs- konzessionen gelten zu Recht andere Maßstäbe als beim öffentlichen Einkauf. Gerade weil das wirtschaftliche Ri- siko für die Erbringung der Dienstleistung bei den Unter- nehmen verbleibt, geht das europäische Vergaberecht da- von aus, dass es sich in diesen Fällen nicht um einen vergaberechtlich relevanten Vorgang handelt. Ob der na- tionale Gesetzgeber deshalb noch eine eigene Regelungs- hoheit hat, wäre noch zu klären. Ganz problematisch ist die vierte Forderung der PDS. Der Zuschlag in einem Ausschreibungsverfahren über Leistungen und Dienstleistungen für ein bestimmtes Un- ternehmen führt nicht dazu, dass andere Unternehmen in dieser Branche keine weiteren Aufträge mehr erhalten. Denn sie können natürlich grundsätzlich an neuen Aus- schreibungen teilnehmen, also weitere wirtschaftliche Ak- tivitäten betreiben, die nicht dem Vergaberecht unterlie- gen. Schon deshalb besteht kein wirtschaftspolitisches Bedürfnis für die Forderung nach einer Übernahme des Personals des bisherigen Leistungserbringers – von der ar- beitsrechtlichen Problematik ganz zu schweigen. Das Ganze ist also wesentlich komplexer, als der PDS- Antrag unterstellt. Aber wir arbeiten daran, um zu prakti- kablen Lösungen zu kommen. Die Bundesregierung ist da- bei, zum Verordnungsentwurf der EU-Kommission über „Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vergabe ge- meinwirtschaftlicher Verträge für den Personenverkehr“ eine Stellungnahme zu erarbeiten – unter Einbindung aller Beteiligten. Dabei spielt die Frage der konkreten Ausge- staltung des Ausschreibungsverfahrens eine wichtige Rol- le. Wegen der Besonderheiten des öffentlichen Personen- nahverkehrs streben wir speziell darauf zugeschnittene Lösungen an, die weit über die im PDS-Antrag formulier- ten Kriterien hinausreichen. Sie sollen zugleich einem übergeordneten Ziel dienen, das wir eigentlich alle teilen müssten – nämlich einer Qualitätsverbesserung der Ver- kehrsdienstleistungen. In der Summe lässt sich feststellen: Der heute vorlie- gende Antrag hat ein berechtigtes Anliegen, nämlich die Tariftreue. Er ist zwar gut gemeint, aber nicht gut durch- dacht. Und deshalb lehnen wir ihn ab. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11691 (C) (D) (A) (B) Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Ein nicht unbedeuten- der Politiker, nämlich der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Abschiedsrede vor dem Deutschen Bun- destag 1986, sagte einmal: „Idealismus in der Politik darf nicht zur ideologischen Schönfärberei und Romantik ver- kommen.“ Der Antrag der PDS-Bundestagsfraktion, eine Aufzählung ideologisch-verträumter Ziele und Vorstel- lungen zeigt, dass Sie – 10 Jahre nach der friedlichen Re- volution in der DDR – immer noch nicht in der Bundesre- publik Deutschland angekommen sind. Nur ein Träumer kann meinen, die von Ihnen gemachten Vorschläge seien mit den Grundstrukturen unserer sozialen Marktwirtschaft vereinbar. Nur ein Beispiel, das genügt: In Ihrem Vergabegesetz wollen Sie eine Verpflichtung der Gewinner von Aus- schreibungen zur Übernahme des Personals des bisherigen Leistungserbringers bei unveränderten Arbeitsbedingun- gen festschreiben. Damit setzten Sie ein, wenn nicht das Grundprinzip der Marktwirtschaft außer Kraft: den Wett- bewerb. Denn welcher Unternehmer kann sich künftig noch um öffentliche Aufträge bemühen, wenn er im Falle seiner Beauftragung fürchten muss, die Arbeitnehmer seines Konkurrenten, der bisher den Auftrag hatte, einstellen zu müssen? Die Konsequenz gerade für kleine mittelständische Un- ternehmer wäre, von der Vergabe öffentlicher Aufträge faktisch ausgeschlossen zu sein. Ein kleines Unternehmen kann es sich nämlich nicht leisten, Abfindungen zu zahlen oder teure Kündigungsprozesse zu führen, noch weniger mit einem Überhang an Arbeitskräften am Markt bestehen. Ich fürchte, eine solche Ausweitung des Betriebsüber- gangs – § 613a BGB – würde den Arbeitsmarkt in Deutschland weiter strangulieren. Wir brauchen aber ge- rade das Gegenteil: mehr flexible Strukturen am Arbeits- markt. Wir Freien Demokraten werden in den nächsten Wochen mit einem Gesetzentwurf zu den befristeten Ar- beitsverhältnissen, Anträgen zum Tarifrecht und zu einem modernen Kündigungsschutz, der die Interessen beider Vertragsparteien besser berücksichtigt, unsere Vorschläge vorlegen. Dabei steht bei unseren Überlegungen im Vor- dergrund: Wie reformieren wir unser Arbeits- und Tarif- recht, dass der konjunkturelle Aufschwung auch endlich zu einem spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit führt? An einer Tatsache kommt nämlich niemand in diesem Parlament vorbei: Schon das heutige Arbeits- und Tarif- recht errichtet eine schützende Mauer um den Arbeits- platzinhaber. Diese Mauer ist für einen Arbeitssuchenden zu schwer zu überwinden, sie schadet damit den Arbeits- suchenden, die ihre Arbeitsleistung, ihre Phantasie nicht einbringen dürfen. Wir sollten nicht vergessen: Bei 3,7 Millionen Arbeitslosen haben wir immer noch Massenar- beitslosigkeit in Deutschland. Und dann kommen Sie, die Kollegen von der PDS, und haben keine besseren Vor- schläge, als diese Mauer für die Arbeitssuchenden noch unüberwindbarer und undurchdringbarer zu machen. Das ist nicht nur eine falsche, das ist gerade für die ar- beitssuchenden Menschen in Deutschland eine schlechte Politik. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Ursula Lötzer (PDS): Seit langem fordert die IG BAU ein Vergabegesetz gegen die Schmutzkonkurrenz in der Bauwirtschaft. Erst letzte Woche erklärten die Betriebsrä- te tariftreuer Betriebe in Thüringen, Vertreter und Vertre- terinnen von 4 500 Beschäftigten, gegenüber der Thürin- ger Landesregierung: Wir akzeptieren nicht länger, dass Billiganbieter den Markt beherrschen und dazu noch Un- terstützung durch die öffentliche Hand erhalten. Wir for- dern von der Thüringer Landesregierung Maßnahmen, die Lohndumping am Bau unterbinden und fairen Wettbewerb unter den Bewerbern ermöglichen. – Kollege Wiesehügel kann diese Situation sicherlich noch sehr viel besser be- schreiben. Seit Anfang des Jahres hat die ÖTV in mehreren Akti- onstagen die Auseinandersetzung um ein Vergabegesetz forciert. Erst gestern forderten in Frankfurt 5 000 Be- schäftigte, die ÖTV und ein Vertreter des Verbands der Verkehrsunternehmen die Verkehrsminister auf, sich für ein Vergabegesetz einzusetzen. Anlässlich eines Aktionstages „5 vor 12“ beschrieb ein Gewerkschaftssekretär die Situation so: die ÖTV wisse schließlich, was in Köln passiere, wo auf Billiganbieter gesetzt werde. Die privaten Omnibusunternehmen können nur überleben, wenn die Fahrer Überstunden kloppen. Teilweise sitzen die Fahrer 220 und mehr Stunden am Steuer, weil sie nur so 2 800 DM netto nach Hause brin- gen. Ein anderer Gewerkschaftssekretär mahnte, übermü- dete, unfreundliche und schlecht ausgebildete Busfahrer, die dafür mit einem Hungerlohn nach Hause gehen, wür- den mit uralten stinkenden Fahrzeugen von Haltestelle zu Haltestelle hetzen, wenn es nicht gelinge, der Liberalisie- rung im Rahmen der EU-Verordnung Schranken zu setzen. Dies ist eine Gefahr nicht nur für die Beschäftigten und ih- re Familien, sondern auch für die Umwelt und die Ge- sundheit der Fahrgäste, eine Gefahr auch für die Versor- gung mit öffentlichem Nahverkehr in Stadt und Land. Diese Situation ist bereits ein Stück weit Realität, weil es längst keine homogenen Bedingungen im Nahverkehr mehr gibt. Seit Beginn der 90er-Jahre verschärft sich der Trend, Kostensenkungen auf dem Rücken der Beschäftig- ten durchzusetzen. Schon jetzt konkurrieren Betriebe mit dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes mit Betrieben mit dem Tarifvertrag für die privaten Anbieter, mit Betrie- ben mit Haustarifen und mit Billigstanbietern ohne Tarif- bindung. Mit zunehmendem Wettbewerb und ohne Regu- lation wird der Verbandsflucht weiter Tor und Tür geöffnet. Tarifautonomie ist ein Grundbestandteil unserer sozia- len Demokratie, den es zu schützen gilt. Nur im Rahmen der Tarifverhandlungen haben Beschäftigte Koalitions- rechte, das Recht, über Mindeststandards ihrer Arbeitsbe- dingungen mitzuentscheiden – ein Recht, das im Rahmen sozialstaatlicher Verantwortung erneuert werden muss. Es darf nicht dem grenzenlosen Wettbewerb geopfert werden. Tarifverträge ermöglichen dauerhafte Arbeitsbeziehun- gen, weil Unternehmen nicht ständig am Markt nach bil- ligeren Arbeitskräften suchen müssen, um die nächste Ausschreibung zu gewinnen. Nur dann investieren sie auch in Ausbildung. Nur dann ist Qualität von Dienstleis- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011692 (C) (D) (A) (B) tungen und ihre Weiterentwicklung gewährleistet. Tarif- autonomie gibt Planungssicherheit, auch für die Unter- nehmen. Sie dient der Sicherung des fairen Wettbewerbs und stellt gleiche Bedingungen her. Wettbewerb wird dann über die Qualität der Dienstleistungen geführt – ein Wett- bewerb, von dem dann auch die Benutzerinnen und Be- nutzer profitieren. Wer diese Werte anerkennt, darf nicht länger zusehen, wie ihnen der Boden entzogen wird. Kanzler Schröder er- klärte in seiner Rede vor der Jahrestagung des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen im Mai, die öffentliche Daseinsvorsorge sei ein wesentliches Korrektiv der Marktgesetze, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit im Interesse der Allgemeinheit durchzusetzen. Warum gibt es dann noch immer kein Vergabegesetz? Verkehrsminis- ter Klimmt erklärte gestern, er wolle sich für geltende Qualitäts- und Sozialstandards im öffentlichen Dienst ein- setzen. Dies gelte insbesondere für die Sicherheit der Fahr- zeuge und die Qualifikation von Mitarbeitern. Von der Anerkennung der Forderung nach einem Vergabegesetz war da nichts zu hören. Die Empfehlung einer Abtei- lungsleiterkonferenz, aus dem Antrag der Landesregie- rung Nordrhein-Westfalen einen Prüfauftrag zu machen, wird der Situation ebenso wenig gerecht. In einer Auseinandersetzung im Wirtschaftsausschuss begründete Staatssekretär Mosdorf die Zurückhaltung der Regierung mit dem Abwarten des Urteils des Bundesver- fassungsgerichts. Erst danach werde die Regierung tätig werden. Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird daraus nichts werden. Bis dahin sind die Bedingungen längst so weit fortgeschritten, dass ein Vergabegesetz nicht mehr helfen kann. Die Liberalisierung des öffentlichen Nahver- kehrs im Rahmen der EU stellt die Regierung nicht zurück, bis diese Frage entschieden ist. Professorin Rust und Pro- fessor Däubler haben in einem Rechtsgutachten bestätigt, dass die Aufnahme von Tariftreueerklärungen sowie das Eingehen auf sozialpolitische Belange, zum Beispiel die Bevorzugung von Anbietern, die besonders Frauen- und Ausbildungsplätze anbieten, nicht gegen die negative Ko- alitionsfreiheit verstoßen. Die Regierung sollte sich nicht länger ihrer sozialpoli- tischen Verantwortung durch das Schielen auf das Bun- desverfassungsgericht entziehen. Viele von der SPD haben mit der Unterschrift unter die Berliner Erklärung zugesagt, sich für die in unserem Antrag dargestellten Positionen einzusetzen. Ich behalte mir vor, über diesen Antrag na- mentlich abzustimmen zu lassen, wenn es bis dahin keinen Regierungsentwurf gibt. Noch eines zum Schluss: Heute morgen wurde über den gemeinsamen Kampf gegen Rechtsextremismus disku- tiert. Die gegenwärtige Vergabepraxis leistet Rassismus Vorschub, weil Ausländer und Ausländerinnen für den drohenden Arbeitsplatzverlust durch Lohndumping und den Verlust sozialer Sicherheit verantwortlich gemacht werden. Ein Vergabegesetz wäre auch ein guter und drin- gend notwendiger Beitrag Ihrer Regierung zur Bekämp- fung von Rassismus in der Mitte der Gesellschaft. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Erstens. Verga- berecht, das sind die Vorschriften, die dem Staat, seinen Behörden und Institutionen eine bestimmte Vorgehens- weise beim Einkauf von Gütern und Leistungen vor- schreiben. Einkauf bedeutet dabei jede Inanspruchnahme einer Leistung am Markt gegen Entgelt. Darunter fallen die Regeln darüber, wie eine Gemeinde vorzugehen hat, wenn sie zum Bau eines neuen Rathauses den Bauunter- nehmer oder zum Bau eines Müllkraftwerkes den Liefe- ranten sucht. Erfasst sind auch die Vorschriften, die die Bundesregierung beim Erwerb der Versorgungsgüter für die Bundeswehr einzuhalten hat. Unter dieses Vergabe- recht fallen schließlich die Regelungen, die die öffentliche Versorgungswirtschaft bei ihren Einkäufen zu beachten hat. Insgesamt sind von diesem Rechtsrahmen für die Vor- gehensweise beim Einkauf circa 13 Prozent des Bruttoin- landsproduktes betroffen. Mehr braucht nicht gesagt zu werden, um die Bedeutung dieser Regeln für unsere Wirt- schaft und um den Einfluss der Regeln auf die Perfor- mance der deutschen Wirtschaft klarzumachen. Zweitens. Der Erwerb der für die Existenz und die Auf- gabenerfüllung notwendigen Ressourcen – Waren, Dienst- leistungen und Bauten – gegen Geld, das vom Steuer- oder Gebührenzahler zwangsweise erhoben wird, hat nach un- serer Finanzverfassung „wirtschaftlich“ zu erfolgen. Primärziel aller Einkaufsregeln für öffentliche Auftragge- ber ist daher und muss es auch bleiben, wirtschaftlich und sparsam einzukaufen. In einer Zeit, in der die zur Verfü- gung stehenden Haushaltsmittel knapp bemessen sind und daher optimal eingesetzt werden müssen, hat dieses Primärziel zusätzliche Bedeutung. In Zeiten, in denen wir zu Recht, wie ich denke, von den öffentlichen Unterneh- men die besten Angebote für unsere Bürger zu angemes- senen Preisen verlangen, kann es gar keinen Zweifel ge- ben, dass die Wirtschaftlichkeit des Einkaufs die zentrale Leitlinie auch für das Vergaberecht sein muss. Drittens. Ein zweiter wesentlicher Aspekt kommt hin- zu: Seit der Vollendung des EG-Binnenmarktes kann sich die Vergabe nicht mehr nur auf die deutsche Unterneh- merschaft beziehen. Seit der von uns allen gewollten und von allen Seiten als für die deutsche Wirtschaft insgesamt als positiv bewerteten Öffnung der nationalen Märkte zum großen EG-Binnenmarkt müssen die vom Staat zu verge- benden Aufträge diskriminierungsfrei auch allen Unter- nehmen unserer EG-Partner zugänglich sein. Die früher weithin gegeneinander abgeschotteten und den nationalen Anbietern vorenthaltenen Märkte wurden mit der Binnen- marktrichtlinie geöffnet. Europaoffener Wettbewerb und Vergabe nach rationalen Kriterien sind die Instrumente, mit denen nicht diskriminierende Vergabe überall in der EG durchgesetzt wird. Dies muss mit dem Ja zur europä- ischen Integration ohne Wenn und Aber akzeptiert werden. Viertens. Wirtschaftlicher Umgang mit dem Geld des Steuer-, Gebühren und Entgeltzahlers und Marktöffnung im EG-Binnenmarkt: Wer diese beiden Basisziele akzep- tiert, hat Mühe, mit dem Vergaberecht weitere Ziele zu verbinden. Wer europäischen Wettbewerb will, muss auch akzeptieren, dass die Unternehmen in Wettbewerb treten und ihre jeweils eigenen Vorteile im Wettbewerb einset- zen. Wer will, dass der Staat auch nur annähernd ebenso effektiv und wirtschaftlich arbeitet wie private Unterneh- men, muss im Wettbewerb alle Unternehmen zulassen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11693 (C) (D) (A) (B) die – wie es in § 98 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrän- kungen heißt – fachkundig, leistungsfähig und zuverlässi- ge Unternehmen sind. Fünftens. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen, die nötig sind, um den Boden für alles Weitere zu legen, ge- statten Sie mir einige kurze Bemerkungen zu den einzel- nen Forderungen des PDS-Antrags. Sie werden daraus so- fort entnehmen, dass der Antrag aus meiner Sicht in großen Teilen überflüssig ist oder aber mit den eben dar- gestellten Grundsätzen kollidiert. Wir arbeiten seit längerem an einem Gesetzentwurf, der insbesondere die Zuverlässigkeit der zu öffentlichen Auf- trägen zuzulassenden Unternehmen konkretisiert. Zu die- sem Zweck soll von Unternehmen unter anderem die Erklärung verlangt werden, dass sie als Bewerber oder An- bieter keinen Verstoß gegen sie verpflichtende Tarifver- träge begehen. Wird eine solche Erklärung nicht oder wahrheitswidrig abgegeben, ist das Unternehmen grund- sätzlich vom Vergabeverfahren und für einen bestimmten Zeitraum auch für weitere Beschaffungen als unzuverläs- sig auszuschließen. Damit wird über die arbeitsrechtli- chen Vorschriften hinaus im staatlichen Einkaufsbereich dafür gesorgt, dass geltendes Tarifrecht eingehalten wird. Angesichts der im Antrag zitierten Vorlage des BGH an das Bundesverfassungsgericht zum Berliner Vergabege- setz kann aus meiner Sicht darüber nicht hinausgegangen werden. Alle Bieter und Bewerber zu verpflichten, den je- weils am Sitz der ausschreibenden Stelle geltenden Tarif- lohn zugrunde zu legen, ist zumindest derzeit nicht mög- lich und auch nicht sinnvoll. Die Bundesregierung prüft sehr genau die Möglichkei- ten für Maßnahmen zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Wirtschaft. Dabei könnte unter Effizienzgesichtspunkten eine Beschränkung auf Unternehmen, die sich als öffentliche Auftragnehmer be- werben, zu eng sein. Wir sprechen mit der Wirtschaft da- rüber, welche Maßnahmen, unter Umständen auch ge- setzgeberische, unserem Ziel der Chancengleichheit am besten gerecht werden. Und nun zum öffentlichen Personennahverkehr: Wir sind dabei, zum Verordnungsentwurf der Kommission über Maßnahmen im Zusammenhang mit gemeinwirt- schaftlichen Anforderungen und der Vergabe gemeinwirt- schaftlicher Verträge für den Personenverkehr eine Stel- lungnahme der Bundesregierung unter Einbindung aller Beteiligten abzustimmen. Dabei spielt die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des Ausschreibungsverfahrens eine wichtige Rolle. Wegen der Besonderheiten des Struk- turwandels im öffentlichen Personennahverkehr werden dabei Lösungen angestrebt, die zu einer Qualitätsverbes- serung der Verkehrsleistungen beitragen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Än- derung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze; – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes (Zu- satztagesordnungspunkte 6 und 7) Horst Schild (SPD): Das 1996 in Kraft getretene Eigenheimzulagengesetz ist nach weitgehend überein- stimmender Meinung in diesem Haus sicherlich ein er- folgreiches Gesetz geworden.Auf Initiative der Sozialde- mokraten wurde in das Eigenheimzulagengesetz die so genannte Öko-Komponente für den Einbau von Solaran- lagen, Wärmepumpen und für Niedrigenergiehäuser auf- genommen. Diese Förderung wurde mit Hinweis auf die zu erwartende neue Wärmeschutzverordnung bis zum 31. Dezember 2000 befristet. Da die Neufassung dieser Verordnung nun doch nicht mehr in diesem Jahr kommt, wollen die Koalitionsfrak- tionen mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf die er- folgreiche Öko-Komponente der Eigenheimzulage um zwei Jahre verlängern. Dadurch erreichen wir für Bauher- ren und Hauskäufer Planungssicherheit bis Ende 2002. Das wird ihnen die Entscheidung erleichtern, Energie spa- rende Anlagen einzubauen oder Niedrigenergiehäuser zu kaufen. Diese ökologische Zusatzförderung hat wirksame An- reize für Investitionen in die Reduzierung des Energiebe- darfs geschaffen. Die Zahl der Fälle, in denen die Voraus- setzungen für die Zusatzförderung erfüllt wurden, hat seit der Einführung des Gesetzes stark zugenommen. Allein vom Jahr 1997 auf das Jahr 1998 hat sich die Zahl der ge- währten Ökö-Zulagen etwa verdoppelt und zwar auf circa 21 000 Fälle von Einbau Energie sparender Anlagen und 46 000 Fälle von Erwerb eines Niedrigenergiehauses. Für 1999 zeichnet sich ein weiterer Anstieg ab. Das Fördervo- lumen lag 1998 bei über 22 Millionen DM. Dadurch werden Wohneigentümer, die sich innovati- onsfreundlich verhalten, in besonderer Weise entlastet: Im Einzelnen werden für Anlagen zur Energieeinsparung acht Jahre lang 2 Prozent der Herstellungskosten, jedoch ma- ximal 500 DM im Jahr erstattet. Das begünstigt vor allem den Einbau von Solaranlagen, Wärmepumpen und Anla- gen zur Wärmerückgewinnung. Zusätzlich werden Woh- nungen in so genannten Niedrigenergiehäusern mit jähr- lich 400 DM acht Jahre lang gefördert. Wenn wir über die Öko-Zulagen sprechen, geht es nicht nur um die finanziellen Aspekte der Entlastung, sondern auch um die umweltfreundliche und energieeinsparende Wirkung dieser Technik. Gesunde Umweltbedingungen und die langfristige Nutzbarkeit unserer Rohstoffressour- cen liegen uns besonders am Herzen. Daher denken wir immer wieder darüber nach, wie innovative Hausbautech- nik zum dauerhaften Standard erhoben werden kann. Zunächst geht es darum, mit einer neuen Energieein- sparverordnung Investitionen im Interesse höherer Ener- gieeffizienz voranzubringen. Das senkt den Energiebe- darf. Die Bauherren werden es nicht bereuen: Denn während der langen Lebensdauer ihrer Immobilie werden sich die Energiekosten verteuern und damit wird sich der Nutzen von Energiesparinvestitionen früher oder später rechnen. Die geplante neue Energieeinsparverordnung soll die Anforderungen an einen Neubau gegenüber der derzeit geltenden Wärmeschutz- und Heizungsanlagenverord- nung im Mittel um 30 Prozent verschärfen. Neben der Iso- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011694 (C) (D) (A) (B) lierung der Außenwände sollen künftig auch heizungs-, ra- umlufttechnische und Warmwasser bereitende Anlagen in die Planung einbezogen werden. Die Zulagenförderung müsste dann an die Rahmenbe- dingungen dieser neuen Verordnung angepasst werden, das heißt, eine Zulage wäre dann an das Unterschreiten der Werte dieser neuen Energieeinsparverordnung zu binden. Für die Altbauten muss künftig geprüft werden, ob der Einbau von Energieeinsparanlagen immer noch die Ge- währung einer speziellen Öko-Zulage rechtfertigt, wenn diese Anlagen inzwischen zunehmend zum Standard ge- worden sind. Diese Frage wird sich aber erst nach In- krafttreten der Energieeinsparverordnung stellen. Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass wir nach Ablauf der verlängerten Frist die Erfolgsstory der Öko-Zu- lagen fortsetzen können und dass wir den verstärkten Ein- satz von Energiespartechnik rechtzeitig angeschoben ha- ben. Diese Technik einzuführen, ist in Zeiten steigender Energiepreise zwar ohnehin ratsam, mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir aber den noch unentschlossenen Haus- eignern auf die Sprünge helfen. Ich danke Ihnen. Wolfgang Spanier (SPD): Zu später Stunde diskutie- ren wir ein Gesetz zur Änderung des Eigenheimzulagen- gesetzes. Die Zusatzförderung für den Einbau bestimmter Energie sparender Anlagen und die Zusatzförderung von Niedrigenergiehäusern laufen, nachdem sie bereits 1998 einmal um zwei Jahre verlängert worden sind, zum 31. De- zember 2001 aus. Allein vom Zeitablauf ist es deshalb ge- boten, dass wir rechtzeitig entscheiden, ob diese Zusatz- förderung fortgesetzt wird. In der Sache stimmen die Anträge von SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen und CDU/CSU überein. Ich gehe davon aus, dass auch die anderen Fraktionen des Deutschen Bun- destages zustimmen werden. Die Verlängerung der Zu- satzförderung um zwei Jahre ist energiepolitisch sinnvoll. Wir wollen weiterhin den Einbau zum Beispiel von Wär- mepumpen, Solar- oder Wärmerückgewinnungsanlagen fördern. Wir wollen weiterhin die Zusatzförderung für Niedrigenergiehäuser fortsetzen. Diese Ökokomponente im Eigenheimzulagengesetz ist ein Beitrag zu einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik. Bis 2005 wollen wir die CO2-Emmissionen um 25 Prozentvermindern. Wir wissen, dass wir gerade im Gebäudebe- reich noch große Möglichkeiten haben, um die CO2-Min-derung wirksam nach vorne zu bringen. Die Fortführung der Ökozulage beim selbstgenutzten Wohneigentum ist im Zusammenhang mit der konsequen- ten Klimaschutzpolitik dieser Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen zu sehen. Wir werden dies noch ver- stärken durch ein Modernisierungsprogramm für den Wohnungsbestand, das die Koalitionsfraktionen im Rah- men der Haushaltsberatungen einbringen werden. Dazu gehört auch eine neue Energieeinsparverordnung. Um es gleich deutlich zu sagen: Die Verlängerung der Zusatzför- derung im Eigenheimzulagengesetz bedeutet nicht, dass die Energieeinsparverordnung auf die lange Bank gescho- ben wird. Die Vorbereitungen laufen seit längerem, die Abstimmung zwischen den zuständigen Ministerien er- folgt. Notwendig ist auch eine sorgfältige Abstimmung mit den Ländern und natürlich muss diese Verordnung an die EU-Kommission weitergeleitet werden. Wir wissen alle, dass wir uns da auf mindestens sechs Monate Wartezeit einstellen müssen. Das heißt, von der Schlussfassung bis zur Realisierung vergeht mindestens ein Jahr. Ich hoffe, dass es möglichst noch in diesem Jahr einen Kabinettsbe- schluss zur Energieeinsparverordnung gibt und dann selbstverständlich auch der Bundestag informativ befasst wird. Wir sehen die Öko-Zulage aber auch im Zusammen- hang mit der Energiepolitik dieser Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen. Wir setzen konsequent auf effi- ziente Energieerzeugung und Energieeinsparung. Die Verdreifachung des Ölpreises hat uns allen noch einmal deutlich gemacht, dass wir uns stärker vom Öl un- abhängig machen müssen. Energieeinsparung und die ver- stärkte Nutzung regenerativer Energien sind die wichtigs- ten Instrumente, um Ressourcen zu schonen und den Energieverbrauch zu senken. Dazu haben wir eine Fülle von Initiativen zur Förde- rung der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme- Kopplung, zur Förderung nachwachsender Rohstoffe für Biodiesel, zur Förderung von Bioenergie insgesamt auf den Weg gebracht. Mit dem 100 000-Dächer-Programm machen wir den Weg frei für eine deutlich stärkere Nut- zung der Solarenergie. In der Klimaschutzpolitik und nachhaltigen Energiepo- litik haben wir große Fortschritte erreicht. Die Öko-Zula- ge im Eigenheimzulagengesetz ist ein Baustein dieser Po- litik. Deshalb bitte ich Sie alle um Unterstützung. Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Es ist ein gutes Zeichen für die deutschen Häuslebauer und für die deut- sche Bauwirtschaft, dass sich zwischenzeitlich eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag für die Forderung der Unionsfraktion abzeichnet, die besonderen Ökokompo- nenten im Eigenheimzulagengesetz über das Jahr 2000 hi- naus zu verlängern. Dies hatte die Unionsfraktion bereits im Frühjahr angeregt, nun scheint auch die Koalition von dieser Notwendigkeit überzeugt, wie der eiligst einge- brachte Koalitionsantrag unterstreicht. Es ist in der Sache richtig und begrüßenswert, dass auch noch im kommenden Jahr Bauherren, die Wohneigentum erwerben, für den Einbau von Wärmepumpenanlagen, So- laranlagen oder Anlagen zur Wärmerückgewinnung zu- sätzlich 500 DM pro Jahr und für die Bauausführung im Niedrigenergiehausstandard 400 DM pro Jahr erhalten sollen. Die Bundesregierung hat sich nun auch gerade zu dem von der Regierung Kohl gesetzten Ziel bekannt, die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zu mindern.Auch vor diesem Hintergrund wäre das Auslaufen dieser Zusatzförderung ein völlig verkehrtes Signal, das sich die Politik nicht leisten darf. Die Verlängerung der Zusatzför- derung kann die Vielzahl der gegen die deutsche Bauwirt- schaft gerichteten Entscheidungen nicht aufwiegen, sie gibt aber im Segment des Eigenheimbaus den Bauherren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11695 (C) (D) (A) (B) zumindest im Sinne einer verstetigten Förderung Pla- nungssicherheit. Dies ist zu begrüßen. An dieser Stelle muss aber auch daran erinnert werden, dass wir diese Zusatzförderung im Eigenheimzulagen- gesetz bereits zum zweiten Mal verlängern. Diese Not- wendigkeit rührt daher, dass der Deutsche Bundestag fest davon ausging, dass spätestens zum 31. Dezember 1999 die Novelle der Energieeinsparverordnung verabschiedet ist. Damit wäre nach unseren Vorstellungen beispielswei- se das Niedrigenergiehaus Standard für den Neubau und aus diesem Grunde nicht mehr förderungsfähig. Die Not- wendigkeit der Verlängerung der Öko-Komponenten be- steht also, weil es der Bundesbauminister bis heute nicht geschafft hat, eine spruchreife Energieeinsparverordnung zu erlassen. Bei jetzigem Verfahrensstand und angesichts der bevorstehenden Abstimmungen im Bundesrat und auf europäischer Ebene muss man kein Pessimist sein, um da- von auszugehen, dass diese Verordnung nicht vor dem 1. Januar 2002 kommen wird. Dieser Sachstand ist ein Armutszeugnis für die rot-grü- ne Bundesregierung, die sich im Bereich der Reduzierung von CO2-Emissionen als reine Ankündigungsregierungpräsentiert, ohne eigene Konzepte zu entwickeln und um- zusetzen. Es fehlt dieser Politik an der Fähigkeit, Innova- tionen freizusetzen und Anreize zur Energieeinsparung zu schaffen. Denn über die Ziele einer Energieeinsparver- ordnung, etwa die Entwicklung eines Energiepasses zur Abbildung des Gesamtenergieverbrauchs von Gebäuden, die Zusammenfassung von Wärmeschutz- und Heizungs- anlagenverordnung oder die Einführung des Niedrigener- giehausstandards als Qualitätsmaßstab energieschonender Bauweise, besteht seit einigen Jahren Einigkeit. Mit einem integrierten Ansatz soll die Möglichkeit für eine optimale energetische Planung und Ausführung verbessert werden. Unter unionsgeführten Regierungen wurden im Be- reich der Ordnungspolitik die Standards mit dem Stand der Technik maßvoll aber zielgerichtet weiterentwickelt. Dies gab der Industrie und allen Hausbesitzern qualitative Vor- gaben und Planungssicherheit. Heute überrollt der Stand der Technik längst den Verordnungsgeber, dem es nicht mehr gelingt, umweltschonende Qualitätsstandards zeit- nahe zu setzen. Die Senkung des Energiebedarfs im Baubereich ist ein zentrales umweltpolitisches Anliegen. Angesichts der ex- plosionsartig steigenden Mietnebenkosten ist die Pleite bei der Energieeinsparverordnung aber auch das baupoli- tische Einfallstor in der aktuellen Ökosteuer-Debatte. Wenn die Bundesregierung angesichts der Kosten für Heizöl, Gas und Strom zum Energiesparen aufruft, ist sie noch viel drängender in Erklärungsnot, warum sie die ei- genen Hausaufgaben immer noch nicht erfüllt hat und sich stattdessen als Antreiber der Erhöhung der zweiten Miete präsentiert. So wichtig und richtig die Verlängerung der Öko-Kom- ponenten sind, sie können die schweren Defizite der Bun- desregierung nicht kaschieren. Mit der raschen Umsetzung der Energieeinsparverord- nung werden die ordnungspolitischen Rahmen gesetzt. Das ist wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend. Hinzu kommen müssen auch steuerliche Anreize und Regelun- gen im Mietrecht, die insbesondere auf die Mobilisierung des CO2-Einsparpotenzials im Gebäudebestand hinwir-ken. Wenn das CO2-Sparziel erreicht werden soll, müssenzusätzlich zum Ersatz abgehender Gebäude durch Neubau pro Jahr etwa 800 000 Altbauwohnungen energetisch sa- niert werden. Dieser Aufgabe müsste sich die rot-grüne Bundesregierung endlich stellen. Die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen müssen also flankiert werden, ei- nerseits durch die bewährten zinsverbilligten Darlehen, andererseits benötigen wir aber auch konkrete Anreizpro- gramme, ohne die es nicht gelingen wird, die wärmetech- nische Sanierung im Bestand entscheidend zu forcieren. Hinsichtlich des zweiten Teil des Koalitionsantrags sind wir gerne bereit, Veränderungen im Wohngeldbe- reich, die auf Vereinfachungen des Verfahrens hinwirken, zu prüfen. Allerdings haben wir gerade beim Wohngeld sehr schlechte Erfahrungen mit der Regierungskoalition machen müssen. Es sei hier nur daran erinnert, dass die Bundesregierung bei der Novelle des Wohngelds beab- sichtigte, Länder und Kommunen mit 1 Milliarde DM mehr zu belasten, was nur durch die Union im Bundesrat verhindert werden konnte. Diese schlechten Erfahrungen veranlassen uns, die Folgen der von Ihnen hier vorge- schlagenen Änderungen, auch im Hinblick auf eventuelle Mehreinnahmen, sehr genau zu hinterfragen. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir beraten heute über die Verlängerung der ökologischen Zusatzförderung in der Eigenheimförde- rung. Die Regierungsfraktionen sind sich einig: Die Öko- boni in der Eigenheimzulage für Energiespartechniken und Niedrigenergiehausstandard sollen bis zum In-Kraft- Treten der Energieeinsparverordnung gewährt werden, längstens jedoch zwei Jahre. Das heißt nicht, dass die Energieeinsparverordnung erst in zwei Jahren in Kraft tre- ten soll. Wir sind sehr zuversichtlich, dass die Energie- einsparverordnung in Kürze im Kabinett beraten werden kann. Die Einführung der „Ökozulagen“, für die sich damals auch meine Fraktion sehr stark eingesetzt hat, hat sich als großer Erfolg erwiesen. Die Anzahl der förderungsfähigen Neubauten und Energie sparenden Anlagen ist ständig ge- stiegen. Das Gesamtfördervolumen für den 1998er Bau- jahrgang lag bei jährlich gut 22 Millionen DM, Tendenz steigend. Es hat sich als richtig erwiesen, nicht nur im Rahmen von Sonderprogrammen, sondern auch in der Regelförde- rung Anreize für innovative Energietechniken und Energie sparende Bauweisen zu geben. Wir sollten darü- ber nachdenken, ob wir solche Instrumente nicht verstärkt nutzen sollten. Wir alle wissen, der Niedrigenergiehaus- standard ist nicht das Ende der technischen Entwicklung im Wohnungsbau. Die Passivhaustechnik ist marktgän- gig, auch wenn sie sich noch nicht durchgesetzt hat. Wir sollten also in einem nächsten Schritt gemeinsam darüber nachdenken, ob wir den Niedrigenergiehausbonus nach In-Kraft-Treten der Energieeinsparverordnung nicht als Passivhausbonus weiterführen können, eventuell in zeitli- chen Schritten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011696 (C) (D) (A) (B) Die aktuelle Diskussion um Energiepreise zeigt uns: Wir müssen noch sehr viel mehr tun, um unsere Abhän- gigkeit von fossilen Energieträgern zu mindern und inno- vativen, ökologischen Bauweisen zum Durchbruch zu ver- helfen. Jede Mark, die in Energiespartechnik statt in Energiekonsum investiert wird, lohnt sich – für den Geld- beutel des Bauherren, für die Umwelt und das Klima und für das Handwerk und die Bauwirtschaft. Ich denke auch – das habe ich hier schon mehrfach ge- sagt –, dass wir über eine regionale Differenzierung der Ei- genheimförderung und über eine stärkere Förderung von Bestandsinvestitionen nachdenken müssen. Denn die der- zeitige Förderung stärkt die Städte nicht. Sie wirkt eher als Anreiz zur Zersiedelung. Wir alle wollen die Städte als Wohnort für Familien und als attrak- tive Gewerbestandorte erhalten. Deshalb sollten wir auch den Mut haben, dies durch Anreize in der Eigenheimför- derung zu begünstigen. Zu diesen Diskussionen möchte ich Sie alle einladen. Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): „Tue Gutes und rede darüber“! Es ist schon merkwürdig, wenn die Koali- tionsfraktionen scheinbar Gutes tun wollen und die ökologischen Komponenten bei der Eigenheimförderung um zwei weitere Jahre verlängern wollen, dies aber in aller Stille und nun zu nächtlicher Stunde durchmogeln wollen. Warum tut das rot-grüne Lager das? Warum hal- ten Sie sich so merkwürdig still, wo es doch um den Vor- teil der Bürger geht und um das Wohl der Umwelt? Natür- lich ist die Frage eine rhetorische Frage und wir alle wissen die Antwort. Dieses begünstigende Gesetz doku- mentiert Ihre wohnungspolitischen Defizite. Sie haben in den zwei Jahren Ihrer Regierungszeit die versprochene Energieeinsparverordnung nicht zustande bekommen. Jetzt müssen Sie wohl oder übel die gewünschten höheren Standards im Neubau auch weiterhin fördern. Als wir in der vergangenen Sitzungswoche über den Haushalt des Verkehrs- und Bauministers sprachen, habe ich Ihnen unter anderem wohnungspolitische Wurstelei und einen Mangel an Visionen und großen Würfen vorge- worfen. Der heute eingebrachte Gesetzesentwurf ist ein schneller Beleg dafür, dass mein Vorwurf zutrifft. Sie schaffen es nicht, die großen Räder zu drehen. Die Folge ist das wohnungspolitische Stückwerk, das hier zu be- sichtigen ist. Immerhin haben Sie Humor. Als Problemstellung für Ihren Gesetzesentwurf gestehen Sie ein, dass Sie die ge- wünschte Energieeinsparverordnung nicht zustande brin- gen. Ich zitiere: „Da mit dem In-Kraft-Treten ... nicht mehr in diesem Jahr zu rechnen ist“. Ist denn im nächsten Jahr mit dem In-Kraft-Treten zu rechnen? Wenn Sie jetzt Ja schreien, dann frage ich mich, warum Sie dann die Öko- Förderung bis zum 31. Dezember 2002 verlängern wol- len? Das bisherige Fördersystem ist darauf angelegt, dass der Staat umfangreiche Normen und Standards setzt, um im Ergebnis die gewünschten Energieeinsparziele zu er- reichen. Über diese Ziele hinausgehende politische Wün- sche müssen mit staatlicher Förderung bezahlt werden. Ihr Gesetzesentwurf ist insofern logisch und konsequent. In- nerhalb der bestehenden Fördersystematik kann man kaum etwas dagegen einwenden. Sie müssen sich aller- dings darüber im Klaren sein, dass die unbekannt hohe Quote der Mitnahmeeffekte steigt; denn heute wird kaum ein Eigenheim ohne den geförderten Niedrigenergiehaus- Standard fertig gestellt. Die F.D.P. will sich allerdings grundsätzlich in der be- stehenden Öko-Bürokratie verabschieden, um in neuer Manier verbesserte ökologische Effekte zu erzielen. Wir werden uns dafür aussprechen, die auf industrieller Ebene bereits praktizierte Idee des Handels mit C02-Zertifikatenauf den Bereich des Wohnungsmarktes herunterzubre- chen. So profitiert jeder Mieter und jeder Eigentümer von Investitionen und eigenem sparsamen Verhalten. Das ist effizienter, als das bestehende bürokratische, schwerfälli- ge Geflecht von Normen und Vorschriften weiter zu ent- wickeln. Es ist ja ganz offenbar, dass die – ausbleibende – Energieeinsparverordnung nicht nur wegen ihrer man- gelnden politischen Gestaltungskraft nicht vorankommt, sondern auch wegen der inzwischen unüberschaubaren Einzelinteressen der am Bau Beteiligten. Lassen Sie uns also gemeinsam neue Wege gehen und ein C02-Check-Modell anstelle einer Energieeinsparver-ordnung entwickeln. Dafür könnten wir zwei Jahre brau- chen, exakt die Zeit, um die Sie die Öko-Förderung im Ei- genheimbau nun verlängern wollen. Zu diesem Angebot stehen wir. Christine Ostrowski (PDS): Es ist wieder spannend wie im Krimi: Erstens. Vor zwei Tagen tauchte, noch ohne Drucksa- chennummer, plötzlich ein Gesetzentwurf der Koalitions- fraktionen auf, der unbedingt in dieser Woche – ohne Ein- haltung von Fristen und ohne Debatte – durchgewunken werden sollte. Zweitens. Dieser Entwurf ist ein Artikelgesetz; neben der Änderung des Eigenheimzulagengesetzes geht es auch um das Wohngeldgesetz und hier speziell um die Präzi- sierung des Einkommensbegriffs. Konkret: Zum wohngeldrechtlichen Einkommen zählen künftig auch der steuerfreie Betrag von Abfindun- gen nach betriebsbedingten Kündigungen, steuerfreie Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, Leistun- gen des Staates an Alleinerziehende nach dem Unterhalts- vorschussgesetz und freiwillige Unterhaltszahlungen, was im Prinzip heißt, dass sich das anrechenbare Einkommen für die Betroffenen erhöht – und infolgedessen ihr Wohn- geld vermindert. Das war SPD und Grünen offenbar pein- lich – zu Recht –, denn im Titel des Gesetzentwurfs taucht der Begriff „Änderung des Wohngeldgesetzes“ nicht auf. Und die Koalition wünschte ursprünglich keine Debatte. Nun wird doch noch debattiert, spät am Abend, was of- fenbar dem CDU-Gesetzentwurf geschuldet ist. Drittens. Zur Sache: Im Eigenheimzulagengesetz soll die Zusatzförderung für den Einbau Energie sparender An- lagen um zwei weitere Jahre verlängert werden. Dass da- mit Mindereinnahmen von 23 Millionen DM 2001 und je 46 Millionen DM in 2002 und 2003 verbunden sind, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11697 (C) (D) (A) (B) scheint wurscht, obwohl SPD und Grüne ansonsten keine Gelegenheit auslassen, den Sparkurs zu beschwören. Dass eine Gegenfinanzierung fehlt, scheint auch egal. Gnade Gott, die PDS bringt eine Maßnahme ein, die mit Ausga- ben verbunden ist, gar ohne Gegenfinanzierung – da könn- ten wir aber von rot-grüner Seite was erleben! Interessant wird es aber bei der Begründung: „Da mit dem In-Kraft-Treten der geplanten Energiesparverord- nung ... nicht mehr in diesem Jahr zu rechnen ist ...“. Soll- te die Energiesparverordnung nicht schon 2000 in Kraft treten? Und sagte nicht Frau Eichstädt-Bohlig schon in der De- batte am 8. September 1999, also vor über einem Jahr: „In Kürze werden wir im Ausschuss gemeinsam den Entwurf der Energiesparverordnung diskutieren, die ... so schnell wie möglich in Kraft treten soll?“ Selbstredend haben wir nichts im Ausschuss gemein- sam diskutiert, obwohl heftig und mehrmals angemahnt. Durch die Hintertür wird nun klar: Die Regierung kommt mit ihrer Energiesparverordnung dieses, nächstes und wahrscheinlich auch übernächstes Jahr nicht aus dem Knick! Vielleicht ist ja auch was Gutes an der Verschiebung der Energiesparverordnung. Denn es rieselt einem kalt den Rücken runter, wenn man die kürzlich veröffentlichte Stu- die des DIW zu den bisherigen Wirkungen der Wärme- schutz- und der Heizungsanlagenverordnung liest. Diese Wirkung ist nämlich – sage und schreibe – gleich null. Mitte der Neunzigerjahre mit großen Worten und gutem Willen zu Einsparpotenzialen und Senkung des CO2-Ausstoßes eingeführt – eine Verminderung des Ener-gieverbrauchs um circa 30 Prozent je Quadratmeter Wohn- fläche war prognostiziert –, wurde mit beiden Verordnun- gen nichts, aber auch gar nichts erreicht. Gerade deshalb ist es notwendig, erst gründlich zu analysieren, warum die bisherigen Verordnungen wirkungslos blieben, ehe man sich in die nächste Verordnung stürzt,denn alle energie- senkenden Maßnahmen – vergessen Sie das nicht – sollen die Mieterinnen und Mieter künftig über die 11-prozenti- ge Modernisierungsumlage ein Leben lang teuer bezahlen. In Ostdeutschland beobachtet man, dass durch Sanie- rung der Gebäude die bei den kommunalen Energiever- sorgern abgenommene Energiemenge zwar sinkt. Die Fix- kosten der Versorgungsbetriebe sinken jedoch nicht oder nicht im gleichem Verhältnis. Ergebnis: Der spezifische Preis pro Energieeinheit steigt. Wenn diese Mehrkosten im Gegenzug nicht durch niedrigere Energiekosten kompen- siert werden, wird zwar unter Umständen ein ökologi- sches Problem gelöst, doch ein soziales hervorgerufen und außerdem die ökologische Idee diskreditiert. Warum Ener- gie sparen, wenn man dafür bestraft wird, wenn es sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht lohnt. In der Hoffnung, dass die Verzögerung der Energie- sparverordnung eine Lösung der genannten Probleme bringen soll, nehmen wir die Änderung des Eigenheimzu- lagengesetzes zur Kenntnis. Was die tendenzielle Verschlechterung durch Anrech- nung „weiteren Einkommens“ bei Wohngeldbeziehern anbelangt, haben Sie unsere Zustimmung nicht. Man kann nicht mit Trara das Wohngeld erhöhen und durch die Hin- tertür heimlich wieder kürzen. Dazu passt im Übrigen, dass trotz gepriesener durchschnittlicher Erhöhung von rund 80 DM pro Empfänger im Westen die Gesamtausga- ben des Bundes laut Haushaltsentwurf 2001 auf dem Ni- veau von 1999 verharren. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011698 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412100000
Guten Morgen! Die
Sitzung ist eröffnet.

Meine Damen und Herren, Herr Platzmeister Glomb,
der der Verwaltung des Deutschen Bundestages seit 1974
angehört, hat den Präsidenten bzw. die Präsidentin heute
zum letzten Mal zur Eröffnung der Sitzung an seinen bzw.
ihren Platz begleitet. Wir danken ihm alle sehr herzlich für
seine treue Mitarbeit und wünschen ihm alles Gute.


(Beifall im ganzen Hause)

Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dr. Klaus

Grehn, der am 26. September seinen 60. Geburtstag fei-
erte, nachträglich sehr herzlich. Ich bitte, es ihm auszu-
richten.


(Beifall im ganzen Hause)

Gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung einer

Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
werden vom Deutschen Bundestag fünf Mitglieder in das
Kuratorium der Stiftung entsandt. Hierfür werden vorge-
schlagen: von der Fraktion der SPD der Kollege Bernd
Reuter als ordentliches und der Kollege Dietmar Nietan
als stellvertretendes Mitglied, von der Fraktion der
CDU/CSU der Kollege Wolfgang Bosbach als ordentli-
ches und der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl als stellvertre-
tendes Mitglied, von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN der Kollege Volker Beck (Köln) als ordentli-
ches und Herr Günter Saathoff als stellvertretendes Mit-
glied, von der Fraktion der F.D.P. der Kollege Dr. Max
Stadler als ordentliches und der Kollege Dr. Günter
Rexrodt als stellvertretendes Mitglied und von der Frak-
tion der PDS die Kollegin Ulla Jelpke als ordentliches
und der Kollege Dr. Heinrich Fink als stellvertretendes
Mitglied. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann sind die genannte Kollegin und die
genannten Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der
Stiftung entsandt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte liegen Ihnen in
einer Zusatzpunktliste vor:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Lage
des Transportgewerbes (siehe 120. Sitzung)



(Ergänzung zu TOP 23)

a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Einsetzung

eines Untersuchungsausschusses – Drucksache 14/3822 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS: Bürgerbahn statt
Börsenbahn – Drucksache 14/3784 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Tourismus

3. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412100100

– zu dem Antrag der Abgeordneten Georg Brunnhuber, Dirk

Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Transrapid-
projekt zügig realisieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva
Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Gesetzliche Verpflichtung
zum Bau der Transrapidstrecke Berlin–Hamburg auf-
heben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen

(Bönstrup), Rudolf Seiters, Dirk Fischer (Hamburg),

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Ausbau und Modernisierung der Transrapidversuchs-
anlage Emsland und Fortsetzung der Planfeststellungs-
verfahren für die Magnetschwebebahn-Referenz-
strecke Hamburg–Berlin – Drucksachen 14/2359,
14/2524, 14/3183, 14/4135 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens

4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zur Fortgeltung des Laden-
schlussgesetzes nach den Sanktionen gegen eine thüringi-
sche Friseurin

5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs

11541


(C)



(D)



(A)



(B)


121. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000

Beginn: 9.00 Uhr

eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versor-

(Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetz 2000 – BBV AnpG 2000)

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss

6. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer
Gesetze – Drucksache 14/4130 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ing. Dietmar
Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagen-
gesetzes – Drucksache 14/4131 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

8. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jah-
resbericht 2000 zum Stand der deutschen Einheit – Druck-
sache 14/4129 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Kaspereit,
Dr. Mathias Schubert, Christel Deichmann, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz (Leipzig), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zehn Jahre Ein-
heit Deutschlands – Drucksache 14/4132 –

10. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes über den Verkauf von
Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentü-
mer und zur Änderung anderer Vorschriften – Drucksache
14/4140 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

11. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS: Rückgabe von Grundstücken und Ge-
bäuden im ehemaligen Grenzgebiet zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik (einschließlich Berlin) – Drucksache 14/4149 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Rauen, Gerda
Hasselfeldt, Dietrich Austermann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Senkung der Mineralölsteuer und zur Abschaffung
der Stromsteuer (Ökosteuer-Abschaffungsgesetz) – Drucksa-
che 14/4097 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes

( Drucksache 14/3950 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 14. Aktuelle Stunde auf Verlange der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zur anhaltenden öffentlichen Diskussion über den weiter zunehmenden Wohnungsleerstand in Ostdeutschland und zum Arbeitspapier der ostdeutschen Länder anlässlich der 101. Bauministerkonferenz Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – soweit erforderlich – abgewichen werden. Abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte 5 a bis c „Zukunft der Bundeswehr“, 10 „Steuer-EuroGlättungsgesetz“ und 18, Beschlussempfehlung zum Ökosteuer-Antrag der F.D.P. Darüber hinaus gibt es einige Umstellungen in der Reihenfolge der Tagesordnungspunkte. So soll heute nach der Aktuellen Stunde der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands – das ist Tagesordnungspunkt 12 – beraten werden. Anstelle des SteuerEuro-Glättungsgesetzes soll die ursprünglich für Freitag vorgesehene zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfes „Zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“, Tagesordnungspunkt 19, aufgerufen werden. Ferner soll die Beratung des Antrages „Uranerzbergbau-Schäden beseitigen“, Tagesordnungspunkt 21, bereits heute nach Tagesordnungspunkt 11 erfolgen und danach Tagesordnungspunkt 6 aufgerufen werden. Der Tagesordnungspunkt 22 „Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz“ soll heute nach Punkt 13 beraten werden. Schließlich sollen die Beratungen der unter Tagesordnungspunkt 14 und 15 stehenden Gesetzentwürfe auf Freitag verschoben und der Tagesordnungspunkt 23 e, der bisher ohne Debatte vorgesehen war, am Freitag zusammen mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vor der Aktuellen Stunde mit 30 Minuten beraten werden. Außerdem mache ich auf geänderte und nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Vizepräsidentin Anke Fuchs 11542 Der in der 111. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss und dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf vom Bundesrat zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes sache 14/2994 – überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der in der 111. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr federführend an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen und der Finanzausschuss gänzlich gestrichen werden. Gesetzentwurf von der Bundesregierung zu den Anpassungsprotokollen zu den Europaabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, der Republik Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, der Republik Polen, der Republik Bulgarien und Rumänien andererseits – Drucksache 14/3464 – überwiesen: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Der in der 111. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO überwiesen werden. Gesetzentwurf von der Bundesregierung zur Umrechnung und Glättung steuerrechtlicher Euro-Beiträge (Steuer-Euro-Glättungsgesetz – StEuglG)





(C)


(D)


(A)


(B)

überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Bei dem in der 115. Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf soll der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ge-
strichen werden.

Gesetzentwurf von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmeier, Bernhard
Brinkmann (Hildesheim), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Claudia Roth (Augsburg), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zur Beendigung der Diskriminierung gleich-
geschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspart-

(Lebenspartnerschaftsgesetz – LPartG)

überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

Da Sie alle gut zugehört haben, wissen Sie nun ganz
genau, wie diese Woche abläuft. Sind Sie mit dem Ver-
fahren einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis c auf:
a) Vereinbarte Debatte

Für Toleranz und Menschlichkeit – gegen
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ge-
walt in Deutschland

b) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Nachhaltige Bekämpfung von Extremismus,
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit
– Drucksache 14/4067 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Sabine Jünger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit und daraus resultieren-
der Gewalt
– Drucksache 14/4145 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Auch damit
sind Sie einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat für die SPD-
Fraktion der Kollege Wolfgang Thierse das Wort.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1412100200
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute




Vizepräsidentin Anke Fuchs

11543


(C)



(D)



(A)



(B)


über ein Thema, das uns alle beschäftigt, bedrückt, he-
rausfordert, und zugleich über ein Thema, bei dem die Ei-
nigkeit der Demokraten, unsere grundlegende Überein-
stimmung sich zeigen wird und sich bewähren muss.

Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochen
und Monaten, in denen die deutsche Öffentlichkeit aufge-
regt, empört, entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeind-
lichkeit, Rassismus und extremistische Gewalt diskutiert
hat, haben wir etwas gelernt. Haben wir wirklich etwas
gelernt? Oder war das Ganze nur ein mediales Sommer-
theater? Ich hoffe es nicht. Denn neu ist nichts.

93 Tote, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt hat es
in den letzten zehn Jahren in Deutschland gegeben. Das
haben zwei Zeitungen dokumentiert. Über 1 000 Schän-
dungen jüdischer Friedhöfe in den letzten Jahrzehnten –
das ist die grausige Bilanz eines gerade erschienenen Bu-
ches. Die Namen Rostock und Mölln, Eberswalde und
Solingen, Hoyerswerda, Guben und Hünxe – die Na-
mensliste ließe sich fortsetzen – sind verbunden mit der
Erinnerung an schreckliche Gewalttaten gegen Bürger
ausländischer Herkunft.

Ich sage nicht, dass Deutschland ein rechtsextremisti-
sches Land ist, dass die Deutschen ein ausländerfeindli-
ches Volk sind. Das wäre nicht nur schlicht falsch,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nicht nur „wäre“, es ist falsch!)


sondern eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit der
Deutschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Ich will auch betonen, damit wir uns darüber nicht zer-
streiten, dass Intoleranz und Gewalt in jedem Falle unsere
Ächtung und unseren Widerstand finden müssen, egal, ob
sie rechts- oder linksextremistisch motiviert, begründet,
drapiert sind. Aber in dieser Zeit haben wir eine Gefahr
vor allem von Rechtsaußen und der haben wir uns zu stel-
len – jetzt. Sie ist die Herausforderung unserer demokra-
tischen Gemeinschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Gerhard Schüßler [F.D.P.])


Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass sich alle in die-
sem Hause in der Abwehr dieser Gefährdung unseres
friedlichen Zusammenlebens, dieses Angriffs auf die
Wertegrundlagen unserer Demokratie einig sind. Das
heißt aber auch, zu begreifen, dass es nicht mehr um ein
so genanntes Randphänomen geht, sondern dass die Ge-
fährdung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein-
reicht.

Rechtsextremismus ist eben nicht mehr ein parteipo-
litisch isolierbares Phänomen. Man konnte in den vergan-
genen Jahren in der Bundesrepublik, im Westen immer
glauben, dass es ein parteipolitisch isolierbares Phänomen
ist. Die NPD wurde in Landtage gewählt; nach vier Jah-
ren fiel sie wieder heraus, weil die Bürger von dem Ver-
halten der Abgeordneten enttäuscht waren. Man konnte

immer glauben, das sind die alten Herren, die ein paar
junge Leute um sich versammeln, ein isolierbares Phäno-
men.

Nein, jetzt müssen wir begreifen: Es hat sich etwas
zum Schlimmen geändert. Ausländerfeindlichkeit ist eben
bei nicht wenigen Menschen ein fast selbstverständlicher
Teil des Alltagsbewusstseins geworden. Der Rechtsextre-
mismus ist geradezu ein kulturelles Phänomen geworden.
Er bedient sich unterschiedlicher kultureller Instrumente,
um sich zu vermitteln. Er ist weniger parteipolitisch fass-
bar.

Ich war in den vergangenen anderthalb Jahren viel un-
terwegs, besonders in Orten rechtsextremistischer Ge-
walttaten, in so genannten rechten Hochburgen. Ich habe
mir vorher nicht vorstellen können, was man da erleben
kann, das Ausmaß von Angst, das sich bereits verbreitet
hat. Es war mir unvorstellbar, dass junge Leute nicht mehr
wagen, in bestimmte Teile einer Stadt zu gehen, einen Ju-
gendclub zu besuchen. Die Gespräche mit Opfern von Ge-
walt, mit von ihrer Angst gelähmten Jugendlichen haben
mich nicht mehr losgelassen. Es gibt wirklich, was die
Rechtsextremen großtönend „nationale befreite Zonen“
nennen. Wir können es anders nennen: Stadtquartiere und
Gegenden, in denen die rechten Schläger und die rechten
Ideologen dominieren und die anderen nur unter Angst le-
ben und existieren können.

Aber ich habe bei diesen Besuchen auch etwas anderes
erlebt, nämlich alltäglichen demokratischen Anstand,
vielfältige Initiativen von jungen Leuten, von Lehrern,
von Kommunalpolitikern, die sich dagegen wehren, Akti-
vitäten an Schulen. Deswegen sage ich immer: Wir müs-
sen die falsche Faszination durch Gewalttäter und Ge-
walttaten überwinden und uns wieder faszinieren lassen
durch den normalen alltäglichen Anstand unserer Bürger
und gerade auch unserer jungen Leute.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Ich habe aber ebenso erlebt – auch das gehört zu mei-
nen Erfahrungen –, dass es durchaus Verharmlosung, Be-
schönigung gibt aus Angst um die Beschädigung des Ima-
ges einer Stadt. Ich verstehe das. Man darf die Namen, die
ich genannt habe, nicht auf diese Gewalttaten reduzieren.
Ich verstehe das. Trotzdem ist das eine Haltung, die zu
überwinden ist. Ich sage ausdrücklich: Es handelt sich
hier nicht vor allem und nicht nur um ein ostdeutsches
Problem – damit wir uns nicht missverstehen.

Ich sage ferner: Mir sind bei diesen Besuchen und den
Erfahrungen, die ich gemacht habe, alle einfachen, alle
monokausalen Erklärungen für den Rechtsextremismus
und für Gewalt, etwa nach dem Muster, Arbeitslosigkeit
und Ausbildungsplatznot bewirke rechtsextreme Ein-
stellungen, vergangen. Wir wissen doch, dass viele von
den rechtsextremen Ideologen und Schlägern nicht Ar-
beitslose sind und nicht ohne Ausbildung sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)





Wolfgang Thierse
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Dies gilt auch für Behauptungen, die deutsche Einheit, die
Delegitimierung der DDR und ihres Antifaschismus seien
schuld. So etwas habe ich eher aus Ihren Reihen gehört.

Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen: Reden wir von
Überforderungsängsten und von Vereinfachungsbedürf-
nissen. Das bekommen wir doch mit. Wir sind inmitten ei-
nes rasanten Wandels, einer beschleunigten Entwicklung:
ökonomisch, technologisch, in der Forschung, im sozia-
len Leben. Wir erleben die radikale Veränderung der Ar-
beitswelt. Dieser rasante Wandel erzeugt Verunsicherung
und massive Ängste bei denjenigen, die nicht sicher sind,
nicht sicher sein können, dass sie erfolgreich darin sein
können.

In Ostdeutschland ist das besonders deutlich zu se-
hen. Die Radikalität des Umbruchs in allen Lebensberei-
chen hat jeden betroffen. Die Komplexität, das scheinbar
Überwältigende der Probleme erzeugt ein menschlich ge-
wiss sehr verständliches Vereinfachungsbedürfnis, das
Bedürfnis nach einfachen Antworten auf komplexe, über-
wältigende Fragen. Diese Bedürfnisse und diese flottie-
renden Ängste machen Menschen empfänglich für die
Botschaften radikaler, bösartiger Vereinfachungen.

Reden wir von der Ethnisierung sozialer Konflikte.
Unsere Gesellschaft hat gewiss Integrationsprobleme. Sie
sind sehr unterschiedlicher Art. Die Ängste aber vor Des-
integration, davor, den Anschluss zu verlieren, nicht mit-
halten zu können, sind groß und ebenso das Bedürfnis
nach Bindung, nach Beheimatung, nach sozialer Zu-
gehörigkeit, nach Gruppenzugehörigkeit. Auch daran
knüpfen die rechtsextremen Ideologen an. Das Kernstück
ihres Angebots ist die Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Raul Hilberg, der Historiker des Holocaust, hat einmal
gesagt: „Die Logik des völkermordenden Verbrechens be-
ginnt mit der Definition des Fremden.“ Wir sind also ge-
warnt.

An dieser Stelle möchte ich doch einen Blick auf die
spezifisch ostdeutsche Seite des Problems werfen. Ich
wiederhole: Es geht nicht nur um ein ostdeutsches Pro-
blem; aber das Problem hat ein ostdeutsches Gesicht, das
nicht nur und nicht an erster Stelle durch die Vereinigung
und die Schwierigkeiten des Umwälzungsprozesses her-
vorgerufen ist.

Es gibt Umfragen aus den Jahren 1990 und 1991, die
Beunruhigendes aussagen über das, was in den Köpfen
und Herzen der Ostdeutschen vor sich ging. Ich erinnere
mich an Untersuchungen, die unser ehemaliger Kollege
Konrad Weiß in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre über die
Skinheadszene, die rechte Szene in der DDR angestellt
hat. Diese durften nie veröffentlich werden und waren nur
als innerkirchliches Material verfügbar. Es gibt eine
schlimme Tradition aus SED-Zeiten: eine Tradition des
Rechtsextremismus, des Antisemitismus. Dies wurde im-
mer unter den Teppich gekehrt, weil nicht sein konnte,
was nicht sein durfte. Es konnte nicht bearbeitet werden;

denn der Antifaschismus von oben war ja ideologische
Staatsdoktrin.

Erinnern wir uns auch an eine andere Erbschaft der
SED-Diktatur. Die DDR war eben ein eingesperrtes
Land. Wie sollten Menschen selbstbestimmt, konflikt-
fähig werden, den Umgang mit Fremdem und Fremden
erlernen, das Aushalten von Differenzen einüben? Wie
sollten sie Demokratieerfahrungen machen?

Das wirkt nach, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der PDS. Sie kennen die Umfrage von Forsa über den Zu-
sammenhang zwischen PDS-Wählerschaft und bestimm-
ten Einstellungen zur Ausländerfrage. Ich sage nur, dass
unendlich viel an dieser Erbschaft zu bearbeiten ist.

Ein weiterer Aspekt ist das ideologische Denkmuster,
das uns in einem verkommenden Marxismus-Leninismus
eingebläut wurde: schwarz-weiß, Freund-Feind, der Klas-
sengegner. So kam ein Klassenkampfmuster in die Köpfe,
das immer nach einem einfachen Schema verlief.

Ein letzter Aspekt, der vielleicht am schwierigsten zu
besprechen ist: Die DDR hat unter den Werthaltungen, die
sie den Menschen aufgeprägt hat, wohl am folgenreichs-
ten die Vorstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit ge-
prägt. Ich will das nicht kritisieren; das Bedürfnis nach
Gerechtigkeit ist ein sehr menschliches Grundbedürfnis.
Aber jetzt wird sichtbar, dass die spezifische Ausprägung
der Gleichheitsvorstellung eine Rückseite hat: den Kon-
formitätszwang, die Unfähigkeit, mit Differenzen umzu-
gehen und soziale, kulturelle, weltanschauliche Differen-
zen auszuhalten. Ich hätte mir jedenfalls nicht vorstellen
können, dass es eine neuerliche Kombination von So-
zialismus und Nationalismus gibt. Ich sage trotzdem, in-
dem ich dies so beschreibe, dass dies nicht ein ostdeut-
sches Problem ist. Aber da ist viel mehr aufzuarbeiten.


(Beifall im ganzen Hause)

Was ist zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir

sind uns einig: Wir müssen die Gewalt energisch bekämp-
fen und mit außerordentlicher Geduld und viel Kraft die
Ursachen der Gewalt bearbeiten. Wir reden über einen
Antrag zum Verbot rechtsextremistischer Parteien,
also der NPD. Polizei und Justiz haben selbstverständlich
ihre Pflicht zu tun. Natürlich geht es darum, dass wir Ar-
beitslosigkeit verringern und verlässliche Perspektiven
für junge Leute schaffen. Aber es geht eben auch – das ist
sehr schwierig – um ein neues Begreifen des Rangs und
Gewichts von Bildung und Aufklärung. Es muss uns er-
schrecken, dass nach so vielfältigen Anstrengungen un-
terschiedlicher Art in den vergangenen 40, 50 Jahren in
Deutschland bei Umfragen unter jungen Leuten, was
Auschwitz oder Holocaust bedeute, so viel Unwissenheit
zum Ausdruck kommt. Das zwingt uns zum Nachdenken
darüber, was wir anders machen müssen, was falsch ge-
laufen ist, was wir gegenüber einer neuen Generation ver-
ändern müssen, damit dieses geschichtliche Gedächtnis
und die Verpflichtung daraus für das Heute weiterleben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir müssen an den Vorurteilen arbeiten, die von einer
unerträglichen Zähigkeit sind. Ich war in Hoyerswerda,




Wolfgang Thierse

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einer Stadt mit 50 000 Einwohnern. Ich fragte den Bür-
germeister: Wie viele Ausländer gibt es hier? Er antwor-
tete: 500. In einem Gespräch mit jungen Leuten – sie wa-
ren alle keine Rechtsaußen – nannten sie mir auf die
Frage, wie viele Ausländer denn nach ihrer Meinung in
Hoyerswerda lebten, Zahlen zwischen 2 000 und 10 000.
So übertragen sich Vorurteile über eine Gefahr und Ge-
fährdung.

Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen begreifen,
dass demokratische und moralische Erziehung wieder
von viel größerem Gewicht sein müssen; denn wir müs-
sen hier auch vom Phänomen moralischer Entwurzelung
sprechen, wenn elementarste Regeln des menschlichen
Zusammenlebens, etwa das Gewalttabu, das auch bedeu-
tet, dass man nicht auf jemanden tritt, der am Boden liegt,
nicht mehr funktionieren. Hier müssen wir nach den Ur-
sachen fragen: Was ist in der Schule los, was passiert in
den Familien, was tun die Massenmedien? Ich sage auch
hier: Bei einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigsten
Gegenstand ihrer abendlichen Fernsehunterhaltung
macht, ist etwas nicht in Ordnung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Begreifen wir neu den Rang von Jugendarbeit und
Jugendpolitik. Ich lasse das besondere Problem beiseite,
ob das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit in Ost-
deutschland überhaupt funktioniert und ob wir es nicht
verändern müssen.


(Angela Marquardt [PDS]: Abschaffen!)

Aber es geht darum, demokratische Initiativen zu stärken,
die alltägliche Courage zu unterstützen. Wir haben Ge-
walt energisch und entschlossen zu bekämpfen. Daneben
dürfen wir aber die anderen Aufgaben, die mittel- und
langfristiger Natur sind, nicht aus den Augen verlieren.
Denn worum geht es? Um eine Kultur der Anerkennung
oder, wie Bundespräsident Rau es wunderbar und treffend
formulierte, um eine Gesellschaft, in der wir Menschen
ohne Angst verschieden sein können.

Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Haus)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412100300
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das für die Preisvergabe zuständige Kura-
torium der Stadt Frankfurt hat einstimmig beschlossen,
Wolfgang Thierse den Ignatz-Bubis-Preis zu verleihen für
seine Verdienste um Verständigung und für seinen Einsatz
gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Ich glaube, dies
ist die passende Stelle, um ihm dazu herzlich zu gratulie-
ren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion
dem Kollegen Wolfgang Bosbach.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1412100400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fülle der schlim-
men ausländerfeindlichen, rassistisch motivierten Strafta-
ten der letzten Zeit hat vor allem in den Sommermonaten
die Ursachen, Auswüchse und Folgen von Extremismus
und Gewaltbereitschaft und der damit verbundenen kri-
minellen Energie erneut in das öffentliche Bewusstsein
gerückt. Selten zuvor ist über diese Themen so ausführ-
lich gesprochen, geschrieben und gesendet worden wie in
den letzten Wochen und Monaten.

Zu viel? – Ich meine, nein. Denn gerade die jüngsten
Gewalttaten der rechtsextremen Szene und die damit ver-
bundenen Folgen für die Opfer, für die Angehörigen, für
das friedliche Zusammenleben von Menschen unter-
schiedlicher Nationalität, Hautfarbe und Religion und für
das Ansehen unseres Landes in der Welt müssen uns auf-
rütteln, noch wachsamer zu werden gegenüber jeder Form
von Intoleranz, Extremismus und Gewalt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie verlangen eine entschiedene Reaktion, nicht nur
des Staates und seiner Institutionen, sondern auch aller
verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürger unse-
res Landes. Unser Dank und unsere Anerkennung ge-
bühren denen, die sich, zum Teil unter Inkaufnahme eige-
ner Gefährdungen, Extremismus und Gewalt nicht
beugen, die Mut und Zivilcourage zeigen und damit un-
missverständlich deutlich machen, dass Deutschland
braunen Terror nicht ein zweites Mal dulden wird.

Gelegentlich war zu hören, dass der Kampf gegen
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in den
Sommermonaten mangels anderer wichtiger Themen die
Schlagzeilen so lange dominiert habe. Das mag sein. Un-
geachtet dessen gehört der Kampf gegen jede Form von
Intoleranz, Extremismus und Gewalt auch weiterhin in
den Mittelpunkt sowohl des politischen Bemühens als
auch des öffentlichen Interesses. Diesen Auftrag gibt uns
Art. 1 des Grundgesetzes:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.

Dieser staatliche Schutz gebührt allen Menschen in unse-
rem Land, gleich welcher Nationalität, Hautfarbe oder
Religion.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wer die richtigen, jetzt notwendigen Entscheidungen
treffen will, muss sich gleichermaßen ernsthaft mit Ursa-
chen, Wirkungen und Folgen von Extremismus jeder
Spielart und der Gewaltbereitschaft insgesamt beschäfti-
gen. Die unbestreitbare Tatsache, dass es auch über 7 000
gewaltbereite Linksextremisten und mindestens 67 extre-
mistische Ausländerorganisationen mit einem erhebli-
chen Gefährdungspotenzial gibt, darf uns nicht dazu ver-
leiten, rechten Extremismus gegen linken Extremismus




Wolfgang Thierse
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und rechte Gewalt gegen linke Gewalt aufzurechnen oder
gar die Probleme zu relativieren.

Die öffentliche Diskussion über Ursachen und Folgen
des braunen Terrors ist nicht überflüssig, sondern überfäl-
lig. Wenn Ausländer oder Angehörige anderer Minderhei-
ten verfolgt, gehetzt, zusammengeschlagen oder gar getö-
tet werden, dann müssen Staat und Gesellschaft Flagge
zeigen, nicht nur zum Schutz der Rechtsordnung und aller
Opfer, sondern auch zum Schutz des Staates insgesamt;
denn nicht wenige Extremisten wollen diesen Staat um-
stürzen. Sie wollen eine andere Republik.

Wenn es Extremismus und Gewalt auf beiden äußers-
ten Rändern des politischen Spektrums gibt, dann ist das
kein Grund zur Beruhigung, sondern Grund zu einer dop-
pelten Beunruhigung und eine doppelte Herausforderung
für unsere wehrhafte Demokratie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb sagen wir, die Union: Notwendig ist ein ent-
schlossener Kampf gegen jede Form von Intoleranz, Hass
und Gewalt, ganz gleich, aus welchen politischen Moti-
ven die Täter handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sagen grundsätzlich: Null Toleranz der Intoleranz!
Wenn am Ende des vergangenen Jahres 134 rechtsex-
treme Organisationen registriert wurden und damit 20
mehr als noch vor einem Jahr, wenn das rechtsextremisti-
sche Potenzial auf über 51 000 Personen geschätzt wird
und wenn die Zahl der Gewaltbereiten auf 9 000 – Ten-
denz steigend – beziffert wird, dann belegen diese Zahlen,
wie wichtig ein nachhaltiger, entschlossener Kampf ge-
gen den Rechtsextremismus ist. Wenn dieser Kampf er-
folgreich sein soll, dann brauchen wir viele fundierte In-
formationen, Daten und Fakten. Dafür brauchen wir gut
funktionierende und gut ausgestattete Verfassungs-
schutzämter mit qualifizierten und motivierten Mitarbei-
tern. Wer sie in ihrer personellen oder organisatorischen
Schlagkraft schwächen will, schwächt damit die Abwehr-
kräfte unseres Landes gegen die erklärten Feinde unserer
freiheitlichen demokratischen Grundordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Union begrüßt, dass die Bundesregierung nach
zunächst verkündeter Ablehnung dann doch noch den
Vorschlag des bayerischen Innenministers Günther
Beckstein aufgegriffen hat, zu prüfen, ob genügend An-
haltspunkte dafür vorhanden sind, dass ein Antrag auf
Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht hinrei-
chende Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zwar vertritt
die NPD verfassungsfeindliche Ziele; aber das alleine
könnte einem Verbotsantrag noch nicht zum Erfolg ver-
helfen.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für ein Verbot ist
ein aggressiv-kämpferisches Auftreten als Indiz für eine
feindliche Haltung gegen unsere verfassungsmäßige Ord-
nung, zum Beispiel durch militante Erklärungen oder
durch Aufrufe zu Straftaten. Auch für die Prüfung der Er-
folgsaussichten eines Verbotsantrags sind wir auf Infor-

mationen nicht nur der Strafverfolgungsbehörden, son-
dern auch der Verfassungsschutzämter des Bundes und
der Länder angewiesen. Wenn die notwendigen Informa-
tionen vorliegen und eine hinreichende Erfolgsaussicht
belegen, dann erwarten CDU und CSU, dass die Bundes-
regierung einen entsprechenden Verbotsantrag stellt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein Verbot könnte zwar durch eine Zerschlagung der

Struktur und der Organisationskraft der NPD einen wich-
tigen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
leisten, aber eben nur einen Beitrag. Mindestens ebenso
notwendig ist eine intensive Befassung mit den Gründen
von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt.
Aus vielen Untersuchungen wissen wir: Es gibt nicht nur
einen Grund, eine Ursache, ein Motiv. Oft kommen die
überwiegend jungen Täter aus besonders schwierigen fa-
miliären und sozialen Verhältnissen. Oftmals wurden sie
selber ganz früh und unmittelbar mit Gewalt konfrontiert.

Zerfallende soziale Milieus und eine stetig nachlas-
sende Bindungskraft gesellschaftlicher Institution können
junge Menschen, die in Gefahr sind, auf die schiefe Bahn
zu geraten, nicht mehr auffangen. Hinzu kommen soziale
und kulturelle Ängste und nicht zuletzt die Verführung
durch Medien, zum Beispiel durch einschlägige Homepa-
ges im Internet oder durch eine aggressive rechtsextreme
musikalische Szene.

Vor diesem Hintergrund brauchen wir für eine erfolg-
reiche Bekämpfung von Extremismus und Gewalt eine
vernünftige Kombination von sozialer Prävention und
staatlicher Repression.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir brauchen Hilfsangebote für gefährdete Kinder und
Jugendliche ebenso wie eine schnelle und konsequente
Reaktion auf Straftaten. Wir müssen beides gewährleis-
ten. Wir brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft der
Familien und der Schulen, wohl wissend, dass die Schule
nicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie,
Gesellschaft und Politik sein kann. Vor allem brauchen
wir eine Kultur der Toleranz und der Akzeptanz auch de-
sjenigen, der anders ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es mag zwar Fälle geben, bei denen Hopfen und Malz
verloren ist. Aber das gilt sicherlich nicht für alle, die sich
in der rechten Szene bewegen. Dies zeigen gerade Aus-
steiger, die es geschafft haben, die schiefe Bahn zu ver-
lassen.

Der stellvertretende Bundesvorsitzende der GdP hat
vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass wir auch
Hilfsangebote für gefährdete Jugendliche aus der so ge-
nannten Skinheadszene und für Aussteiger aus der rech-
ten Szene machen müssen.
Das sei zwar unpopulär, aber trotzdem erforderlich. –
Freiberg hat Recht: Wir dürfen Jugendliche, die noch kein
vollständiges rechtsextremes Weltbild haben, nicht den
braunen Rattenfängern überlassen.




Wolfgang Bosbach

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(A)



(B)


In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden,
wie wichtig es ist, dass das Recht dem Unrecht nicht wei-
chen darf. Somit müsste heute eigentlich jedem klar sein,
dass auch Gewalt gegen Sachen nicht toleriert werden
darf und dass der Ruf „Macht kaputt, was euch kaputt-
macht!“ dazu führen kann, dass Blut fließt.

In vielen Veröffentlichungen wurde darauf hingewie-
sen, wie wichtig eine aktive Jugendverbandsarbeit
– auch der Präsident hat dies erwähnt – und auch die
Arbeit anderer Vereine seien. Ohne sie und das ehrenamt-
liche Engagement von Millionen wäre unser Land viel
ärmer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Beispiel Sport: Ich bin der festen Überzeugung, dass
die gesellschaftliche Bedeutung des Sportes – hiermit
meine ich weniger den Spitzen- als vielmehr den Breiten-
sport – eher unterschätzt als überschätzt wird. Dies gilt in
besonderer Weise für die Erziehung junger Menschen. Sie
erlernen und trainieren in den Vereinen nicht nur be-
stimmte Sportarten, sondern sie erlernen gleichzeitig, na-
mentlich im Mannschaftssport, richtiges Sozialverhalten;
sie erleben Freundschaft und Respekt vor der Leistung
des Gegners. Sie lernen, dass Teamgeist für den Erfolg
wichtig ist und dass sich Anstrengungen lohnen. Wer
mehrfach in der Woche hart trainieren muss und danach
hundemüde ins Bett fällt, der kommt nicht so leicht auf
krumme Gedanken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sind es nicht vor allem die Sportvereine, in denen tag-

täglich gerade für junge Menschen ausländischer Her-
kunft wichtige Integrationsleistungen erbracht werden? In
dieser Beurteilung werden wir uns vermutlich schnell ei-
nig sein. Dann jedoch sollte der Staat die Arbeit der Ver-
eine und das vielfältige ehrenamtliche Engagement von
Millionen nicht nur fordern, sondern auch fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Der Staat sollte alles unterlassen, was die Arbeit unserer
Vereine und der dort ehrenamtlich Tätigen unnötig er-
schwert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wichtig ist, dass wir jetzt, nach einer langen Zeit mit
vielen öffentlichen Debatten und klugen Appellen, in
wichtigen Bereichen zu Entscheidungen kommen. Unser
Antrag enthält viele konkrete Vorschläge, insbesondere
im Hinblick auf die notwendige Reaktion des Staates hin-
sichtlich der Verfolgung von Straftaten und der Aburtei-
lung überführter Straftäter. Wir alle wissen, dass eine
schnelle Reaktion der Gerichte gerade auf jugendliche
Straftäter oftmals mehr Eindruck macht als eine harte
Strafe. Wir plädieren nicht für den berüchtigten „kurzen
Prozess“, aber dafür, dass wir einmal ernsthaft darüber
nachdenken, ob in geeigneten Fällen nicht auch bei ju-
gendlichen Tätern ein beschleunigtes Verfahren, das jetzt
gemäß § 79 JGG ausgeschlossen ist, sinnvoll oder gar not-

wendig sein kann. Gut 75 Prozent der fremdenfeindlichen
Gewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese eine
Zahl belegt, welche wichtige Funktion das Jugendstraf-
recht bei der Bekämpfung gewaltbereiter Extremisten ha-
ben kann. Auch unser Vorschlag eines so genannten
Warnarrestes, der neben einer zur Bewährung ausgesetz-
ten Jugendstrafe verhängt werden kann, damit der Täter
einmal hautnah spürt, was Freiheitsentzug für ihn persön-
lich bedeutet, sollte nicht abgelehnt werden.

Am 29. Januar dieses Jahres – zum Andenken an den
so genannten Tag der Machtergreifung, den 30. Januar
1933 – sind erneut Hunderte von Neonazis mit
schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor
marschiert.


(Zuruf von der SPD: Pfui!)

Diese Bilder gingen um die ganze Welt. Sie haben das An-
sehen unseres Landes erheblich beschädigt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Solche Bilder sind eine Zumutung, vor allem für unsere
jüdischen Mitbürger.


(Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Für alle!)

Die zuständigen Behörden hätten diese Demonstration

gerne verhindert. Das war jedoch auf der Grundlage des
geltenden Rechts nicht möglich. Das geltende Demon-
strationsrecht garantiert leider auch den Neonazis zum
Tag der Machtergreifung, zu Führers Geburtstag oder zu
anderen unappetitlichen Anlässen eine höchst medien-
wirksame Kulisse, einschließlich Schutz durch die Poli-
zei. Genau das müssen wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben bereits vor geraumer Zeit vorgeschlagen,

das Recht dahin gehend zu ändern, dass die Bundeslän-
der – sofern sie es als notwendig erachten – um Gebäude
oder Orte von besonderer, herausragender nationaler und
historischer Bedeutung in einem räumlich eng umgrenz-
ten Bereich befriedete Bezirke einrichten können, in de-
nen Demonstrationen dann verboten werden können,
wenn sie erkennbar im Widerspruch zur Bedeutung des
Ortes stehen und dadurch die Würde des Ortes gestört
wird.

Für die Hauptstadt Berlin hat Innensenator Werthebach
beispielhaft die Neue Wache, das Brandenburger Tor und
das noch zu errichtende Denkmal für die ermordeten Ju-
den Europas genannt. Dass grölende Neonazis demnächst
wieder durch das Brandenburger Tor marschieren und in
Richtung Holocaust-Mahnmal abbiegen, um dort zu de-
monstrieren, dass der braune Spuk noch nicht vorbei ist,
muss für jeden rechtschaffenen Bürger ein Albtraum sein.
Diesen Albtraum können wir verhindern. Wir müssen ihn
verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Wolfgang Bosbach
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(C)



(D)



(A)



(B)


Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behaup-
tung, die Union wolle das Grundrecht auf Demonstrati-
onsfreiheit außer Kraft setzen, erfüllt ebenso wie die Aus-
sage, wir dürften unsere politischen Entscheidungen nicht
von den in London, New York oder Tel Aviv veröf-
fentlichten Meinungen abhängig machen, den Tatbestand
des groben Unfugs. Selbstverständlich müssen wir stets in
eigener Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewis-
sen entscheiden. Es kann uns aber doch nicht völlig
gleichgültig sein, was die Menschen in England, in den
USA oder in Israel über uns denken, wenn sie diese Bil-
der sehen. Die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordneten-
haus ist mittlerweile der gleichen Meinung, das Land
Rheinland-Pfalz offenbar auch. Bei dem einen geht es et-
was schneller, bei dem anderen dauert es etwas länger.

Wir wollen keinen unnötigen Streit. Wir bieten der
Mehrheit des Hauses ausdrücklich konstruktive Ge-
spräche über die wichtigen Fragen des Demons-
trationsrechtes an.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir hier gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung
kämen, dann wäre das ein wichtiger Beitrag zu der vor
wenigen Tagen von Innenminister Beckstein zu Recht
eingeforderten Harmonie gegen den Terror.

Die Bundesrepublik Deutschland ist kein ausländer-
feindliches Land – ganz im Gegenteil. Gerade deshalb
können wir in unserem Land Rassismus und Fremden-
feindlichkeit nicht dulden. Aber wir können auch nicht
dulden, dass jedes Nachdenken über eine andere Zuwan-
derungspolitik, die stärker die Interessen unseres Landes
berücksichtigt, von vornherein als fremdenfeindlich oder
rassistisch diskriminiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Debatte, die wir in den vergangenen Monaten ge-
führt haben und auch in den kommenden Monaten noch
führen werden, darf nicht das Ergebnis haben, dass in un-
serem Land nicht mehr über die Chancen einer vernünfti-
gen und die Risiken einer unvernünftigen Zuwanderungs-
politik offen und vorurteilsfrei gesprochen werden darf.
Wer will ernsthaft bestreiten, dass Zuwanderung für ein
Land unter bestimmten Bedingungen nicht nur aus volks-
wirtschaftlichen, sondern auch aus vielen anderen Grün-
den eine Bereicherung bedeuten kann? Wer will auf der
anderen Seite bestreiten, dass Zuwanderung auch für un-
ser Land unter bestimmten Bedingungen eine Belastung
sein kann, insbesondere dann, wenn die Zahl der Zuwan-
derer zu groß ist und die Integrationsfähigkeit des Landes
und die Integrationsbereitschaft vieler Bürgerinnen und
Bürger überfordert?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies gilt insbesondere dann, wenn zu viele kommen, die
weder integrationsfähig noch integrationswillig sind, oder
wenn sich durch Gettoisierung Parallelgesellschaften bil-
den, mit der Folge, dass die dringend notwendige Inte-
gration nicht erfolgen kann.

Deutschland muss zur Sicherung wissenschaftlicher
Spitzenleistungen, hoher Innovationskraft und wirtschaft-

licher Dynamik offen sein für ausländische Fachkräfte,
Unternehmer und Wissenschaftler. Weltoffenheit ist Vo-
raussetzung für herausragende Leistungen in allen Berei-
chen, nicht nur im Sport. Gleichzeitig müssen wir aber
auch offen darüber reden können, dass wir nicht alle sozi-
alen und humanitären Probleme der Erde auf dem Boden
der Bundesrepublik Deutschland lösen können,


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


dass ungesteuerte und unsteuerbare Zuwanderung mit
Problemen verbunden ist und dass wir in dem wichtigen
und sensiblen Bereich der Zuwanderung unser Land und
die Bürger nicht überfordern dürfen.

Natürlich kann und muss man über den besten Weg zur
Bekämpfung des Extremismus streiten. Aber wir sollten
uns nicht gegenseitig das Bemühen absprechen, den Ex-
tremismus in allen Erscheinungsformen zu bekämpfen.
Die notwendige Gemeinsamkeit hintertreibt, wer andere
der geistigen Urheberschaft rechtsradikaler Ausschreitun-
gen bezichtigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Solche Polemik nutzt Extremisten. Es muss in diesem
Lande auch noch erlaubt sein, wertkonservative Positio-
nen zu vertreten, ohne gleich als rechtsradikal diffamiert
zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Wertkonservativ“ vielleicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einem
Staat, der sich wehren kann, der sich zu wehren weiß. Un-
sere Demokratie ist stabil; daran sollte kein Zweifel auf-
kommen. Der wehrhafte demokratische Rechtsstaat ist
fest im Bewusstsein der Deutschen verankert. Berlin ist
nicht Weimar.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412100500
Nun erteile ich der
Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
13. Februar 1999 wird Farid Guendoul, Flüchtling aus Al-
gerien, 28 Jahre alt, in Guben in Brandenburg von Rechts-
radikalen durch die Stadt gejagt. In seiner Panik tritt er in
eine Glastür und stirbt an den Verletzungen.

Am 14. Juni dieses Jahres wird Alberto Adriano, ein
39-jähriger Migrant aus Mosambik, in Dessau von drei
Neonazis erschlagen. Einer der Täter sagt später vor Ge-
richt: Ich habe den Neger getreten, weil ich ihn hasse.

9. Juli 2000: Fünf Rechtsextremisten überfallen in
Wismar einen 52-jährigen Obdachlosen und töten ihn.
13. September dieses Jahres: Zwei Skinheads erschlagen




Wolfgang Bosbach

11549


(C)



(D)



(A)



(B)


in Flensburg einen 45-jährigen Obdachlosen. In beiden
Fällen leugnen die Ermittlungsbehörden leider den
rechtsextremen Hintergrund der Tat.

Jüngstes Beispiel: Am 23. September dieses Jahres
fliegt ein Molotowcocktail in ein Übergangswohnheim in
Wuppertal, in dem 47 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien le-
ben. Zwei Kinder werden zum Glück nur verletzt. Ich
möchte nur daran erinnern: In der Nachbarstadt Solingen
waren 1993 bei einem ganz ähnlichen Anschlag fünf tür-
kische Mädchen und Frauen ums Leben gekommen.

Meine Damen und Herren, es vergeht immer noch kein
Tag, an dem nicht Menschen in Deutschland von rechts-
radikalen Schlägern angegriffen, verletzt oder getötet
werden, und zwar nur, weil sie Schwarze sind, weil sie
Flüchtlinge sind, weil sie Obdachlose sind, weil sie ho-
mosexuell sind. Auch ich finde es gut, dass dieses Thema
im Sommer breit diskutiert wurde. Es ist gut, dass wir
heute diese Debatte führen. Aber andererseits – das sage
ich hier auch sehr deutlich – ist es schlimm, dass die Ge-
fahr rechtsextremer Gewalt immer erst dann auf die Ta-
gesordnung kommt, wenn Menschen getötet wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht erneut
wiederholen. Nach den mörderischen Anschlägen von
Mölln 1992 und von Solingen 1993 war die Empörung in
der Bevölkerung sehr groß. Damals schien auch die
Auseinandersetzung mit den Ursachen fremdenfeindli-
cher Gewalt plötzlich ernsthafter. Sogar Sie, meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU, diskutierten damals
ernsthaft die Einführung der doppelten Staatsbürger-
schaft. Doch wirklich dauerhafte Konsequenzen im
Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wur-
den nicht gezogen. Jetzt sind wir wieder fassungslos an-
gesichts der Opfer dieser brutalen Übergriffe. Deshalb
müssen wir uns doch fragen: Was bleibt von unseren Dis-
kussionen? Reicht der Appell an die Zivilcourage des
Einzelnen?

In mancherlei Hinsicht sind wir uns ja, was die Maß-
nahmen betrifft, einig. Wir alle wollen eine schnelle, kon-
sequente Strafverfolgung. Es ist gut, dass die Justiz den
Mord in Dessau so schnell geahndet hat. Das ist ein gutes
Beispiel dafür, wie es gehen kann.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Wir brauchen auch neue Formen der Bildungsarbeit, eine
Neuorientierung der Jugendarbeit. Auch darin sind wir
uns einig. Wir sollten auch ein NPD-Verbot gründlich
prüfen. Allerdings – das möchte ich auch sehr deutlich sa-
gen – darf ein Verbotsantrag nicht vor dem Bundesverfas-
sungsgericht scheitern, denn dann würde die NPD auch
noch ein demokratisches Gütesiegel von höchstrichterli-
cher Instanz bekommen. Das wäre eine Katastrophe und
darf auf keinen Fall passieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein: Auch ein
Verbot der NPD löst die Probleme des Rechtsextremis-

mus nicht. Wir müssen gegen die Vergiftung in den Köp-
fen und Herzen der Menschen angehen, wenn wir Rassis-
mus, Antisemitismus und Rechtsextremismus wirksam
und vor allen Dingen dauerhaft bekämpfen wollen. Da
stellt sich mir, Herr Beckstein, schon die Frage: Wie pas-
sen Ihre Forderung nach dem NPD-Verbot und Sätze wie:
„Wir brauchen weniger Ausländer, die uns nur ausnützen,
und mehr, die uns nützen“, zusammen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Sie stehen mit solchen Aussagen nicht allein. Ich will
nicht alle diese Aussagen der vielen Politikerwiederho-
len wie die von Herrn Lummer und Herrn Kanther, Herrn
Landowsky und Herrn Schönbohm, Herrn Zeitlmann und
Herrn Stoiber. Die Botschaften waren immer die gleichen:
„Das Boot ist voll. Die Gastfreundschaft geht zu Ende.
Der Staatsnotstand ist nahe.“


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Herr Schily ist auch dabei! Vergessen Sie doch den Bundesinnenminister in Ihrer Aufzählung nicht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Solche Sprüche, meine Damen und Herren, können auch
ein Nährboden sein, auf dem organisierter Rechtsextre-
mismus wachsen und gedeihen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Ich sage nicht, dass es hier einen direkten Ursachenzu-
sammenhang gibt, aber ich sage: Wir müssen vorsichtig
damit sein, welche Signale wir an diese Gesellschaft hi-
neingeben.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der Herr Schily hört Ihnen sehr aufmerksam zu!)


– Ja, das ist doch gut.
Ich denke, wir sollten diesen Zusammenhang wirklich

sehen. Schauen wir auf die letzten 20 Jahre deutscher Po-
litik: Anfang der 80er-Jahre wurde in aufgeheizter gesell-
schaftlicher Stimmung Einwanderern aus der Türkei die
Rückkehr empfohlen. Dies sollte mit Rückkehrgeldern er-
reicht werden. In der Folge waren vor allen Dingen diese
Menschen Opfer von Anschlägen. In den 90er-Jahren er-
hitzte die Asyldebatte die Gemüter so weit, dass es zur
Grundgesetzänderung kam. Höhepunkte dieser Debatte
waren die Anschläge von Mölln, von Hünxe und von So-
lingen. Im vergangenen Jahr zog Herr Koch mit der Un-
terschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
zu Felde. Und Herr Rüttgers ging mit dem Slogan „Kin-
der statt Inder“ in den Wahlkampf. Meine Damen und
Herren von der Opposition, damit muss endlich Schluss
sein! Mit solchen Kampagnen muss Schluss sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Ich will auch denjenigen, die zurzeit eine tabufreie Dis-
kussion über Einwanderung und Flüchtlinge fordern, sa-
gen – und sie damit wenigstens zum Nachdenken auffor-
dern –: Es müsste in dieser Gesellschaft doch ein Tabu




Kerstin Müller (Köln)

11550


(C)



(D)



(A)



(B)


sein, Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden
Migranten, auf dem Rücken von Flüchtlingen und Min-
derheiten zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Ich finde es wirklich bedauerlich, dass ein solcher
Konsens, wie es ihn in anderen Ländern gibt, in der Bun-
desrepublik nicht möglich ist. In den Niederlanden zum
Beispiel sind sich alle demokratischen Parteien darüber
einig, dass man dieses Thema nicht zum Wahlkampf-
thema macht. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir das
auch in der Bundesrepublik erreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Deshalb reicht es auch nicht, wenn man sich hinstellt
und sagt: Wir lehnen jede Gewalt mit Abscheu und
Empörung ab. Wir müssen nicht nur zeigen, dass wir Ras-
sismus und Gewalt nicht dulden, sondern wir müssen
auch selbst die demokratischen Werte vermitteln, von
denen wir unsere Kinder, die Jugendlichen in Ost und
West, überzeugen wollen. Deshalb meine ich: Auf keinen
Fall dürfen wir Bürgerrechte, zum Beispiel das Versamm-
lungsrecht, einschränken. Das käme doch einer Kapitula-
tion des Rechtsstaates vor den Rechtsextremen gleich,
meine Damen und Herren.

Der Staat darf nicht nur Humanität einfordern, er muss
selbst human sein. Politik muss aufklären, muss Vorur-
teile bekämpfen, muss die Achtung vor dem Fremden vor-
leben, muss sich auf die Seite der Verfolgten stellen, und
zwar eindeutig und unmissverständlich. Dann wäre unser
Werben um Zivilcourage im Alltag und um bürgerschaft-
liches Engagement auch glaubwürdig.

Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,
die demokratische Substanz einer Gesellschaft erkennt
man auch an ihrem Umgang mit Minderheiten. Deshalb
ist unser Platz an der Seite von Verfolgten und Flüchtlin-
gen, auch solchen im Kirchenasyl. Deshalb wird es mit
uns auch keine Verschärfung des Asylrechts geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Platz ist an der Seite von Einwanderern, auch wenn
sie nicht über Studium und hoch dotierte Verträge verfü-
gen. Deshalb brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Un-
ser Platz ist an der Seite von Homosexuellen. Deshalb
wollen wir mit der eingetragenen Partnerschaft endlich
gleiche Rechte schaffen. Und unser Platz ist an der Seite
von Obdachlosen.

Ich fordere die Innenministerkonferenz auf: Setzen Sie
endlich den Beschluss des Bundestages um, ein Bleibe-
recht für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herze-
gowina und dem Kosovo zu schaffen, die nicht in ihre
Heimat zurückkehren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


An uns alle gerichtet: Lassen Sie uns endlich das inhu-
mane Flughafenverfahren abschaffen, das immer wieder
von Amnesty International kritisiert wird!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Es ist einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft un-
würdig, Menschen wochenlang in Flughafenbaracken
einzusperren. Das wären klare Signale für mehr Humani-
tät.

Wir dürfen vor allen Dingen die Opfer nicht vergessen.
Viele Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren zu
Schaden gekommen. Nach der Recherche der „Frankfur-
ter Rundschau“ und des „Tagesspiegel“ sind seit 1990
93 Menschen durch rechtsextreme Gewalttaten getötet
worden. Es gibt inzwischen sehr viele ehrenamtliche Op-
ferschutzinitiativen, die wichtige und absolut professio-
nelle Arbeit leisten. Wir müssen sie unterstützen und dafür
sorgen, dass die Finanzmittel, die wir zum Kampf gegen
Rechtsextremismus bereitstellen, auch bei diesen Initiati-
ven vor Ort unbürokratisch und schnell ankommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Zum Schluss – dies sage ich im Hinblick auf das, was
Sie, Herr Bosbach, angesprochen haben –: Beenden Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, in dieser
Diskussion doch endlich diesen unsäglichen Eiertanz um
rechts und links! Wenn Flüchtlingsheime brennen, dann
sollten wir nicht über Autonome reden. Wenn schwarze
Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe getötet werden,
dann sollten wir nicht über Antifa-Gruppen sprechen.
Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, dann soll-
ten wir nicht über irgendwelche kommunistischen Split-
tergrüppchen – schon gar nicht über eine Fraktion in die-
sem Hause – reden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Damit sollten wir aufhören. Das ist eine Verharmlosung
des Rechtsextremismus.

Wir müssen Verantwortung zeigen. Wir müssen Farbe
bekennen gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antise-
mitismus und Gewalt. Darum muss es in den nächsten
Jahren gehen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412100600
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das
Wort.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1412100700
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
zunächst Ihnen, Herr Bundestagspräsident und Kollege
Thierse, im Namen meiner Fraktion sehr herzlich zur Ver-
leihung des Ignatz-Bubis-Preises gratulieren. Ich möchte
diesen Dank ausdrücklich mit einer Wertschätzung und




Kerstin Müller (Köln)


11551


(C)



(D)



(A)



(B)


Anerkennung Ihrer vorzüglichen Ausführungen ver-
binden, die Sie heute Morgen gemacht haben.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Deutsche Bundestag hat sich zuletzt am 8. Juni
dieses Jahres mit dem Thema Rechtsextremismus befasst.
Meine Fraktion hatte einen Antrag zur Beratung einge-
bracht. Auch die PDS und die Koalitionsfraktionen hatten
anschließend entsprechende Anträge auf die Tagesord-
nung gesetzt. Dieser Tagesordnungspunkt wurde aber erst
zu nachtschlafender Zeit aufgerufen. Der Stenographi-
sche Bericht vermerkt an dieser Stelle, dass alle Reden
hierzu zu Protokoll gegeben worden sind und dass damit
eine Aussprache nicht stattgefunden hat. Ich glaube, wir
müssen uns selber die Frage stellen, ob wir diesem dra-
matischen Thema immer die nötige Aufmerksamkeit ge-
schenkt haben.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Betrüblicherweise stimmt die Einschätzung, dass im-
mer erst etwas passieren muss, bevor ein solches Thema
in diesem Hause zur Kernzeit diskutiert wird. Ich muss an
dieser Stelle noch bemerken – selbstverständlich spreche
ich damit nicht die beiden Kollegen an, die auf der Bun-
desratsbank sitzen –: Es muss kritisiert werden, dass bei
einer solchen Debatte – bis auf die erwähnte Ausnahme –
gähnende Leere auf der Bundesratsbank herrscht, obwohl
die Innenminister der Länder für die Bekämpfung des
Rechtsextremismus federführend sind.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Dreieinhalb Monate später findet aufgrund dieser
schrecklichen Vorkommnisse eine bemerkenswerte De-
batte zur Kernzeit im Deutschen Bundestag statt. Dazwi-
schen lag die parlamentarische Sommerpause. In dieser
Zeit passierten betrübliche Vorfälle, mit denen wir über
alle Parteigrenzen hinweg konfrontiert worden sind.
Diese Vorfälle haben uns betroffen gemacht, nicht nur,
weil wir oft von jungen Menschen angesprochen werden,
sondern weil sich jeder weit über unsere politischen Funk-
tionen hinaus als Staatsbürger geniert, vielleicht sogar
manchmal schämt, wenn er derartige Berichte in den Zei-
tungen lesen muss.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Das ist ein Grundgefühl, das wir als diejenigen, die in die-
sem Lande politische Verantwortung tragen, mit den al-
lermeisten in Deutschland teilen.

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 1999 lag
schon im Juni dieses Jahres allen vor und hätte genügend
Stoff für die Diskussion geboten, die wir jetzt sinnvoller-
weise hier führen. Ich glaube, wir beschäftigen uns in die-
sem Hause oftmals mit ausführlichster Redezeit mit einer
Vielzahl von geradezu „bedeutenden“ Themen, dass ich
mich manchmal frage: Wie kann man eigentlich so lange
zu diesem Thema hier sprechen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ein Thema aber wirklich einmal wichtig ist, dann
findet die Debatte darüber zu einem Zeitpunkt statt, an
dem die deutsche Öffentlichkeit naturgemäß kaum noch
teilnehmen kann, weil die Medien berechtigterweise um
Mitternacht oder kurz vor Mitternacht kaum noch Inte-
resse haben, so etwas zu übertragen.

Ich möchte nicht die Zahlen wiederholen, die von Ih-
nen, Herr Thierse, und auch von anderen, zum Beispiel
von dem Kollegen Bosbach, angeführt worden sind. Ich
glaube auch, dass uns ein Streit über die Statistiken hier
nicht weiterhilft. Die einen berufen sich auf die Statistik,
die in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht wird.
Andere nennen andere Statistiken und sagen: Es waren
gar nicht fast 100, sondern weit weniger Opfer. Darauf
kommt es nicht an. Jeder dieser Fälle ist so dramatisch für
unser Ansehen und unser gesellschaftliches Zusammenle-
ben, dass er diese Debatte wahrlich rechtfertigt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Ich möchte an einen Punkt anknüpfen, den Sie, Herr
Kollege Thierse, hier angesprochen haben, weil ich finde,
dass er wichtig ist. Sie haben sehr ausgewogen und sensi-
bel auf die Diskussion in Ostdeutschland, in den so ge-
nannten neuen Bundesländern, hingewiesen. Wir alle wis-
sen, dass der politische Extremismus auch in
Ostdeutschland in großer Zahl Teilnehmer, Mitläufer
und aggressive Täter findet. Aber das Problem des politi-
schen Extremismus auf Ostdeutschland zu reduzieren
wäre ein Desaster für die politische Diskussion. Die Strip-
penzieher sitzen nämlich im Westen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diejenigen, die die rechtsextreme DVU mit widerli-
chen Kampagnen in den Landtag in Sachsen-Anhalt kata-
pultiert haben, sitzen als Geldgeber, Strippenzieher oder
Schreibtischtäter im Westen. Das ist etwas, was nicht un-
terbewertet werden darf. Es ist eine gesamtdeutsche
Herausforderung, den politischen Extremismus zu
bekämpfen. Es ist nicht nur eine Herausforderung für Ost-
deutschland.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Da von den Bundesländern die Rede gewesen ist, ist es
im Grunde genommen geradezu müßig, dennoch notwen-
dig, dies an dieser Stelle anzuführen: Es gibt die rechts-
extreme DVU in Sachsen-Anhalt. Wir wissen, welche mi-
serable Politik sie gemacht hat, seitdem sie dort im
Landtag sitzt. Aber seit zwei Legislaturperioden gibt es
auch in Baden-Württemberg eine rechtsextreme Partei:
die Republikaner. Beide muss man bekämpfen, nicht nur
die Partei in Ostdeutschland.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Man bekämpft diesen politischen Extremismus nach
Auffassung der Freien Demokraten nicht, wenn man das
Thema für die eigenen parteipolitischen Ziele instrumen-
talisieren möchte. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen




Dr. Guido Westerwelle
11552


(C)



(D)



(A)



(B)


der PDS, komme ich um diese kritische Bemerkung nicht
herum, weil Sie diese Aussage in dieser Woche gemacht
haben: Wenn die PDS dem Bundesinnenminister vorwirft,
„Stichwortgeber der Neonazis“ zu sein – das ist ein wört-
liches Zitat –, weil er sich für eine offene Diskussion über
die Zuwanderung nach Deutschland ausspricht und vor
einer ungesteuerten Zuwanderung warnt, dann ist das in
meinen Augen nicht nur eine grobe politische Entglei-
sung, sondern auch eine fatale Verharmlosung des politi-
schen Extremismus in Deutschland.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Kollegin Müller, Ihnen muss ich sagen: Es ist
nicht in Ordnung, wenn Sie hier einerseits – an Mitglieder
dieses Hauses, in diesem Falle an die Mitglieder der kon-
servativen Opposition adressiert – sagen, sie würden hier
den Nährboden für bestimmte extremistische Entwick-
lungen bereiten, und gleichzeitig in einem Nebensatz hin-
zufügen: Aber natürlich will ich nicht sagen, dass sie die
Ursache dafür sind. In dem Augenblick, in dem Sie ein
Wort wie „Nährboden“ in die Diskussion einbringen und
an Mitglieder dieses Hauses adressieren, begehen Sie
meiner Meinung nach einen großen Fehler. Sie sollten
jetzt nicht alles, was den Grünen lieb und teuer ist, poli-
tisch damit begründen, dass der Extremismus bekämpft
werden muss. Sie können Anträge zur Flughafenregelung
in diesem Haus einbringen und vermutlich hätten Sie
dafür die Zustimmung der Freien Demokraten. Ich glaube
aber, es ist ein Fehler, wenn in diese Extremismusdebatte
alles eingeführt wird, was einem persönlich politisch
wichtig ist.

Die Neonazi-Keule – das muss ich an die PDS gerich-
tet sagen – dürfen Sie nicht schwingen. Ich befürchte
nämlich wirklich, dass Sie damit denjenigen einen Gefal-
len tun, die wir gemeinsam politisch bekämpfen sollten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man muss sich auch überlegen, wo man etwas sagt. Es
gibt mehrere Mitglieder dieses Hauses, die dem vom Ver-
fassungsschutz beobachteten Zeitungsorgan „Junge
Freiheit“ Interviews gegeben haben. Ich bedauere das.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Diese Zeitung ist im Verfassungsschutzbericht genannt

worden und es wäre spätestens jetzt weiß Gott nicht mehr
notwendig gewesen, diesem Blatt eine solche Aufmerk-
samkeit zukommen zu lassen. Ich muss der Bundesregie-
rung, Herrn Minister Schily und den anderen Mitgliedern
des Kabinetts, sagen: Es ist nicht in Ordnung, dass ein
Staatsminister dieser Bundesregierung der „Jungen Frei-
heit“ in der vorvergangenen Woche ein Interview gegeben
hat und damit diesem Blatt sogar noch das regierungs-
amtliche Siegel verleiht und der Eindruck entsteht, man
könne sich mit einer solchen Zeitung normal unterhalten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nicht darum, was er gesagt hat. Es geht darum,
dass er ein solches Blatt aufwertet. Das sollten Sie zurück-
nehmen, davon sollten Sie sich distanzieren. Das Inter-
view war nicht nur ein Akt politischer Ungeschicklich-
keit, sondern ich glaube, es war eine politische
Aufwertung, die nicht sinnvoll ist.

Meine Damen und Herren, ich will noch zwei Themen
ansprechen, die mir wichtig sind und die in die Debatte
über den politischen Extremismus eingeführt worden
sind. Das erste Thema ist das Parteiverbot. Ich kann nur
an das anknüpfen, was Frau Kollegin Müller hier zum an-
gestrebten Verbotsverfahren gegen die NPD gesagt hat.

Ich habe bereits in der letzten innenpolitischen De-
batte, als wir über den Haushalt diskutiert haben, gesagt:
Es wäre ein Fehler, wenn ein solcher Verbotsantrag aus
politischer Opportunität heraus gestellt wird. Wenn ein
Verbotsantrag gestellt wird, dann darf es nicht nur hinrei-
chende Chancen für den Erfolg geben, dann muss man
sich so sicher sein, wie man sich vor Gericht nur sicher
sein kann, dass dieses Verbotsverfahren zum Erfolg führt.
Denn anderenfalls bekommt diese Partei quasi noch eine
TÜV-Plakette vom Bundesverfassungsgericht und das
wäre meiner Meinung nach ein Fehler.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie, Herr Innenminister, haben vor drei Wochen be-
züglich des Vereins „Blood & Honour“ das Vereinsver-
botsverfahren gewählt. Ich glaube, dass Sie den richtigen
Weg gegangen sind.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das ist ein vernünftiger Weg, weil es sich um einen Ver-
ein und nicht um eine Partei handelt. Für Parteien gilt das
besondere Privileg der Verfassung. Mit dem Vereinsver-
botsverfahren können Sie leichter und übrigens effizient
gegen den politischen Extremismus vorgehen.

Meine Damen und Herren, das Letzte, was ich in An-
betracht der Redezeit sagen möchte, ist das Folgende: Ich
glaube, dass wir in Deutschland weit mehr Toleranz, Mit-
menschlichkeit und aktiv gelebte Demokratie haben, als
es braune Hemden, Springerstiefel und Bomberjacken
gibt. Deswegen gilt, dass wir immer wieder – bei aller
Notwendigkeit dieser Debatte – gerade auch im Ausland
darauf hinweisen sollten, dass unser Land ein tolerantes
Land ist. Es ist ein Rechtsstaat, es ist eine wunderbare De-
mokratie. Wir sollten nicht zulassen – an welcher Stelle
auch immer –, dass das Ansehen Deutschlands in der
Welt, nicht nur bei uns selbst, durch Bilder zerstört wird.
Das ist unser gemeinsamer Auftrag, denn diese Debatte
verpflichtet zur Gemeinsamkeit und sollte nicht zur Kon-
frontation führen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412100800
Für die PDS-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke.




Dr. Guido Westerwelle

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(C)



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Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412100900
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die breite gesellschaftliche Debatte über den
Rechtsextremismus, die wir seit dem Sommer führen, ist
unserer Meinung nach eine große Chance, um lange be-
stehende Versäumnisse endlich zu korrigieren. Zu solchen
Korrekturen, Herr Bosbach, gehört auch, dass die
CDU/CSU endlich aufhört, linken und rechten Extremis-
mus auf eine Stufe zu stellen.


(Beifall bei der PDS)

Angesichts von über hundert Menschen, die seit 1990 von
Rechtsextremisten getötet worden sind, ist das wirklich
eine unerträgliche Verharmlosung, die Sie hier immer
wieder betreiben.

Diese Verharmlosung reicht leider in alle gesellschaft-
lichen Bereiche. In Schleswig ist vor kurzem ein Obdach-
loser von zwei Neonazi-Skinheads totgetreten worden.
Trotzdem stufen die Polizei und die Staatsanwaltschaft
ihre Tat nicht als rechtsextremistisch ein. Obdachlose ge-
nießen offenbar keinen gesellschaftlichen Schutz.

Auch die Justiz muss ihren Umgang mit rechten Ge-
walttätern kritisch überprüfen. Wie sehr das nötig ist,
zeigt auch die Dokumentation des „Tagesspiegels“ und
der „Frankfurter Rundschau“. Darin werden Urteile zi-
tiert, bei denen einem wirklich die Haare zu Berge stehen.
Wörtlich heißt es zum Beispiel, es sei nicht nachzuwei-
sen, dass ein Skinhead, der einen 17jährigen Kurden getö-
tet hat, „zum Zeitpunkt des Messerstichs rassistische Mo-
tive verinnerlicht“ hatte.

Um Neonazis zu bekämpfen, ist aber mehr erforderlich
als entschlossenes Handeln von Polizei und Justiz. Kir-
chen, Gewerkschaften, andere Verbände, die Wirtschaft,
alle müssen sich einmischen, denn der Rechtsextremis-
mus reicht, wie Herr Thierse hier richtig gesagt hat, weit
in die Mitte der Gesellschaft. Beispiele dafür sind Tradi-
tionsverbände der Wehrmacht, Burschenschaften und
Teile der Vertriebenenverbände. Dort hat sich in der Ver-
gangenheit eine enge Zusammenarbeit zwischen Konser-
vativen und Rechtsextremisten entwickeln können und
ich meine, dass auch dieses Parlament damit nicht mehr
ignorant und verharmlosend umgehen darf.

Ein anderes Beispiel ist die weit verbreitete Fremden-
feindlichkeit. Sie ist Ergebnis jahrelanger falscher Poli-
tik. Wer Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, als
„Gastarbeiter“ diskriminiert, als Menschen zweiter
Klasse einstuft, ihnen nicht einmal das kommunale Wahl-
recht einräumt, wer Flüchtlinge als „Asylanten“ herab-
setzt und das Asylrecht so restriktiv wie möglich hand-
habt, muss sich nicht wundern, wenn braune Gewalttäter
noch ganz anders gegen diese Menschen vorgehen.

Wer Rechtsextremismus bekämpfen will, muss frem-
denfeindliche Bestimmungen und Gesetze grundlegend
korrigieren und aufheben. Wenn zum Beispiel Menschen
aus Vietnam, die seit über zehn Jahren hier leben, oder
Menschen aus Krisengebieten wie Sri Lanka und anderen
Regionen abgeschoben werden, dann muss das ebenfalls
thematisiert werden, genauso wie die Gettoisierung von
Flüchtlingen. Das arbeitet meines Erachtens in der Tat
auch den Brandstiftern in die Hände, denn die Hemm-
schwellen werden hier immer niedriger.

Auch fremdenfeindliche Sprüche, wie wir sie aus die-
sem Hause und aus anderen Parlamenten kennen – „Kin-
der statt Inder“ ist schon genannt worden, „Grenzen der
Belastbarkeit“ nenne ich –, aber auch Kampagnen, wie sie
von der CDU/CSU gegen den Doppelpass geführt wur-
den, tragen zu diesem Klima bei.

Ich habe hier eine Resolution des Jugendparlaments
aus diesen Tagen. Ich zitiere:

Rechtsextremismus lebt von der täglichen Sorge vor
dem Neuen und dem Vorurteil gegenüber allem
Fremden. Mancher scheinbar harmlose Spruch über
Minderheiten bereitet den Boden vor.

An anderer Stelle heißt es:
Vor allem Politikerinnen und Politiker dürfen keinen
Zweifel darüber aufkommen lassen, dass Auslände-
rinnen, Einwanderer, Flüchtlinge, Menschen anderer
Hautfarbe oder anderen Glaubens nicht nur geduldet,
sondern willkommen sind.

Ich meine, dass diese Resolution, die ja einstimmig
vom Jugendparlament beschlossen wurde, ein Vorbild für
den Deutschen Bundestag sein sollte und er sich diese zu
Eigen machen sollte.

Ich will jetzt einige Punkte nennen, auf die sich der
Bundestag meines Erachtens bei gutem Willen als auf
eine Art Sofortprogramm sehr schnell einigen könnte.

Erstens. Es gab vor Jahren eine gute Kampagne der Ge-
werkschaften: „Mach’ meinen Kumpel nicht an“. Eine
ähnliche Kampagne durch Aufklärungsarbeit könnte so-
fort beginnen, wenn denn dafür die Mittel zur Verfügung
gestellt würden.

Darüber hinaus könnten auch Preisausschreiben an
Schulen und unter Jugendlichen mit der Losung „Weg mit
dem Nazidreck“ veranstaltet werden. Sicherlich würde
das dazu beitragen, in den Schulen Diskussionen anzure-
gen bzw. gegen Nazischmierereien und Nazisprüche
vorzugehen.

Zweitens. Innenbehörden und Verfassungsschutzämter
haben rechte Gewalt jahrelang verharmlost. Deshalb ist
eine unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rassismus
und rechte Gewalt dringend nötig, an die sich vor allen
Dingen auch die Opfer rechter Gewalt wenden können.
Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die von
vielen Kriminologen.

Drittens. Es ist hier schon gesagt worden, dass für die
Opfer rechter Gewalt und ihre Angehörigen mehr getan
werden muss. Im Opferentschädigungsgesetz steht bisher,
dass nur Menschen, die hier länger als ein halbes Jahr le-
ben, Entschädigungen erhalten können. Das muss unbe-
dingt verbessert werden. Ich möchte an dieser Stelle noch
einmal darauf hinweisen, dass es nicht sein kann, dass
Menschen, die Opfer rechter Gewalt geworden sind, ab-
geschoben werden, wie es passiert ist.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101000
Frau Kollegin, den-
ken Sie an Ihre Redezeit.






(C)



(D)



(A)



(B)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412101100
Ich komme gleich zum Schluss.
Ein weiterer Vorschlag, der mir noch sehr wichtig ist,

bezieht sich auf eine Idee, die die Gewerkschaft der Poli-
zei schon 1994 aufgegriffen hat. Ich zitiere aus dem Vor-
schlag:

Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, darauf
hinzuwirken, dass ... Bestrebungen zur Wiederbele-
bung nationalsozialistischen Gedankengutes für
verfassungswidrig erklärt werden.

Sie schlägt vor, dies in Art. 26 des Grundgesetzes aufzu-
nehmen. Auch das wäre eine wichtige Initiative.

Zum Schluss möchte ich noch einmal sehr deutlich sa-
gen: Rechtsextremismus muss bekämpft werden. Die an-
tifaschistische Bewegung formuliert im Moment die Pa-
role: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein
Verbrechen. – Danach sollten wir handeln.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101200
Jetzt erteile ich der
Kollegin Ute Vogt, SPD-Fraktion, das Wort.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1412101300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ein älterer Herr proklamiert
am Tresen der „Winzerstube“, dass es doch gut wäre,
wenn der „Herr aus Braunau“ wieder da wäre, um Ord-
nung zu schaffen. Die Kellnerin sagt: Hitler interessiert
mich nicht; ich lasse eben die Rollläden herunter, wenn
die Herren von der NPD da sind. Dann bringe sie das Bier
und das sei es dann.

Andere schreien auf Aufmärschen: Keine Arbeit für Ali
Mustafa in Germanien! Ein Landesvorsitzender der NPD,
ein Student der Rechtswissenschaften, fasst zusammen,
das Recht der Ausländer in Deutschland sei, zu wählen, ob
sie per Flugzeug oder per Eisenbahn aus dem Land ge-
worfen werden wollen.

Wesentlich subtiler geht es an manchen Stammtischen
oder anderen Orten zu, wo Sprüche und Witze auf Kosten
anderer Menschen, Menschen, die einem fremd sind oder
die aus anderen Ländern kommen, gerissen werden. Über
Witze lachen viele. Andere Aussagen entsetzen uns. Sie
spiegeln die Vorurteile von Menschen wider. Die Aussa-
gen sind nicht selten Ausdruck von Ängsten vieler Bür-
gerinnen und Bürger. Vorurteile und Ängste vor der eige-
nen Zukunft fügen sich schnell zur Suche nach einem
Sündenbock zusammen, einem, der für alle Unsicherhei-
ten und für alles Schlechte in der eigenen Lebenssituation
herhalten muss.

Es ist unsere Verantwortung, hier in diesem Parlament
als Politikerinnen und als Politiker diese Ängste ernst zu
nehmen. Es ist aber gleichzeitig auch unsere Verantwor-
tung und unsere Verpflichtung, Vorurteilen und
oberflächlichen Betrachtungen entschieden entgegenzu-
treten und zu widersprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Es ist richtig, dass wir ein breites gesellschaftliches
Bündnis brauchen. Auch ist es notwendig, dass wir Bür-
gerinnen und Bürger, Verbände, Vereinigungen und viele
Gruppierungen auffordern, mitzumachen, Zivilcourage
zu zeigen und sich für die Demokratie aktiv zu engagie-
ren.

Aber all diese Appelle, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, werden ins Leere laufen, wenn wir nicht selbst vor-
bildlich handeln,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


wenn wir selbst bei der Auswahl der Worte nicht sehr
sorgfältig sind, mit denen wir über andere Menschen und
über anstehende Probleme reden. Es geht um Sorgfalt, ge-
naues Hinschauen und differenziertes Argumentieren.
Das heißt auch, dass wir der Versuchung widerstehen
müssen, bei Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung
einzuhaken und auf populistische Weise um Wähler-
stimmen zu buhlen, weil dies in der Konsequenz zu Aus-
grenzung führt und damit Fremdenfeindlichkeit unter-
stützt wird und Argumente für sie geliefert werden.

Ich hätte mir sehr gewünscht, dass viele der politischen
Auseinandersetzungen des letzten Jahres und insbeson-
dere viele der Kampagnen im Rahmen von Landtags-
wahlkämpfen nicht stattgefunden hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir sollten heute gemeinsam nach vorne schauen und uns
überlegen, wo die Herausforderungen für unsere Demo-
kratie und für uns als Parlamentarier liegen. Wir sollten
der Versuchung widerstehen, einfache Lösungen anzubie-
ten. Verbote sind in vielen Fällen unabdingbar, aber wir
wissen alle: Verbote ändern keine Gesinnung.

Ich möchte auf eine Gefahr beim Verbot der NPD hin-
weisen. Es sind – es wurde schon angesprochen – auch an-
dere rechtsextreme Parteien bei uns im Land tätig. Die
DVU und die so genannten Republikaner haben sich so-
gar in Landtagen festgesetzt. Wir sollten in dieser Dis-
kussion nicht zulassen, dass diese sich das Mäntelchen der
Unschuld umhängen, mit dem Finger auf die NPD zeigen
und sagen: Das sind die Bösen, wir sind die Guten. – Ich
sage Ihnen: Mir dreht es wirklich den Magen um, wenn
ich sehe, dass Herr Schlierer in Baden-Württemberg im
Moment eine Veranstaltung ankündigt, auf der er zum
Thema „Keine Gewalt gegen Fremde“ redet, weil diese
Leute die geistigen Brandstifter sind, sie Vorurteile
schüren und sie täglich mit allem, was sie sagen und tun,
dafür arbeiten, dass Menschen gegeneinander aufgehetzt
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Diese Verlogenheit muss man aufdecken und gegen sie
muss man sich stellen. Es geht darum, dass wir in unserer
Gesellschaft umdenken. Wir brauchen einen Wandel in
den Grundeinstellungen. Wir wissen – Wolfgang






(C)



(D)



(A)



(B)


Thierse hat es angesprochen –: Es gibt keine einfachen
Lösungen, weil es vielfältige Formen von Rechtsextre-
mismus gibt. Es handelt sich eben nicht mehr um den ar-
beitslosen Alkoholiker aus dem problematischen Wohn-
viertel, sondern es gibt in einigen Teilen der Bevölkerung
eine schleichende, stille Akzeptanz von Vorurteilen. Es
entwickelt sich zum Teil auch an unseren Hochschulen
eine intellektuelle Szene, die die geistige Brücke hin zum
Rechtsextremismus bildet und die die ideologischen
Grundlagen dafür legt, dass andere auf die Straße gehen,
junge Menschen einfangen und versuchen, sie für sich zu
gewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Zum Thema Differenzierung habe ich insbesondere an
die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU die Bitte,
dass wir tatsächlich auch zwischen Rechts- und Links-
extremismus unterscheiden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind uns einig, dass wir Extremismus in jeder Form
bekämpfen und ihn von beiden Seiten angehen wollen.
Aber es sind unterschiedliche Debatten; denn Links- und
Rechtsextremismus unterscheiden sich in der Zielsetzung
und der Motivation der Einzelnen. Wir brauchen andere
Ansätze für die jeweilige Gruppe. Ich bitte Sie, dass wir
diese beiden Diskussionen zwar führen, aber sie getrennt
führen und nicht immer versuchen, alles in einen Topf zu
werfen.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es schaffen

wollen, dass es nicht nur ein kurzes Aufflackern in einer
sonst nachrichtenarmen Zeit des Sommers war, wenn wir
wollen, dass das Thema Rechtsextremismus aktiv aufge-
griffen wird, dann bedeutet das: Wir müssen uns diesem
Thema langfristig widmen. Wir müssen uns dauerhaft an-
strengen, unsere Demokratie positiv darzustellen. Wir
müssen den Wert der Demokratie gemeinsam verdeutli-
chen und bewusst machen.

Ich finde, die Debatte heute ist ein guter Anfang, weil
wir dadurch – zumindest bisher – gezeigt haben, dass wir
in der Lage sind, eine demokratische Streitkultur in die-
sem Haus zu pflegen, bei der man unterschiedliche Argu-
mente austauschen kann, ohne dass man jeweils nur platt
aufeinander einhaut. Es gibt kein einfaches Rezept für
kurzfristige Erfolge. Entscheidend ist, dass wir junge
Menschen, die für leere Parolen anfällig sind, ernst neh-
men, ihre Schwierigkeiten und Ängste aufgreifen, sie in
unsere Überlegungen einbeziehen, ihnen Selbstwertge-
fühl vermitteln und vor allem zeigen, dass wir sie brau-
chen und dass sie in der Gesellschaft mitmachen können,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

sodass sie nicht auf zweifelhafte Kameradschaften ange-
wiesen sind. Es ist ganz zentral, dass wir anerkennen: Nur
wer stark ist und wen wir selbst mit einer Position in un-
serer Gesellschaft ausstatten, nur der hat auch die Kraft,
andere neben sich anzuerkennen und anzuerkennen, dass
auch jemand, der anders ist als man selbst, seinen Stel-

lenwert hat und seinen wichtigen Beitrag in dieser Ge-
sellschaft leisten kann.

Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam tatsächlich nach
diesen Maximen handeln, denn auch junge Leute lernen
nicht so viel aus Büchern, sondern viel mehr aus dem, was
man ihnen vorlebt. Insofern sind wir alle in einer großen
Verantwortung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101400
Nun erteile ich dem
bayerischen Staatsminister des Innern, Herrn Dr. Günther
Beckstein, das Wort.

Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (Bayern) (von
Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Abgeordneten! Ich halte es für wichtig, dass der Deutsche
Bundestag sich heute in einer grundsätzlichen Debatte mit
der Frage der Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit beschäftigt. Ich halte es auch für
wichtig, dass die Länder, denen hierbei eine große Auf-
gabe zukommt, hier das Wort ergreifen. Darum möchte
ich mich ausdrücklich bei der CDU/CSU-Fraktion dafür
bedanken, dass sie mir Redezeit abtritt. Denn einer der
Gründe, warum Vertreter des Bundesrats nicht immer in
großer Zahl vertreten sind, ist ja, dass die Abgeordneten
des Bundestages die Anrechnung auf die eigene Redezeit
nicht überall extrem schätzen.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Sie können zuhören!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101500
Herr Minister, Sie
könnten aber auch zuhören. Das wäre doch ganz gut.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412101600

Frau Präsidentin, für diesen Hinweis bin ich dankbar, aber
ich weise darauf hin, dass das Zuhören dank moderner
Kommunikationsmittel auch möglich ist, wenn man nicht
hier im Saal sitzt.


(Sebastian Edathy [SPD]: Es ist doch viel schöner, wenn Sie hier sitzen!)


Man braucht auch stundenlange Reisen gar nicht erst an-
zutreten, wenn man die Debatten über ein entsprechendes
Medium verfolgt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber mir geht es darum, deutlich zu machen, dass ich
diese Debatte für wichtig halte, und ich will meinen Bei-
trag dazu leisten.

Lassen Sie mich in allem Ernst sagen – ich will das
ganz bewusst vor die Klammer setzen, weil wir in dieser
Diskussion auch die eine oder andere politische Ausei-




Ute Vogt (Pforzheim)

11556


(C)



(D)



(A)



(B)


nandersetzung zu führen haben –, dass es mir als dem
Verantwortlichen für die Sicherheit in einem Bundesland
eine drängende Sorge ist und es mir manchmal den Schlaf
raubt, wenn ich daran denke, dass es Menschen im Land
gibt, die Angst haben, auf die Straße zu gehen. Politik im
Rechtsstaat trägt dafür die Verantwortung, dass jede Per-
son sich an jeder Stelle des Landes aufhalten kann und sie
sicher ist, unabhängig davon, ob es Tag oder Nacht ist, ob
sie Mann oder Frau ist, unabhängig davon, ob es sich um
einen Deutschen oder Ausländer handelt, ob sie von
schwarzer, weißer oder gelber Hautfarbe ist, und – das be-
tone ich – unabhängig davon, ob sie Wissenschaftler oder
Flüchtling ist. Selbst derjenige, der am nächsten Tag ab-
geschoben werden muss, sollte nicht Angst haben müs-
sen, am Tag vorher von irgendeinem Schläger angegriffen
zu werden. Wenn das passiert, haben alle Verantwortli-
chen die Aufgabe, mit aller Massivität des Rechtsstaats
gegen Gewaltübergriffe vorzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])


Der Schutz vor Gewalt, der Schutz der persönlichen
Unversehrtheit, ist die absolute Voraussetzung für alle
weiteren Menschenrechte, die geltend zu machen sind.
Deswegen ist der Schutz vor Kriminalität auch eine der al-
lerersten Aufgaben, die jeder Rechtsstaat hat und die er
wahrnehmen muss. Sobald ein Staat diese Aufgabe nicht
mehr hinreichend wahrnehmen würde, wäre auch die Ak-
zeptanz eines solchen Staates gefährdet.

Wir müssen jetzt natürlich fragen: Wie ist die aktuelle
Situation? Im Sommer hatten wir eine Menge Gewaltta-
ten. Ich habe auch überhaupt keine Probleme damit fest-
zustellen, dass die aktuelle Frage derzeit der Rechtsex-
tremismus ist. Jeder weiß, dass wir auch mit anderen
Extremismusformen, zum Beispiel dem Ausländerextre-
mismus – Stichwort PKK –, in den vergangenen Jahren
Schwierigkeiten hatten, aber die aktuelle Diskussion be-
trifft in erster Linie den Rechtsextremismus. Deswegen
will ich mich dem auch stellen und fragen: Was müssen
wir tun? Gerade wenn ich die Besorgnis der Menschen
ernst nehme, muss ich darauf hinweisen: Wir müssen
dafür sorgen, dass jeder in diesem Land sicher ist und sich
sicher fühlt.

Bei allen gut gemeinten Darlegungen warne ich davor,
den Eindruck zu erwecken, man dürfe als Ausländer nir-
gendwo mehr auf die Straße gehen, ohne gefährdet zu
sein. Herr Kollege Özdemir, wir waren bei dem Ab-
schiedsempfang des türkischen Botschafters Vural, der
mich mit ergreifenden Worten darauf hingewiesen hat,
dass nach seiner Meinung die derzeitige Diskussion dazu
führe, dass sich viele türkische Mitbürger nicht mehr auf
die Straße trauten.

Da kann ich für Bayern nur sagen: Bei monatlich drei
bis vier Straftaten in diesem Bereich in ganz Bayern wäre
es falsch zu sagen: Leute, ihr dürft nicht mehr auf die
Straße. – Wir müssen jede dieser Straftaten verhindern
und unterbinden sowie verübte Straftaten mit Härte be-
strafen. Wir müssen aber auch den Mitbürgern sagen:

Macht euch nicht unnötig Angst, damit ihr euch nicht sel-
ber eure Freiheitsrechte nehmt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich sage das gerade auch nach Gesprächen mit jüdi-
schen Mitbürgern. Es belastet mich enorm, dass jüdi-
sche Mitbürger in unserem Land wieder darüber diskutie-
ren, ob man in Deutschland bleiben kann oder nicht. Das
wird der Realität nicht gerecht. Wir müssen alle Anstren-
gungen unternehmen, jede Spur von Antisemitismus mit
Massivität zu bekämpfen. Wir müssen aber auch sagen:
Natürlich könnt ihr in unserem Land leben und wir wol-
len alle Voraussetzungen dafür schaffen.

Bezüglich der langfristigen Ursachen von Gewalt und
der Möglichkeit, sie langfristig zu bekämpfen, möchte ich
ausdrücklich feststellen, dass vieles von dem, was Herr
Thierse gesagt hat, und praktisch alles, was Herr Bosbach
gesagt hat, auch meine Meinung ist, sodass ich hier auf
vieles verweisen kann, ohne dies im Einzelnen noch ein-
mal darstellen zu müssen.

Ich glaube, allen ist klar, dass die Bekämpfung der psy-
chologischen und erzieherischen Ursachen für Gewalt
eine langfristige Aufgabe ist. Hierbei sind viele Bereiche,
die Erziehung, die Schule, Eltern und auch Kirchen, also
alle, die Werte vermitteln, in besonderer Weise gefragt.
Meine Aufgabe als Innenminister ist es, in besonderer
Weise die kurzfristigen Maßnahmen darzustellen, denn
selbstverständlich können wir nicht warten, bis alle lang-
fristigen Maßnahmen der Jugendarbeit, der Jugendpolitik
bis hin zum Sport wirken. Wir müssen vielmehr fragen:
Wie kann man kurzfristig Gewalt und Extremismus un-
terbinden?

Eine der entscheidenden Grundlagen dafür ist für
mich, dass wir im Grundgesetz das Prinzip der wehrhaf-
ten Demokratie verankert haben. Das bedeutet, dass wir
ein Staat sind, der von Toleranz geprägt ist, dass es einen
weiten, freiheitlichen Raum gibt, dass der Staat darauf
vertraut, dass sich im Meinungskampf die Kraft der Ar-
gumente bewährt und nicht irgendwelche Schlägertrup-
pen die Oberhand gewinnen, dass Entscheidungen durch
Wahlen getroffen werden. Wehrhafte Demokratie bedeu-
tet aber auch, dass es keine Freiheit für aggressive Feinde
der Freiheit geben kann.

Das war für mich der Ausgangspunkt für meine Aus-
sage: Wir haben in den vergangenen Monaten eindeutig
feststellen müssen, dass die NPD eine besondere Bedeu-
tung im Bereich des Rechtsextremismus erlangt hat. Ich
habe übrigens, ohne dass die Öffentlichkeit sowie die
Kollegen der SPD dies wahrgenommen hätten, bereits im
vergangenen Jahr in einer Pressekonferenz darauf hinge-
wiesen – ich könnte wörtlich zitieren, was ich im Früh-
jahr 1999 ausgeführt habe –, dass NPD, Neonazis und Au-
tonome dabei sind, eine neue, besondere Gefahr zu
werden.

Ich habe das Verbot der NPD aus zwei Gründen zur
Diskussion gestellt: Einmal geht es mir darum, ein Zei-
chen für die Bereitschaft des demokratischen Staates zu
setzen, die Mittel der wehrhaften Demokratie einzu-
setzen, und zwar alle Mittel, die unser Rechtsstaat zur




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)


11557


(C)



(D)



(A)



(B)


Verfügung hat. Als Zweites ist mir wichtig, dass ein zen-
traler Faktor in der Organisation der rechtsextremen Ge-
walt frontal angegangen wird und durch das Verbot in sei-
nen Möglichkeiten entscheidend beschnitten wird.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101700
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-
Schröter von der PDS?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412101800
Ja,
bitte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412101900
Bitte sehr, Frau Kol-
legin.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412102000
Herr Minister
Beckstein, Sie haben gerade von der wehrhaften Demo-
kratie gesprochen. Ich unterstütze das. Für mich gehören
zur wehrhaften Demokratie auch Demonstrationen gegen
Rassismus. Ich komme aus einem Wahlkreis, in dem es
bis vor kurzem eine Druckerei gab, die NPD-Druckerei
Sinning, die jetzt aber weggezogen ist.

Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass zum Beispiel
Menschen, die gegen diese Druckerei demonstriert haben,
die in Passau gegen DVU und NPD demonstrieren, in
Ihrem Verfassungsschutzbericht erscheinen?Glauben Sie
nicht, dass auch das Rassismus fördert? Wie beurteilen
Sie die Tatsache, dass der Ministerpräsident Bayerns, des
zweitgrößten Bundeslandes, immer wieder von einer
„durchrassten Gesellschaft“ spricht?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412102100
Ich
will nur knapp darauf antworten.

Zunächst: Das Verbot einer Demonstration ist dann
möglich, wenn es Hinweise auf Gewalttätigkeiten gibt.
Auch wenn Leute gegen Rassismus demonstrieren, müs-
sen sie friedliche Mittel wählen und dafür sorgen, dass
Gewalttäter nicht dabei sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage das gerade auch an Ihre Adresse: Sorgen Sie
dafür, dass Sie sich von der „Arbeitsgemeinschaft Junge
GenossInnen“ in der PDS,


(Angela Marquardt [PDS]: Die gibt es gar nicht mehr!)


die von nahezu allen Bundesländern als eine verfassungs-
feindliche und auch nicht die Friedlichkeit wahrende Or-
ganisation eingestuft wird – lesen Sie den Bericht des
Bundesamts für Verfassungsschutz nach –, distanzieren!
Denn Sie tragen damit Mitverantwortung für die Gewalt
in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Zweite. Ich halte es schlichtweg für unanständig,

einem Politiker, der sehr viel reden muss – wie wir Politi-
ker alle –, eine Äußerung, die er nach wenigen Minuten

zurückgenommen und für die er sich entschuldigt hat,
auch nach Jahren noch zuzurechnen. So kann man nicht
miteinander umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass sich die NPD verändert hat, ist eindeutig.

Führende Persönlichkeiten von Organisationen, die wir
verboten haben – in den vergangenen zehn Jahren sind
zehn Vereinigungen im rechtsextremistischen Bereich
vom Bund und zwei von Bayern verboten worden –, sind
zur NPD übergetreten. Ich will da durchaus Ross und Rei-
ter nennen, obwohl das unappetitlich ist. Aber man muss
sehen, welche Gefahren bestehen. Ich will nur drei Na-
men nennen: Sascha Roßmüller, der beim Nationalen
Block war, ist jetzt der Bundesvorsitzende der Jungen Na-
tionaldemokraten. Jens Pühse, der bei der Nationalen
Front war, die wir verboten haben, ist jetzt Bundes-
organisationsleiter. Steffen Hupka, der ehemalige NPD-
Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, war ebenfalls
früher bei der Nationalen Front.

Wir haben darauf hingewiesen, dass die NPD ein Drei-
Phasen-Konzept hat: Kampf um Köpfe, Kampf um die
Straße, Kampf um Parlamente. Sie selber sagt, dass es
sich bei ihrer jetzigen Aktivität um den Kampf um die
Straße handelt. Dabei verfolgt sie eine Doppelstrategie,
wie die Verfassungsschutzbehörden festgestellt haben:
Ausnutzen der Privilegien einer Partei – zum Beispiel mit
der Erleichterung im Bereich des Demonstrationsrechts –
und gleichzeitig Einbindung von Kameradschaften und
Skinheads einschließlich Gewaltbereiter.

Deswegen muss man meines Erachtens, wenn man
wirklich alle Mittel der wehrhaften Demokratie einsetzen
will, auch die Frage eines NPD-Verbotes angehen, zumal
dort völkischer Kollektivismus, Rassismus, übersteigerter
Nationalismus und die Diffamierung der Parteien und des
Staates – von „Demokratur“ ist da die Rede – völlig ein-
deutig nachgewiesen sind.

Wir haben einen ganzen Leitz-Ordner voll Material
dazu an die zuständigen Stellen des Bundes gegeben. Ich
habe gelesen, dass der Bundeskanzler mir bei der Debatte
hier im Bundestag am 13. September schöne Grüße hat
ausrichten lassen; verbunden mit der Aufforderung, wir
sollten Material liefern. Ich bedaure, dass die Bürokratie
in der Bundesregierung so langsam ist, dass das zwischen
dem 16. August – der ersten, großen Teillieferung – bzw.
Ende August – der zweiten, abschließenden Lieferung –
und dem 13. September nicht bis zum Bundeskanzleramt
gedrungen ist.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

– Ja, ich weiß selber, wie hemmend Bürokratie sein kann.
Aber in der Spitze sollte das nicht vorkommen. Das stellt
der Aktionsfähigkeit des Kanzleramts kein gutes Zeugnis
aus. Herr Schily, vielleicht geben Sie da einmal Nachhil-
feunterricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben diese Materialien vorgelegt. Ich bin wie

auch meine Mitarbeiter im Haus felsenfest davon über-
zeugt – wir hatten das über Monate geprüft –, dass die
Mittel eindeutig beweisen, dass die NPD nicht nur eine




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)

11558


(C)



(D)



(A)



(B)


verfassungsfeindliche, sondern auch eine aggressivkämp-
ferische Partei ist.

Weil hier die Diskussion beginnt, möchte ich eines
ganz deutlich sagen: Ich halte es für erforderlich, dass al-
les, was der Verfassungsschutz ermittelt hat, in das Ver-
botsverfahren eingeführt werden kann. Ich bin Ihnen,
Herr Minister Schily, dankbar dafür, dass Sie dafür sor-
gen, dass nicht beispielsweise der Datenschutz verhin-
dert, dass Abhörergebnisse aus rechtsstaatlich zulässigen
Telefonüberwachungen verwendet werden können. Es
kann ja wohl nicht richtig sein, dass der Verfassungs-
schutz die Aufgabe hat, Gefahren für die Demokratie fest-
zustellen, aber dass man das, was dann festgestellt wird,
nicht in Verfahren einbringen kann. Ich meine, wir müs-
sen glasklar auf dieser Möglichkeit bestehen. Notfalls
müssen wir in diesem Parlament dafür entsprechende
rechtliche Grundlagen schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich bin auch dafür – und ich bedanke mich, dass hier
Zustimmung von den Länderkollegen signalisiert worden
ist –, dass wir die Möglichkeit der Überwachung des
Post- und Fernmeldeverkehrs bei einzelnen Straftätern
haben müssen. Bisher ist dafür Voraussetzung, dass es
sich um Banden, um Gruppen handelt.

Es ist davon gesprochen worden, dass die meisten
Täter im rechtsextremistischen Bereich zwischen 18 und
21 Jahre alt sind. Dennoch dürfen wir nicht automatisch
sagen: Das sind Jugenddummheiten. Wenn ein 20-Jähri-
ger „Juden raus“ ruft oder entsprechende Schmierereien
macht, dann verdient er es in aller Regel, dafür als Er-
wachsener bestraft zu werden. Das kann nicht etwa als
eine Jugenddummheit abgetan werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Ich appelliere auch an alle, anders als in der Vergan-
genheit den Verfassungsschutz nicht zu schwächen, son-
dern den Verfassungsschutz zu stärken. Herr Özdemir, wir
brauchen einen starken Verfassungsschutz, damit wir
nicht erst den Straftätern hinterherlaufen, sondern mögli-
che Straftaten, gerade auch im rechtsextremistischen Be-
reich, verhindern. Ohne einen starken Verfassungsschutz
hätten wir nie die Kundgebungen anlässlich des Heß-To-
destages in Wunsiedel in den Griff gekriegt. Das muss der
Verfassungsschutz vorher wissen, damit die Polizei dort
ist, wenn die Leute ankommen, damit sie sie präventiv
kontrollieren und diejenigen, die beispielsweise verbo-
tene Gegenstände dabei haben, in den polizeilichen Un-
terbindungsgewahrsam nehmen kann. Mit diesen Mitteln,
die die wehrhafte Demokratie setzt, haben wir die Proble-
matik dieser Fragen massiv reduzieren können. Wir sind
ja auch in anderem Zusammenhang, beispielsweise bei
den Fußball-Hooligans, so vorgegangen.

Eine kleine Randfrage noch, die mir aber auch ein we-
sentliches Anliegen ist: Ich ärgere mich seit Jahren darü-
ber, dass Extremisten gerade deswegen, weil sie Extre-
misten sind, das Bedürfnis nach einem Waffenschein
zuerkannt wird. Es kann doch nicht richtig sein, dass ein
extremistischer Herausgeber einer Nationalzeitung ge-

rade deswegen die Möglichkeit hat, einen Waffenschein
zu bekommen, weil er sagt, dass er auch von Linksextre-
men bedroht wird. Wir müssen in die Novelle des Waf-
fengesetzes einführen, dass Extremisten keinen Waffen-
schein bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich stimme auch zu, dass wir die Möglichkeiten des
Opferschutzes verbessern müssen. Aber ich sage auch:
Das ist ein generelles Problem. Wir müssen insgesamt
dafür sorgen, dass wir nicht immer nur an die Täter den-
ken. Vielmehr müssen wir insbesondere auch daran den-
ken, wie wir Opfer besser schützen können, zum Beispiel
in den Gerichtsverfahren. Wir haben in Bayern partiell die
Möglichkeit eingeführt, dass ein Opfer von Gewalt
ebenso einen Pflichtverteidiger auf Steuerzahlerkosten
bekommt wie der Täter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Ich appelliere an Sie, diese Möglichkeit überall einzu-
führen. Wenn Sie das vielleicht auch noch von Bundes
wegen bezahlen, dann wären wir natürlich völlig glück-
lich.

Zu einem letzten Punkt: Es gehört in ein Parlament,
dass man in der geistigen Auseinandersetzung um solche
Dinge ringt. Ich bin den Kollegen Bosbach und
Westerwelle ausnehmend dankbar, dass sie ausdrücklich
sagen: Es muss möglich sein, wertkonservative Haltun-
gen darzustellen oder auch Fragen anzusprechen, die ei-
nen großen Teil der Bevölkerung bewegen, ohne dass das
in der Polemik der Diskussion gleich als Kampfmittel der
Demagogie bezeichnet wird und man so tut, als hätte das
etwas mit Rechtsextremismus zu tun.

Ich möchte Sie, Frau Müller, direkt ansprechen: Ich
finde es schon seltsam, dass man sagt, es müsse einheitli-
che Meinung sein, dass man sich über Fragen der Auslän-
derpolitik nicht streitet, sondern großen Konsens herstellt,
und die Niederlande als Beweis dafür anführt. Das Asyl-
recht der Niederlande wäre mit unserer Zustimmung mor-
gen einzuführen: Aufenthaltsbeschränkung für diejeni-
gen, die reinkommen, und beschleunigte Verfahren,
sodass die Außerlandesverbringung der Abzuschie-
benden, der Abgelehnten, binnen drei Monaten möglich
ist. So partiell kann man nicht denken, dass man sagt: Das,
was meine Meinung ist, das ist die Demokratie, und an-
dere Meinungen sind automatisch Extremismus. Es ist
auch eine Form des totalitären Denkens, wenn man den
eigenen Standpunkt absolut setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Demokratie lebt davon, dass man den anderen ernst
nimmt. Aber wenn Sie für Ihre Meinung absolute Gültig-
keit beanspruchen, dann können wir das mit demselben
Recht auch für unsere Meinung verlangen.

Als ich damals an diesem Pult das erste Mal dargestellt
habe, was wir uns unter einer neuen Ausländerpolitik vor-
stellen – ich bin der Meinung, dass man auch hier darüber
reden muss –, habe ich Folgendes gesagt: Ich lasse es
nicht zu, dass irgendjemand die Leistungen der Bundes-
länder im Bereich humanitärer Verpflichtungen gerade in




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)


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den letzten Jahren bei der Aufnahme von Flüchtlingen
kleinredet. Wir haben mehr Bosnier, mehr Kosovo-Alba-
ner als jedes andere Land in Europa aufgenommen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

übrigens ohne nennenswerte finanzielle Hilfe des Bun-
des – unabhängig davon, ob es die frühere oder die jetzige
Bundesregierung war.

Die Länder und die Gemeinden haben die finanziellen
Opfer erbracht. Wir haben hier mehr Humanitäres geleis-
tet als alle anderen europäischen Länder zusammen. Das
war zwar gut so. Aber wir müssen darüber hinaus durch
Veränderung unseres Ausländerrechts mehr Spielräume
für die Aufnahme von Menschen schaffen, die wir benöti-
gen – ich verwende extra nicht den Begriff „Nutzen“ –,
und zwar von Wissenschaftlern bis hin zu Fußballspie-
lern. Jedes Land auf der Welt richtet sein Einwanderungs-
recht an den eigenen Interessen aus. Wer das bestreitet,
verkennt die Bedeutung dieser Frage, zumal auch unsere
Mitbürger nicht ohne weiteres bereit sind, selber finanzi-
elle Opfer zu erbringen, zum Beispiel massive Einschnitte
durch eine Gesundheitsreform hinzunehmen und auf be-
stimmte medizinische Behandlungen zu verzichten, und
gleichzeitig in anderen Bereichen grenzenlose Unterstüt-
zung zu gewähren.

Es ist zwar nicht erstaunlich, dass die PDS die Frage
des volkswirtschaftlichen Nutzens ganz bewusst tabui-
siert und als Kampfmittel missbraucht, denn die Nachfol-
georganisation der SED hat bis heute Leute in ihren Rei-
hen, die auf jeden Fall als Extremisten bezeichnet werden
müssen und die selber über Jahre hinweg die Menschen-
rechte mit Füßen getreten haben. Aber dass auch Teile der
Grünen und der SPD die Tabuisierung dieser Frage ganz
bewusst als Kampfmittel einsetzen, ist meines Erachtens
ein schwerer Fehler, weil das die bisherige Einigkeit über
den Grundsatz gefährdet, dass in der Demokratie zwar
über alles gestritten werden kann, aber über eines nicht:
Die Auseinandersetzungen, die in Form von Rede und Ge-
genrede, von Argument und Gegenargument geführt wer-
den, werden letztlich durch Abstimmungen im Parlament
und durch Wahlen und nicht durch Gewalt entschieden.
Darüber sollte es einen Grundkonsens geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das betrifft auch die Frage – die kann sich sehr schnell

wieder anders stellen – nach dem Schwerpunkt der Ge-
walt. Herr Schily, wie intensiv bereiten wir uns doch auf
polizeilicher Ebene auf den nächsten Castor-Transport
in diesem Jahr vor! Wenn er durchgeführt wird, dann wer-
den Sie sehen, dass sich beim Thema Gewalt auch wieder
andere Fragen stellen. Sie wollen doch auch nicht, dass je-
der, der gegen Atomkraft ist, für die rund um den Castor-
Transport begangenen Gewalttaten verantwortlich ge-
macht wird.

Wenn wir von demokratischer Gemeinsamkeit reden,
dann setzt das auch Toleranz der anderen Meinung, auch
der Meinung von Wertkonservativen, voraus. Wenn wir
diese Toleranz nicht aufbringen, können wir mit dem Re-
den aufhören. Wir brauchen Gemeinsamkeit bei der
Bekämpfung des Rechtsextremismus, des Linksextremis-
mus und der Gewaltbereitschaft. Aber wir brauchen auch

eine gemeinsame Auffassung darüber, dass wir in einer
Demokratie über alle Fragen, die die Menschen bewegen,
reden, diskutieren und manchmal auch streiten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412102200
Herr Minister, Sie
hätten noch Gelegenheit gehabt, auf eine Frage des Kol-
legen von Larcher zu antworten. Aber diese Gelegenheit
ist jetzt vorbei.

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Cem Özdemir,
Bündnis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412102300
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte,
bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne, zunächst
die Gelegenheit nutzen, Herrn Bundestagspräsident
Thierse zur Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises der
Stadt Frankfurt zu beglückwünschen. Ich glaube, er hat
mit der Rede, die er heute gehalten hat, bewiesen, dass er
diesen Preis zu Recht erhalten hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich möchte uns allen ein Kompliment für die bisherige
Qualität der Debatte machen. Ich glaube, wir hatten im
Bundestag selten eine Debatte, die sich zu herausgehobe-
ner Zeit mit diesem Thema auf diese Weise beschäftigt
hat. Von einigen Ausnahmen abgesehen haben die meisten
der Versuchung widerstanden, hier die klassischen Kli-
schees zu wiederholen, und sich die Mühe gemacht, den
Tiefgang der Debatte im Sommer in diesem Hause fort-
zuführen.

Ich will Ihnen ein Angebot machen – von den Kollegen
der Union wurde das gelegentlich angesprochen –: Wenn
Sie das Bedürfnis haben, über den Linksradikalismus zu
diskutieren, dann tun Sie das. Sie haben die Möglichkeit,
in diesem Haus Anträge zu stellen und Debatten zu bean-
tragen. Das wird dann so geschehen. Niemand scheut sich
davor, diese Debatten zu führen.

Ich will ausdrücklich wiederholen – es wurde ver-
schiedentlich gesagt –: Linksradikalismus und Rechtsra-
dikalismus in der Bundesrepublik Deutschland können
und dürfen nicht gleichgestellt werden. Wir haben zurzeit
das Problem, dass das Leben von Menschen auf eine ganz
extreme, widerliche Art und Weise bedroht wird. Die Zah-
len sprechen eine sehr deutliche Sprache. Ich glaube, wir
sollten die Qualität der Debatte im Sommer nicht dadurch
kaputtmachen, dass wir dort Gleichsetzungen vornehmen,
wo sie nicht gestattet sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, den Medien
zu danken; denn es waren die Medien, die dieses Thema
in alle Wohnzimmer getragen haben. Sie haben die Per-
spektive der Opfer, die allzu oft und allzu lange vergessen
worden sind, in den Mittelpunkt gerückt. Die Medien




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)

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haben auch deutlich gemacht, dass es neben allem Kri-
tikwürdigen, neben allem Widerwärtigen – Glatzköpfe,
Rechtsradikale, die gegen die Opfer ihrer Gewalt het-
zen – viele Initiativen in unserer Republik und viele en-
gagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die sich für
ein tolerantes Zusammenleben in Deutschland einsetzen.
Dies ist das anständige Deutschland, das wir Abgeordne-
ten in diesem Hause vertreten. Daran sollten wir uns im-
mer wieder erinnern.

Die Medien haben darauf hingewiesen, dass es
heute beispielsweise das „www.netz-gegen-rechts.de“,
die „Aktion ,Z’“ der „taz“, die Spendensammelaktion
der „Zeit“ und des „Stern“ für die Amadeo-Antonio-Stif-
tung – der der Bundestagspräsident und ich angehören –
gibt. Außerdem haben die Medien deutlich gemacht: Es
bedarf Maßnahmen mit Tiefe. Die Grundvoraussetzung
für ein Verhindern der Ausbreitung rechtsextremen Ge-
dankengutes ist die Verteidigung demokratischer Werte
durch die Zivilgesellschaft.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Dazu gehört allerdings auch, dass man sich dem Tür-

kenwitz entgegenstellt, der irgendwann zum Judenwitz
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der F.D.P. und der PDS)


Jeder und jede ist gefordert – auch im Betrieb –, nicht
wegzuschauen, wenn solche Witze geäußert werden,
sondern mutig einzugreifen. Es geht um den Einsatz für
die Werte dieser Gesellschaft, die immer und überall
verteidigt werden müssen. Initiativen wie die „Aktion
Noteingang“, „Exit“, der „Verein Miteinander“, „Aktion
Courage“ und die bereits mehrfach erwähnte
„Amadeo-Antonio-Stiftung“ leisten eine hervorragende
Arbeit. Ich glaube, ich kann ihnen im Namen des ganzen
Hauses für ihre Demokratiearbeit – nichts anderes ist es,
was sie tun – danken. Sie arbeiten für unsere Demokratie
und setzen das um, wofür wir hier gemeinsam werben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir brauchen mehr mobile Beratungsteams. Die Kom-
munen, die Schulen und die Polizei dürfen im Umgang
mit Rechts nicht alleine gelassen werden. Sie müssen be-
raten und entsprechend geschult werden, damit sie noch
besser als in der Vergangenheit in der Lage sind, sich dem
Rechtsextremismus entgegenzustellen.

Herr Beckstein, Sie haben das NPD-Verbot angespro-
chen. Andere Redner sind ebenfalls darauf eingegangen.
Ich möchte dieses Thema in aller Ernsthaftigkeit aufgrei-
fen. Sie wissen, dass wir in dieser Republik bereits meh-
rere Verbote gegen rechtsextreme Organisationen erlas-
sen haben. Die FAP und die Wiking-Jugend wurden 1992
verboten. Mittlerweile gibt es eine Art Arbeitsteilung in
der rechtsextremen Szene. Sie kennen dies aus den Be-
richten des Verfassungsschutzes, aber auch von vielen Ex-
perten.

Eine wichtige organisatorische Stütze sind die NPD
und natürlich auch die Jungen Nationaldemokraten.
Durch das Parteienprivileg – Sie haben das angesprochen –
kann die NPD Veranstaltungen organisieren, Säle mieten
und beispielsweise auch die staatliche Parteienfinanzie-
rung in Anspruch nehmen. Deshalb ist es gut und richtig,
dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern
zurzeit die Voraussetzungen eines Verbotsantrages prüft.

Frau Kollegin Müller, Kollege Westerwelle und andere
haben angesprochen, was das heißt: Wir müssen uns si-
cher sein, dass wir, wenn wir vor das Bundesverfassungs-
gericht ziehen – man wird sich bestimmt in Karlsruhe
wiedersehen –, nicht hinterher als Verlierer dastehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Fall würden nicht nur wir, sondern auch die de-
mokratische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch-
land würde verlieren, wenn die NPD dort einen Persil-
schein für ihre widerliche Arbeit bekommt.

Deshalb – dies möchte ich hinzufügen –: Ich warne da-
vor, die Debatte auf ein Verbot der NPD zu konzentrieren.
Uns alle erfüllt die Sorge, dass hier mit unrealistischen Er-
wartungen gearbeitet wird. Es darf nicht zu einer vo-
rübergehenden Entsorgung des Problems kommen. Nicht
ein einziges Problem durch einen Wähler der NPD wird
durch ein Verbot aus der Welt geschaffen werden. Nicht
ein einziger Sympathisant der NPD, nicht einer der Kader
der NPD wird seine Meinung ändern, weil die NPD ver-
boten sein wird. Wir müssen uns dann auch die Frage stel-
len: Was machen wir mit der DVU, was machen wir mit
den Republikanern? Dann sehen Sie, dass es so einfach,
wie das oft dargestellt wird, nicht ist.

Wir brauchen auch mehr Opferberatungsstellen. Es
wurde bereits der sehr unappetitliche Streit um die Zahl
der Opfer angesprochen. Ich will mich an diesem Streit
nicht beteiligen; es wurde das Notwendige dazu gesagt.
Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel, für das wir alle uns ge-
meinsam schämen müssen. Deshalb brauchen wir auch
mehr Opferberatungsstellen, damit die Opfer rechtsradi-
kaler Gewalt – da gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer, wie
all diejenigen, die sich vor Ort umschauen, wissen – in der
Lage sind, dort, wo man sie versteht, ohne Scheu von dem
zu berichten, was ihnen angetan wurde. Auch unsere Po-
lizei braucht das, damit sie besser in die Lage versetzt
wird, sich den rechtsradikalen Straftätern entgegenzuset-
zen.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Stich-

wort Schule. Die Schulen haben mittlerweile wahr-
scheinlich mit die zentralste Funktion in diesem Bereich,
weil wir es zunehmend mit Familien zu tun haben, die ihre
Aufgabe nicht erfüllen können. Entweder sind sie nicht in
der Lage oder sie haben selber nie erfahren, was es heißt,
Werte zu vermitteln: Werte wie Nächstenliebe, Werte wie
Toleranz, Werte wie das Zugehen auf Menschen fremder
ethnischer Herkunft. Die Schule hat zunehmend die Auf-
gabe, zu kompensieren. Das ist nicht einfach. Wir müssen
unsere Lehrer dabei unterstützen. Wir müssen sie aber
auch in die Lage versetzen, diese Aufgabe zu erfüllen,




Cem Özdemir

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weil sie zunehmend Dinge tun müssen, für die sie eigent-
lich nicht ausgebildet sind und die ursprünglich nicht
ihrem Auftrag entsprechen.

Es gibt aber viele Lehrer in den neuen Ländern – ich
habe mich selber oft mit Lehrern unterhalten –, die sagen:
Ich bin müde, ich musste viele Jahre die Werte eines Re-
gimes predigen, das zusammengebrochen und sinnlos ge-
worden ist, und heute soll ich den Kindern etwas über De-
mokratie erzählen. Lasst mich in Ruhe mit Politik, ich will
damit nichts zu tun haben!

Man muss diesen Lehrern sagen, dass sie damit der of-
fenen, pluralen Gesellschaft, die sie vertreten und für die
sie werben sollen, einen Bärendienst erweisen. Nein, wir
werden sie nicht in Ruhe lassen können. Die Lehrer dür-
fen auch die Kinder nicht in Ruhe lassen mit den Werten
dieser Gesellschaft; denn sonst würde sich die Demokra-
tie zurückziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich möchte zum Schluss auf zwei Dinge eingehen, die
mich nach wie vor nicht in Ruhe lassen, weil sie mich ei-
nerseits zornig machen und mir andererseits auch meinen
Mut nehmen, mich dem Rechtsradikalismus entgegen-
zusetzen. Ich werde oft für die Bundesrepublik Deutsch-
land ins Ausland zu Reden eingeladen, demnächst wieder
am 3. Oktober. Natürlich nutze ich die Gelegenheit, dort
für das andere Deutschland zu werben, für das plurale, für
das demokratische Deutschland, das eine Mehrheit ist.
Aber ich habe große Schwierigkeiten, das mit Überzeu-
gung zu tun, wenn ich sehen muss – da möchte ich Sie
noch einmal ansprechen, Herr Beckstein, weil Sie den
Verfassungsschutz genannt haben –, dass in Thüringen
der Schwerpunkt bei der Arbeit des Verfassungsschutzes
nach wie vor bei der Bekämpfung des Linksradikalismus
gesetzt wird, obwohl jeder in der Republik weiß, wo die
Probleme in Thüringen sind und wo Thüringen in der Ge-
waltstatistik rangiert – nämlich nicht ganz unten, sondern
ganz oben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Angesichts dessen kann ein solcher Schwerpunkt doch
nicht richtig sein. Ich habe Schwierigkeiten, das – nicht
nur im Ausland – zu vertreten und zu sagen: Dort ge-
schieht all das, was geschehen muss, um sich dem Rechts-
radikalismus entgegenzusetzen.

Das letzte Beispiel stammt aus Mecklenburg-Vorpom-
mern – damit mir keine parteipolitische Einseitigkeit vor-
geworfen werden kann –: Neulich bei „Panorama“ konnte
man sehen, wie Sondereinsatzeinheiten, die zur Bekämp-
fung des Rechtsradikalismus da sind, sich an einer Tank-
stelle vor sich mobilisierenden Skinheads zurückziehen,
weil sie sich sagen: „Es ist besser, wenn wir uns zurück-
zuziehen, sonst kommt es zu irgendwelchen negativen Er-
eignissen.“ Bei einem solchen Vorgehen hat sich dort
nicht nur die Polizei von Mecklenburg-Vorpommern
zurückgezogen, es hat sich auch diese Gesellschaft

zurückgezogen. Das kann es nicht sein, wofür dieser Staat
steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412102400
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1412102500
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Es ist erschreckend, mit welcher Be-
denkenlosigkeit in unserem Lande Menschen wegge-
stoßen, ausgegrenzt, sich selbst überlassen werden:
Ausländer, Obdachlose, Behinderte, alte Leute. Der Geist
der Gedankenlosigkeit, die Angst vor dem Fremden und
die Menschenverachtung sind die Quellen dieser Intole-
ranz.

Das wird einem auf so beschämende Art und Weise
wieder deutlich und bewusst, wenn man an die Ereignisse
der vergangenen Sommermonate denkt. Es stimmt mich
äußerst nachdenklich, dass die Hemmschwelle für Ge-
walt bei von Hakenkreuz und Bier verblendeten Jugend-
lichen so weit gesunken ist, dass der Zynismus der Worte
bereits in Drangsalierung, ja sogar Mord umschlägt.
Meine Damen und Herren, solche Parolen wie „Auslän-
der raus!“, mit all ihren Variationen an Hauswände ge-
schmiert oder auf der Straße gebrüllt, sollte man nicht
mehr länger nur als Gerede und leere Worte unterschät-
zen. Schon Faust irrte, als er sprach: „Ich kann das Wort
so hoch unmöglich schätzen.“ Worte können sehr wohl
verletzen, schlagen, vergiften, ja töten. Worte sind eine
Macht, täglich tausendfach belegbar. Ebenso wahr ist,
dass Worte auch Gutes bewirken können, die klärenden,
die ermutigenden, die ehrlichen, die kritischen.

Lassen Sie uns in diesem Sinne ohne parteipolitische
Brille in Gemeinsamkeit und Entschlossenheit die Kraft
aufbringen, unsere Demokratie immun gegen braunes Ge-
dankengut und seine Auswucherungen zu machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft auf
der Straße, aber vor allem um die Köpfe unserer Jugend
ist eine Kriegserklärung an unsere Demokratie und stellt
eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung an alle
Demokraten, an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und
nicht zuletzt an die Politik dar. Als Abgeordneter aus
Hoyerswerda weiß ich, wie schädlich sich rechtsextreme
Gewalt auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-
schaft allgemein auswirkt. Auch weiß ich, wie zählebig
und hartnäckig ein Negativimage für eine Region wirkt,
wie Medien fleißig und immer wieder ein Klischee be-
dienen. Deshalb reagiere ich äußerst sensibel auf gefähr-
liche Vereinfachungen, erst recht auf herablassende Be-
richterstattung mancher Medien über den „unkultivierten
Osten“, die Rechtsextremismus quasi als Ost-Phänomen
einfach abqualifizieren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam

dieser Tendenz entschieden entgegentreten. Ostdeutsch-
land darf und kann man nicht einfach pauschal in die




Cem Özdemir
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rechte Ecke stellen. Die Worte von Herrn Thierse haben
mir heute sehr viel Mut gemacht. Zwar liegt in den neuen
Ländern regional ein Schwerpunkt rechtsextremer Ge-
walttaten und der Rechtsextremismus in den neuen Län-
dern ist jünger und auch militanter, aber die geistigen
Brandstifter und die Geldquellen sitzen in den alten Bun-
desländern. Deswegen ist das Problem des Rechtsextre-
mismus kein regionales, sondern ein gesamtdeutsches.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Ebenso falsch und gefährlich sind zu einfache und zu
einseitige Erklärungsversuche für die Phänomene von
Ausländerfeindlichkeit,Rechtsextremismus und Gewalt
besonders in den ostdeutschen Ländern. Es gibt eben ei-
nen ganzen Komplex von Ursachen. Sicher hat der ge-
sellschaftliche Umbruch nach der Wende vor über zehn
Jahren zu Orientierungslosigkeit und Frustration beige-
tragen und zu einem Wertevakuum geführt, das der
Rechtsextremismus leider auch ausfüllen konnte. Auch
die autoritären Strukturen in der DDR haben das Entste-
hen des braunen Sumpfes begünstigt. Wer, wie in der ge-
lebten Arbeiter- und Bauernrepublik, nie die Chance
hatte, Alltagserfahrungen mit gleichaltrigen Ausländern
zu sammeln, kann auch seine Vorurteile nicht kritisch
überprüfen, seine Ängste nicht überwinden. Deshalb
muss es endlich verstärkt Programme geben, die diese Er-
fahrung möglich machen. Es muss schwerpunktmäßig in
den neuen Ländern in Projekte zur Förderung der Weltof-
fenheit von Jugendlichen investiert werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sicher gehören wirtschaftliche Probleme zu den Fak-
toren, die Extremismus jeder Art begünstigen. Wenn
junge Menschen nicht die Perspektive haben, sich in den
Städten und Gemeinden, in denen sie zu Hause sind, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen, und keine berufliche Zu-
kunft sehen, dann wird es einfach schwierig, die sich da-
raus ergebenden Frustrationen aufzufangen und die viel
beschworene Bürgergesellschaft zu stärken. Wenn es uns
nicht gelingt, die wirtschaftlichen Problemregionen be-
sonders in den neuen Ländern auf eine wirtschaftliche Zu-
kunftsbasis zu stellen, werden sich Aggression und Ge-
walt weiter ausbreiten, werden Eliten abwandern und
potenzielle Investoren nicht bereit sein, dort Risikokapi-
tal zu investieren.

Wir müssen der Jugend Chancen bieten, Talente und
Fähigkeiten zu entfalten, eine Aufgabe zu haben. Dazu
gehört die Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeit in unserer
Gesellschaft, dazu gehört ein attraktives und modernes
Angebot der Vereine für Sport, Kultur und gesellschaftli-
ches Engagement. Hier ist nicht nur der Staat, sondern un-
sere Gesellschaft als Ganzes, auch jeder Einzelne gefor-
dert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Allein die wenigen angerissenen Probleme verdeutli-

chen eines: Uns hilft kein kurzfristiger Aktionismus. Es
gibt keine schnellen Erfolge, die man medienwirksam
verkaufen kann.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Die Politik – also auch wir – muss beweisen, dass sie

über genügend Zivilcourage verfügt und auf langfristige
Konzepte setzt, deren Ergebnisse sich möglicherweise
erst in einigen Jahren zeigen. Die F.D.P. hat dazu bereits
im Frühjahr ein langfristig angelegtes und mit jährlich
250 Millionen DM ausgestattetes Programm vorgeschla-
gen – eine gute Grundlage für gemeinsames Handeln.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412102600
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Innenminister des Landes Niedersachsen,
Heiner Bartling.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412102700
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Deutschland ist eine lebendige, starke und erfolgreiche
Demokratie. Deutschland ist ein liberales, weltoffenes
und tolerantes Land, in dem fast alle Menschen sicher le-
ben können.

Wer nicht sicher hier leben kann, sind diejenigen, die
Rassenhass, Intoleranz und Gewalt predigen. Sie sind es
– und nicht friedliebende Bürgerinnen und Bürger – die
sich in unserem Land nicht sicher fühlen dürfen. Sie sind
es, die mit permanenter Überwachung, konsequenter po-
lizeilicher und strafrechtlicher Verfolgung sowie gesell-
schaftlicher Ächtung zu rechnen haben.

Unser Bundesland Niedersachsen hat sich bereits un-
ter meinem Vorgänger Gerhard Glogowski der Aufgabe,
den Rechtsextremismus zu bekämpfen, erfolgreich ge-
stellt. Niedersachsen hat nach meiner Auffassung seine
Hausaufgaben gemacht. Ich würde gerne dem Kollegen
Westerwelle noch eine andere Erklärung für die Nichtan-
wesenheit der Innenminister der Länder anbieten: Sie alle
machen ihre Hausaufgaben, Herr Westerwelle, deswegen
sind sie nicht vollständig anwesend.

Aber nicht alle, meine Damen und Herren, haben ihre
Hausaufgaben gemacht. Das lässt sich unter anderem
auch von der alten Bundesregierung sagen. So musste das
Bundesinnenministerium unter Manfred Kanthers Füh-
rung beim Verbot der FAP und der Wiking-Jugend
Mitte der 90er-Jahre von anderen, unter anderem auch
von Niedersachsen, geradezu zum Jagen getragen wer-
den.

Vieles von dem, was die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion in ihrem Antrag fordert, greift deshalb nichts Neues
auf. So ist es nicht zuletzt der Initiative Niedersachsens,
aber auch der Anregung aus Bayern zu verdanken, dass
jetzt bis Mitte Oktober die Aussichten für ein NPD-Ver-
bot geprüft werden. Allerdings kann es nicht so gehen,
wie Herr Beckstein das angelegt hatte, nach dem Motto:
„Hannemann, geh du voran!“ Also: Die Bundesregierung
soll mal machen. Wenn wir nach sorgfältiger Prüfung zu
dem Ergebnis kommen, dass ein NPD-Verbot sinnvoll




Klaus Haupt

11563


(C)



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(A)



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und erfolgreich erscheint, sollten alle Verfassungsorgane
diesen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir in Niedersachsen schöpfen darüber hinaus die
Möglichkeiten, die das Vereinsrecht gegen Rechtsextre-
misten bietet, konsequent aus, wobei wir immer wieder
rechtliche Risiken eingegangen sind. So wurden in Nie-
dersachsen bzw. auf niedersächsische Initiative hin 1992
der Deutsche Kameradschaftsbund Wilhelmshaven, 1994
die Wiking-Jugend, 1995 die FAP sowie 1998 die das Hei-
deheim in Hetendorf tragenden Vereine verboten. Wir
werden rechtsextremistische Organisationen auch weiter-
hin beobachten und, sofern die Voraussetzungen vorlie-
gen, verbieten. Dabei werden wir das Mittel des Verbots
auch für die angeblich nicht organisierten so genannten
Kameradschaften genau prüfen.

Die Linie des Landes ist es daneben, unter voller Aus-
schöpfung des rechtlichen Rahmens versammlungsrecht-
liche Veranstaltungen der gewaltbereiten rechtsextremi-
stischen Szene zu verbieten. Auch ohne tief greifende
Änderung des Versammlungsrechts – das ist meine feste
Überzeugung – lassen sich in diesem Bereich durchaus
Erfolge erzielen. So haben wir in Niedersachsen in den
letzten fünf Jahren 37 rechtsextremistische Versammlun-
gen untersagt bzw. aufgelöst. Die allermeisten dieser Ver-
botsverfügungen, nämlich 31, wurden von den Gerichten
bestätigt.

Seit Anfang der 90er-Jahre gehen Polizei und Verfas-
sungsschutz konsequent gegen rechtsextremistische und
fremdenfeindliche Straftäter vor. Skinhead-Konzerte
und Neonazi-Aufmärsche wurden, soweit das rechtlich
möglich war, von der Polizei aufgelöst. Die polizeilichen
Maßnahmenkataloge, von denen jetzt allenthalben – auch
in dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion – die Rede ist, ent-
halten insofern nicht so sehr viel Neues.

Man kann jedoch nie ganz ausschließen, dass grölende
Neonazis aufmarschieren und die Polizei dann nicht so-
fort zur Stelle ist. Zudem haben – das müssen wir sehr
sorgfältig registrieren – die Aktivitäten der Rechtsextre-
misten eine neue Qualität erreicht: Sie treten frecher, ge-
waltbereiter und brutaler auf. Sie agieren ganz bewusst
über Ländergrenzen hinweg in der Absicht, die Polizei zu
täuschen und Gegenmaßnahmen zu unterlaufen. Sie nut-
zen verstärkt das Internet für die Propaganda. Aus all die-
sen Gründen werden wir unsere Maßnahmen weiter in-
tensivieren. Polizei, Verfassungsschutz und Justiz spielen
bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus eine beson-
dere Rolle.

Das heißt konkret: Erstens. Die Polizei muss den
Rechtsextremisten auf den Füßen stehen. Sind die Namen
der Schläger bekannt, werden sie bei bevorstehenden Ge-
fahren von der Polizei in Gewahrsam genommen. Zwei-
tens. Wir brauchen eine bundesweite Datei „Gewalttäter
Rechts“ nach dem Modell der Hooligan-Datei. Drittens.
Wir brauchen eine einheitliche Begriffsdefinition von
Rechtsextremismus, um die Aussagekraft von Lagebil-
dern zu verbessern. Viertens. Wir brauchen die Erfassung
aller Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund

– also auch von Propagandadelikten, die wir übrigens ge-
nerell aufnehmen, was aber nicht überall geschieht –, um
zu einer offenen Analyse der Situation zu kommen. Fünf-
tens. Wo Rechtsextremisten mit ihren Taten Geld verdie-
nen, etwa durch den Vertrieb von Skinhead-Musik, wer-
den wir diese illegalen Gelder beschlagnahmen und
abschöpfen.

Von Kritikern wird jetzt immer wieder betont, repres-
sive Mittel von Polizei und Justiz wirkten nur begrenzt,
die Schule könne nicht jedes gesellschaftliche Problem
lösen, die Polizei könne den Rechtsextremismus nicht al-
lein bewältigen, durch ein Verbot der NPD sei der Rechts-
extremismus nicht aus der Welt. Das mag ja für sich ge-
nommen alles richtig sein. Aber ich bin der Auffassung,
wir sollten uns nicht auf das konzentrieren, was wir alles
nicht tun können. Stattdessen sollten wir jetzt möglichst
rasch, konsequent und effektiv das tun, was wir tun kön-
nen


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU])


und wofür wir gegenüber der Gesellschaft wie auch ge-
genüber potenziellen Opfern verantwortlich sind.

Erforderlich sind vor allem konkrete Maßnahmen,
die unmittelbare Wirkung zeigen. Entschlossenes Han-
deln im Konkreten ist ein deutliches Signal für alle: für
gefährdete Jugendliche, denen wir helfen wollen, für
braune Schläger, denen im Guten nicht mehr geholfen
werden kann, und für diejenigen, die glauben, das gehe sie
alles nichts an.

In unserem Bundesland haben wir uns deshalb ent-
schlossen, das – wie wir es nennen – „Netzwerk Innere Si-
cherheit“ noch dichter zu knüpfen. Mit einer ganzen Se-
rie von Veranstaltungen werden wir deshalb in die
Regionen des Landes gehen. Wir wollen dabei zur Über-
nahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung ermuti-
gen und die regionale Verknüpfung präventiver Arbeit
stärken.

Das alles reicht allerdings noch nicht aus; denn die
gesamtgesellschaftliche Vernetzung muss sich auch auf
Bundesebene widerspiegeln, um besonders effektiv zu
sein. Schließlich halten sich Neonazis nicht an Länder-
grenzen. Wir haben das gerade wieder am Wochenende
festgestellt, als die niedersächsische Polizei gemeinsam
mit der Polizei anderer Länder an der Grenze zu Meck-
lenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ein Skinhead-
Konzert mit Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet
aufgelöst hat. Ich appelliere deshalb an Bund und Länder
sowie an die gesellschaftlichen Gruppen, sich im gleichen
Maße wie Niedersachsen für das Deutsche Forum Krimi-
nalprävention zu engagieren, damit das DFK endlich
seine Arbeit aufnehmen kann.

Trotz dieser konkreten Schritte dürfen wir uns nicht der
Illusion hingeben, den Rechtsextremismus ganz und gar
beseitigen zu können. Das heißt: Wir müssen dicke Bret-
ter bohren, und zwar immer wieder. Hier ist ein langer
Atem gefragt, nicht kurzfristiger Aktionismus. Das gilt
nicht nur während eines Sommers, sondern auch danach,




Minister Heiner Bartling (Niedersachsen)

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so wie wir es in Niedersachsen über viele Jahre schon ge-
tan haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412102800
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Petra Pau.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412102900
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, zu dem
alle Fraktionen Anträge vorgelegt haben. Wir sollten uns
aber auch fragen: Was können Bürgerinnen und Bürger
von dieser Debatte heute erwarten? Ich meine zweierlei:
Zum einen kann der Nachweis erbracht werden, dass es
der Bundestag wirklich so ernst meint, dem Rechtsextre-
mismus Einhalt zu gebieten, wie es im Sommer und da-
nach vielfach zu hören war. Zum anderen kann belegt
werden, dass es sich um eine grundlegende Herausforde-
rung für Leib und Leben allzu vieler, aber auch für die
Verfasstheit der Bundesrepublik insgesamt handelt.


(Beifall bei der PDS)

Ich möchte den Zahlenbeispielen noch eines hinzufü-

gen, um die Dimension, über die wir hier reden, zu
erhellen: Allein im vergangenen Jahr wurden über
10 000 Straf- und Gewalttaten registriert, die fremden-
feindlich, antisemitisch oder rassistisch motiviert waren.
Das waren durchschnittlich 27 am Tag und mehr als eine
in der Stunde. Wir alle wissen doch, dass dies nur die
Spitze des Eisberges beschreibt. Denn die tatsächliche
Zahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten liegt um ein
Vielfaches höher. Alltägliche Demütigungen, Ängste und
Erniedrigungen lassen sich statistisch ohnehin nicht er-
fassen. Deshalb finde ich – bei allen unterschiedlichen
Auffassungen in der Sache –, wir sollten bei diesem
Thema auf jegliches parteipolitisches Muskelspiel ver-
zichten. Ich bin dazu bereit.


(Beifall bei der PDS)

Ich stimme der Kollegin Vogt zu, die in der „Frankfur-

ter Rundschau“ vom 7. August dieses Jahres anbot, ein
hohes Maß an Übereinstimmung im Bundestag anzu-
streben und dies auch in unseren Beschlüssen auszu-
drücken.

Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, können
wir auch in drei anderen Einschätzungen übereinstim-
men: Erstens. Wir führen die Debatte viel zu spät. Deshalb
sollten wir sie umso grundsätzlicher und konkreter
führen. Zweitens. Wir führen die Debatte zu einer sub-
stanziellen Frage, weshalb wir auf jegliche Relativierun-
gen verzichten sollten.


(Beifall bei der PDS)

Drittens. Wir führen sie in eigener Sache, weshalb wir

unsere eigene politische Verantwortung nicht delegieren
dürfen.

Es ist ja völlig in Ordnung, von der Gesellschaft Zivil-
courage gegen Rechts zu fordern. Denn der Rechtsextre-

mismus ist ein gesellschaftliches Problem und damit nur
gesamtgesellschaftlich zurückzudrängen. Wir alle aber
werden unglaubwürdig, wenn wir diesen Appell in das
Land schicken, ohne zugleich gesellschaftliches Engage-
ment zu stärken und Zivilcourage zu schützen: sowohl die
Opfer rechtsextremistischer Gewalt als auch zum Beispiel
die mutige Berlinerin, die seit Jahren faschistische Sym-
bole und Losungen von Gebäuden entfernt


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


und neben den rechtsextremen Schlägern auch Anzeigen
wegen Sachbeschädigung fürchten muss. Kontraproduk-
tiv, ja verlogen wäre es auch, wenn wir Sonderprogramme
für Sozial-, Jugend- oder Kulturarbeit verabschieden und
zugleich jene, die permanent Sozial-, Jugend- oder Kul-
turarbeit leisten können oder wollen, vermeintlichen
Sparzwängen opfern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Ge-
danke: Ich möchte dringend dafür werben, ganz einfache
Antworten zu vermeiden, zum Beispiel in der aktuellen
Debatte um das NPD-Verbot. Damit ich nicht missver-
standen werde: Liegen die Gründe vor, werden wir uns
natürlich entsprechend verhalten. Aber so wie diese De-
batte geführt wird, birgt sie mehrfache Gefahren von Ver-
simpelungen oder Scheinlösungen, vor allem, wenn es als
Königsweg gepriesen wird.

Herr Kollege Beckstein, mir braucht niemand etwas
über den Charakter, die Ziele oder die Funktion der NPD
beziehungsweise ihres militanten Ablegers, der JN, zu er-
zählen. Gerade für die PDS hier in Berlin gab es schlimme
Anlässe, sich mit dieser rechtsextremistischen Kampf-
truppe zu befassen. Wenn ich mir ansehe, was Sie in den
Verfassungsschutzberichten zur NPD und an Verbotsar-
gumenten anführen, stelle ich fest, dass wir dies offenbar
sehr viel gründlicher taten als Ihr Verfassungsschutz. Sie
sollten Ihre Feindbilder aktualisieren; denn die „AG Jun-
ger GenossInnen“ in und bei der PDS gibt es seit Jahren
nicht mehr.


(Heiterkeit bei der PDS)

Die Konzentration auf die NPD verengt aber auch den

Blick auf die Komplexität des Problems. Die Konzentra-
tion auf Verbote birgt die Gefahr, dass grundlegende Bür-
gerrechte zur Disposition gestellt werden. Herr Kollege
Bosbach, das gilt auch für das Demonstrationsrecht. Auch
ich finde es unerträglich, wenn Neonazis durch das Bran-
denburger Tor marschieren. Ich will sie aber auch nicht in
Berlin-Hellersdorf, Passau oder Lübeck demonstrieren
sehen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ein letzter Gedanke: Der Rechtsextremismus war, ist
und bleibt ein Problem der gesamten Bundesrepublik. Be-
sonders problematisch jedoch und auch nicht kleinzure-
den ist die derzeitige Situation in den neuen Bundeslän-
dern. Etwa die Hälfte aller verübten fremdenfeindlichen
Gewaltdelikte erfolgt dort, und vielerorts – das wurde
schon beschrieben – wird rechtsextremistische Kultur
durch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung geduldet




Minister Heiner Bartling (Niedersachsen)


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oder gar unterstützt; aber wehe uns, wenn wir eindimen-
sionale Erklärungen zu den Ursachen abgeben.


(Beifall bei der PDS)

Drängend und nötig ist die nunmehr begonnene gesell-

schaftliche Auseinandersetzung. Kollege Thierse hat
völlig zu Recht die besondere Verantwortung der PDS an-
gesprochen. Ich will, dass sich auch die PDS weiter dafür
einsetzt, dass diese Debatte nicht versandet und dass sie
zu antifaschistischen Konsequenzen und gesellschaftli-
chen Veränderungen führt. Sie haben Recht, wenn Sie be-
klagen, dass sich Rechtsextremismus erneut mit Sozialis-
mus vermengt. Aber dann sollten wir beide innehalten, ich
als Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus
und Sie als Sozialdemokrat. Ich möchte mit Ihnen ge-
meinsam klar machen, dass Fremdenfeindlichkeit, Neofa-
schismus, Rassismus und Antisemitismus weder demo-
kratisch noch sozialistisch sind. Das sollten wir
gemeinsam in Ost und West demonstrieren.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103000
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun der Kollege Sebastian Edathy.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1412103100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wenn wir heute eine Debatte miteinan-
der führen, die weniger kontrovers und unversöhnlich ist
als viele andere Aussprachen, die an diesem Ort sonst
stattfinden, dann ist das gut. Es ist gut, weil wir uns als
Demokraten darin einig sein müssen, dass wir die Grund-
lagen unseres Gemeinwesens niemals preisgeben dürfen.

Zu den Grundlagen unseres Gemeinwesens gehört ele-
mentar der erste Satz des ersten Artikels unserer Verfas-
sung, der heißt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Da steht nicht, die Würde der Nichtbehinderten ist unan-
tastbar. Da steht nicht, die Würde derer, die nicht obdach-
los sind, ist unantastbar. Da steht nicht einmal, die Würde
des deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Nein, da steht
so schlicht wie eindrucksvoll: Die Würde des Menschen
ist unantastbar.

Das heißt, dort, wo die Würde des Menschen mit Wor-
ten verhöhnt oder mit Taten in den Schmutz gezogen wird,
da wird ein Kern unserer Verfassung infrage gestellt. Der
zentrale Grund, dem Rechtsextremismus mit Nachdruck
entgegenzutreten, ist für mich deshalb nicht – nicht in ers-
ter Linie jedenfalls –, dass das Ansehen Deutschlands, die
Achtung Deutschlands im Ausland leiden könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Nein, ich halte es für viel entscheidender, dass unsere
Selbstachtung leiden muss, wenn wir zulassen, dass
Feinde der Demokratie in diesem Land die Würde von
Menschen mit Füßen treten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Wer Menschen angreift, weil er ihre Würde für antast-
bar hält, wendet sich gegen die Grundlagen unseres Ge-
meinwesens und trifft nicht nur diejenigen, die er ganz
praktisch angreift, sondern er greift uns alle an. Deswegen
sind wir auch alle gehalten, in unserem Land an jedem Ort
und zu jeder Zeit die Gültigkeit des Grundgesetzes si-
cherzustellen.

Fast auf den Tag genau vor 38 Jahren, im späten Sep-
tember des Jahres 1962, stellte Präsident John F. Kennedy
durch den Einsatz von 400 Bundesbeamten sicher, dass
der dunkelhäutige Staatsbürger James Meredith sein
Studium an der Universität von Mississippi aufnehmen
konnte, was ihm zuvor aus rassistischen Gründen ver-
wehrt worden war. 400 Menschen sorgten damals dafür,
dass ein Mensch sein demokratisches Recht wahrnehmen
konnte. Das war richtig, das war nicht unverhältnismäßig,
weil ein demokratischer Staat – das gilt für die USA wie
für uns heute – es nicht hinnehmen kann und darf, dass
seine Verfassungsprinzipien in Frage gestellt werden,
auch wenn das nur einen einzigen Menschen, der in die-
sem Land lebt, betrifft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Das heißt für mich auch, meine Damen und Herren, es
wäre beschämend, wenn wir nicht gewährleisten könnten,
dass sich auf den Marktplätzen und auf den Straßen unse-
res Landes die hier lebenden Menschen ohne Angst be-
wegen können. Ich denke – und habe auch die Debatte so
aufgefasst –, dass hierüber Konsens besteht.

Wer meint, das Gewaltmonopol des Staates anzwei-
feln zu können, dem muss mit allen dafür erforderlichen
Mitteln deutlich gemacht werden, dass er sich irrt, weil für
uns die Verteidigung der menschlichen Würde keine Ne-
benaufgabe, sondern eine Kernaufgabe ist. Wenn eine sol-
che Debatte, wie wir sie heute führen, dazu beitragen
kann, uns das noch einmal selbst und gegenseitig bewusst
zu machen, dann betrachte ich das zunächst einmal als ein
sehr gutes Ergebnis dieser Debatte.

Ebenso wichtig finde ich, bereits tätig zu werden, be-
vor die demokratiefeindliche Idee von der Antastbarkeit
der menschlichen Würde zur Tat führt, ja anzusetzen, be-
vor eine solche Idee überhaupt entstanden ist. Deshalb
reicht es nicht aus, über Verbote zu diskutieren, denn das
allein würde eindeutig zu kurz greifen.

Das Verbot einer extremistischen Partei ändert
zunächst einmal nichts daran, dass es offenbar Leute gibt,
die bereit sind, sich einer solchen Partei anzuschließen,
und das Verbot einer Demonstration gegen Toleranz än-
dert zunächst einmal nichts daran, dass es Menschen gibt,
die bereit sind, zu einer solchen Demonstration zu gehen
und an ihr teilzunehmen. Ich glaube, wir müssen uns klar
machen: Mit der Bekämpfung von Symptomen alleine
kommen wir nicht zum Ziel; wir müssen auch an die Ur-
sachen herangehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Petra Pau
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(B)


In dieser Hinsicht haben wir eine mindestens doppelte
Aufgabe. Menschlichkeit und Toleranz nämlich müssen
vor Ort gelebt werden. Wir können sie weder in Parla-
menten noch in Regierungen sozusagen herbeibeschlie-
ßen.

Umgekehrt aber ist auch richtig, dass dort, wo es nötig
ist, Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaft – übri-
gens auch materiell – verstärkt gefördert werden müssen.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung noch im Som-
mer durch entsprechende Beschlüsse die Weichen in diese
Richtung gestellt hat.

Zum anderen – das will ich hier aber auch sagen – soll-
ten und müssen wir als Demokraten im Alltagsgeschäft
bei aller bisweilen zugespitzten Auseinandersetzung, von
der die Demokratie ein Stück weit ja auch lebt, darauf ach-
ten, politische Diskussionen so zu führen, dass niemand
Gefahr läuft oder gar in Kauf nimmt, zum Stichwortge-
ber für Gegner der Demokratie zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, es gibt leider nicht nur
geworfene Brandsätze, es gibt auch gesprochene Brand-
sätze. So sollte meines Erachtens für Demokraten die Zu-
gehörigkeit von Minderheiten zu unserem Gemeinwesen
völlig unstrittig sein. Es wäre gut, wenn wir aus der aktu-
ellen Debatte heraus vielleicht doch gemeinsam zu der
Übereinkunft finden könnten, dass in Zukunft in Deutsch-
land eben keine Wahlkämpfe – jedenfalls nicht seitens de-
mokratischer Parteien – auf dem Rücken von Minderhei-
ten geführt werden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Wer um eines parteipolitischen Vorteils willen in die-
ser Hinsicht polarisiert, der muss prüfen, ob er wirklich
des kurzfristigen Gewinns der einen oder anderen Stimme
wegen die damit verbundene Beschädigung des inneren
Friedens verantworten kann. Wenn ein Satz aus der Wis-
senschaft richtig ist, dann glaube ich, dass es der Satz ist,
die Botschaft des Rechtsextremismus gewinne nur dann
an Bedeutung und Zuspruch, wenn sie durch den Konser-
vatismus mittelbar popularisiert werde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


In diesem Zusammenhang will ich doch noch ein Wort
zu Herrn Beckstein sagen, der meinte, man müsse in einer
Demokratie über alles sprechen können. Das ist wohl
wahr; aber die Frage ist, wie man über alles spricht


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


und ob man Minderheiten instrumentalisiert oder dann,
wenn die Gefahr besteht, sie zu instrumentalisieren, eher
darauf verzichtet. Ich glaube, im Umgang mit Minderhei-
ten zeigt sich die wahre Qualität einer Demokratie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Ich möchte dem Bundestagspräsidenten ausdrück-
lich dafür danken, dass er – übrigens nicht erst seit diesem
Sommer – mit klaren Worten auf das Problem des Rechts-
extremismus hinweist und die Dinge beim Namen nennt.
Viel zu lange ist in dieser Hinsicht beschönigt und ver-
drängt worden. Ich habe heute mit einigem Unverständnis
in den Zeitungen gelesen, dass Wolfgang Thierse seitens
prominenter Vertreter der Unionsfraktion vorgeworfen
wird, er sei parteilich. Dieser Vorwurf der Parteilichkeit
ist insofern richtig, als der Bundestagspräsident – heute
hat er es wieder deutlich gemacht – engagiert für unsere
Verfassung Partei ergreift. Damit nimmt er die Aufgabe
wahr, die er als Präsident dieses Hauses hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Dem Bundestag liegen mittlerweile Anträge aller Frak-
tionen vor, die sich mit Wegen zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus befassen. Ende Oktober wird es eine
gemeinsame öffentliche Anhörung des Innenausschus-
ses und des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend geben. Danach werden wir die Vorlagen ab-
schließend beraten. Ich hoffe, es wird uns gelingen, im
Zuge dieser Beratungen zu einer fraktionsübergreifenden
Position zu gelangen, die dann zu konkreten Folgen führt.

Es reicht nicht, Rechtsextremismus zu analysieren.
Man muss ihn auch bekämpfen. Täuschen wir uns nicht:
Das ist keine kurzfristig zu erledigende Aufgabe. Das ist
eine langfristige Aufgabe. Und das ist nicht die Aufgabe
eines Teiles dieses Hauses. Das ist eine Aufgabe, der wir
uns als Demokraten alle gemeinsam stellen müssen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103200
Ich gebe dem Kolle-
gen Hartmut Büttner für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1412103300
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Ungeister von gestern scheinen tatsächlich wieder aufer-
standen zu sein. Rechtsextremisten in Uniform und Kno-
belbechern marschierten durch das Brandenburger Tor.
Ausländer und fremdartig erscheinende Menschen in un-
serem Land haben zunehmend Angst. Einige von ihnen
– das wurde hier schon deutlich dargelegt – wurden be-
drängt, gejagt und sogar getötet. Deutschland im Herbst
2000 scheint ein Land geworden zu sein, das seine
Weltoffenheit als Kultur-, Import- und Gastland einer
großen Prüfung unterzieht.

Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz
belegen, dass die Demokraten in Deutschland die Ent-
wicklung des rechten Extremismus genau beobachten und
ihm klar entgegentreten müssen. Ende des letzten Jahres
gab es immerhin 134 rechtsextremistische Organisationen
und Zusammenschlüsse. 10 037 Straftaten wurden von




Sebastian Edathy

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(A)



(B)


Rechtsextremisten verübt, davon 746 Gewalttaten. Im
ersten Halbjahr dieses Jahres scheint die Zahl der Ge-
walttaten etwas rückläufig gewesen zu sein. Gegenüber
402 im Vorjahr reduzierte sie sich auf 330 Straftaten. Es
wäre sehr schön, wenn sich die Tendenz einer abnehmen-
den Gewaltanwendung auch in diesem zweiten Halbjahr
fortsetzen würde. Es gibt aber keinerlei Anlass zu einer
vorschnellen Entwarnung.

Es wurde schon angesprochen: Fast drei Viertel der
rechtsextremen Gewalttäter sind Jugendliche. Gerade in
diesem Bereich ist es ganz entscheidend, dass die staatli-
che Reaktion möglichst rasch erfolgt. Eine schnelle, kon-
sequente und spürbare Ahndung der Straftat mit einer ra-
schen Aburteilung beeindruckt die jugendlichen Täter
zumeist mehr als eine Strafe, die erst nach vielen Mona-
ten oder sogar Jahren verhängt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Deswegen sollten wir alle gemeinsam möglichst
schnelle Gerichtsverfahren einfordern. Je schneller die
Strafe der Tat tatsächlich auf dem Fuße folgt, umso eher
wirkt die Strafe präventiv. Dabei sollten Deutschlands
Richter gerade auch gegenüber den jugendlichen Tätern
das Instrumentarium um so genannte pädagogische Stra-
fen erweitern können. So fordern wir – wir haben das in
unserem Antrag deutlich gemacht – die Einführung eines
Warnarrestes. Die zur Bewährung ausgesetzte Jugend-
strafe wird von vielen Jugendlichen als Sanktion kaum
wahrgenommen. Die gleichzeitige Anordnung eines
Jugendarrestes würde dem jungen Menschen nachdrück-
lich den Ernst der Lage vor Augen führen. Sollten hierzu
gesetzliche Ergänzungen notwendig sein, ist meine Frak-
tion dazu gern bereit.

Natürlich muss der rechtsextremen Szene auch die
Möglichkeit zu medienwirksamen Aufmärschen und
Veranstaltungen genommen werden. Es wurde hier schon
dargestellt, dass die Bilder des 29. Januar, als Neonazis
mit schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger
Tor marschiert sind, einfach unerträglich sind. Diese Bil-
der, in der ganzen Weltöffentlichkeit übertragen, beschä-
digen das Ansehen unseres Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.] – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Leider wahr!)


Diese öffentlichen Ereignisse und die zahlreichen Ge-
walttaten lassen selbst bei Politikern des linken politi-
schen Lagers zunehmend nach einer stärkeren Rolle von
Polizei und Justiz rufen. Viele von Ihnen haben sich in der
Vergangenheit sehr zurückhaltend oder ablehnend gegen-
über polizeilichem Handeln gezeigt und allein sozial-
pädagogischen Konzepten den Vorrang gegeben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Auch die Rolle des Verfassungsschutzes wurde aus

diesen Kreisen mehr als eine Gefahr für die innere Libe-
ralität denn als ein Eckstein der wehrhaften Demokratie
angesehen. Traurigstes Beispiel ist mein Heimatland

Sachsen-Anhalt. Die frühere bürgerliche Koalition aus
CDU und F.D.P. hatte den Verfassungsschutz behutsam
aufgebaut. Circa 120 Mitarbeiter zählte der Verfassungs-
schutz beim Regierungswechsel 1994; er sollte mittel-
fristig auf 150 Mitarbeiter ausgebaut werden. Seit dem
Regierungswechsel zu einer PDS-gestützten Minderheits-
regierung gab es hier einen totalen Kurswechsel. Unter
dem Druck der PDS wurde der Verfassungsschutz auf
80 Personen reduziert. Mit der Hälfte der ursprünglich
vorgesehenen Mitarbeiter soll eine deutlich gestiegene
Bedrohungslage beobachtet werden.

Dass das so nicht geht, zeigt die Tatsache, dass sich
mein Heimatland leider zu einem Schwerpunktland
rechtsextremistisch motivierter Straftaten entwickelt hat.
Bezogen auf die Einwohnerzahl hatten wir sowohl in
1998 als auch in 1999 die meisten Gewalttaten mit rechts-
extremem Hintergrund aller 16 deutschen Bundesländer.
Auf dem Altar des unsäglichen Magdeburger Modells
wurden die Sicherheitsinteressen unserer Mitbürger ge-
opfert. Das finde ich besonders skandalös.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der PDS)


Aber auch einige wenige andere Länder – Herr
Bartling, ich muss hier Niedersachsen ansprechen – haben
nicht anders gehandelt. Niedersachsen reduzierte seinen
Verfassungsschutz während der Amtszeit des Minister-
präsidenten Gerhard Schröder um nahezu die Hälfte. Da-
mit wurden dem Rechtsstaat die Mittel genommen, die
Feinde unseres Gemeinwesens von rechts und links zu-
mindest wirkungsvoll beobachten zu können.

In einem Expertengespräch des Innenausschusses im
März 1998 zum Thema Rechtsextremismus in Deutsch-
land stellten wir bereits große Unterschiede auch zwi-
schen den verschiedenen ostdeutschen Bundesländern bei
Maßnahmen gegen den rechten Extremismus fest. Es war
das christlich-demokratisch regierte Sachsen, welches mit
der Sonderkommission Rechtsextremismus konsequent
gegen die Gefahren von rechts außen vorging.

Auch im CDU-regierten Thüringen wird die gleiche
Entschlossenheit gegen den Extremismus praktiziert. Ge-
rade die schnelle Aufklärung des verbrecherischen Brand-
anschlages auf die Erfurter Synagoge im April dieses Jah-
res ist ein weiteres positives Beispiel aus Ostdeutschland.
Nicht zuletzt die rasche Verurteilung und Bestrafung der
Täter hat die rechtsradikale Szene deutlich beeindruckt.
Der Inspekteur der sächsischen Polizei hat in unserer An-
hörung damals deutlich dargestellt, dass nur eine unnach-
sichtige Verfolgung die einzige Sprache sei, die Rechts-
extremisten tatsächlich verstehen würden. Lange, fast zu
lange hat es gedauert, bis diese Auffassung auch im linken
und grünen Lager langsam an Boden gewinnt.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


– Lange, fast zu lange.
Die besondere Anfälligkeit von Menschen aus den

neuen Bundesländern für den rechten Ungeist ist heute
bereits mannigfaltig analysiert worden. Dr. Rainer Erb




Hartmut Büttner (Schönebeck)

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(A)



(B)


vom Zentrum für Antisemitismusforschung sieht die
Wurzeln in der mangelhaften Auseinandersetzung mit
dem Rechtsextremismus in der DDR. Die DDR hatte
sich selbst einen Persilschein ausgestellt, garantiert fa-
schismusfrei zu sein. Trotzdem gab es auch in der DDR
rechtsextremistische Tendenzen, die natürlich alle unter
der Decke gehalten worden sind.

Gewalttätiger Höhepunkt war ein Skinheadüberfall auf
die Ostberliner Zionskirche 1987. Die Haltung von
Skinheadgruppen, die in Cottbus, Dresden, Halle, Mag-
deburg, Erfurt und Leipzig auffällig geworden waren,
charakterisierte die FDJ damals als durch Brutalität, Ge-
walt, Neofaschismus, Antisemitismus und Ausländerhass
gekennzeichnet. Dokumente über diese Vorfälle kann
man in der Gauck-Behörde umfassend nachlesen.

Frau Kahane von der Arbeitsstelle für Ausländerfragen
sieht in einem Mix aus fehlenden demokratischen Erfah-
rungen, Unkenntnis im Zusammenleben mit Ausländern,
einer Ablehnung des Schutzes von Minderheiten und so-
zialer Unsicherheit die Hauptursachen für die stärkere Be-
deutung des Rechtsextremismus in den neuen Ländern.
Aber ich möchte davor warnen, dass das Thema Rechts-
extremismus einfach als ostdeutsche Besonderheit dar-
gestellt wird. Ich danke den Vorrednern, ich danke vor al-
len Dingen auch dem Vizepräsidenten des Zentralrates der
Juden in Deutschland, Michel Friedman, der ganz klar
gestellt hat, man dürfe das Thema Rechtsextremismus
nicht in Ostdeutschland entsorgen. Wir haben in ganz
Deutschland mit diesem Problem zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, wir müssen aber auch zu-
gestehen, dass bei uns in den neuen Ländern der Rechts-
extremismus eine ganz besondere Dimension hat. Die
Rechtsextremisten setzen dabei neuerdings auch auf ein
„Erbe des wahrhaften nationalen Sozialismus“. Das ist
hier auch angesprochen worden. Die NPD selbst präsen-
tiert sich klar als Partei mit sozialistisch-antikapitalisti-
schen Inhalten. Chefideologe des sächsischen Landesver-
bandes der NPD ist Professor Dr. Nier, ein ehemaliger
Professor für dialektischen und historischen Materialis-
mus. Im Mai vergangenen Jahres wurde in der Partei eine
Arbeitsgruppe „Sozialisten in der NPD“ gegründet.

Das verlangt von uns allen große Aufmerksamkeit,
denn – da darf ich besonders die Damen und Herren der
PDS ansprechen – das Interessante ist: Bei den Landtags-
wahlen in Sachsen-Anhalt kandidierte aus dem ganzen
rechtsextremistischen Spektrum nur die DVU mit einer
Landesliste. Keine andere rechtsextremistische Partei war
im Angebot im Wettbewerb um die Erststimme. Die meis-
ten Erststimmen der DVU-Wähler erhielt mit 23 Prozent
die PDS. Dieses Wahlergebnis wird auch durch eine im
„Spiegel“ veröffentlichte neuere Umfrage gestützt.
17 Prozent der PDS-Wähler könnten sich vorstellen, auch
eine rechte Partei zu wählen. So viel rechtsradikales Po-
tenzial zählen Meinungsforscher bei keiner Anhänger-
schaft einer anderen Partei. Ihr Vordenker André Brie sagt
auch, warum: Im Staat des real existierenden Sozialismus
seien die Menschen zu Autoritätshörigkeit, Hierarchie-

denken und Harmoniesucht erzogen worden, die „einen
Nährboden für die Neonazis bilden“.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Das sieht man an Ihnen!)


Wie sich überhaupt die extremistischen Ideologien von
rechts und links im Kampf gegen unsere Grundordnung
häufig einig sind. Die Grenzlinien zwischen rechts und
links verschwimmen besonders bei Gruppen wie den
Nationalrevolutionären von rechts und Nationalkommu-
nisten von links immer mehr. Für uns als Demokraten
sollte deshalb die ideologische Ausrichtung der Extre-
misten völlig ohne Belang sein. Vielmehr sollte allein ihr
Kampf gegen unser demokratisches Gemeinwesen eine
Bedeutung haben. Denn bei den Gewalttaten liegen rechts
und links nicht weit auseinander. Das ist in diese Debatte
noch nicht eingeführt worden. 1990 standen 746 rechts-
extremen Gewalttaten 711 linksextreme Gewalttaten
gegenüber. Hier aufrechnen zu wollen wäre falsch. Wir
sollten versuchen, den Weg, den wir als frühere Regie-
rungskoalition eingeschlagen hatten, fortzusetzen. Zur
Erinnerung: Wir haben damals 13 Verbotsverfügungen
gegen rechtsextremistische Vereinigungen in Bund und
Ländern erlassen. Wir hatten eine personelle Verstärkung
der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Ver-
fassungsschutz erreicht. Wir hatten die Verwendung auch
von verfremdeten oder verzerrten Symbolen nationalsozi-
alistischer oder anderer verbotener Organisationen unter
Strafe gestellt. Schließlich enthielt das Verbrechens-
bekämpfungsgesetz von 1994 einen ganzen Katalog von
Maßnahmen, um den Rechtsextremismus einzudämmen.

In unserem heute vorliegenden Antrag versuchen wir,
genau diesen Weg konsequent fortzusetzen. Neben Maß-
nahmen der Polizei und der Justiz muss vor allem eine
umfassende Präventionsarbeit vor Ort dem Extremismus
jeglicher Couleur das Wasser abgraben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet,
wie die Erziehungskraft der Familien gefördert, die Schu-
len bei ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt und letztend-
lich die Bürgergesellschaft hierbei gestärkt werden kön-
nen.

Wir wollen eine nachhaltige Bekämpfung des Extre-
mismus aller Schattierungen. Parteien, die durch man-
gelnde Trennschärfe selbst Beobachtungsobjekt des Ver-
fassungsschutzes geworden sind, fallen für uns dabei als
Bündnispartner völlig aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach dem Verfassungsschutzbericht von Baden-Würt-
temberg haben sich so besonders die westlichen Landes-
verbände der PDS „zum Tummelplatz von Linksextre-
misten verschiedener Herkunft“ entwickelt.

Deswegen, meine Damen und Herren, schauen wir ge-
schärft auf die gesamte extreme Szene; denn die Union ist
nicht auf einem Auge blind. Ich würde mir wünschen,
dass wir nach zehn Jahren deutscher Einheit in diesem
Bundestag damit nicht allein bleiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)





Hartmut Büttner (Schönebeck)


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(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103400
Für die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun die Kollegin
Annelie Buntenbach.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach der Sommerdebatte über Rechtsextremismus sind
praktische Konsequenzen überfällig. Wir brauchen Maß-
nahmen, die der Stärkung der demokratischen Zivilge-
sellschaft und der Förderung von Zivilcourage dienen.
Dabei sind Vorstöße zur Einschränkung allgemeiner Bür-
gerrechte – gerade des Versammlungsrechts – Schritte in
die falsche Richtung. Es geht im Übrigen auch nicht um
eine Ausweitung der Sicherheitsapparate, es geht im Ge-
genteil um eine Umorientierung, um die Überwindung
von bestehenden Strategie- und Ausbildungsdefiziten.

Der Bundesgrenzschutz, Herr Büttner, ist ja jetzt schon
für die Sicherheit auf den Bahnhöfen zuständig, er ist aber
vielfach mit verdachtsunabhängigen Kontrollen gegen
Immigranten beschäftigt. Die Orientierung muss aber
ganz klar darauf gerichtet sein, Neonazis, die dunkelhäu-
tige Reisende anpöbeln, gerade von den Bahnsteigen in
Ostdeutschland zu verdrängen. Es geht also um eine Um-
orientierung der Sicherheitskräfte und nicht um eine Aus-
weitung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Einschränkung allgemeiner Bürgerrechte geht in

die falsche Richtung, wenn wir Demokratie stärken wol-
len, zu Zivilcourage und Einmischung anregen wollen
und dem Rechtsextremismus eine lebendige und selbst-
bewusste Demokratie entgegenstellen wollen. Im Antrag
der Regierungsfraktionen sind eine Reihe konkreter Maß-
nahmen, die in diese Richtung gehen. Sie wurden hier teil-
weise schon vorgestellt und ich möchte sie nicht wieder-
holen.

Stattdessen möchte ich einen wichtigen Punkt heraus-
greifen: den Opferschutz. Ich möchte dabei beispielhaft
auf die Arbeit einer gesellschaftlichen Initiative, der „Op-
ferperspektive“ in Brandenburg, hinweisen. Das sind
Menschen, die sich um diejenigen kümmern, die in diesen
Debatten viel zu selten zur Sprache kommen, nämlich um
die Opfer rechtsextremer Gewalt: Flüchtlinge, Obdach-
lose, Behinderte, Homosexuelle oder alternative Jugend-
liche. Diese Menschen unterstützt die „Opferperspektive“
dabei, Perspektiven für die Zeit nach dem Angriff zu ent-
wickeln, begleitet und unterstützt sie bei Behördengän-
gen, Antragstellungen, bei Gerichtsverfahren und vermit-
telt gegebenenfalls auch psychotherapeutische Hilfe.
Dabei versucht sie, die Isolierung der Opfer zu durchbre-
chen, die zumeist zu Minderheiten gehören, die auch von
der Gesellschaft ausgegrenzt werden.

Die Widerstände, mit denen sie sich dabei herumschla-
gen muss, sind kaum vorstellbar: wenn zum Beispiel eine
Behörde die psychologische Betreuung der Opfer ablehnt,
weil das Asylbewerberleistungsgesetz sie angeblich nicht
vorsieht oder wenn schlicht abgelehnt wird, Flüchtlinge,
die Opfer rechtsextremer Gewalt geworden sind, in einer
anderen Unterkunft unterzubringen als an dem Ort, wo sie

die Gewalt erfahren haben. Ich möchte der „Opferper-
spektive“ stellvertretend für die vielen Initiativen, die sich
mit Rechtsextremismus auseinander setzen, an dieser
Stelle Anerkennung für ihre Arbeit aussprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Diese Initiativen brauchen aber nicht nur ideelle, son-
dern auch finanzielle Unterstützung. Ich hoffe, dass wir
bei den Haushaltsberatungen einen Weg finden werden,
diese Unterstützung unbürokratisch zu leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Eine Frage dürfen wir gerade in dieser Debatte nicht
aussparen: Was können wir selbst – jenseits der Appelle
an die Zivilgesellschaft – zur Minderung des Problems
Rechtsextremismus beitragen? Rechtsextreme sehen sich
dann zur Gewalt ermutigt, wenn sie glauben, sich in
Übereinstimmung mit den Einstellungen von Teilen der
Gesellschaft zu befinden. Ich kann hier nicht auf die ver-
schiedenen Ursachen von Fremdenfeindlichkeit einge-
hen. Aber eine der Hauptursachen für fremdenfeindliche
Einstellungen und rechtsextreme Gewalt ist die Art und
Weise des Umgangs der Politik mit Minderheiten sowie
Fragen der Asyl- und Migrationspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Dieser Zusammenhang, auf den seit der Asyldebatte
der 90er-Jahre zahlreiche Wissenschaftler hinweisen, darf
nicht länger tabuisiert werden.Ich finde, es ist an der Zeit,
dass wir uns diesem Problem offen und selbstkritisch stel-
len.

Leider ist gerade das nicht gemeint, wenn in letzter Zeit
vielfach von einer Enttabuisierung der Asylpolitik die
Rede war. Tabus bestehen da, wo ein humanitärer Um-
gang mit Menschen aufhört. Es ist richtig und in einer
Demokratie unverzichtbar, an diesem Punkt weiter Tabus
zu setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Die Frage ist nicht, ob wir über Asyl- und Einwande-
rungspolitik reden, sondern wie wir darüber reden. Hier
ist ein Paradigmenwechsel überfällig: weg von der Ab-
wehr- und Abschottungsperspektive hin zu der Perspek-
tive einer offenen Einwanderungsgesellschaft, zu Auf-
nahme, Integration und Schutz von Flüchtlingen und
Minderheiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Perspektivwechsel muss sich auch in der Arbeit
des Parlaments wiederfinden. Die Schaffung eines mo-
dernen Staatsbürgerschaftsrechts und die Neuregelung
des Arbeitserlaubnisrechts für Flüchtlinge waren erste
Schritte in diese Richtung. Sie reichen aber bei weitem
nicht aus. Abschiebehaft, Flughafenverfahren und die Un-
terbringungssituation von Flüchtlingen sind keine Bei-
spiele für einen humanitären Umgang mit Menschen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Populistische Debatten und eine Zuwanderungsdiskus-
sion nach reinen Nützlichkeitskriterien schwächen die hu-
manitäre Orientierung der Gesellschaft. Ich hoffe – meh-
rere Redner haben das schon angesprochen –, dass die
heutige Debatte zumindest ein konkretes, greifbares Er-
gebnis für die Zukunft hat, nämlich eine ethische Selbst-
verpflichtung aller hier im Hause, politische Ausei-
nandersetzungen und Wahlkämpfe nicht mehr auf Kosten
von Minderheiten zu führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103500
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Hans-Peter Kemper.


Hans-Peter Kemper (SPD):
Rede ID: ID1412103600
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Drei Monate ist es her, dass wir un-
seren Antrag gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeind-
lichkeit, Antisemitismus und Gewalt in erster Lesung hier
beraten wollten. Herr Westerwelle hat es eben schon an-
gesprochen: Wir waren ein wenig erstaunt, dass dieses
wichtige Thema zu nachtschlafender Zeit auf die Tages-
ordnung gesetzt wurde und die Redner dann auch noch
ihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Mich hat das da-
mals sehr geärgert.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Mich auch!)

Denn wir hatten kurz vorher ein Bündnis für Demokratie
und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt begründet
und das wichtigste Gremium, der Deutsche Bundestag,
beschäftigte sich mit diesem Thema nachts. Es ist traurig,
dass uns die Medien während des Sommers durch ihre
tägliche Berichterstattung über die Straftaten brauner
Horden erst dazu bringen mussten, dass das Thema heute
da diskutiert wird, wo es hingehört: in der Kernzeit des
Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die F.D.P. und die PDS hatten damals ebenfalls An-
träge eingebracht. Diese Anträge enthielten wichtige Teil-
aspekte zum Rechtsradikalismus. Die CDU/CSU hat vor
einigen Tagen einen eigenen Antrag eingebracht. Positiv
ist, dass alle Fraktionen bereit sind, sich ernsthaft mit die-
sem Thema auseinander zu setzen. Es geht heute darum,
bei diesem Thema mehr das Verbindende als das Tren-
nende zu sehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS] und Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Rechtsextremismus ist mehr als nur dumpfe Auslän-
derfeindlichkeit. Er ist viel umfassender. Er zielt auf die
Würde des Menschen, auf Leben und körperliche Unver-
sehrtheit. Er zielt auf Artikel 1 unserer Verfassung und auf
die weiteren wichtigen Artikel. Jede Art von rechtsextre-
mer Gewalt ist zutiefst verabscheuungswürdig und muss
mit aller Konsequenz bekämpft werden. Aber auch die la-
tente Ablehnung von Minderheiten und Menschen ande-
rer Herkunft und anderen Aussehens stellt eine Gefahr für

friedliches Miteinander dar und bietet erst den Nährbo-
den, auf dem rechtsextremistische Gewalt gedeiht.

Dabei sind es oft die Signale, die von Politikern und
anderen Personen des öffentlichen Lebens ausgesandt
werden, die eine verheerende, aber auch eine stabilisie-
rende Wirkung auf gefährdete junge Menschen haben
können. Ich erinnere mich noch genau: Am so genannten
Herrentag 1994 hatten in Magdeburg betrunkene Radi-
kale Ausländer durch die Stadt gehetzt. Letztere mussten
damals um ihr Leben laufen. Der damalige Polizeipräsi-
dent hatte eine wohlfeile Erklärung zur Hand: zu viel
Sonne und zu viel Bier. Ich denke, das war eine Vernied-
lichung und eine Verharmlosung von verabscheuungs-
würdigen Taten, wie sie schlimmer nicht sein können. Der
Polizeipräsident war – Gott sei Dank – dann nicht mehr
sehr lange im Amt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Herr Koch hat in Hessen mit seiner Unterschriftenak-
tion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eines Wahl-
erfolgs wegen das Risiko in Kauf genommen, den
falschen Leuten die falschen Signale zu geben. Und Herr
Rüttgers hat in Nordrhein-Westfalen mit seiner unseligen
Kampagne „Kinder statt Inder“ nicht nur den Republika-
nern den Wahlslogan geliefert, sondern sie haben sich
ausdrücklich auch noch bei ihm bedankt; denn er hat ih-
nen das Thema geliefert. Das, denke ich, war verantwor-
tungslos. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen dieses
Hauses, auch den Kolleginnen und Kollegen der CDU,
dankbar, dass sie teilweise deutlich dagegengehalten und
sich von diesen Aktionen und Aktivitäten distanziert ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch gedankenlose Verwaltungsakte gehören dazu.
Ich denke an den Ägypter Salah al-Namr, der im bran-
denburgischen Elsterwerda eine florierende Pizzeria be-
trieb. Die wurde von Radikalen in Brand gesetzt, brannte
ab, und das brandenburgische Innenministerium unter
Leitung von Herrn Schönbohm hatte nichts Besseres zu
tun, als den nun erwerbslosen Ägypter auszuweisen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Skandal!)

Es sind die täglichen, oft gedankenlosen Signale, die

unsere Gesellschaft mit prägen. Ich weiß genau, wovon
ich rede, werde ich doch häufig im eigenen Umfeld bis hi-
nein in meine Familie damit konfrontiert. Es tut schon
weh, wenn mein Sohn nach Hause kommt und sagt:
„Papa, mich haben sie wegen meines ausländischen Aus-
sehens nicht in die Diskothek gelassen.“ Dann erfasst
mich eine kalte Wut auf die Politiker Koch und Rüttgers,
die mit ihren Aktionen genau dieser Richtung die Stich-
worte geben haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Eine einseitige Schuldzuweisung ist das!)





Annelie Buntenbach

11571


(C)



(D)



(A)



(B)


– Sie brauchen sich nicht aufzuregen; Sie sollten sich an
Herrn Rüttgers und Herrn Koch wenden, um diesen un-
sensiblen Umgang mit diesem Thema zu vermeiden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Es sind verheerende Signale, die wir unseren Jugendli-
chen geben, wenn wir sagen: Die mit den blonden Haaren
und den blauen Augen dürfen rein, die mit den dunklen
Augen und den schwarzen Haaren müssen draußen blei-
ben. Wir sollten uns auch davor hüten, einer Argumenta-
tion auf den Leim zu gehen, die da lautet: Es sind zu viele
Ausländer hier. Das klang heute einige Male an. Das för-
dert den Rechtsradikalismus.

Ich will ja die Integrationsprobleme und auch die Aus-
länderstraftaten gar nicht klein reden. Die sind vorhanden;
das weiß jeder von uns. Aber klar muss auch sein: Nicht
die Ausländer sind für den Rechtsradikalismus verant-
wortlich, sondern sie sind deren Opfer.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Außerdem stimmen diese Argumente auch nicht; denn
erstens ist der Rechtsradikalismus dort am größten, wo es
die wenigsten Ausländer gibt, und zweitens würde eine
solche Argumentation zudem den rechten Dummköpfen
eine Rechtfertigungsgrundlage bieten nach dem Motto:
Ihr seht es ja, alle sind sauer darüber, aber wir tun was. Ich
glaube, es wäre verheerend, wenn wir solche Signale aus-
senden würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen erreichen, dass Rechtsextremismus, Aus-
länderfeindlichkeit und Antisemitismus entschlossen ent-
gegengetreten wird durch mehr Zivilcourage in der Be-
völkerung, durch Schaffung von Rahmenbedingungen,
die das Aufkeimen rechtsextremistischer Gewalt verhin-
dern, und durch entschlossenes Handeln der Strafverfol-
gungsbehörden. Herr Bosbach hat völlig Recht, wenn er
sagt: Wir brauchen Repression und Prävention gleicher-
maßen. Viele junge Menschen können an einem Abglei-
ten in den Rechtsradikalismus gehindert werden bzw. sie
können zurückgeholt werden. Und da ist Vorbeugen im-
mer noch deutlich besser als Heilen. Im Übrigen ist es
auch eine Ecke billiger; das sollte man nicht vergessen.

Wir müssen den jungen Menschen Angebote machen,
aber wir müssen auch darauf bestehen, dass diese Ange-
bote angenommen werden. Wer trotz aller Bemühungen
und Angebote nicht hören will, der muss die Härte des Ge-
setzes spüren – ich sage das auch deutlich – bis hin zum
Polizeiknüppel.

Wir müssen uns um die Opfer kümmern. Das ist mehr-
fach angesprochen worden. Die Opfer sind die eigentli-
chen Leidtragenden. Wenn solche Straftaten passieren,
neigen wir ja gelegentlich dazu, sofort in der Vergangen-
heit der Täter zu forschen. Hatte der Junge eine schwere
Jugend? Was hatte er sonst für Gründe, rechtsradikal zu
werden? Was hatte er sonst für Gründe, Straftäter zu wer-
den? Ich sage: Wir müssen uns um Opfer und Täter glei-
chermaßen kümmern, aber im Zweifelsfall ist mir die Zu-

kunft der Opfer wichtiger als die Vergangenheit der Täter.
Ich denke, das sollte unsere Handlungsmaxime hier sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Gesetze reichen aus. Der Ruf nach Verschärfung
der Strafen ist überflüssig. Gerade jetzt haben wir erlebt,
dass die brutale Ermordung Alberto Adrianos vor dem
Oberlandesgericht in Naumburg gesühnt wurde. Die Tä-
ter sind fast zu Höchststrafen verurteilt worden. Der Straf-
rahmen reicht also aus. Er muss nur ausgeschöpft werden.
Das hat unsere Justiz lange Zeit nicht begriffen.


(Beifall der Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Zur Bekämpfung gewalttätiger Angriffe auf Men-
schen, Gedenkstätten und Synagogen ist auch ein deutli-
ches Zeichen der gesamten Gesellschaft geboten. Solchen
Gewalttaten müssen der vermeintlich und zum Teil leider
auch tatsächlich vorhandene Boden und die Unterstüt-
zung aus der Gesellschaft entzogen werden. Hier setzt un-
ser Bündnis für Demokratie und Toleranz auch an. Wir
brauchen Menschen, die vorangehen. Wir brauchen Men-
schen, die Zivilcourage zeigen. Wir brauchen Menschen
aus Politik und Sport, die mutig vorangehen und Flagge
zeigen. Wenn heute von hier aus das Signal ausgeht, dass
die öffentliche Ächtung von Extremismus jeder Art ein
Anliegen aller Politiker ist und dass alle Politiker sich auf-
gemacht haben, den Anfängen zu wehren, dann war das
heute Morgen eine gute Veranstaltung.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103700
Für die PDS-Frak-
tion spricht die Kollegin Angela Marquardt.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1412103800
Herr Präsident! Sehr ge-
ehrte Damen und Herren! Ich werde am 7. Oktober an ei-
ner antifaschistischen Demonstration, die hier in
Berlin stattfindet, teilnehmen. Sie richtet sich nicht nur
gegen die in Berlin-Köpenick ansässige NPD-Zentrale,
sondern auch gegen das in der Nachbarschaft liegende
Abschiebegefängnis Grünau. Wir werden dort vor allem
auf den Zusammenhang von neonazistischer Gewalt und
staatlicher Abschiebepolitik hinweisen und klarmachen,
dass es beim Thema Rechtsextremismus vor allem um
Rassismus geht und dass genau dieser nicht nur unter
Neonazis existiert, sondern überall in der Gesellschaft,
wie heute schon mehrfach betont wurde. Deswegen finde
ich es schlimm und möchte darauf hinweisen, dass es
natürlich auch rassistische Elemente in der zurzeit betrie-
benen Asylpolitik gibt.

Ich nehme an, dass nur wenige von Ihnen in diesem
Hause an dieser Demonstration teilnehmen werden, vor
allem auch deshalb, weil sie von der „Antifaschistischen
Aktion Berlin“ organisiert wird. Das ist nur eine von vie-
len kriminalisierten antifaschistischen Gruppierungen,




Hans-Peter Kemper
11572


(C)



(D)



(A)



(B)


die sich seit Jahren aktiv gegen neofaschistische Struktu-
ren in dieser Gesellschaft eingesetzt haben.


(Beifall bei der PDS)

Es ist eine gesellschaftliche Erfahrung, dass das Enga-

gement gegen Rechts inzwischen nicht nur Zivilcourage
hinsichtlich Rassismus und Nazis erfordert, sondern auch
hinsichtlich staatlicher Repression und staatlichem Ras-
sismus, die es in den Ausländerbehörden, auch in der Po-
lizei und sogar in den Sozialämtern gibt. Deswegen lässt
sich Rechtsextremismus eben nicht mit ein paar zentral
gesteuerten Plakataktionen bekämpfen. Dieser Kampf er-
fordert vielmehr eine langwierige Kleinarbeit vor Ort, so
wie sie Antifa-Gruppen über Jahrzehnte hinweg betrie-
ben haben.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben recherchiert, haben rechte Strukturen offen

gelegt, haben darüber gesprochen und haben vor allen
Dingen – das wurde hier schon angesprochen – Opfern
rechter Gewalt beigestanden. Sie haben lautstark protes-
tiert. Sie kämpfen bis heute für eine Gesellschaft, die Ras-
sismus und Diskriminierung von Minderheiten aus-
schließt. Nicht selten werden sie dafür als Chaoten
beschimpft. Das haben sie in meinen Augen nicht ver-
dient.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich müssen wir über Parteigrenzen hinweg ge-

gen Rechtsextremismus auftreten. Ich bin die Letzte, die
nicht bereit wäre, dies in diesem Haus auch gemeinsam zu
tun. Aber Sie werden verstehen, dass ich angesichts der
Realität und der hier gemachten Äußerungen zumindest
manches als halbherzig bezeichnen möchte, vor allem
dann, wenn ich mir vor Augen führe, wie darüber disku-
tiert wird; denn natürlich werden wir alle einer Meinung
sein, dass Ausländer hier in Frieden leben müssen und vor
Naziübergriffen geschützt sein müssen. Aber stehen wir
noch auf einer Seite, wenn es darum geht, die Angst von
Ausländerinnen und Ausländern vor Abschiebung zu
bekämpfen? Ist nicht manchem hier das eigene Hemd
näher als die Menschenwürde?

Wenn auch heute wieder das Problem Rechtsextremis-
mus zu einem Jugendproblem erklärt wird, dann kann ich
das wirklich nicht mehr verstehen; denn gerade rechte Ju-
gendliche, die auf Rassismus, autoritäres Denken und Mi-
litarismus setzen, wissen oft, dass sie diese Vorstellungen
mit vielen Erwachsenen, Erziehern und Sozialarbeitern
teilen. Das muss genauso thematisiert werden wie das
Problem des Rechtsextremismus unter Jugendlichen.


(Beifall bei der PDS)

Hierbei sind alle gefragt. Natürlich, Kollege Thierse, gilt
dies in ganz besonderer Weise für die PDS. Ich werde
mich gegen solche Tendenzen auch in meiner Partei im-
mer einsetzen.

Angesprochen sind darüber hinaus diejenigen, die das
Thema Rechtsextremismus erst interessant fanden, als es
zum Füller des Sommerlochs wurde. Angesichts der Tat-
sache, dass ich selbst schon häufiger bedroht wurde, an-
gesichts der Tatsache, dass in diesem Land Menschen tot-

geschlagen werden, halte ich es für eine Farce, dies mit
Castor-Transporten zu vergleichen. Dafür sollte man sich
wirklich schämen.

Sollte doch jemand zu dieser Demo gehen wollen: Sie
findet am 7. Oktober um 13 Uhr am S-Bahnhof Spind-
lersfeld in Berlin-Köpenick statt.


(Beifall bei der PDS – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Jetzt überlege ich mir es noch einmal! Schützen Sie mich dann, wenn ich komme? – Gegenruf der Abg. Angela Marquardt [PDS]: Ja, ich werde Sie schützen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412103900
Zum Abschluss die-
ser Debatte gebe ich nunmehr dem Bundesminister des
Innern, Otto Schily, das Wort.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1412104000
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Es stimmt mich zuver-
sichtlich, dass in der heutigen Debatte alle im Bundestag
vertretenen Parteien, wenn auch mit unterschiedlichen
Akzenten, eine offensive Auseinandersetzung mit Rechts-
extremismus und Gewalt angemahnt haben. Demokratie
darf nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschen in unse-
rer Mitte zu Tode gehetzt, wenn Ausländerunterkünfte in
Brand gesetzt, wenn jüdische Friedhöfe geschändet, wenn
Obdachlose erschlagen und wenn andere Gewalttaten ver-
übt werden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Demokratie muss sich aktiv zur Wehr setzen. Wir alle, zu-
allererst der demokratische Rechtsstaat, sind dafür ver-
antwortlich, dass das geschieht.

Rechtsextremismus und Gewalt lassen sich gewiss
nicht nur durch gutes Zureden und freundliche Ermah-
nungen überwinden. Der demokratische Staat muss auch
seine Stärke beweisen. Deshalb muss der Staat seine
Machtmittel entschlossen und mit der gebotenen Härte
einsetzen. Wir dulden keine rechtsfreien Räume, keine so
genannten national befreiten Zonen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das Gewaltmonopol des Staates gilt in Deutschland
überall und uneingeschränkt. Wir werden davon keinen
Millimeter abdrücken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


In der alltäglichen Arbeit – lassen Sie mich das an die-
ser Stelle sagen – ist die Durchsetzung des staatlichen Ge-
waltmonopols zuallererst die Aufgabe von Polizei und
Bundesgrenzschutz. Sie erfüllen diese Aufgabe oft unter
äußerst schwierigen und gefahrvollen Bedingungen. Ich
spreche allen Angehörigen der Polizeien der Länder und
des Bundesgrenzschutzes meinen ausdrücklichen Dank




Angela Marquardt

11573


(C)



(D)



(A)



(B)


für ihre Arbeit aus. Sie müssen wissen, dass wir sie ge-
meinsam unterstützen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])


Wir müssen uns auch darüber einig sein, dass wir dort,
wo es erforderlich und aussichtsreich ist, ohne Zögern von
Möglichkeiten des Vereinsverbots bis hin zum Parteien-
verbot Gebrauch machen. Es ist gut, dass das Verbot der
neonazistischen Organisation „Blood and Honour“ allge-
meine Zustimmung gefunden hat. Ich danke in diesem
Zusammenhang den Länderinnenministern für die enge
und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese wird sich
auch bei der Prüfung, ob ein Verbotsverfahren gegen die
NDP eingeleitet werden soll, bewähren.

Wir müssen auch prüfen, wie wir künftig provokante
Aufzüge der NPD und anderer neonazistischer Organisa-
tionen vor symbolträchtigen Orten und vor exponierten
Stellen wie dem künftigen Holocaust-Mahnmal und der
Neuen Wache unterbinden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das müssen wir sorgfältig prüfen. Ich befinde mich im
Gespräch darüber mit den Länderinnenministern.

Wir alle wissen, dass Verbote Rechtsextremismus und
Gewaltbereitschaft nicht über Nacht zum Verschwinden
bringen. Was sich an neonazistischem, antisemitischem
und rassistischem Unrat in den Köpfen eingenistet hat,
was an Gewaltbereitschaft und Brutalität die Herzen jun-
ger Menschen vergiftet, das lässt sich nicht einfach durch
Verbote beseitigen. Dazu bedarf es langfristiger und ziel-
genauer Strategien, für die wir präventive Konzepte ent-
wickeln müssen. Die Bundesregierung setzt in diesem
Sinne in den verschiedenen Ressorts auf umfassende Pro-
jekte und Programme. Sie stellt dafür erhebliche finanzi-
elle Mittel bereit, allen voran das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend und das Bundes-
ministerium für Arbeit und Sozialordnung. Zu nennen ist
auch das Projekt „Die soziale Stadt“ aus dem Bundesbau-
ministerium. Man sollte so etwas nicht unterschätzen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Auch das soziale Umfeld in der Stadt ist bedeutsam für
das Thema, das wir heute diskutieren.

Viele dieser Programme sollen den Prozess der Inte-
gration direkt oder indirekt fördern. Mit einer verbesser-
ten Integrationspolitik strebt die Bundesregierung den
Abbau von Diskriminierung und die Schaffung von Chan-
cengleichheit und gegenseitiger Toleranz an. Eine gelun-
gene Integration ist ein wesentliches Element, um
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit entgegen-
zuwirken.

Sicherlich – das will ich hier nicht verschweigen –
müssen diese Programme immer wieder auf ihre Zielge-
nauigkeit und Effizienz hin überprüft werden. Dabei
kommt es darauf an, dass wir uns ein genaues Bild über
die tatsächlichen Geschehnisse verschaffen. Wenn es Un-

genauigkeiten bei Statistiken gegeben haben sollte, wer-
den wir sie bereinigen. Ich warne allerdings davor, alles,
was in der Zeitung steht, schon von vornherein für allge-
mein gültig zu halten. Wir müssen genau hinsehen, ob all
das, was da geschrieben steht, stimmt. Ich habe dafür eine
Projektgruppe eingerichtet. Wir werden das in aller Ruhe
und Sorgfalt prüfen. Wir lassen ferner einen periodischen
Sicherheitsbericht erarbeiten, der über die Kriminalstatis-
tik hinaus ein genaueres Bild des tatsächlichen Gesche-
hens vermitteln wird. Dabei muss auch untersucht
werden – das haben heute viele gesagt –, wie Fremden-
feindlichkeit entsteht oder gefördert wird.

Meine Damen und Herren, an der Stelle muss ich etwas
einfügen. Hier ist kritisiert worden, dass ich in bestimm-
ten Politikfeldern – das wiederhole ich ausdrücklich –
eine tabufreie Diskussion anmahne. Das aber ist meine
Überzeugung. Wer die Argumente auf seiner Seite weiß,
braucht auch kein Tabu. Er kann seine Argumente offen
vortragen, und wenn er die besseren hat, wird er in der
Diskussion obsiegen. Es muss möglich sein zu sagen:

Das Zusammenleben mit Ausländern ist auch
schwierig und anstrengend. Wer das leugnet oder
nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr
Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft
unglaubwürdig. Es hilft nicht, vor Problemen die Au-
gen zu verschließen oder allein schon ihre Beschrei-
bung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich vermisse den Beifall der Grünen; das sind nämlich
Worte aus der Rede des Bundespräsidenten. Das, was der

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412104100
Es
hat keinen Zweck, die Augen vor Problemen zu ver-
schließen.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: So ist es!)

Dann nämlich überlassen wir die Diskussion den Ratten-
fängern auf der rechtsextremistischen Seite.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])


Wir müssen die Probleme offen diskutieren. Es hat keinen
Zweck, dabei die Pose der moralischen Überheblichkeit
einzunehmen. Die besseren Argumente sollen zählen.

Es ist übrigens durchaus zulässig und in einer freien
Demokratie auch angemessen, dass jemand den Stand-
punkt vertritt, die generelle Einführung der doppelten
Staatsbürgerschaft sei nicht wünschenswert. Das ist zuläs-
sig, das ist noch keine Förderung von Rassismus oder
Fremdenfeindlichkeit. Mein Freund Professor Dan Diner
hat diese Auffassung – ich teile sie nicht, wie Sie wissen –
in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit guten
Gründen vertreten. Wer diesen Mann mit seinem Famili-
enhintergrund des Rassismus zeihen will, der unterliegt
dabei einem schwerwiegenden Irrtum.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)





Bundesminister Otto Schily
11574


(C)



(D)



(A)



(B)


Deshalb lassen wir uns nicht auf eine solch verkürzte
Sprechweise ein. Jeder soll seine Worte wägen. Gerade
diejenigen, die meinen, die Sorgfalt der Wortwahl an-
mahnen zu müssen, sollten einmal überprüfen, ob sie sel-
ber ihren Mahnungen eigentlich immer entsprechen.

Ich will an der Stelle noch etwas sagen: Innenminister
Beckstein, der Kollege aus Bayern, hat sehr profilierte
Auffassungen, die sicherlich in vielen Dingen meinen ei-
genen Auffassungen konträr widersprechen.


(Beifall des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich werde ihn aber immer in Schutz nehmen, wenn auch
nur der leiseste Versuch gemacht wird, ihn in die Nähe
von Rassisten zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Er ist ein bekennender Christ, er ist aktiver Synodaler. Ge-
gen den Vorwurf des Rassismus werde ich ihn immer in
Schutz nehmen.

Meine Damen und Herren, in meinem Verantwor-
tungsbereich bildet die Bekämpfung von Rechtsextremis-
mus und Gewalt einen deutlichen Schwerpunkt. Unter an-
derem beweist das der in diesem Jahr vorgelegte
Verfassungsschutzbericht. Auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungs-
schutz, insbesondere dem früheren Präsidenten Dr. Frisch
und dem neuen Präsidenten Dr. Fromm, gebühren Dank
und Anerkennung für ihre Leistungen. Wenn wir dieses
Amt nicht hätten, müssten wir es einrichten. Wir brauchen
es gerade dafür, um die Erkenntnisse über verfassungs-
feindliche Aktivitäten an die Öffentlichkeit zu bringen. Im
jüngsten Verfassungsschutzbericht befindet sich ein Ka-
pitel mit der Überschrift „Verfassungsschutz durch Auf-
klärung“. Das ist gewissermaßen Programm. Deshalb
verdient das Bundesamt für Verfassungsschutz in diesem
Hause Unterstützung. Ich hoffe, ihm wird auch künftig
diese Unterstützung gewährt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben ferner die Arbeitsschwerpunkte in der Bun-
deszentrale für politische Bildung umfassend reformiert
und sie auf eine verstärkte Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus und Gewalt ausgerichtet. Der
Bundesgrenzschutz beteiligt sich ebenfalls aktiv am
Kampf gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Unter an-
derem hat er eine Hotline eingerichtet, die wir durch eine
bundesweite Plakataktion noch weiter bekannt machen
werden. Wir sollten das, was der Bundesgrenzschutz in
diesem Zusammenhang aktiv gegen rechtsextremistische
Schläger auf Bahngeländen oder in den Verkehrsmitteln
tut, nicht gegen andere Aufgabenbereiche, die ebenso
wichtig sind, ausspielen. Wenn der Bundesgrenzschutz
bei lagebildabhängigen Kontrollen dafür sorgt, dass
Schleuserkriminalität und organisierte Kriminalität
bekämpft werden, ist das ebenso notwendig. Das darf man
hier nicht irgendwie als Alternative darstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir starten das Projekt „Sport gegen Gewalt“. Ich
stimme allen zu, die gesagt haben, gerade die Vereins-
tätigkeit und sportliche Aktivitäten sind ein wichtiges
Mittel gegen Gewalt. Wir beobachten übrigens, dass ge-
rade die sportbetonten Schulen stärkere Abwehrkräfte ge-
genüber Gewalt bei den Jugendlichen entfalten, als es bei
anderen der Fall ist. Deshalb müssen wir die Länder er-
mahnen, den Sportunterricht bitte nicht zu vernachlässi-
gen oder etwa einzuschränken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])


Auch Sport ist ein wichtiges Mittel, um Jugendliche von
solchen Fehlentwicklungen abzuhalten.

Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die
Verbreitung neonazistischer, rassistischer, ausländer-
feindlicher und antisemitischer Propaganda über das In-
ternet zu unterbinden, und zwar national und in-
ternational.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Wir haben das „Bündnis für Demokratie und Tole-
ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ gegründet. An-
fangs hat es einige Stimmen gegeben, die meinten, das sei
ein ziemlich ohnmächtiges Unterfangen. Die Erfahrung
belehrt uns eines Besseren. Ich lade alle ein, sich an die-
sem Bündnis zu beteiligen. Das Bündnis erfährt in der
Zwischenzeit große Anerkennung und großen Zuspruch
aus allen Teilen der Gesellschaft. Es bilden sich lokale
und regionale Bündnisse. Es wird angefragt, wie man mit-
arbeiten kann. Ein Beispiel möchte ich erwähnen, das
ich in jüngster Zeit bekannt machen durfte: die Stiftung
eines hoch dotierten Jugendwettbewerbes, des Victor-
Klemperer-Preises, in Zusammenarbeit zwischen Dresd-
ner Bank, dem Aufbau-Verlag und dem Bundesin-
nenministerium. Das ist ein gutes Beispiel für eine
Initiative im Sinne des Bündnisses für Demokratie und
Toleranz.

Es gibt viele andere positive Beispiele. Viele Men-
schen, Organisationen und Institutionen engagieren sich:
Wirtschaft und Gewerkschaften, der Bundesverband der
Deutschen Industrie ebenso wie die Gewerkschaft ÖTV,
die Kirchen, die Religionsgemeinschaften und zahlreiche
humanitäre Organisationen, private Stiftungen. Lokale
und regionale Bündnisse gegen Rechtsextremismus und
Gewalt haben sich gebildet. Auch die jetzt von Uwe-
Karsten Heye und Paul Spiegel in Gang gebrachte Initia-
tive „Gesicht zeigen“ gehört in diesen Bereich. Diese und
alle anderen Initiativen sind ein ermutigendes Zeichen,
dass die Gesellschaft in Bewegung ist, nicht in Gleich-
gültigkeit verharrt, sondern, wie ich eingangs sagte, sich
offensiv mit Rechtsextremismus und Gewalt auseinander
setzt und für Demokratie und Toleranz einsetzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe
mich darüber gefreut, dass heute in vielen Reden Art. 1
des Grundgesetzes angesprochen worden ist. Es ist wahr:




Bundesminister Otto Schily

11575


(C)



(D)



(A)



(B)


Zentraler Orientierungspunkt für alle unsere gemeinsa-
men Bemühungen und Anstrengungen sollte Art. 1 des
Grundgesetzes sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Uns allen ist der Schutz der Würde des Menschen an-
vertraut. Die Würde des Menschen ist mehr als eine pla-
kative Formel; auch darüber darf man nachdenken. Sie
verweist auf ein Menschenbild, sie verweist auf die geis-
tig-seelische Konstitution des Menschen vor dem Ange-
sicht einer höheren Ordnung, wie immer man sie sich in
der jeweiligen Anschauung vorstellt. Das Wissen um die
geistig-seelische Konstitution des Menschen, die über un-
ser eigenes Leben hinausweist, bildet die Grundlage un-
seres Gewissens und damit zugleich für das friedliche und
gedeihliche Zusammenleben der Menschen. Diese, wie
ich finde, insgesamt eindrucksvolle Debatte heute wird
hoffentlich dazu beitragen, dass Gewissen und Gesell-
schaft sich festigen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412104200
Damit schließe ich
die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4067 und 14/4145
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4145 soll zu-
sätzlich an den Haushaltsausschuss, nicht jedoch an den
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d und
23 f bis 23 l sowie die Zusatzpunkte 2 a und b auf:

23.a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung einerDienstleistungsstatistik und zur
Änderung statistischer Rechtsvorschriften
– Drucksache 14/4049 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch

(Erstes SGB IVÄnderungsgesetz – 1. SGB IV – ÄndG)

– Drucksache 14/4053 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Gesundheit

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Opferentschädigungsgesetzes und
anderer Gesetze

– Drucksache 14/4054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungsurkunden vom 6. November 1998 zur
Konstitution und zurKonvention der Interna-
tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember
1992
– Drucksache 14/3952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Strafprozessordnung (§§ 57 ff. StPO) und an-
derer Gesetze
– Drucksache 14/3205 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im

(§ 76 Abs. 2, § 122 Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG)

– Drucksache 14/3831 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

h) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be-
griffs „Erziehungsurlaub“
– Drucksache 14/4133 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht
Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Kinderhandel in Afrika verhindern
– Drucksache 14/2705 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Gerhard Jüttemann, Dr. Christa Luft,
Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion der PDS
Fertigung des Airbus A3XX struktur- und
umweltpolitisch sinnvoll organisieren




Bundesminister Otto Schily
11576


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksache 14/3677 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

k) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Neue nukleare Abrüstungsinitiativen statt
neuer Raketenabwehrprojekte
– Drucksache 14/3875 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und der
Fraktion der PDS
Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums
für Informationstechnik und der Fraunhofer-
Gesellschaft (FhG) zulasten der IuK-Grund-
lagenforschung
– Drucksache 14/4037 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
– Drucksache 14/3822 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Uwe
Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Bürgerbahn statt Börsenbahn
– Drucksache 14/3784 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4054 soll zu-
sätzlich an den Rechtsausschuss und an den Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen wer-
den. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 24 a bis
24 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vor-
lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März
1998 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der Repu-
blik Südafrika über die Seeschifffahrt
– Drucksache 14/3091 –

(Erste Beratung 99. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/3846 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Michael Goldmann

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
auf Drucksache 14/3091. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksa-
che 14/3846, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 24 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundes-
rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Personenbeförderungsgesetzes

(PBefG)

– Drucksache 14/2995 –

(Erste Beratung 105. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/3843 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Günter Bruckmann

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes auf
Drucksachen 14/2995 und 14/3843. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Paul Laufs, Dr. Christian Ruck, Dr. Klaus
W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU




Vizepräsident Rudolf Seiters

11577


(C)



(D)



(A)



(B)


Reaktor-Sicherheitskommission mit unabhän-
gigen, fachlich hoch qualifizierten Experten be-
setzen
– Drucksachen 14/1010, 14/2112 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Axel Berg
Dr. Paul Laufs
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/1010 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD-
Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 187 zu Petitionen
– Drucksache 14/4078 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 188 zu Petitionen
– Drucksache 14/4079 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 189 zu Petitionen
– Drucksache 14/4080 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 189 ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 190 zu Petitionen
– Drucksache 14/4081 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 190 ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 191 zu Petitionen
– Drucksache 14/4082 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 192 zu Petitionen
– Drucksache 14/4083 –

Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 192 ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Beschlussfassung Ausschuss)

Sammelübersicht 193 zu Petitionen
– Drucksache 14/4084 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Christel
Humme, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni Brandt-
Elsweier, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Marieluise
Beck (Bremen), Ekin Deligöz, Kristin Heyne,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Initiativen zur Frauenbeschäftigung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss,
Maritta Böttcher, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Erwerbsleben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Rönsch (Wiesbaden),
Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit in
Deutschland

– zu der Unterrichtung durch das Europäische Par-
lament

Entschließung des Europäischen Parlaments zu
den besonderen Auswirkungen der Frauenar-
beitslosigkeit




Vizepräsident Rudolf Seiters
11578


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksachen 14/1195, 14/1529, 14/1549,
14/155 (neu) Nr. 1.1, 14/2746 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Irmingard Schewe-Gerigk
Dorothea Störr-Ritter
Ina Lenke
Monika Balt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Zeit von anderthalb Stunden vorgesehen.
– Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damit
einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der Par-
lamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Edith Niehuis,
das Wort.

D
Dr. Edith Niehuis (SPD):
Rede ID: ID1412104300

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir de-
battieren heute über einige Anträge zur Frauenbeschäfti-
gung. Frauenbeschäftigung ist natürlich Teil der gesamten
Beschäftigungslage. Das heißt: Wer Arbeitslosigkeit er-
folgreich bekämpft, wie wir es tun, hat eine erfolgreiche
Gleichstellungspolitik gemacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Anders herum: Eine katastrophale Lage auf dem Arbeits-
markt, wie wir sie aus der letzten Legislaturperiode mit
4,5 Millionen Arbeitslosen kennen, gefährdet auch die
Gleichstellung von Frauen und Männern erheblich. Wir
hatten uns doch schon daran gewöhnt, immer wieder fest-
zustellen: Frauen sind die Ersten, die entlassen, und die
Letzten, die wieder eingestellt werden. Darum ist es so
wichtig, dass wir eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt
eingeläutet haben.


(Beifall bei der SPD)

Diese Trendwende bezieht sich auch auf den Unter-

schied zwischen den Arbeitslosenquoten von Frauen und
Männern, insbesondere was den Osten anbetrifft. War die
Arbeitslosenquote der Frauen im Osten im August 1998
noch um 5 Prozentpunkte höher als die der Männer, wa-
ren es im August 2000 bei insgesamt niedrigerem Niveau
nur noch 3 Prozentpunkte. Das sagt mir: Wir haben zwar
noch viel zu tun, aber wir sind mit unserer Beschäfti-
gungspolitik auf dem richtigen Weg.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Zahl der Arbeitslosen ist im Osten gestiegen!)


– Nein, sie ist nicht gestiegen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Arbeits losenquote ist gestiegen!)

– Der Unterschied zwischen den Arbeitslosenquoten von
Frauen und Männern betrug 5 Prozentpunkte. Innerhalb
von zwei Jahren ist dieser Unterschied auf 3 Prozent-
punkte gesunken. Das verdeutlicht die Richtigkeit unse-
res Ansatzes.

Wir können erkennen, dass in der Beschäftigungspoli-
tik in der Tat ein Wechsel stattgefunden hat. Erinnern wir
uns: Wie war das denn auf dem EU-Beschäftigungsgipfel
1997 in Luxemburg, auf dem die damalige Bundesre-
gierung unter Kanzler Kohl als Bremser in Sachen euro-
päischer Beschäftigungspolitik auftrat, weil sie im euro-
päischen Vergleich nur wenig vorzuweisen hatte? Diese
Situation hat sich erheblich verändert. Heute versteht sich
die Bundesregierung mit ihren nationalen Aktionsplänen,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist nun wirklich Quatsch!)


in denen die Verwirklichung der Chancengleichheit von
Mann und Frau eine selbstverständliche und wesentli-
che Querschnittsaufgabe ist, als aktiver Teil europäischer
Beschäftigungspolitik mit ihren beschäftigungspoliti-
schen Zeitlinien.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist doch Blödsinn!)

Rat und Kommission werden demnächst den gemein-

samen Beschäftigungsbericht vorlegen. In diesem Bericht
werden einige Maßnahmen dieser Bundesregierung posi-
tiv hervorgehoben werden.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Sie leidet unter Wahrnehmungsstörungen!)


Dazu gehören das Programm „Frau und Beruf“

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist denn Ihre Frau Ministerin?)

und die dadurch eingeleiteten gesetzgeberischen Maß-
nahmen sowie andere politische Initiativen. Auch dieses
Programm zeigt, dass wir, was die Beschäftigungspolitik
anbetrifft, ein anderes Verständnis haben als unsere Vor-
gängerregierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der F.D.P.: Ja, das haben Sie! Das ist wahr! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darauf legen wir auch Wert!)


Sehen wir uns doch den Antrag der CDU/CSU an, der
heute debattiert wird! Sie haben in diesem Antrag Forde-
rungen gestellt, die wir befürworten. Wenn ich dann aber
in den Bericht über die Ausschussberatungen schaue,
dann stelle ich fest, dass Sie von gesetzlichen Maßnahmen
absehen wollen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Es gibt doch noch andere Alternativen!)


Meine Damen und Herren, was ist das für eine Politik, Ap-
pelle und Ziele zu formulieren, dann aber darauf zu ver-
zichten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ina Lenke [F.D.P.]: Nein, nur keine Gesetzesmaßnahmen!)


Das ist doch die Form von Politik, die Sie gemacht haben,
als Sie die Bundesregierung gestellt haben. Für diese Art
von Politik ist dann das Wort „Reformstau“ geprägt wor-
den.




Vizepräsident Rudolf Seiters

11579


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass Teilzeitarbeit
gefördert werden muss. Aber dazu bedarf es gesetzlicher
Maßnahmen. Das ist der Grund, warum wir das Erzie-
hungsurlaubsgesetz – demnächst wird es Elternzeitgesetz
heißen – verändert haben. Wir werden den jungen Vätern
und Müttern vom 1. Januar 2001 an die Gelegenheit ge-
ben, dass sie mehr wählen können, wenn sie die Verein-
barkeit von Beruf und Familie anstreben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vater und Mutter können demnächst gleichzeitig Teilzeit-
arbeit als Elternzeit anmelden und haben dann einen An-
spruch, nach der Erziehungszeit auf ihren Vollzeitarbeits-
platz zurückzukehren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das sind echte Reformen!)


Das ist doch etwas, was wir brauchen. Die Menschen
müssen auf Gesetze zurückgreifen können, damit sie ei-
nen Anspruch haben, ihre individuellen Bedürfnisse um-
setzen zu können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir Teilzeitarbeit zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie fördern, dann müssen wir auch das Ende mit-
bedenken. Das Ende ist in diesem Fall die Rente. Darum
wird im Moment ein, wie ich finde, hervorragendes Paket
aus guter Beschäftigungspolitik, guter Familienpolitik
und guter Rentenpolitik geschnürt.


(Zuruf von der F.D.P.: Na ja!)

Sie wissen, dass demnächst die Rentenreform ansteht.
Danach werden gerade diejenigen, die aufgrund von
Kindererziehung in den ersten zehn Lebensjahren ihres
Kindes ihre Arbeit auf Teilzeit reduziert haben, höhere
Rentenanwartschaften bekommen. Insofern wird die dis-
kontinuierliche Erwerbsbiografie, die Frauen sehr häufig
aufwiesen und die für die Rente sehr schädlich war, ir-
gendwann endlich der Vergangenheit angehören.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, Gleichstel-
lungspolitik und Beschäftigungspolitik mit der Vereinbar-
keit von Beruf und Familie gleichzusetzen. Das ist auch
eine originär frauenpolitische Aufgabe. Ich glaube, wir
haben in unserem Industrieland Bundesrepublik Deutsch-
land noch Erhebliches zu tun, um diskriminierende
Rahmenbedingungen abzuschaffen. Wie ist es sonst zu
erklären, dass Deutschland hinsichtlich der Zahl von
Frauen in Führungspositionen mit 11 Prozent im europä-
ischen Vergleich weit hinten liegt? Wie ist zu erklären,
dass in den USA der Frauenanteil im Management bei
46 Prozent, in Kanada bei 42 Prozent, bei uns aber bei um
11 Prozent liegt? Und das ist so, obwohl Frauen in
Deutschland hervorragende Bildungsabschlüsse haben.
Hier ist die Wirtschaft in Deutschland gefordert, ernst-
hafte Schritte zur Verbesserung der Situation von Frauen
im Erwerbsleben zu unternehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit unserem Programm „Frau und Beruf“ wollen wir
die Zeit beenden, in der nur fruchtlose Appelle erfolgten.
Wir sind vielmehr für ein effektives Gleichstellungsgesetz
auch für die Privatwirtschaft.


(Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das wollen wir um der Frauen willen, aber gerade auch
um des Wirtschaftsstandortes Deutschland willen. Es
wird höchste Zeit, dass die Politik nicht weiter tatenlos
zusieht, wie Verkrustungen aufgrund geschlechtsspezifi-
scher Vorurteile und der Verhaltensstarre der Verantwort-
lichen in der Wirtschaft sowohl auf Unternehmer- wie
auch auf Gewerkschaftsseite dazu führen, dass vorhan-
dene Qualifikationen, nämlich die der Frauen, für den
Wirtschaftsprozess nicht angemessen abgerufen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir haben in den letzten Monaten hochrangige Ge-
spräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft
und der Wissenschaft geführt. Wir waren alle der Mei-
nung, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Gleich-
stellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft
vorangetrieben werden muss. Die Tarifvertragsparteien,
die Betriebsparteien erwarten von uns als Bundes-
regierung, dass wir ihnen angesichts der guten Beispiele,
die es in vielen Unternehmen durchaus gibt, die Chance
eröffnen, Maßnahmen zur Gleichstellung in ihren Firmen
autonom umzusetzen. Ich finde, das ist in Ordnung.

Ich sage aber genauso deutlich: Wir werden ein Gesetz
vorlegen, das die Wirtschaft verpflichtet, die Gleichstel-
lung von Frauen und Männern in den Betrieben aktiv um-
zusetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Gesetz wird den Verantwortlichen in der Branche,
den Verantwortlichen in den Unternehmen zunächst eine
Frist einräumen, in der sie Maßnahmen zur Umsetzung
der Gleichstellung von Frauen und Männern gemäß vor-
gegebenen Mindeststandards autonom umsetzen können.
Für denjenigen aber, der diese im Gesetz vorgegebene Frist
verstreichen lässt, werden per Gesetz gleichstellungspo-
litische Instrumentarien vorgeschrieben.

Sicher lohnt es sich dabei, über den nationalen Teller-
rand hinauszuschauen. Von den wirtschaftlich erfolgrei-
chen USA können wir lernen, was die Berücksichtigung
von frauenfördernden Maßnahmen bei der Vergabe öf-
fentlicher Aufträge bewirkt. Von der Schweiz können wir
sehr gut lernen, was in diesem Zusammenhang mit dem
Verbandsklagerecht möglich ist; denn in der Schweiz,
einem ebenfalls erfolgreichen Land, hat das Verbandskla-
gerecht zum Erfolg geführt.

Ein bedrückendes Kapitel hinsichtlich der Frauenbe-
schäftigung sind die nach wie vor bestehenden erhebli-
chen Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen.
Dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle zulasten der
Frauen muss beseitigt werden. Das ist der Grund dafür,
dass wir einen umfassenden Lohn- und Einkommensbe-




Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
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richt erstellen lassen, dessen Ergebnisse Ende 2001 vor-
liegen werden.

Nun ist es leider nicht Sache der Bundesregierung, Ta-
rifverhandlungen zu führen; das machen andere. Ich er-
warte aber, dass sich dann, wenn der Bericht vorliegt und
Handlungsbedarf aufgezeigt worden ist, die Tarifver-
tragsparteien aufgefordert fühlen, endlich zu handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen auch bezüglich des Berufsspektrums von
Frauen mehr tun. Leider wählen die jungen Frauen immer
noch Berufe in einem viel zu kleinen Bereich für sich aus.
Darum gibt es neben den von mir genannten gesetzge-
berischen Maßnahmen eine Reihe von Initiativen, die hier
Abhilfe schaffen sollen. Eine Maßnahme ist die D-21-
Initiative, in der wir mit der Wirtschaft zusammen daran
arbeiten, dass der Frauenanteil auch in den IT-Ausbil-
dungsberufen steigt.

Wir müssen mehr tun, um die Lücke bei den Existenz-
gründungen durch Frauen zu schließen. Oft mangelt es
Frauen, die in der Regel kleine Existenzen gründen wol-
len, am unbürokratischen Zugang zu Gründungsdarlehen.
Das war der Grund dafür, dass wir im Mai 1999 das Kre-
ditprogramm Startgeld aufgelegt haben. Dieses Kredit-
programm ist auf kleinere Existenzgründungen ausge-
richtet, was dem Gründungsverhalten von Frauen sehr
entgegenkommt.

Die Bilanz des Startgeld-Kreditprogramms, das genau
auf weibliche Existenzgründungen zugeschnitten wurde,
sieht so aus, dass 37 Prozent derjenigen, die Kredite über
das Startgeld in Anspruch nehmen, Frauen sind. Das sind
10 Prozent mehr als der Anteil selbstständiger Frauen in
dieser Republik derzeit ausmacht. Die Zahl der Frauen,
die in diesem Land demnächst einen Betrieb leiten wer-
den, wird also steigen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an eine
französische Studie aus dem Jahr 1996, in der 22 000 Un-
ternehmen untersucht wurden. Das Ergebnis: Die von
Frauen geleiteten Unternehmen erwirtschaften über-
durchschnittliche Erträge und sind doppelt so rentabel wie
die Betriebe, die von Männern geleitet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es lohnt sich also, in Frauenbeschäftigung zu investie-
ren und diese zu fördern. Vieles von dem, was in den heute
vorliegenden Anträgen steht, ist Inhalt der Politik der
Bundesregierung. Wir werden in diesem Sinne auch wei-
termachen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412104400
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht nunmehr die Kollegin Dorothea Störr-
Ritter.


Dorothea Störr-Ritter (CDU):
Rede ID: ID1412104500
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn das Eu-
ropäische Parlament feststellt, dass die Arbeitslosigkeit
der Frauen in der Mehrheit der Mitgliedstaaten höher ist
als die der Männer, dann meine ich, hat das damit zu tun,
dass wir zum einen zu wenig Arbeitsplätze haben und dass
zum anderen die Chancen von Frauen, am Erwerbsleben
teilzunehmen, wesentlich geringer sind. Natürlich reizt es
mich, Ausführungen zur Wirtschaftspolitik zu machen,
die für die Arbeitsplätze ja verantwortlich ist; ich möchte
mich hier aber auf die Frage der Chancengleichheit der
Frauen konzentrieren.

Es ist sicher sinnvoll, die Frage zu stellen, wie die
Frauen selbst ihre Chancengleichheit sehen. Die Befra-
gung von 1 113 Frauen und 1 000 Männern durch das In-
stitut für Demoskopie in Allensbach im Auftrag der
Bundesregierung, die durch die Frau Ministerin hier lei-
der nicht mehr vertreten ist, brachte Folgendes zutage:
Die Frauen in Deutschland sind mit ihrer Gleichberechti-
gung so zufrieden wie vor 25 Jahren. Daraus können wir,
so denke ich, natürlich nicht den Schluss ziehen, dass die
Frauen damals zufrieden waren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die Studie ergab aber auch, dass Männer viele Themen
deutlich anders beurteilen als Frauen: 45 Prozent der
Männer und nur 16 Prozent der Frauen denken, die
Gleichberechtigung sei weitgehend verwirklicht. Aller-
dings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass 20 Prozent
der Befragten auf die ihnen gestellten Fragen keine Ant-
wort geben wollten oder konnten. Auch das sollte uns zu
denken geben.

Im Ergebnis zeigten die Antworten, dass die Frage
nach Erziehungsurlaub für Männer bei den Frauen keine
große Rolle spielt. Auch die Einrichtung von Teilzeitar-
beitsplätzen hat für sie nicht das Gewicht, wie wir manch-
mal vielleicht meinen. Erziehungsgeld und Erziehungsur-
laub oder – besser gesagt – Erziehungszeit sind zwar
Maßnahmen, um etwas in den Griff zu bekommen, kön-
nen aber die Ursachen nicht beseitigen. So wird das von
Frauen gesehen.

Ganz oben auf der Wunschliste der Frauen steht, be-
ruflich weiterzukommen, Karriere zu machen und so viel
zu verdienen wie männliche Kollegen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat die CDU bisher verhindert!)


Ebenso wichtig ist eine gute Altersversorgung trotz mehr-
jähriger Babypause.

Neun von zehn Frauen sehen laut dieser Studie die
Herstellung von Chancengleichheit im Beruf und die da-
mit verbundene finanzielle Unabhängigkeit als Aufgabe
der Politik für Frauen. Deshalb müssen wir uns natürlich
fragen: Wie ist es möglich, für Frauen eine Chancen-
gleichheit am Arbeitsmarkt zu erreichen? Wenn man den
Vorstellungen der Familienministerin folgt – die Staatsse-
kretärin hat das eben angesprochen –, dann soll dies durch
Zwang geschehen. Hier unterscheiden wir uns, wie ich




Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis

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meine, sehr deutlich im Ansatz. Im Folgenden möchte ich
darauf eingehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil man die Unternehmen offensichtlich für beson-

ders naiv hält, spricht man nicht von Zwang, sondern ver-
wendet – da lässt der Kindergarten grüßen – einen
pädagogischen Trick: In der ersten Stufe sollen die Unter-
nehmen selbst ihren Weg zur Chancengleichheit definie-
ren, Vorhaben umsetzen und Vereinbarungen treffen. Die
Mindeststandards werden natürlich vorgegeben, wie
zum Beispiel Erhöhung des Frauenanteils, Lohngleich-
heit und Maßnahmen gegen sexuelle Diskriminierung.
Den Unternehmen wird eine weitestgehende Gestaltungs-
freiheit vorgegaukelt.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Pädagogik hat noch niemandem geschadet!)


Sofern sich die Unternehmen diesem Auftrag verwei-
gern, kommen gesetzliche Regelungen zum Zuge,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


die nach einer gewissen Frist von zwei bis drei Jahren
übernommen werden müssen; das wurde uns schon be-
stätigt. Andernfalls – man höre – drohen den Unterneh-
men Sanktionen. Im Übrigen sollen Betriebe ohne erfüllte
Mindeststandards zur Chancengleichheit künftig von öf-
fentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Mit diesen
Vorstellungen soll die Wirtschaft einmal mehr Daumen-
schrauben erhalten, die Bürokratie soll aufgebaut werden.


(Christel Hanewinckel [SPD]: Ich habe noch nie Daumenschrauben gesehen!)


Diese Maßnahmen sollen auferlegt werden, obwohl die
Ministerin als Ergebnis ihrer Dialogforen, die durchge-
führt wurden, selbst einräumt, dass sich bereits viele Be-
triebe Chancengleichheit und Frauenförderung auf ihre
Fahnen geschrieben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Auswertungen haben ergeben, dass beispielsweise
Daimler-Chrysler den Frauenanteil bei Führungsnach-
wuchs seit 1995 um 50 Prozent gesteigert hat. Die Luft-
hansa hat ihren Frauenanteil im Management in acht Jah-
ren auf 10 Prozent vervierfacht. Bei der Deutschen Post
sind 48 Prozent der Beschäftigten Frauen.

Wir können sagen: Dieses Glas ist halb voll. Wir kön-
nen aber auch sagen: Dieses Glas ist halb leer. Sie gehen
nur davon aus, dass es halb leer sei. Ich denke, wir sollten
auch einmal den halb vollen Teil betrachten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei der Commerzbank liegt der Anteil der Mitarbei-

terinnen bei 50 Prozent. 20 Prozent der Frauen arbeiten im
außertarifvertraglichen Bereich. Der Anteil der Frauen im
Tarifbereich mit Handlungsvollmacht – auch das ist
etwas – hat sich von 18 Prozent im Jahre 1980 auf knapp
55 Prozent im Jahr 2000 gesteigert.

Aber das Fazit des Familienministeriums: Die Ergeb-
nisse sind teilweise mühsam und langwierig und es be-
steht die Gefahr – man höre! – dass sie vom Erfolg des
Unternehmens am Markt abhängig gemacht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungs-
koalition, ich frage Sie: Was glauben Sie, wie viele Frau-
enarbeitsplätze ein Unternehmen bieten kann, das, weil es
am Markt nicht erfolgreich sein kann, von der Bildfläche
verschwunden ist?

Wenn sich nach 20 Jahren Förderungspraktiken in der
Wirtschaft bundesweit nur knapp 100 Unternehmen nach-
weislich um Prädikate für Chancengleichheit bemühen,
dann – so folgert das Familienministerium – kann ange-
sichts der anderen zwei Millionen Betriebe nicht länger
auf Freiwilligkeit gesetzt werden. Diese Schlussfolge-
rung, meine ich, ist sehr abenteuerlich. Weil nur 100 Un-
ternehmen Geld und Zeit für eine Auszeichnung investie-
ren können, sind die restlichen 2,5 Millionen
Unternehmen familien- und frauenfeindlich?

Diese Anmaßung muss den vielen Selbstständigen im
Mittelstand, die seit Jahren in ihren Betrieben Frauen und
Mütter fördern und unterstützen, die Sprache verschla-
gen. Solche Äußerungen zeugen von Nichtwissen, von
Ignoranz und von einer Einstellung, die Unternehmerin-
nen und Unternehmer immer noch als ausschließlich
geldgierige Kapitalisten sieht. Der Sozialismus lässt
grüßen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alte Hüte!)


In der Bundesrepublik arbeiten mehr als die Hälfte
aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in meist
inhabergeführten Betrieben mit ungefähr 100 Mitarbei-
tern. Diese Betriebe mit weiteren Belastungen und staat-
lichen Eingriffen zu überziehen hieße, dem Mittelstand
eine weitere Zwangsmaßnahme aufzubürden. Kleine und
mittlere Betriebe bis zu zehn Mitarbeitern bezahlen be-
reits jetzt im Jahr bis zu 60 000 DM für vom Staat aufge-
zwungene Verwaltungsaufgaben. Mittelständische Be-
triebe sind bereits heute in erster Linie Buchhalter des
Staates, Statistiker und Belegsammler, die einen Großteil
ihrer Zeit damit verbringen müssen, die Bürokratie des
Staates zu befriedigen.

Ein Gesetzeschaos, ein durch Ökosteuer und Steuerre-
form, durch Rot-Grün nochmals aufgeblähtes Steuer-
chaos, ein nicht geregeltes Sozialchaos sowie ein Ver-
ordnungschaos nehmen den Betrieben jegliche
Handlungsfreiheit. Diese Betriebe nun auch noch mit
Zwangsmaßnahmen zur Frauenförderung zu überziehen
hieße, diejenigen noch mehr einzuschränken, die noch
immer gewillt sind, an Aufbau und Umsetzung einer Kul-
tur der Selbstständigkeit in unserem Land mitzuwirken.

Kleine und mittlere Unternehmen haben entscheidende
Vorteile, flexible Lösungen hinsichtlich der Gleichstel-
lung von Mann und Frau umzusetzen. Sie haben per se
flache Hierarchien, besitzen überschaubare Ablaufstruk-
turen und verfügen über kurze, formelle Kommunikati-
ons- und Entscheidungswege. Im Übrigen haben in
der Mehrzahl dieser Betriebe mitarbeitende Ehefrauen




Dorothea Störr-Ritter
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entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des
Personals. Ich weiß, dass diese Ehefrauen aus ihrer eige-
nen Erfahrung sehr gewillt sind, Frauen in ihren Betrieben
unterzubringen und zu stärken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bereits jedes vierte Unternehmen in Deutschland wird

von einer Frau geführt. Es ist eine Tatsache, dass die
Mehrzahl der selbstständig tätigen Unternehmerinnen mit
Frauen zusammenarbeiten und Frauenbeschäftigung den
betrieblichen Umständen entsprechend zu fördern gewillt
sind. Aber sie möchten und müssen dies frei entscheiden
können.

Hier hilft nicht Zwang, sondern Beratung. Entspre-
chende Beratungsstellen können wichtige Informations-
und Überzeugungsarbeit leisten. Allerdings müssen diese
Beratungen mehr als Fachwissen für Frauenbelange und
-interessen bieten. Berater oder Beraterinnen müssen die
Belange der Betriebe kennen und wissen, wie Betriebe er-
folgreich auf dynamische Märkte reagieren können. Be-
ratung muss Hand in Hand mit den Betrieben erfolgen und
darf nicht bevormundend sein. Arroganz ist fehl am Platz.
Völlig daneben sind Konzepte vom grünen Tisch und das
Anbieten theoretisch besserwissender Patentlösungen
durch die realitätsferne Politik. Zielführend ist nur die Ar-
beit vor Ort mit einem Eingehen auf die spezifischen Be-
lange der Betriebe.

Um Chancengleichheit zu verwirklichen, brauchen
Mädchen und Frauen einen ganzheitlichen Beratungsan-
satz; denn Fragen der Partnerschaft oder Familiengrün-
dung nehmen bei der Lebensplanung von Frauen zum
Glück immer noch viel Raum ein. Diesen Frauen ist mit-
nichten geholfen, wenn sie durch Quoten einen Arbeits-
platz erhalten. Verschiedene Lebensläufe brauchen in-
dividuelle Lösungen. Frauen müssen ihrem Lebensweg
entsprechend in den Arbeitsmarkt – es ist völlig egal, auf
welcher Ebene der Hierarchie – eingegliedert werden.
Quotenarbeitsplätze lösen die Probleme der Frauen ganz
sicher nicht.

Weil Unternehmerinnen und Unternehmer nicht per se
schlecht sind und eine neue Generation von Selbstständi-
gen heranwächst, besteht in vielen Unternehmen auf der
Leitungsebene sehr wohl der Wunsch, Fähigkeiten und
Qualifikationen von Frauen verstärkt zu nutzen. Deshalb
müssen Unternehmen bei der Gestaltung von Weiterbil-
dungskonzepten sowie bei der Konzeption und Durch-
führung von Qualifikationsmaßnahmen unterstützt wer-
den und sie müssen Arbeitskreise mit Personalver-
antwortlichen erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb müssen Frauen angeregt werden, eigene

Ideen umzusetzen und beruflich unabhängig zu sein. Sie
müssen unterstützt werden, eigene Unternehmen zu grün-
den und erfolgreich zu führen, um auch Frauen einzustel-
len. Aber das, meine sehr verehrten Damen und Herren
der Regierungskoalition, wird nur gelingen, wenn diese
Frauen spüren, dass man ihnen als Unternehmerinnen
Handlungsfreiheiten lässt,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, dass es etwas Res-
pektables ist, ein Unternehmen zu führen, dass es etwas
Anständiges ist, Gewinne zu machen, und dass Selbst-
ständige in unserem Land mit ihren Leistungen anerkannt


(Beifall bei der CDU/CSU)

und nicht ausschließlich von der Arroganz der politischen
Macht gemolken und immer mehr in Zwangsjacken ge-
steckt werden.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412104600


(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Die hört nicht zu! Die hat gerade Arbeitsgespräche auf der Regierungsbank!)


Mit den Armen in einer Zwangsjacke kann weder ein Un-
ternehmer noch eine Unternehmerin Arbeitsverträge un-
terschreiben oder am Ende des Monats die Gehälter für
die Arbeitnehmerinnen ausbezahlen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das ist ja wirklich aus dem letzten Jahrhundert!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412104700
Ich gebe das Wort der
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Frau Störr-Ritter, darin, dass eine gute Wirtschafts-
politik Voraussetzung für eine gute Arbeitsmarktpolitik
ist, da gebe ich Ihnen Recht. Aber dann hört es mit den
Gemeinsamkeiten auch schon auf. Ich habe mich die
ganze Zeit gefragt, mit wem Sie eigentlich gesprochen ha-
ben. Glauben Sie, bei der rot-grünen Regierung sei der
Sozialismus ausgebrochen? Die Vorwürfe, die Sie hier er-
hoben haben, treffen uns in keiner Weise. Wenn Sie die
Wirtschaftsunternehmen fragen, dann hören Sie, dass wir
auf einem guten Weg sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte einmal mit einem Zitat der Präsidentin des
Bundesverfassungsgerichtes, Jutta Limbach, beginnen.
Sie sagte kürzlich bei der Eröffnung der Europäischen
Führungsakademie für Frauen in Berlin:

In Zeiten dynamischer Veränderung ist die Visionä-
rin Realistin.

Sie zeichnete ein sehr hoffnungsfrohes Bild für das
21. Jahrhundert. Danach werden – nach ihren Worten – in
Parlamenten zukünftig gleich viel Frauen wie Männer sit-
zen; heute haben die Frauen hier ja bereits eine Über-
macht, sehe ich gerade. – Das Lachen und der Ärger von
Frauen werden uns aus allen Sitzungszimmern und Äm-
tern entgegenschallen. An den Schultoren werden ge-
nauso viele Väter wie Mütter auf ihre Sprösslinge warten.
Frauen und Männer werden also in etwa das Gleiche tun.




Dorothea Störr-Ritter

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In ihrer Art, sich zu verhalten, werden sie aber auch
weiterhin Unterschiede aufweisen. Vielleicht werden wir
nach wie vor weniger Frauen auf Fußballplätzen sehen;
vielleicht wird die Bundeswehr nach wie vor stärker von
Männern dominiert sein;


(Ina Lenke [F.D.P.]: Ihr wolltet doch gar nicht, dass Frauen in die Bundeswehr kommen!)


vielleicht werden auch vorzugsweise Frauen kleine Kin-
der betreuen – dieses aber aufgrund von freien Entschei-
dungen und nicht wie bisher aufgrund von Rollenzuwei-
sungen oder infolge sozialer und wirtschaftlicher
Zwänge.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dass Frauen selbstbestimmt über ihr Leben entschei-
den können, ist Ziel rot-grüner Gesellschaftspolitik und
nicht nur rot-grüner Frauenpolitik. Dies setzt aber eine ge-
rechte Verteilung der Erwerbs- und Familienarbeit zwi-
schen den Geschlechtern, eine Chancengleichheit im
Erwerbsleben und den Abbau der Arbeitslosigkeit vo-
raus.

Kommen wir einmal zur Standortfrage: Wo also ist der
Standort der Erwerbsarbeit der Frauen von heute? Was ist
erreicht? Wo bestehen weiterhin Nachteile? Ich möchte
zunächst auf die positiven Entwicklungen eingehen:
Frauen haben in der Bildung aufgeholt, haben die Männer
zum Teil überholt. Erwerbstätigkeit ist für Frauen eine
Selbstverständlichkeit geworden und Unternehmen be-
ginnen, das Potenzial von Frauen gerade in Zeiten tief
greifender Veränderungen – das Stichwort „Globalisie-
rung“ ist gefallen – zu schätzen. Frau Störr-Ritter, es sind
einige, aber es sind nur sehr wenige Unternehmen, die den
Auftrag des Art. 3 des Grundgesetzes ernst nehmen und
ihn auch umsetzen.


(Beifall der Abg. Hanna Wolf [SPD])


Für Frauen bestehen nach wie vor enorme Wettbe-
werbsnachteile. Es ist für sie schwerer, einen Ausbil-
dungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Frauen beschränken
sich auch deshalb auf nur wenige, kaum zukunftsträchtige
Berufe. Sie sind häufiger und länger arbeitslos und öfter
unter ihrer Qualifikation beschäftigt als Männer. Dass sie
weniger verdienen, ist hier im Hause schon mehrfach er-
wähnt worden. Aber auch der Wiedereinstieg in den Be-
ruf im Anschluss an die Familienphase ist eines der
großen Probleme.

Lassen Sie mich nun die Arbeitsmarktsituation der
Frauen schildern: Nach zwei Jahren rot-grüner Regierung
schlägt sich der wirtschaftliche Aufschwung in Deutsch-
land allmählich auch auf den Arbeitsmarkt nieder. Die
Zunahme der Beschäftigung insgesamt geht einher zu
großen Teilen mit einer Zunahme der Frauenerwerbstätig-
keit.

Auch in Zukunft wird der Strukturwandel hin zu den
Dienstleistungen die Beschäftigung von Frauen begünsti-
gen. Gewinnerinnen der Beschäftigungsentwicklung sind
die hoch qualifizierten Frauen. Frauen ohne Qualifikation
oder mit geringer Qualifikation müssen hingegen deutlich

geringere Chancen, eine Beschäftigung zu finden, in Kauf
nehmen. Die Zahl der für sie geeigneten Arbeitsplätze
ging in der letzten Zeit um die Hälfte zurück und die Ar-
beitslosenquote für diese Frauen verdoppelte sich auf
über 21 Prozent. Hier müssen wir handeln und das müs-
sen wir ändern.

Jedoch sieht es auch bei den qualifizierten Frauen
nicht rosig aus. Trotz des Beschäftigungsanstiegs finden
sie nicht in ausreichendem Maße Arbeitsplätze. Viele von
ihnen müssen sich noch immer, vor allem beim Berufs-
einstieg, mit einem Job begnügen, der nicht ihrer Qualifi-
kation entspricht. Dass Hochschulabsolventinnen an den
Universitäten nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern als
Sekretärinnen arbeiten, ist leider keine Seltenheit.

Beschäftigungszuwächse für Frauen haben vor allem
durch mehr Teilzeitbeschäftigung stattgefunden. Nun sind
endlich auch die Männer gefragt, Arbeit zu teilen. Ich
finde, es ist ein Hohn, dass im letzten Jahr die Anzahl der
Überstunden erneut zugenommen hat und jetzt bei nahezu
1,8 Millionen liegt, während noch immer fast 4 Millionen
Menschen erwerbslos gemeldet sind, von der „stillen Re-
serve der Frauen“ ganz zu schweigen.

Mit dem neuen Gesetz für mehr Teilzeitarbeit, das Ar-
beitsminister Riester kürzlich vorstellte, können Frauen
und Männer grundsätzlich ihre Wünsche auf Arbeitszeit-
verkürzung durchsetzen, wenn betriebliche Gründe dem
nicht entgegenstehen, Frau Störr-Ritter. Wir nehmen also
auf die Betriebe hier Rücksicht.

Zukünftig dürfen Teilzeitbeschäftigte gegenüber Voll-
zeitbeschäftigten nicht mehr schlechter gestellt werden.
Allerdings soll das – für mich bedauerlicherweise – nur
für Beschäftigte gelten, die in Betrieben mit mehr als
15 Beschäftigten arbeiten. Unser Nachbarland Nieder-
lande hat es mit der Umsetzung der europäischen Richtli-
nie zur Teilzeitbeschäftigung für alle Arbeitnehmer zu ei-
nem wahren Jobwunder gebracht. Wenn auch bei uns
mehr Männer von der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit Ge-
brauch machen, kommen wir der wirklichen Chancen-
gleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt
entscheidend näher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber auch der Dienstleistungssektor bietet Frauen
große Chancen. Schon heute arbeiten viele Frauen in
diesem Bereich und der Trend zur Dienstleistungsgesell-
schaft kommt ihnen zugute. Gerade die neuen Informati-
onstechnologien treiben den Prozess der Dienstleistungs-
gesellschaft voran. Wenn wir also Frauenerwerbslosigkeit
abbauen und das Spektrum für die Berufswahl von Frauen
erweitern wollen, müssen wir Frauen im IT-Bereich
qualifizieren. Mit der Initiative „D 21 – Aufbruch in das
Informationszeitalter“ – die Frau Staatssekretärin hat da-
rauf hingewiesen – hat die Bundesregierung hier bereits
reagiert.

Existenzgründungen sind bei dynamischen Verände-
rungen auf dem Arbeitsmarkt ein wichtiges weiteres
Stichwort. In einer flexibilisierten Arbeitswelt gewinnt




Irmingard Schewe-Gerigk
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(C)



(D)



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(B)


Selbstständigkeit zunehmend an Bedeutung. Der Anteil
von Frauen bei den Existenzgründungen ist immer noch
sehr gering; er liegt bei gut einem Viertel aller Selbststän-
digen. Das resultiert unter anderem daraus, dass ihnen
deutlich weniger Startkapital für die Umsetzung ihrer Un-
ternehmensideen zur Verfügung steht und die Banken
noch immer sehr zurückhaltend auf die meist niedrigeren
Kreditwünsche reagieren. Sie sprechen dann von „pea-
nuts“ und meinen, solche Dinge sollte man besser lassen,
weil sie zu viel Aufwand für die Bank bedeuten. Auch da-
rum begrüße ich ausdrücklich das von der Bundesregie-
rung aufgelegte Darlehensprogramm Startgeld, das sich
besonders für Frauen und kleine Gründungen eignet.

Voraussetzung für eine Existenzgründung ist Quali-
fikation und Spezialisierung. Daran hapert es bei Frauen
überhaupt nicht, denn wir hatten noch nie eine so gut aus-
gebildete Frauengeneration wie jetzt. Dieser positive
Trend setzt sich aber leider nicht im Berufsleben fort.

Die berühmte gläserne Decke setzt hier an. Frauen
werden im Berufsleben immer noch abqualifiziert und
sind im oberen Management so gut wie gar nicht anzu-
treffen. Ein Vergleich mit unseren europäischen Nachbar-
staaten zeigt: Deutschland bildet mit Italien das euro-
päische Schlusslicht bei den Führungspositionen; von
100 Führungskräften sind gerade einmal vier Frauen. Da-
rum sollten wir die Erfolgsstory der USA als Vorbild neh-
men, da dort bereits die Hälfte der Stellen im Management
mit Frauen besetzt ist. Wenn vorhin gesagt wurde, die
USA tauge nicht als Vorbild, muss ich entgegnen: Die po-
sitiven Dinge wollen wir natürlich gerne übernehmen,
Frau Störr-Ritter, die negativen lassen wir aber dort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen aber auch die bestehenden Instrumente
ausbauen und neue Gesetze verabschieden. Zu den In-
strumenten: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist entschei-
dend für die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt,
ob als Berufsrückkehrerinnen, als Teilnehmerinnen an ei-
ner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder einer Weiterbil-
dungsmaßnahme. Die 1996 von der alten Bundesregie-
rung eingeleitete Reform des Arbeitsförderungsgesetzes,
die eine Verschlechterung bedeutet hat, hat zu einer mas-
siven Diskriminierung der Frauen geführt. Daher ist eine
echte Reform des Arbeitsförderungsrechts ein zentra-
les frauenpolitisches Vorhaben der rot-grünen Bundesre-
gierung.

Durch die Neuregelung muss erreicht werden, dass
Frauen tatsächlich gemäß ihrem Anteil den Arbeitslosen
an allen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik be-
teiligt werden, auch dann, wenn sie aufgrund des Ein-
kommens ihres Ehemannes keine Leistungen beziehen.
Dies betrifft immer noch jede zweite arbeitslose Frau. Es
ist auch nicht einzusehen, warum Frauen erst langzeitar-
beitslos werden müssen, um an Eingliederungsmaßnah-
men beteiligt zu werden. Die alte Bundesregierung hatte
mit der Abschaffung des Berufs-, Einkommens- und Qua-
lifikationsschutzes Frauen auf die Qualifikationsrutsche
nach unten gesetzt. Durch ihr sowieso schon niedrigeres

Lohnniveau sind sie häufiger in die Sozialhilfeabhängig-
keit geraten. Diesen abgeschafften Schutz werden wir
wieder herstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Außerdem müssen Erziehungszeiten als Beitragszeiten
anerkannt werden. Dies gilt generell für Zeiten, in denen
Kinder erzogen bzw. Angehörige gepflegt werden. Nur so
steht Berufsrückkehrerinnen der Leistungsbezug oder die
Möglichkeit zur Teilnahme an einer Maßnahme der akti-
ven Arbeitsmarktpolitik im Anschluss an Erziehungs-
bzw. Pflegearbeit überhaupt offen. Wenn der Wehrdienst
für den Erwerb einer Anwartschaft ausreicht, steht doch
außer Frage, dass auch die Erziehungsarbeit entsprechend
anerkannt werden muss. Für mich ist das eine Frage der
Gerechtigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Der gleichzeitige Bezug von Erziehungsgeld und Ar-
beitslosengeld war bislang dank der alten Bundesregie-
rung nicht möglich. Mit dem neuen Erziehungsgeldge-
setz haben wir diese Schieflage wieder zurechtgerückt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zukünftig haben auch Personen, die aufgrund einer frühe-
ren Beschäftigung von bis zu 30 Wochenstunden Arbeits-
losengeld erhalten, Anspruch auf Erziehungsgeld.

Ich komme nun zu den Regelungen für diejenigen, die
bereits eine Beschäftigung haben. Bis jetzt können wir mit
den Ergebnissen und den Bemühungen der Betriebe für
die Gleichstellung von Frauen nicht zufrieden sein. Nur
wenige Unternehmen in Deutschland haben bis heute ver-
standen, dass Frauenförderung ein wichtiger Baustein ei-
nes erfolgreichen Personalmanagements ist. Um diesen
positiven Prozess, den einige wenige Unternehmen be-
reits begonnen haben, nicht ins Leere laufen zu lassen,
brauchen wir ein effektives Gleichberechtigungsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieses muss der Unterschiedlichkeit der Betriebe in Art
und Größe natürlich Rechnung tragen.

Kreativität und Fantasie der Unternehmen lassen sich
aber auch dadurch anregen, dass diejenigen Betriebe öf-
fentliche Aufträge erhalten, die auf Frauenförderung set-
zen. Für die anderen bedeutet der Verzicht auf Frauenför-
derung, einen Wettbewerbsnachteil in Kauf nehmen zu
müssen. Das ist doch ein echtes Anreizsystem.

Neben einem effektiven gesetzlichen Diskriminie-
rungsschutz – das betrifft die unmittelbare wie die
mittelbare Diskriminierung – brauchen wir aber auch ein
Verbandsklagerecht für Frauenverbände und Gewerk-
schaften, wie es im Umweltbereich schon Gesetz ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Irmingard Schewe-Gerigk

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Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – das ist eine
Uraltforderung, die man gar nicht mehr aussprechen mag.
Sie ist aber bis heute nicht umgesetzt.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Es gibt eine Reihe von Berufen, in denen überwiegend
Frauen beschäftigt sind, deren Bezahlung jedoch nicht ge-
schlechtergerecht ist. Deshalb müssen die Tarifpartner die
Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes für eine glei-
che Entlohnung beherzigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein weiteres Mittel zur Umsetzung der Gleichstel-
lung in den Betrieben bietet das Betriebsverfassungs-
gesetz. Konkretisierungen sind hier dringend erforder-
lich. Quotierte Wahllisten könnten eine gleichberechtigte
Besetzung der Betriebsräte ermöglichen. Eine Mitbe-
stimmungspflicht des Betriebsrates in Sachen Chancen-
gleichheit und die Verpflichtung der Arbeitgeber zur
Zusammenarbeit in Sachen Gleichstellung könnten nicht
nur die Rechte der Betriebsräte, sondern auch die
Rechte der Frauen stärken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dies sind nur einige Anmerkungen zu den gesetzgeberi-
schen Maßnahmen, die noch vor uns liegen.

Der Handlungsbedarf ist noch immer groß. Zu lange
galt das ideologische Bild von Frauen, die für Haushalt
und Kinder verantwortlich zu sein hatten und allenfalls als
Zuverdienerinnen fungierten. Darum freue ich mich – ich
sehe, Herr Dehnel ist da –, dass wir gestern einen Erkennt-
niszugewinn bei der CDU zur Kenntnis nehmen konnten.
Denn inzwischen hat auch die CDU erkannt, dass eine
Förderung der Erwerbsarbeit das Beste für die Fami-
lien ist. Das haben Sie hervorragend ausgedrückt, da zu
den Familien auch die Frauen und die Mütter gehören.
Bisher hatten Sie die Ministerin Bergmann immer dafür
gescholten, dass sie sich für verbesserte Erwerbsmög-
lichkeiten von Frauen mit Kindern eingesetzt hat. Ich bin
froh, dass Sie endlich in eine andere Richtung gehen.
Herzlichen Glückwunsch dazu!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit,
dass Wirtschaft und Gesellschaft die Mehrheit der Bevöl-
kerung nicht länger benachteiligen. Die in dem Antrag
vorgeschlagenen Maßnahmen werden dazu einen großen
Beitrag leisten. Da wir uns inhaltlich offensichtlich in vie-
len Punkten einig sind, bitte ich Sie, diesem Antrag zuzu-
stimmen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412104800
Das Wort hat nun die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412104900
Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt
der heutigen Beratung ist die Entschließung des Euro-
päischen Parlamentes zu den besonderen Auswirkungen
der Frauenarbeitslosigkeit. Das Europäische Parlament
stellt fest, dass „alle jungen Frauen nach Abschluss ihrer
Ausbildung ... in das Erwerbsleben“ wollen. Immer mehr
Frauen sehen die Notwendigkeit einer dauerhaften Be-
rufstätigkeit.

Wir haben gerade von unseren Kolleginnen gehört,
dass trotz der qualifizierten Ausbildung die Arbeitslosen-
quote bei Frauen in Europa höher als die der Männer und
die Bezahlung 20 bis 30 Prozent niedriger ist. Dieses Bild
zeigt sich auch in der Bundesrepublik.

In der Entschließung des Europäischen Parlamentes
werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Teilzeit-
beschäftigung auf Männer ebenso wie auf Frauen
auszudehnen, den Mangel an guten und preiswerten
Kinderbetreuungseinrichtungen zu beheben und der For-
derung nach einem attraktiven Elternurlaub für Väter und
Mütter nachzukommen. Diese Ziele unterstützen wir als
F.D.P. natürlich.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich will auch gleich sagen: Wir sind in diesem Parla-

ment nicht untätig gewesen. Wir haben unsere Vorstellun-
gen zur Familienförderung, zur Erziehungszeit und zum
Erziehungsgeld vorgebracht. Unser Konzept ist anders als
das von Rot-Grün. Unser Konzept gibt Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitgeberinnen einen breiten Freiraum, die Be-
rufstätigkeit während einer Erziehungsphase individuell
zu bestimmen. Das vermissen wir in Ihrem Konzept.

Die Forderung des Europäischen Parlaments nach fle-
xibleren Kinderbetreuungsmöglichkeiten unterstützen
wir alle, natürlich auch die Männer. Aber der schwarze
Peter wird hier immer zwischen Bund, Ländern und Kom-
munen hin und her geschoben. Die Dummen sind die Fa-
milien, die bei beidseitiger Berufstätigkeit keinen ent-
sprechenden Kindergartenplatz bekommen. Wir müssen
sehen, dass die Bevölkerung mit uns auf allen Ebenen un-
zufrieden ist, und sie hat Recht. Die Bundesregierung
sollte das, was sie versprochen hat, auch tun. Sie hat näm-
lich zu Anfang der Legislaturperiode versprochen, die
Länder bei der Schaffung zusätzlicher Kinderbetreuungs-
möglichkeiten zu unterstützen.

Liebe Frau Staatssekretärin Niehuis, davon habe ich in
den letzten zwei Jahren nichts gehört.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben im Ausschuss gesagt, Sie würden mit den Län-
dern sprechen. Das ist schon ein Tick weniger, als den
Ländern Geld zu geben. Ich denke, hier sollte wirklich et-
was getan werden, und Sie sollten Ihre Versprechungen,
die Sie zu Anfang der Legislaturperiode in Ihren Pro-
grammen stehen hatten, endlich auch einhalten. So geht es
nicht: Erst die Wähler fangen und nachher vergessen, das
Geld zu geben. Das wollen wir nicht machen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)





Irmingard Schewe-Gerigk
11586


(C)



(D)



(A)



(B)


Heute geht es in dieser Diskussion um die wichtigen
Themen Frauenarbeitslosigkeit und Stärkung der Frauen-
erwerbstätigkeit. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen
von SPD und Grünen, ich arbeite wirklich gerne mit Ih-
nen zusammen und viele Dinge machen wir ja auch ge-
meinsam. Aber diese Regierungskoalition hat Kon-
zepte, die nach Überzeugung der F.D.P. und auch nach
meiner Überzeugung nicht zum Erfolg führen werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich werde jetzt Beispiele nennen, über die wir uns

gerne noch unterhalten können. Die rot-grüne Regierung
setzt einseitig auf Gesetze mit engen Vorgaben und
Zwang. In den zwei Jahren rot-grüner Herrschaft sind Ge-
setze verabschiedet worden und werden Gesetze ange-
dacht, die eindeutig negative Wirkung auf die Erwerbs-
tätigkeit von Frauen und Männern haben werden. Ich
zähle sie auf:

Erstens das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit.
Frau Schewe-Gerigk, Ziel des Gesetzes war Beschäfti-
gungsförderung. Was ist im Ergebnis daraus geworden? –
Viele Frauen haben ihre kleinen Existenzen aufgegeben.
Ich kenne Fälle aus meinem Wahlkreis. Damit müssen Sie
sich auch auseinander setzen.

Dann will ich, zweitens, zu diesem viel gescholtenen –
fangen Sie ruhig jetzt schon an zu lachen – 630-Mark-
Gesetz kommen.


(Zuruf von der SPD: Das hat die soziale Lage der Frauen verbessert!)


Die Frauen, die vor der Gesetzesänderung neben ihrem
Hauptjob zusätzlich gearbeitet haben, haben aufgrund der
neuen Regelung ihren Job aufgegeben,


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Doch nicht alle!)


weil einfach die Sozialabgaben und die Steuern zu hoch
sind. Ich sage: Wir sollten auch für die Frauen da sein, die
noch neben ihrem Job mal zwei Stunden in der Woche
oder zwei Stunden am Tag arbeiten wollen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412105000
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage? – Bitte sehr, Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darf ich meine Frage später stellen?


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412105100
Ich werde zunächst die anderen
Punkte aufführen. Dann kannst du vielleicht auch dazu
noch etwas sagen.

Ich war bei zweitens, beim 630-Mark-Gesetz. Jetzt
komme ich zu drittens, dem neu eingeführten Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit im Betrieb während der Er-
ziehungszeit. Meine Damen und Herren, Sie belasten
zukünftig die Arbeitgeber, die viele Frauen eingestellt ha-
ben, neben der betrieblichen Belastung durch die Schwan-
gerschaft auch noch mit diesem Rechtsanspruch. Da stellt
sich wirklich die Frage, ob das Frauenbeschäftigungsför-

derung ist. Ich habe da meine Zweifel. Da gehen unsere
parteipolitischen Meinungen wirklich stark auseinander.
Ich meine, dass das nicht der Fall ist. Ich meine, dass ge-
rade der Betrieb, der viele Frauen einstellt, nicht Belas-
tungen, sondern Entlastungen haben soll. Sie aber belas-
ten die Betriebe und entlasten sie nicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Viertens nenne ich die Neugestaltung des Kündigungs-

schutzes. Da ist es auch so. Der Schwellenwert für die An-
wendung der besseren Kündigungsschutzregelungen lag
bei zehn Mitarbeitern. Jetzt haben Sie ihn auf fünf zurück-
gefahren. Ich frage Sie: Glauben Sie, dass der Betrieb die
sechste oder siebte Mitarbeiterin einstellt, wenn er da-
durch den Schwellenwert überschreitet und höheren
Kündigungsschutz in Kauf nehmen muss? Ich sage Ihnen:
Diese Dinge können Sie zwar in politischen Veranstaltun-
gen sehr schön erklären, aber die Folgewirkungen Ihrer
Gesetze werden bei Ihnen nicht eingeplant.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wie viel Frauen sind denn vorher mehr beschäftigt gewesen?)


Es wurde hier auch schon gesagt, dass das Betriebs-
verfassungsgesetz bald geändert werden soll und auch
kleine Betriebe damit belastet werden sollen. Das ist auch
so etwas.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412105200
Wollen Sie jetzt die
Zwischenfrage zulassen?


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412105300
Lass mich doch bitte noch Gleich-
berechtigungsgesetz nennen. Das soll wie folgt ausse-
hen: In der ersten Stufe erhalten die Betriebe einen Kata-
log mit Frauenfördermaßnahmen, aus dem sie Maß-
nahmen übernehmen müssen. Das nennt die rot-grüne Re-
gierung große Gestaltungsfreiheit, man höre und staune.
Wenn sie das nicht machen, dann zündet die zweite Stufe,
und die heißt: Zwang und Sanktionen.

Meine Damen und Herren, wo werden Arbeitsplätze
geschaffen? – In der Wirtschaft. Wo sollen Frauen mehr
Chancen auf Einstellung haben?


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: In der Wirtschaft!)


– In der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Diese Auflagen von
Rot-Grün werden dazu führen, dass in Deutschland keine
neuen Arbeitsplätze, jedenfalls nicht für Frauen, ge-
schaffen werden.

Jetzt bitte deine Frage.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Rücksicht genommen wurde.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412105400
Frau Kollegin Lenke,
an sich erteile ich das Wort; das tue ich aber hiermit. Bitte
sehr.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412105500
Entschuldigung, Frau Präsidentin.




Ina Lenke

11587


(C)



(D)



(A)



(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass Frauen, aber auch Männer, die in einem Betrieb
Überstunden machen, dafür Steuern und Versicherung
zahlen sollen, dass sie aber, wenn sie in einem anderen
Betrieb einen so genannten 630-Mark-Job ausüben, die-
ses nicht machen sollten? Entspricht das Ihrem Gefühl
von Gerechtigkeit?


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412105600
Also, mein Gefühl für Gerechtig-
keit ist auch befriedigt, wenn ein Zweitjob steuerlich be-
günstigt wird. Vor der Reform der 630-Mark-Arbeits-
verhältnisse hat ja der Arbeitgeber die gesamten Steuern
gezahlt, waren also die aus diesen Arbeitsverhältnissen er-
zielten Einnahmen steuerfrei. Die darauf entrichteten
Steuern sind damals den Frauen und Männern zugute ge-
kommen.

Ich bin der Meinung, dass das System, das wir hatten
– Hauptjobs sind sozialversicherungspflichtig und Ein-
nahmen bis 630 DM bleiben für die Arbeitnehmer steuer-
frei –, denjenigen, die zu wenig in ihrem Hauptjob ver-
dienten, eine gute Möglichkeit geboten hat, zusätzliches
Geld zu verdienen, das nicht mit hohen Abgaben und
Steuern belastet wurde.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen eines: Wer für 630 DM arbeitet, der hat
einen Stundenlohn von 15 DM bis 18 DM. Ob dessen Ein-
kommen in Steuerklasse V oder VI dann noch mit Abga-
ben von 40 oder 50 Prozent belastet werden soll, ist eine
Frage, die wir uns wirklich stellen müssen. Es ist mir je-
denfalls angesichts der Zahl derjenigen, die für 630 DM
in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten wollen, wert,
für die Wiedereinführung der alten Regelung einzutreten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Einig sind wir uns natürlich darüber, dass die Weichen

für eine langfristige erfolgreiche Berufstätigkeit von
Frauen schon in der Jugend gestellt werden. 1997 kon-
zentrierten sich 55 Prozent der weiblichen Azubis auf
zehn Ausbildungsberufe. Aber diese Ausbildungsberufe
bieten nur eine eingeschränkte Erwerbsperspektive. Da-
rüber müssen wir nicht reden. Darüber sind wir uns alle
einig. Auch an den Hochschulen fehlen Frauen in den Be-
reichen Naturwissenschaften, Informatik sowie Wirt-
schafts- und Betriebswissenschaften.

Ich meine, dass es auch im Eigeninteresse und in der
Eigenverantwortung von Frauen liegt, sich nicht nur über
die private, sondern auch über die berufliche Lebenspla-
nung im Klaren zu sein. Das ist bei Männern anders, weil
in unserer Gesellschaft noch immer davon ausgegangen
wird, dass der Mann der Haupternährer ist. Wir alle sind
da natürlich anderer Meinung. Es ist also wichtig, dass
auch Frauen eine berufliche Lebensplanung vornehmen.
Hier lässt sich mit einer guten Bildungspolitik, die schon
in der Schule ansetzt, sicherlich etwas machen. Bund und
Länder müssen zusammen für eine gute Kombination von
Anreizen in der Bildungspolitik sorgen.

Ich möchte auch ganz deutlich sagen, dass die Wirt-
schaft ihren Verpflichtungen nachkommen muss. Ich bin
zwar der Meinung, dass die in unserer Verfassung veran-
kerte aktive Gestaltung der Gleichberechtigung von
Mann und Frau auch von den Betriebsinhabern umgesetzt
werden muss. Aber ich bin auch der Meinung, dass die
kleinen Betriebe nicht so handeln können wie die großen.
Große Betriebe wie Siemens und Lufthansa haben schon
aus wohlverstandenem Eigeninteresse Frauenförderung
betrieben. Frauen üben dort schon Leitungsfunktionen
aus. Hier hat sich einiges verändert.

Ich möchte aber auch noch um Verständnis für die
kleinen und mittelständischen Betriebe werben. Was ge-
schieht dort? 80 Prozent aller Ausbildungsplätze werden
von mittelständischen Betrieben geschaffen. Fragen Sie
doch einmal die großen Unternehmen, wie viele Ausbil-
dungsplätze sie zur Verfügung stellen! Daher muss in eine
Plus-Minus-Rechnung auch das einbezogen werden, was
der Arbeitsmarkt erfordert und was wir von den Betrieben
verlangen.

Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. Die F.D.P. un-
terstützt natürlich alle Maßnahmen, mit denen dafür ge-
sorgt werden soll, dass sich Frauen für zukunftsträchtige
Berufe interessieren. Ich kann die Bundesregierung nur
dafür loben – das finde ich sehr vernünftig –, dass sie mit
der Wirtschaft die D-21-Initiative ins Leben gerufen hat.
Solche Aktionen unterstützen wir. Das ist gar keine Frage!

Wir unterstützen auch „total equality“. Es ist auch die
Aufgabe der zuständigen Staatssekretärin und Ministerin,
dafür zu sorgen, dass sich mehr Betriebe daran beteiligen;
denn das Interesse an der Auszeichnung für Frauen för-
dernde Betriebe hat etwas nachgelassen.

Auch über die Förderung der Existenzgründun-
gen – das ist gar keine Frage – sind wir uns alle einig, egal,
ob Sie das 101. oder das 102. Existenzförderungspro-
gramm auflegen. Aber ich muss darauf hinweisen, dass
eine immer größer werdende Vielzahl an Förderprogram-
men eher negativ zu sehen ist; denn je mehr Programme
es gibt, desto verwirrender wird es für die Frauen. Wir
müssen vielleicht die Masse der Existenzförderungsmög-
lichkeiten eher eindämmen und vielmehr dafür sorgen,
dass sich viele, die einen Betrieb neu gründen wollen, den
staatlichen Förderprogrammen zuwenden und verstehen,
welches das Ziel der einzelnen Förderprogramme ist, und
dass sie sich nicht von Banken Förderprogramme ver-
kaufen lassen die vielleicht teurer als die staatlichen sind.

Ich will einmal die Frage stellen, ob es richtig ist, dass
die Kosten, die durch eine Schwangerschaft einer Mitar-
beiterin anfallen, den Betrieben individuell zugeordnet
sind. Mit diesem Problem sollte sich auch der Frauen- und
Familienausschuss befassen. Wir sollten uns den Lö-
sungsmöglichkeiten für dieses Problem widmen. Wenn
ich mit Vertretern kleiner Betriebe spreche, die sehr viele
Frauen eingestellt haben, dann erfahre ich immer wieder,
dass das auch mit finanziellen Belastungen verbunden ist.


(Beifall der Abg. Gudrun Kopp [F.D.P.])

Viele Inhaber von Betrieben verdienen weniger als
200 000 DM. Wenn von ihren 20 Mitarbeiterinnen zehn
schwanger sind, dann haben sie Schwierigkeiten, weil sie






(C)



(D)



(A)



(B)


Ersatz finden müssen. Schwierigkeiten entstehen erst
recht, wenn es den Rechtsanspruch gibt. Es wäre wichtig,
Lösungsmöglichkeiten für die gesellschaftspolitischen
Belastungen, für die durch die Schwangerschaft und die
Erziehungszeit verbundenen Probleme zu finden, die wir
einzelnen Betrieben auferlegen.


(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412105700
Frau Kollegin, Sie ha-
ben die Redezeit weit überschritten.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412105800
Ich komme zum Schluss.
In unserer globalisierten Wirtschaft darf wirtschaftli-

ches Handeln nicht eingeengt werden, sondern es muss er-
weitert werden. Das kann zu mehr Frauenerwerbstätigkeit
führen. Meines Erachtens zeigen Ihre Gesetze nicht, ob
Sie das in den vier Jahren Ihrer Regierungszeit erreichen.
Ich glaube, Sie gehen weiterhin den Weg von Zwangsge-
setzen und Zwangsregelungen. Es wäre sehr traurig, wenn
Frauenbeschäftigung damit verhindert würde und wenn
sich die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht ver-
bessert.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412105900
Das Wort hat nun die
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412106000
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union haben sich mit dem Amsterdamer Vertrag be-
kanntlich zur Durchsetzung von Chancengleichheit und
zur Gleichberechtigung der Geschlechter verpflichtet.
Angesichts der Defizite bei der Umsetzung auf nationa-
ler Ebene kommt immer wieder – ich denke, zu Recht –
Druck vonseiten der EU. Das Europäische Parlament hat
in der heute zur Debatte stehenden Entschließung sehr
klareWorte gefunden, was Chancengleichheit von Frauen
und Männern auf dem Arbeitsmarkt bedeutet. Der politi-
sche Handlungsbedarf ist groß; doch nach wie vor fehlt
es auch in der Bundesrepublik an konkreten und nach-
haltigen Lösungsansätzen, wie der Diskriminierung von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen ist.

Dabei sind die Trends besorgniserregend. Das Wissen-
schaftszentrum Berlin hat jüngst alarmierende Zahlen
veröffentlicht. Demnach hat allein in der Stadt Berlin nur
noch jede bzw. jeder dritte Erwerbstätige ein so genanntes
Normalarbeitsverhältnis, das heißt eine unbefristete Voll-
zeitstelle mit normaler sozialer Absicherung. 1991 waren
das immerhin noch 45 Prozent. „Berlin wird zur Haupt-
stadt der Mc-Jobs“, hat die „taz“ unlängst getitelt. Der
Dienstleistungssektor expandiert und dabei entstehen
überwiegend ungesicherte Arbeitsplätze. Es sind häufig
Frauen, die mangels Alternative auf diese Jobs zurück-
greifen müssen.

Wenn wir über bessere Erwerbschancen für Frauen re-
den, dann können wir diese Entwicklungen nicht außer
Acht lassen. Es ist unübersehbar, dass die Flexibilisierung

der Beschäftigungsverhältnisse für die allermeisten Men-
schen erhebliche Nachteile und nicht etwa, wie immer
wieder behauptet, größere Freiheiten gebracht hat. Der
Ausbau von Niedriglohnbereichen wird fälschlicherweise
auch von vielen Politikerinnen und Politikern der rot-grü-
nen Regierungskoalition als Königsweg aus der Arbeits-
losigkeit propagiert.

Das bestehende Arbeitsförderungsrecht begünstigt
diese Entwicklungen noch, weil es – Frau Schewe-Gerigk
hat darauf bereits verwiesen – zum Beispiel keinen Schutz
der beruflichen Qualifikation mehr gibt, weil berufliche
Kenntnisse und Erfahrungen ihren Wert innerhalb weni-
ger Monate verlieren. Da Arbeitslose gezwungen werden,
Jobs anzunehmen, die weit unter ihrer Qualifikation lie-
gen, wird dieser Trend anhalten. Ich habe mit großer
Freude zur Kenntnis genommen, dass auch Sie an genau
dieser Stelle politischen Handlungsbedarf, das heißt ge-
setzlichen Regelungsbedarf, sehen.

Bei der Arbeitsförderung gibt es ebenfalls zahlreiche
Regelungen, die Frauen benachteiligen. Ich nenne Ihnen
nur die Zugangsbarrieren bei Maßnahmen der aktiven Ar-
beitsförderung, die angeblich zumutbare Pendelzeit von
drei Stunden täglich, die besonders Frauen trifft und sie
oft zwingt, gleich ganz zu Hause zu bleiben, sowie die
nicht mehr gewährte Anrechnung von Mutterschafts- und
Erziehungsurlaub als beitragspflichtig gleichgestellte
Zeit.

Wenn Sie an der Diskriminierung von Frauen bei der
Arbeitsförderung etwas ändern wollen, dann müssen
zahlreiche Regelungen im SGB III verändert werden. Die
geschlechtsspezifische Entdiskriminierung muss ein zen-
traler Maßstab für die angekündigte Reform des Arbeits-
förderungsrechts sein.


(Beifall bei der PDS)

Die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt können wir
nur erfolgreich bekämpfen, wenn wir endlich auch die Ar-
beitszeitgesetzgebung angehen. Wir brauchen – das ist
hier vielfach gesagt worden – verbindliche Regelungen
für die Privatwirtschaft.

Auch im Beschäftigungspolitischen Aktionsplan
– immerhin ein Dokument, mit dem die Bundesregierung
ihre Aktivitäten gegenüber der Europäischen Union recht-
fertigt – setzt sich leider der Stil durch, der uns in den
vergangenen Monaten immer wieder begegnet ist. Statt
gesetzlicher Vorhaben erwähnen Sie lieber Konferenzen,
die Sie veranstalten, und Berichte, die Sie schreiben wol-
len. Ein Beispiel: Um die Einkommensunterschiede bei
Männern und Frauen zu verringern, wollen Sie bis Ende
des Jahres 2001 – die Kollegin Niehuis hat darauf noch
einmal verwiesen – einen Bericht zur Einkommens- und
Berufssituation erstellen. Nichts gegen eine solche si-
cherlich notwendige Berichterstattung, aber wo bleiben
die konkreten Maßnahmen? Wir wissen, dass gerade bei
den Erwerbseinkommen massenhaft mittelbare Diskrimi-
nierung von Frauen vorkommt. Handeln Sie hier endlich
und vertrösten Sie uns bitte nicht, wie gestern in der Aus-
schusssitzung, immer darauf, dass wir erst Halbzeit haben
und die Legislaturperiode noch zwei Jahre dauert.


(Zuruf von der SPD: Stimmt aber!)





Ina Lenke

11589


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich denke, die Frauen warten darauf, dass etwas getan
wird.


(Beifall bei der PDS)

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Tarifpar-

teien dazu bringen, endlich mit den frauendiskriminieren-
den Tarifabschlüssen Schluss zu machen – notfalls durch
gesetzliche Maßnahmen. Ich weiß, dass das nicht ganz
einfach ist, weil selbstverständlich die Tarifautonomie
nicht angetastet werden darf, wofür auch und gerade die
PDS steht.

Sie wollen die hohe Frauenarbeitslosigkeit abbauen.
Aber auch hier fehlen konkrete Zielsetzungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, Sie fordern in Ihrem Antrag die Regierung dazu
auf, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass Re-
ferenzziele für die Mitgliedstaaten verbindlich festge-
legt werden. Das begrüße ich ausdrücklich. Aber warum
haben Sie diese nicht im nationalen Aktionsplan festge-
legt? Genau da hätten sie nämlich hineingepasst. Die Idee
ist ausgezeichnet: Für die Referenzziele sollen die mittle-
ren Werte der jeweils drei erfolgreichsten Mitgliedstaaten
der Europäischen Union Maßstab sein. Wer erfolgreich
Diskriminierung bekämpft, wird zum Maßstab für die
anderen. Ich denke, die Bundesrepublik könnte hier mit
gutem Beispiel vorangehen und klare Ziele mit Zeitvor-
gaben für den Abbau der Diskriminierung von Frauen auf
dem Arbeitsmarkt festlegen. Im Übrigen würden Sie dafür
sofort Unterstützung von der PDS bekommen.


(Beifall bei der PDS)

Derzeit wird sehr viel Bilanz über zehn Jahre deutsche

Einheit gezogen. Es lohnt sich, ausdrücklich und dezidiert
die Situation von Ostfrauen zu betrachten. Denn eines
steht fest: Der Transformationsprozess war und ist gerade
für sie ein Prozess voller Gewinne und Verluste. Was sie
an politischer Partizipation gewonnen haben, haben sie an
ökonomischer und sozialer Unabhängigkeit verloren. Die
Erwerbstätigenquote der Frauen im Osten ist rapide ge-
sunken. Sie beträgt inzwischen nur noch gut 56 Prozent;
im Westen sind es 55 Prozent. Wir haben es hier mit einer
Angleichung zu tun, die nicht gewollt war – vor allem
nicht von den Frauen im Osten. Die Zahlen zeigen, in
welch gigantischem Ausmaß Frauen im Osten in den ver-
gangenen zehn Jahren Arbeitsplätze verloren haben. Al-
lerdings – das ist bemerkenswert – lassen sich die Frauen
in den neuen Ländern nach wie vor nicht vom Arbeits-
markt verdrängen. Sie haben sich eben nicht, wie viele
– vor allem Herren in abgewählten Regierungskreisen –
wollten, in die stille Reserve zurückgezogen. Sie behaup-
ten ihren Anspruch auf Berufstätigkeit, indem sie sich
nach wie vor bei den Arbeitsämtern arbeitslos melden.

Zu oft mussten wir uns in den vergangenen Jahren und
erst letzte Woche vom Präsidenten der Bundesanstalt für
Arbeit in der „Super Illu“ sagen lassen, die Probleme auf
dem ostdeutschen Arbeitsmarkt hätten mit der so genann-
ten ungebrochenen Erwerbsneigung von Frauen zu tun.
Mit solchen Argumentationen muss jetzt wirklich Schluss
sein.


(Beifall bei der PDS)


Wir sehen, es ist nach wie vor eine große Herausforde-
rung, jede Form von Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts wirksam zu bekämpfen. Soziale Gerechtig-
keit – das sei in aller Deutlichkeit gesagt – gibt es nur mit
und durch Chancengleichheit der Geschlechter.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412106100
Das Wort hat nun die
Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412106200
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
legen und Kolleginnen! Zunächst einmal ein Wort an Frau
Lenke, die es nicht geschafft hat – das tut mir sehr Leid –,
sich über die Lebenswirklichkeit des letzten Jahres zu
informieren. Ich hätte nicht damit gerechnet – das muss
ich wirklich sagen –, dass Sie nach einem Jahr immer
noch die 630-Mark-Jobs anführen, wo wir genau wissen,
dass mittlerweile 4 Millionen geringfügig Beschäftigte
gemeldet sind. Das heißt also, dass kein Arbeitsplatz
wirklich weggefallen ist.


(Beifall bei der SPD – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Da kann man bei den Sozialkassen nachfragen!)


Hinzu kommt, dass diese Frauen endlich einmal abgesi-
chert beschäftigt sind. Das ist das eine.

Es ist schon interessant, Frau Störr-Ritter, welche Er-
gebnisse dabei herauskommen, wenn sich zwei Personen
eine Statistik ansehen. Sie stellen fest, dass 25 Prozent der
Frauen zufrieden sind. Ich allerdings stelle fest, dass
78 Prozent der Frauen wollen, dass mehr für Gleichstel-
lung getan wird.


(Zuruf der Abg. Dorothea Störr-Ritter [CDU/CSU])


– Das haben Sie so nicht zitiert, Sie haben es nicht wahr-
genommen, sondern einfach beiseite gedrängt.

Ganz wichtig dabei ist, dass die Frauen dabei die Chan-
cengleichheit im Arbeitsleben als erstes und wichtigstes
Kriterium nennen. All diesen Frauen kann ich heute sa-
gen: Diese Forderung war in den zurückliegenden Mona-
ten Motor für die Politik der Regierungskoalition und ich
garantiere: Das bleibt auch so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir, die Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, haben gemeinsam
Mitte Juni 1999 neue Initiativen zur Frauenbeschäftigung
gefordert. Die Bundesregierung hat im gleichen Monat ihr
Programm „Frau und Beruf“ verabschiedet und damit ei-
nen Neuaufbruch bei der Gleichstellungspolitik eingelei-
tet. Seit Juni 1999 sind nur 16 Monate – ich betone das –
vergangen, in denen wir mehr in Sachen Gleichstellung
von Frauen und Männern auf den Weg gebracht haben als
die alte Regierung in 16 Jahren.


(Beifall bei der SPD – Ilse Falk [CDU/CSU]: Na, na! Das sollten Sie sich auch einmal genauer anschauen!)





Petra Bläss
11590


(C)



(D)



(A)



(B)


Unsere Politik bringt endlich den entscheidenden Fort-
schritt. Künftig werden im Erwerbsleben die Chancen
nicht mehr nach dem Geschlecht, sondern nach Fähigkei-
ten und Leistung vergeben. Ich will Ihnen das aus
Zeitgründen nur anhand einiger Projekte nachweisen.
Frau Staatssekretärin Niehuis wie Frau Schewe-Gerigk
haben auch schon einige Projekte genannt. Entscheidend
ist, dass das Projekte sind, die bereits beschlossen wurden
und die die Forderung nach Chancengleichheit von
Frauen und Männern im Erwerbsleben praktisch umset-
zen.

Wir bringen mehr Frauen in IT-Berufe – das wurde
auch schon gesagt – durch Förderprogramme wie D 21
und „Frauen ans Netz“. Wir fördern Frauen in Forschung
und Wissenschaft mit dem Hochschulsonderprogramm III
und ermöglichen Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmerin-
nen durch die Neuregelung des Altersteilzeitgesetzes, Al-
tersteilzeit in Anspruch zu nehmen. Außerdem geben wir
jungen Männern, wie hier schon mehrfach gesagt wurde,
durch die Neuregelungen von Bundeserziehungsgeldge-
setz und Elternzeitgesetz eine realistische Chance, die
Entwicklung ihrer Kinder von Anfang an intensiv mit-
zuerleben. Wir machen endlich wieder eine familien- und
kinderfreundliche Politik. Dafür stehen Kindergelder-
höhung und Steuerreform.

Ganz entscheidend ist aber: Wir haben die Gleichstel-
lung zum Leitbild unserer Politik gemacht. Der Fachbe-
griff hierfür lautet – ich bitte Sie auf der rechten Seite, gut
zuzuhören – „gender mainstreaming“. Das heißt, bei jeder
politischen Entscheidung, bei jedem Konzept wird mit zu
beachten sein, welche Auswirkungen dies für Männer und
Frauen hat.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412106300
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412106400
Ja, bitte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412106500
Frau Schwaetzer,
bitte sehr.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1412106600
Frau Kollegin,
auch Sie erwähnen jetzt die Initiative D 21. Wenn ich es
richtig sehe, ist das eine Initiative der Wirtschaft, in die
Wege geleitet von den großen IT-Firmen wie zum Bei-
spiel IBM und Alcatel. Deswegen interessiert es mich
sehr, welche speziellen Förderprogramme die Bundesre-
gierung anbietet, was hierbei vereinbart wurde und wo
sich das im Haushalt wiederfindet.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412106700
Die Initiative D 21 geht vom
Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
aus, das auch Geldgeber ist und diese Initiative begleitet.
Ich meine, das reicht als Auskunft. Ich kann jetzt spontan
die Haushaltsstelle nicht nennen, aber kann sagen: Das
Ministerium ist Initiator.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412106800
Sie gestatten keine
weitere Zwischenfrage, wenn ich es richtig verstanden
habe. – Danke schön.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ich würde noch gern wissen, ob der Frau Kollegin bekannt ist – –)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412106900
Die Frau Kollegin ge-
stattet keine weitere Zwischenfrage. Deswegen hat sie
weiter das Wort.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412107000
Wenn sich Unternehmen in
vorbildlicher Weise daran beteiligen, können wir das nur
begrüßen.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen Gleich-

stellung werden die öffentlichen Arbeitgeber – das ist
wichtig – mit gutem Beispiel vorangehen. Dazu schaffen
wir das Gleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung.
Es ist auch höchste Zeit; denn das alte Frauenfördergesetz
für die Bundesverwaltung, das wir Ihnen, meine Herren
und Damen von der CDU/CSU und F.D.P., verdanken, hat
leider keine durchgreifenden Erfolge erzielt. Mit Ihrem
Antrag kritisieren Sie von der CDU/CSU sogar die Er-
gebnisse Ihrer eigenen Politik in der Vergangenheit.

Gleichstellung im öffentlichen Dienst allein reicht
nicht aus. Erreichen wir dort nur 3,7 Millionen der be-
schäftigten Frauen, sind es in der Privatwirtschaft 12 Mil-
lionen. Deshalb werden wir in den kommenden Monaten
ein Gleichstellungsgesetz auch für die Privatwirtschaft
vorlegen. Denn wir wissen, Frauen ziehen auf dem Ar-
beitsmarkt nach wie vor den Kürzeren: bei der Ausbil-
dungsplatz- wie bei der Arbeitsplatzsuche, bei den beruf-
lichen Aufstiegschancen, bei der Bezahlung. Selbst wenn
sich Frauen tatsächlich dazu entscheiden, einen so ge-
nannten Männerberuf – zum Beispiel im Ingenieurbe-
reich – zu ergreifen, schützt sie das häufig nicht vor Ar-
beitslosigkeit. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung belegt, dass in diesen Berufsfeldern
nach wie vor Männer bevorzugt werden.

Damit ist klar: Unsere größte Herausforderung ist der
Kampf gegen die Vorurteile und Stereotype in den Köp-
fen. Sie halten sich hartnäckig bei Entscheidungsträgern
und leider auch bei Entscheidungsträgerinnen. Das macht
Ihr Antrag, meine Herren und Damen von der CDU/CSU,
ganz besonders deutlich. Ihr zentraler Vorschlag, explizit
mehr Frauenarbeitsplätze im Telebereich zu schaffen,
zeigt das Rollenverständnis, das Sie nach wie vor pflegen:
Die Frau soll Heimarbeit leisten und so wiederum Fami-
lien- und Erwerbsarbeit allein schultern. Das entspricht
nicht unseren Vorstellungen.

Bei vielen herrscht immer noch die irrige Annahme
vor, Gleichstellung sei eine kostspielige Angelegenheit
und nicht finanzierbar. Dabei ist es im Interesse der Wirt-
schaft, die Qualifikation und das Leistungspotenzial der
Frauen besser zu nutzen. Alles andere ist skandalöse Ver-




Christel Humme

11591


(C)



(D)



(A)



(B)


schwendung von Ressourcen, eine Verschwendung von
Wissen, Bildung und Erfahrung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das erkennen immer mehr Betriebe. Wenn Sie, Frau
Störr-Ritter, an den fünf Dialogforen teilgenommen hät-
ten – Sie hätten diese Möglichkeit gehabt –, hätten Sie si-
cherlich auch erfahren, welche Möglichkeiten gerade in
den Betrieben und den Unternehmen, die Sie immer so
gern unterstützen, gegeben sind. Ich möchte Ihnen nur ein
Beispiel nennen, und das stammt aus einem mittelständi-
schen Unternehmen, nicht aus einem großen Konzern.
Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Schwäbi-
schen hat einen Betriebskindergarten errichtet, Kosten:
140 000 DM pro Jahr. Auf die Frage aus einem anderen
Unternehmen „Wie könnt ihr euch das nur leisten?“ folgte
die Gegenfrage: Wie hoch ist euer Krankenstand? – Der
Kollege: Ganz normal, er liegt bei 5 bis 6 Prozent. – Das
können wir uns nicht leisten, so der schwäbische Mittel-
ständler. Der Krankenstand seines Unternehmens liegt bei
nur 2 bis 3 Prozent. Jeder Prozentpunkt Krankenstand we-
niger bedeutet für das Unternehmen Einsparungen von
mehreren hunderttausend Mark.

Sie sehen, meine Herren und Damen von der
CDU/CSU und der F.D.P.: Es geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dorothea Störr-Ritter [CDU/CSU]: Wir sehen: Es ist ohne Zwang!)


Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen
führen nicht zwangsläufig, wie Sie beschreiben, in den
Ruin, sondern erhöhen im Gegenteil den Profit, womit
auch Ihre These widerlegt ist. Wir finden, es ist etwas An-
ständiges, Frau Störr-Ritter, Gewinn zu machen, und das
auch mit den Frauen. Denn Frauen sind nicht unbedingt
ein Verlustfaktor, wie Sie unterstellen.


(Beifall bei der SPD)

Frau Lenke, Sie haben darauf verwiesen, dass Sie ge-

rade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen
Verständnis wecken wollen. Auch Ihnen hätte ich geraten,
an diesen Dialogforen teilzunehmen; denn dort wurde
deutlich, dass gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen hervorragende, kreative Lösungen zur
Gleichstellung von Frauen und Männern entwickelt ha-
ben und mit Erfolg praktizieren. Das gilt für Traditions-
unternehmen genauso wie für Unternehmen im Bereich
der New Economy.

Frau Störr-Ritter, wir freuen uns natürlich genauso wie
Sie, dass es viele gute Beispiele unter den Unternehmen
gibt, die wir selbstverständlich unterstützen wollen. Den-
noch müssen wir sagen, dass die Zahl der Betriebe in der
Bundesrepublik, die ihren Blick auf die Gleichstellung
richten, angesichts der Gesamtzahl von 2 Millionen Be-
trieben bedauerlicherweise noch zu gering ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ich möchte wissen, wie viele das sind!)


Darüber täuscht Ihre positive Darstellung nicht hinweg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darum werden wir noch etwas nachhelfen.

(Ina Lenke [F.D.P.]: Was meinen Sie mit „nachhelfen“? – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Druck!)


– Das werde ich Ihnen jetzt erklären. Sie hätten im letzten
Jahr eine Eigenschaft mehr pflegen müssen, nämlich das
Zuhören. Das wäre nicht schlecht gewesen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Ich höre immer zu, Frau Kollegin! Jetzt reicht es so langsam!)


– Das „nachhelfen“ erkläre ich Ihnen jetzt, Frau Lenke,
ganz persönlich, wenn Sie so wollen.

Wir werden das mit unserem Gleichstellungsgesetz für
die Privatwirtschaft tun.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Da haben Sie nur eine Seite genannt!)


– Hören Sie doch einmal zu! – Unser Gesetz wird die Un-
ternehmen verpflichten, Maßnahmen zur Chancengleich-
heit zu verwirklichen. Aber jedes Unternehmen soll
zunächst selbst entscheiden können – das finde ich ganz
wichtig –, welche Maßnahmen geeignet sind. Das ist gut
so; denn jeder Betrieb kennt seine Voraussetzungen am
besten und kann so individuell reagieren.

Deshalb sieht unser Gesetz zwei Stufen vor.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412107100
Nun möchte die Kol-
legin Lenke Sie etwas fragen.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412107200
Ja, wenn es sein muss.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412107300
Bitte sehr.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1412107400
Frau Kollegin, Sie haben eben
wörtlich gesagt, dass dieses Gleichstellungsgesetz für je-
des Unternehmen gelte. Ich möchte gerne nachfragen, ob
das auch in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist. Ich habe
nämlich beim Ministerium angefragt. Zu diesem Zeit-
punkt stand die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter, ab der das Gleichstellungsgesetz für die Privat-
wirtschaft gelten soll, noch nicht fest. Ich bedanke mich
herzlich dafür, dass Sie hier gesagt haben: jedes Unter-
nehmen.


(Andrea Nahles [SPD]: Was war denn das für eine Frage? – Susanne Kastner [SPD]: Was hast du denn gefragt, Ina?)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412107500
Es war mehr eine
Kurzintervention. Aber das ist in Ordnung. – Frau Kolle-
gin, Sie haben das Wort.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1412107600
Selbstverständlich würden
wir uns freuen, wenn jedes Unternehmen unser Ziel der
Gleichstellung verwirklichen würde. Das ist gar keine
Frage.




Christel Humme
11592


(C)



(D)



(A)



(B)


Zurück zu dem Gesetz, das wir verabschieden wollen.
In der ersten Stufe werden wir Mindeststandards festle-
gen. Diesen Punkt hat die Frau Staatssekretärin bereits er-
wähnt. Es ist dann die Aufgabe der Betriebs- und Tarif-
partner, diese Mindeststandards zu erfüllen.

Allerdings sind die Maßnahmen nicht beliebig, son-
dern müssen überprüfbar sein. Sie müssen Kernbereiche
der betrieblichen Gleichstellung erreichen. Dazu gehören
unter anderem die Verankerung des „gender mainstrea-
ming“ als unternehmerisches Leitbild, die betriebliche
Umsetzung des Lohngleichheitsgebots, die Erhöhung des
Frauenanteils in Führungspositionen, die Einführung fa-
miliengerechter Arbeitszeiten sowie die Qualifizierung
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während der Unter-
brechung der Erwerbsarbeit. Die Unternehmen erhalten
eine angemessene Frist, die ihnen die Erfüllung der Min-
deststandards ermöglicht.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Und dann?)

Führen die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einem

überprüfbaren Ergebnis, greifen die gesetzlichen Vor-
schriften. Unser Gesetz setzt also in der ersten Stufe ganz
und gar auf Freiwilligkeit. In der zweiten Stufe werden
bei Nichterfüllung Sanktionen greifen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Welche denn?)

Wir werden uns im Rahmen der politischen Debatte

noch Gedanken darüber machen müssen, wie diese Sank-
tionen aussehen könnten. Ganz nach dem Vorbild der
USA könnten die Unternehmen, die sich der Gleichstel-
lung verweigern, von der öffentlichen Auftragsvergabe
ausgeschlossen werden. In den USAwird eine solche Po-
litik äußerst erfolgreich betrieben, und das schon seit Jahr-
zehnten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Aber andere Dinge wollen Sie nicht aus den USA übernehmen!)


Im Übrigen, Frau Lenke: Deutsche Unternehmen, die
in den USA tätig sind, erfüllen die dortigen strengen
gleichstellungsrechtlichen Auflagen widerspruchslos.
Das geht dann plötzlich.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ohne irgendwelche Klagen!)


Das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft ist
das Herzstück unserer Frauen- und Familienpolitik. Für
die Durchsetzung von Gleichstellung werden wir weitere
gesetzliche Regelwerke nutzen. Das gilt für die anste-
hende Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes ge-
nauso wie für die Überprüfung der Einführung eines Ver-
bandsklagerechts.

Die Schweiz hat das Verbandsklagerecht mit Erfolg
eingeführt. Dort kommt es in der Regel überhaupt nicht
mehr zu Klagen; denn aus Furcht vor der Klage vermei-
den die Arbeitgeber Diskriminierung schon im Vorhinein.
Das Verbandsklagerecht hat also eine große präventive
Wirkung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kollegen und Kolleginnen, mit unserem Gleich-
stellungsgesetz für die Privatwirtschaft machen wir genau
das, was die Bevölkerung von uns erwartet; denn die
Mehrheit der Deutschen begrüßt eine aktive Gleichstel-
lungspolitik, besonders zur Herbeiführung gleicher Auf-
stiegschancen und gleicher Bezahlung für Frauen und
Männer. Auch das ist das Ergebnis der anfangs schon er-
wähnten Umfrage. Diese Erwartung der Bevölkerung er-
füllen wir natürlich gern. Dafür haben wir die ersten
16 Monate seit der Verabschiedung des Programms „Frau
und Beruf“ hervorragend genutzt.

Ich betone noch einmal: Wir haben diese 16 Monate
besser genutzt als Sie, meine Herren und Damen von der
CDU/CSU und F.D.P., die 16 Jahre Ihrer Regierungsver-
antwortung. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzu-
stimmen; denn, Frau Bläss, ich bin sicher, dass die nächs-
ten 24 Monate so genutzt werden, dass wir hinterher
gemeinsam sagen können: Beim Thema Frau und Beruf
ist nicht nur ein Aufbruch gemacht, da ist endlich ein
Durchbruch geschafft.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412107700
Nun hat die Kollegin
Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1412107800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Humme, Sie sa-
gen, wir hätten nicht wahrgenommen; Frau Kollegin
Störr-Ritter hätte nicht wahrgenommen, die CDU hätte
nicht wahrgenommen. Wir nehmen wahr, dass die Frau
Staatssekretärin ganz einsam und verlassen auf der Re-
gierungsbank sitzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist eine Aussage, die wir festigen können. Ist Frau-

enarbeitslosigkeit, Frauenförderung kein Thema mehr für
uns? Es scheint ja so zu sein. Dann wundere ich mich al-
lerdings, dass Sie Anträge stellen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Fensterreden halten!)


Wenn man über Anträge spricht, dann muss auch die Re-
gierung vertreten sein; denn sie muss die Anträge umset-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich mahne eine bessere Besetzung der Regierungsbank

an und danke Ihnen, Frau Staatssekretärin, dass Sie da
sind.

Frauenarbeitslosigkeit und Frauenförderung ist im-
mer noch ein Thema in Deutschland und in Europa. Wir
alle wissen um die Probleme. Aber die Realität zeigt, dass
sich nicht viel geändert hat. Sowohl in der EU als auch in
der Bundesrepublik ist die Arbeitslosenquote bei den
Frauen höher als die entsprechende Quote der Männer.

In der Lebensplanung von Frauen nimmt die Erwerbs-
tätigkeit einen wesentlichen Platz ein. Veränderte Ge-
sellschaftsstrukturen tragen dazu bei. Aber trotz hoher




Christel Humme

11593


(C)



(D)



(A)



(B)


Motivation und ausgezeichneter Qualifikation der Frauen
ist ihre Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt noch
nicht erreicht. Wir haben keine Gleichstellung der Ge-
schlechter. 1999 verdienten die Frauen in den alten Bun-
desländern im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre
männlichen Kollegen; in den neuen Ländern waren es
10 Prozent. Ich denke, das ist aussagekräftig.

Obwohl Frauenbeauftragte und Frauenförderung in
vielen Betrieben und auch bei öffentlichen Dienstleistern
zum festen Bestandteil gehören, sind lediglich 3 Prozent
der Führungspositionen in der Wirtschaft mit Frauen be-
setzt. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder an
Unternehmen und Betriebe appelliert, Frauen in die Chef-
etagen zu lassen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber das Appellieren hat offensichtlich nichts genutzt!)


Jetzt fassen wir uns einmal an die eigene Nase, Frau
Kollegin: Wie sieht das hier im Parlament, in der Politik
aus? Wir haben drei hohe Staatsämter. Die alte Bundesre-
gierung hat es zumindest geschafft, eine Position mit ei-
ner Frau zu besetzen. Sie haben keine davon mit einer
Frau besetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich setze noch eins drauf. Ich weiß, dass Ihnen das

wehtut, gerade Ihnen, werte Kolleginnen von der SPD
und den Grünen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das tut uns nicht weh, weil Sie das alles nicht geschafft haben, was wir jetzt schaffen!)


– Wenn es Ihnen nicht wehtäte, würden Sie jetzt nicht rea-
gieren. – Selbst in der Partei haben wir eine Frau an der
Spitze. Davon sind Sie noch weit entfernt. Ich weiß, dass
Ihnen das wehtut und dass Sie das nicht gerne hören. Aber
ich sage Ihnen: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und
wählen auch Sie Frauen in hohe Parteiämter


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Staatsämter auch!)


und Staatsämter; denn nur wenn mehr Frauen verantwor-
tungsvollere Positionen einnehmen und dabei das gleiche
Gehalt wie die männlichen Kollegen bekommen, wird
sich das neue Frauenbild in den Köpfen leichter verwirk-
lichen lassen. Doch davon sind wir noch weit entfernt.
Weibliche Führungskräfte bleiben bei den meisten Unter-
nehmen, in Wissenschaft, in Forschung, in den Parteien
und in der Politik weiterhin die Ausnahme.

Eine der Ursachen dafür ist sicherlich die starke Kon-
zentration der Frauen auf traditionelle Frauenberufe. Der
Strukturwandel innerhalb der Gesellschaft hin zu einer In-
formationsgesellschaft erfordert den Erwerb neuer
Schlüsselqualifikationen. Leider befindet sich momentan
nur ein geringer Teil von Frauen in fachspezifischen Aus-
bildungen und Berufen der Informations-, Medien- und
Technologiebranche. Daher ist hier eine gezielte Frauen-
förderung nötig.

Die Zahl der erwerbstätigen Frauen, die ein Unterneh-
men gründen und sich selbstständig machen, ist ebenfalls

sehr gering. Lediglich 6 Prozent wagen diesen Schritt.
Warum tun sich Frauen so schwer? Wir haben einige
Begründungen gehört, aber ich meine, das Hauptproblem
ist und bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Oft scheitern die Erwerbstätigkeit und der berufliche Auf-
stieg von Frauen an der Nichtvereinbarkeit von Familie
und Beruf.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])

Job und Familie müssen zusammenpassen.


(Andrea Nahles [SPD]: Da muss man aber auch Konsequenzen ziehen!)


– Ich sage Ihnen gleich, was wir gemacht haben. Darauf
können Sie aufbauen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Für 77 Prozent der Frauen ist die Vereinbarkeit von Fa-

milienleben und Beruf das Allerwichtigste. Wer je einen
Haushalt organisiert hat, weiß, welchen Spagat man dabei
leisten muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Berufstätigkeit und Elternschaft miteinander zu vereinba-
ren darf in einer modernen Gesellschaft nicht das aus-
schließliche Problem von Frauen sein. Hier ist echte Part-
nerschaft gefragt, Partnerschaft in der Familie und
Partnerschaft in der Arbeitswelt.

Moderne Arbeitszeitmodelle, die Platz für ein Leben
mit Kindern in einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung
lassen, müssen entwickelt werden. Kindererziehung darf
sich nicht nachteilig auf das Erwerbsleben auswirken. Es
gilt, familienfreundliche Unternehmensstrukturen zu
schaffen. Familien müssen eine deutliche Unterstützung
vonseiten der Unternehmer erhalten.

Die bestehende Förderung von Teilzeitarbeit auch für
Fach- und Führungskräfte muss ausgebaut werden. Meine
Damen und Herren der Koalition, setzen Sie die gute Ar-
beit der alten Regierung fort, dann sind Sie auf dem rich-
tigen Wege.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Um Gottes willen!)


Politik muss angemessene Rahmenbedingungen zur
besseren Vereinbarkeit schaffen, insbesondere im Bereich
der Kindererziehung. Gefragt ist hier ein bedarfsgerech-
tes Angebot. Aufgrund unterschiedlicher persönlicher
Wünsche, verschiedener Familienphasen und sich än-
dernder Lebenssituationen muss das bestehende Betreu-
ungsangebot flexibel ausgebaut und weiterentwickelt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Frau Staatssekretärin, Sie stehen hier im Wort.

Lassen Sie uns gemeinsam in Zusammenarbeit mit Län-
dern und Kommunen für eine Weiterentwicklung des Be-
treuungsangebots sorgen. Maßnahmen für Krippen- und
Hortplätze, Tagespflege und Schulbetreuung dürfen nicht
– wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – auf der
Stelle treten oder dem Rotstift zum Opfer fallen.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Ingrid Fischbach
11594


(C)



(D)



(A)



(B)


Neue eindrucksvolle Ideen sind gefragt. Nehmen Sie
das Beispiel Saarland. Hier wird die Finanzierung im Kin-
dergartenbereich neu überdacht, und zwar zugunsten der
Familien. Das ist die richtige Politik. Es ist eine Politik für
Familien, für Frauen. Davon können Sie noch lernen, da
bin ich sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn Ihre augenblickliche Politik belastet Familien und
Frauen und entlastet sie nicht. Frauen sind in Ihrer Politik
sowieso die großen Verliererinnen.


(Lachen bei der SPD – Susanne Kastner [SPD]: Das hätten Sie nicht sagen dürfen! Mit Ihren Initiativen sind Sie in Ihrer Partei immer gescheitert!)


– Ihnen wird das Lachen noch vergehen.
Ich habe hier im letzten Jahr zu den 630-Mark-Jobs ge-

redet. Jetzt bleiben wir einmal bei der aktuellen Renten-
politik. Hier haben Sie sich als Frauenförderer auf die
Fahne geschrieben, dass Sie etwas für die Frauen tun.
Kommen deshalb die eigenständige Alterssicherung und
die Rente in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor? Haben Sie
letztes Jahr schon gewusst, dass die Frauen wieder auf der
Strecke bleiben?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Betretenes Schweigen bei der SPD!)


Wo war denn die Frau Ministerin bei der Beratung der
Rentenreform? Wenn das das Ergebnis Ihrer Frauenpo-
litik ist, dann muss ich sagen: Ausnahmsweise schließe
ich mich dem „Stern“ an, Frau Ministerin: Note: mangel-
haft!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Januar haben Sie im Ausschuss noch großmütig auf

die Rentenkonsensgespräche verwiesen und gesagt, es
gebe eine große Übereinstimmung über die verstärkte An-
erkennung von Kindererziehungszeiten. Frau Schewe-
Gerigk, Sie haben das gerade noch einmal deutlich ge-
macht. Allerdings steht jetzt im fünften Entwurf – ob es
der fünfte Entwurf oder schon der sechste ist, ich bin mir
nicht mehr sicher – von Riester, dass nur Teilzeitbeschäf-
tigte einen sozialen Ausgleich erhalten. Die Kindererzie-
hungsleistungen von Vollerwerbstätigen werden nicht
besser anerkannt.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie müssten das lesen, bevor Sie so was sagen! Erst lesen, dann reden!)


Ist das gerechte Frauenpolitik?
Sie bewerten Kindererziehung unterschiedlich, näm-

lich in Abhängigkeit von Kinderzahl, von Erwerbstätig-
keit und von dem damit verbundenen Verdienst.

Ich möchte folgenden Punkt in Erinnerung rufen,
meine Damen und Herren der Koalition: Sie schreiben
sich die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf
Ihre Fahne. Es war die alte Bundesregierung aus
CDU/CSU und F.D.P., die es möglich gemacht hat, dass
Kindererziehungszeiten überhaupt angerechnet werden.
Es war die alte Bundesregierung, die die additive Anre-
chenbarkeit ermöglicht hat. Es war die alte Bundesregie-

rung, die den entsprechenden Betrag auf 100 Prozent des
Durchschnittlohns angehoben hat. Das waren nicht Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wo bleibt bei Ihnen überhaupt die Mutter mit einem

Kind, die nicht erwerbstätig ist? Die kommt bei Ihnen
überhaupt nicht vor. Das ist für mich reine ideologische
Frauenpolitik und nichts anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten

sollten kindererziehungsbedingte Nachteile, unabhängig
von der Erwerbstätigkeit, in stärkerem Maße als bisher
ausgeglichen werden.

Die Frauen, die Kinder vor 1992 geboren haben, kom-
men bei Ihnen überhaupt nicht vor. Auf diesen Punkt gehe
ich nun nicht näher ein.


(Hildegard Wester [SPD]: Die kamen doch bei Ihnen auch nicht vor! Was erzählen Sie denn? Immer wie Sie das gerade brauchen!)


Auch bei dem Ausgleichsfaktor sind die Frauen stärker
betroffen als die Männer. Maßstab Ihrer Berechnungen ist
der „Eckrentner“ mit 45 Versicherungsjahren. Sie selber
wissen, dass Frauen viel weniger Versicherungsjahre ha-
ben. Die tatsächliche Rente einer Frau läge in Zukunft
also deutlich unter 61 Prozent. Ist das Ihre Antwort auf die
Vermeidung von Altersarmut? Ist das Ihre Antwort auf
eine eigenständige Alterssicherung der Frau? Wir sagen
dazu: nein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie Ihren großen Sprüchen auch Taten folgen.

Lassen Sie die Frauen nicht wieder im Regen stehen! Las-
sen Sie Frauen zu Gewinnerinnen werden. Wir helfen Ih-
nen dabei. Stimmen Sie unserem Antrag zu.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412107900
Jetzt hat die Kollegin
Andrea Nahles, SPD-Fraktion, das Wort.


Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1412108000
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wenn ich mir die Redebeiträge
der CDU/CSU-Fraktion vor Augen führe, dann muss ich
feststellen, liebe Frau Fischbach, dass eine Frau an der
Spitze einer Partei leider noch nicht zu einer guten Gleich-
stellungs- und Frauenpolitik führt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir Frauen in der SPD machen mit Gerhard Schröder lie-
ber konkrete Gesetze zur Gleichstellung der Frau, als uns
nur in allgemeinen Appellen zu ergehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU – Manfred Grund [CDU/CSU]: Wollen Sie von dem „Gedöns“ reden, von dem Schröder einmal geredet hat?)


Das möchte ich an einem konkreten Beispiel deut-
lich machen: Wenn ich mir die Ausführungen Ihrer Partei-
vorsitzenden Frau Merkel – sie war doch einmal




Ingrid Fischbach

11595


(C)



(D)



(A)



(B)


Frauenministerin – zu diesem Thema ansehe, dann ist da
außer allgemeinen Appellen nichts zu finden. Ich darf sie
zitieren: „Wir wollen auch Vätern Mut machen, sich stär-
ker in der Familienarbeit und in der Erziehung zu enga-
gieren.“ Wo war Ihr Mut, als es darum ging, hier die Re-
form des Bundeserziehungsgeldes zu verabschieden? Da
haben Sie versagt und haben abgelehnt.


(Beifall bei der SPD)

Bei allgemeinen Appellen sind Sie also stark. Wenn es
aber konkret wird, dann kneifen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU.

Kommen wir zu der Situation in den Ländern und se-
hen wir uns einmal an, was Sie machen, wenn Sie an die
Macht kommen. In Hessen hatten wir beispielsweise ein
sehr gutes Modell von Grundschulen mit festen Öff-
nungszeiten. Das haben die Kollegen von der CDU in
Hessen durch ein billiges Betreuungsangebot ersetzt,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Was macht denn Niedersachsen?)


das vielen Frauen nicht einmal ermöglicht, auch nur eine
Halbtagsstelle anzunehmen. Da kann ich als Rheinland-
Pfälzerin mit Stolz auf die volle Halbtagsschule in Rhein-
land-Pfalz verweisen. Dort sind Sozialdemokraten in Re-
gierungsverantwortung. Das negative Beispiel haben wir
in Hessen.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412108100
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Annette
Widmann-Mauz? – Bitte sehr, Frau Kollegin, Sie haben
das Wort.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1412108200
Frau Kolle-
gin Nahles, stimmen Sie mir zu und ist es richtig, dass das
Land Rheinland-Pfalz, das Sie gerade erwähnt haben, das
Landeserziehungsgeld für Mütter im dritten Erziehungs-
jahr nach der Regierungsübernahme der Sozialdemokra-
ten abgeschafft hat? Stimmen Sie mir außerdem zu und ist
es richtig, dass das Land Baden-Württemberg, das von der
CDU regiert wird, das Landeserziehungsgeld nach wie
vor bezahlt und die Einkommensgrenzen angehoben hat?


Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1412108300
Ich stimme Ihnen nicht zu,
und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir die durch
diese Kürzungen freigewordenen Mittel in eine aktive
Frauenförderpolitik umgeleitet haben.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann Ihnen auch ein Beispiel nennen. Wir haben in
Rheinland-Pfalz ein Programm aufgelegt, das es jungen
Müttern, die Sozialhilfeempfängerinnen sind, durch ver-
schiedene Modellvorhaben ermöglicht, wieder erwerbstä-
tig zu sein, indem wir ihnen einen Zuschlag auf das Kin-
dergeld zahlen. Hier tun wir konkret etwas für Frauen.
Dorthin sind die Mittel in Rheinland-Pfalz geflossen. Ge-
nauso ist es uns durch die betreute volle Halbtagsschule,

wie ich es schon ausgeführt habe, gelungen, die Start-
chancen zu verbessern.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412108400
Frau Lenke möchte
eine Zwischenfrage stellen, Frau Kollegin.


Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1412108500
Nein, ich glaube nicht, dass
dies noch etwas zur allgemeinen Erhellung beiträgt. Des-
wegen lehne ich es ab.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Zu Ihrer Erhellung trägt es bei! Sie haben keine Ahnung!)


Der zentrale Punkt beim Programm „Frau und Beruf“
der Sozialdemokraten ist, dass wir von vornherein Frau-
enpolitik als Querschnittsaufgabe betreiben. Ich bin im
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung. Als wir das
JUMP-Programm aufgelegt haben, war es für uns von An-
fang an selbstverständlich, dass wir die jungen Frauen
gemäß ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit in dieses För-
derprogramm mit integrieren. Wir haben 38 Prozent junge
Frauen, die unter 25 Jahre alt und arbeitslos sind. Es ist
uns sogar gelungen, 43 Prozent junge Frauen in dieses
Programm zu integrieren und ihnen auf diesem Wege ei-
nen Start ins Erwerbsleben zu verschaffen. Daran können
Sie ganz konkret sehen, was wir tun.

Zum Zweiten wird auch das, liebe Frau Bläss, in die
SGB-III-Reform Einzug halten. Wir werden auch dafür
sorgen, dass die Arbeitsförderung von Frauen gemäß
ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit ins Arbeitsförde-
rungsgesetz aufgenommen wird. Das können Sie von uns
erwarten. Auf diesem Auge sind wir nicht blind, wie es die
alte Regierung gewesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch als Letztes hinzufügen: Trotz aller
Punkte, die Sie hier genannt haben – ich bin besonders
über die Frauen in Ihrer Fraktion enttäuscht –, schaffen
Sie es nicht, über allgemeine Willenserklärungen hinaus-
zukommen und mit uns zusammen wirklich konkrete
Schritte zu unternehmen. Das ist für die Frauen sehr be-
dauerlich.

Aber nehmen Sie zur Kenntnis: Wir werden uns nicht
abhalten lassen. Wir werden die Erwerbsbeteiligung von
Frauen, die zurzeit in Westdeutschland bei 61 Prozent und
in Ostdeutschland bei 73 Prozent liegt, konsequent för-
dern. Unser Ziel ist es, dass sich am Ende unserer Regie-
rung dieser Anteil von Frauen an der Erwerbstätigkeit
deutlich gesteigert haben wird. Daran können Sie uns
messen. Wir werden dann Bilanz ziehen. Darauf freue ich
mich schon.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412108600
Nun hat die Kollegin
Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.




Andrea Nahles
11596


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1412108700
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit ist natürlich vor
allem auch eine Frage der richtigen Wirtschaftspolitik. Ich
finde es schon sehr bedauerlich, dass der Bundeswirt-
schaftsminister bei dieser Debatte nicht anwesend ist.
Dies zeigt die gesamte Ignoranz und das Desinteresse der
Bundesregierung an der Frauenpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Frau Nahles, das Einzige, was ich von Ihnen an Kon-
kretem zur Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit gehört
habe, sind neue Leitlinien, gesetzliche Regelungen und
Zwangsquoten.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ganzheitlicher Ansatz!)


Aber mit noch mehr Regulierung und vor allem noch
mehr Bürokratie werden Sie die Beschäftigung von
Frauen nicht fördern, sondern im Gegenteil: Sie werden
sie behindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben doch parteiübergreifend alle ein Ziel, näm-
lich wirkliche Chancengleichheit für Frauen auf dem Ar-
beitsmarkt herzustellen. Aber die Frage ist doch, wie und
mit welchen Mitteln wir das erreichen wollen. Darin
unterscheiden wir uns völlig. Ihre Ansätze mit Zwangs-
quoten und Regulierung sind einfach nicht mehr zeit-
gemäß.


(Beifall der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])

Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass wir uns ge-
rade jetzt in einem enormen Wandel befinden: von der al-
ten Industriegesellschaft zur modernen Wissens- und In-
formationsgesellschaft.

Was heißt das denn? Das heißt, dass sich nicht nur un-
sere Wirtschaft enorm und immer schneller verändert,
sondern auch die Arbeitswelt, die Arbeitszeit, die Arbeits-
organisation und damit natürlich auch unsere gesell-
schaftlichen Strukturen und – was entscheidend ist – un-
sere gesellschaftlichen Leitbilder.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412108800
Frau Kollegin, ich
darf Sie eben unterbrechen. Frau Schwaetzer, ich finde es
ein bisschen unfair, wenn man der Kollegin Rednerin den
Rücken zukehrt, um sich mit Kolleginnen und Kollegen
– zumal aus der eigenen Fraktion; wie soll ich denn das
verstehen? – zu unterhalten.


Dr. Martina Krogmann (CDU):
Rede ID: ID1412108900
Frau
Schwaetzer, ich nehme es Ihnen nicht übel, weil ich ja
weiß, dass Sie zugehört haben.

In der alten Industriegesellschaft war der typische,
klassische Arbeitnehmer männlich, vollzeitbeschäftigt,
hatte einen Achtstundentag und eine Vierzigstundenwo-
che bei durchschnittlich 45 Jahren Erwerbsarbeit – meist
auch noch in der gleichen Firma – bis zur Rente und an

seiner Seite waren Frau und Familie. Diese Rollenvertei-
lung war früher vorgegeben. Natürlich hat sich hier in den
letzten 50 Jahren vieles geändert – das möchte ich einmal
positiv hervorheben –, aber immer noch nicht genug.

Wie sieht es denn heute aus? Auf dem Weg in die In-
formationsgesellschaft wird es entscheidend darauf an-
kommen, flexibel zu sein. Die Zukunft der Arbeitswelt
liegt in flexiblen Arbeitsverhältnissen: Projektarbeit, Teil-
zeitarbeit, verschiedene Formen der Telearbeit. Es wird
mehr Formen der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung
geben, Phasen der Selbstständigkeit und wieder Phasen
der Erwerbsarbeit.

Dieser fundamentale Wandel, diese neue Dynamik bie-
ten gerade jetzt entscheidende Chancen für uns Frauen,
substanziell etwas zu verändern. Wir haben die große
Chance, alte Strukturen wirklich aufzubrechen und wirk-
liche Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu errei-
chen. Aber dazu brauchen wir in allererster Linie positive
Rahmenbedingungen. Wir brauchen nicht mehr die star-
ren Strukturen von gestern, sondern wir brauchen weniger
Regulierung, mehr Dynamik und mehr Flexibilität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil. Sie

versuchen gerade jetzt, unsere Arbeitsmärkte in das starre
Korsett der alten Industriegesellschaft der 70er-Jahre
zurückzupressen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Was versuchen wir?)


Man denke an die schlimmen Neuregelungen bei den 630-
Mark-Jobs, beim Kündigungsschutz, beim Gesetz zur
Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit – die Beispiele
sind ja vorhin schon mehrfach genannt worden. Es kommt
jetzt noch schlimmer, mit dem Gesetz zur Teilzeitarbeit
und den befristeten Arbeitsverträgen. Damit würgen Sie
die dynamische Entwicklung der Informationswirtschaft
ab und verhindern neue Chancen gerade für uns Frauen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch albern, Frau Kollegin!)


Wo entstehen denn die neuen Arbeitsplätze, Herr Kol-
lege?


(Detlev von Larcher [SPD]: Alle in der New Economy!)


Sie entstehen doch nicht mehr vorrangig im produzieren-
den Gewerbe und in der Industrie, sondern im Dienstleis-
tungsbereich – hier vor allem im Bereich der neuen Me-
dien und der modernen Informationstechnologien.
Schätzungen zufolge könnten hier in den nächsten Jahren
rund 500 000 neue Arbeitsplätze entstehen.

Das heißt doch für uns Frauen: Die Chancen sind jetzt
da, die Karten werden nun neu gemischt. Wir wollen hier
nicht noch in zehn Jahren stehen und über die spezifischen
Probleme von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sprechen.
Wir wollen nicht, dass Frauen in der Internetwirtschaft
immer wieder nur die schlecht bezahlten Jobs abkriegen,
sondern wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen






(C)



(D)



(A)



(B)


und wirkliche Chancengleichheit auf dem Weg in die Wis-
sens- und Informationsgesellschaft.


(Andrea Nahles [SPD]: Aber Wollen allein reicht nicht!)


Aber gerade im Bereich der neuen Technologien müs-
sen wir Frauen noch aufholen; das ist die Wahrheit. In den
neuen Medienberufen haben wir nur einen Frauenanteil
von 25 Prozent.Von allen Internetnutzern in Deutschland
sind nur ein Drittel Frauen – damit liegen wir in Europa
unter dem Schnitt. Deshalb ist es extrem wichtig, heute
vor allem den Zugang von jungen Frauen und Mädchen
zu den neuen Technologien zu fördern. Wir müssen ihnen
Chancen bieten und ihr Interesse wecken – und das muss
in der Schule anfangen.

Ich unterstütze die Initiative „Frauen ans Netz“ aus-
drücklich – das ist natürlich eine gute Sache –, aber sie al-
leine reicht noch nicht aus.
Das Wichtigste ist doch, dass Sie den Frauen nach dieser
guten Ausbildung auch eine Berufsperspektive geben,
dass gerade in den neuen Technologien Arbeitsplätze ent-
stehen. Hier höre ich von Ihnen auch wieder nur: EU,
quantifizierbare Ziele, neue Aktionspläne, Programme,
Sofortprogramme. Aber das ändert doch nicht wirklich et-
was an den Strukturen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir müssen dazu kommen, dass wir unsere Strukturen
gerade jetzt ändern.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Welche?)

Wir brauchen eine moderne Wirtschaftspolitik, damit
neue Arbeitsplätze in den Zukunftsbranchen entstehen,
gerade für uns Frauen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412109000
Jetzt hat die Kollegin
Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412109100
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Krogmann, es
wäre für mich ganz interessant gewesen, von Ihnen zu er-
fahren, welche Strukturen wir denn brauchen und wie eine
moderne Unternehmenspolitik aussehen soll.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Da müssen Sie ihr mehr Redezeit geben!)


Ich möchte hier die verschiedenen Positionen gegen-
überstellen, ohne noch einmal auf alles einzugehen. Frau
Kollegin Fischbach hat gesagt, wir müssten Teilzeitarbeit
fördern und man müsse fortführen, was die alte Bundes-
regierung begonnen hat. Wir legen einen Gesetzentwurf
vor, der einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit bein-
haltet, sofern dem keine betrieblichen Gründe entgegen-
stehen. Dazu wird von Ihrer Seite gesagt, damit würden
wir wieder neue Strukturen schaffen, die das Wirtschafts-
wachstum behindern.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Reglementierung!)


Ganz im Gegenteil, meine liebe Kolleginnen und Kol-
legen: Das behindert nicht das Wirtschaftswachstum.
Jene, die Sie uns immer als die so genannten großen Wirt-
schaftsfreunde vorstellen, nämlich meine Nachbarn, die
Niederländer, haben einen Rechtsanspruch auf Teilzeitar-
beit für Männer und Frauen, und zwar einen generellen.

Wir gehen die Aufgabe an, wirklich familienfreundli-
che Strukturen in Betrieben zu ermöglichen. Mit dem
Elternzeitgesetz haben wir den ersten Schritt gemacht,
weil wir es für richtig halten, dass sich junge Eltern für
ihre Kinder Zeit nehmen und dass es eine Chance gibt,
Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können.
Wir machen in der Arbeitsmarktpolitik den zweiten
Schritt, indem wir sagen: Wir wollen überall da, wo es
der Betrieb ermöglicht, einen Anspruch der Menschen
auf Teilzeitarbeit verankern. Dies ist auch deshalb not-
wendig, weil jeder weiß, dass Arbeitszeitpolitik ein
Instrument der Beschäftigungsförderung, aber auch ein
Instrument moderner Unternehmenspolitik ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Denken, dass der teilzeitbeschäftigte Vater nur et-
was lethargisch und zu faul zum Arbeiten ist, haben zwar
viele Unternehmensleitungen noch in ihrem Kopf, aber
das ist nicht gerade das, was man unter „just in time“ ver-
steht, wenn es um die Unternehmensführung geht. Was
heute von den Kollegen und Kolleginnen der beiden Ko-
alitionsfraktionen vorgestellt worden ist, sollte uns also
zumindest Anlass geben, einmal darüber nachzudenken.

Ich bin davon überzeugt, dass uns starre Gesetze nichts
helfen. Wir können vieles beschließen, aber damit haben
wir noch nicht die Unternehmenspolitik verändert. Wenn
wir aber jetzt den vorgeschlagenen Weg gehen, legen wir
es in die Verantwortung der Sozialpartner, dafür zu sor-
gen, dass das, was wir im Grundgesetz gemeinsam verab-
schiedet haben, umgesetzt wird, nämlich dass Männer
und Frauen in diesem Land gleichberechtigt sind. Es ist
daher auch Aufgabe des Staates, bestehende Ungleichhei-
ten abzubauen. Dies ist ein Weg, der auf Verantwortung
setzt, der darauf setzt – wie hier gesagt wurde –, dass jede
Branche, vielleicht auch jeder Betrieb anders ist.

Lassen Sie uns doch diesen Weg gehen! Wir brauchen
uns hier ja nicht zu erzählen, dass neue Arbeitsplätze ge-
schaffen werden müssen. Das wissen wir doch. Wir haben
eine Unternehmensteuerreform gemacht, die in diesem
Lande erst einmal wieder ein positives Investitionsklima
erzeugt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU)


– Das mag an Baden-Württemberg vorbeigehen – das
kann ich nicht so ganz beurteilen –, aber wir versuchen
wirklich, mit einer vernünftigen Arbeitszeitpolitik, mit ei-
nem vernünftigen Beschäftigungsförderungsgesetz all
das zu ermöglichen, was wir an Flexibilität brauchen.

Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Flexibilität bedeu-
tet nicht Schutzlosigkeit. Schutzlosigkeit der Arbeitneh-




Dr. Martina Krogmann
11598


(C)



(D)



(A)



(B)


merinnen und der Arbeitnehmer wird es mit uns nicht
geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb wird die Frage der Frauenbeschäftigung sehr
eng damit zusammenhängen, inwieweit es gelingt, Be-
schäftigung zu organisieren. Jetzt ein kurzes Wort zur
Kollegin Fischbach: Frau Kollegin Fischbach, ich kann
Ihnen hier nicht alles erklären, was wir in der Frage der
Rentenreform diskutiert haben;


(Susanne Kastner [SPD]: Das kann sie ja auch lesen!)


Frau Kollegin Schwaetzer wird mir Recht geben. Es ist
zwar etwas kompliziert, ich will dennoch versuchen, es in
einer Minute zu erläutern: Mit dem vorliegenden Refe-
rentenentwurf des Arbeitsministers wird für die Frauen
tatsächlich ein enormer Ausbau der eigenständigen An-
wartschaften gewährleistet.


(Beifall bei der SPD)

Es ist einfach unrichtig – Sie sollten es nachlesen, wenn
Sie mir nicht glauben –, dass nur Teilzeit beschäftigte
Frauen gefördert werden. Durch eine Veränderung der
Rente nach Mindesteinkommen schaffen wir es mit die-
sem Referentenentwurf zum ersten Mal, dass auch die An-
wartschaften der unterdurchschnittlich bezahlten, Vollzeit
beschäftigten Frauen aufgewertet werden, und zwar in der
Erziehungszeit bis zum zehnten Lebensjahr des jüngsten
Kindes.


(Beifall bei der SPD)

Es ist nicht nur so, dass Frauen Teilzeit arbeiten, wenn

sie Kinder erziehen, sondern es ist eine Tatsache, dass
Frauen unterhalb ihrer Qualifikation eingesetzt sind und
unterdurchschnittlich verdienen, weil sie Kinder haben
und Familienarbeit leisten. Das ist doch der Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit, liebe Frau Kollegin, machen wir jetzt Schluss. Wir
werten das auf.

Wir berücksichtigen mit diesem Entwurf auch Folgen-
des: Es gibt viele Frauen, die nicht erwerbstätig sein kön-
nen, weil sie ein schwerst pflegebedürftiges Kind haben.
Für diese Frauen wollen wir die Anwartschaft, die sich auf
der Einzahlung in die Pflegeversicherung gründet, bis
zum 18. Lebensjahr des Kindes aufwerten, damit diejeni-
gen, die diese Aufgabe wahrnehmen, nicht im Alter dafür
bestraft werden, dass sie sich Zeit genommen haben und
sich positiv zu einem pflegebedürftigen, behinderten
Kind bekannt haben. Wir wollen versuchen, das mit der
Rentenreform etwas auszugleichen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412109200
Frau Kollegin, den-
ken Sie an Ihre Redezeit!


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412109300
Ich könnte Ihnen hier
noch einige andere Veränderungen aufzählen, die alle ei-
nes anerkennen: Es sind vor allem die Frauen, die die Fa-

milienarbeit und die gesellschaftlich notwendige Kinder-
erziehung leisten und sie sind es eben auch, die Kinder in
die Welt setzen. Das ist einfach so. Wir versuchen, mit un-
seren Gesetzen zur Vereinbarkeit von Kindererziehung
und Beruf, zur Unterstützung der Arbeitsmarktpolitik und
mit der Rentenreform dafür zu sorgen, dass die Frauen,
die alles miteinander vereinbaren wollen, nicht noch be-
straft werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412109400
Ich gebe Frau Kolle-
gin Fischbach das Wort zu einer Kurzintervention. Sie
müssen mir zugeben, dass ich eine Zwischenfrage nicht
mehr zulassen konnte. Ich wusste nicht, wo ich einhaken
sollte.


(Heiterkeit bei der SPD)

Insofern bitte ich um Nachsicht. Frau Kollegin Schmidt
darf darauf dann selbstverständlich auch antworten.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1412109500
Frau Kollegin, ich
kann mich kürzer fassen. Sie haben sich so in Rage gere-
det, Sie waren ja gar nicht mehr zu unterbrechen. Ich finde
das gut, weil ich insofern mit meiner Äußerung wahr-
scheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen habe.

Sie haben auf meine Frage, wo die nicht erwerbstätige
Frau mit einem Kind in Ihrem Rentenkonzept bleibt, nicht
geantwortet. Ich sage ganz deutlich: Sie gewichten hier
unterschiedlich. Was Sie bei der Teilzeitarbeit machen, ist
ja positiv zu bewerten, aber Sie vergessen einen Teil der
Frauen. Wenn wir von „Wahlmöglichkeiten“ sprechen,
heißt das für mich, dass ich als Frau die Entscheidung sel-
ber treffen möchte, wie ich mein Kind erziehe, das heißt,
ob ich zu Hause bleibe oder erwerbstätig bin.


(Susanne Kastner [SPD]: Das können Sie auch!)


Und es heißt für mich auch, dass ich dann für die Kinder-
erziehung den gleichen sozialen Ausgleich bekomme wie
die anderen Frauen. Darauf sind Sie nicht eingegangen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412109600
Darauf kann nun die
Frau Kollegin Schmidt eingehen. Bitte sehr.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1412109700
Frau Kollegin
Fischbach, bei dem von Ihnen angesprochenen Problem
muss man die Frage stellen: Wofür kann die Solidarge-
meinschaft der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
aufkommen? Wir haben in der Frage, was die Gesellschaft
tun muss, eine ganze Menge geregelt. Wir haben nämlich
die Anrechnung der Kindererziehungszeiten, die ja richti-
gerweise schon 1992 in einem Umfang von drei Jahren
beschlossen worden war, zu eigenständigen Beitragsleis-
tungen gemacht. Das heißt: In diesem Jahr zahlt der Staat
22 Milliarden DM in die Rentenkasse, und zwar etwas




Ulla Schmidt (Aachen)


11599


(C)



(D)



(A)



(B)


über 800 DM pro Kind und Monat für einen Zeitraum von
insgesamt drei Jahren, damit eigenständige Beitragsleis-
tungen, die grundgesetzlich geschützt sind, gezahlt wer-
den. Damit ist zum ersten Mal Kindererziehung eine Ren-
ten begründende Maßnahme.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wieso das denn?)


– Weil sie eigene Beitragsleistungen haben.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Seit 1992 ist das!)

– Nein, Herr Kollege, das war vorher nicht. Kindererzie-
hungszeiten galten nicht als eigene Beitragszeiten. Das ist
das Erste.

Das Zweite. Beitragsleistungen von Frauen und Män-
nern, die nach dem dritten Lebensjahr ihres Kindes Teil-
zeit arbeiten oder unterdurchschnittlich verdienen, werten
wir um 50 Prozent, maximal bis zum Durchschnittsein-
kommen, auf. Das gilt für Frauen, die ein Kind haben, bis
es zehn Jahre alt ist. Bei Frauen, die mindestens zwei Kin-
der unter zehn Jahren haben, nehmen wir auch eine ent-
sprechende Höherbewertung vor. Wir gehen davon aus,
dass die jungen Frauen heute, wenn sie nur ein Kind ha-
ben, das mindestens drei Jahre alt ist, in der Regel zumin-
dest teilzeitbeschäftigt sind und sein wollen. Dann kom-
men sie in den Genuss der Höherbewertung.

Wenn sich eine Frau mit einem Kind entscheidet, zu
Hause zu bleiben,


(Zuruf von der CDU/CSU: Fällt sie durch Ihr Gitter durch!)


dann kann – bei aller Frauenfreundlichkeit – nicht mehr
die Solidargemeinschaft dafür aufkommen. Das geht nur
dann, wenn Beiträge gezahlt werden. Das ist unser Stand-
punkt von Solidarität. Sie können nicht auf der einen Seite
immer davon reden, dass wir die Rentenversicherung in
Ordnung bringen müssen, und auf der anderen Seite nur
Vorschläge machen, die die Ausgaben steigern. Im Übri-
gen, Frau Kollegin Fischbach, hat von den Herren aus Ih-
rer Fraktion, die in der Kommission sitzen, wo wir da-
rüber gesprochen haben, bisher niemand diesen Vorschlag
gemacht. Vielleicht sollten Sie das in Ihrer Fraktion ein-
mal klären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412109800
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 14/2746, und zwar zunächst zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
neuen Initiativen zur Frauenbeschäftigung. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1195 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Gegenstimmen
und Stimmenthaltungen ist so beschlossen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „Gleichstellung von Frauen und Männern im
Erwerbsleben“ auf Drucksache 14/1529 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der PDS angenom-
men.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den Antrag der CDU/CSU mit dem
Titel „Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit in
Deutschland“ auf Drucksache 14/1549 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Was macht die
F.D.P.? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die F.D.P. hat
sich mit denen zusammengetan, die für den Antrag stim-
men wollten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch das
Europäische Parlament zu den besonderen Auswirkungen
der Frauenarbeitslosigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Wer
folgt dieser Beschlussempfehlung? – Ich glaube, es kann
sich keiner gegen eine Empfehlung aussprechen, etwas
zur Kenntnis zu nehmen. Dann haben wir das zur Kennt-
nis genommen.

Ich danke den kämpfenden Damen für die interessante
Debatte.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen

(15. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Georg

Brunnhuber, Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Transrapidprojekt zügig realisieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Gesetzliche Verpflichtung zum Bau der
Transrapidstrecke Berlin – Hamburg aufhe-
ben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Rudolf Seiters, Dirk
Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Ausbau und Modernisierung der Transra-
pid-Versuchsanlage Emsland und Fortset-
zung der Planfeststellungsverfahren für die
Magnetschwebebahn-Referenzstrecke
Hamburg–Berlin

– Drucksachen 14/2359, 14/2524, 14/3183,
14/4135 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens




Ulla Schmidt (Aachen)

11600


(C)



(D)



(A)



(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1412109900
Frau Präsiden-
tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Transrapid ist eine hochmoderne und umweltfreundliche
Technologie. Er ist sprichwörtlich deutsche Wertarbeit.


(Beifall der Abg. Renate Blank wie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Bundesregierung ist leider dabei, diese hoffnungs-
volle Technologie zu zerstören.


(Zuruf von der SPD: Genau das Gegenteil ist der Fall!)


Sie gefährdet dadurch den Hochtechnologiestandort
Deutschland mit unabsehbaren Folgen für unsere Indus-
trie und unsere Wirtschaft.


(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen, dass das nicht wahr ist!)


Nach dem völlig inakzeptablen Bauverzicht auf der
Strecke Hamburg–Berlin ist es daher jetzt umso wichti-
ger, die Magnetschwebebahntechnologie für unser Land
zu sichern. Um es unmissverständlich zu sagen: Innova-
tive Politik erfordert auch die Bereitschaft zur Umset-
zung, und das heißt: zur Anwendung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daher unsere klare Forderung, die Versuchsanlage im

Emsland als Referenz- und Demonstrationsstrecke zu
modernisieren und auszubauen und die Option für die
Transrapidstrecke Hamburg–Berlin aufrechtzuerhalten.
Nach unserer Überzeugung ist die Strecke Hamburg–Ber-
lin unverändert wirtschaftlich, konstruktions- und sicher-
heitstechnisch möglich, und es war eben ein schlimmer
Fehler, dieses Projekt, in das viel Geld investiert worden
ist, zu zerstören.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es ist für uns ganz klar, dass eine maximale Kosten-
obergrenze bei 6,1 Milliarden DM – „und keine Mark
mehr“, wie es immer hieß – nicht hätte eingezogen wer-
den dürfen. Die Preisentwicklung und die Kostensteige-
rung durch Planungsverbesserungen, auch ökologischer
Art – insbesondere auch, um für die Bevölkerung Pla-
nungsverbesserungen zu realisieren – hätten wie bei sämt-
lichen anderen Infrastrukturprojekten in unserem Lande
berücksichtigt werden müssen. Wenn Sie zu gleichen Be-
dingungen eine Rad/Schiene-Strecke – nehmen Sie das
ganz prominente Projekt Köln–Frankfurt –


(Angelika Mertens [SPD]: Das haben Sie auch zu verantworten!)


oder eine Autobahn bauen wollten und diese Messlatte an-
legten, wenn also die Rahmenbedingungen lauten, es darf
von der ersten Kostenfestsetzung bis zur Realisierung

keine inflationserzeugte Kostensteigerung geben und Pla-
nungsverbesserungen müssen im Projekt aufgefangen
werden, dann gäbe es in unserem Lande überhaupt kein
einziges Infrastrukturprojekt mehr. Das sind völlig irreale
Bedingungen, die Sie hier angewandt haben, nur um diese
Anwendungsstrecke zu zerstören. Das ist ein schlimmer
Fehler, den wir kritisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Bauverzicht hat neue Impulse für den Arbeits-

markt im Keim erstickt. Tausende neuer Arbeitsplätze im
Hochtechnologiesektor werden leichtfertig ins Ausland
verschenkt, bereits vorhandene in Deutschland verant-
wortungslos vernichtet.

Die Absage an die Magnetschwebebahn schadet Ham-
burg und auch dem Aufbau Ost. Es gibt eben nicht den er-
wünschten Schub an Zukunftstechnologie für die Region
Berlin-Brandenburg und den norddeutschen Raum, eine
Region, in der wir dringend solche Technologieschübe
und Struktureffekte benötigten. Hier entsteht eben nicht
die Entwicklungsdynamik, wie sie in anderen Regionen,
auch in Skandinavien, zum Beispiel am Großen Belt, am
Öresund, durch sehr teure aufwendige Großprojekte der
Infrastruktur zu verzeichnen ist.

Auch umweltpolitisch war dies eine haarsträubende
Fehlentscheidung. Einem ökologischen Spitzenprodukt
wird der Durchbruch versagt, obwohl geringe Lärmemis-
sion, ein hohes Maß an Energiesparsamkeit, ein sehr ge-
ringes Maß an Landverbrauch und andere Vorteile unbe-
stritten für diese Technologie und ihre Anwendung
gesprochen hätten.

Die Bundesregierung hätte das Planfeststellungsver-
fahren auf der Strecke Hamburg–Berlin erfolgreich ab-
schließen müssen.
Wenn das geschehen wäre, dann wäre der Transrapid-Ver-
kehrstechnik die künftige Anwendung gesichert worden.
Aber die abrupte Beendigung der Planfeststellungsver-
fahren durch vorschnelle Rücknahme der Anträge, und
zwar kurz vor deren Abschluss, also kurz bevor man die
rechtskräftigen Beschlüsse hätte entgegennehmen kön-
nen, hat mehrere Jahre Planungsarbeit zerstört und hat
dazu geführt, dass Gelder des Industriekonsortiums und
der Steuerzahler in einer Größenordnung von 350 Milli-
onen DM weggeworfen wurden, ohne den dadurch er-
zielten Effekt zu sichern. Wenn man nicht so übereilt ge-
handelt hätte, dann hätte man die Option des Baurechts für
bis zu zehn Jahre aufrechterhalten können. Es ist
schlimm, wie hier mit dem Geld leichtfertig umgegangen
worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Mehdorns Ankündigung, ein ICE-Hochgeschwindig-
keitsverkehr zwischen Hamburg und Berlin, der die Rei-
sezeit auf 90 Minuten verkürzen sollte, sei auf einer für
350 Millionen DM ertüchtigten Strecke in nur anderthalb
Jahren möglich, war nur ein Dumpingangebot, um das
Transrapidprojekt Hamburg–Berlin kaputtzumachen.




Vizepräsidentin Anke Fuchs

11601


(C)



(D)



(A)



(B)


Hinterher wurden alle – völlig unrealistischen – Ankündi-
gungen peu à peu wieder zurückgenommen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Völlig richtig!)


Es sind viele Kollegen hier anwesend, die seine damali-
gen Worte noch im Ohr haben: Ich will diese Technologie
in meinem System nicht haben; in Deutschland und in Eu-
ropa ist das Rad-/Schienen-Netz zu eng, als dass dort eine
solche Technologie hineinpassen würde; am Ende ver-
kaufen alle ihre Patente ins Ausland, dann gibt es für
meine Bestellungen ausländische Auftragnehmer – so
Mehdorn im Ausschuss.

Was mutet uns dieser Herr zu, wenn er jetzt eine Ver-
einbarung unterschreibt, in der es heißt: „In einer Grund-
satzvereinbarung zum Transrapid“ wird „festgestellt, dass
deutsche Magnetschwebetechnik und insbesondere ihre
Realisierung in Deutschland von herausragender Bedeu-
tung für den Industriestandort Deutschland ist“ – so Meh-
dorn, vorher und nachher. Dieser Mann hat in puncto
Transrapid bei mir und meinen Kollegen in der Fraktion
jegliche Glaubwürdigkeit verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Das wird ihn wahnsinnig schmerzen!)


Herr Mehdorn hat die von mir gerade aufgeführten Ar-
gumente in der Ausschusssitzung vom 26. Januar 2000
nur benutzt, um den Transrapid sterben zu lassen. Seine
Zusagen sind inzwischen wie Seifenblasen geplatzt. So
enthielt eine Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage vom 14.April keine Angaben zu den Kos-
ten und zum Realisierungszeitraum. Mehdorn spricht
heute von einer Realisierung nicht vor 2005. Die unver-
meidbare Folge ist im Vergleich zu dem Nahverkehrszeit-
maß und -zeittakt des Transrapid eine 40 bis 50 Minuten
längere Fahrzeit auf viele Jahre hinaus.

Damit der ICE zwischen Hamburg und Berlin mit mehr
als 250 Kilometern in der Stunde fahren kann – das hat
uns Mehdorn damals als seine Zielvorstellung angekün-
digt –, sind Investitionen von mindestens 11 Milliar-
den DM in eine Neubaustrecke notwendig.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Eisenbahn-Bundesamt und Bundesregierung haben ge-
sagt: Mehdorn bekommt die für diese Geschwindigkeit
notwendige Ausnahmegenehmigung nicht. Die Bahn
plant jetzt eine Ausbaustrecke, auf der eine Strecken-
höchstgeschwindigkeit von nur noch 230 km/h möglich
ist. Es gibt in ganz Deutschland keine Ausbaustrecke, auf
der 230 Kilometer in der Stunde gefahren werden können.
Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h.

Mehr als 50 beschrankte Bahnübergänge müssen durch
Brücken und Unterführungen ersetzt werden. Die Instal-
lation einer hochgeschwindigkeitstauglichen Signaltech-
nik ist erforderlich. Trotz Ausbau muss der ICE alle Bahn-
höfe durchfahren, das heißt, Bahnsteige müssen gesichert
und das Tempo gedrosselt werden. Die Unglücke von
Eschede und Brühl sollten uns Warnung genug sein.
Hochgeschwindigkeitsfahrten durch Ortschaften sind ein

zusätzliches Sicherheitsrisiko und bedeuten zudem Lärm-
belästigung und beträchtlichen Mehrverkehr auf der
Strecke. Ein ICE ist bereits bei Tempo 200 so laut wie der
Transrapid bei Tempo 400. Das heißt also, ein abseits der
Ortschaften geführter Transrapid hätte für die Bevölke-
rung eine wesentliche Entlastung gebracht.

Die Bundesregierung baut potemkinsche Dörfer auf,
bei der ICE-Strecke Hamburg–Berlin genauso wie beim
Metrorapid in Nordrhein-Westfalen. Vor der Wahl dort
wurde versprochen: Die Strecke zwischen Köln und Dort-
mund wird geplant. Man tat so, als sei sie nahezu im Bau.
Nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen sagt die
nordrhein-westfälische Landesregierung: Wir zahlen
nicht; der Bund kann ja machen, was er will!
Das heißt, die Leute werden an der Nase herumgeführt
und das Land will keine investiven Mittel zur Verfügung
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110000
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1412110100
Ich will, Frau
Präsidentin, am Ende sagen: Die Modernisierung im Ems-
land bietet immerhin die Möglichkeit, den exportträchti-
gen Transrapid als Hightechprodukt aus Deutschland ei-
ner interessierten Weltöffentlichkeit vorzuführen und den
eigenen Standort zu präsentieren. 28 Millionen DM netto
als maximale Aufwendung pro Jahr bis 2002 sind viel zu
wenig.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


Wir brauchen eine Weiterentwicklung und keine bloße
Vorhaltung auf heutigem Niveau.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Teststrecke ist von enormer Wichtigkeit.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110200
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluss. Sie haben Ihre Zeit weit
überzogen.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1412110300
Es könnte pas-
sieren, Frau Präsidentin, dass der chinesische Premier-
minister einmal mit dem Transrapid fährt und entschei-
det, ihn in Schanghai bauen zu lassen. Wenn am Ende
herauskommt, dass die Chinesen uns in der Realisierung
in den Schatten stellen und blamieren, weil sie den Mut
zur Anwendung haben, dann wird sich diese Bundes-
regierung – auch international – endgültig öffentlich lä-
cherlich gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kommunisten werden uns blamieren!)


Wir sind nicht überzeugt, dass diese Bundesregierung
die Anwendung des Transrapids in unserem Land zu-
stande bringt. Es wird nur nach dem Prinzip Hoffnung die




Dirk Fischer (Hamburg)

11602


(C)



(D)



(A)



(B)


Fantasie der Menschen bewegt. In Wirklichkeit geschieht
bis zur nächsten Bundestagswahl überhaupt nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110400
Ich begrüße alle un-
sere Besucherinnen und Besucher herzlich, vor allen Din-
gen diejenigen, die tief und fest schlafen.


(Heiterkeit)

Nun hat der Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das

Wort.


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1412110500
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte
heute Vormittag über die Bekämpfung von Fremden-
feindlichkeit und Rechtsextremismus hat unser Kollege
Westerwelle berechtigterweise sein Befremden darüber
ausgedrückt, mit welchem Zeitaufwand und zu welchen
Tageszeiten manche Themen von uns behandelt werden.
Ich wundere mich darüber – meine Verwunderung
schließt daran direkt an –, dass wir die Debatte über die
von der Realität überholten Anträge der CDU/CSU-Frak-
tion und der PDS heute zu dieser Tageszeit führen. Ich bin
auch darüber erstaunt, dass die CDU/CSU ihr Recht zur
Aufsetzung eines Tagesordnungspunktes dafür genutzt
hat, dieses ausgelutschte Thema – Entschuldigung, wenn
ich diesen Begriff benutze – und kein aktuelleres, kein
wichtigeres Thema mit uns heute zu debattieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Selbst wenn die CDU/CSU-Fraktion meinte, dass we-
gen der aktuellen Entwicklung des Transrapidprojektes in
China eine weitere Transrapiddebatte sinnvoll wäre, dann
hätte sie, um der Bedeutung gerecht zu werden, nicht ihre
veralteten Anträge als Aufhänger für diese Debatte neh-
men sollen.

Ich will noch einmal den Sachstand darstellen, der
deutlich macht, warum wir guten Gewissens die Anträge
der CDU/CSU-Fraktion und auch den der PDS-Fraktion
im federführenden Ausschuss ablehnen konnten und
mussten. Ich gehe auf das Datum 25. April 1997 zurück.
Da wurde die Eckpunktevereinbarung zwischen dem
Industriekonsortium, der Bahn AG und dem Bund über
die finanzielle Abhängigkeit der Realisierung des Projek-
tes von der Entwicklung der Investitionssumme beschlos-
sen.

Vergessen Sie bitte nicht: Für den Bund hat damals Ihr
Verkehrsminister, Herr Wissmann, unterschrieben. Er hat
den Ausgang mit dieser Eckpunktevereinbarung offen ge-
halten. Er war es, der die Möglichkeit zur Unterzeichnung
der Finanzierungsvereinbarung 1998 nicht wahrge-
nommen hat, weil er wegen der finanziellen Entwicklung
dieses Vorhabens kalte Füße bekommen hatte. Was ihn
leitete, war die Unwägbarkeit, mit der Betriebsführung
Gewinn und damit einen ordentlichen Werbeeffekt für die
Technologie zu erzielen.

So ist es dann dazu gekommen, dass am 5. Februar die-
ses Jahres bei einem Spitzentreffen der Partner der oben

genannten Vereinbarung die Feststellung getroffen wurde,
dass weder auf der Basis des Eckpunktepapieres noch
nach Prüfung alternativer Szenarien das Public-private-
Partnership-Modell für die Transrapidstrecke Ham-
burg–Berlin realisierbar sei.

Die logische Folge ist die Einstellung des Planfest-
stellungsverfahrens durch die Planfeststellungsbehörde
EBAauf Antrag der Bahn AG. Im Februar 2000 wurde be-
schlossen, dass die Strecke Hamburg–Berlin nicht zu
bauen ist, dass aber wegen der anwendungsreif ent-
wickelten, herausragenden innovativen Magnetschwebe-
bahntechnologie eine andere Anwendungsstrecke in
Deutschland zu suchen sei. Deshalb sollte die Versuchs-
anlage in Lathen befristet erhalten werden: erst bis zum
Ende der EXPO und danach zur Sicherung des Know-
hows bis zur Entscheidung über eine Alternativstrecke
oder bis zur Auslotung der Exportchancen nach China
oder in die USA.

Ebenfalls am 28. Februar trifft sich die Bundesregie-
rung mit den Ministerpräsidenten der Länder und beredet,
dass bis Ende März dieses Jahres Vorschläge für Alter-
nativstrecken von den Ländern eingereicht werden sol-
len. Fünf Projekte, die ich jetzt nicht benennen will, lie-
gen für eine Machbarkeitsstudie auf dem Tisch. Die
abschließende Vereinbarung soll spätestens Mitte 2002
fallen. Es sind konkrete Verfahrensschritte zwischen der
Bundesregierung, dem Industriekonsortium und der Bahn
AG beschlossen worden, die ich jetzt auch nicht im Ein-
zelnen aufzählen möchte.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Es ist aber Zeit genug!)


Wichtig ist – um Sie zu widerlegen, Herr Fischer –,
dass am 23. August dieses Jahres der Beschluss über ein
Technologiesicherungsprogramm für die Magnetschwe-
bebahntechnologie in Deutschland gefasst wurde, mit den
Komponenten des Erhaltes und der Ertüchtigung der Ver-
suchsanlage im Emsland für den Zeitraum vom 1. Okto-
ber dieses Jahres bis zum 30. Juni 2002 und der Erweite-
rung des Entwicklungszieles für den Transrapid in Bezug
auf die Eignung für ein Schnellbahnsystem im öffentli-
chen Verkehr. Träger des Programms sind der Bund, die
beteiligten Industrieunternehmen und die DBAG. Die Fi-
nanzsumme, die für die Ertüchtigung und den Erhalt der
Transrapidstrecke im Emsland in diesem Technologiesi-
cherungsprogramm vereinbart wurde, ist nicht nur eine
Alibisumme, sondern sie ist auch nach Abschätzung der
Notwendigkeiten mit der Industrie zustande gekommen.
Sie können hier nicht sagen, dass diese 28 Millionen DM
zu wenig für die Aufgaben, die zu leisten sind, wären.

Wir haben allerdings auch als Bundestag eine Verant-
wortung, wenn die Zeitspanne bis 2002 für den Anteil, für
den die Bundesregierung die Verantwortung übernommen
hat, wirksam werden soll; denn diese Beschlüsse sind
natürlich haushaltsrelevant. Ich bin gespannt, ob wir die
Transrapidbefürworter der Opposition auf unserer Seite
haben werden.


(Beifall bei der SPD)

Nach der Entscheidung gegen die Transrapidstrecke

Hamburg–Berlin hat unser Kanzler, Gerhard Schröder,




Dirk Fischer (Hamburg)


11603


(C)



(D)



(A)



(B)


gesagt, dass er und die Bundesregierung alle Bemühun-
gen um einen Export des Transrapid unterstützen wol-
len.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Donnerwetter!)

Dies ist nicht nur als Trostpflaster dahingesagt worden;
denn wir erleben in diesen Tagen, dass eine Entscheidung
über die Erstanwendung in Schanghai unmittelbar bevor-
steht. Ich persönlich habe den Eindruck, dass durch eine
Entscheidung für den Bau in China – erst einmal auf einer
Zubringerstrecke für den Flughafen Pudong,mit der Op-
tion auf Erweiterung für die Fernstrecken – die Frage der
Anwendung des Transrapid einen neuen Drive bekom-
men wird, und zwar in Deutschland und auch in Bezug auf
die Verhandlungen in den USA, die Minister Klimmt auf
seiner Reise vom 8. bis 12. Oktober dort führen wird. Wir
wünschen ihm viel Erfolg bei diesen Verhandlungen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansMichael Goldmann [F.D.P.])


Ich glaube, dass ich mit diesem Überblick über den ak-
tuellen Sachstand deutlich machen konnte, warum wir in
der SPD-Fraktion die inhaltlich überholten Anträge abge-
lehnt haben und der Beschlussempfehlung des federfüh-
renden Ausschusses zustimmen werden.

Danke.

(Beifall bei der SPD – Renate Blank [CDU/ CSU]: Das war aber eine miserable Begründung der Ablehnung!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110600
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Michael Goldmann, F.D.P.-Fraktion.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1412110700
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-
sen Sie mich in Antwort zu der Rede von Ihnen, Herr Kol-
lege Weis, sagen: Da unterscheiden wir uns. Ich halte das
überhaupt nicht für ein ausgelutschtes Thema, sondern ich
halte das für ein außerordentlich wichtiges Zukunfts-
thema, ein Technologiethema.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Aber nicht die Strecke nach Hamburg! – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ihre Anträge sind ausgelutscht!)


Herr Kollege, Sie müssen sich da schon ein bisschen sys-
tematischer vorbereiten. Wir reden nicht nur über An-
träge, sondern auch über eine Große Anfrage der F.D.P.
Das müsste man Ihnen eigentlich auch gesagt oder auf-
geschrieben haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke, dass sich aus der Antwort der Bundesregie-
rung Diskussionsnotwendigkeiten ergeben. Ich bin schon
ein bisschen erstaunt, wie Sie damit umgehen. Es ist ja in-
teressant, wie Sie Ihre ganze Redezeit auf eine Person
fixieren und dass anscheinend Ihrer Meinung nach alle
anderen nichts dazu zu sagen haben.


(Widerspruch bei der SPD)


Herr Kollege Weis, es ist ja auch nicht ganz uninteressant,
mit welcher Macht sich die Regierung und die Regie-
rungsvertreter jetzt in dieses Thema einbringen, obwohl
das Haus ja breit besetzt ist – fünf Staatssekretäre und ein
Minister. Ich finde es gut, dass der Minister nach Amerika
fährt und dort für den Transrapid kämpft. Ich fände es
noch besser, wenn wir ihm vielleicht auch aus dieser
Runde das eine oder andere Argument mit auf den Weg
geben könnten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Thema ist also nicht ausgelutscht, sondern vielmehr
hochaktuell. Das Thema ist auch nicht abgearbeitet. Auch
das wollen wir sehr deutlich festhalten.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die neuen Erkenntnisse würden wir gerne hören!)


– Die neuen Erkenntnisse sind durchaus in der Antwort
auf die Große Anfrage nachzulesen. Bis zu dem Zeit-
punkt, an dem wir die Große Anfrage gestellt hatten, war
eben nicht klar, wie es mit der Versuchsanlage in Lathen
weitergeht. Es war nicht klar, welche Koordinationen es
zwischen der Referenzstrecke und einer Anwendungs-
strecke geben sollte. Ich finde es schon höchst spaßig,
dass Sie das fragen. Sie haben doch alle Anstrengungen
unternommen, um den Transrapid zu beerdigen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Zukunftstechnologie haben Sie boykottiert!)


Sie haben doch bis jetzt noch nicht verstanden, welche
ökologischen Chancen der Transrapid bietet.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich finde es höchst interessant, wie sich die Waage an-

gesichts der aktuellen Diskussion um Mineralölpreise und
-besteuerung zugunsten des Transrapid verändert. Das
wird eine hochspannende Diskussion werden, die wir hier
zu führen haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Renate Blank [CDU/CSU])


Es ist deswegen gut, dass das Thema hier heute behandelt
wird.

Ich glaube, es ist völlig klar, dass die F.D.P. immer für
den Transrapid war. Wir möchten, dass er endlich schwebt
und die Transrapid-Technologie wirklich zu einer Er-
folgsstory in Deutschland wird. Ich gebe Herrn Fischer
Recht, denn auch ich halte es nach wie vor für eine Fehl-
entscheidung, die Planung für die Transrapidstrecke
Hamburg–Berlin einzustellen. Der Transrapid ist in be-
sonderer Weise geeignet, Großraumvernetzung sicher
zu stellen. Für eine Anwendung in diesen Bereichen ist er
in höchstem Maße qualifiziert.

Ich finde es auch gut, Herr Kollege Weis – das haben
Sie ja auch angesprochen –, dass jetzt auf der Transrapid-
Versuchsstrecke im Emsland zukünftige Möglichkeiten
der Anwendung, zum Beispiel intelligente Anwendung in
regionaleren Verkehren, erprobt werden. Nur mit
28 Millionen DM ist das mit der derzeitigen Strecke, so




Reinhard Weis (Stendal)

11604


(C)



(D)



(A)



(B)


wie sie dort besteht, überhaupt nicht machbar. Sie müss-
ten aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage Ableitungen herstellen. Sie müssten sich
dafür engagieren, dass die Strecke im Emsland besser
wird. Ich war ja nun dabei, als die chinesischen Vertreter
dort herumfuhren. Wenn ein Chinese hinterher keine
Miene verzieht, aber sagt, er habe Kopfschmerzen, dann
weiß ich ziemlich genau, was er sagen wollte.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS])


Die Strecke ist im Moment in keinem verkaufsfähigen
Zustand. Das muss man ganz klar sagen.


(Lachen des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS])

Die Technologie, die dort erprobt wird, muss sich durch
den schlechten Zustand der Strecke unter Wert verkaufen.
Das müssen und wollen wir doch auch gemeinsam än-
dern, wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf un-
sere Große Anfrage richtig verstanden habe.

Ich habe mich gefreut, als ich die Antworten las, es gibt
nun nämlich für zwei Jahre Klarheit für Anwendungen in
Lathen und intensive Bemühungen, eine Strecke in
Deutschland zu finden, wo diese Technologie zur Anwen-
dung kommt. Oder sind die Antworten, die dort stehen,
alle gelogen? Sind wir uns da einig?


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ich habe es doch gesagt!)


Wir tun jetzt alles, damit die Situation in Lathen besser
wird und dort vernünftige Erprobungen stattfinden kön-
nen. Parallel tun wir alles, damit eine Anwendung in
Deutschland möglich wird. Oder ist das alles dummes
Zeug, wenn dort niedergeschrieben steht, dass man diese
fünf Strecken erproben, untersuchen und für diese fünf
Strecken Machbarkeitsstudien erstellen will? Wollen Sie
wirklich, dass das gemacht wird? Wollen Sie wirklich,
dass es zu einer Anwendung in Deutschland kommt?
Dann müssen Sie das auch ausführen, was in guten Wor-
ten in der Antwort geschrieben steht.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Daran habe ich großen Zweifel, dass die das wirklich wollen!)


Dann müssen Sie zum Beispiel deutlich machen, was das
heißt: Ressourcen bringen, um im Rahmen eines Techno-
logiesicherungsprogramms die Weichen zu stellen, damit
es zur Anwendung in Deutschland kommt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Renate Blank [CDU/CSU])


Dafür ist sicherlich viel mehr nötig als nur Geld bereit-
stellen. Vielmehr müssen alle Beteiligten intensiv auf eine
Anwendung hin arbeiten. Insofern ist die Große Anfrage,
die wir gestellt haben, und die Antworten, die wir bekom-
men haben, ein Beitrag dazu, dass der Transrapid – ich
sage das einmal so – wieder richtig ins Leben kommen
kann.

Wir waren in Sorge – das waren Sie doch auch, lassen
Sie uns doch nicht die Gemeinsamkeiten zerre-
den –, dass Arbeitsplätze in Kassel verloren gehen oder

dass die Ingenieure die Versuchsanlage in Lathen verlas-
sen könnten, weil sie nicht wussten, wie es mit dieser
Technologie weitergehen sollte. Lassen Sie uns doch die
Gemeinsamkeiten herausstellen. Lassen Sie uns alles tun,
um eine vernünftige zukunftsfähige Versuchsanlage ge-
meinsam auf den Weg zu bringen, auf der wir das erpro-
ben können, was den Transrapid noch intelligenter, noch
besser und noch ökologischer macht. Ich bin hundertpro-
zentig dafür, dass wir Begegnungsverkehre erproben
und dass wir Nahverkehre erproben.


(Klaus Hasenfratz [SPD]: Ist anwendungsreif!)

– Nein, dafür ist das Geld eben nicht da. Schauen Sie in
den Haushalt hinein!


(Klaus Hasenfratz [SPD]: Er ist doch anwendungsreif! Was wollen Sie neu erproben?)


– Natürlich, er ist im Fernstreckenbereich erprobt. Herr
Hasenfratz, was soll das? Fragen Sie mich oder fragen Sie
in den Raum? Dann erbitte ich auch, dass Sie meiner Ant-
wort zuhören. Er ist in dem Bereich anwendungsreif, in
dem er bis jetzt erprobt worden ist. Er ist als Nahver-
kehrsmittel nicht in dem Maße erprobt, das wissen Sie
doch auch. Wenn Sie Strecken aufzeigen, die Nahver-
kehrscharakter haben, müssen Sie auch zur Erprobung
von Nahverkehrsnotwendigkeiten Ja sagen. Das ist zwin-
gend, das ergibt sich. Dafür müssen Sie die Weichen stel-
len.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist im Technologieprogramm ausdrücklich festgehalten!)


– Vielleicht bin ich sogar ein Stück naiv. Ich glaube Ihnen
von den Sozialdemokraten, dass Sie eine vernünftige Ver-
suchsanlage und dass Sie eine Anwendung in Deutsch-
land wollen. Ich hoffe, dass Ihr Minister nicht nur hilft den
Transrapid nach Amerika und nach China zu verkaufen,
sondern dass wir diese Technologie, die für unser Land
besonders wichtig ist, auch hier zur Anwendung bringen.
Ich vertraue nach wie vor darauf, dass Sie die Grünen, die
in dieser Frage eine andere Position haben, dazu bewegen,
endlich eine gute Technologie in Deutschland zur An-
wendung zu bringen. Wir könnten schon viel weiter sein.


(Beifall bei der F.D.P. – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wenn Herr Wissmann unterschrieben hätte!)


Noch haben wir Vorsprung gegenüber den Japanern.
Die Japaner schauen nach wie vor neidisch zu uns herü-
ber. In einer Technologie tun sie das noch und das ist diese
Technologie.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die Grünen kriegen es noch hin, dass auch das kaputt geht!)


Deswegen bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns die
Gemeinsamkeit untermauern! Erproben jetzt, anwenden
später – lassen Sie uns diesen doppelten Schritt gemein-
sam tun, damit dies endlich zur Anwendung in Deutsch-
land kommt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Hans-Michael Goldmann

11605


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110800
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Ich begrüße Sie zu unserer monatlichen Trans-
rapidstunde. Ich freue mich auch auf den nächsten Antrag,
den wir bald bekommen werden, damit wir uns über die-
ses Thema weiter regelmäßig austauschen und uns die
neuen Erkenntnisse gegenseitig an den Kopf werfen kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Als Zweites begrüße ich uns wieder zu einer F.D.P.-
Stunde,


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

in der unsere maximale Steuersenkungspartei maximale
Subventionen anfordert. Das finde ich immer wieder eine
erfreuliche Diskussion, die die Widersprüche des Lebens
so richtig real zeigt.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist doch absolut dummes Zeug, was Sie sagen! Das war doch im Haushalt drin!)


Als Drittes kommen wir zur Sache. Herr Fischer, Sie
schlagen mit Ihrem Antrag wieder einmal Schlachten von
gestern, die Sie schon sehr oft geschlagen haben.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das möchten Sie! Das ist Ihr Wunschdenken!)


Sie beide fordern immer wieder, dass wir mit einer plan-
wirtschaftlichen Methode die Bahn, die unter Ihrer Re-
gierung privatisiert worden ist, nach einer Regierungs-
pfeife tanzen lassen, was so nicht funktioniert.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Die SPD hat bei der Bahnreform auch zugestimmt!)


Denn das Planfeststellungsverfahren ist auf Antrag der
Bahn AG eingestellt worden. Sie sollten endlich zur
Kenntnis nehmen, dass unter Rot-Grün die Bahn ein pri-
vatisiertes Unternehmen ist, das auf eigene Verantwor-
tung wirtschaftlich agiert und entscheiden muss, wie viel
es in die Schiene und wie viel es in einen Transrapid in-
vestieren will und wie es ihn betreiben kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)


– Nein, danke, ich nehme keine weiteren Anregungen an.
Ich freue mich, wenn wir das Thema in einem Monat neu
aufrufen. Ich meine, Herr Fischer, dazu sollten Sie noch
einen neuen Antrag stellen, der Ihnen sicherlich einfällt.

Mit der Politik der Regierung, die das Zukunftspaket
Schiene auf den Weg gebracht hat, die mit den Investiti-
onsmitteln für die Bahn an die Investitionsmittel für das
Auto angeschlossen hat, sodass wir auf diesem Gebiet
deutlich aufholen, die sich auf das Bestandsnetz konzen-
triert, die die LKW-Maut einführt und die Ökosteuer ein-

geführt hat, haben wir ein richtungweisendes Paket für die
Stärkung der Schiene bekommen. Es ist, glaube ich, sehr
viel wichtiger, dass wir die Konkurrenz zwischen Trans-
rapid und Schiene – denn das ist die eigentliche Konkur-
renz, um die es in unserem Lande geht –


(Renate Blank [CDU/CSU]: Nein! – Walter Hirche [F.D.P.]: Sie haben das nicht verstanden!)


eindeutig zugunsten der Schiene entschieden haben. Es
geht nicht um die Konkurrenz Transrapid/Auto. Das ist
vielleicht Ihr Problem, das können Sie mit dem nächsten
Antrag zur Diskussion stellen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was ist denn nun glaubwürdig?)


Insofern geht es darum, dass sich in einer gemeinsamen
Entscheidung die Industrie, die Bahn und die Bundesre-
gierung gegen die Referenzstrecke ausgesprochen haben.
Sie haben das deswegen getan – jetzt hören Sie genau
zu –, weil damals von Ihnen die Investitionskosten und
die Betriebskosten viel zu niedrig kalkuliert wurden und
weil die Zahl der Fahrgäste utopisch hoch geschätzt
wurde. Es hätten Beschäftigungsprojekte in Berlin und
Hamburg gegründet werden müssen, die täglich nichts an-
deres getan hätten, als zwischen Hamburg und Berlin hin-
und herzufahren.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ha, ha! Ist das witzig!)


Es waren völlig absurde Zahlen, die Sie präsentiert haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Der Transrapid ist nicht – in diesem Punkt gebe ich Ih-
nen Recht – an der zugrunde liegenden Technologie ge-
scheitert,


(Renate Blank [CDU/CSU]: An den Grünen ist er gescheitert!)


sondern daran, dass Sie die falsche Strecke unter falsch
kalkulierten Konditionen bauen wollten. So kann man
nicht verfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, muss ein solches Pro-
jekt seriös durchkalkulieren, wenn er es erfolgreich auf
den Weg bringen will. Sonst besteht die Gefahr, dass der
Steuerzahler hinterhersubventioniert, ohne dass irgend-
wann ein Ende in Sicht ist. Dafür steht unsere Politik ein-
deutig nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist ein ganz wesentlicher Schritt nach vorne, dass
die Bundesregierung nun die Strecke zwischen Hamburg
und Berlin völlig unbürokratisch ausbauen will – das ha-
ben Sie über Jahre verhindert –, damit man schneller von
Hamburg nach Berlin und umgekehrt fahren kann. Damit
wird zu sehr günstigen Bedingungen die Fahrtzeit
verkürzt. Das Gerücht, dass der Ausbau der Strecke






(C)



(D)



(A)



(B)


Hamburg–Berlin 10 Milliarden DM kosten würde, müs-
sen Sie uns sozusagen einmal aufdröseln.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Wir können so viel aufdröseln, wie Sie wollen: Das hilft nicht!)


Mit Kosten von 1,2 bis 1,5 Milliarden DM schaffen wir
es, dass die Fahrzeit enorm verkürzt wird, sodass man
zum Beispiel auch zum Bundestag schneller fahren kann.

Ein nächster Punkt. Der Transrapid hätte bei der Bahn
ein jährliches Defizit von 125 Millionen DM verursacht.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Behauptet die Bahn!)


Unsere Bemühungen, die Bahn bei der Sanierung zu un-
terstützen, nutzen dem ganzen Land und sind viel wichti-
ger, als eine Spielzeugstrecke zu betreiben, wodurch das
Defizit der Bahn noch weiter anwachsen würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: Es ist unverschämt, das eine Spielzeugstrecke zu nennen!)


Ich bleibe also bei unserer Kritik.
Wenn es den Unternehmen gelingt, Aufträge aus dem

Ausland an Land zu ziehen, dann begrüßen wir dies und
unterstützen sie darin auch. Niemand spricht dagegen.
Herr Weis hat sich zu diesem Punkt schon eindeutig
geäußert. Das ist also kein Problem. Es geht aber nicht,
dass der Steuerzahler ständig weiter für ein Projekt zur
Kasse gebeten wird, das in den letzten acht Jahren nicht
bewiesen hat, dass es in der Form lebensfähig ist, in der
Sie es konzipiert hatten. Das sollten Sie endlich einsehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Renate Blank [CDU/CSU]: Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie sonst über Wohnungsbau reden!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412110900
Ich bin überrascht,
dass die Redezeit nicht ausgeschöpft wird. Das liegt wohl
daran, dass schon bekannte Argumente zu diesem Thema
ausgetauscht werden.

Als Nächster spricht der Kollege Dr. Winfried Wolf,
PDS-Fraktion.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1412111000
Werte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben beim Thema
Transrapid, wie es die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig
schon gesagt hat, immer wieder alte Schlachten von vor-
gestern. Das wird auch durch den Schlingerkurs deutlich,
den die SPD und die Grünen steuern.

Wir hatten in den Jahren 1998/99 eine Wackelpartie. In
diesen Jahren hieß es, die Strecke werde doch gebaut. Da-
mals wurde gesagt, dass eingleisig gebaut wird, um den
Kostenrahmen einzuhalten. Aber seit Anfang 2000 haben
wir die lobenswerte Situation, dass die Transrapidverbin-
dung Berlin–Hamburg nicht gebaut werden soll. Dafür ist
der Koalition und auch Herrn Mehdorn Respekt zu zollen.

Dennoch läuft die Förderung des Transrapidsweiter.
Eigentlich müsste die CDU/CSU und auch die F.D.P. dem
Beifall klatschen. Allein im Haushalt 2001 sollen noch
einmal 87 Millionen DM für den Transrapid ausgegeben
werden.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Stimmt nicht!)


Wie Sie wissen, Herr Goldmann: 20Millionen DM für die
Versuchsanlage im Emsland, 50 Millionen DM für die
Weiterentwicklung und 10 Millionen DM für die Bepla-
nung, wie es so schön heißt.

Das bedeutet aber unserer Ansicht nach, dass man
schlechtes Geld noch einmal schlechtem Geld hinterher-
wirft. Wenn man sich anschaut, dass sich SPD und Grüne
rühmen, im Rahmen des Solardächerprogramms 33 Mil-
lionen DM auszugeben, und behaupten, dass das wirken
würde, dann muss ich sagen: Mehr als doppelt so viel wird
für die Technik Transrapid weiter ausgegeben.


(Beifall bei der PDS – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Er ist auch wirksamer!)


Herr Goldmann, es geht nicht um die Frage: Technik-
feindlichkeit – ja oder nein? Es geht auch nicht darum,
dass wir alten Ressentiments frönen würden. Es geht
vielmehr darum, dass der Transrapid seit 20 Jahren ent-
wickelt wird und über 3 Milliarden DM ausgegeben wur-
den. Es geht auch darum, dass im Emsland jämmerliche
Resultate erzielt wurden und dass selbst die Industrie, die
der F.D.P. so nahe steht, vom Transrapid Abstand nimmt.
Gestern hat laut „Financial Times Deutschland“ Adtranz,
der Fahrzeugbauer des Transrapids, erklärt, dass sie wahr-
scheinlich nach Übernahme durch Bombardier ganz aus
diesem Projekt aussteigen werden.

Jetzt heißt es im CDU-Antrag, dass die Strecke im
Emsland endlich zweigleisig gebaut werden soll, „um so
praxisgerecht wie möglich sowohl den Gegenverkehr als
auch den Halt des Transrapid zu demonstrieren.“ Nach ei-
nem Vierteljahrhundert will man den Transrapid endlich
praxisgerecht konzipieren. Während uns bisher immer
gesagt wurde, man bräuchte keinen Gegenverkehr, das sei
kein Problem, man habe alles im Simulator, heißt es jetzt,
dass man unbedingt Gegenverkehr – es heißt richtig: Be-
gegnungsverkehr – braucht, um dies demonstrieren zu
können.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Weil wir viel schneller fahren!)


Jetzt sprießen die Konkretisierungen aus dem Boden:
Schanghai. Ich hätte nicht gedacht, dass der alte Satz von
Kurt Georg Kiesinger, den er 1969 im Bundestag gesagt
hat: „Ich sage nur: China, China, China“, so aktualisiert
werden könnte. Sie haben richtig berichtet, Herr Goldmann,
dass der chinesische Ministerpräsident


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Aber Sie waren wieder nicht da!)


– ich habe es gehört – nach der Fahrt im Emsland – wie
Sie sagten – keine Miene verzogen und gesagt hat, er
habe Kopfschmerzen. Warum aber gibt man ihm




Franziska Eichstädt-Bohlig

11607


(C)



(D)



(A)



(B)


kein Aspirin, statt ihm neues Geld für den Transrapid
hinterherzuwerfen?


(Beifall bei der PDS)

Konkrete Projekte sprießen auch aus dem Boden, wenn

gesagt wird, man müsse jetzt Metrorapid machen, also
eine Turbostraßenbahn bauen. Ein Projekt, von dem es
hieß, es müsse im Fernbereich angewandt werden – da ha-
ben Sie Recht –, es solle 500 Kilometer pro Stunde fah-
ren, jetzt bei Entfernungen von 30, 40 oder 50 Kilo-
metern einzusetzen, ist einfach völliger Blödsinn.


(Beifall bei der PDS)

Ich erlebe es auch in meinem Bundesland Baden-Würt-

temberg. Jetzt wird darüber diskutiert, Tübingen und
Stuttgart mit dem Metrorapid zu verbinden. Es gibt eine
Bahnstrecke. Man könnte eine kürzere bauen. Aber nein,
jetzt soll es plötzlich einen Metrorapid geben. Selbst die
Grünen werden da weich. Der Landtagskandidat Palmer
hat gemeint, er müsse sich das Projekt konkret anschauen;
er würde es gerne begrüßen.

Wir, die PDS, haben in unserem Antrag nochmals ins
Bewusstsein gerufen, dass es ein Magnetschwebebahn-
bedarfsgesetz gibt. Das ist sehr kurz und präzise.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Da hat er Recht!)


– Ja, da habe ich Recht. – Darin steht – ich zitiere –:
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnet-
schwebebahnbedarfsstrecke von Berlin nach Ham-
burg über Schwerin. Die Feststellung des Bedarfs ist
für die Planfeststellung nach § 2 des Magnetschwe-
bebahnplanungsgesetzes verbindlich.

Also, es besteht Bedarf und zweitens ist die Feststel-
lung verbindlich. – Beifall und Nicken bei den Parteien
der alten Koalition. Das heißt aber doch: Wenn man das
Gesetz nicht aufhebt, dann bleibt es bei dieser gesetzli-
chen Verbindlichkeit. Deswegen sagen wir: Auf ein kur-
zes, knackiges Gesetz bedarf es eines kurzen Antrages,
der quadratisch, praktisch, gut ist.


(Angelika Mertens [SPD]: Das ist Werbung! – Rolf Kutzmutz [PDS]: Aber nicht verboten!)


Meiner Meinung nach lässt derjenige, der unserem An-
trag nicht zustimmt und es bei der gesetzlichen Verpflich-
tung belässt, die Strecke Hamburg–Berlin zu bauen, ent-
sprechende Hintertürchen offen; er rechnet damit, dass
Folgekosten in Form von Schadenersatzansprüchen auf
die Steuerzahler zukommen können. Dem wollen wir ei-
nen Riegel vorschieben.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412111100
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues.


Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1412111200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tauchte eben die
Frage auf, ob die Argumente zu dem Thema eigentlich
nicht alle ausgetauscht seien, sodass man deswegen die

Redezeit nicht voll beanspruchen müsse. Ich will Ihnen
ein aktuelles Beispiel – ich habe es mitgebracht – dafür
nennen, weshalb eine Diskussion darüber in Deutschland
dringend notwendig ist. Ich habe die Vereinbarung zur
weiteren Behandlung der deutschen Magnetschwebe-
bahntechnik dabei. Dabei handelt es sich um eine Grund-
satzvereinbarung zwischen Bahn AG, Daimler-Chrysler,
Siemens und Thyssen. Sie haben festgestellt, dass die
deutsche Magnetschwebebahntechnik, insbesondere ihre
Realisierung in Deutschland, Herr Kollege Weis, von
herausragender Bedeutung für den Industriestandort
Deutschland ist. Diese Vereinbarung ist am 23. Au-
gust 2000 unterzeichnet worden.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das hat nichts mit den alten Anträgen zu tun!)


Jetzt haben wir Ende September. Frau Eichstädt-
Bohlig hat hier vor zehn Minuten erklärt, der eigentliche
Gegensatz sei die Konkurrenz zwischen Schiene und
Transrapid. Ich frage mich, was bei Ihnen eigentlich gilt.
Bei Ihnen weiß die Rechte nicht, was die Linke tut. Des-
wegen kommen wir bei dem Thema auch nicht voran.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich kann mir auch sehr gut erklären, weshalb sich die

Bundesregierung zu diesem Thema bislang überhaupt
noch nicht geäußert hat; denn wenn sie dies täte, müsste
sie den Widerspruch, der dort besteht, aufklären.

Herr Kollege Weis – ich schätze Sie persönlich; das
will ich Ihnen ausdrücklich attestieren –, es ist sehr nett,
dass Sie auf die Exportmöglichkeiten verweisen und sa-
gen, der Bundeskanzler – zum Thema Bundeskanzler und
Transrapid sage ich gleich noch einen Satz – werde dies-
bezüglich kräftig verhandeln.
Wenn Sie es mit dem Export ernst meinen, müssen Sie al-
les daransetzen, dass wir eine Versuchsstrecke erhalten,
die geeignet ist, den Transrapid exportfähig zu machen.
Genau das tun Sie eben nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Angelika Mertens [SPD]: Daran arbeiten wir doch!)


Der Kollege Goldmann hat eben ganz richtig gesagt:
Mit der Summe, die Sie vorgesehen haben, können Sie
zwar den Betrieb am Laufen halten, Sie sind aber nicht in
der Lage, zusätzliche Versuche zu fahren, damit der
Transrapid exportfähig wird. Das ist ein Widerspruch.

Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit etwas zum
Herrn Bundeskanzler sagen. Ich habe ihn acht Jahre lang
als Ministerpräsident in Niedersachsen erlebt. Ich erin-
nere mich sehr genau – das ist vielleicht bezeichnend für
sein Verhältnis zum Transrapid; jetzt werde ich vielleicht
einigen von Ihnen in der Argumentation entgegenkom-
men –, dass er sich erst im Vorfeld der Landtagswahl 1998
und der Bundestagswahl 1998, also nach acht Jahren
Amtszeit als Ministerpräsident, das erste Mal den Trans-
rapid angesehen hat. Das ist sein Interesse an der neuen
Verkehrstechnologie. Was hat er damals gesagt? Er sagte:
Das ist eine faszinierende Technik, ich bin beeindruckt.
Wie jetzt in seiner Regierung mit dem Transrapid in der




Dr. Winfried Wolf
11608


(C)



(D)



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(B)


Praxis umgegangen wird, erleben wir bis zum heutigen
Tag. Deswegen muss das Ganze hier erörtert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich sehe den Parlamentarischen Staatssekretär

Scheffler auf der Regierungsbank. Ich erinnere mich an
seine Antwort auf die Anfrage der Kollegin Voßhoff vom
vergangenen Jahr, in der er auf die Arbeitsplatzeffekte der
konkreten Strecke Hamburg–Berlin hingewiesen hat.

Ich freue mich auch, dass der Kollege Robbe hier ist,
weil ich seine Einstellung zum Transrapid kenne. Deswe-
gen habe ich auch die Hoffnung noch nicht völlig aufge-
geben, dass es irgendwann wieder Bewegung im Regie-
rungslager geben wird. Dazu müsste es eigentlich jetzt
schon kommen.

Was wollen Sie den Menschen, die an der Erprobungs-
strecke im Emsland leben, sagen? Worauf sollen sie sich
einstellen? Sie haben jetzt eine Summe bereitgestellt,
die – ich will das ausdrücklich anerkennen – mehr als gar
nichts ist, die aber so angesetzt ist, dass daraus keine wirk-
lichen Zukunftschancen abgeleitet werden können. Des-
wegen behaupte ich noch einmal – wir werden darüber
häufig diskutieren müssen –, dass Ihre Politik bezüglich
der modernen Verkehrstechnologie des Transrapids voller
Widersprüche und scheinheilig ist.


(Angelika Mertens [SPD]: „Scheinheilig“ weisen wir zurück!)


Das ist für den Wirtschafts- und Arbeitsplatzstandort Bun-
desrepublik Deutschland verheerend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Anlage in Lathen – das wissen Sie, Frau Mertens,

ganz genau – muss nicht nur gesichert, sondern fortent-
wickelt werden. Sie muss in der Lage sein, das, was am
Computer simuliert wird, auch in der Praxis zu beweisen.
Eine scheintote, gerade am Leben erhaltene Versuchs-
strecke nützt im Grunde genommen niemandem so rich-
tig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Übrigen geht von diesem Verhalten auch das Signal

an die anderen Industrieländer – wir scheinen es bei mo-
dernen Technologien so zu handhaben; ich denke bei-
spielsweise an Ihre Ausstiegsvereinbarung zur Nutzung
der Kernenergie –, die möglicherweise importieren wol-
len, aus, dass wir es mit dieser modernen Verkehrstechnik
nicht ganz so ernst meinen; denn sonst würden wir andere
Schwerpunkte setzen.

Ich will gern noch einmal unterstreichen, was gerade
vom Kollegen Goldmann gesagt worden ist. Entschei-
dend ist eigentlich nicht, welche Summen Sie jetzt kon-
kret zur Verfügung stellen. Entscheidend ist – das muss
vom Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen ge-
klärt werden –, dass wir den Transrapid tatsächlich wol-
len. Dieses Signal muss von Ihrer Politik ausgehen und
das fehlt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Äußerungen der Bundesregierung sind bis in die

letzte Zeit hinein sehr unverbindlich. Am 13. Juni 2000

wurde gesagt, die Mittel für die Weiterentwicklung der
Magnetschwebetechnik und ihre Anwendung in Deutsch-
land – nicht für die Aufrechterhaltung der Versuchsstrecke –
sind eingeplant. Am 27. Juni 2000 hieß es, es werde mit
der Industrie und der Bahn verhandelt. Am 4. Juli 2000
hieß es, die Finanzierung bis Oktober 2000 sei gesichert.
Das ist das Ende der EXPO, auf der wir diese Technik als
ein beispielhaftes deutsches Projekt vorstellen. Jetzt,
Ende August 2000, heißt es, der Weiterbetrieb der Anlage
– der für das, was offenkundig auch Sie wollen, nicht aus-
reicht – sei bis zum 30. Juni 2002 gesichert.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Ich sage ausdrücklich: Das alles sind Weicheiformulie-
rungen.


(Angelika Mertens [SPD]: „Weichei“ weisen wir zurück! Wissmann war ein Weichei!)


Sie lassen erkennen, dass die Bremser im Regierungsla-
ger offenkundig die Hebel in der Hand halten. Die Brem-
ser wissen ganz genau, dass eine andere Referenzstrecke
nicht unter zehn Jahren zu verwirklichen ist; man müsste
eher zwölf oder fünfzehn Jahre einplanen.

Deswegen überrascht mich sehr, was zu diesem Thema
im Moment in Nordrhein-Westfalen zum Besten gegeben
wird. In langen Interviews erklärt der dortige Wirtschafts-
und Verkehrsminister, was er alles vorhabe. Wenn man
aber nachfragt, wie das konkret umgesetzt werden soll
und ob dafür irgendwo ein kleiner Haushaltstitel zur Ver-
fügung gestellt wird, dann ist darüber nichts zu erfahren.
Sie nehmen die Menschen auf den Arm und machen ihnen
etwas vor, weil Sie sich nicht trauen, das zu sagen, was Sie
wirklich denken, nämlich dass Sie die neue Technik nicht
einsetzen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sind der festen Überzeugung, dass die Magnet-

schwebetechnik auf dem Weltmarkt eine reale Chance
hat. Wichtig aber ist, dass wir uns als Deutsche klar posi-
tionieren. Auch die Bundesregierung sollte sich über
Lippenbekenntnisse hinaus grundsätzlich klar positionie-
ren, wie sie das in der Vereinbarung mit der Deutschen
Bahn AG getan hat. Alle anderen Studien sind ver-
schwendete Zeit und sind verschwendetes Geld. Deswe-
gen fordere ich Sie auf: Springen Sie über Ihren Schatten!
Wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann stimmen Sie un-
serem Antrag zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412111300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber


Georg Brunnhuber (CDU):
Rede ID: ID1412111400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin wurde gesagt,
dies sei die letzte Schlacht oder die Schlacht von gestern,
die wir hier schlagen würden. Ich kann Ihnen von der Re-
gierungskoalition versprechen: Wir werden über dieses
Thema Monat für Monat diskutieren,


(Beifall bei der CDU/CSU)





Dr. Hermann Kues

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(C)



(D)



(A)



(B)


damit Sie einmal die Wahrheit sagen müssen. Mit Ihren
Argumenten, die sie hier vorbringen, drücken Sie sich lei-
der Gottes um die Wahrheit herum.

Die Grünen wollten den Transrapid wirklich nie; das
muss man fairerweise sagen. Aber ich muss bekennen,
dass ich nicht mehr weiß, was die SPD wirklich will. Sie
erklären, Sie unterstützen den Export des Transrapids
nach China. Glaubt in diesem Raum irgendjemand, dass
die Chinesen den Transrapid bauen, wenn sie von uns
nicht mindestens einen Zuschuss in der Höhe bekommen,
den wir in Deutschland gebraucht hätten? 6 oder 7, 8 oder
10 Milliarden DM! Wir geben das Geld nach China und
die Arbeitsplätze sind auch dort. Das kann doch niemand
begreifen. Kann das die Politik von Rot-Grün sein? Ich
habe echte Zweifel, ob das der Sinn dessen ist, was Sie
hier vortragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS] – Zuruf von der CDU/CSU: Die Arbeitsplätze werden exportiert!)


Es wird hier der Eindruck erweckt, als wäre die
Strecke Hamburg–Berlin so schlecht und so falsch be-
rechnet worden, dass man jetzt froh ist, dass sie aufgege-
ben wird. Sie tun so, als gäbe es „Geheimstrecken“ in
Nordrhein-Westfalen, wo schon jetzt Millionen Passa-
giere am Fahrbahnrand stehen und nur darauf warten, bis
sie mitfahren dürfen. Sie alle, die Sie hier sitzen, wissen
doch genau, dass in ganz Deutschland alle Strecken genau
untersucht wurden. Man ist zum Ergebnis gekommen,
dass auf der Strecke zwischen Hamburg und Berlin die
meisten Fahrgäste wirtschaftlich befördert werden kön-
nen:


(Reinhard Weis ausreichend!)


Zwischen Düsseldorf und Köln kostet die Strecke 14 Mil-
liarden DM, zwischen Hamburg und Berlin hätten wir sie
für etwa 6,5 Milliarden DM bekommen. Sie waren bereit,
6,1 Milliarden DM zu zahlen. Wegen 400 Millionen DM
haben Sie diese Strecke sterben lassen.


(Widerspruch bei der SPD – Angelika Mertens [SPD]: Glauben Sie eigentlich selbst, was Sie hier sagen?)


Im gleichen Zeitraum haben Sie permanent genehmigt:
Der Bau der normalen Schienenstrecke zwischen Köln
und Frankfurt wurde mit 5 Milliarden DM beschlossen,
wurde auf 7 Milliarden DM erhöht, kostete 9 Milliarden
DM und liegt nun bei 11 Milliarden DM.


(Angelika Mertens [SPD]: Ihr Ludewig! Ihre Verantwortung!)


Hätten Sie im Haushalt 2000 bei der modernen Technik
Transrapid für 400 Millionen DM mehr Mut gehabt, dann
hätten wir diese Transrapidstrecke zwischen Hamburg
und Berlin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ihren Minister Wissmann hat 1998 der Mut verlassen!)


Wir von der CDU/CSU haben noch immer die Hoff-
nung, dass wenigstens die Kolleginnen und Kollegen in
der SPD so fair sind, das anzuerkennen, was der Transra-
pid wirklich bewirken kann: Er ist das umweltfreund-
lichste Transportmittel, das auf der Welt technisch derzeit
möglich wäre. Er fährt doppelt so schnell, braucht die
Hälfte Energie und ist halb so laut wie jeder ICE. Man
müsste die Grünen, die den Transrapid nicht wollen, ge-
radezu bremsen; denn er ist gerade das, was sie uns immer
wieder vorschlagen: ein umweltfreundliches Verkehrs-
mittel. Hier hätten Sie eins und Sie greifen nicht zu. Es ist
unverantwortlich, was Sie hier für eine Politik betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deshalb werden wir als Unionsfraktion nicht locker-
lassen. Wir werden darauf bestehen, dass das Planfest-
stellungsverfahren für die Strecke zwischen Hamburg und
Berlin weitergeführt wird; denn wenn Sie das nicht wol-
len, dann werden wir in zehn Jahren immer noch bei der
Diskussion sein. Es gibt in Deutschland keine Strecke, die
schneller als die Strecke Hamburg–Berlin gebaut werden
kann. Wir stehen zu dieser Strecke. Wir fordern Sie auf:
Handeln Sie!

Wir erwarten auf jeden Fall von der Regierung – die
heute leider zu diesem Thema noch nicht einmal gespro-
chen hat, auch das muss man einmal festhalten: wie we-
nig wichtig es den Damen und Herren der Regierung ist –,
dass sie hier Farbe bekennt.


(Angelika Mertens [SPD]: Wir haben keine Zeit zu verschwenden!)


Wenn Sie wirklich den Transrapid wollen, dann führen
Sie das Planfeststellungsverfahren weiter. Machen Sie
dazu einen Haushaltsansatz, damit wir im nächsten Jahr
mit dem Bau der Strecke Hamburg–Berlin beginnen kön-
nen. Das ist die einzige Möglichkeit, damit der Transrapid
in Deutschland noch in diesem Jahrzehnt gebaut wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412111500
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen! Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen auf Drucksache 14/4135 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Transrapid-Pro-
jekt zügig realisieren“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
sache 14/2359 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen wor-
den.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den Antrag der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/2524 mit dem Titel: „Gesetzliche Verpflichtung
zum Bau der Transrapid-Strecke Berlin–Hamburg aufhe-
ben“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die




Georg Brunnhuber
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(C)



(D)



(A)



(B)


Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-
gen die Stimmen der PDS angenommen worden.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3183 mit dem Titel „Aus-
bau und Modernisierung der Transrapidversuchsanlage
Emsland und Fortsetzung der Planfeststellungsverfahren
für die Magnetschwebebahn – Referenzstrecke Ham-
burg–Berlin“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Damit sind wir am Ende der Abstimmungen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Fortgeltung
des Ladenschlussgesetzes nach den Sanktionen
gegen eine thüringische Friseurin

– Der Kollege Koppelin möchte

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Zur Geschäftsord nung!)

zur Geschäftsordnung sprechen.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1412111600
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir fragen nach der Haltung
der Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde. Ich sehe
kein Mitglied der Bundesregierung im Parlament. Ich be-
antrage, dass die Sitzung so lange unterbrochen wird, bis
Mitglieder der entsprechenden Ressorts anwesend sind
und sich zu diesem Punkt äußern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412111700
Möchte noch je-
mand zur Geschäftsordnung reden? –


(Konrad Gilges [SPD]: Wir sind dagegen!)

Das ist nicht der Fall.


(Konrad Gilges [SPD]: Abstimmen!)

Dann lasse ich jetzt abstimmen.

(Walter Hirche [F.D.P.]: Es geht nicht, dass von der Regierung keiner da ist! Das ist doch unglaublich! Ein saumäßiges Parlamentsverständnis hat diese Regierung! – Gegenruf des Abg. Konrad Gilges [SPD]: Bei so einem Antrag braucht die Regierung nicht anwesend zu sein!)


– Es ist vonseiten der F.D.P. beantragt worden, ein Mit-
glied der Bundesregierung herbeizuzitieren. Es gibt keine
weiteren Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Über
den Antrag muss ich jetzt abstimmen lassen. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist abgelehnt.


(Widerspruch bei der F.D.P.)


– Wir sind uns hier oben alle einig. Sie haben gesehen,
dass ich extra noch einmal nachgefragt habe.

Wir beginnen jetzt also mit der Aktuellen Stunde. Als
erste Rednerin rufe ich die Abgeordnete Gudrun Kopp
auf.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412111800
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Ich möchte vorweg noch
einmal meinen persönlichen Unmut darüber zum Aus-
druck bringen, dass wir über einen wichtigen Fall, näm-
lich über die Kriminalisierung einer Person, die heute hier
anwesend ist, sprechen müssen. Das Thema Laden-
schluss – das beweist die leere Regierungsbank – interes-
siert die Regierung offensichtlich überhaupt nicht.


(Beifall bei der F.D.P. – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die sind einkaufen!)


Ich begrüße an dieser Stelle ganz besonders die betrof-
fene Person, wegen derer wir heute diese Aktuelle Stunde
beantragt haben: Frau Ilka Brückner, eine mutige Friseu-
rin aus dem thüringischen Suhl.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie hat – das sage ich mit Bewusstsein – illegale Mond-
scheingeister geweckt. Wie das, werden Sie fragen, weil
viele den Vorgang wahrscheinlich überhaupt nicht mitbe-
kommen haben.

Frau Brückner hat um Mitternacht Personen die Haare
frisiert, und zwar für einen guten Zweck. Sie ist dafür we-
gen angeblichen Verstoßes gegen das Ladenschlussgesetz
zu einer Geldbuße verdonnert worden. Sie weigerte sich,
sie zu zahlen, weil sie nach wie vor davon ausgeht, das es
eine Spendenaktion gewesen ist. Sie ist nach langem Hin
und Her doch tatsächlich inhaftiert worden und hat zwei
Tage lang im Gefängnis gesessen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Unglaublich! – Konrad Gilges [SPD]: Mit Recht!)


Dieser Vorgang beinhaltet eine Kriminalisierung Frau
Brückners. Es zeigt aber auch in eklatanter Weise, wie
diese Regierung mit Gesetzen wie dem Ladenschlussge-
setz umgeht, an das sie selber längst nicht mehr glaubt


(Beifall bei der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Es könnte längst abgeschafft sein!)


und das längst abgeschafft sein könnte. Dass sie daran
nicht mehr glaubt, möchte ich an zwei Beispielen belegen;
denn das Gesetz wird scheibchenweise aufgelöst.

Man bedenke, dass der Bundeskanzler erst vor kurzem
im Zusammenhang mit dem Rentenkompromiss jede Be-
wegung und jedes Zugeständnis in Richtung Liberalisie-
rung des Ladenschlussgesetzes zugunsten des Stillstandes
aufgegeben hat. Man bedenke ebenso, dass unser Bun-
deswirtschaftsminister laut dpa kürzlich zum Thema La-
denschluss gesagt hat – Zitat –:

Beim Ladenschluss wird es wie beim Rabattgesetz
kommen, das binnen der nächsten 12 Monate weg
sein wird. Es gibt Zeitabläufe, innerhalb derer so
etwas selbstverständlich wird. Dann werden die




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

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(D)



(A)



(B)


Gewerkschaften sagen, die Zustände hätten sich eben
geändert, deswegen werde man nicht mehr in den
Krieg ziehen.

Das heißt also – darin steckt eine große Brisanz –, ein
Gesetz, an das hochrangige Regierungsvertreter selbst
nicht mehr glauben, das sie vielmehr für ihre jeweiligen
politisch-taktischen Spielchen instrumentalisieren, halten
sie aufrecht und lassen es zu, dass, wie gesagt, in Thürin-
gen eine rechtschaffene Mittelständlerin ins Gefängnis
gesteckt wird. Das ist unglaublich und auch nicht mehr
lustig.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist unglaublich! Das ist die Mittelstandspolitik der SPD! – Rolf Kutzmutz [PDS]: Herr Kolb, wir sind hier nicht in der MuppetShow!)


Es ist eine Schande für das Rechtsverständnis, das wir
Bürgern auf diese Weise vermitteln. Es wirft ebenfalls ein
Licht der Verhöhnung auf alle Politiker, die hier Verant-
wortung tragen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich richte in diesem Zusammenhang drei Appelle an
verschiedene Gruppierungen, die ich nenne. Den ersten
Appell richte ich an den Bundesrat, der morgen über eine
mögliche Liberalisierung entscheiden wird. Ich bitte den
Bundesrat, Eigenständigkeit zu beweisen und sich nicht
von Herrn Bundeskanzler Schröder einlullen zu lassen,
sondern zu sagen: Jawohl, wir wollen wenigstens die Li-
beralisierung voranbringen, wenn auch noch nicht die Ab-
schaffung des Gesetzes.

Mein zweiter Appell – man scheint hier ja nur mit Ak-
tionen Bewusstsein schaffen zu können – richtet sich an
die Buchhändler, in der Nacht von Freitag, den 13. Okto-
ber 2000, auf Samstag, den 14. Oktober 2000, eine so ge-
nannte Mitternachtsparty zum Auftakt des Verkaufes des
Harry-Potter-Buches zu feiern. Das ist ein Bestseller, ein
fantastisches Kinderbuch, das dann erstmals in Deutsch-
land vorgestellt werden wird. Dies soll übrigens im Rah-
men von legalen Gesetzen geschehen. Damit sind Aufla-
gen verbunden, die eingehalten werden. Ich bitte die
Buchhändler, hier mitzuhelfen, uns Modernisierung zu
lehren und die Liberalisierung auf diesem Gebiet in
Schwung zu bringen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zum Dritten bitte ich die Öffentlichkeit, Protest-Mails

an die Bundestagsfraktion der F.D.P. oder an mich zu rich-
ten, die wir dann an den Bundeskanzler weitergeben. Da-
mit wollen wir gegen Stillstand und gegen die Kriminali-
sierung von Menschen in unserem Land wegen einer
wirklichen Nichtigkeit vorgehen.

Ich möchte hinzufügen: Ich finde es bemerkenswert,
dass alle Liberalisierungsbestrebungen – bis hin zur Ab-
schaffung des Gesetzes, was die F.D.P.-Bundestagsfrak-
tion seit langem will – in erster Linie aus den neuen
Bundesländern kommen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412111900
Frau Kollegin,
ich darf Sie auf das Ende Ihrer Redezeit hinweisen.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412112000
Ich komme zum Schluss.
Wir sagen noch einmal herzlichen Dank an Frau

Brückner. Auch das ist für uns hier in Berlin ein Zeichen
von Modernisierung, von Aufgeschlossenheit. Sie aus den
neuen Bundesländern machen uns Mut, auf diesem Weg
weiter voranzugehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412112100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gilges.


Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID1412112200
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren von der F.D.P., ich gestehe, dass ich hier
meinen Zorn unterdrücken muss;


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

denn es ist in diesem Hause ein einmaliger Vorgang – ich
bin seit 20 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages –,
dass Sie uns eine Rechtsbrecherin hier auf der Tribüne
präsentieren.


(Zurufe von der F.D.P.: Was?)

– Eindeutig. – Das Oberlandesgericht Thüringen hat ein
rechtskräftiges Urteil gefällt. Diese Dame ist eine Rechts-
brecherin.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Unmöglich!)

Wollen Sie uns demnächst alle Rechtsbrecherinnen in der
Bundesrepublik Deutschland hier auf die Tribüne setzen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine ehrbare Handwerksmeisterin! – Zurufe von der F.D.P.)


– Ich verstehe ja, dass Sie als F.D.P. mittlerweile Schwie-
rigkeiten mit Recht und Ordnung in unserem Land haben.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Eine Unverschämtheit!)


Aber solange es Gesetze gibt – unabhängig davon, wie
ich persönlich zu diesen Gesetzen stehe und ob ich die Ge-
setze für richtig oder falsch halte –, habe ich diese Gesetze
zu achten. Jeder Arbeitnehmer und jeder Arbeitgeber hat
sie zu achten. Keiner darf sich das persönliche Recht he-
rausnehmen, das Gesetz so zu interpretieren, wie es ihm
gefällt oder er es sich wünscht. Dazu kann auch kein so-
zialer Aspekt herangezogen werden.

Jeder, der die Straßenverkehrsordnung nicht beachtet,
wird mit einem Bußgeld bestraft, tagtäglich. Das gilt auch
für das Ladenschlussgesetz.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber die Dame ist in Handschellen aus ihrem Geschäft geführt worden!)





Gudrun Kopp
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(C)



(D)



(A)



(B)


– Das wird auch manch einer, der zu schnell gefahren ist
und das Bußgeld nicht bezahlt.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich beteilige mich hier nicht an Richterschelte; die So-

zialdemokraten werden sich auch nicht an Richterschelte
beteiligen. Es kann nicht von einer Kriminalisierung ge-
sprochen werden, Frau Kollegin. Wenn ein Richter das
Gesetz durchsetzt,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die Staatsanwaltschaft hatte Einstellung beantragt!)


handelt er nach Recht und Ordnung. Das, was wir hier be-
schlossen haben, setzt er durch.

Man kann über die Frage des Ladenschlusses lange dis-
kutieren, aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall wollen
Sie die Bevölkerung zum Rechtsbruch auffordern. Wer
dies in diesem Hause tut, handelt gegen Recht und Ord-
nung.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb sage ich zum Schluss – es ist schon ärgerlich

genug, dass wir diese Debatte überhaupt führen –:

(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Ja, das ist ärgerlich! Wir führen sie Ihretwegen!)

Für uns gibt es keinen Handlungsbedarf. Es gibt insbe-
sondere keinen Handlungsbedarf in Bezug auf ein Gesetz,
wenn ein Rechtsbruch vorliegt. Das gilt für Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, für Bürgerinnen und Bürger. Der
Rechtsbruch kann nicht Grundlage von Gesetzesänderun-
gen sein.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist unglaublich!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412112300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Grund.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus Thüringen!)



Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1412112400
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich mich auf
diese Aktuelle Stunde vorbereitet habe, bekam ich ob des
Themas manch unfreundlichen Kommentar zu hören:
Habt ihr im Deutschen Bundestag keine anderen Themen,
als dass ihr euch eine ganze Stunde mit Mondscheinfri-
sieren beschäftigen müsst?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Oder etwa: Die gute Frau macht Werbung in eigener Sa-
che und ihr helft noch kräftig mit dabei.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Macht sie ja auch! Macht sie perfekt!)


Wie dem auch sei: Die Fraktion der F.D.P. hat diese Ak-
tuelle Stunde beantragt, um von der Bundesregierung zu
hören, was sie zur Fortgeltung des Ladenschlussgesetzes
nach den Sanktionen gegen eine thüringische Friseurin zu
sagen hat. Der Stoff zu dieser Aktuellen Stunde hat es

in sich, und er ist ausgesprochen haarig und kopflastig.
Aus dem Stoff könnte man einen Wirtschaftskrimi schrei-
ben, einen Justizskandal entwickeln, er könnte einer Ope-
rette zur Vorlage dienen – wie „Figaros Hochzeit“ – oder
dem, was er eigentlich ist: einer Provinzposse. Die F.D.P.
hat sich entschlossen, daraus ein Epos zu machen, ein
Heldenepos.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


„Eine Heldin unserer Zeit“ – man spürt förmlich den
Zeitgeist vorüberwehen. Und als gelernter Mitteldeut-
scher und Thüringer erinnert man sich an das Buch „Ein
Held unserer Zeit“ des russischen Schriftstellers Michail
Lermontow, welches wir pflichtgemäß in der Schule zu
lesen hatten. Bei Lermontow ging es um eine gesell-
schaftskritische Betrachtung über eine dekadente Gesell-
schaft, die sich selbst zugrunde richtet.

Der verehrte Kollege Koppelin von der F.D.P. mit ei-
ner westdeutschen oder norddeutschen Sozialisation mag
dies nicht bedacht haben, als er aus einer Mondscheinfri-
seurin eine „Heldin unserer Zeit“ gemacht hat. Er wird
auch nicht an die echten Helden gedacht haben, die aus
dem real existierenden Sozialismus bekannt und erinner-
lich sind und tatsächlich auch mit Verdienstorden behängt
wurden: die Helden der Arbeit, die Helden der Landes-
verteidigung, die Helden der Erntekampagne und die Hel-
den der Landstraße.

Eine heldenhafte Mondscheinfriseurin ist nicht erin-
nerlich. Und es wurde auch niemand für einen Gesetzes-
verstoß mit einem Orden behängt. Genau darum geht es,
nämlich um einen Verstoß gegen das Ladenschlussgesetz.
Es ist gegen das Ladenschlussgesetz verstoßen worden;
gegen ein zugegebenermaßen antiquiertes, überholtes,
ungeliebtes und restriktives Gesetz,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


welches nicht mehr in diese Zeit passen will, das aber gül-
tig ist, einzuhalten ist und bei dem Verstöße gegen es mit
Strafe belegt sind.

Auf den Gesetzesverstoß hin haben Ämter und Ge-
richte das getan, wofür sie da sind – und wofür die dort
tätigen Personen auch bezahlt werden – die Einhaltung
von Gesetzen zu überwachen bzw. Verstöße dagegen zu
ahnden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist unverhältnismäßig!)


Unverhältnismäßig, kleinkariert, herzlos und bürokra-
tisch nennen das manche. Doch welcher Bußgeldbescheid
wegen Falschparkens wäre für den Betroffenen nicht un-
verhältnismäßig, nicht kleinkariert, nicht unverständlich
und nicht bürokratisch?

Wir begehen in diesen Tagen den zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit und damit auch zehn Jahre rechtsstaat-
licher Ordnung in den neuen Bundesländern. Es war nicht
von Anfang an selbstverständlich zu erwarten, dass die
Menschen in den neuen Ländern so schnell die Regularien
rechtsstaatlicher Ordnung akzeptieren und verinnerlichen




Konrad Gilges

11613


(C)



(D)



(A)



(B)


würden. Man sollte daher heute jemanden für einen Ge-
setzesverstoß, und sei es gegen das Ladenschlussgesetz,
nicht loben.

An diesem Thema wird deutlich: Nicht alles, was aus
den alten Bundesländern auf die neuen Bundesländer
übertragen wurde, weil es sich im Westen lange Zeit gut
bewährt hatte, war per se geeignet, unbesehen auf die
neuen Bundesländer übertragen zu werden. Wie beim La-
denschlussgesetz war auch mancher Ladenhüter dabei.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Richtig!)

Übrigens stand das Thema Änderung des Laden-

schlussgesetzes in diesem Sommer nur für kurze Zeit auf
der politischen Tagesordnung. Dann wurde es von
Gerhard Schröder schnell weggeräumt. Dies geschah im
Zuge der Verständigung – besser: des Kuhhandels – zwi-
schen Teilen der Gewerkschaften und Gerhard Schröder.
Und dieser Kuhhandel lautet: Ihr stört mich nicht bei mei-
nen Rentenkürzungen und ich lasse euch euer
Ladenschlussgesetz. Damit wird es auf absehbare Zeit
– Sie werden es morgen erleben, Frau Kollegin Kopp,
auch im Bundesrat – keine Veränderung des gültigen
Ladenschlussgesetzes geben.

Daher ist das geltende Ladenschlussgesetz anzuwen-
den. Auch ein vermeintlich edles, soziales Motiv ist keine
Begründung für einen Gesetzesverstoß. Wer Gutes tun
will, sollte dies innerhalb unserer Rechtsordnung tun.


(Konrad Gilges [SPD]: Richtig!)

Und dass sich die Einhaltung des Ladenschlussgeset-

zes und Mondscheinfrisieren gegenseitig nicht aus-
schließen, beweist ein Blick in den Kalender: So ging am
17. Januar 2000 in Suhl die Sonne um 16.15 Uhr unter und
der Mond auf –


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


also beste Zeit für Mondscheinfriseure bei dann hoffent-
lich auch Mondscheintarifen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412112500
Das Wort hat die
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! So ganz habe ich nicht verstanden, ob die
F.D.P. eine Aktuelle Stunde zum Ladenschluss oder zu
Sanktionen gegen eine thüringische Friseurin beantragt
hat. Ich glaube, sie weiß es selber nicht so ganz. Ich je-
denfalls habe überhaupt keine Lust, hier im Bundestag da-
rüber zu diskutieren, ob in Suhl in diesem Fall die Ver-
hältnismäßigkeit der Mittel gewahrt worden ist oder nicht.
Das soll vor Ort diskutiert werden; das gehört nicht in den
Bundestag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vielleicht ist es das Problem der F.D.P., dass sie die Dis-
kussion in Thüringen nicht führen kann. Aber dann soll sie
sich um mehr Wählerstimmen bemühen.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte hier lieber etwas zum Ladenschluss sagen.
Angesichts der Diskussion, die in diesem Sommer auch
von den Wirtschaftsministern der Länder eröffnet worden
ist, ist es mir wichtig – das gilt gerade im Hinblick auf
Ostdeutschland –, dass wir die Diskussion nicht nur ein-
dimensional führen und uns darauf beschränken, die An-
sprüche von Großunternehmen gegen die Ansprüche von
Gewerkschaften abzuwägen, sondern dass wir auch die
städtebauliche Dimension und die Probleme der Innen-
städte in die Debatte einführen. Dies ist dem Deutschen
Städtetag und dem Gemeindebund ebenfalls sehr wichtig.

Von daher werde ich die wenigen Minuten Redezeit
nutzen, um dafür zu werben, dass wir uns engagiert über
das Thema City-Privilegien im Ladenschluss auseinander
setzen. Das heißt, wir sollten nicht über eine weitere
flächendeckende Freigabe von Ladenöffnungszeiten
streiten, sondern sehr genau überlegen, was wir tun kön-
nen, um die Innenstädte zu stärken und ihnen gerade am
Abend und am Samstag mehr Besucherströme zuzu-
führen. Ich sehe nämlich die große Gefahr einer flächen-
deckenden Freigabe darin, dass der Einzelhandel auf der
grünen Wiese, also an den nicht integrierten Standorten,
weiter gestärkt wird und dass die Konkurrenz im Einzel-
handel insgesamt zu weiterem Dumping führen wird. Wir
müssen schon ernst nehmen, dass der Einzelhandel unter
einer sehr harten Konkurrenzsituation leidet, die insbe-
sondere den kleinen Unternehmen enorm zu schaffen
macht.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Was ist „Innenstadtbereich“?)


– Das können wir noch genau diskutieren. Das sind die
Kernbereiche nach Flächennutzungsplan. Das erforderli-
che rechtliche Instrumentarium gibt es. Falls Sie sich im
Städtebaurecht nicht auskennen, kann ich Ihnen gerne
Nachhilfeunterricht geben.

Ich würde es begrüßen, wenn wir eine solche Diskus-
sion führten, und ich freue mich, dass gerade heute der
Deutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Ge-
meindebund die von mir erhobene Forderung in einer ge-
meinsamen Erklärung in die Öffentlichkeit gebracht und
den Bundesrat aufgefordert haben, längere Ladenöff-
nungszeiten nur auf die Geschäfte in den Innenstädten zu
beschränken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel-
und Großbetriebe unterstützt diese Forderung ebenfalls.

Indem wir dieser Forderung nachkommen, werden wir
beiden Beteiligten an der heutigen Auseinandersetzung
Recht tun: Einerseits werden wir die Ausweitung der La-
denöffnungszeiten auf bestimmte Standorte begrenzen, an
denen es sinnvoll und wichtig ist, und andererseits werden
wir die Konkurrenz in diesem Bereich etwas strukturie-
ren. Dies täte unseren Städten wirklich gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Manfred Grund
11614


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412112600
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.


Dr. Heidi Knake-Werner (PDS):
Rede ID: ID1412112700
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur der Kollege
Möllemann, nein, die ganze F.D.P.-Fraktion ist für Über-
raschungen gut. Erstens ruft sie in diesem Hause erstmals
zu außerparlamentarischen Aktionen auf und zweitens
empfinde zumindest ich es als überraschend, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, den Einsatz für die
thüringische Mondscheinfriseurin offensichtlich dazu ge-
nutzt haben, Ihre Vorliebe für ein Leben nach dem Mond-
kalender zu entdecken. Ich darf Ihnen sagen, was er Ihnen
für heute empfiehlt. Im Mondkalender steht für heute,
dass Sie auf Ihre Blase und Ihre Nieren achten müssen


(Beifall bei der PDS – Heiterkeit bei der SPD)

und sich nicht ins Gras oder auf Steine setzen sollen.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Auch nicht in die Nesseln!)


Zu spät, kann ich nur sagen. Weder Gras noch Steine. –
Mit dieser Aktuellen Stunde haben Sie sich kräftig in die
Nesseln gesetzt.


(Beifall bei der PDS – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das ist aber peinlich!)


Jetzt zum Ernst der Sache. Die Aktion von Frau
Brückner hat, wie ich finde – ich denke, meine Fraktion
unterstützt das –, einen zutiefst menschlichen und an-
rührenden Hintergrund. Dieses soziale Engagement ver-
dient unsere Anerkennung.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Vielleicht ist die Methode ein bisschen versponnen; dazu
kann man stehen, wie man will. Ein Geschäft jedenfalls
war es nicht.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Richtig!)

Die Reaktionen der Behörden stehen dazu in der Tat in
überhaupt keinem Verhältnis und sind völlig unakzepta-
bel.


(Beifall bei der PDS)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., dies
nun zu missbrauchen, um Ihr Lieblingsthema Laden-
schlussgesetz wieder aus dem Hut zu zaubern, finde ich
wirklich mehr als peinlich.


(Beifall bei der PDS – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wenn es kein Gesetz gäbe, hätten wir den Fall nicht!)


Da wir das Thema nun aber auf dem Tisch haben, möchte
ich einige Argumente anführen, warum wir von der PDS
der Auffassung sind – diesmal sogar in Übereinstimmung
mit der Regierung –, dass es hinsichtlich des Laden-
schlusses keinen Handlungsbedarf gibt.

Natürlich wäre es angenehm – das wissen wir aufgrund
der Form unserer Arbeit alle –, rund um die Uhr einkau-
fen zu können.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: An der Tankstelle! – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Auf Bahnhöfen!)


Auch ich stelle fest, dass die Konsummeilen in den
großen Städten zunehmend an Attraktivität für Freizeit-
und Familienvergnügen gewinnen. Das will ich auch nie-
mandem verwehren. Aber ich frage Sie: Geht es Ihnen
denn wirklich um Verbraucherinnen und Verbraucher?
Die haben in der Woche 80 Stunden Zeit, ihren Bedarf zu
decken. Mehr Geld wollen Sie ihnen ja auch nicht geben,
wenn Sie die Ladenschlusszeiten aufheben. Ich glaube, es
geht Ihnen in der Tat um etwas ganz anderes,


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Um weniger Staat!)

nämlich um die Fortführung von Deregulierung.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Um die Förderung des Einkaufs bei Tankstellen!)


Mir und der PDS geht es um die Menschen, die in die-
sem Bereich arbeiten. Alle Veränderungen bei den La-
denöffnungszeiten – das hat auch die letzte Veränderung
gezeigt – gehen zulasten der in diesem Bereich arbeiten-
den Menschen, insbesondere zulasten der Frauen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Was macht die Gastronomie?)


Ihre Bedingungen verschlechtern sich massiv. Die Ar-
beitsplätze werden aufgelöst, aus Vollzeit- werden Teil-
zeitjobs.

Wir kennen ja die Argumente; wir haben sie hier schon
vielfach ausgetauscht. Die Konkurrenz der kleinen Unter-
nehmen gegenüber der grünen Wiese nähme unerträglich
zu. Das Familienleben spielte sich dort dann nur noch hin-
ter dem Ladentisch ab. Es gäbe einen enormen Verlust an
sozialen Beziehungen; das wissen Sie ganz genau. – Ich
denke, es gibt eine Reihe guter Gründe zu sagen: Die Aus-
weitung der Ladenöffnungszeiten ist völlig überflüssig.
Und die Regelung der Öffnungszeiten allein den Kom-
munen zu überlassen, halten wir auch für völlig daneben.


(Beifall bei der PDS)

Nun noch ein Wort an die F.D.P.: Wenn Sie diese Ak-

tuelle Stunde als Zeichen dafür nehmen, dass Sie zukünf-
tig unterstützen, dass Dienstleistungen nach dem Mond-
kalender erbracht werden, dann können wir ja auf einiges
gefasst sein. Zeiten für Restaurantbesuche werden dann
ausgependelt,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ich merke schon, dass Sie hinter dem Mond leben!)


Wäsche wird bei abnehmendem Mond gewaschen, weil
man so Waschpulver sparen kann. Wann Fliesen verlegt
werden, bestimmen zukünftig Tarotkarten, und die Inhalte
von parlamentarischen Initiativen werden mit der Wün-
schelrute gesucht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: So ein Quatsch!)


Ich habe den Eindruck, damit haben Sie heute bereits be-
gonnen.

Noch ein letzter Tipp ganz speziell an Sie: Stiertage im
zunehmenden Mond sind gut für Bankgeschäfte, Kauf-
verträge und Geldanlagen.


(Beifall bei der PDS – Heiterkeit bei der SPD – Zuruf von der F.D.P.: Lustig ist das alles nicht!)







(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412112800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1412112900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich denke auch, dass diese
Aktuelle Stunde eigentlich nur peinlich,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Für die SPD!)

absurd und des Parlamentes nicht würdig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das müssen Sie als F.D.P. einfach begreifen. Wir wollen
mit Ihnen nicht über esoterische Mondscheinsperenzchen
reden. Wir wollen mit Ihnen genauso wenig über den
Werbegag einer Unternehmerin oder darüber reden, wer
hier eigentlich wen instrumentalisiert. Die Frage ist doch,
ob die F.D.P. die Unternehmerin instrumentalisiert, damit
sie uns hier eine Ladenschlussdiskussion aufzwängen
kann, oder ob die Unternehmerin möglicherweise die
F.D.P. instrumentalisiert; denn sie hat ihre Werbung bun-
desweit so hervorragend organisiert, dass auch diese Ak-
tuelle Stunde de facto nichts weiter ist als eine Werbever-
anstaltung für ihre Dienstleistung. Das muss man schlicht
und einfach feststellen.


(Beifall bei der SPD – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Sie haben nichts verstanden!)


Der Zweck heiligt auch nicht die Mittel. Ihrer absurden
Logik können wir wirklich nicht folgen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das glaube ich!)

Wenn jemand spendet, muss er nicht gegen Gesetze ver-
stoßen. Dass es hier im Haus einige gibt, die mit Spenden
gewisse Probleme haben, wissen wir. Aber darüber soll-
ten wir besser an anderer Stelle diskutieren. Das müssen
wir nicht in einen Zusammenhang bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn jemand ein Bußgeld nicht bezahlt und der
Rechtsstaat daraufhin seine Mittel einsetzt, dann ist dies
überhaupt keine Diskussion in diesem Parlament wert;
denn dies ist nichts weiter als die Ausübung dessen, was
die Gerichte machen müssen.

Sie behaupten nun, das Ladenschlussgesetz sei nicht
mehr zeitgemäß.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Schon lange nicht mehr!)


Ich frage: Wie sieht es denn bei den Geschwindigkeits-
überschreitungen aus, die schon mehrfach erwähnt wur-
den? Schaffen wir etwa die Straßenverkehrsordnung ab,
weil sie nicht mehr zeitgemäß ist? Denken wir an andere
Bereiche. Bedauerlicherweise sind die Kirchen meistens
leer.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Weil ihr nicht hingeht!)


Die Leute gehen nicht mehr regelmäßig in den Gottes-
dienst. Ist es deshalb nicht mehr zeitgemäß zu glauben?

Viel zu viele Ehen, behaupte ich, werden geschieden. Ist
es deshalb nicht mehr zeitgemäß, Ehe und Familie unter
den Schutz des Gesetzes zu stellen? Nach Ihrer Logik
wäre das nicht mehr zeitgemäß. Dieser Logik wollen wir
nicht folgen. Über sie können wir nicht diskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das, was im Moment nicht zeitgemäß ist, ist der Popu-
lismus, den Sie mit dem Thema des Ladenschlusses be-
treiben. Das ist peinlich und dem Diskussionsniveau in
diesem Parlament nicht angemessen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte Ihnen auch sagen – ich habe noch zwei Mi-

nuten Redezeit –, worüber wir gerne reden wollen. Das
hängt schon ein bisschen mit der Ernsthaftigkeit der Dis-
kussion über den Ladenschluss zusammen, weil es hier
absolut unterschiedliche, aber durchaus berechtigte Inte-
ressen gibt, die gegeneinander stehen. Es gibt auf der ei-
nen Seite die kleinen Unternehmer, die mehr Umsatz in
den Innenstädten haben wollen. Es gibt auf der anderen
Seite die großen Konzerne, die ihren Gewinn optimieren
wollen. Es gibt auch noch die Verbraucher, von denen laut
Umfragen mehr als die Hälfte keine verlängerten Laden-
schlusszeiten braucht.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Nein, das ist nicht wahr! 51 Prozent wollen das!)


Es stellt sich des Weiteren die Frage, warum denn ei-
gentlich die geltende Regelung der Ladenöffnungszeiten
bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Es stellt sich auch die
Frage, warum uns reihenweise die Untergliederungen und
die Regionalverbände – nicht zuletzt die kleinen und mit-
telständischen Einzelhändler aus Berlin, einer Großstadt,
der ich Weltstadtcharakter und damit ein Recht auf Libe-
ralisierung zugestehe – trotz entsprechender Beschlüsse
der Bundesverbände in Briefen inständig darum bitten,
ihre Interessen hier entsprechend zu vertreten.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Das ist einfach nicht wahr!)


Schauen wir uns auch einmal die Interessen der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel an.
Wie sollen die denn angesichts ständig wechselnder Ar-
beitszeiten ihre Kinder betreuen? Auch darüber müssen
wir uns Gedanken machen. Wie sollen die noch genügend
gemeinsame Freizeit haben, sodass sie miteinander Akti-
vitäten entfalten und miteinander reden können,


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Was ist mit den anderen Arbeitnehmern, die abends arbeiten müssen?)


ein Ehrenamt ausüben können und in Vereinen und Ver-
bänden aktiv werden können? Alle diese Dinge müssen
geklärt werden. Wir wollen, verehrte Frau Kopp, mit all
diesen Betroffenen in Ruhe reden, um zu zeigen, dass wir
ihre Wünsche und Forderungen ernst nehmen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Wir reden schon seit zehn Jahren darüber!)


– Nein, Sie reden nicht seit zehn Jahren darüber. – Wir
nehmen die Betroffenheiten ernst. Wir werden uns in aller






(C)



(D)



(A)



(B)


Ruhe damit auseinander setzen; denn wenn das Laden-
schlussgesetz geändert wird, soll es vernünftig geändert
werden, sodass es den unterschiedlichen Interessen der
Betroffenen auch tatsächlich entspricht, und zwar auf län-
gere Zeit.


(Beifall bei der SPD – Gudrun Kopp [F.D.P.]: Nur für taktische Spielchen wird das Gesetz gebraucht!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412113000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1412113100
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema
Mondscheinhaarschneiden halte ich in der Tat für ein biss-
chen abstrus und nicht wert, hier debattiert zu werden.
Nachdem die F.D.P. das Bußgeld übernommen hat, soll-
ten Sie von der F.D.P., um das Thema in der Diskussion
zu halten, vielleicht darüber nachdenken, ob Sie in der
F.D.P.-Geschäftsstelle das „Nachthaarschneideasyl“ ga-
rantieren. Damit kommen dann auch Sie einmal in die
Zeitung.

Ich sage Ihnen deutlich – darin besteht mein Vorwurf
an Sie –: Sie haben dem Thema Ladenschluss durch diese
Diskussion nicht geholfen; vielmehr haben Sie es lächer-
lich gemacht und ihm geschadet,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

weil Sie es den Koalitionsfraktionen erlauben, sich hinter
bösartigen Behauptungen zu verstecken, ohne etwas zum
Thema zu sagen. Das ist leider das Ergebnis.

Ich möchte den Versuch unternehmen, dieses Thema
anzugehen. Ich halte gerade die letzte Machtentscheidung
des Kanzlers für falsch.


(Konrad Gilges [SPD]: Sonst wären Sie ja auch Sozialdemokrat!)


Der Kanzler hat im Wahlkampf entschieden: Innovation,
mehr Flexibilität, Vorbereitung auf die Zukunft. Beim
Thema Ladenschluss ist er als mutiger Tiger gesprungen,
aber als Bettvorleger gelandet. Unter dem Bettvorleger
hat er den Ladenschluss erst einmal weggekehrt. Ich
finde, das ist falsch, vor allem deswegen, weil diese Ent-
scheidung in Hinterzimmern getroffen worden ist. Es gab
Verabredungen mit Gewerkschaften und keiner weiß so
genau, was da verhandelt worden ist.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Was erzählen Sie denn darüber, wenn Sie nicht wissen, was dort geredet worden ist!)


Das Thema ist erst einmal vom Tisch. Ich halte das für
falsch, weil ich finde, dass wir darüber reden müssen. Wir
können darüber heute offener reden als vor etwa vier Jah-
ren, als wir die Entscheidung getroffen haben, zu einer
Flexibilisierung zu kommen. Ich erinnere mich an unsere
Anhörung im Ausschuss. Es war eine der interessantesten,
weil es mindestens 30 oder 35 Verbände gab, die zwar alle
eine unterschiedliche Meinung hatten, aber keiner in der
Lage war zu sagen, warum der Ladenschluss ausgerech-
net bei 18.30 Uhr statt bei 19 Uhr oder bei 18 Uhr liegen

soll, warum der optimale Effekt hinsichtlich der Gewinn-
erzielung und der Einkaufsmöglichkeiten der Verbraucher
gerade bei dieser Uhrzeit liegt.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Deswegen brauchen wir auch kein Gesetz mehr!)


Die Grenzziehung ist sehr schwierig. Deswegen bin
ich persönlich für eine Entwicklung hin zu ein bisschen
mehr Öffnung und zu mehr Flexibilität bei den Öffnungs-
zeiten in der Woche. Wir sollten über den Samstag ruhig
noch einmal in aller Breite diskutieren und wir sollten
vielleicht auch darüber nachdenken, wie man Arbeitneh-
merrechte sichern kann. Gleichzeitig müssen wir uns da-
rüber Gedanken machen, wie wir dafür sorgen können,
dass wir den Sonntag wirklich wieder zum Sonntag ma-
chen.


(Beifall der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU])


Auch das muss ein Ziel dieser Debatte sein.
In der Realität gibt es heute überall Entwicklungen, die

die Ladenschlussgesetzgebung durchbrechen. Das fängt
damit an, dass ganze Branchen – Feuerwehr usw. – auch
nach dem Ladenschluss arbeiten müssen, weil das uner-
lässlich ist. Diese Entwicklung findet auch in anderen Be-
reichen statt. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Dort gibt
es, um den Bedarf nach Gütern, die man nach der Laden-
schlusszeit erwerben möchte, zu befriedigen, ein ganzes
System von Kiosken – wir nennen sie im Ruhrgebiet Bu-
den –, wo man alles kaufen kann. Das ist die Realität. Sie
alle kennen es, dass man schnell zu Fuß zur Tankstelle
geht, um dort etwas zu kaufen, was man vergessen hat.
Das heißt, die Entwicklung in der Realität ist längst wei-
ter. Gerade eine Politik, die sich vorgenommen hat, Inno-
vationen vorzunehmen, muss da ein Stückchen weiterge-
hen.

Offensichtlich scheuen dieser Bundeskanzler und diese
Bundesregierung an allen Stellen, wo es ein bisschen
eckig und kantig wird, die Auseinandersetzung, die Dis-
kussion der Frage, was passieren muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie ist auch nicht vertreten! Es ist niemand da!)


Es wäre schön, wenn die Bundesregierung selber in die-
ser Debatte einmal ihre Position zum Ladenschluss deut-
lich darstellen würde. Im letzten Jahr wurde gesagt: Wir
warten den Bericht ab.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Schauen Sie mal! Die sind alle einkaufen!)


–Auch Frau Mascher ist entschwunden. Na gut, ich werte
das einmal als Zeichen dafür, dass es sich um Themen
handelt, bei denen der Regierung wirklich der Mut fehlt. –
Ich bin dafür, hier eine Debatte zu führen, in der wir in der
Sache weiterkommen. Es ist schade, dass die Bundesre-
gierung in dieser Aktuellen Stunde gar nichts sagt und
ihren Hinterzimmerbeschluss, den Schröder mit den Ge-
werkschaften gefasst hat, nicht öffentlich erläutert, damit
wir wissen, wie ihre Position aussieht. Das würde uns si-
cherlich viel helfen, doch dazu kommt es nicht. Aber die




Dr. Margrit Wetzel

11617


(C)



(D)



(A)



(B)


Zeit schreitet voran und wir werden sachlich miteinander
darüber reden, wie wir das Problem lösen.

Ein Letztes. Ich glaube, dass es ganz egal ist, ob wir sa-
gen: Die Geschäfte können bis 20 Uhr, bis 22 Uhr oder bis
24 Uhr geöffnet sein. Die Realität hat uns überholt – da-
rauf habe ich hingewiesen – und, ganz egal, was wir be-
schließen, die weitere Entwicklung wird vor Ort ent-
schieden. Vor Ort wird entschieden, wie lange und in
welchen Bereichen die Läden geöffnet sind. Die Men-
schen in den Städten wissen das. Wir müssen das Problem
lösen, wie die Öffnungszeiten in Großstädten und auf dem
Lande, in den Zentren und den Außenbereichen geregelt
werden. Es erfordert ein bisschen Mut und Realitätssinn,
diese Fragen anzugehen. Doch daran fehlt es der Bundes-
regierung.

Ich sage es zum Schluss noch einmal: Es ist schade,
dass Sie von der F.D.P. dieses eigentlich wichtige Thema
mit dem Mondscheinhaarschneiden ein bisschen ins
Lächerliche gezogen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412113200
Das Wort hat
jetzt der Kollege Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412113300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Meckelburg,
wir haben das Thema nicht mit dem Mondscheinhaar-
schneiden ins Lächerliche gezogen. Vielmehr zeigt das
wieder einmal sehr deutlich, dass es einen Unterschied
ausmacht, ob man nur in Sonntagsreden das Hohelied auf
den Mittelstand singt oder ob man sich auch konkret in
Notsituationen um kleine Handwerksunternehmen vor Ort
kümmert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Genau das tun wir hier und das lassen wir uns von nie-
mandem verbieten.


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Wo ist denn da die Notsituation gewesen?)


– Das will ich Ihnen gerade erklären.
Herr Kollege Gilges, was Sie gesagt haben, war voll-

kommen daneben.

(Beifall bei der F.D.P.)


Ich will Ihnen den Fall noch einmal schildern. Diese mu-
tige Frau – ich muss das hier sagen – ist in Handschellen
aus ihrem Geschäft geführt worden, weil sie sich gewei-
gert hat, einen Offenbarungseid zu leisten, der ihr ab-
verlangt wurde. Das ist der Kern der Dinge.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Dafür ist sie zwei Tage in den Knast gegangen.


(Konrad Gilges [SPD]: Ja, weil sie nicht bezahlt hat! Das muss jeder andere Bürger auch!)


Hier werden, Herr Gilges, Ihre alten Feindbilder wieder
wach. Wenn das Gleiche einem Arbeitnehmer passiert

wäre, wären Sie auf die Barrikaden gegangen. Aber wenn
es eine Unternehmerin ist, dann haben Sie nichts dagegen.


(Beifall bei der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Nein, das passiert den Arbeitnehmern jeden Tag!)


Hier ging es aber eben nicht um Profitgier, sondern um
eine gute Sache. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Wenn es Sie beruhigt, Herr Kollege Gilges:

(Konrad Gilges [SPD]: Ich bin nicht aufge regt!)

Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung die
Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit bean-
tragt.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Nein, das stimmt nicht!)


Dann aber hat ein Richter durch eine absolut unverhält-
nismäßige Entscheidung dazu beigetragen, dass das ge-
schehen ist, was ich geschildert habe, nämlich dass die
Unternehmerin in Handschellen aus ihrem Unternehmen
herausgeführt wurde. Es muss uns allen doch ein Anlie-
gen sein, dass so etwas nicht passiert.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Haben Sie denn schon einmal etwas von Gewaltenteilung gehört?)


– Davon habe ich sicherlich schon gehört. Ich habe aber
auch schon etwas vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gehört.

Ich will es allen Vertretern der anderen Fraktionen hier
im Hause deutlich sagen: Das hätte nicht passieren
müssen, wenn Sie vor wenigen Wochen unserem Gesetz-
entwurf zugestimmt hätten, das Ladenschlussgesetz weit-
gehend zu liberalisieren. Dann nämlich hätte diese Frau
auch bei Mondschein Haare schneiden können, ohne mit
der Keule des Gesetzes bedroht zu werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Gilges, hören Sie einmal zu, hier können Sie etwas
lernen.


(Konrad Gilges [SPD]: Ich höre zu!)

Das zeigt auch den ganzen Widersinn Ihrer Politik. Sie

glauben, gegen eine sich wandelnde Umwelt, gegen sich
verändernde wirtschaftliche Bedingungen ein Gesetz auf-
rechterhalten zu müssen, das niemand mehr will:


(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


das der Einzelhandel nicht mehr will, das die Verbraucher
nicht wollen und das die Mehrheit des Bundesrates nicht
mehr will. Nur Sie halten krampfhaft an diesem Gesetz
fest.


(Beifall bei der F.D.P. – Konrad Gilges [SPD]: Lesen Sie das hier doch mal!)





Wolfgang Meckelburg
11618


(C)



(D)



(A)



(B)


Dann lassen Sie uns das Gesetz doch ändern!

(Konrad Gilges [SPD]: Nein!)


– Aber sicher!

(Konrad Gilges [SPD]: Sie wollen, dass das beibehalten wird!)

– Nein, wir wollen das nicht. Sie wollen das vielleicht.


(Konrad Gilges [SPD]: Die Werbegemeinschaft Tempelhofer Damm will, dass das Gesetz beibehalten wird! Die sagen: Herr Gilges, bleiben Sie hart!)


– Herr Gilges, ich weiß ja nicht, auf welchem Stern Sie le-
ben. Ich habe aber sehr wohl mitbekommen, dass in den
letzten zwei oder drei Jahren ein dramatischer Be-
wusstseinswandel bei allen Betroffenen stattgefunden
hat. Auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhan-
dels, der sich noch vor drei Jahren entschieden gegen eine
Änderung des Ladenschlussgesetzes ausgesprochen hat,
ist plötzlich dafür. Das kommt nicht von ungefähr, son-
dern hat Gründe. Warum ist das so? Zur gleichen Zeit, als
Frau Brückner bei Mondschein Haare geschnitten hat, ha-
ben sich Hunderttausende in Deutschland vor ihren Com-
puter gesetzt und ihre Kreditkarte belastet, um Shampoo,
Bier oder was oder auch immer zu bestellen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Von der Bundesregierung – die Frau Staatssekretärin

ist Gott sei Dank wieder da – hört man weiter nichts, als
dass der Bundeskanzler auf allen Kanälen nach einer
Kiste Bier schicken lässt. Da kann man nur hoffen, dass
der Getränkeladen schon geschlossen ist. Aber wahr-
scheinlich wird das unserem Bundeskanzler, Gerhard
Schröder, auch nichts ausmachen, weil er dann seinen
Fahrer an die Tankstelle schickt, um ein Six-Pack zu
holen.


(Beifall bei der F.D.P. – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Und eine Currywurst!)


Nur, das sind doch keine Rahmenbedingungen für eine
gesunde Entwicklung der Wirtschaft und insbesondere
des Mittelstandes in unserem Lande. Deswegen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, müssen Sie verstehen, dass
ich mich hier ein bisschen ereifere. Ich bin selbst von
Haus aus Unternehmer. Daher finde ich es unerträglich,
wie hier gegen eine wirklich mutige, entschlossene und
ein Stück weit auch unbeugsame Unternehmerin aus Thü-
ringen vorgegangen worden ist. Ist denn das etwas
Schlechtes?


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich hätte mir gewünscht, dass von der Landesregierung in
Thüringen heute jemand hier gewesen wäre


(Beifall bei der F.D.P.)

und erklärt hätte, wie es dazu kommen konnte. Dem Jus-
tizminister des Landes würde ich nahe legen, die offen-
sichtlich vorhandenen Kapazitäten auf andere Dinge zu
konzentrieren – vielleicht auf die Bekämpfung des
Extremismus oder auf die Aufklärung von Affären, die es
innerhalb der Landesregierung gegeben hat.


(Beifall bei der F.D.P.)


Das wäre sicherlich auch eine lohnenswerte Aufgabe.

(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Sie haben komi sche Argumente!)

Aber bitte nicht mit dem Vorschlaghammer und in Form
eines Rundumschlags gegen eine unbescholtene Unter-
nehmerin vorgehen! Ich wünsche niemandem, dass er das
erlebt, aber ich glaube, es wäre für den einen oder ande-
ren einmal heilsam, zwei Tage und zwei Nächte im Knast
zu verbringen. Dann würde er über die Sache vielleicht
anders denken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Siegfried Helias [CDU/CSU] – Konrad Gilges [SPD]: Weil die Wähler Sie abgewählt haben, müssen wir uns jetzt mit Ihnen herumplagen! – Weitere Zurufe von der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412113400
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.


Brigitte Baumeister (CDU):
Rede ID: ID1412113500
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal
habe ich geschmunzelt, manchmal habe ich gestaunt und
in mich hineingehört. Dass das Thema Ladenschluss eine
solche Facette hat, war mir neu. Aber wir haben ja schon
sehr viele Diskussionen in diesem Hohen Hause erlebt.

Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns seit vielen
Jahren. Es ist kein einfaches Thema, sondern ein unge-
mein schwieriges Thema, weil im Zusammenhang mit
dem Ladenschluss Regelungen getroffen werden, die für
manche gut und für manche schlecht sind, die die Inte-
ressen des Einzelhandels wie die der Verbraucher und der
Arbeitnehmer berühren, aber auch die der Kommunen.
Weil dieses Thema so vielschichtig ist, ist es auch so
schwierig zu entscheiden.

Konfliktreich war dieses Thema schon immer. Ich
erinnere mich noch sehr gut an das Jahr 1996, als die da-
malige Regierungskoalition eine Änderung des Laden-
schlussgesetzes beschlossen hat. Es gab ewig lange Dis-
kussionen. Es gab, Herr Gilges, ein vehementes Nein aus
Ihrer Fraktion.


(Konrad Gilges [SPD]: Ja!)

Es gab seitens der F.D.P. die Forderung nach einer noch
stärkeren Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes. Es
gab die Haltung des Einzelhandels, der überhaupt nichts
verändern wollte. Es gab unterschiedliche Auffassungen
bezüglich der Regelung in Innenstädten und ländlichen
Bereichen. Es gab auch die Diskussion, ob man die La-
denschlusszeit um eine Stunde verlängern sollte. Ich habe
damals gesagt, wir könnten vielleicht mit fünf Minuten
anfangen. Wir haben das Gesetz dann geändert. Zumin-
dest hat das heute in gewissen Bereichen zu einer Beru-
higung beigetragen. Es wurde gerungen und argumentiert
und bis zur heutigen Stunde ist dieses Thema emotional
belastet. Die grundsätzliche Frage, ob man den Laden-
schluss vollkommen liberalisieren und freigeben soll,
wird uns mit Sicherheit noch eine ganze Weile beschäftigen.




Dr. Heinrich L. Kolb

11619


(C)



(D)



(A)



(B)


Es liegt ja ein Antrag vonseiten der F.D.P. auf vollkom-
mene Freigabe vor.


(Konrad Gilges [SPD]: Dem stimmen Sie aber nicht zu?)


– Mein Abstimmungsverhalten gebe ich jetzt noch nicht
preis. Darüber sprechen wir dann später im Ausschuss.
Ich stimme Ihnen aber dahin gehend zu, dass all dies
äußerst schwierig ist.

Auf der einen Seite erleben wir zum Beispiel im
Einzelhandel eine starke Konzentration. Diese stimmt
mich nicht froh; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Ich hätte gerne noch das kleine Geschäft an der Ecke, bei
dem man unterschiedliche Waren bei kompetenter Be-
dienung kaufen kann und nicht nur ein Standardsortiment,
wie es heute in vielen Städten tatsächlich angeboten wird.
Ich sehe aber auf der anderen Seite auch ganz klar, dass
wir durch E-Commerce, modernen Handel usw. in die
Lage versetzt werden, über Zeiträume hinweg ein-
zukaufen, die wir uns früher noch gar nicht vorstellen
konnten.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Man möchte doch einmal abends zum Friseur gehen können!)


– Das weniger. Ich gehe normalerweise, sehr verehrter
Herr Koppelin, morgens oder abends zum Friseur, aller-
dings nicht zu so später Stunde. Da bin ich zu müde und
kann das Werk nicht so gut begutachten. Deswegen lege
ich Wert darauf, etwas früher zu gehen.

Die Union erkennt deshalb durchaus an, dass Hand-
lungsbedarf besteht und wir darüber diskutieren müssen.
An der Stelle möchte ich aber klarstellen, dass wir zu dem,
was die F.D.P. hier vorhat, nämlich die Regelungen den
Ländern zu übertragen, vehement Nein sagen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Für sonntags!)

– Was Herr Kollege Meckelburg schon für die Union ge-
sagt hat, möchte auch ich noch einmal betonen: Der Sonn-
tag ist mir und uns heilig. Ich glaube, dass wir für den
Sonntag eine bundeseinheitliche Regelung brauchen. Das
ist wichtig und dafür wird sich die Union vehement ein-
setzen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Ist doch durch die Verfassung geschützt!)


Mich wundert allerdings, dass die Bundesregierung auf
der einen Seite gerne die Ladenschlusszeiten ändern
möchte – Herr Müller hat dies ja angedeutet –, auf der an-
deren Seite aber Angst hat, dass die Gewerkschaften
gegen eine Neuregelung ihre Basis mobilisieren könnten.
Die Bundesregierung hat auch Angst, dass dann ihre
Rentenpläne möglicherweise nicht mehr von den Ge-
werkschaften unterstützt würden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist nämlich der wahre Grund! Kuhhandel! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist wahr!)


Um die Gewerkschaften zu besänftigen, sagt der Herr
Schröder: Ladenschluss ist derzeit kein Thema.

Schade, sage ich. Vielleicht wiederum ein wenig Tak-

tik; denn der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister
Schwanhold hat ja bewusst einen Vorstoß unternommen.


(Gudrun Kopp [F.D.P.]: Und Clement!)

– Ja, er selbst auch. – Der Bundesrat hat ebenfalls signa-
lisiert, dass dieses Thema nicht abschließend einseitig be-
sprochen worden ist, sondern durchaus noch offen ist.

Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 15. September, dass
in Kreisen der SPD-Landesregierungen bestätigt worden
sei, alle Ministerpräsidenten hätten eingesehen, dass ein
Konsens mit den Gewerkschaften zur Rentenreform jetzt
Vorrang habe und die Liberalisierung des Laden-
schlussgesetzes warten müsse. – Ich glaube, so geht es
nicht. Die Menschen hier im Hause, aber auch draußen,
der Mittelstand, der Einzelhandel, die großen Geschäfte,
die Verbraucher haben ein Recht darauf, zu erfahren, was
die Bundesregierung zu diesem Thema sagt. Sie wollen
nicht Opfer taktischer Spielchen werden, sondern sie
wollen eine berechenbare Politik, die sich am Gemein-
wohl orientiert. Wir fordern Sie auf, einen Gesetzentwurf
dazu einzubringen.


(Konrad Gilges [SPD]: Das Bundeskabinett hat im Dezember vergangenen Jahres beschlossen: kein Handlungsbedarf!)


Diese Regelung soll ausgewogen sein, Herr Gilges. Es
wäre an der Zeit, dass Sie noch einmal darüber nachden-
ken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Auch wir haben gesagt, wir denken darüber nach! Das Denken ist unser tägliches Geschäft!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412113600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias, CDU/CSU-Frak-
tion.


Siegfried Helias (CDU):
Rede ID: ID1412113700
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich das
erste Mal von dieser haarsträubenden Geschichte hörte,
habe ich an einen gelungenen Werbegag des Zentralver-
bandes des deutschen Friseurhandwerks im Vorfeld der
jetzt in Berlin beginnenden Friseurweltmeisterschaft
„Hair World“ gedacht. Aber eine solche Geschichte kann
man offensichtlich nicht erfinden,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das sind Geschichten, die das Leben schreibt!)


die schreibt das Leben selbst.
Nach dem, was Frau Brückner widerfahren ist, oute

auch ich mich als Täter, mehr noch: als Serientäter. Ich
habe an den vergangenen Wochenenden ebenfalls Haare
für wohltätige Zwecke geschnitten und den Betrag einer
Kita zur Verfügung gestellt, die aidskranke und HIV-in-
fizierte Kinder betreut. Das habe ich in den Vorjahren
auch schon so gemacht.


(Konrad Gilges [SPD]: Das waren mutige Kunden bei Ihnen!)





Brigitte Baumeister
11620


(C)



(D)



(A)



(B)


– Wir kommen gleich zu den Kunden. Lieber Herr Gilges,
die damalige Arbeitssenatorin Christine Bergmann hat
sich ebenfalls schon in meine Obhut begeben.


(Konrad Gilges [SPD]: Sie hat mein Mitleid!)

Da ich dies bereits in den Vorjahren so gehandhabt habe,
bin ich wohl als Wiederholungstäter einzustufen, gemein-
sam mit dem Obermeister der Friseurinnung Berlin, Hans
Buschmann, und mit weiteren über 100 Innungskollegin-
nen und -kollegen.

Auch heute habe ich wieder zum Tatwerkzeug, zur
Schere, gegriffen, und zwar gemeinsam mit Ilka Brückner,
noch dazu im Bundestag. Mit vielen Friseurinnen und
Friseuren ging es mir um drei Dinge: Kollegialität mit Ilka
Brückner zu beweisen,


(Beifall bei der F.D.P.)

gesellschaftliches Engagement zu zeigen und gegen un-
sinnige Gesetze zu demonstrieren.


(Beifall bei der F.D.P.)

Um ein solches unsinniges Gesetz handelt es sich beim

so genannten Ladenschlussgesetz. Deshalb unterstütze
ich die vom Land Berlin ausgehende Bundesratsinitiative,
die morgen auf der Tagesordnung des Bundesrates steht.
Ein Kernpunkt dabei ist, dass Ladenöffnungszeiten jetzt
montags bis freitags bis 22 Uhr möglich sein sollen.
Damit erhalten Geschäfte erstmals die Möglichkeit, ihre
Öffnungszeiten montags bis freitags weitgehend dem tat-
sächlichen Bedarf der Kunden anzupassen. Dabei ist klar,
dass nur, wenn Kundenströme und Umsatzentwicklung es
erlauben, also in den seltensten Fällen, Geschäfte volle
16 Stunden am Tag geöffnet sein werden. Kein Händler ist
verpflichtet, sein Geschäft den ganzen Tag offen zu hal-
ten. Es soll lediglich erreicht werden, dass die Öff-
nungszeiten variabler und flexibler gehandhabt werden
können, als es gegenwärtig der Fall ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine weitere Änderung betrifft die Ladenöffnungs-
zeiten an Samstagen. Die Ladenöffnung wird bis 20 Uhr
gestattet sein.


(Konrad Gilges [SPD]: Aber nur gegen Spenden!)


Damit erhalten die Einzelhändler erstmals die Möglich-
keit, ihre Öffnungszeiten auch an Samstagen dem tatsäch-
lichen Bedarf der Kunden anzunähern. Auch hier gilt:
Niemand ist verpflichtet, sein Geschäft während des gan-
zen Tages offen zu halten. Aber gerade für die Samstage
haben viele Geschäftsinhaber eine Verlängerung der La-
denöffnungszeit gefordert, um den Wünschen der Ver-
braucher besser gerecht werden zu können.

Die Aktuelle Stunde hat sich aus den Sanktionen gegen
Frau Brückner ergeben. Ich habe in dieser Angelegenheit
an den Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen
geschrieben und ihn gebeten, sich ein Beispiel an Berlins
Landesvater Eberhard Diepgen zu nehmen. Der Regierende
Bürgermeister hat im Rahmen ähnlicher Aktionen bei mir
schon Haare für einen guten Zweck gelassen.


(Konrad Gilges [SPD]: Er hat doch nicht mehr viele! Oder?)


Auch heute waren eine ganze Reihe von Kollegen bei mir
– beispielsweise Kollege Koppelin, Angela Merkel und
Peter Weiß – und haben Haare für einen guten Zweck ge-
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich rufe Dr. Vogel aus dem Bundestag zu: Lassen Sie

in Ihrem Bundesland keine Haarspaltereien zu! Beweisen
Sie Köpfchen! Vor allem: Lassen Sie Frau Brückner
Gerechtigkeit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit widerfahren!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es gibt Gott sei Dank auch Engagement nach Laden-
schluss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der F.D.P.: Dieser Mann hat das Thema verstanden!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412113800
Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähig-
keit Deutschlands 1999 und Stellungnahme
der Bundesregierung
– Drucksache 14/2957 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Catenhusen.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1412113900
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Mitdisku-
tantinnen und Mitdiskutanten, soweit sie schon im Saal
anwesend sind! Den Bericht zur technologischen Leis-
tungsfähigkeit Deutschlands, den wir heute beraten, legt
die Bundesregierung schon im zweiten Jahr dem Parla-
ment direkt zur Beratung vor. Schon nach dieser kurzen
Zeit hat der Bericht einen festen Platz in der parlamenta-
rischen Beratung gewonnen. Er füllt einen wichtigen
Raum zwischen einer rein ökonomischen und einer nur
auf technologische Sicht begrenzten Betrachtung der Po-
sition Deutschlands in der Welt aus. Im Rückblick auf un-
sere Debatte zum letztjährigen Bericht im Januar freue ich
mich über die große überparteiliche Akzeptanz und Reso-
nanz, die der Bericht schon damals gefunden hat.




Siegfried Helias

11621


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir waren und sind uns hoffentlich darüber einig – zu-
mindest im Grundsatz –, dass Investitionen in Bildung
und Forschung die entscheidenden Triebkräfte für wirt-
schaftliches Wachstum und für neue Arbeitsplätze sind.
Das ist auch die zentrale Botschaft des heute zu beraten-
den Berichts. Er zeigt: Länder, die vermehrt in Forschung
und Entwicklung investieren, legen damit den Grundstein
für ein höheres Wirtschaftswachstum. Andere Länder, die
in ihren F-und-E-Anstrengungen eher zögerlich sind,
finden sich dagegen am unteren Ende der Wachs-
tumshierarchie wieder. Beispielsweise Finnland hat
diesen Zusammenhang erkannt; denn sowohl bei der In-
tensität der Anstrengungen im F-und-E-Bereich als auch
beim Wirtschaftswachstum liegt Finnland heute in Europa
an der Spitze.

Ein so hohes Wirtschaftswachstum hatten wir in
Deutschland in den 90er-Jahren – zumindest bis 1998 –
nicht zu verzeichnen. Ein Grund dafür ist auch, dass bei
uns in den 90er-Jahren die Aufwendungen für Forschung
und Entwicklung von knapp 3 Prozent auf 2,3 Prozent des
Bruttosozialproduktes zurückgegangen waren. Verant-
wortlich dafür war vor allem der Rückgang der Innova-
tionsanstrengungen der Wirtschaft. Aber auch die alte
Bundesregierung hat mit ihrer Kürzung der Ausgaben für
Bildung und Forschung um 700 Millionen DM ihren
Beitrag zu dieser falschen Entwicklung geleistet.

Wir haben diese falsche, verfehlte Politik korrigiert.
Bereits mit unseren beiden ersten Bundeshaushalten 1999
und 2000 haben wir gezeigt, dass Bildung und Forschung
in Deutschland wieder Priorität haben. Vor knapp zwei
Wochen hat Bundesministerin Bulmahn an dieser Stelle
unseren Bundeshaushalt für das kommende Jahr
vorgestellt. Mit 15,37 Milliarden DM stellen wir so viel
Geld für Bildung und Forschung bereit wie nie zuvor in
der Geschichte Deutschlands. Dabei habe ich eine mög-
liche Verwendung von Zinserlösen infolge der Versteige-
rung der UMTS-Lizenzen noch nicht berücksichtigt.

Wir haben damit die Trendwende geschafft. Aber es
gibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit angesichts der
Tatsache, dass auch andere wichtige europäische und
außereuropäische Länder dabei sind, ihre Anstrengungen
im Bereich Bildung und Forschung deutlich zu ver-
stärken.

Wenn wir unter den OECD-Ländern auch längerfristig
wieder einen vorderen Platz belegen wollen, müssen wir
diese Trendwende im Bereich Forschung und Entwick-
lung fortsetzen. Es ist gut, dass die Wirtschaft mittlerweile
mitzieht. Der Stifterverband für die Deutsche Wis-
senschaft meldet, dass die F-und-E-Aufwendungen der
Wirtschaft Ende der 90er-Jahre wieder kräftig zugelegt
haben. Das ist eine erfreuliche Botschaft.

Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
unterstreicht übrigens auch, dass die zum 1. Januar nächs-
ten Jahres in Kraft tretende Steuerreform mit ihren finan-
ziellen Entlastungen für die Unternehmen gerade auch
den finanziellen Spielraum der Wirtschaft für Forschung
und Entwicklung weiter erhöhen wird.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Den Mittelstand habt ihr leider vergessen!)


Das trifft übrigens auch für die Personengesellschaften
zu.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Schön wär‘s!)

– Herr Rachel, es wäre nicht nur schön, sondern es ist
schön. Lesen Sie es im Bericht nach.

Der Bericht lobt dieses Konzept ausdrücklich – ich zi-
tiere – „als entscheidenden Schritt in die richtige Rich-
tung“. Es ist jetzt Sache der Wirtschaft, den zusätzlich
gewonnenen Spielraum in den nächsten Jahren ent-
schlossen zu nutzen.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist Technolo-
gieführer in Europa bei Patenten, Innovationen und Welt-
marktanteilen an forschungsintensiven Gütern. Bei all
diesen wichtigen Indikatoren sind wir in Europa ganz
vorne dabei.

Doch das Gutachten warnt auch. Wir stehen jetzt am
Scheideweg; denn die gleichen Indikatoren, die Deutsch-
land heute eine Spitzenposition bescheinigen, zeigen,
dass sich die internationalen Gewichte auf Zukunfts-
feldern und Zukunftsmärkten in den 90er-Jahren ver-
schoben haben, und zwar weg von Deutschland hin zu
einigen kleineren europäischen Ländern, hin zu den USA
und in Richtung Asien.

Lassen Sie mich an zwei Beispielen verdeutlichen, wie
die Bundesregierung auf diese Entwicklung, auch er-
mutigt durch die Aussagen dieses Berichts, reagieren
wird. Es geht zum einen um die Beschleunigung und das
energische In-Angriff-Nehmen von strukturellen Refor-
men, die das deutsche Innovationssystem insgesamt leis-
tungsfähiger machen. Es geht um strukturelle Reformen,
die zu mehr Effizienz und Flexibilität an unseren
Hochschulen und Forschungseinrichtungen führen. Ich
nenne die Stichworte Dienstrechtsreform, Programm-
steuerung, Budgetierung. Wir wollen damit die Kreativi-
tätspotenziale in den Forschungseinrichtungen und
Hochschulen stärken. Wir wollen etwa auch die Interna-
tionalisierung unseres Hochschul- und Forschungssys-
tems vorantreiben.

Hinzu kommt natürlich, dass wir im Bereich Innova-
tion, im Bereich Wissens- und Technologietransfer neue
Anstrengungen unternehmen müssen. Die Wissensba-
siertheit von Erfindungen hat deutlich zugenommen. Es
ist gut, dass in deutschen Patentschriften heute rund sechs
Mal so viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zitiert
werden wie noch vor 20 Jahren. Aber wir müssen die
Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
weiter verbessern.

In wenigen Wochen wird das Bundesministerium für
Bildung und Forschung zusammen mit der OECD hier in
Berlin eine internationale Konferenz zu Fragen des Wis-
sens- und Technologietransfers organisieren, die weltweit
„best practice“ in der Zusammenarbeit zwischen Wis-
senschaft und Wirtschaft herausarbeiten wird.

Auch der Kanzler selbst wird sich dieser Frage in den
nächsten Wochen und Monaten annehmen. Mitte Novem-
ber wird er mit ausgewählten Experten aus Wissenschaft
und Wirtschaft zusammentreffen, um Ansatzpunkte zur




Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen
11622


(C)



(D)



(A)



(B)


Verbesserung des Wissens- und Technologietransfers in
Deutschland zu diskutieren.


(Beifall des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Da kann er viel lernen!)


Auch in seiner Aufgeschlossenheit für dieses wichtige,
zukunftsweisende Thema für Deutschland hebt sich der
jetzige Bundeskanzler wohltuend von seinem Vorgänger
ab.

Herr Rachel, Sie machen immer sehr nette Zwischen-
rufe. Aber darauf kann ich Ihnen nur antworten: Ich freue
mich sehr, dass unser Bundeskanzler nie Probleme damit
hatte, zu verstehen, was eine Datenautobahn ist.

Die Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue
Produkte und Dienstleistungen können wir durch mehr
Anreize für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
deutlich steigern. Ich denke, es ist vor allem wichtig, dass
der Bericht eine anhaltend steigende Dynamik bei Un-
ternehmensneugründungen aus dem Bereich Wissen-
schaft und Forschung feststellt. Es ist wichtig, dass
Deutschland heute der größte europäische Markt für Un-
ternehmensfinanzierungen in der Gründungsphase ist.
Mit Programmen wie Exist geben wir Hochschulabsol-
venten und -absolventinnen die notwendige Unterstüt-
zung für erfolgreiche Unternehmensgründungen.

Als letztes Beispiel: Sie wissen, dass wir gerade ener-
gische Anstrengungen unternehmen, um aus der Biotech-
nologie die Potenziale für neue Innovationsdynamik nicht
nur im Pharmabereich zu gewinnen. Ich denke, gerade un-
sere Pharmaindustrie braucht eine neue, starke Technolo-
giebasis am Standort Deutschland. Auf diesem Gebiet hat
die Vorgängerregierung sehr viel versäumt. Wir sorgen
mit kräftigen Zuwachsraten dafür, dass wir unsere Stel-
lung in der Welt, nämlich Nummer zwei hinter den Verei-
nigten Staaten, auf diesem Zukunftsfeld endlich wieder-
gewinnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine erfolgreiche Politik!)


Eine letzte Bemerkung: In einigen Zweigen der IuK-
Technologien hinkt Deutschland hinterher. Ein Grund
dafür ist der akute IT-Fachkräftemangel. Mit der Green-
Card-Initiative haben wir versucht, diesem Mangel zu
begegnen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Leider zu kurz gesprungen!)


Das bedeutet aber auch, dass wir fortlaufende Anstren-
gungen unternehmen müssen, um die technologische Ba-
sis und die wissenschaftliche Infrastruktur im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnik stärker auf
die Zukunft vorzubereiten.

Meine Damen und Herren, der Bericht führt Stärken
und Schwächen des deutschen Innovationssystems deut-
lich vor Augen. Er enthält wertvolle Empfehlungen, wie
Wege eines erfolgreichen Innovationsmanagements in

Deutschland gegangen werden können. Die rot-grüne
Bundesregierung fühlt sich durch den Bericht durchaus
darin bestätigt, auf dem richtigen Wege zu sein.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114000
Das Wort hat

jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Frau

Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist in Europa Technologieführer, doch
um diese Position zu halten, muss es sich stärker
anstrengen.

Dieses Fazit zog die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
am 18. Januar dieses Jahres anlässlich der Pressekonfe-
renz der Bundesforschungsministerin zur technologischen
Leistungsfähigkeit Deutschlands. Mit anderen Worten,
Herr Catenhusen: Die Vorgängerregierung hat ein gut be-
stelltes Feld überlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gerade das Gegenteil ist der Fall!)


Nichts anderes ergibt sich aus diesem Technologiebericht.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie scheinen einen anderen Technologiebericht zu haben!)


Die Analyse ist hervorragend und das Lob berechtigt.
Was fehlt, sind die richtigen Schlussfolgerungen der Bun-
desregierung. Wie immer, wenn es zu konkreten Umset-
zungen kommt, hält sich das Bundesforschungsministe-
rium zurück. Frau Bulmahn müsste man fragen: Wie
lange wollen Sie sich eigentlich darauf beschränken, vie-
les anzukündigen und wenig durchzusetzen?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie werden als Ankündigungsministerin in die Ge-

schichte eingehen. Bei der Umsetzung herrscht jedoch
– wie immer – ein bulmahnsches Bildungs- und For-
schungsvakuum. Erst vor kurzem, bei den Beratungen des
Haushaltsplans 2001, wurden wir enttäuscht. Die Investi-
tionen in Bildung und Forschung gingen gegenüber 1998
um 500 Millionen DM zurück. Damit sichern Sie nicht
den Technologiestandort Deutschland; Sie senden ne-
gative Signale aus, insbesondere in Richtung Wirtschaft,
auf deren Investitionen wir bei der technologischen Ent-
wicklung Deutschlands angewiesen sind.

Wie sieht der Technologiebericht aus? Die Analyse ist
punktgenau, die Zielbeschreibung der Bundesregierung
jedoch nur vage. Heute wäre eigentlich der Anlass, dem
Vorgänger Jürgen Rüttgers für die glänzende Arbeit zu
danken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich beziehe mich auf das Projekt „Schulen ans Netz“, da-
rauf, dass allein zwischen 1995 und 1997 56 Ausbil-
dungsberufe modernisiert und 23 neue geschaffen wur-
den, auf die Einführung des Meister-BAföG und des




Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen

11623


(C)



(D)



(A)



(B)


Wettbewerbs Bio-Regio und auf die Verabschiedung des
IuKD-Gesetzes.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Da wird die jetzige Regierung blass!)


– So ist es.
Man darf aber auch die Wirtschaft nicht vergessen. Sie

ist ihrer Verantwortung nachgekommen und hat einen er-
heblichen Anteil an der technologischen Spitzenstellung
unseres Landes. Unternehmen haben den Anspruch, dass
ihnen seitens der Politik die notwendigen Freiräume ge-
lassen werden. Nur wenn sie in die Lage versetzt werden,
in Forschung und Entwicklung zu investieren, kann die
Sicherung unserer technologischen Zukunft gelingen.

Daher ist es ein Irrweg, dass die Bundesregierung
durch die Steuerreform die Kapitalgesellschaften bereits
2001 entlastet, die Personengesellschaften jedoch, die
90 Prozent der Unternehmen ausmachen, erst 2005.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Gerechtigkeitslücke!)


Dies trifft insbesondere den Mittelstand, der auf dem Ge-
biet von Forschung und Entwicklung einen Nachholbe-
darf hat. Es ist zu befürchten, dass auf dem Technologie-
sektor die Kluft zwischen Großbetrieben und mittel-
ständischen Unternehmen breiter wird.

Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bun-
desregierung stellt zu Recht fest, dass die Bundesrepublik
Deutschland ihren Spitzenplatz nur durch technologi-
schen Vorsprung und Spezialisierung halten kann.
Warum setzen Sie diese Erkenntnisse nicht in die Tat um,
Herr Fell?


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das tun wir jetzt!)


In den Vorbemerkungen zum Technologiebericht weht
der Geist der 60er-Jahre. Das Ziel, das Abitur für mög-
lichst viele einzuführen, führt nicht zwangsläufig zur Aus-
weitung der Bildungsgesellschaft. Eine allgemeine Ab-
senkung des Niveaus schafft keine Spitzenposition. Jeder,
der dazu befähigt ist, soll das Abitur machen können. Eine
soziale Auswahl aufgrund eines finanzschwachen Eltern-
hauses darf es nicht geben.


(Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär: Aha! Das ist ja was Neues!)


Das heißt aber nicht, dass die Zahl der Abiturienten un-
endlich gesteigert werden soll. Unser Bildungssystem
braucht beides: den Studenten und den Lehrling.

Dank der rot-grünen Politik in den Ländern werden die
Hauptschule und ihr Abschluss jedoch infrage gestellt.
Auf der Strecke bleiben diejenigen, die in dem verschul-
ten Ausbildungssystem nicht mithalten können, für die
aber auch keine Alternative geschaffen wurde. Nicht alle
jungen Menschen sind der modernen Leistungsgesell-
schaft gewachsen. Auch um sie müssen wir uns kümmern.

Die Stellungnahme der Bundesregierung macht deut-
lich: Sie will die Fragen des 21. Jahrhunderts mit Bil-
dungsansätzen der Vergangenheit lösen. Das Pflänzchen
der 68er-Generation ist längst verblüht. Wir brauchen

Lösungen, die in der heutigen modernen Technologie-
und Kommunikationsgesellschaft Bestand haben. Was
wir heute brauchen, ist eine Qualifizierungsoffensive für
Deutschland. Ein Spitzenplatz für die Bundesrepublik ist
nur mit einer Förderung von Eliten und Spitzen zu errei-
chen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!)

Auch dies wird im Technologiebericht hervorgehoben,
ohne dass die Bundesregierung die nötigen Konsequen-
zen daraus ziehen will.

Rot-Grün setzt weiter auf das Massenstudium, obwohl
die positiven Effekte ausgeblieben sind. Der Anteil der
Hochschulabsolventen eines Jahrgangs hat sich in den
letzten 20 Jahren kaum verändert. Das Abitur bedeutet
nicht zwangsläufig den Hochschulabschluss. Von diesem
Gedanken sollte sich Rot-Grün verabschieden.

Besorgnis erregend ist auch die Zahl der Studienab-
brüche. Fast 40 Prozent der Studienanfänger beenden ihr
Studium nicht. Vor allem Fachbereiche, deren Abschlüsse
wir für die technologischen Entwicklung in Deutschland
dringend brauchen, sind betroffen: Elektrotechnik mit
50 Prozent, Physik mit 50 Prozent, Informatik mit 60 Pro-
zent und Mathematik mit 70 Prozent.


(Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär: Das sind die Fehler der letzten Jahre!)


Das ist verschleudertes Humankapital. Die Schüler müs-
sen für die Hochschulen besser vorbereitet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Mit weniger Abitur?)


In den Bundesländern gibt es hinsichtlich des Abiturs
große Unterschiede; auch das muss man hier einmal sa-
gen.

Die Bundesregierung behauptet, sie fühle sich durch
die Analysen und Handlungsempfehlungen bestätigt.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

Es ist kühn, von Bestätigen zu sprechen, wenn die Fakten
etwas anderes aussagen. Einige Beispiele: Sie stellen die
Patentanmeldungen in den Vordergrund und sehen darin
eine positive Leistungsbilanz der Bundesregierung. Die
jetzige Bundesregierung hat die Patentanmeldungen je-
doch erschwert, indem sie die Gebühren um ein Drittel
angehoben hat. Dass sich seit 1993 die Zahl der Patentan-
meldungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungen
mehr als verdoppelt hat, ist kein Verdienst Ihrer Koalition.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Höhe der Aufwen-
dungen für Forschung und Entwicklung. Gerade in die-
sem Bereich ist der internationale Markt in Bewegung ge-
raten. Der Technologiebericht stellt fest, dass die Hälfte
der Investitionen ausländischer Tochterunternehmen aus
den USA stammt, dass sich diese aber zunehmend in
Richtung Asien und Südamerika orientieren. Die Lösung
ist die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen. Das
stellt die Bundesregierung fest. Aber was will sie tun? Der
Bericht betont, dass Wettbewerbspolitik Innovationspoli-
tik sei. Je offener und liberaler der Markt, desto besser die
Nutzungspotenziale und Chancen. Bestes Beispiel ist der
Telekommunikationsmarkt. Frau Bulmahn war es, die




Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

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als eine der SPD-Bundestagsabgeordneten 1994 gegen
die Privatisierung der Post gestimmt hat. Nun schöpfen
Sie dank der innovativen Politik unserer Regierung den
Rahm ab, kassieren das Geld ein und geben es entspre-
chend wieder aus.

Es stellt sich die Frage, welche Schritte die Bundesre-
gierung ergreifen will, um den Wettbewerb zu erleichtern.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist die Realität!)


Im Technologiebericht gibt es auch dazu wieder einmal
keine Antwort. Der Bericht hebt hervor, dass für die tech-
nologische Entwicklung Deutschlands den Hochschulen
eine Schlüsselrolle zukommt. Folgende Reformansätze
werden genannt: stärkerer Wettbewerb der Hochschulen
untereinander, Anreize für Studenten zu effizienterem und
praxisorientiertem Studium, Anpassung der Studiengänge
an international übliche Standards, flexiblere Studi-
engänge mit verschiedenen Spezialisierungsgraden.
Hierzu gab es kein Wort von Frau Bulmahn. Ich schließe
daraus, dass sie diese Punkte nicht umsetzen und damit
auch einer der zentralen Forderungen des Technologiebe-
richts nicht folgen will.

Dabei gibt es Handlungsbedarf, zum Beispiel bei der
Studiendauer. Laut Zahlenwerk aus dem BMWF wird die
Studienzeit innerhalb der EU nur noch von Griechenland
und Österreich übertroffen. Man kann heftig darüber
streiten, ob die Einführung von Studiengebühren für
Langzeitstudenten in Baden-Württemberg der richtige
Weg war. Fakt ist aber, dass seit Einführung der Studien-
gebühren die Zahl der Studenten, die 14 Semester und län-
ger studiert haben, um über 40 Prozent zurückgegangen
ist. Frau Bulmahn ist zwar gegen Studiengebühren. Doch
sie erscheint als einsame Ruferin in der Wüste. Noch nicht
einmal die niedersächsische Landesregierung folgt ihr,
obwohl sie dort SPD-Vorsitzende ist.

Nicht nur in Forschung und Lehre haben CDU/CSU
Akzente gesetzt. Gleiches gilt für die berufliche Bildung.
Wir waren es, die das Meister-BAföG auf den Weg ge-
bracht haben.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!)

Dies war eine weitreichende Entscheidung. Meine Frak-
tion hat im vergangenen Jahr einen Antrag zur Verbesse-
rung des Meister-BAföGs im Bundestag eingebracht. Die
Koalition lehnt den Antrag ab, sagt aber eigene Maß-
nahmen zu. Darauf, Herr Catenhusen, warten wir noch
heute.

Sie wissen, dass zusätzliche Qualifikationen auch bes-
sere Berufschancen und einen positiven Effekt für unsere
Volkswirtschaft mit sich bringen. Sie sind jedoch nicht be-
reit, unser Modell des Meister-BAföGs fortzuentwickeln.
Konsequenz: Die Haushaltsmittel für das Meister-BAföG
sind von ursprünglich 167 Millionen DM auf nunmehr
70 Millionen DM gesunken. Das ist die Qualifikations-
förderung von Rot-Grün!


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ein trauriges Kapitel! – Konrad Gilges [SPD]: Das Geld ist doch nicht ausgeschöpft worden, Herr Kollege!)


Das muss man sich einmal genau vornehmen.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist schiere Unkenntnis!)

Es ist dringend Handlungsbedarf geboten. Daher hat

die CDU die Stiftung Bildungstest vorgeschlagen, um
die Weiterbildungsangebote zu überprüfen. Dabei soll es
nicht bleiben. Vielmehr sollen alle Bildungsangebote und
-einrichtungen auf Qualität überprüft werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir die Bildung in Deutschland voranbringen wol-
len, müssen wir die Stärken und Schwächen vorbehaltlos
aufklären. Dafür brauchen wir eine unabhängige Einrich-
tung, die Stiftung Bildungstest.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Bulmahn, Sie haben den CDU-Vorschlag trotzig

als „olle Kamelle“ bezeichnet und angekündigt, Weiter-
bildungsangebote durch die Stiftung Warentest überprü-
fen zu lassen.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Frau Bulmahn ist gar nicht da!)


Dieser Vorschlag war weder fantasievoll noch ausrei-
chend. Es hat keinen Sinn, zwischen Waschmitteln und
Windeln Weiterbildungsangebote zu überprüfen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114100
Herr Kollege,
denken Sie daran, dass Ihre Redezeit abläuft.

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Ich
komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Damit müssen
sich Spezialisten beschäftigen, die etwas von der Materie
verstehen.

Der Technologiebericht enthält zahlreiche Ansätze, de-
ren Umsetzung die technologische Leistungsfähigkeit
Deutschlands stärken könnte. Die Koalition sollte ihn als
Richtschnur dafür nehmen, die eigene Politik zu überprü-
fen. Das ist dringend notwendig. Sie können sich darauf
verlassen: Meine Fraktion wird Sie sehr genau beobach-
ten und dabei kritisch begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Vorschläge wären besser!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr
Kollege Fischer, ich glaube, Sie haben einen anderen Be-
richt gelesen als den, der heute als Grundlage für die De-
batte dient.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


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Zumindest will ich Sie auf die Seite 1 dieses Berichtes
deutlich hinweisen. Dort steht eine etwas andere Bewer-
tung.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Die Seite 1 ist die Präambel! Die liest keiner!)


– Nein, auf der Seite 1 stehen sehr deutlich die Kernsätze.
Dort heißt es beispielsweise: Auf einer Rangliste der
Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes lag Deutsch-
land in den 90er-Jahren an 16. Stelle unter den 20 größten
Industrienationen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist der Dank an Rüttgers!)


Es steht dort aber auch, wie es überhaupt dazu kommen
konnte. Der Bericht gibt eine eindeutige Antwort, denn:

Die Investitionen in die Zukunft ... ließen in den
Neunzigerjahren zu wünschen übrig.

Weiter heißt es im Bericht:
In der Rangliste der Länder mit den höchsten Zu-
kunftsinvestitionen ist Deutschland zurückgefallen.

Ich denke, das spricht für sich. Deutlicher kann das
Versagen der kohlschen Technologiepolitik nicht doku-
mentiert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber ganz anders sieht es bei den momentanen Ver-
hältnissen aus.


(Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ CSU]: Schlagartig ist alles besser geworden, gell?)


– Lesen Sie es doch in diesem Bericht nach, Herr
Friedrich. Dort können Sie es wirklich erfahren.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Zitieren Sie doch einmal den ganzen Bericht!)


– Ich zitiere nur die entscheidenden Phasen des Berichtes,
die zusammenfassend alles darstellen. Lesen Sie doch auf
Seite 1 mit:

In der kurzfristigen Perspektive zeigt sich für die Zu-
kunft ein tendenziell positives Bild. Die Zahl der An-
meldungen von weltmarktrelevanten Patenten steigt
steil an, die Zahl der innovativen Unternehmen
nimmt zu, die Produktivität der Wirtschaft steigt, der
Umsatz mit neuen Produkten wächst und die Exporte
in FuE-intensive Wirtschaftszweige nehmen kräftig
zu.

Welch besseres Lob kann es für die Kehrtwende dieser
Bundesregierung im Technologiebereich geben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU)


Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union
und der F.D.P., diese Zahlen zu Ihrer Regierungszeit auf
dem Tisch gehabt hätten, hätten Sie das als großes Glück

für dieses Land bezeichnet. Ich möchte sogar sagen, Sie
hätten vor Freude auf den Tischen getanzt.

Lassen Sie mich weiter aus dem Bericht zitieren. Vor
allem mit Blick auf den Umweltschutz betonen die Gut-
achter, dass Deutschland gerade in den Bereichen, in de-
nen es seine spezifischen Stärken ausspielen kann, einen
Platz an der Spitze, eine Technologieführerschaft anstre-
ben sollte. Wie wahr! Das haben Bündnis 90/Die Grünen
immer gesagt.

Aber, ich erinnere mich an den Anfang dieses Jahres,
als ein Herr Rühe gesagt hat: zehn Jahre Innovationspause
im Umweltschutz. Wie verträgt sich das mit den Aussagen
dieses Berichtes, nach denen gerade im Umweltschutz In-
novationen besonders wichtig sind, um die Technologie-
führerschaft nicht nur zu halten, sondern auch auszu-
bauen?

Ich zitiere weiter:
Die Gesetzgebung ist eine der wichtigsten Triebfe-
dern für Umweltinnovationen. Eine Stimulierung der
Innovationsaktivität im Umweltbereich bringt dop-
pelte Früchte – zum einen für die Umwelt und zum
anderen für die technologische Leistungsfähigkeit.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kommen
nicht aus der Ölkrise heraus, indem wir den Erdölver-
brauch subventionieren wollen,


(Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit der Ökosteuer!)


indem wir – wie von Ihnen gefordert – Steuersenkungen
vornehmen und das Erdöl billiger machen. Dann fließen
die Milliarden weiterhin in die Hände der OPEC.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist denn Ihr Energiekonzept?)


Herr Möllemann soll bei den Scheichs gute Freunde
haben. Vielleicht setzt er sich deswegen so sehr für den
Bau neuer Autobahnen ein. Nein, wir werden die globale
Ölkrise nur dann meistern, wenn wir ganz auf Energie-
spartechnologien und erneuerbare Energien setzen und
das heißt: Stärkung des Technologiestandortes Deutsch-
land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Weder aus den Reihen der CDU/CSU noch der F.D.P. sind
mir in diesem Zusammenhang entsprechende Vorschläge
zu Ohren gekommen.


(Ulrike Flach [F.D.P]: Aber selbstverständlich!)


Auch hier muss wieder gesagt werden: Der Regie-
rungswechsel vor zwei Jahren kam keine Sekunde zu
früh. Wir haben mittlerweile das Erneuerbare-Energien-
Gesetz eingeführt und die Mittel im Marktanreizpro-
gramm für erneuerbare Energien verzehnfacht. Wir haben
das 100 000-Dächer-Programm und das Programm für
biogene Treibstoffe ins Leben gerufen. Wenn die Bauern
demnächst mit Pflanzenöl-Traktoren fahren, dann zeigen
sie der OPEC die rot-grüne Karte.




Hans-Josef Fell
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Die CDU/CSU will hingegen den Diesel über eine
Gasölverbilligung für Traktoren weiterhin subventionie-
ren. Würden wir diesem Unsinn nachkommen, blieben die
Bauern weiterhin vom Erdöl der OPEC abhängig, das im-
mer teurer wird. Dann ginge auch die gerade errungene
technologische Führerschaft bei Traktormotoren mit mo-
dernster Direkteinspritztechnologie in Deutschland verlo-
ren.

All denjenigen unter Ihnen, die das Kapital aus
Deutschland zur OPEC transferieren wollen, sei Folgen-
des aus dem Gutachten noch einmal ans Herz legt:

Gerade wegen der starken externen Effekte im Be-
reich umweltorientierter Innovationspolitik darf die
Politik es nicht vernachlässigen, auch eine entspre-
chende Akzeptanz für die politischen Instrumente zu
befördern. Die über die individuellen Effekte hinaus-
gehenden Verbesserungen müssen im Wesentlichen
politisch vermittelt werden.

Genau das tun wir, meine Damen und Herren von der
Union. Ich möchte zum Schluss meiner Rede feststellen,
dass Sie mit populistischen Ökosteuerkampagnen auch
den Technologiestandort in Deutschland gefährden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1412114500
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Fell, es ist immer einfach, alles hochzu-
loben, wenn man von den neuen regenerativen Energien
redet. Aber den Standort Deutschland kann man nicht
einfach gesundreden. Da machen Sie es sich ein bisschen
leicht. Dann versuchen Sie auch noch, die Ökosteuer so
hinzustellen, als führe dies zu einer Standortverbesserung.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist es aber! Das ist es, was Sie lernen müssen!)


– Ich bezweifele, dass Sie das ganze Konzept verinner-
licht haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Deutschlands technologi-

scher Schwerpunkt liegt bei der höherwertigen Technik.
Trotz jüngster Erfolge hinken wir aber bei den Spitzen-
technologien hinterher. Das ist eine der Kernaussagen des
Berichts, der uns heute vorliegt.

Unser Forschungs-, Innovations- und Technologiepo-
tenzial ist beachtlich, aber – das sagt sogar die Bundesre-
gierung in ihrer Stellungnahme zum Bericht – „deutsche
Unternehmen haben in den vergangenen Jahren an Boden
verloren. Andere Länder holen auf.“ Daran – da stimme
ich der Opposition zu – ist nichts herumzudeuteln. Lassen
Sie es mich in einem Bild beschreiben: Unser Zug fährt
zwar vorwärts, aber auf den Nebengleisen sind andere
Züge offensichtlich deutlich schneller und überholen uns.

Herr Catenhusen, das ist leider immer noch so. Es hat
sich also in den zwei Jahren Rot-Grün ausgesprochen we-
nig verändert. Man kann versuchen, das mit Zahlen
schönzureden,


(Jörg Tauss [SPD]: Richtigzureden!)


aber an einer Verbesserung dieser Entwicklung, die für
uns wirklich bedenklich ist, sollten wir alle zusammen ar-
beiten und nicht versuchen, uns gegenseitig die Schuld
zuzuschieben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ CSU])


Die Voraussetzungen, die der Standort Deutschland mit
seinen unterschiedlichen Industriezweigen, einer breit ge-
fächerten Forschungslandschaft und einem wissensorien-
tierten Bildungssystem bietet, sind gut, aber sie könnten
deutlich besser sein.

Wie erst gestern – das treibt mich sehr um, Herr
Fischer – die „Berliner Zeitung“ meldete, nimmt die Zahl
der Hochschulabsolventen in den naturwissenschaftli-
chen Fächern, im Maschinenbau und in Informatik ab.
Das passiert in der Zeit Ihrer Zuständigkeit, Herr
Catenhusen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Stephan Hilsberg [SPD]: Das ist doch genau Ihre Politik, Frau Flach! Wann haben diese Studenten denn angefangen? Vor ein paar Jahren!)


In Chemie machten 1999 13,5 Prozent weniger Stu-
denten ihren Abschluss als 1998, in Physik 13 Prozent und
in der Informatik haben wir einen Rückgang von 3,5 Pro-
zent.


(Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär: Wann haben die wohl angefangen?)


– Die Anmeldezahlen sind nicht besser geworden, Herr
Catenhusen. Das ist doch die Relation. Da nützt es nichts,
auf die alte Regierung zu verweisen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!)

Eine der Kernaufgaben ist in diesem Zusammenhang

eine echte Hochschulstrukturreform. „Zügig vorantrei-
ben“ sagt der Bericht zu Recht. Der Weg in den Wettbe-
werb ist nicht nur – das bitte ich der Frau Ministerin deut-
lich zu übermitteln – über Globalhaushalte zu erreichen.
Wir brauchen auch die autonome, auf Personal- und Ta-
rifautonomie ausgerichtete Hochschule. Hier war Ihr Herr
Rüttgers zu zögerlich, meine Damen und Herren von der
CDU,


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!)

aber Sie sind es nicht weniger, Herr Catenhusen. Ihre
Hochschuldienstrechtsreform ist dafür ein gutes Beispiel.
Es sind gute Ansätze da, aber angesichts der Herausfor-
derungen müssten wir wesentlich radikaler sein und viel
schneller reformieren. Ich stimme in diesem Punkt Pro-
fessor Landfried zu, der sagt, wir haben bisher nur die
„Kragenregion“ erreicht, nämlich den Oberbau. Wir müs-
sen aber zu tief greifenden Strukturreformen kommen.

Der Bericht fordert eine Verkürzung der Berufsausbil-
dungszeiten, die Flexibilisierung von Berufsbildern und
eine Verstärkung der Berufsschulausbildung. Das sind al-
les Sachen, die die F.D.P. angegangen hat, und wir werden
mit großem Interesse beobachten, wie sich das bei Ihnen
in der Gesetzgebung niederschlägt.


(Beifall bei der F.D.P.)





Hans-Josef Fell

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(A)



(B)


Meine Damen und Herren, die Förderung von kleine-
ren und mittleren Unternehmen und die Schaffung von
Anreizen für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten
hängen entscheidend von der weiteren Liberalisierung
und Deregulierung der Wirtschaft ab. Das sagt dieser
Bericht sehr deutlich. Sie waren immer dagegen, Herr
Catenhusen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen zur Tele-
kommunikation. Bei Post und Banken haben Sie ein Feld,
auf dem Sie beweisen können, dass Sie genau wie die alte
Regierung etwas vorantreiben wollen.

Sorgen machen uns nach wie vor die KMUs. Gerade
für sie brauchen wir Anreize und Wettbewerbe. Ich
möchte einmal ganz bescheiden auf Bio-Regio hinweisen,
Herr Catenhusen. Das war eine gute Sache der alten Re-
gierung. Ich bin sehr froh, dass Sie mit Inno-Regio jetzt
etwas Ähnliches weitermachen.


(Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär: Noch viel mehr!)


Es wäre manchmal ganz gut, wenn man über die Vorgän-
ger auch einmal etwas Gutes sagen würde.


(Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär: Das tun Sie ja schon! – Jörg Tauss [SPD]: Wenn es etwas gäbe, wäre es nicht schlecht!)


– Herr Tauss, wollen Sie mit mir darüber streiten, ob Bio-
Regio etwas Gutes ist?

Meine Damen und Herren, dieser Bericht ist ein Leit-
faden für sinnvolle Forschungs- und Technologiepolitik.
Er setzt genau auf die Prinzipien, die auch wir vertreten
und die Sie in unseren Anträgen immer ablehnen. Ich habe
den Eindruck, dass Frau Bulmahn etwas in diesen Bericht
hineingeschrieben hat, was sie sonst im Kabinett nicht
so richtig vermitteln kann. Ich wünsche Ihnen, Herr
Catenhusen und Frau Bulmahn, dass es einmal im Kabi-
nett Gehör findet. Machen Sie den Bericht zur Pflichtlek-
türe. Dann kommen wir vielleicht alle gemeinsam voran.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114600
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1412114700
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hatte sehr
ehrgeizige Ziele in den Bereichen Forschung und Tech-
nologie. Sicher, einige Einschätzungen im Bericht und ge-
genwärtige Entwicklungen sind Folgen der waigelschen
Sparpolitik. Ich nenne als Beispiel die Überrundung bei
den Umwelttechnologien.


(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Klatschen Sie nicht zu früh.
Aber auch die neue Regierung hat sich hinsichtlich der

Durchsetzungsgeschwindigkeit ihrer Ziele, Weltspitzen-
positionen auf verschiedenen Technologiefeldern zu er-

reichen, zum Beispiel auf dem Spitzentechnologiesektor
oder bei der FuE-Intensität, offenbar verschätzt. Außer-
dem setzt Rot-Grün die Verwaltung des Mangels im Tech-
nologiebereich eigentlich fort, auch wenn dies auf den
ersten Blick nicht so aussieht. Ich nenne hier nur die vir-
tuelle Forschungsmilliarde, die indirekten Einsparungen
im Haushalt für Bildung und Forschung 2001, den Rück-
gang der Mittel für die Energieforschung und eine vielfa-
che Deckungsfähigkeit von Technologieförderungstiteln
im Wirtschaftshaushalt.

Doch es gibt auch neue Weichenstellungen, zum Bei-
spiel die Aufteilung der Kompetenzen in die Haushalte
des BMWi und des BMBF, eine strengere Ausrichtung der
Forschungsfelder, die Prioritätensetzung in der Forschung
auf IuK- sowie Bio- und Gentechnologien oder die An-
sätze der Strukturreformen bei den Großforschungsein-
richtungen, Blaue-Liste-Instituten und Hochschulen. Lei-
der vermitteln diese Wege weniger den Eindruck einer
zukunftsweisenden FuT-Politik, als dass sie den schalen
Geschmack hinterlassen, dass für Forschung und Ent-
wicklung die letzten Reserven mobilisiert werden, um den
Forderungen der Wirtschaft buchstabengetreu nachzu-
kommen.

Statt zum Beispiel die Einnahmen aus einer neuen Ver-
mögensteuer in Aus- und Weiterbildung zu investieren,
setzen Sie auf Synergieeffekte aus dem Zusammenpres-
sen vorhandener Forschungskapazitäten und auf schlanke
Forschung. Dies führte zu einer Verengung der Prioritäten
auf wenige Technologiefelder, zur Vernachlässigung an-
derer Forschungsbereiche, zum Beispiel einer umweltori-
entierten Gesundheitsforschung und zum kläglichen
Dahindümpeln der Finanzierung der geistes- und sozial-
wissenschaftlichen Forschung.


(Beifall bei der PDS)

Eine Ausweitung der Technikfolgenabschätzung und der
Gutachtertätigkeit trotz umstrittener und hoch geförderter
Bio-, Gen- und IuK-Technologien sowie der Weltraum-
forschung fällt unter den Tisch.

Im Gegensatz zu Absichtserklärungen lässt sich die
Bundesregierung von der Wirtschaft den Weg einer markt-
orientierten Forschung zulasten einer gemeinwohlorien-
tierten Forschung diktieren. Diese Entwicklung erweckt
den Anschein, als ob staatliche Forschungsanstalten in
Forschungsunternehmen verwandelt werden.

Die PDS ist gegen eine noch umfangreichere Subven-
tionierung der Industrie durch FuE-Förderung aus
Steuergeldern. Steuergelder für die Forschung sollten
überwiegend in gemeinwohlorientierte Forschungsein-
richtungen zum Beispiel für die Förderung der menschli-
chen Gesundheit oder auch die Zukunftsorientierung der
Gesellschaft auf Grundlage einer breiten sozialwissen-
schaftlichen Forschung fließen.

Dazu gehören auch die Einführung einer Mitbestim-
mung Dritter bei der Initiierung, bei Tests oder bei Dia-
gnoseansätzen im Bereich von Bio- und Gentechnolo-
gien, eine umfassendere, finanzielle Verantwortung der
Industrie bei der Weltraumforschung oder die Ausweitung
der Technikfolgenabschätzung bei der Erforschung neuer
Technologien. Dafür wird die Fraktion der PDS weiterhin
streiten.




Ulrike Flach
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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412114800
Jetzt hat der
Kollege Tauss das Wort.


(Ulrike Flach [F.D.P.]: Aber nicht so laut, bitte!)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1412114900
Nicht so laut. – Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Be-
richt ist von einer Übergangsphase aus der Stagnation der
Politik der 90er-Jahre, insbesondere der Forschungspoli-
tik und dem Politikfeld, über das wir heute reden, hin zu
einer Aufbruchstimmung, die wir in diesem Lande er-
reicht haben und die Sie nicht leugnen können, gekenn-
zeichnet. Herr Kollege Fischer, wenn Sie gestern Abend
bei Helmholtz gewesen wären, hätten Sie etwas von die-
ser Aufbruchstimmung mitbekommen. Ich glaube aber,
Sie haben gestern mehr ins Dessert geschaut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will zu zwei Punkten Stellung nehmen. Herr
Fischer, Sie haben uns empfohlen, wir sollten die Posi-
tion, die Sie uns hinterlassen haben, halten und haben
auch noch einen Dank an Herrn Rüttgers ausgesprochen.
Sie sollten den Bericht wirklich lesen. Darin ist nicht da-
von die Rede, die Position zu halten, man hat uns vielmehr
ins Stammbuch geschrieben, es seien tief greifende struk-
turelle Reformen notwendig, um nicht weiter an Boden zu
verlieren. Das ist der Boden, den Sie verloren haben und
den wieder zu bereiten wir versucht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [KarlsruheLand] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


– So ein Quatsch? Das Problem ist, Herr Fischer, dass Sie
sich auch die Zahlen nicht angucken. In Ihrer Regie-
rungszeit sind die Ausgaben für Bildung und For-
schung auf 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu-
rückgegangen. Dieser Stand wurde zum Teil schon von
Schwellenländern erreicht. In der OECD betrug
der durchschnittliche Anteil am Bruttoinlandsprodukt
12,5 Prozent. Hier holen wir im Moment auf.

Ich hätte also die herzliche Bitte, nicht Zahlen in den
Raum zu stellen, von denen die Menschen auf den Tribü-
nen annehmen müssen, dass sie richtig seien. Jede Zahl,
die Sie hier vorgetragen haben, ist falsch und das ist das
Ärgerliche an Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hier sitzen Haushälter – auch bei Ihnen sitzen Menschen,
die rechnen und denken können –, die die richtigen Zah-
len kennen. Sie stellen einfach so in den Raum, wir wür-
den 500 Millionen DM weniger für Bildung und For-
schung ausgeben. Gucken Sie sich bitte die Zahlen an:
Allein beim BAföG mobilisieren wir 1 Milliarde DM
mehr. Das sind nicht 500 Millionen DM weniger, sondern
in einem einzigen Feld 1 000 Millionen DM mehr.

Dann reden Sie über Kürzungen im Forschungshaus-
halt. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass wir auf un-
terschiedlichen Veranstaltungen sind. Natürlich hoffen

wir – auch das richte ich an die Haushälter aller Fraktio-
nen –, dass wir die Zahlen noch verbessern können. Aber
allein in diesem Haushaltsentwurf haben wir den Etat für
Bildung und Forschung um knapp 6 Prozent erhöht,
während Sie bei Herrn Waigel immer mit glühenden Oh-
ren herauskamen, weil er Sie abgewatscht hat. Sie haben
nicht mehr, sondern weniger bekommen. Das war der Er-
folg Ihrer Arbeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hören Sie also bitte auf, uns aufgrund falscher Zahlen
Vorwürfe zu machen.

Der Bericht benennt auch weitere Probleme, die Sie
uns hinterlassen haben. Wir sind stark


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Im Ankündigen!)


in den klassischen Bereichen; das ist gut so. Wir sind stark
im Maschinenbau, wir sind stark im Automobilbau. Das
sind die Bereiche, die auch den Schwerpunkt unseres Ex-
portes ausmachen. Dagegen haben wir große Defizite bei
den IuK-Technologien. Auch dies ist im Bericht enthalten
und es gehörte zur Ehrlichkeit, Kollege Fischer, dass Sie
deutlich machen, dass Deutschland in diesen zukunfts-
trächtigen Spitzentechnologien nicht nur Boden verloren
hat, sondern einfach keine Rolle spielte. Das müssen wir
jetzt mühsam aufarbeiten.

Wir haben aber, Frau Kollegin Flach, in einem Bereich
die Spitzenstellung gehabt, nämlich in der Umwelttech-
nologie.Diesen Bereich wollen wir weiter ausbauen. Hier
bestehen natürlich auch Zusammenhänge mit hohen Ener-
giepreisen. Hohe Energiepreise werden in der Tat dazu
führen, dass wir einen Schub hin zu verbrauchsärmeren
Autos, hin zum Dreiliterauto haben. Sie haben die „drei
Liter“ immer auf den Hubraum bezogen. Nein, wir mei-
nen den Verbrauch. Heute redet Herr Piëch schon vom
Einliterauto. Das ist moderne Technologie. Damit können
wir auf die Märkte gehen, das können wir exportieren.
Wir betreiben also die richtige Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das haben wir vorbereitet!)


– Fragen Sie doch einfach noch ein bisschen dazwischen.
Ich habe eine begrenzte Redezeit. Die Regierung hat so
überzeugend vorgetragen, dass mir dadurch ein paar Mi-
nuten geklaut worden sind.

Es sind strukturelle Reformen unseres Bildungs- und
Ausbildungssystems, der Steuer- und Wirtschaftspolitik,
bei der Bewältigung des Strukturwandels in wissens- und
forschungsintensiven Sektoren angemahnt worden.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Dann machen Sie es doch endlich!)


– Wir haben das angepackt. Das ist nicht angekündigt,
sondern angepackt worden.

Wichtig sind unsere Forschungseinrichtungen. Der
Bericht bestätigt durchaus die Effektivität und Leistungs-
fähigkeit unserer Forschungseinrichtungen. Insbesondere






(C)



(D)



(A)



(B)


in den neuen Bundesländern – auch das ist eine wichtige
Aussage dieses Berichts – wurde aufgeholt. In einzelnen
Unternehmen in den neuen Bundesländern übertreffen die
Aufwendungen für Innovationen, bezogen auf den Um-
satz, die der Unternehmen in den alten Bundesländern.
Das ist ein toller Erfolg, zu dem Inno-Regio beigetragen
hatte. Auf diesem richtigen Weg werden wir in den neuen
Bundesländern weitergehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Folgen sind schon klar, Kollege Fischer. Zahlen
können Sie hier manipulieren, aber Sie können sie nicht
wegdiskutieren. Bei Ihnen gab es einen Anstieg des An-
teils der FuE-intensiven Güter an den Gesamtexporten um
8 Prozent. Bei uns beträgt deren Anteil 50 Prozent. Das ist
sicherlich durch den Dollarkurs ein bisschen erleichtert
worden; grundsätzlich zeigt dies aber auch hier die Ten-
denzwende.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Fragen Sie doch einfach, wenn Sie etwas wissen wollen;
Sie können nur lernen.


(Heiterkeit bei der SPD – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Lernen, wie man Zahlen manipuliert!)


Schrittmacher sind bei uns – ich wiederhole es – Auto-
mobilbau, Maschinenbau und Pharmaindustrie, während
moderne Industrien ein Problem hatten. Die schnelle Um-
setzung neuer Ideen in marktfähige Produkte – auch dies
bestätigt der Bericht – ist kein so großes Problem, wie es
immer dargestellt wird. Die schnelle Umsetzung neuer
Ideen in marktfähige Produkte ist auf den Weg gebracht.
Auch dies haben wir immer gefordert. Wir sollten wir auf-
hören, darüber zu jammern, dass dies nicht stattfindet. Es
findet zwischenzeitlich statt. Ich glaube, auch das ist ein
wichtiger Erfolg.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412115000
Herr Kollege
Tauss, Sie sehen, ich war hinsichtlich der Einhaltung Ih-
rer Redezeit schon großzügig.


(Zuruf von der CDU: Das war ein Fehler!)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1412115100
Frau Präsidentin, ich sehe, Sie
leuchten, zumindest hier vorn. Ich bitte um Entschuldi-
gung.

Ich wünsche Ihnen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dass Sie sich den Bericht einfach nochmals
gründlich ansehen, dass Sie sich ansehen, was wir auf den
Weg gebracht haben. Dann werden Sie diese Regierung
loben und aufhören, sie mit falschen Zahlen zu be-
schimpfen. Das sind der Wunsch und die Bitte, die wir an
Sie heute Abend richten wollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412115200
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2957 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Neumann (Bremen), Dr. Norbert Lammert, Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Verbesserung der Rahmenbedingungen für den
deutschen Film
– Drucksache 14/3375 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell ist eine Aussprache von einer Dreivier-
telstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeord-
neten Bernd Neumann das Wort.


Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1412115300
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Wir können in
Deutschland auf eine erfolgreiche Filmtradition zu-
rückblicken. Das Berliner Filmmuseum im Filmhaus am
Potsdamer Platz, das vorgestern eröffnet wurde, doku-
mentiert dies eindrucksvoll.

Der deutsche Film hat im 20. Jahrhundert einmal Welt-
geltung besessen. Das wird einem wieder bewusst, wenn
man durch die Ausstellung im neuen Filmmuseum wan-
dert. In den 20er-Jahren war Deutschland neben den Ver-
einigten Staaten die wichtigste Filmnation. Deshalb ist die
Präsentation im Filmmuseum in ihrem ersten Teil ziem-
lich eindrucksvoll. Am Schluss, bei der Darstellung des
deutschen Nachkriegsfilms, fällt das Niveau der Schau
allerdings ziemlich ab. Und damit sind wir beim Kern des
Problems.

Der Marktanteil deutscher Filme in unseren Kinos,
der seit Jahren immer nur zwischen 9 und 17 Prozent liegt,
ist unbefriedigend. Deshalb gibt es das Klagelied über die
kritische Situation des deutschen Films nunmehr seit
Jahrzehnten. Immer wieder, wenn die Zahl der Besucher
deutscher Filme sinkt, immer, wenn wieder einmal kein
deutscher Film bei den Festspielen in Cannes oder Vene-
dig gezeigt wird, stellen die deutschen Publizisten die
bohrende Frage: Warum können es die Amerikaner, und
warum können es die Deutschen nicht? Die Antworten
wiederholen sich wie die Anlässe: der zu kleine Markt,
das Sprachenproblem, die angeblich kargen Budgets, die
regionale Filmförderung usw. usf.

Das alles ist sicherlich bedenkenswert und auch in Tei-
len zutreffend. Vor allem steht fest, dass man zumindest
die Marktgröße und das Sprachenproblem kaum ändern




Jörg Tauss
11630


(C)



(D)



(A)



(B)


kann; da hilft alles Lamentieren nicht. Die Höhe der öf-
fentlichen Fördermittel von jährlich 350 Millionen DM
– dazu kommen noch etwa 20 Millionen DM aus den
Media-Programmen der EU –, von denen die Länder
220 Millionen DM, die Filmförderungsanstalt aufgrund
von Abgaben der Film- und Fernsehwirtschaft 99 Milli-
onen DM und der Bund allerdings nur 30,6Millionen DM
tragen, halte ich für beträchtlich, aber auch nötig.

Man muss wissen: Ohne diese Filmförderung, die von
der EU genehmigt ist und auch in anderen europäischen
Ländern praktiziert wird, gäbe es den deutschen Film
praktisch nicht. Auf keinen Fall könnte der Marktanteil,
der sich inzwischen erfreulicherweise bei etwa 15 Prozent
stabilisiert hat, auch nur annähernd gehalten werden.

Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass der Etat für die
kulturelle Filmförderung im Bundeshaushalt 2000 um
2,5 Millionen DM erhöht wurde. Umso weniger verstehe
ich die Schlagzeile aus dem „Tagesspiegel“ im Frühjahr
dieses Jahres „Michael Naumann: Filmförderung muss
reduziert werden“.

Natürlich muss man immer wieder über die Strukturen
der Filmförderung nachdenken. Noch mehr Wirtschaft-
lichkeit und Risikobereitschaft und weniger Gießkannen-
prinzip sind die Themen. Aber Filmförderung als solche
und auch in etwa in der jetzigen Größenordnung ist zur
Erhaltung des deutschen Kinofilms unverzichtbar.

Mit einem muss man sich wohl abfinden: Der deutsche
Film erfüllt im Hinblick auf den Marktanteil in den Kinos
eher eine Nischenfunktion.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)


Aber diese ist unverzichtbar für unsere Kultur, für unsere
Künstler, für unsere Filmwirtschaft. Der Film – hiermit
meine ich insbesondere den Kinofilm – ist für uns ein
wichtiges Kulturgut, aber auch ein bemerkenswertes
Wirtschaftsgut. Deutschland braucht eine wettbewerbs-
fähige Filmwirtschaft, um Filmproduktionsstandort zu
bleiben.

Primär sind natürlich die Kulturschaffenden und die
Filmwirtschaft selbst für den Film verantwortlich. Wir,
die Politiker, der Staat, können und sollten nur Einfluss
auf die Rahmenbedingungen nehmen. Das ist der
Grund, weshalb die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag zur
Verbesserung der Rahmenbedingungen für den deutschen
Film in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Wir
haben durch diesen Antrag nach langer Zeit hier im Bun-
destag wieder eine Debatte über die Lage des deutschen
Films.

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass man die
vielfältigen Äußerungen unseres Staatsministers für Kul-
tur und Medien nicht unbedingt auf die Goldwaage legen
sollte.


(Jörg Tauss [SPD]: Keine Schärfe!)

Dies trifft auch auf seine jüngste Äußerung zu, das von
ihm angeregte Bündnis für den Film sei „mehr als ein un-
verbindliches Forum für den Austausch von Positionen“.

So sei man bei den Themen Filmförderung, Filmexport
und Rechteauswertung bereits gut vorangekommen.

Unbestritten war die Aktion Bündnis für den Film
eine gute Idee. Das haben wir auch immer gesagt. Deshalb
habe ich für die CDU/CSU-Fraktion an den beiden Ta-
gungen des Bündnisses für den Film im April und Okto-
ber 1999 teilgenommen. Durch diese Aktion und ver-
schiedene öffentliche Erklärungen von Herrn Naumann
sind bei den Beteiligten aus der Filmwirtschaft beträcht-
liche Erwartungen geweckt worden. Allerdings konkrete,
verwertbare Ergebnisse lassen in fast allen Punkten auf
sich warten, obwohl inzwischen wieder ein ganzes Jahr
vergangen ist.

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, Herr Naumann,
dass die Mittel des Bundes für kulturelle Filmförderung
leicht erhöht wurden und damit Verbesserungen in Berei-
chen wie Drehbuchförderung, Absatz- und Kopienförde-
rung erfreulicherweise möglich waren. Doch dazu hätte es
nicht eines Bündnisses für den Film bedurft. Das konnte
der BKM ohnehin allein veranlassen. Viel wichtiger sind
dagegen grundsätzliche und strukturelle Fragen.

In einem Interview von „Pro-Media“ vom Februar die-
ses Jahres kündigten Sie, Herr Naumann, für April ein er-
neutes Treffen des Bündnisses für den Film mit der Aus-
sage an:

Das Hauptanliegen
– die Verbesserung der Produzentenrechte –

wird gelöst werden, so oder so!
Bis heute gab es kein Treffen und eine Lösung des Pro-
blems ist nicht in Sicht. Im selben Interview versprachen
Sie, also im Februar dieses Jahres, dass die negativen Aus-
wirkungen für die deutsche Filmwirtschaft infolge einer
Neuregelung für die steuerliche Erfassung von Risiko-
fonds – das ist § 2 b des Einkommensteuergesetzes – be-
seitigt werden. Von einem speziellen Medienerlass war
die Rede. Heute muss man feststellen: Das Ergebnis ist
gleich Null. Der Finanzminister hat Sie nicht erhört.

Eine wichtige Frage der zwei Bündnisrunden war der
Filmexport.Dazu Michael Naumann im selben Interview
– wie gesagt: Februar dieses Jahres –:

Konkrete Vorschläge werden voraussichtlich bis
Ende März vorgelegt werden.

Bis heute gibt es keinen ausgereiften, konkreten und kon-
sensfähigen Vorschlag – mit dem Ergebnis, dass die zu-
ständige Export-Union unter dem Damoklesschwert der
Ungewissheit arbeiten muss. Aus diesen Gründen ist es
verständlich, dass in den Gremien, die den deutschen Film
betreffen, Aussagen wie „Das Bündnis für den Film
lahmt. Es tritt auf der Stelle“ die Runde machen.

Ich sage nicht, dass der Staatsminister persönlich oder
die Bundesregierung an all dem Schuld haben.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: So sind wir!)


Viele der im Bündnis für den Film besprochenen Pro-
bleme können nur durch die Filmwirtschaft selbst und
nicht durch den Staat gelöst werden. Gerade deshalb sollte




Bernd Neumann (Bremen)


11631


(C)



(D)



(A)



(B)


die Lehre daraus sein: den Mund nicht so voll nehmen;
weniger Sprüche, mehr Seriosität; vor allem auf die
Punkte konzentrieren, die die Bundesregierung tatsäch-
lich in eigener Verantwortung regeln kann. Davon gibt es
eine Menge!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auf zwei wichtige Punkte, in denen die Bundesregie-

rung im Rahmen ihres eigenen Verantwortungsbereichs
Positionen für den Film beziehen könnte, in denen sie al-
lerdings das Gegenteil tut, möchte ich noch eingehen.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Der von der Bundesregierung zur Diskussion gestellte
Gesetzentwurf zur Novellierung des Urheberrechts
konterkariert alle hehren Absichten des Bündnisses für
den Film. Er ist ein Schlag ins Gesicht der deutschen
Filmwirtschaft, weil er in keiner Weise der besonderen Si-
tuation der Filmherstellung und der Filmauswertung
Rechnung trägt.

Mit § 39 – Ausübung von Urheberpersönlichkeits-
rechten – wird die Fertigstellung eines Filmwerkes de
facto unmöglich, da verschiedene Urheber und Künstler
betroffen sind, also Autoren, Regisseure und Produzen-
ten, deren Urheberpersönlichkeitsrechten im Einzelnen
Genüge getan werden müsste, um ein Filmwerk über-
haupt fertig stellen zu können. Der Filmhersteller würde
zukünftig also für jede Übertragung eines Nutzungsrech-
tes die gemeinsame Zustimmung aller Miturheber benöti-
gen.


(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist noch nicht einmal im Referentenentwurf!)


Bekannte Finanzierungsmodalitäten – sprich: Verwer-
tungskette – fielen aus. Der Entwurf begünstigt einseitig
die Interessen der Urheber und übersieht, dass auch die
Produktionswirtschaft im Verhältnis zu bestimmten Aus-
wertern schutzbedürftig ist. Dies ist nicht berücksichtigt
worden, ebenso wie die Vermarktbarkeit der Produktion
im Ausland und der Aufbau eines Zweitverwertungs-
marktes.

Der Bundesverband Deutscher Fernsehproduzenten
stellt mit Recht fest:

Diese Gesetzesvorschläge würden zu einer Verlage-
rung von Produktionen ins Ausland und zu einer Aus-
dünnung der Kulturlandschaft in der Bundesrepublik
Deutschland führen. Von einer Stärkung der Urhe-
berseite, wie der Gesetzentwurf es will, könne dann
keine Rede mehr sein. Folge werde eine kulturelle
Verarmung im Bereich des deutschen Films sein.

Das Engagement im Bündnis für den Film und auch Ihr
persönliches Engagement, Herr Naumann, das insbeson-
dere die Stärkung der Film- und Fernsehproduzenten vor-
sah, würden, falls man diese Novellierungsvorschläge so
realisiert, völlig konterkariert. Die Ausweitung des Zweit-
verwertungsmarktes von Filmen, an dem wir die Produ-
zenten verstärkt beteiligen wollen, würde durch solche
Regelungen blockiert. Deshalb erwarten wir von Ihnen,
Herr Staatsminister, dass Sie sich bei der Erarbeitung ei-
nes endgültigen Gesetzentwurfes der Bundesregierung

zum wirklichen Anwalt des deutschen Films machen und
die vorgeschlagenen Regelungen verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Im Übrigen bitte ich Sie, in dieser Debatte Ihre Position in
dieser Frage zu markieren.

Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Regelungen zum
Schutz des geistigen Eigentums auf europäischer und in-
ternationaler Ebene über die Nutzung in digitalen Netzen
sind nötig, um zum Beispiel Internetpiraterie zu vermei-
den. Diese müssen jedoch die Interessen der Urheber wie
die der verwertenden Filmindustrie gleichermaßen be-
rücksichtigen; sie dürfen nicht ausschließlich im Interesse
der Urheber sein.

Ich möchte einen zweiten wichtigen Punkt aus dem
Verantwortungsbereich der Bundesregierung nennen. Die
von Ihnen, Herr Naumann, seit langem gegebene Zusage,
bei § 2b Einkommensteuergesetz für eine Auslegung
zu sorgen, die der besonderen Rolle der Film- und Fern-
sehwirtschaft in Deutschland Rechnung trägt, ist nicht er-
füllt. Die vom Finanzministerium veröffentlichten Ausle-
gungsbestimmungen sind unpraktikabel und, so sagen es
die Leute aus der Branche, in hohem Maße bürokratisch.
Die Folge ist, dass weiterhin mehr als drei Viertel des pri-
vaten Kapitals, also etwa 2 bis 3 Milliarden DM, in
US-Produktionen investiert werden und nicht, wie wir uns
das wünschten, in Filmfonds, die deutsche Produktionen
finanzieren.

Kürzlich sagte Herr Schlauch in einer Verwaltungs-
ratssitzung der FFA, dass eine Sonderregelung für Film-
und Fernsehfonds, zum Beispiel in der Form eines Me-
dienerlasses, aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei.
Das mag sein. Umso richtiger ist es, dass meine Fraktion
insgesamt nach wie vor die völlige Abschaffung von § 2b
Einkommensteuergesetz fordert, um zu verhindern, dass
Investitionen zunehmend ins Ausland fließen und wir da-
durch Arbeitsplätze gerade in der Filmwirtschaft verlie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie, verehrter Herr Naumann, sollten uns als so genannter
Filmminister dabei unterstützen.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Punkte an-
sprechen, die im Gegensatz zu den eben zitierten nicht
dem unmittelbaren Einfluss der Bundesregierung und der
Politik unterliegen, die aber für den deutschen Film und
seine Beteiligten wichtig sind. Eine strukturelle Verbesse-
rung der Außenvertretung des deutschen Films, so wie sie
der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 2. Ja-
nuar 1998 anlässlich der Verabschiedung des FFG gefor-
dert hat, ist nach wie vor unerlässlich und muss möglichst
im Konsens mit allen Beteiligten alsbald vollzogen wer-
den. Dabei sollte die Export-Union als solche nicht mehr
infrage gestellt werden. Der bereits eingeleitete Reform-
prozess sollte mit dem Ziel zügig fortgesetzt werden, au-
diovisuelle Produkte deutschen Ursprungs im Ausland
besser zu bewerben und deren Vermarktungsmöglichkei-
ten ebenfalls zu verbessern. Für diese Aufgabe – das ist
für uns ein Essential – muss die Wirtschaft, nicht der
Staat, die Hauptverantwortung tragen. Der Staat kann




Bernd Neumann (Bremen)

11632


(C)



(D)



(A)



(B)


diese Aufgabe bestenfalls auf repräsentativer Ebene be-
gleiten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist für die CDU/CSU die
Stärkung der Rechte von unabhängigen Film- und Fern-
sehproduzenten. Dazu gehört der Ausbau des Zweitver-
wertungsmarktes; darauf habe ich bereits in Verbindung
mit dem Urheberrecht hingewiesen. Hier müssen entspre-
chende Regelungen im Urheberrecht erfolgen, und nicht,
wie vorgesehen, solche, die den Vorgang behindern.

Darüber hinaus muss die Fernsehbindung der von
ARD/ZDF bzw. den privaten Fernsehveranstaltern für die
Projektförderung zur Verfügung gestellten Mittel entfal-
len. Diese Fernsehbindung beeinträchtigt die Produzen-
ten. Immer, wenn sie einen Antrag auf Projektförderung
stellen, müssen sie den Nachweis erbringen, dass das
Fernsehen dabei mitmacht. Das heißt, dass die Förderung
nur dann gewährt wird, wenn Fernsehverträge vorliegen.
Dies beeinträchtigt insbesondere junge und unabhängige
Produzenten bei der Finanzierung der Filme in hohem
Maße und verbürokratisiert das Verfahren.

Diejenigen, die vom Kulturgut Film profitieren, kön-
nen auch eine angemessene Leistung zur Förderung ein-
bringen. Für die Kino- und Video-Programmanbieter ist
dies gesetzlich geregelt. Die öffentlich-rechtlichen und
privaten Fernsehanstalten zahlen aufgrund eines Abkom-
mens nur je 11Millionen DM pro Jahr zur Filmförderung,
und das bei 12 Milliarden DM Gebühreneinnahmen zum
Beispiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch die
privaten Fernsehanbieter brüsten sich ja mit ihren riesigen
Milliardeneinnahmen. Wenn dies so ist, dann sollte es
selbstverständlich sein, bei der Vergabe dieser relativ
geringen Summe – wie gesagt, je 11 Millionen DM pro
Jahr – nicht noch auf einer Fernsehbindung der Projekte
zu bestehen. Man kann erwarten, dass die Fernsehanstal-
ten Filmförderung um der Filmförderung willen betreiben
und nicht noch bei dieser geringen Summe davon profi-
tieren wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wie man hört, soll in diese Frage Bewegung gekommen
sein.

Bei der konkreten Diskussion zur Nivellierung des
FFG werden wir uns im Übrigen entscheiden müssen, ob
wir eine Neuregelung des Rechterückfalls vornehmen
– zurzeit sind im Filmförderungsgesetz sieben Jahre vor-
gesehen – oder anderen Alternativen den Vorzug geben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412115400
Herr Kollege
Neumann, Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.


Bernd Neumann (CDU):
Rede ID: ID1412115500
Ich komme
zum Schluss.

Unser Antrag soll und wird sicherlich – einmal abge-
sehen von der Kritik hinsichtlich der Konkretisierung Ih-
res Wollens und Ihrer Vorschläge – keine großen sachli-
chen Kontroversen auslösen; ich nehme an, dass wir uns
in den meisten Zielrichtungen einig sind. Der Antrag dient
vielmehr ausschließlich dem Ziel, die Verbesserung der

Rahmenbedingungen für den deutschen Film voran-
zutreiben.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412115600
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat die Kollegin Gisela Schröter.


Gisela Schröter (SPD):
Rede ID: ID1412115700
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Lieber Kollege Neumann, lieber
Kollege Lammert, wir haben uns im deutschen Bundestag
das letzte Mal vor zweieinhalb Jahren mit dem Film be-
fasst; das war bei der Verabschiedung der dritten Novelle
zum Filmfördergesetz. Es ist also längst fällig, dass wir
uns hier im Parlament einmal wieder mit dem deutschen
Film, mit dem Film an sich befassen.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Deswegen haben wir den Antrag gestellt! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Wir loben euch ja!)


Nur – das wissen Sie auch –, diese Debatte kommt ganz
einfach zu früh, um konkrete Ergebnisse, die Sie ja ange-
mahnt haben, von uns zu fordern. Sie fordern die Bun-
desregierung auf, einen Bericht über die Lage des deut-
schen Films sowie Verbesserungsvorschläge vorzulegen.
Die Bundesregierung selber hat einen solchen Bericht an-
gekündigt. Auch unsere Fraktion erwartet ihn mit Span-
nung. Dass er noch nicht vorliegt – das möchte ich hier be-
tonen –, ist nicht der Untätigkeit der Verantwortlichen
geschuldet. Wir alle wissen: Durch Staatsminister
Naumann ist in diesen Bereich wieder Bewegung gekom-
men.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Der Bericht muss ja gründlich sein!)


Er hat es erreicht, dass sich erstmals alle Film- und Fern-
sehschaffenden an einen Tisch gesetzt haben.

Mit seinem Bündnis für den Film hat der Staatsmi-
nister Autoren, Regisseure, Schauspieler, Produzenten,
die Filmwirtschaft, öffentlich-rechtliche und private
Fernsehanstalten sowie den Länderfilmausschuss zusam-
mengebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich waren auch Sie, Herr Neumann, mit dabei.

Hier sollen Strategien zur Förderung des deutschen Films
im In- und Ausland entwickelt werden. Der Themenkata-
log reicht von der Stärkung der kulturellen Filmförderung
über die Koordinierung der Förderung von Bund und Län-
dern, die Stärkung der Rechte der freien Produzenten ge-
genüber dem Fernsehen – Sie haben das alles ja auch schon
aufgezählt –, die Verbesserung der Außenvertretung des
deutschen Films bis hin zur europäischen Filmförderpoli-
tik. Das sind alles Themen, Kollege Neumann, die Sie in
dem vorliegenden Antrag erwähnt haben.

Allen war von Anfang an klar, dass es sehr schwierig
werden wird, die unterschiedlichen Interessen zusam-
menzubringen. Sehen wir uns doch einmal an, wie es




Bernd Neumann (Bremen)


11633


(C)



(D)



(A)



(B)


aussieht. Die Gespräche brauchen mehr Zeit, als uns lieb
ist. Fakt aber ist: Das Bündnis für den Film ist keine ein-
malige Veranstaltung. Es handelt sich um einen kontinu-
ierlichen Prozess, der viel Beharrlichkeit und viel Geduld
erfordert. Ganz besonders wichtig ist es, dass alle Betei-
ligten endlich in den Diskussionsprozess eingebunden
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Hierin liegt nach meinem Dafürhalten die größte Schwie-
rigkeit – das wissen wir –, aber auch die größte Chance,
das Bündnis zum Erfolg zu führen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt
zunächst die Ergebnisse der im Rahmen des Bündnisses
gebildeten Arbeitsgruppen abwarten, bevor wir von der
Bundesregierung weitere Verbesserungsvorschläge er-
warten können. Das ist eigentlich logisch.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Anfang November – der Termin steht ja schon fest – fin-
det das nächste Treffen statt. Dann werden wir sicherlich
auch wieder mit dabei sein.

Dass der deutsche Film einmal andere Zeiten kannte,
ist mir bei der Eröffnung des Filmmuseums noch einmal
deutlich geworden. In den 20er-Jahren war Berlin das
Weltzentrum der Filmschaffenden und Hollywood hat
von den besten Talenten profitiert. Ich denke an Ernst
Lubitsch, Fritz Lang, Billy Wilder, um nur ein paar Na-
men zu nennen. Natürlich wissen wir alle, dass wir diese
Zeiten nicht zurückholen können.


(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Sie kommen wieder!)


Sie geben uns aber doch eine Ahnung davon, dass für den
deutschen Film noch mehr möglich ist. Ich rate allerdings
zu einem gesunden Realismus, wenn wir die Ziele der
Filmförderung neu abstecken wollen.

Wie kein anderes Medium prägt der Film in seiner
ganzen Vielfalt gesellschaftliche Lebensstile und Wert-
haltungen. Auch deshalb sollten wir unsere Anstrengun-
gen für den Ausbau der europäischen Filmförderung
verstärken. Dazu besteht demnächst Gelegenheit: Am
23. November kommt der Kulturministerrat zusammen,
um über das Nachfolgeprogramm von Media II zu ent-
scheiden. Bis dahin sollte klar sein, dass von deutscher
Seite einer Erhöhung der bisher veranschlagten Mittel
von 350 Millionen Euro zugestimmt wird. Ich könnte mir
400Millionen Euro ganz gut vorstellen. Das würde vor al-
len Dingen dazu führen, dass die sich immer noch sper-
renden Briten und insbesondere die Niederländer mitzie-
hen würden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir zurück
zum deutschen Film. Herr Neumann ist darauf ja auch
schon eingegangen. Wir hatten in den ersten sechs Mona-
ten dieses Jahres immerhin vier Filme, die über 1 Million
Zuschauer sahen. Ich nenne nur „Anatomie“, „Erkan und

Stefan“, um nicht alle aufzuführen. Über die Inhalte soll-
ten wir hier besser nicht sprechen, aber ich halte das zu-
mindest für sehr erfreulich. Hierzu gehören auch solche
Filme, an die ich sehr gerne erinnere, wie zum Beispiel
„Buena Vista Social Club“ und „Sonnenallee“.


(Jörg Tauss [SPD]: Gute Filme!)

Das hat uns etwas weitergebracht, da wir so die Zu-
schauerzahlen ein wenig anheben konnten. Das ist natür-
lich nicht ausreichend. Darin sind wir uns einig.

Ich gebe dem deutschen Film gute Chancen. Wir haben
gute Produzenten, gute Regisseure, Schauspielerinnen
und Schauspieler. Am Stoff hapert es mitunter. Ich weiß,
wovon ich spreche. Als Mitglied der Vergabekommission
der Filmförderanstalt stapeln sich bei mir die Drehbücher.
Wenn ich sie lese, kann ich Ihnen als Ergebnis nur mittei-
len, dass nicht alle vergnügungssteuerpflichtig sind. Wir
müssen Wege finden, um kreative Potenziale bei den
Drehbuchautoren zu erschließen. Wir brauchen einfach
bessere Stoffe. Wir haben in Deutschland ein Filmförde-
rungssystem auf Bundes- und Landesebene, um das uns
viele andere Länder beneiden. Sicherlich ist die Filmför-
derung nicht so gut, als dass sie nicht noch verbessert
werden könnte. Das gilt schon allein deshalb, weil wir das
Gesetz spätestens dann, wenn es abgelaufen ist, im Jahr
2003, sowieso wieder neu beraten und diskutieren müs-
sen.

Ein ganz zentraler Punkt – darin sind sich alle Betei-
ligten einig – ist die Stärkung der freien Film- und
Fernsehproduzenten gegenüber den Fernsehsendern;
Sie haben es angesprochen. Auch im Bündnis für den
Film werden exakt die Maßnahmen diskutiert, die Sie in
diesem Zusammenhang in Ihrem Antrag ansprechen. Ich
nenne die Stichworte noch einmal: Lockerung und Weg-
fall der Mittelbindung für Leistungen der öffentlich-recht-
lichen und privaten Fernsehsender, Aufbau eines Zweit-
verwertungsmarktes für die Produzenten. Das erfordert
eine entsprechende Anpassung des Urheberrechts.

Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die
Verwertungsrechte bzw. Fristverkürzungen. Auch darin
sind wir uns einig. Die Verwertungsrechte müssen deut-
lich früher – zurzeit sind es sieben Jahre – an die Produ-
zenten zurückfallen. Nur so können sie einen Rechtestock
aufbauen und nur so kann eine mit Eigenkapital ausge-
stattete mittelständische Filmwirtschaft entstehen. Im Ge-
spräch sind fünf Jahre. Besser wären aus meiner Sicht drei
Jahre. Auf jeden Fall brauchen wir hier eine Flexibilisie-
rung.

In der letzten Sitzung des Bündnisses in Hof hat man
sich darauf verständigt, dass zunächst einmal die Produ-
zenten mit den Fernsehanstalten sprechen sollten. Das ist
inzwischen geschehen. Ich bin gespannt, zu welchen Er-
gebnissen wir diesbezüglich bei dem Treffen Anfang No-
vember kommen werden. Sollte es zu keiner einvernehm-
lichen Lösung zwischen Filmwirtschaft und Sendern
kommen, werden wir zusammen mit der Bundesregie-
rung, wie angekündigt, prüfen, ob ein Vorschlag für eine
gesetzliche Änderung vorgelegt werden soll.




Gisela Schröter
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(C)



(D)



(A)



(B)


Zu den Rahmenbedingungen des deutschen Films
gehören natürlich die urheberrechtlichen Regelungen.
Wir hatten gestern dazu eine interessante Expertenan-
hörung. Zurzeit ist es erst einmal ein Professorenentwurf,
also kein Gesetzentwurf der Bundesregierung. Es wurde
uns allen deutlich, wie viel Klärungsbedarf noch besteht.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!)


Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Die SPD-
Fraktion ist für eine angemessene Vergütung der kreativen
Leistungen. Das Urheberrecht muss aber nach unserer
Überzeugung auch den ganz spezifischen Gegebenheiten
der Produktion von Filmen Rechnung tragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Das betrifft vor allem die Verwertungsrechte am Film.
Hier sind wir uns doch, denke ich, einig. Sie müssen so
gestaltet werden, dass sie die Einwerbung von privat fi-
nanziertem Risikokapital ermöglichen. Nach meinem
Dafürhalten müssen die filmischen Belange auf jeden Fall
noch stärker berücksichtigt werden. Sie können sicher
sein, dass wir bei der Gesetzesdiskussion sehr aufmerk-
sam sein und unsere Vorschläge einbringen werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig,
dass wir privates Kapital für die Film- und Fernsehpro-
duktion brauchen. Jetzt komme ich auf Ihre Forderung
nach Streichung des § 2b Einkommensteuergesetz.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Dazu sage ich Ihnen mit aller Deutlichkeit: Das macht un-
sere Fraktion nicht mit.


(Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Schade!)


Wir müssen allerdings sicherstellen, dass die Bildung von
Medien- und Filmfonds nicht behindert wird.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das wird sie doch!)


Das ist der Punkt: Im Kern geht es bei Ihnen um die Frage,
wann ein Fonds – das müssen wir gemeinsam klären – als
Abschreibungsmodell zu werten ist und wann nicht. Es
gibt Bemühungen um einen Erlass. Die Spitzenverbände
der Filmwirtschaft wurden im Rahmen einer Verbandsan-
hörung mit eingebunden. So viel lässt sich sagen: Es gibt
einen Entwurf, der den Interessen der Filmwirtschaft
weitgehend Rechnung trägt. Er befindet sich allerdings
noch in der Abstimmung mit den Ländern. Ich meine,
Ende Oktober wird der Medienerlass vorliegen.

Die Debatten zur Filmförderung sind im Bundestag
immer mit großem Einvernehmen geführt worden. Wir
begegnen uns ja nicht nur hier, sondern fraktionsüber-
greifend auch außerhalb dieses Hauses in diversen Gre-
mien der Filmförderung. Lieber Kollege Neumann, Sie
werden mir bestätigen, dass wir dabei in aller Regel kon-
struktiv und ergebnisorientiert arbeiten und uns auch un-
terstützen.

Ich wünsche mir, dass die Beratungen im Ausschuss
zum vorliegenden Antrag von dem gleichen Geist geprägt

sein werden. Möglicherweise kann man sich einigen. Ich
bin sicher: Der deutsche Film kann davon nur profitieren.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412115800
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Joachim Otto von der F.D.P.-Fraktion.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1412115900
Danke
schön, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Schröter, Sie
sprachen eben von neuen Zielen in der Filmförderung.
Mir geht es, ehrlich gesagt, eher um die neuen Instru-
mente. In den Zielen sind wir uns doch alle einig. Alle
Gutmenschen dieser Republik wollen den deutschen und
den europäischen Film fördern. Mich befällt aber ange-
sichts der bisher erzielten Ergebnisse eine wachsende
Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit und der Sinnhaftig-
keit der bisherigen Instrumente der kulturellen und
wirtschaftlichen Filmförderung.

Ich konstatiere eine schon deprimierende Bilanz. Jedes
Jahr wenden Bund und Länder rund 350 Millionen DM
für die Filmförderung auf – Tendenz steigend. Es gibt
weitere Förderprogramme, auf der europäischen Ebene
beispielsweise Media Plus. Dennoch ist festzuhalten – an
diesem Punkt kommt niemand vorbei –: Es gibt noch
keine messbaren Erfolge. Der Anteil deutscher Filme in
den Kinos dümpelt bei rund 14 Prozent – Tendenz jeden-
falls nicht steigend, eher sinkend.


(Gisela Schröter [SPD]: Das ist nicht wahr! Er ist angestiegen!)


– Nein, Frau Kollegin. Als Vorbereitung auf die heutige
Rede habe ich mir die entsprechenden Zahlen der letzten
Jahre herausgesucht. Ich muss eindeutig feststellen: Ten-
denz in keiner Weise steigend. Trotz des viel beschwore-
nen Bündnisses für den Film gibt es Strukturprobleme.

Ich darf an dieser Stelle einmal einen Kundigen zitie-
ren – er ist jedenfalls kompetenter als ich –, der schon
lange in diesem Bereich arbeitet, nämlich den früheren
Chef der Filmförderung NRW und den künftigen Berli-
nale-Chef Dieter Kosslick. Er sagt:

Die deutsche Filmförderung ist eine komplett kon-
servative Schnarchabteilung, weil jeder Angst hat,
etwas zu verlieren, wenn er etwas verändert. Ich kann
nur sagen: Wenn nichts verändert wird, verlieren wir
alles.

(Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Der macht das aber schon 20 Jahre!)

Ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe. Aber ich muss
schon fragen: Gehört Dieter Kosslick nicht selbst zu die-
ser Schnarchabteilung?


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das Schnarchproblem wird im Rahmen der Gesundheitsreform gelöst!)


Kosslick spricht in diesem Zitat den Förderungs-
wirrwarr öffentlicher Institutionen an. Es ist tatsächlich




Gisela Schröter

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(D)



(A)



(B)


skurril: Es gibt in Deutschland beispielsweise Fördermit-
tel aus Schleswig-Holstein, wenn dort nur ein Teil eines
Filmes gedreht wird. Es gibt Fördermittel aus Bayern,
wenn dort der Cut erfolgt. Es gibt Fördermittel aus
Thüringen, wenn dort das Drehbuch geschrieben wurde.
Es entsteht der fatale Eindruck, dass sich manche deut-
schen Regisseure und Produzenten sehr gut in der Film-
förderung auskennen und sich mehr um die Erschließung
öffentlicher Fördertöpfe als um das Produzieren markt-
fähiger Filme kümmern.

Es gibt erfolgreiche deutsche Produzenten und Regis-
seure – und natürlich auch Schauspieler –, die internatio-
nal anerkannt sind. Aber leider zieht es immer mehr von
ihnen nach Hollywood. Die erfolgreichsten „deutschen“
Filme der letzten Monate sind die Hollywood-Produktio-
nen „Der Sturm“ von Wolfgang Petersen und „Der Pa-
triot“ von Roland Emmerich.

Ich konnte mich vor einigen Monaten mit einigen Ver-
tretern der deutschen Filmkolonie in Hollywood unter-
halten, übrigens, Herr Naumann, in der von Ihnen geför-
derten – das begrüße ich sehr – Villa Aurora. Einheitlicher
Tenor aller dort Anwesenden war, die finanzielle Film-
förderung durch öffentliche Institutionen schade dem
deutschen Film mehr, als sie ihm nütze. Es sei das süße
Gift der Subvention, das den Blick auf die Vermarktbar-
keit trübe.


(Jörg Tauss [SPD]: Also abschaffen!)

– Ich komme noch dazu, Herr Tauss. – Der Ratschlag lau-
tet: Geht mittelfristig heraus aus der finanziellen Filmför-
derung! Setzt auf privates Geld und eigene Verantwor-
tung!

Ähnlich sieht das auch der Staatsminister Michael
Naumann. Dem „Spiegel“ erklärt er jüngst auf die Frage
„Wird der deutsche Film sich je ohne Fördergelder rech-
nen?“:

Warum nicht? Es gibt in Europa ein deutschsprachi-
ges Einzugsgebiet von mehr als 90 Millionen Men-
schen

– übrigens gibt es auch Übersetzungsmöglichkeiten, lie-
ber Herr Naumann –


(Dr. Michael Naumann, Staatsminister: Thank you!)


und es sollte möglich sein, dieses Publikum zu ge-
winnen. Diesen Kampf sollte man nicht verloren ge-
ben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Jawohl, er hat Recht: Diesen Kampf sollte man nicht ver-
loren geben. An dieser Stelle kämpfen wir mit Ihnen. Wir
verstehen aber nicht so recht, warum Sie trotz dieser rich-
tigen Erkenntnis ständig in die entgegengesetzte Richtung
marschieren und in Ihrem eigenen Etat – auch in diesem
Jahr wieder – die Mittel für die kulturelle Filmförderung
erhöhen wollen.

Was wir in jedem Fall brauchen – darauf hat der Kol-
lege Neumann zu Recht hingewiesen –, ist mehr privates
Risikokapital.


(Beifall bei der F.D.P.)


Liebe Frau Kollegin Schröter, ich weiß nicht, was Ihre
persönliche Meinung dazu ist. Sie haben uns gesagt, in Ih-
rer Fraktion sei das nicht durchsetzbar. Ich bitte Sie da-
rum – auch das ist ein Bündnis für den deutschen Film –,
die sozialistischen Neidkomplexe in Ihrer Fraktion zu
bekämpfen


(Jörg Tauss [SPD]: Oh!)

und dafür zu sorgen, dass § 2b Einkommensteuergesetz
jedenfalls in diesem Bereich verändert wird, sodass wie-
der mehr deutsches Risikokapital in diesen Bereich gehen
kann.

Die Redezeit erlaubt es mir leider nicht, zu der Vielzahl
von Vorschlägen in dem CDU-Antrag im Einzelnen Stel-
lung zu nehmen. Wir werden uns als F.D.P.-Fraktion sehr
eifrig und konstruktiv – wie es unsere Art ist – an der Be-
ratung in den Ausschüssen beteiligen. Ich möchte hier ab-
schließend nur die Richtung aufzeigen.

Die Richtung lautet: Weniger Subventionen, mittelfris-
tig heraus aus den Subventionen, stattdessen effektivere,
marktwirtschaftlichere Rahmenbedingungen für den
deutschen Film.


(Eckhard Barthel [Berlin] [SPD]: Das kommt mir so bekannt vor!)


Herr Dr. Naumann, wir versichern Ihnen: Wir Libera-
len geben mit Ihnen zusammen den Kampf um den deut-
schen und europäischen Film nicht verloren, ganz im Ge-
genteil. Aber wir appellieren auch an einige Film-
schaffende in Deutschland und in Europa – ich sage be-
wusst: einige –, Abstand davon zu nehmen, sich auf öf-
fentlich-rechtlichen Sänften zum Erfolg tragen zu lassen.


(Jörg Tauss [SPD]: Erfolg ist Erfolg!)

Ich weiß, dass Ihre Meinung auch in diese Richtung

zielt. In diesem Bemühen unterstützen wir Sie, fordern
Sie aber auch auf: Setzen Sie ein Zeichen und machen Sie
der deutschen Filmindustrie klar, dass sie sich nicht auf
Dauer auf Subventionen verlassen kann. Wir werden uns
gemeinsam mit Ihnen dafür einsetzen – das ist unser
Bündnis für Film –, effektivere, marktwirtschaftlichere
Rahmenbedingungen für den deutschen Film zu schaffen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412116000
Das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Grietje
Bettin.


Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412116100
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder darüber
ärgern soll, dass der deutsche Film in regelmäßigen Ab-
ständen Gegenstand parlamentarischer Debatten ist. Ei-
nerseits freue ich mich darüber, weil der deutsche Film für
mich eine sehr große Bedeutung hat. Andererseits ärgere
ich mich darüber, weil die Debatten beweisen, dass es
beim deutschen Film immer noch einiges gibt, das im Ar-
gen liegt.




Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

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(D)



(A)



(B)


Wie alle an dem Thema Interessierten weiß ich, dass
nicht alle Probleme von heute auf morgen behoben wer-
den können. Möglich ist nur eine Politik der kleinen
Schritte, und diese hat die Bundesregierung mit ihrem Be-
auftragten für Kultur und Medien bislang erfolgreich be-
trieben.


(Jörg Tauss [SPD]: In die richtige Richtung!)

So hat sie bei der kulturellen Filmförderung nicht nur

eine Erhöhung der Fördersumme insgesamt durchgesetzt,
sondern durch die nachhaltige Verbesserung der Dreh-
buchförderung und der Stoffentwicklung auch genau an
den wundesten und unzureichendsten Punkten des Film-
schaffens in Deutschland angesetzt.

Schwieriger ist das mit den ehrgeizigen Zielen, die mit
dem Bündnis für den Film erreicht werden sollen. Es ist
viel Kritik dahin gehend geäußert worden, dass das Bünd-
nis nichts bewirken würde. Das ist so nicht richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das kontroverseste Thema bei den Bündnistreffen war
die Stärkung der unabhängigen Produzenten, wie es in
dem vorliegenden Antrag zu Recht gefordert wird. Auch
wenn noch kein Durchbruch erzielt wurde, hat das Bünd-
nis für den Film weiteren Druck auf die Verhandlungs-
partner Fernsehsender und Produzenten ausgeübt, der zu
den aktuellen Verhandlungen um fairere und ausgewoge-
nere Regelungen beigetragen hat. Der Ausgang dieser
Verhandlungen wird zeigen, ob und wie der Bundestag
mit einer Novellierung des Filmförderungsgesetzes die
Stärkung unabhängiger Produzenten vorantreiben muss.
Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird, da
keine der Fraktionen bei diesem Thema ideologische
Scheuklappen trägt, sondern alle pragmatisch an der Sa-
che orientiert sind. Das zeigt auch der vorliegende Antrag
der CDU/CSU-Fraktion.

Eine Novellierung des Filmförderungsgesetzes wird
vor allem Instrumente entwickeln müssen, durch die die
wenigen noch verbliebenen unabhängigen Produzenten
gestärkt werden können. Wenn wir das nicht schaffen,
werden darunter die inhaltliche und kulturelle Vielfalt ge-
nauso wie der wirtschaftliche Wettbewerb leiden. Eine
Neuregelung des Rechterückfalls an die Produzenten zu-
gunsten von ihnen – da stimme ich mit dem Antrag der
CDU/CSU überein –, wird unumgänglich sein, wenn die
Fernsehsender und Produzenten das nicht untereinander
bewältigen.

Ich hoffe allerdings, dass es in diesem Fall nicht bei
vollmundigen Ankündigungen vonseiten der Politik
bleibt, wie es bei den letzten Novellierungen der Fall war,
sondern alle Parteien zusammen mit Bündnis 90/Die Grü-
nen wirkliche Verbesserungen für die Produzenten im
FFG festschreiben.

Darüber hinaus brauchen wir als Parlament den Mut,
jetzt über eine grundsätzliche Reform der Bundesfilmför-
derung nachzudenken. Wir müssen abwägen, ob sich die
Filmförderung nicht vorrangig und schwerpunktmäßig
um die Nachwuchsförderung und die Unterstützung von
jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten bemühen

muss. Die bereits Erfolgreichen und Etablierten – das sehe
ich zu meiner Freude immer öfter – sind zwar nicht im-
mer, aber immer öfter in der Lage, ihre Filme weitgehend
durch privates Kapital zu finanzieren.

Deutsche Fernsehfilme und vor allem Serien verkaufen
sich relativ erfolgreich im Ausland. Bei den deutschen Ki-
nofilmen ist das leider, von wenigen Ausnahmen abgese-
hen, noch nicht der Fall. Sie lassen sich noch nicht einmal
an unsere europäischen Nachbarländer verkaufen.

Daher spielt nicht nur die Förderung europäischer Ko-
operationen wie der Deutsch-Französischen Filmakade-
mie, sondern auch die Auslandsvertretung des deutschen
Films eine bedeutende Rolle, die die jetzige Export-Union
allerdings weder organisatorisch noch finanziell ausfüllen
kann. Die Auslandsvertretung des Films neu zu organisie-
ren und mit ausreichenden Mitteln auszustatten wird eine
der nächsten großen Aufgaben von Filmwirtschaft und
Politik sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412116200
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412116300
Verehrte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass am Diens-
tag der vergangenen Woche hier in Berlin das erste um-
fassende Filmmuseum in Deutschland eingeweiht wor-
den ist, möchte ich an dieser Stelle als wichtiges
kulturelles Ereignis würdigen. Die Filmgeschichte hat
also ihren archivarischen Ort gefunden, die Großen haben
Platz genommen. Dem gegenwärtigen deutschen Film-
schaffen müssen wir allerdings mit sorgfältigen politi-
schen Entscheidungen endlich den angemessenen Platz
einräumen.

Mit dem Antrag der CDU/CSU wird erfreulicherweise
nach langer Zeit wieder eine parlamentarische Debatte
zur intensiven Beschäftigung mit den Rahmenbedingun-
gen des deutschen Films angeregt. Das wird von meiner
Fraktion ausdrücklich begrüßt.

Dass die Rahmenbedingungen des Films dringend der
Verbesserung bedürfen, steht für mich – nach Rückspra-
che mit verschiedenen im Film engagierten Akteuren und
Verbänden – außer Zweifel. Einem großen Teil der im An-
trag vorgebrachten Forderungen und Vorschläge kann ich
zustimmen. Die Bundesregierung sollte noch in diesem
Herbst einen Bericht über die Lage des deutschen Films
mit konkreten Maßnahmevorschlägen vorlegen.

Ich möchte ausdrücklich würdigen, dass sich die Bun-
desregierung im Bereich der Filmförderung durchaus en-
gagiert und versucht, neben der wirtschaftlichen auch der
kulturellen Filmförderung einen angemessenen Platz
einzuräumen.

Die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für den
Film halten wir für außerordentlich wichtig. Es muss ein




Grietje Bettin

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(C)



(D)



(A)



(B)


Konsens zwischen den verschiedenen Interessengruppen
zur dauerhaften Stärkung des Films in Deutschland und
Europa ermöglicht werden. Die Verhandlungen sollten
unbedingt fortgesetzt werden. Zugleich ist die Bundesre-
gierung in der Pflicht, ihre Ankündigungen einzulösen.
Beispielhaft nenne ich: Aufstockung der Mittel für die
kulturelle Filmförderung in den nächsten Jahren, Förde-
rung der Programmkinos, Verbesserung der Präsentation
der deutschen Filmkultur und -wirtschaft im Ausland so-
wie die Stärkung der Rechte der unabhängigen Film- und
Fernsehproduzenten.


(Beifall bei der PDS)

„Der Film ist ein wichtiges Kultur- und Wirtschafts-

gut“, heißt es im Antrag. Dem kann ich nur zustimmen.
Wir finden es bemerkenswert und richtig, dass die Kultur
hierbei an erster Stelle genannt wird; denn der Film ist
zweifellos weit mehr als ein Wirtschaftsfaktor, was seine
volkswirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeu-
tung keineswegs in Abrede stellt.

Als eine der wenigen Wachstumsbranchen verdient die
Filmwirtschaft auch die besondere Aufmerksamkeit und
Unterstützung durch die Politik. Wenn die Rahmenbedin-
gungen für den deutschen Film diskutiert werden, müssen
aber sowohl die wirtschaftlichen als auch die kulturellen
Aspekte bedacht werden. Dabei müssen dann die Belange
aller kulturellen Akteure im Blick sein. Hier finden wir
den vorliegenden Antrag unbedingt ergänzungsbedürftig.

Die Rechte der unabhängigen Film- und Fernsehpro-
duzenten zu stärken, das halten wir für notwendig, aber
unserer Auffassung nach sollte es zugleich um die Siche-
rung der Rechte aller Urheber gehen, also aller an der
Produktion von Filmen schöpferisch Beteiligten, wie Re-
gisseuren und Regisseurinnen, Buchautoren und Buchau-
torinnen und ausübenden Künstlern und Künstlerinnen,
nicht nur um die Rechte der Produzenten. Wenn es uns um
Qualität des deutschen Films geht, müssen wir alle betei-
ligten Urheber stärken und fördern.

Die im Antrag benannten Regelungen zum Schutz des
geistigen Eigentums finden unsere Zustimmung. Für pro-
blematisch halten wir allerdings den Vorschlag, eine ver-
stärkte Beteiligung privaten Kapitals – Frau Schröter hat
das auch schon gesagt – durch Streichung von § 2b Ein-
kommensteuergesetz zu erreichen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412116400
Herr Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412116500
Auch wenn wir der Forde-
rung in dieser Globalität nicht zustimmen können, sind
wir daran interessiert, dass spezifische Lösungen für den
Filmbereich schnell gefunden werden.

Ein Satz sei mir noch erlaubt.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412116600
Aber kein Thomas-
Mann-Satz, bitte!


(Heiterkeit bei der SPD)



Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412116700
Aus Sicht der PDS sind
viele Forderungen im Antrag zu unterstützen, aber mit der
Stärkung der Rechte der Filmproduzenten muss es zu-
gleich um die Sicherung der Urheberrechte aller Beteilig-
ten gehen. Zur Gesamtheit der Rahmenbedingungen
gehören auch die besonderen Probleme, die im Eini-
gungsprozess bei der Frage des Urheberrechts in den
neuen Bundesländern entstanden sind.


(Beifall bei der PDS – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Das ist schon ein ThomasMann-Satz!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412116800
Herr Kollege Fink, Sie
bringen mich jetzt wirklich in eine schwierige Situation.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1412116900
Ich erkläre hier ausdrück-
lich die Bereitschaft der Fraktion der PDS, an einem frak-
tionsübergreifenden, sachdienlichen Antrag mitzuwirken.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Frau Präsidentin, was haben Sie gegen Thomas Mann? – Gegenruf von der CDU/CSU: Gar nichts; sie liebt ihn!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412117000
Ich muss der Klarheit
halber als Literaturwissenschaftlerin feststellen: Ich habe
nichts gegen den Autoren Thomas Mann, sondern habe
das nur auf die Länge des Satzes bezogen. Das wissen
alle, glaube ich.

Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Dr. Michael
Naumann.

D
Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412117100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter Neumann, dieser Antrag ist zweifellos
der merkwürdigste Abspann zu einem sehr lange dauern-
den, 16-jährigen Film, den ich je gelesen habe. Was Sie in
Wirklichkeit hier vorgelegt haben, womit ich cum grano
salis übereinstimme, ist die Reparaturanleitung zu der
vergangenen Filmförderungspolitik Ihrer Legislaturperi-
oden.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Jetzt kommt wieder die Leier! Haben Sie nicht mehr drauf?)


– Das kommt ja, wenn Sie mir die Minuten geben.
Sie verlangen von dieser Regierung im Grunde ge-

nommen, dieses von Ihnen, Herr Otto, als Förderungs-
wirrwarr bezeichnete Labyrinth der Filmförderungsmaß-
nahmen mit all den inhärenten Ungerechtigkeiten und
Absurditäten innerhalb von zwei Jahren zu verändern.


(Beifall bei der SPD)

Diese legislativen Veränderungen, Herr Neumann, mö-

gen in der Vergangenheit in der Tat sehr klandestin
– heimlich vor allem im Kanzleramt, unter Mitsprache der




Grietje Bettin
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(D)



(A)



(B)


privaten Fernsehanstalten auch bei der Filmförderungsge-
setzgebung, wie Sie und ich ganz genau wissen – stattge-
funden haben. Dass Veränderungen jetzt öffentlich statt-
finden, im Bündnis für den Film, wird von der gesamten
Filmindustrie ausgesprochen begrüßt und sollte nun nicht
zu einer Art Ankündigungspolitik umdefiniert werden.
Denn wir beide wollen, wie alle im Haus, in der Tat pro-
zessuale Veränderungen, aber auch legislative Verände-
rungen für eine Wirtschaft bewerkstelligen, die vielleicht
nicht finanziell, wohl aber, mit wenigen Ausnahmen,
ästhetisch, aber vor allem hinsichtlich der Akzeptanz
durch das deutsche Publikum zwar nicht am Boden liegt,
aber doch weiterhin vor sich hin darbt.

Ich will angesichts der kurzen Redezeit, die ich habe,
eigentlich nur wenige Punkte schnell ansprechen.

Erstens. Sie haben Kosslick zitiert, zu Recht. Was sich
in der Filmförderung entwickelt hat, ist in der Tat eine Art
weiches Prokrustesbett: Wer einmal darin liegt, kommt da
nicht mehr heraus, aber liegt bequem.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Richtig!)


Dies ist nicht richtig, dies wollen wir nicht, und dies will,
wie man sieht, auch der Markt nicht. Der Markt wird
unter anderem von den Produzenten neu definiert, die an
die Börse gegangen sind und sich damit eigentlich von
diesem 350-Millionen-Mark-Topf verabschieden, der in
ganz Deutschland zur Verfügung steht.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist Risikokapital, die Börse!)


Diese Fördermittel stehen in einem höchst komplexen
System zur Verfügung, von dem vor allem die öffentlich-
rechtlichen und die privaten Fernsehanstalten profitieren.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das das richtige
System ist. Wir wollen das ändern. Zweitens. Vor allem
Sie, Herr Neumann, fragen, wo denn nun die Veränderun-
gen bezüglich der von mir angekündigten Maßnahmen
sind. Ich habe diese Maßnahmen doch nicht nur angekün-
digt, ich will sie im Gespräch mit den Partnern der Film-
industrie erreichen. Sie also fragen, wo denn die an-
gekündigten Verbesserungen der Situation der Produ-
zenten sind. Die Produzenten sind offenkundig nicht
dumm; sie sind an den Markt gegangen und verabschie-
den sich damit tendenziell von diesem System.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Warum erhöhen Sie dann?)


– Ich erhöhe die Mittel im kulturellen Bereich. Wollen Sie
das nicht?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich stelle fest: Die F.D.P. kritisiert die Erhöhung der För-
dergelder im kulturellen Bereich, die vor allem Kinder-
und Dokumentationsfilmen zugute kommt. Das kann ich
mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie das wollen. Herr
Otto, ich weiß, Sie sind kinderlieb.


(Heiterkeit bei der SPD – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: So weit stimmt es!)


Drittens. Es ist in den Gesprächen mit den öffentlich-
rechtlichen Fernsehanstalten und den Produzenten – auch
durch meine Vermittlung – inzwischen so, dass sich die
sehr starre Haltung der Fernsehanstalten aufzulösen be-
ginnt. Das heißt, die sehr differenzierten Rechterückfall-
regelungen im Filmförderungsgesetz, aber auch in der
Praxis werden zur Disposition gestellt, wenn auch nicht in
dem Maße, in dem Sie und ich uns das eigentlich vorstel-
len und wie sich das vor allen Dingen die Produzenten
wünschen.

Schließlich schnell zu den Medienfonds. Die Medien-
fonds, die auch in Ihrer Zeit – das darf ich doch sagen –
existierten, haben dazu geführt, dass einem Ondit zufolge
20 Prozent aller Hollywoodfilme, die dann wieder in
den mit Steuergeldern subventionierten deutschen Markt
zurückströmen, mit ebenfalls aus deutschen Steuergel-
dern subsidierten Medienfonds aus Deutschland finan-
ziert worden sind. 20 Prozent aller Hollywoodfilme sind
mit steuerbegünstigten deutschen Geldern produziert
worden, drängen auf den Markt zurück und erzielen hier
ungefähr 85 Prozent des Filmumsatzes. Hier ist irgendet-
was nicht in Ordnung.


(Beifall bei der SPD)

Wissen Sie, wie dieses Geld in Hollywood heißt? „Stupid
Money!“ Aber: Who is stupid? Wenn ich das einmal syn-
chronisieren darf: Wer ist hier dumm?

Wenn der Finanzminister hier einige Bedenken hat,
dann werden auch Sie sie teilen müssen – und teilen wol-
len. Mit anderen Worten: Der § 2b des Einkommensteu-
ergesetzes wird nicht in dem Sinne gestrichen, dass jetzt
keine Medienfonds mehr aufgelegt werden. Aber es muss
ganz klar und deutlich werden, dass bei den Fonds eine
eindeutige Gewinnerzielungsabsicht vorliegt. Dazu muss
man sagen: Viele der Filme, die in Hollywood produziert
werden, werden in der Tat nicht mit einer Gewinner-
zielungsabsicht produziert. Schätzungsweise die Hälfte
dieser Filme erscheint überhaupt niemals auf einer ameri-
kanischen Leinwand. Warum sollen wir diese Studioar-
beiten von Hollywood finanzieren, selbst wenn dort Leute
wie Emmerich und Petersen arbeiten?

Schließlich noch ein Punkt: Die deutschen Filmkünst-
ler, die jetzt in den USA sitzen und die wohlfeilen Rat-
schläge geben, wie wir hier Tabula rasa machen sollen,
sitzen – ich möchte es einmal so formulieren – auf einem
teuren Ross und sagen damit indirekt: Ich habe mit „Das
Boot“ nichts mehr zu tun. Aber das war eine subventio-
nierte Fernsehproduktion. Leute wie Emmerich sagen:
Ich habe eigentlich mit meiner Ausbildung in Stuttgart
nichts mehr zu tun. Aber das war steuersubventionierte
Filmförderungspolitik. – Also: Gänzlich den Ratschlägen
dieser erfolgreichen Regisseure zu folgen wäre sicherlich
nicht allein selig wachend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber ich hätte sie gerne hier in Deutschland, damit sie
mit deutschen Geldern deutsche Filme für die gesamte
Welt produzieren. Warum das nicht klappen soll, ist mir
immer noch nicht klar. Damit kommen wir auf die von Ih-




Staatsminister Dr. Michael Naumann

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(D)



(A)



(B)


nen zu Recht kritisierte Form der Filmförderung zurück.
Sie ist in dieser Situation – im Übrigen auch angesichts
der Tatsache, dass viele Produzenten an den Markt ge-
hen – nicht mehr komplett vermittelbar. Die Frage stellt
sich uns allen: Warum sollen wir mit Steuergeldern Fir-
men subsidieren, die in diesen Tagen mit enormen Ge-
winnen an die Börse gegangen sind?


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.])


Das ist eine legitime Frage. Ich beantworte sie zur Hälfte.
Wir subventionieren die gesamte deutsche Industrie mit
unendlich vielen Maßnahmen. Aber es müssen – ganz
klar – neue und präzisere Regeln aufgestellt werden, wer
in welchem Umfang gefördert wird.

Dies alles sind Themen, die Sie nicht in einer Woche
und auch nicht in einem Jahr lösen können. Wir lösen sie
gemeinsam im Gespräch mit Ihnen – im Bündnis für den
Film, aber auch in unserem Kulturausschuss. Ich glaube,
die Gemeinsamkeit unserer politischen Arbeit in dieser
Angelegenheit ist ganz klar: Wir wollen Regelungen vor-
legen, von denen man nicht nach 16 Jahren, auch nicht
nach drei oder fünf Jahren sagen muss: Vom Winde ver-
weht.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412117200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3375 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

– zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen

Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 1998 – Vorlage der Haushalts-
rechnung und Vermögensrechnung des Bun-
des (Jahresrechnung 1998)
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-
nungshof

Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
1999 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung

(einschließlich der Feststellungen zur Jahresrechnung des Bundes 1998)

– Drucksachen 14/737, 14/1667, 14/3869 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Siegrun Klemmer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat die Kollegin Siegrun Klemmer.


Siegrun Klemmer (SPD):
Rede ID: ID1412117300
Sehr verehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Parla-
mentsdebatte über die Entlastung der Bundesregierung
für das vorvergangene Jahr entzieht sich den üblichen in-
terfraktionellen Beißreflexen jedes Jahr erneut auf ei-
gentümliche Weise: Stets herrscht Einigkeit darüber, die
Entlastung zu erteilen, und die mahnenden Ratschläge in
der Beschlussvorlage, die das Parlament zur Erhöhung
der Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung seiner Exe-
kutive mit auf den Weg gibt, sind manchmal über Jahre
hinweg identisch.

Daraus ziehen manche den Schluss, bei der ab-
schließenden Behandlung einer Jahresrechnung im Ple-
num handele es sich um eine nachrangige Parlamentsrou-
tine. Dem muss ich entgegenhalten: Die Beschlussvorlage
zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr
1998 und zu den Bemerkungen des Bundesrechnungsho-
fes 1999 ist das Ergebnis monatelanger intensiver Bera-
tungen im Rechnungsprüfungsausschuss, wo keineswegs
immer ausgemacht war, dass seine Mitglieder der Regie-
rung jede überplanmäßige Ausgabe, jede fehlende Aus-
schreibung und jede übertarifliche Eingruppierung wür-
den durchgehen lassen.

Manchmal herrschte indes – dem Gerücht von der be-
sonderen Persönlichkeitsstruktur eines Rechnungsprüfers
zum Trotz – eine erfrischende Unübersichtlichkeit im
Ausschuss. Immer dann, wenn knackige Verstöße gegen
das Haushaltsrecht und brüllend komische Arabesken
dicht nebeneinander lagen, resultierten daraus entspre-
chende Fragen: Wie bitte ist der Diensthund zu behandeln,
den ein Zuwendungsempfänger entgegen den Richtlinien
aus Bundesmitteln angeschafft hat?

Für die Mühe, den Mitgliedern des Rechnungsprü-
fungsausschusses den Weg durch Probleme wie dieses
und einen Berg von Berichten und Beschlussvorlagen zu
bahnen, habe ich dem Sekretariat des Rechnungsprü-
fungsausschusses herzlich zu danken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Aber auch ohne die ständige, manchmal insistierende
Zuarbeit, die kompetente, unbestechliche Prüfung und lö-
sungsorientierte Beratung durch den Bundesrechnungs-
hof wäre ein wirksames Controlling des Bundeshaus-
halts durch ein Gremium des Parlaments nicht möglich.

Mein Eindruck ist, dass diese Arbeit durch Privatisie-
rungen, Überschuldung und nicht zuletzt durch die ersten
Schritte zur Loslösung von der starren Kameralistik nicht
nur immer komplexer, sondern auch schwerer vermittel-
bar wird. Anregungen des Bundesrechnungshofes zur ef-
fizienteren Mittelverwendung laufen Gefahr, als Spiel-
wiese von Krämerseelen abgetan zu werden. Höchstens
interessiert das abschließende Testat, und das schallt seit
Jahren am Tage der Vorlage des Bundesrechnungshofsbe-
richtes so durchs Land: Politik und Verwaltung ver-
schwenden Steuergelder in Höhe von X Milliarden. Dann
ist das Urteil schnell bei der Hand: In der Privatwirtschaft
wäre das nicht passiert.




Staatsminister Dr. Michael Naumann
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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir sollten uns hüten, den Kritikern der Staatsquote
bei ihrer Delegitimierung der Staatsaufgaben zu schnell
auf den Leim zu gehen. Es gibt keine Naturgesetzlichkeit,
nach der der Staat seinen Aufgaben ineffizient und nur un-
ter erheblicher Mittelverdunstung nachkommt.


(Beifall bei der SPD)

Der hier zur Entlastung anstehende Haushalt 1998 eig-

net sich für einen interfraktionellen Schlagabtausch be-
sonders wenig, da seine Aufstellung und Bewirtschaftung
in den ersten Monaten noch in die Verantwortung der
Kohl-Regierung fiel, die Bewirtschaftung im letzten
Quartal und der Jahresabschluss aber bereits von der
neuen Bundesregierung geleistet wurden.

Der Bundesrechnungshof hat festgestellt, das die Jah-
resrechnung des Bundes und seiner Sondervermögen ord-
nungsgemäß war. Fehler in der Belegführung und bei der
Anwendung des Haushaltsrechts wurden vom Rech-
nungshof selbst als Einzelfälle charakterisiert.

Die Ausgaben betrugen 456,9 Milliarden DM und la-
gen damit in Höhe von 100 Millionen DM geringfügig
über dem Soll-Ansatz. Die Unterdeckung, gleichbedeu-
tend mit der Neuverschuldung, belief sich auf 56,6 Milli-
arden DM. Für das Jahr 1998 wurden mit 11,4 Milliar-
denDM erhebliche Ausgabereste gebildet, die gemäß § 19
und § 45 der Bundeshaushaltsordnung eine zusätzliche
Belastung für den Haushalt darstellen. Ende 1998 belief
sich der Ausgaberest auf 13,7 Milliarden DM. Als Folge
der Flexibilisierung werden diese Ausgabereste auch in
den kommenden Jahren vermutlich weiter ansteigen.

Die Neuverschuldung blieb mit 56,6 Milliarden DM
um 0,7 Milliarden DM unter der Summe der Investitions-
ausgaben. Damit wurde die Kreditobergrenze des Art. 115
Grundgesetz auch im Vollzug eingehalten.

Am Ende des Jahres 1998 verfügte das BMF über eine
Restkreditermächtigung von 10,2 Milliarden DM. Deren
Bildung und Inanspruchnahme ist bis heute haushalts-
rechtlich umstritten. Dies gab die Behandlung dieses As-
pekts im Rechnungsprüfungsausschuss deutlich wieder.

§ 18 Bundeshaushaltsführung regelt, dass Krediter-
mächtigungen bis zum Ende des folgenden Haushalts-
jahres in Anspruch genommen werden dürfen. Die darauf
aufbauende Position des Rechnungshofes lautet, die Pra-
xis des Finanzministeriums, bei der Kreditbewirtschaf-
tung innerhalb eines Haushaltsjahres zuerst immer die
Restkreditermächtigung und erst danach die Krediter-
mächtigung des laufenden Jahres in Anspruch zu nehmen,
ermögliche einen in der Höhe nicht begrenzten Aufbau
der Restkreditermächtigung über mehrere Jahre hinweg.

Zwar sei mit dem Haushaltsgesetz 1999 die Inan-
spruchnahme von Restkreditermächtigungen in Höhe
von 0,5 Prozent der Gesamtausgaben begrenzt worden,
die Möglichkeit des Haushaltsausschusses, die darüber
hinausgehende Restkreditermächtigung ohne erneute
Parlamentsbeteiligung oder Nachtragshaushalt freizuge-
ben, sei jedoch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem
Geist der Bundeshaushaltsordnung nicht unproblema-
tisch.

Daher sei zu thematisieren, ob nicht auch eine Rege-
lung einzuziehen sei, die das BMF verpflichte, Restkredit-
ermächtigungen gegenüber der laufenden Kreditermäch-
tigung nur nachrangig in Anspruch zu nehmen. Das BMF
hielt dagegen, mit der Neuregelung im Haushaltsgesetz
1999 sei eine substanzielle und ausreichende Begrenzung
der Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen er-
folgt.

Die Gesamtverschuldung des Bundes einschließlich
seiner Sondervermögen betrug zum 31. Dezember 1998
1,454 Milliarden DM. Auch für 1998 war die übermäßige
Bindung von Einnahmen durch den Schuldendienst cha-
rakteristisch. Mit 56,6 Milliarden DM lag die Nettoneu-
verschuldung unter der Vorgängerregierung deutlich über
der des heutigen Konsolidierungshaushalts.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: So ist es!)

Der Schuldenstand hatte sich 1998 gegenüber den letzten
zehn Vorjahren etwa verdreifacht und betrug Ende 1998
fast 1,5 Billionen DM.

Der Rechnungshof merkt an, die Einbeziehung des
Wertverlustes bei der Ermittlung der Höhe der Investitio-
nen hätte diese unter die Neuverschuldung gedrückt und
damit einen verfassungswidrigen Haushalt ergeben,


(Lothar Mark [SPD]: Ah ja, so ist das!)

es sei denn, das Parlament hätte eine Störung des gesamt-
wirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt. Gleichzeitig
sei zu überlegen, ob mittelfristig nicht auch der Veräuße-
rungserlös aus Bundeseigentum, das im Jahr der An-
schaffung als Investition die Höhe der Kreditobergrenze
mitbestimmt, im Veräußerungsjahr die Kreditobergrenze
in gleicher Höhe mindere.

In formaler Hinsicht ist diese Argumentation beste-
chend. Die Unterdeckung des Bundeshaushalts und die
der meisten Länder hat jedoch Größenordnungen ange-
nommen, die, will man nicht massiv Ausgaben kürzen,
diese Haushalte bei strenger Auslegung des Investitions-
begriffs und der Saldierung von Abschreibungen und Ver-
äußerungserlösen geradewegs in die Verfassungswidrig-
keit führen würden. Die sinkenden Neuverschuldungen
in der Finanzplanung werden den darin liegenden Spreng-
stoff jedoch zumindest für den Bund tendenziell ent-
schärfen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Uta Titze-Stecher [SPD]: Dank Eichel!)


Mit der Euro-Einführung wurden die Mitgliedstaaten
der Währungsunion verpflichtet, die Maastricht-Krite-
rien zur Verschuldungsbegrenzung auch weiterhin einzu-
halten. Verstöße werden mit einem Sanktionskatalog der
EU geahndet. Da bei der Ermittlung der Kennzahlen die
öffentlichen Haushalte aller Gebietskörperschaften zu-
grunde gelegt werden, der Bund jedoch im Rahmen des
Föderalismus über keine Eingriffsrechte in die Haushalte
der unteren Gebietskörperschaften verfügt, bedarf es
– will der Bund keine Sanktionen zu tragen haben, für die
er nicht verantwortlich ist – einer innerstaatlichen Diffe-
renzierung des Sanktionssystems durch einen nationalen




Siegrun Klemmer

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(C)



(D)



(A)



(B)


Stabilitätspakt. Dies verlangen auch die EU-Vorgaben; für
Deutschland steht das allerdings noch aus.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Hört! Hört!)

Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Bundesre-

gierung gebeten, die Verhandlungen mit den Ländern zu
einer innerstaatlichen Regelung eines Stabilitätspakts zü-
gig voranzutreiben. Dem hat die Bundesregierung ent-
gegnet, aufgrund der positiven Entwicklungen der Kenn-
zahlen und der fehlenden Sanktionsbefürchtungen sei
keine akute Regelungsnotwendigkeit erkennbar. Es sei
hingegen angezeigt, diese Frage im Zusammenhang mit
der anstehenden Regelung des bundesstaatlichen Finanz-
ausgleichs zu verhandeln.


(Lothar Mark [SPD]: Richtig!)

Da langfristig nicht zwingend davon auszugehen ist,

dass die Kennzahlen des Maastricht-Kriteriums unverän-
dert günstig bleiben, eine Verhandlungslösung mit den
Ländern zu einem späteren Zeitpunkt und eventuell im
Angesicht einer akuten Sanktionsandrohung sehr viel un-
wahrscheinlicher ist als heute, haben wir im Rechnungs-
prüfungsausschuss verabredet, dieses Thema nicht auf-
grund der momentanen Wachstumsaussichten aus dem
Blickfeld zu verlieren. Zusätzlich haben wir das BMF
aufgefordert, die Verhandlungen mit den Ländern voran-
zutreiben, um möglichst parallel zur Umsetzung der Vor-
gaben durch das Bundesverfassungsgericht zum bundes-
staatlichen Finanzausgleich eine abschließende Regelung
zu erreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung einer
schlagkräftigen Kontrollinstanz für die öffentlichen Fi-
nanzen wird sicherlich zunehmen. Ich bitte Sie daher
recht herzlich, die Arbeit der Rechnungsprüfer und des
korrespondierenden Ausschusses weiterhin mit Interesse
und Wohlwollen zu begleiten.


(Beifall bei der SPD)

Bitte folgen Sie der Beschlussempfehlung des Haushalts-
ausschusses und erteilen Sie der Bundesregierung für das
Jahr 1998 die Entlastung.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412117400
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich die Aussprache fortsetze, be-
grüße ich auf der Tribüne den Vizepräsidenten des Bun-
desrechnungshofes, Herrn Dr. Engels, ganz herzlich.


(Beifall)

Ich freue mich – und denke, dabei im Namen aller anwe-
senden Kolleginnen und Kollegen zu sprechen –, dass Sie
an unseren Beratungen teilnehmen.

Der erste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der
Kollege Josef Hollerith.


Josef Hollerith (CSU):
Rede ID: ID1412117500
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Auf der Tagesordnung stehen die

Bemerkungen des Bundesrechnungshofes für das Jahr
1999 und der Antrag des Bundesministeriums der Finan-
zen auf Drucksache 14/737, die Regierung für das Haus-
haltsjahr 1998 zu entlasten.

Ich schließe mich ausdrücklich der Empfehlung der
verehrten Kollegin Klemmer an, diese Entlastung durch
das Parlament zu erteilen. Ich nutze sehr gerne die heutige
Gelegenheit, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Bundesrechnungshofes für ihre hervorragend qualifi-
zierte, engagierte und für uns sehr effiziente Arbeit herz-
lich zu danken.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich richte meinen Dank namentlich an die Frau Präsi-

dentin von Wedel und Herrn Vizepräsidenten Dr. Engels,
die schwierige Aufgaben zu bewältigen haben. Ich erin-
nere an den Umzug des Rechnungshofes von Frankfurt
nach Bonn mit der schwierigen Aufgabe, weiter qualifi-
ziertes Personal zu rekrutieren. Ich erinnere an den erfolg-
reichen Aufbau der Prüfungsämter und ich erinnere an die
fachlich effiziente Schwerpunktbildung in Fachgebieten,
die die Prüfungstätigkeit wesentlich effizienter gestalten.
Dafür sage ich ganz ausdrücklich herzlichen Dank von-
seiten des Parlamentes, insbesondere der Mitglieder des
Rechnungsprüfungsausschusses.

Ich danke ebenso herzlich den Kolleginnen und Kolle-
gen, die Mitglied im Ausschuss sind. Wir haben ein her-
vorragendes Arbeitsklima. Der Rechnungsprüfungsaus-
schuss ist – ich erinnere daran – der einzige Ausschuss im
Deutschen Bundestag, in dem nicht für jede Fraktion ein
Berichterstatter für ein Thema bestellt ist, sondern wo ein
Berichterstatter für alle Fraktionen die Controlling-Funk-
tion wahrnimmt. Ich möchte in besonderer Weise der Vor-
sitzenden, Uta Titze-Stecher, für ihre menschlich und
fachlich herausragende und in der Sache zielführende
Vorsitzendentätigkeit danken.


(Beifall im ganzen Hause)

Es gehört auch zu einem Parlament, dass es öffentlich ge-
sagt werden kann, wenn über die Fraktionen hinweg gut
zusammengearbeitet wird. Es tut auch gut, über den Ta-
gesstreit hinaus Umstände zu nennen, die konstruktiv zu
einem erfolgreichen Controlling der Regierung beitragen.

Ich möchte ausdrücklich auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Ausschusssekretariats danken, be-
sonders der Ausschusssekretärin, Frau Dr. Pendzich von
Winter.


(Beifall im ganzen Hause)

Gemeinhin wird gesagt, wer für die Arbeit bezahlt wird,
hat sie auch gut zu machen. Das stimmt. Aber wenn, wie
bei Frau Dr. Pendzich von Winter der Fall, diese Arbeit
überdurchschnittlich, tatkräftig und fachlich hervorra-
gend erledigt wird, dann verdient das nach meiner Mei-
nung eine besondere Nennung und einen besonderen
Dank vonseiten derer, die davon profitieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben im
Rechnungsprüfungsausschuss sehr intensiv gearbeitet
und werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Rechnungshofes sehr gut beraten. Daher erspare ich




Siegrun Klemmer
11642


(C)



(D)



(A)



(B)


mir an dieser Stelle eine detaillierte Aufzählung der ein-
zelnen Prüfungsthemen. Vielmehr möchte ich die Gele-
genheit nutzen, eine politische Bewertung der Haus-
haltsführung der alten Bundesregierung von CDU/CSU
und F.D.P. in ihrem letzten Jahr vorzunehmen und sie mit
den Haushaltszahlen zu vergleichen, die die neue, von
SPD und Grünen gestützte Regierung vorlegt.

Die Eckwerte: Die Gesamtausgaben lagen 1998 mit
456,9 Milliarden DM gegenüber 1993 mit 457,5 Milliar-
den DM niedriger. Diese Verringerung der Ausgaben
stellte also einen Kurs der Konsolidierung dar. Die Netto-
kreditaufnahme war 1998 mit 56,4 Milliarden DM um
7,3Milliarden DM niedriger als 1997. Die gesamten Ren-
tenausgaben des Bundes beliefen sich 1998 auf 100 Mil-
liarden DM; das waren 22 Prozent der Gesamtausgaben.
Die investiven Ausgaben des Bundes betrugen 57,1 Mil-
liarden DM. Die Investitionsquote lag damit bei 12,5 Pro-
zent.

Vergleichen wir diese Eckwerte des letzten Haushalts
der alten Bundesregierung mit denen im rot-grünen Haus-
haltsentwurf 2001, so stellen wir fest: Die Gesamtausga-
ben werden um 22 Milliarden DM höher als 1998 liegen
und am Ende der Finanzplanung im Jahr 2004 um 46Mil-
liarden DM oder um 10 Prozent über dem Niveau von
1998. Das ist keine Konsolidierung, auch wenn es von der
rot-grünen Seite als solche bezeichnet wird. Es ist das Ge-
genteil von Konsolidierung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Gegenüber der waigelschen Vorgabe sind wir erheblich niedriger!)


Die vom Bundesrechnungshof zu Recht beklagte Ver-
schlechterung der Haushaltsstruktur wird durch die rot-
grüne Haushaltspolitik vorangetrieben. Die Ausgaben
werden deutlich zugunsten des Konsums und zulasten
der Investitionen ausgeweitet.


(Lothar Mark [SPD]: Das ist doch eine Mär!)

Die Gesamtausgaben steigen 2001 gegenüber 1998 um

21,8 Milliarden DM, in der Finanzplanung 2004 gegen-
über 1998 um 45,6 Milliarden DM.


(Lothar Mark [SPD]: Bei Waigel wären es plus 57 Milliarden DM!)


Die konsumtiven Ausgaben steigen 2001 gegenüber 1998
um 24,3 Milliarden DM, die investiven Ausgaben sinken
dagegen um 2,5 Milliarden DM. Das ist Gift für die Kon-
junktur und für die Arbeitsplätze. Vergleichen wir die
Jahre 2004 und 1998, so sind es bei den konsumtiven Aus-
gaben plus 50,7 Milliarden DM und bei den investiven
Ausgaben minus 5,0 Milliarden DM.

Die gesamten Rentenausgaben des Bundes explodie-
ren von 100 Milliarden DM im Jahr 1998 über 137 Milli-
arden DM im Jahr 2001 auf 156 Milliarden DM im Jahr
2004. Der Anteil der Rentenausgaben an den Gesamtaus-
gaben, der 1998 bei 21,9 Prozent lag, wird 2001 auf
28,6 Prozent steigen und 2004 die 30-Prozent-Marke
übersteigen. Sowohl die Größenordnung als auch die
Dynamik des Anstiegs machen deutlich, dass hier ein
Sprengsatz für den Bundeshaushalt liegt.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Josef, Thema!)


– Ich nehme eine politische Bewertung vor. Das ist die
Aufgabe eines Parlaments. Wir brauchen hier nicht die
Aufgaben des Rechnungshofes und des Rechnungsprü-
fungsausschusses nachzuvollziehen. Hier im Parlament
haben wir die Aufgabe, politisch zu diskutieren und die
politischen Unterschiede in der Einschätzung herauszuar-
beiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Stiefmütterlich behandelt wird von Rot-Grün der Mit-

telstand, und zwar sowohl in der Steuer- als auch in der
Haushaltspolitik. Während wir im Jahr 1998 zur Förde-
rung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer
Unternehmen noch 1,34 Milliarden DM im Haushalt an-
setzten, streicht Rot-Grün diese Mittel auf lediglich noch
508 Millionen DM drastisch zusammen. Das ist ein Mi-
nus von 62 Prozent.

Für die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur (Ost)“ hat die frühere
Koalition im Jahr 1998 insgesamt 3,45 Milliarden DM
aufgewendet. Für 2001 sind es lediglich noch 1,99 Milli-
arden DM. Das ist ein Minus von 42 Prozent.

Diese Liste verfehlter Politik von Rot-Grün lässt sich
beliebig fortsetzen. Ich wollte an diesen wenigen Bei-
spielen deutlich machen, dass der Grundansatz der neuen
Haushaltsführung von Rot-Grün falsch ist, nämlich die
konsumtiven Ausgaben aufzublähen und gleichzeitig die
investiven Ausgaben zu kürzen, mit der Folge, dass not-
wendige, existenziell wichtige Infrastrukturvorhaben wie
etwa die A 94 oder andere Autobahnen nicht vorankom-
men oder zu langsam vorankommen, mit dem Ergebnis,
dass notwendige Infrastrukturinvestitionen in Eisen-
bahnen, in die Beseitigung von Langsamstrecken, in den
Ausbau von Zweigleisigkeit, um die Kapazität der
Schiene zu erhöhen, nicht stattfinden oder nur zeitlich we-
sentlich verschoben stattfinden können.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Was habt ihr an Strecken neu gebaut?)


Die Folge ist, dass wir im europäischen Standortwettbe-
werb zunehmend Probleme bekommen, weil diese inves-
tiven Ausgaben unterbleiben.


(Lothar Mark [SPD]: Außer Spatenstichen habt ihr doch nichts gemacht damals!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche
mir, dass die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün aus
diesen fachlichen und sachlichen Erkenntnissen in der
laufenden Haushaltsberatung, die jetzt ansteht – wir be-
ginnen mit der parlamentarischen Beratung des Bundes-
haushaltes für das Jahr 2001 in diesen Wochen –, mehr
sind als Abnicker des Regierungsentwurfes, dass sie ihre
parlamentarischen Rechte und Pflichten annehmen


(Zuruf von der SPD: Jetzt reicht es aber!)

und diesen Haushalt verändern, dass sie neue Schwer-
punkte zugunsten von Investionen und Arbeitsplätzen
setzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Josef Hollerith

11643


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412117600
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Oswald
Metzger.


Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412117700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mich hat
schon gewundert, dass der Kollege Hollerith am Anfang
– fünf Minuten – zu Recht Loblieder sang für den Rech-
nungshof und die Arbeit im Ausschuss. Dass er aber am
Schluss einen Knüppel aus der Tasche holt, ist hier über-
haupt nicht angebracht. Sie sitzen im Glashaus, Kollege
Hollerith,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Eine der
Hauptbemerkungen des Rechnungshofes zum Jahr 1998
– von dem reden wir – war beispielsweise, dass Sie im
Jahr 1998, wenn Sie nicht 19,8 Milliarden DM Privati-
sierungserlöse im Haushalt als Ist-Ergebnis vereinnahmt
hätten, im Abschluss einen verfassungswidrigen Haushalt
gehabt hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uta Titze-Stecher [SPD]: Nicht das erste Mal!)


Diese Bemerkung ist berechtigt, und insofern möchte
ich auch davon die Frage nach dem Investitionsbegriff
ableiten. Wenn wir in unserer Gesellschaft dauerhaft
glauben, die Investitionen seien der Gradmesser für die
Verschuldungsobergrenze nach dem Grundgesetz, dann
lügen wir uns alle in die Tasche. Wir haben den Werte-
verzehr, den Substanzverlust nicht eingerechnet. Kollege
Hollerith, Sie haben gerade am Schluss die Bahn AG ge-
nannt. Heute Mittag hatten wir, die grüne Fraktions- und
Parteispitze, ein Gespräch mit dem Bahnvorstand. Ich sel-
ber war dabei. Der Bahnchef selber sagt: Seit zehn Jahren
wird in der Netzinfrastruktur nichts mehr gemacht.

Wir sind zurzeit dabei, eine Bahnoffensive zu starten,
im Haushaltsausschuss auch die entsprechenden Be-
schlüsse zu fassen und im Etat des Jahres 2001 die Inves-
titionen ganz gewaltig zu erhöhen. Da wird praktisch ein
Stück weit Nachholbedarf abgetragen aus der Zeit, in der
Sie Privatisierungserlöse gebraucht haben, um überhaupt
nach dem Buchstaben des Grundgesetzes halbwegs ver-
fassungsgemäß zu bleiben.

Stichwort Konsolidierung: Kollege Hollerith, Sie
wissen ganz genau, dass nach wie vor der strategische An-
griff der Opposition daran zerschellt. So solide wie wir in
den letzten anderthalb Jahren, also spätestens seit Eichel
Finanzminister ist,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

agieren, und zwar auch im Bereich der Ausgabenpolitik,
waren Sie einfach, zumindest seit der Wiedervereinigung,
nicht. Sie können vielleicht für sich in Anspruch nehmen,
während der Zeit Stoltenbergs – um mal korrekt zu sein,
drei Jahre lang – Konsolidierung gemacht zu haben, aber
nicht die letzten zehn Jahre. Das muss wahr bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein weiterer Gesichtspunkt: Sie haben darauf hinge-
wiesen, dass das Ausgabevolumen gestiegen ist, und ha-
ben die Nominalwerte des Jahres 1998 verglichen mit den
Folgejahren 1999, 2000 und 2001. Da unterschlagen Sie
schlicht und einfach ein paar Fakten, die aber wichtig
sind.

Schattenhaushalte wie die Postunterstützungskasse,
die 1998 noch separat waren, haben wir bereits 1999 un-
ter Lafontaine als Finanzminister im Bundeshaushalt of-
fen etatisiert, was zu entsprechenden Zinsausgaben und
zum Anstieg der Verschuldung geführt hat. Wir haben die
Zuschüsse an die Rentenversicherung erhöht, was einem
Beschluss des gesamten Parlaments entsprach: Kinderer-
ziehungszeiten sollten fairer berücksichtigt werden. Wir
haben die Mehrwertsteuererhöhung von 1998 – ich hatte
etatisiert, die SPD als große Oppositionspartei zuge-
stimmt – 1999 erstmals ein komplettes Jahr lang aber in
die Rentenkasse fließen lassen – so wird es auch in den
Folgejahren sein –, um die Beiträge zur Rentenversiche-
rung nicht auf 21 Prozent ansteigen zu lassen. Wir haben
auch das Aufkommen aus der ersten Stufe der Ökosteuer
1999 und 2000 in die Rentenversicherung fließen lassen.
Wenn man den Haushalt um diese Effekte bereinigt und
berücksichtigt, dass der Entwurf des Jahres 2001 im Ver-
gleich zu dem des laufenden Jahres überhaupt nicht auf-
wächst, sondern stabil bleibt, dann muss man feststellen,
dass die Ausgaben – über drei bzw. vier Jahre gerechnet –
um etwa 4,5 Prozent wachsen. Wenn das expansive Haus-
haltspolitik sein soll, dann frage ich Sie, wie Sie das er-
klären wollen.

Wir haben das vor allem nicht durch einen Anstieg der
Nettoneuverschuldung erreicht, sondern durch ihre Stabi-
lisierung und Rückführung. 1998 lag die Nettoneuver-
schuldung des Bundes bei 56,4 Milliarden DM. In den
zwei Monaten nach der Bundestagswahl, also im Jahr
1998, konnten wir zwar – bei Gott – noch nicht viel um-
switchen. In diesem Jahr waren Sie noch überwiegend für
den Etat verantwortlich. Aber bereits 1999 betrug die Net-
tokreditaufnahme nur noch rund 51 Milliarden DM. In
diesem Jahr wird sie bei 49,5MilliardenDM liegen. Diese
sinkende Tendenz werden wir fortsetzen. Im nächsten
Jahr soll die Nettoneuverschuldung unter 45 Milliar-
den DM liegen. Das ist die Absicht der Koalitionsfraktio-
nen. Insgesamt entspricht das einer Senkung der Netto-
neuverschuldung um 11 Milliarden DM.

Vor allem – das ist noch viel wichtiger – haben wir
nicht wie Sie 19,8 Milliarden DM an Einnahmen aus dem
Verkauf von Tafelsilber, also aus Privatisierungen, ein-
gestellt; wir hoffen vielmehr, dass mit den 3,5 Milliar-
den DM, die wir aufgrund der günstigen Entwicklung der
Konjunktur und der Steuereinnahmen etatisiert haben, die
früher eingestellten Privatisierungseinnahmen dieses Jahr
durch reguläre Einnahmen ersetzt werden können und
dass der Privatisierungserlös in die Tilgung fließt. Auch
im nächsten Jahr wollen wir versuchen, die Privatisie-
rungseinnahmen durch konjunkturbedingte Steuermehr-
einnahmen möglichst auf Null zu fahren. Damit hätten
wir einem Prinzip zum Durchbruch verholfen, das lautet:
Wenn der Bund Eigentum verkauft und gleichzeitig neue
Schulden macht, dann muss er die Erlöse aus der Eigen-
tumsveräußerung zur Schuldentilgung nutzen. Das ist






(C)



(D)



(A)



(B)


die einzige sinnvolle und zulässige Verwendung von Pri-
vatisierungseinnahmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: Das ist seriös!)


Diese Solidität wollen wir in den Folgejahren auf jeden
Fall beibehalten.


(Beifall bei der SPD)

Insofern, Kollege Hollerith, verehrte Damen und Her-

ren von der Opposition, müssen Sie sich warm anziehen,
wenn Sie den Konsolidierungskurs dieser Koalition ernst-
haft angreifen wollen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412117800
Das Wort hat der Kol-
lege Jürgen Koppelin für die F.D.P.-Fraktion.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1412117900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe recht herzlich
zu danken, einmal unserer Vorsitzenden, der Kollegin
Titze-Stecher, die den Rechnungsprüfungsausschuss her-
vorragend und sehr fair leitet, aber natürlich auch allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für den Rech-
nungsprüfungsausschuss und – ich denke, das kann man
an dieser Stelle auch sagen – für den Haushaltsausschuss
arbeiten, und natürlich den Angehörigen des Bundesrech-
nungshofes, auch wenn wir mit diesen nicht immer einer
Meinung sind und von deren Empfehlungen abweichende
Entscheidungen treffen. Aber ich glaube, dass deren Zu-
arbeit unglaublich nützlich für unsere Arbeit ist.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein Kollege Kinkel hatte nach der Rede der Kollegin
Klemmer gesagt: Ihr umarmt euch im Rechnungsprü-
fungsausschuss scheinbar ständig, weil alles so einheit-
lich zu sein scheint. So ist es zwar nicht. Aber man darf an
dieser Stelle sagen, dass es dort eine ausgesprochen faire
und sachliche Zusammenarbeit gibt. Insofern bedauere
ich Ihren Ton, Herr Kollege Hollerith, ein bisschen. Ich
könnte jetzt natürlich auch etwas über die Steuerreform
sagen und darstellen, wie schwer das Jahr 1998 gewesen
ist,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und könnte alles noch einmal herunterbeten, was wir in
– ich weiß nicht, wie vielen – Haushaltsdebatten schon
besprochen haben. Unsere Aufgabe ist es doch in erster
Linie zu prüfen: Wie arbeitet die Regierung, gemessen an
den Vorgaben? Gibt sie das Geld vernünftig aus?

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch sagen, dass es
mich ein bisschen ärgert – man sieht es auch an der jetzi-
gen Besetzung; ich werfe es ja keinem vor; wir werden
das auch in den morgigen Berichten der Medien wieder-
finden –, wenn der Bund der Steuerzahler sein Büchlein
herausgibt und seitenlang Verfehlungen ausbreitet. Dabei

leisten wir vielleicht eine viel bessere und härtere Arbeit
als dieser Bund.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uta Titze-Stecher [SPD]: Die schreiben ja nur ab!)


In unserem dicken Buch lässt sich alles Mögliche finden.
Das ist zum Teil erbarmungslos. Mein Wunsch ist daher,
dass die Bundesregierung, egal, wer sie gerade stellt,
schneller zuliefert, wenn wir unsere Wünsche äußern, und
dass sich die Zeiträume verkürzen, in denen wir beraten
und eine Sache zum Abschluss bringen. Insofern möchte
ich der Kollegin Klemmer ausdrücklich für ihre Rede
danken, weil sie die Stimmung im Rechnungsprüfungs-
ausschuss genau wiedergegeben hat.

Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht gut gewesen,
wenn Sie schon anwesend gewesen wären und die gute
Rede der Kollegin Klemmer hätten hören können. Die Re-
gierungsbank war allerdings noch leer, als die Kollegin
ihre Rede hielt. Bei meiner Rede kommen Sie gleich mit
zwei Staatssekretären. Dafür habe ich Verständnis.

Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Oswald Metzger [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sich selbst erhöht,
wird erniedrigt werden! – Dietmar Schütz [Ol-
denburg] [SPD]: Ehre, wem Ehre gebührt!)

Lassen Sie mich abschließend zwei Dinge sagen, über
die man sich freuen kann. Lieber Oswald Metzger, so
schlecht kann die Haushaltspolitik der alten Koalition
nicht gewesen sein, wenn – ich habe es bereits bei ande-
rer Gelegenheit gesagt – noch immer derselbe beamtete
Staatssekretär für die Bundesregierung den Haushalt auf-
stellt, der schon damals für Herrn Waigel tätig war. So
schlimm kann das alles also nicht gewesen sein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist die eine Freude, die ich mitzuteilen habe.

Die andere Freude – über sie zu sprechen kann ich mir
wirklich nicht verkneifen – sieht folgendermaßen aus: Mit
welcher Vehemenz hat unser Kollege Diller früher im
Haushaltsausschuss die Bundesregierung angegriffen!
Jetzt muss der gleiche Kollege hier die Bundesregierung
vertreten und die Entlastung der alten Regierung beantra-
gen. Das zu sehen ist auch für mich ein Vergnügen.

Vielen Dank.

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Wenn der Herr ein Amt gibt!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412118000
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die
PDS-Fraktion.


Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1412118100
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Zustimmung zur Entlastung der
Regierung für ein Haushaltsjahr ist fast schon ein Ritual.




Oswald Metzger

11645


(C)



(D)



(A)



(B)


Während der Haushalt 1998 schon längst Geschichte ist,
müssen wir seine Folgen noch heute tragen.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: So ist es!)

Da der Bundesrechnungshof keine wesentlichen Abwei-
chungen hinsichtlich der kassenmäßigen Ergebnisse fest-
gestellt hat, stimmt die PDS-Fraktion einer Entlastung zu.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Mit schwerem Herzen!)


Trotzdem lesen sich die Bemerkungen des Rechnungsho-
fes – dafür möchte ich mich bei seiner Präsidentin und
ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht herzlich be-
danken – wie ein Krimi.


(Beifall bei der PDS)

Abgesehen davon gilt die Verletzung des Haushalts-

rechts auch nach dem Regierungswechsel noch immer als
Kavaliersdelikt und bleibt ungeahndet.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie sehen gar nicht so aus, als wenn Sie Krimis lesen würden!)


– Oh doch, gerne. – Es ist schon erstaunlich, wie großzü-
gig in einigen Bereichen mit Steuergeldern umgegangen
wird. Hierzu möchte ich nur kurz einige Beispiele nennen.

Erstens. Nicht zum ersten Mal wurde festgestellt, dass
das Finanzministerium seiner Fachaufsicht gegenüber
den Oberfinanzdirektionen nicht nachgekommen ist. So
beauftragte das Ministerium eine Zoll- und Verbrauch-
steuerabteilung einer Oberfinanzdirektion mit der Errich-
tung von fünf Gebäuden. Die Oberfinanzdirektion vergab
insgesamt Bauaufträge in Höhe von 23 Millionen DM
ohne Ausschreibung.

Zweitens. Obwohl bereits 1996 den Rentenversiche-
rungsträgern die gesetzliche Aufgabe der Prüfung auf
die Richtigkeit der Beitragszahlungen der Arbeitge-
ber übertragen wurde, sind, bedingt durch unzurei-
chende Prüfungen, Beitragsansprüche verjährt. Der fi-
nanzielle Schaden für den gesamten Bereich der
Rentenversicherung wird allein für das Jahr 1996 auf
circa 85 Millionen DM geschätzt. Damit wäre ich wieder
beim Thema Betriebsprüfer, Stichwort „leere Rentenkas-
sen“.

Drittens. Der Umgang mit Geldern im Bundesminis-
terium der Verteidigung ist eigentlich schon kriminell.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Na, na, na! So zündelt man mit der Sprache!)


Ich nenne zur Illustration ein Beispiel: Die Ersatzteilbe-
stände des abgelösten Waffensystems F-104 Starfighter
sollten verwertet werden. Durch vermeidbare Zeitverzö-
gerungen, mangelhafte Bestandsführungen sowie Fehler
und Versäumnisse bei der Umsetzung der vertraglichen
Vereinbarungen mit der Verwertungsfirma wurde für die
beiden letzten Lose der überschüssigen Ersatzteilbestände
mit einem ursprünglichen Beschaffungswert von rund
1,3 Milliarden DM nicht einmal der vereinbarte Garantie-
erlös von 5 Millionen DM erzielt. Falls das natürlich eine

Form des heimlichen Widerstandes gegen Rüstungsex-
porte sein sollte, würde ich meine Kritik zurücknehmen.


(Beifall bei der PDS – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: NVA-Bestände!)


Fazit: Die Prüfung der Haushaltsrechnung 1998 macht
erneut deutlich, dass durch die Verschwendung öffentli-
cher Gelder und auch durch Misswirtschaft von Bundes-
behörden dem Staat jährlich Milliarden DM verloren ge-
hen. Daran hat sich bis heute trotz des Regierungs-
wechsels – das zeigen jüngste Prüfberichte – nichts grund-
legend geändert.


(Lothar Mark [SPD]: Doch! Wir sind dabei!)

Herr Finanzminister, warum nutzen Sie nicht erst einmal
diese Reserven, anstatt Ausgabenkürzungen vorzuneh-
men? Dabei würden wir Sie gern unterstützen.


(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412118200
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem An-
trag des Bundesministeriums der Finanzen zur Entlastung
der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1998 und zu
den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1999,
Drucksachen 14/737, 14/1667 und 14/3869. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer

Brüderle, Gudrun Kopp, Dr. Hermann
Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Für eine mutige Reform des Internationalen-
Währungsfonds (IWF)

– Drucksache 14/3861 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Reform der internationalen Finanzarchitektur
– Drucksache 14/4069 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung




Heidemarie Ehlert
11646


(C)



(D)



(A)



(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.-
Fraktion hat die Kollegin Gudrun Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1412118300
Frau Präsidentin! Sehr ge-
ehrte Herren und Damen! Um es vorweg zu sagen: Der In-
ternationale Währungsfonds und die Weltbank sind zwei
– so empfinden wir es – wirklich unverzichtbare Institu-
tionen, die, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, dringend
reformiert werden müssen. Sie haben das verfolgt: Die
Jahrestagung, die gerade zu Ende gegangen ist, wurde
wiederum von großen Protesten begleitet. Insbesondere
wurde bemängelt, dass den ärmeren und ärmsten Län-
dern dieser Welt zu wenig Beachtung geschenkt werde.
Ich finde es bemerkenswert, dass sich Herr Köhler – er hat
das sehr glaubwürdig dargestellt – insbesondere diesem
Problem widmen will.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir hoffen, dass es in diesem Bereich eine umfassende
Reform hin zu mehr Effizienz geben wird.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Im Zusammenhang mit der Jahrestagung ist anzumer-
ken, dass uns auch jetzt noch kein schlüssiges Konzept
der Bundesregierung darüber vorliegt, wie sie sich denn
eine solche Modernisierung, ein Reformwerk von IWF
und Weltbank, vorstellt. Vielleicht hören wir das aber
gleich.

Wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, haben Ihnen des-
halb ein Acht-Punkte-Papier vorgelegt, in dem Sie acht
mutige Reformschritte zur Modernisierung, zur Refor-
mierung und zur Effizienzsteigerung des IWF finden. Ich
spreche dazu nur kurz einige Schlüsselbegriffe an.

Wir brauchen funktionierende Finanzmärkte. Das ist
wichtig, und zwar zur Krisenprävention und zum
Krisenmanagement. Zur Krisenprävention sind alle Re-
formschritte zu begrüßen, die zu mehr Transparenz der
Kapitalmärkte und damit zu einer präziseren Bewertung
der Risiken durch die Kapitalgeber beitragen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Hier sind zunächst die nationalen Regierungen und auch
der IWF gefordert. Das wird eine große Aufgabe sein. Der
IWF muss sich nach unseren Vorstellungen verstärkt als
Krisenmanager einbringen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Das setzt natürlich voraus, dass sich der IWF als univer-
selle Institution der Zahlungsbilanz-, Währungs- und
Geldpolitik darauf konzentriert. Aktuelle Kompetenz-
überschreitungen von IWF und Weltbank – wir kennen
das zur Genüge – sind im Rahmen dieses Reformwerkes
dringend zu beseitigen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Bundesbank und F.D.P. sind sich beispielsweise völlig
einig – wir lasen kürzlich auch in der Presse, dass die Bun-
desbank dazu Stellung genommen hat – in der Forderung
nach verstärktem Engagement des IWF insbesondere für
kurzfristige Zahlungsbilanzhilfen und Zinsstaffelun-
gen.

In einem Punkt – der ist uns ganz besonders wichtig –
besteht kein Konsens. Man muss sich vor Augen führen,
dass die Bundesbank eine Reserveposition des IWF im
Umfang von circa 16 Milliarden DM hält. Dies sind öf-
fentliche Mittel; daher halten wir von der F.D.P.-Fraktion
es einfach für natürlich, den Mitwirkungsanspruch des
Deutschen Bundestages zu reklamieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU] und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])


Wir fordern also mehr Offenheit und rechtzeitige Infor-
mationen, wenn grundlegende Veränderungen im IWF
anstehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich glaube und hoffe, dass hier ein Konsens herzustellen
ist.

Ich hoffe, dass im Rahmen dieser Debatte über unseren
Antrag eine fruchtbare Diskussion erfolgen wird und dass
dies im Sinne aller – der ärmeren Länder, der Schwellen-
länder und auch der reichen Länder – sein wird. Ich hoffe
auf eine sehr effiziente Reform des IWF zum Nutzen aller.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abg. der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412118400
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.


Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1412118500
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Im Antrag der F.D.P.-Frak-
tion gibt es zumindest zwei richtige Sätze, auf die ich kurz
eingehen möchte. Über den Rest würde ich gerne den
Mantel des Schweigens decken, aber ich muss im Laufe
der Rede noch auf einen anderen Satz zurückkommen.
Der erste Satz, Frau Kollegin Kopp, in Ihrem Antrag, den
ich unterstreiche, lautet:

Die Berufung Horst Köhlers an die Spitze des
Internationalen Währungsfonds (IWF) ist ein großer
Erfolg für deutsche Bewerbungen um Spitzenposten
bei internationalen Organisationen.


(Zuruf von der SPD: Das ist der richtige Mann!)


Das ist völlig richtig. Das ist ein großer Erfolg, nicht nur
für eine deutsche Bewerbung, sondern auch ein großer
Erfolg für die Bundesregierung. Die Bundesregierung
hat nämlich durchgesetzt, dass erstmalig ein Deutscher an
der Spitze einer internationalen Organisation steht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P.]: Im zweiten Anlauf! Sie brauchten ein wenig, bis Sie den richtigen Mann fanden! – Lothar Mark [SPD]: Bei euch hat gar nichts geklappt!)





Vizepräsidentin Petra Bläss

11647


(C)



(D)



(A)



(B)


– Wissen Sie, was Profis im Fußball auszeichnet, Herr
Hirche? Wenn die einen Ball verloren haben, setzen sie
nach und machen daraus ein Tor. Das sind Profis.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Oder ein Eigentor!)


– Soll ich das dem Herrn Köhler gegenüber zitieren, Herr
Dautzenberg, dass Sie seine Ernennung als Eigentor be-
zeichnet haben? Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.

Der zweite Satz aus dem F.D.P.-Antrag lautet:
Oberstes Ziel der Bundesregierung muss es sein, sta-
bile und nachhaltig funktionierende Finanzmärkte
als Motor für Wachstum und Beschäftigung zu si-
chern.

Das ist richtig. Warum ist dieser Satz richtig? Weil Sie ihn
aus unserem Entschließungsantrag „Frieden braucht Ent-
wicklung“ vom 17. Mai 2000 abgeschrieben haben. Das
ist fast ein wörtliches Zitat.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist uns auch aufgefallen!)


Der Satz ist auch deshalb richtig, weil er eben beschreibt,
dass die internationale Sicherung stabiler und nachhaltig
funktionierender Finanzmärkte zentrale Bedeutung hat,
damit diese tatsächlich als Motor für Wachstum und
Beschäftigung dienen können. Deswegen ist er richtig. Er
war auch schon richtig, als wir ihn in unseren Antrag he-
reingeschrieben haben. Aus dieser Erkenntnis definieren
sich auch die Ziele für den IWF.

Erstens. Der IWF muss seine Rolle als zentrale inter-
nationale Institution auf dem Gebiet der Wirtschafts- und
Währungspolitik bewahren.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

Das heißt – da müssen Sie jetzt gut zuhören, weil Sie das
offensichtlich nicht wollen –, der IWF muss für alle seine
Mitgliedsländer bei allen makroökonomischen Proble-
men tätig werden können. In diesem Zusammenhang
überrascht Ihr Antrag doch, denn Sie fordern ja im Grunde
den Ausstieg aus der langfristigen, zinssubventionierten
Kreditfinanzierung. Ähnliches fordert ja auch die PDS,
indem sie sich für die Abschaffung der Strukturanpas-
sungsprogramme einsetzt. Damit fordern Sie gemeinsam
– eine merkwürdige Koalition – den Rückzug des IWF
aus der Armutsbekämpfung. Das werden wir nicht mitma-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist schon eine merkwürdige Allianz zwischen PDS,
F.D.P. und auch den Republikanern in Amerika, die dem
Meltzer-Vorschlag folgen, der darauf abzielt, dass die
freien Kräfte des Marktes auch für die Entwicklungsfi-
nanzierung gelten sollen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, selbstverständlich! Den privaten Sektor einbeziehen!)


Es befremdet mich ganz besonders, dass die PDS diese
Auffassung vertritt. Bei der F.D.P. kann man das ja noch

nachvollziehen. Wir lehnen die Forderungen des Meltzer-
Reports nach Ausstieg aus der Armutsbekämpfung
durch den IWF ab.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nach unserer Auffassung muss der IWF auch in den
ärmsten Ländern mit seinen wirtschaftspolitischen Emp-
fehlungen präsent sein. Mit dieser Meinung befinden wir
uns in völliger Übereinstimmung mit der amerikanischen
Regierung. Der IWF ist ja so eine Art Feuerversicherung
auf Gegenseitigkeit. Ihre Vorschläge laufen aber darauf
hinaus, dass letztlich die Feuerwehr, wenn irgendwo et-
was brennt, nur noch in den Ländern zum Löschen kommt
und löschen darf, die vorher als die schönsten und besten
bestimmt wurden. So kann es nicht gehen.

Zweitens. Der Schwerpunkt der Aufgaben des IWF
soll in Zukunft bei der Krisenvorbeugung liegen. Da
sind wir ja, wie ich denke, einer Meinung. Das heißt, mehr
Prävention statt Intervention. Dazu braucht der IWF eine
deutlich verbesserte Daten- und Informationsbasis. Daran
muss gearbeitet werden und daran wird auch gearbeitet.
Er muss sich in seiner Analyse- und Beratungstätigkeit im
Hinblick auf Krisenprävention vermehrt auch dem Ge-
sichtspunkt ökonomischer und finanzieller Anfälligkeit
widmen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)

Das heißt, er muss sich auch diesen hochspekulativen
Fonds, den so genannten Hedge Funds und den Offshore-
zentren widmen. Dazu braucht er auch die Umsetzung in-
ternational vereinbarter Transparenz- und Aufsichtsstan-
dards in den Industrie- und Schwellenländern. Die
Bundesregierung hat entsprechende Initiativen im Rah-
men der G 20 ergriffen. Das begrüßen wir sehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Der IWF muss in der Lage sein, sowohl kurz-
als auch mittelfristige Kredite zur Überwindung vorüb-
ergehender Finanzierungsprobleme zur Verfügung zu
stellen. Das ist besonders für die Ostblockländer, die so
genannten Transformationsländer, und deren makroöko-
nomische Stabilität wichtig. Dabei muss der IWF die
marktwirtschaftlichen Kräfte stärken und Anreize für die
Umsetzung Krisen vorbeugender Maßnahmen setzen. Die
Preisstruktur muss stimmen, denn sie muss zu einem effi-
zienten Einsatz der IWF-Mittel beitragen. Das heißt, un-
angemessen lange Inanspruchnahmen von IWF-Mitteln
oder auch ein unangemessen schwieriger Zugang zu IWF-
Mitteln muss verhindert werden.

Viertens. Bei der Bewältigung von Krisen soll die Hilfe
durch den IWF von dem Grundsatz der Einbeziehung des
Privatsektors ausgehen. Eine Politik großer öffentlicher
Krisenpakete, wie sie in der Vergangenheit betrieben
wurde, darf in Zukunft nicht mehr Richtschnur sein. Denn
es kann nicht sein, dass bei Finanzkrisen privates Geld,
das durch Spekulation verloren gegangen ist, letztlich
durch IWF-Mittel ersetzt wird. IWF-Mittel sind Steuer-
mittel, also Gelder der Steuerzahler, und es kann nicht
sein, dass der Steuerzahler den Spekulanten Sicherheiten
gibt.




Bernd Scheelen
11648


(C)



(D)



(A)



(B)


Fünftens. Ein stabiler wirtschaftlicher Rahmen ist eine
zentrale Voraussetzung für ein dauerhaftes Wachstum
auch in den ärmsten Mitgliedsländern. Deshalb muss der
IWF auch dort engagiert bleiben, und zwar als Berater und
als Finanzier. Dabei spielt das im Herbst letzten Jahres
aufgelegte Programm zur Armutsreduzierung und Wachs-
tumsförderung eine wichtige Rolle. Wer wie F.D.P., PDS
und die amerikanischen Republikaner – ich habe es ge-
rade schon erwähnt – daraus aussteigen will, ist national
und international dialogunfähig. Das hat die Jahrestagung
in Prag auch eindrucksvoll gezeigt.

Sechstens. Bei der Armutsbekämpfung muss das un-
terschiedliche Mandat von IWF und Weltbank respek-
tiert werden und eine klare Aufgabenteilung sicherge-
stellt sein.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)

Während der IWF für die Formulierung der makroökono-
mischen und der damit verbundenen strukturellen Re-
formpolitik zuständig ist, liegt die Zuständigkeit der Welt-
bank bei Fragen der Entwicklung, insbesondere bei der
Strategie zur Armutsbekämpfung. Dort, wo sich Ausga-
ben überschneiden, muss eine Zusammenarbeit klar gere-
gelt sein.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Genau das hat die Kollegin gesagt!)


Fortschritte in diese Richtung sind gemacht, so die begin-
nende stärkere Betonung der Krisenvorbeugung. Es gibt
neue Formen der Kreditausgestaltung, es gibt eine Inten-
sivierung der Kontakte des IWF zu den Finanzmärkten
und es gibt die Einrichtung eines unabhängigen Eva-
luierungsbüros, das die Arbeit des IWF noch transparen-
ter macht.

Meine Damen und Herren, Horst Köhler hat vorgestern
seine Vision über die zukünftige Rolle des IWF vorge-
stellt. Danach soll der IWF erstens eher Partner als Erzie-
her der Mitgliedsländer sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Eine sehr gute Rede war das!)


Er soll zweitens eine stärkere Fokussierung auf seine
monetäre Rolle vornehmen und unter Beibehaltung seiner
eigenen Rolle bei der Armutsbekämpfung eine klare Ab-
grenzung zur Weltbank vornehmen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha!)

Drittens wird der IWF seine Krisenvorbeugungsfunk-

tion in den Mittelpunkt stellen.
Viertens. Der IWF wird sich – auch schon wegen sei-

ner begrenzten Finanzmittel – auf seine katalytische Rolle
bei Krisenlösungen zurückbesinnen.

Wir stellen als SPD-Fraktion mit Zufriedenheit fest,
dass die Bundesregierung und mit ihr die Mitgliedsländer
des IWF dafür eine breite Zustimmung gegeben haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412118600
Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Leo Dautzenberg.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1412118700
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. „Für eine mutige Reform des Internationalen
Währungsfonds (IWF)“ und dem Antrag der Fraktion der
PDS „Reform der internationalen Finanzarchitektur“
liegen uns zwei Anträge vor, die auch vor dem Hinter-
grund der aktuellen Diskussion auf der Jahrestagung von
IWF und Weltbank in Prag zu sehen sind.

Mit der Berufung von Horst Köhler zum Exekutivdi-
rektor des IWF vor einigen Monaten wurde die Reform
des IWF bereits eingeleitet. Mit seiner hervorragenden
Rede zur offiziellen Eröffnung der Weltwährungskonfe-
renz in dieser Woche in Prag dürfte auch dem Letzten klar
geworden sein, dass der IWF mit ihm einen ausgezeich-
neten Generaldirektor bekommen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vielen hier im Hause ist das laienhafte und unprofessio-
nelle Schauspiel dieser Bundesregierung mit anderen Per-
sonen vor der Berufung von Horst Köhler vielleicht noch
in Erinnerung.


(Volker Kröning [SPD]: Das passt jetzt ja überhaupt nicht!)


Die gesamten aktuellen Diskussionen zum IWF, zur
Weltbank und zur internationalen Finanzarchitektur ha-
ben einen Vorlauf, der auch in beiden vorliegenden An-
trägen zum Ausdruck kommt, nämlich den so genannten
Meltzer-Bericht. Das ist der Bericht einer Sonderkom-
mission unter Wirtschaftsprofessor Allan Meltzer, die
vom US-amerikanischen Kongress eingesetzt wurde.
Herr Scheelen, von Herrn Köhler sind wesentliche
Schwerpunkte aufgenommen worden, die nicht im Ge-
gensatz dazu stehen. Sie haben auch betont, dass es auf
eine klare Aufgabenteilung beider Institute ankomme.

Nach diesen Empfehlungen solle sich der IWF aus der
langfristigen Entwicklungs- und Strukturanpassungsfi-
nanzierung zurückziehen


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

und diese Bereiche im Interesse einer vernünftigen Ar-
beitsteilung ausschließlich der Weltbank und den regio-
nalen Entwicklungsbanken überlassen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Endlich einer, der es versteht!)


Der IWF solle sich konzentrieren auf die Absicherung
globaler makroökonomischer Stabilität durch Beratung
und Bereitstellung kurzfristiger Liquiditätshilfen für in
Finanzkrisen geratene Länder.

IWF-Chef Köhler hatte kurz nach seinem Amtsantritt
erklärt, wesentliche Elemente der Meltzer-Vorschläge
übernehmen zu wollen, darunter insbesondere die Kon-
zentration auf die Vermeidung von Finanzkrisen unter
Nutzung kurzfristiger Kredite und – das habe ich schon
betont – der Ausstieg aus der langfristigen Entwicklungs-
finanzierung.




Bernd Scheelen

11649


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch der private Sektor muss stärker eingebunden
werden. Er darf sich nicht mehr darauf verlassen können,
dass bei risikoreichen Kreditgewährungen der IWF zu
guter Letzt einspringt und eine so genannte Bail-out-Rolle
übernimmt.


(Lothar Mark [SPD]: Wie lange?)

Dies ist auch die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion.
Mein Kollege Hedrich hatte seinerzeit zu Recht die Ent-
wicklungshilfeministerin Frau Wieczorek-Zeul dafür kri-
tisiert, dass sie mit der Analyse der Reformbedürftigkeit
und -bereitschaft vor Monaten voll daneben lag. Mittler-
weile wird der vorgeschlagene Weg auch von Frau
Wieczorek-Zeul – so das Kommuniqué des Entwick-
lungsausschusses von Prag – nicht mehr infrage gestellt.

In der Vergangenheit haben sich vor allem die Verei-
nigten Staaten von Amerika beim IWF aufgrund seiner
guten Finanzlage als Reservekasse für Entwicklungshil-
feprojekte bedient. Daraus ist die Vermischung der Auf-
gaben beider Institute entstanden. Das heißt, auch auf-
grund dieser Sachlage sind die Aufgabenstellungen von
IWF und Weltbank vermischt worden. Die Bretton-
Woods-Institutionen wurden 1944/1945 mit einer klaren
Aufgabenabgrenzung gegründet. Sie müssen zu ihren
Kernaufgaben zurückfinden und in ihrer gemeinsamen er-
gänzenden Aufgabenstellung die Bekämpfung der Armut
als Hauptziel haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In seiner Rede in Prag betonte Köhler zudem, dass

viele Industrieländer noch nicht erkannt hätten, dass auch
sie einen Beitrag zu globalen Strukturveränderungen leis-
ten müssten. Dazu gehöre auch der bessere Zugang der
Entwicklungs- und Transformationsländer zu den indus-
triellen Absatzmärkten.Hier liegt auch der Schlüssel für
den Kampf gegen die Armut. Positiv zu bewerten ist, dass
die USA 70 Ländern und die EU-Staaten 48 Ländern ihre
Märkte öffneten. Es muss aber noch mehr getan werden.
Zitat Köhler:

Wohlfahrtsgewinne von mehr als 100Milliarden US-
Dollar im Jahr stünden in Aussicht, wenn die Han-
delsbarrieren weltweit um 50 Prozent gesenkt wür-
den.


(Beifall des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])


Dies ist deutlich mehr als der Gesamtschuldenab-
bau, der im Rahmen der Schuldeninitiative für die
36 ärmsten, hoch verschuldeten Entwicklungsländer
während der beiden nächsten Jahre vorgesehen ist.
Alle würden gewinnen, wenn man die Kräfte bündele
und energisch Reformen angehe. Dann werde man es
vielleicht auch schaffen, bis zum Jahr 2015 die Hälfte
der Menschen, die jetzt noch in Armut lebten, aus ih-
rer schlimmen Not zu befreien.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine weitere Schwerpunktaufgabe ist die Überwa-

chung und Einhaltung international vereinbarter Verhal-
tensregeln insbesondere im Geld- und Kreditsektor.

Im Antrag der PDS sind einige Punkte enthalten, die
sowohl mit unserer Auffassung als auch mit dem F.D.P.-
Antrag in Einklang stehen. Doch im Forderungs- und Be-
gründungsteil sind Vorstellungen und Punkte enthalten –
wie Kapitalsteuer und -kontrolle, Verbot bestimmter De-
rivatgeschäfte, die altbekannte Tobinsteuer, Transakti-
onsteuer und damit ein gesellschaftspolitisch grund-
sätzlich anders ausgerichteter Ansatz –, die die Chance für
eine ernsthafte politische Auseinandersetzung gegen Null
tendieren lassen. Sie führen mit diesen Vorschlägen aus
der sozialistischen Steinzeit Ihren Antrag selbst ad absur-
dum.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der F.D.P.-Antrag beinhaltet in fast allen Punkten auch

die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion. Klärungsbedürf-
tig ist jedoch die Ausgestaltung der formellen Beteiligung
des Parlaments in Ziffer 8 des Antrages. Der Anteilseig-
ner Bundesbank stimmt im Benehmen mit der Bundesre-
gierung in den IWF-Gremien ab. Die Unabhängigkeit der
Bundesbank darf in keiner Weise tangiert werden, auch
wenn ihr eigener Präsident Welteke sie durch politisch
wertende Aussagen in letzter Zeit selbst ins Gerede ge-
bracht hat.


(Widerspruch bei der SPD)

Wenn unter dem Petitum „Für mehr Transparenz und

Aufklärungsarbeit“ die parlamentarische Befassung ge-
wünscht ist, dann wäre nach unserer Auffassung eine stär-
kere Beteiligung auf Initiative der Bundesbank als An-
teilseignerin sinnvoll. Vergleichbare Initiativen haben wir
gemeinsam zu den Baseler Vereinbarungen ergriffen.

Meine Damen und Herren, in Prag wurden die De-
monstrationen zur IWF- und Weltbanktagung leider von
gewaltbereiten Chaoten überschattet. Die Konferenz
wurde aus meiner Sicht exzellent und professionell vor-
bereitet und durchgeführt. Viele Demonstranten und ei-
nige Organisationen verlangten die Abschaffung von IWF
und Weltbank. Unserer Auffassung nach benötigen wir
dringender denn je sowohl den IWF als auch die Weltbank
in neuen Strukturen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und zwar den IWF mit den Kernaufgaben Wachstumsför-
derung, makroökonomische Stabilität, stabile globale
Finanzmärkte mit dem entsprechenden Instrumenta-
rium, wirtschaftspolitische Überwachung auch für die
Offshore-Gebiete und stärkere Einbindung des Privatsek-
tors in die Verhinderung und Lösung von Währungs- und
Finanzkrisen, die Weltbank für langfristig angelegte
Strukturanpassung und Entwicklungshilfe in den einzel-
nen Ländern. Die Bundesregierung ist aufgefordert, diese
Reformanstrengungen aufzugreifen und engagiert zu un-
terstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412118800
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.




Leo Dautzenberg
11650


(C)



(D)



(A)



(B)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412118900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Dautzenberg, Sie können sicher sein, dass
wir uns gemeinsam mit der Bundesregierung aktiv darum
bemühen werden, den Prozess, der sich gerade im letzten
Jahr sehr positiv entwickelt hat, in Ihrem Sinne zu gestal-
ten.

Wir haben – auch das muss man sehen – in der inter-
nationalen Staatengemeinschaft funktionierende globale
Institutionen, die wir auch in der Zukunft brauchen wer-
den. Wir erleben rasante Veränderungen in der Weltwirt-
schaft. Wir haben einen dramatischen Anstieg beim inter-
nationalen Handel und bei den grenzüberschreitenden
Dienstleistungen sowie eine starke Liberalisierung der Fi-
nanzmärkte zu verzeichnen. Man darf auch nicht verges-
sen, dass es eine wachsende Ungleichheit zwischen, aber
auch innerhalb von Staaten und Kontinenten gibt.

Es ist bedrückend, wenn man weiß und – vor allem in
den Berichten der beiden großen Kirchen – liest, dass
3 Milliarden Menschen von weniger als 2 US-Dollar am
Tag leben, dass davon 1,2 Milliarden in absoluter Armut
leben müssen und weniger als 1 Dollar pro Tag zum Über-
leben haben. IWF und Weltbank müssen sich daran mes-
sen lassen, ob sie mit ihren Programmen dazu beitragen,
diese Armut zu verringern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erwarte von der Weltbank, dass sie ihren Anteil zur
Bekämpfung der Armut und zur Überwindung der
Schuldenkrise leistet. Wir erwarten vom Währungs-
fonds, dass er zur Stabilisierung des internationalen
Finanzsystems beiträgt. Wir erwarten von beiden Institu-
tionen, dass sie die Entschuldung der ärmsten Entwick-
lungsländer schneller realisieren, und zwar für mehr Län-
der, als zunächst vorgesehen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn jeder Dollar, der in den Schuldendienst fließt, ist an-
gesichts der enormen Herausforderungen, vor denen diese
Länder stehen, ein Dollar zu viel.
Wir erwarten von den Finanzinstitutionen nicht, dass sie
alle Probleme der Entwicklungsländer lösen. Diese Län-
der stehen – das muss man ganz klar sagen – auch selbst
in der Verantwortung. Aber wir können und wir müssen
auch mehr tun. Ich denke zum Beispiel an einen besseren
Marktzugang, zumindest für die ärmsten Entwicklungs-
länder, in die EU. Die Mehreinnahmen könnten, wenn
man die Entwicklungsländer insgesamt betrachtet, jähr-
lich bis zu 100Milliarden US-Dollar betragen.Wir denken
auch an höhere Mittel für die Entwicklungszusammenar-
beit. Denn der weltweite Rückgang der öffentlichen Ent-
wicklungsgelder ist politisch ein unverantwortbarer
Trend, der sich so nicht fortsetzen darf.

Doch zurück zu den internationalen Finanzinstitutio-
nen! Wenn sie sich nicht wandeln, verlieren sie ihre Ak-
zeptanz sowohl in den Industrie- als auch in den Ent-
wicklungsländern. Der neue IWF-Chef, Herr Köhler, hat
das erkannt. Er hat in Prag von der Notwendigkeit ge-

sprochen, den Fonds zu reformieren. Die nächsten Jahre
werden zeigen, ob in der Praxis eine Neuausrichtung der
Programme des Fonds erfolgt. Denn darauf kommt es
letztendlich an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Kernfragen der Reform wurden in Prag sehr in-
tensiv diskutiert. Der IWF muss besser in der Lage sein,
krisenpräventiv zu arbeiten. Er muss rechtzeitig, vor dem
Ausbrechen einer Finanzkrise, Alarm schlagen und nicht
erst dann, wenn es bereits zu spät ist, wie wir es in Süd-
ostasien und ebenso in Lateinamerika, zum Beispiel in
Brasilien, erlebt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit müssen seine Fähigkeiten, die Finanzströme zu
überwachen und entsprechende Daten zeitnah zu veröf-
fentlichen, gestärkt werden.

Wir müssen auch zu einer klaren Abgrenzung der
Aufgaben von IWF und Weltbank kommen. Diese In-
stitutionen haben eine unterschiedliche institutionelle Kul-
tur. Sie haben unterschiedliche Schwächen und Stärken.
Dies ist in Prag als Problem benannt worden. Eine Lösung
dieses Problems ist auf dem Weg. Genau daran muss man
arbeiten.

Der IWF darf sich auch nicht aus den ärmsten Ländern
zurückziehen. Dies scheint bei aller Kritik an den Struk-
turanpassungsprogrammen der Vergangenheit nicht das
Ziel dieser Länder zu sein. Die Armutsbekämpfung sollte
jedoch in erster Linie die Aufgabe der Weltbank sein. Der
IWF sollte auf eine entsprechende makroökonomische
Stabilisierung hinarbeiten. Die detaillierten Konditionen
für Kredite des IWF sind in der Vergangenheit häufig ge-
scheitert. Als Konsequenz sollten die Bedingungen des-
wegen auf einige Kernbereiche beschränkt werden. Der
IWF muss zudem im Rahmen der Programme zur
Bekämpfung der Armut die sozialen und ökologischen
Auswirkungen von vornherein berücksichtigen.

Ich möchte auch noch den Privatsektor ansprechen.
Der Privatsektor muss im Fall von Finanzkrisen stärker
beteiligt werden. Mit Recht ist der Währungsfonds in der
Vergangenheit wegen seiner immer größeren Rettungsak-
tionen kritisiert worden. Dabei wurden eher die Privat-
banken und die Investoren, nicht aber die betroffenen
Menschen in diesen Ländern gerettet. Wir haben uns von
grüner Seite immer dafür ausgesprochen, die privaten Ak-
teure stärker in die Krisenbewältigung einzubeziehen.
Denn wer hohe Renditen erzielen will, soll auch entspre-
chende Risiken tragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])


Unser Ziel ist es, die Kapitalflüsse in Schwellen- und
Entwicklungsländern auf eine solidere Basis zu stellen.
Dies ist auch im Interesse dieser Länder. Die Asienkrise
hat ja gezeigt, dass gerade kurzfristig angelegtes Kapital
schnell abgezogen wird – mit zum Teil katastrophalen






(C)



(D)



(A)



(B)


Konsequenzen für die Entwicklung der betroffenen Län-
der. Deswegen muss die Einbeziehung des Privatsektors
in die Kosten der Krise zur Regel werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange wir in diesen
Fragen international keine wirklichen Fortschritte ma-
chen, werden die Proteste gegen IWF und Weltbank wei-
tergehen. Die Staaten haben es selbst in der Hand, auf ent-
schiedene Reformen der Bretton-Woods-Institutionen zu
drängen. Wir leisten von deutscher Seite – ich denke, man
kann auch sagen: von europäischer Seite – unseren Bei-
trag. Im März des nächsten Jahres werden drei Aus-
schüsse eine Anhörung veranstalten, zu der wir den Welt-
bankchef, Herrn Köhler und viele andere einladen
werden. Ich denke, dies wird ein guter deutscher Beitrag
sein, um diese Entwicklung, die auf einem guten Weg ist,
positiv zu begleiten.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412119000
Es spricht jetzt die
Kollegin Ursula Lötzer für die PDS-Fraktion.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1412119100
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Nach 50 Jahren IWF und Weltbank hat das
obere Fünftel der Weltbevölkerung 74-mal mehr Vermö-
gen als das untere. In der Geburtsstunde dieser beiden
Zwillinge betrug das Verhältnis 10:1. Jens Ziegler, Son-
derberichterstatter der UNO, fordert zu Recht eine radi-
kale Änderung der Politik des IWF. Das Hungerproblem,
so Ziegler, sei ausschließlich ein Verteilungsproblem. Im
Unterschied zu früheren Zeiten sei Hunger heute ein von
Menschen gemachter Völkermord, ein globalisierter
Raubtierkapitalismus der Weißen.

Die geforderte Wende blieb in Prag aus. Mit der Ver-
kündung von Appellen zu mehr Solidarität, mit Aufforde-
rungen an die Industrieländer, ihre Zusagen gegenüber
den Entwicklungsländern und zur Öffnung der Märkte
einzuhalten, ist es nicht getan.


(Zustimmung bei der PDS)

Weder vom IWF noch von den Industrieländern werden
die notwendigen Schritte unternommen. Oder wird die
Bundesregierung aufgrund des Appells von Herrn Köhler
die Mittel im Bundeshaushalt jetzt vielleicht im entspre-
chenden Umfang erhöhen?

Herr Köhler kündigt in seiner Rede an, dass die Zinsen
für die Kredite mit langer Laufzeit steigen sollen – eine
merkwürdige Vorstellung von Entschuldung der Ärmsten,
sie für Kredite mehr zahlen zu lassen, sodass sie noch tie-
fer in die Schuldenfalle geraten.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war ein IWF-Vorschlag!)


Deshalb treten wir in unserem Antrag für die Abschaffung
der Strukturanpassungsprogramme sowie für dringend
benötigte Schritte zur Entschuldung ein. Wir fordern das,
weil der IWF mit den Strukturanpassungsprogrammen die

Entwicklungsländer noch weiter in die Armut getrieben
hat, statt einen Beitrag zur Bekämpfung der Armut zu leis-
ten.


(Beifall bei der PDS)

Auch in Bezug auf die Krisenbekämpfung läuft Prag

ins Leere. Von den Aktivitäten im Gefolge der Asienkrise
ist nur noch wenig übrig geblieben. Die Finanzakteure
sind nach kurzen Einbrüchen ihrer Gewinne weitergezo-
gen und haben ihren Jahresüberschuss jetzt wieder gestei-
gert. Die Aktivitäten der Regierungen erlahmen inzwi-
schen fast im Gleichklang mit dieser Entwicklung.

Es gibt keine verbindliche Regelung für die Beteili-
gung der privaten Kreditgeber.Man trifft sich mit ihnen
und will von Fall zu Fall entscheiden, so Köhler in Prag.
Darüber hinaus kündigt er lediglich an, dass der IWF nicht
mehr im starken Umfang selbst in Krisen intervenieren
wird. Ohne eine Regelung für die Einbindung privater
Kreditgeber kann das aber den Dominoeffekt von Krisen
noch intensivieren.

Noch nicht einmal zur Tobinsteuer können Sie sich
aufraffen, obwohl diese längst nicht mehr ausreichen
würde.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Doppelte Tobinsteuer!)


Wollen Sie wirklich erst darauf warten, bis sich diese Ver-
säumnisse in der nächsten Krise rächen, wie es viele jetzt
kommentieren?

Sosehr die Bundesregierung auch beim Haushalt spart,
so gering sind ihre Aktivitäten zur Eindämmung der Steu-
erflucht und zur Verhinderung der Erpressungsmöglich-
keit durch die international agierenden Finanzinstitute
und Konzerne, zum Beispiel durch die Abschaffung der
Offshore-Zentren oder zumindest durch Sanktionen ge-
genüber denjenigen, die mit ihnen Geschäfte tätigen.

Auch die Demokratisierung bleibt aus. Herr Köhler
feiert in Prag den IWF als kooperativ. Doch Kooperation
setzt Gleichberechtigung voraus und von der kann man im
IWF wahrlich nicht reden.


(Beifall des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])


Das setzt eine Neuverteilung der Stimmrechte voraus.
Herr Wolfensohn sieht in Prag ohne Politikwende den

Weltfrieden bedroht. Doch Konsequenzen fehlen von ihm
wie von Ihnen, der Bundesregierung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412119200
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist Kollegin Adelheid Tröscher für die
SPD-Fraktion.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1412119300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass ich hier als Entwicklungspolitikerin reden
kann. Ich sehe nur ein paar auf unserer Seite, sonst aber




Christine Scheel
11652


(C)



(D)



(A)



(B)


keine. – Hier kommt noch einer. Da haben Sie aber Glück
gehabt, Herr Weiß, dass Sie noch gekommen sind, sonst
wären die Schwarzen hier ganz schwarz geworden.

Die Anträge der Oppositionsparteien greifen meines
Erachtens viel zu kurz. Unsere liberalen Kolleginnen und
Kollegen, die sich lediglich als Apologeten des Meltzer-
Reports verstehen, lassen auch bei den Forderungen nach
mehr Transparenz und Offenlegung der Vorhaben und
Projekte von IWF und Weltbank die nötige Aktualität ver-
missen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie haben ihn doch bestimmt gelesen!)


Selbst die US-Regierung steht nicht hinter dem Meltzer-
Report.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Klar, weil in ihm die US-Regierung kritisiert wird!)


Ich hoffe, dass die nächste US-Regierung diese Haltung
beibehält. Deshalb muss ich natürlich auch hoffen, dass
eine gewisse Partei nicht gewinnen wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie Wieczorek-
Zeul,


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist sie eigentlich?)


hat am vergangenen Donnerstag eine Halbzeitbilanz der
sehr effizienten rot-grünen Entwicklungspolitik vorge-
legt.


(Beifall bei der SPD)

In dieser ist klipp und klar nachzulesen, wie die Bundes-
regierung die Reformen von IWF, Weltbank und weiteren
Bretton-Woods-Institutionen einschätzt und unterstützt.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412119400
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1412119500
Nein, danke. Herr
Dautzenberg hat lange genug geredet.


(Lothar Mark [SPD]: Zu lange! – Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat die Antwort auf die Zwischenfrage nicht aufgeschrieben! Das ist das Problem! – Zuruf von der SPD: Lass dich doch nicht ablenken!)


– Das, was Sie hier sagen, ist lächerlich.
IWF und Weltbank befinden sich in einem rasanten Re-

form- und Veränderungsprozess. Wer hätte denn vor zehn
Jahren gedacht, dass es zu einer Entschuldungsinitiative
kommen und es entsprechende Armutsbekämpfungsstra-
tegien geben würde


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN )


dass die jeweiligen Zivilgesellschaften gerade auch in den
so genannten HIPC-Ländern – falls Sie wissen, was das
ist – an der Gestaltung dieser Strategieprozesse teilneh-
men und beteiligt werden würden? Vor zehn Jahren hätte
das niemand von uns gedacht. Deswegen finde ich, dass
hier ein guter Weg beschritten worden ist. Die Entschei-
dungen auf dem G-7-Gipfel in Köln und in der Folge in
Okinawa belegen, dass wir uns in der Unterstützung der
Reformen in IWF und Weltbank auf einem richtigen Kurs
befinden.


(Beifall bei der SPD)

Ist die Erkenntnis der Notwendigkeit einer mittelfristi-

gen Entschuldungsinitiative des IWF erst einmal gewon-
nen, kann man sich anhand konkreter Situationen ein Bild
machen, etwa in Kolumbien. Hier spreche ich als Ent-
wicklungspolitikerin. Dort klafft die Schere zwischen lu-
krativem, aber illegalem Kokaanbau und mühevollem,
wenig Gewinn versprechendem, konventionellem Agrar-
anbau immer weiter auseinander. Zudem muss der ko-
lumbianische Bauer den Anbau von Nutzpflanzen auf völ-
lig verseuchtem Boden bewerkstelligen, der durch die
Besprühung mit Pestiziden, Herbiziden und Fungiziden
auf Jahre hinaus vergiftet ist. Diese Ausgangssituation,
die sich in den meisten der circa 130 armen Länder der
Erde auf erschreckende Weise widerspiegelt, wird allzu
gern von Finanztechnokraten vergessen.

Entschuldung kommt den Menschen zugute. Es ist
nicht alles planbar: Öl-, Flut- und Erdbebenkatastrophen
werfen die Länder in ihren Entschuldungsplänen um
Jahre zurück. Wer fragt denn nach den ersten schnellen
Hilfen nach den weiteren Folgen dieser Katastrophen?
Auf Jahre hinaus sind solche Länder nicht in der Lage,
ihre Schulden zu bezahlen.

Wer wie die F.D.P. aufgrund der Bundesbankeinlage
von circa 8 Milliarden Euro Möglichkeiten eines parla-
mentarischen Eingriffs in die Entscheidungsfindungspro-
zesse des IWF fordert, der muss die eigene Verantwortung
schon viel früher erkennen und wahrnehmen, der muss die
umwelttechnische Verwüstung, die katastrophalen Infra-
strukturen der ärmsten Länder der Welt verhindern, bevor
er sich ziert, die Entschuldungsstrategien zu vereinfachen
und Kredite zu gewähren, die sinnvoll in bestehende Pro-
gramme zur Armutsbekämpfung integriert werden kön-
nen.

Überhaupt scheint mir unsere heutige Diskussion über
die IWF-Reform zu kurz gefasst, wenn wir in einem
Atemzug mit der Entschuldungskampagne nicht immer
wieder die Auswirkungen namenloser Armut wie Kin-
derarbeit, Kinderprostitution und Kindersoldaten in Gue-
rillakriegen überall auf der Welt beim Namen nennen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Kinder sollen dann die gut ausgebildeten IT-Fach-
leute werden, die ihr Land aus der Misere holen können?
Lassen Sie uns doch gemeinsam die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass diese Kinder nicht mehr als Prostitu-
ierte, Soldaten oder in 16-Stunden-Schichten im Straßen-
bau arbeiten müssen. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar-
beiten, dass die jetzt Verantwortlichen in diesen Ländern
den Wert einer schulischen Ausbildung unbestreitbar als




Adelheid Tröscher

11653


(C)



(D)



(A)



(B)


eine mittel- und langfristig Gewinn bringende Investition
erkennen und diese Ausbildung auf den Weg bringen.
Horst Köhler selbst hat diese Problematik in den Mittel-
punkt seiner Reformüberlegungen gestellt. Vorgestern
sagte er in Prag: „Das Bedrückendste unter den ungelös-
ten Problemen ist die Armut, die zur größten Bedrohung
für die politische Stabilität der Welt wird.“ Die Reform-
bereitschaft gerade der multinationalen Institutionen wie
IWF und Weltbank und die durch deutsche Initiative an-
gestoßenen Kooperationsabkommen sprechen doch
schon jetzt für sich. IWF-Chef Köhler hat in Prag weiter-
hin betont, dass der IWF die Prävention im Zusammen-
hang von Finanzkrisen sowie die Armutsbekämpfung an
oberste Stelle auf seine Agenda gesetzt hat. Unter Cam-
dessus kam das kaum vor.

Wenn die einzelnen Staats- und Regierungschefs auf
dem Millenniumsgipfel in New York die Verpflichtung
ausgesprochen haben, bis zum Jahr 2015 den Anteil der
armen Weltbevölkerung zu halbieren, so ergibt sich da-
raus, dass dieses hehre Ziel nur – ich betone: nur – mit
starken Mandaten von IWF und Weltbank als multilatera-
len Institutionen umzusetzen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gilt jedoch inzwischen eine neue Sichtweise, die
den Akzent mehr auf Partnerschaft – auch das wurde
schon gesagt – als auf erzieherische Funktionen setzt. Die
Chance zur verbesserten Kooperation mit den wirklich
Mächtigen der Finanzmärkte kann nur so gelingen. Erst
dann kann man effizienter gegen die inneren Feinde der
Entschuldung, wie Korruption, Geldwäsche, Steuerpa-
radiese im Nachbarland, Drogenproblematik und aus-
ufernde Megastädte, vorgehen.

Wie Sie ebenfalls aus Pressemitteilungen der letzten
Tage ersehen können, setzt sich die Bundesministerin
ganz aktuell für die Entlastung bzw. mindestens den Preis-
schwankungsausgleich in den ärmsten Ländern der er-
weiterten Entschuldungsinitiative ein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412119600
Frau Kollegin, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1412119700
Ich bin gleich fertig. So
werden die Rohstoffpreisschwankungen, verbunden mit
geringeren Einnahmen aus zum Beispiel Kakao- und Kaf-
feeexporten, wenigstens nicht zu einer zerstörerischen
Bedrohung für die ärmsten Länder. Dazu wird insbeson-
dere der IWF Mittel bereitstellen.

Sie sehen und hören also, dass sozialdemokratische
entwicklungspolitische Ansätze die Neuorientierung der
inneren Strukturen von IWF und Weltbank im besten
Sinne beeinflussen. Die Diskrepanz zwischen Wort und
Tat muss jedoch überwunden werden. Die USA müssen
hier ihrer Verpflichtung nachkommen. Wir brauchen bald
vorzeigbare Ergebnisse. Die Entschuldungsinitiative ist

flexibel genug gestaltet, um den einzelnen Ländern ge-
recht zu werden. Armutsbekämpfung bedeutet Wirt-
schaftswachstum. Dazu gehören unsere umweltpoliti-
schen, bildungspolitischen und sozialpolitischen Ziele.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412119800
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
gen auf Drucksachen 14/3861 und 14/4069 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung zu der Vorlage auf Drucksache 14/4069
soll abweichend von der Tagesordnung ebenfalls beim Fi-
nanzausschuss liegen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern
und Trägern der Sozialhilfe
– Drucksache 14/3765 –

(Erste Beratung 114. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/4163 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Brigitte Lange für die SPD-Fraktion das Wort.


Brigitte Lange (SPD):
Rede ID: ID1412119900
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beschließen wir
– hoffentlich gemeinsam – ein Gesetz, auf das die Arbeits-
und Sozialämter in den Kommunen warten, damit sie end-
lich ihre Modellvorhaben starten können, für die sie sich
in großer Zahl angemeldet haben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Beschäftigungsförderung als kommunale Aufgabe be-

ginnt langsam ihren Schrecken zu verlieren, obwohl die
Kommunen noch immer die Folgelasten der Beschäfti-
gungsmisere tragen, die sich über Jahre aufgebaut hat.
Ihre Abwehrhaltung besonders in den letzten Jahren, cha-
rakterisiert mit dem Begriff „Kommunalisierung der Ar-
beitslosigkeit“, war verständlich; denn die Beschäfti-
gungspolitik der vorherigen Bundesregierung versprach
keine Besserung. Sie vermied dringend notwendige




Adelheid Tröscher
11654


(C)



(D)



(A)



(B)


Reformen, besonders bei der Steuerpolitik und bei den so-
zialen Sicherungssystemen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Kaufkraft sank, die Sozialversicherungsbeiträge stie-
gen und die Zahl der Arbeitslosen nahm zu, insbesondere
die der Langzeitarbeitslosen, die den Kommunen dann
auf die Tasche fallen.

Von 1992 bis 1998 hatte sich die Zahl derjenigen, die
ein Jahr und länger arbeitslos waren, verdoppelt. Es ist
uns gelungen, den Trend zu brechen. 1999 ging die Zahl
der Arbeitslosen um 100 000 zurück. Das ist nicht nur
– das ist klar – ein Ergebnis unserer Beschäftigungspoli-
tik. Aber die Bundesregierung hat mit den Reformen die
Rahmenbedingungen gesetzt und die sind gut und begin-
nen zu greifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu gehört unsere aktive Arbeitsmarktpolitik. Im
Jahre 2000 werden durchschnittlich rund 1,5 Millionen
Personen an Maßnahmen der Arbeitsförderung teilge-
nommen haben. Ich meinte, gestern im Ausschuss bei ei-
nigen Beiträgen aufseiten der Opposition Überraschung
angesichts unserer erfolgreichen Bemühungen heraus-
gehört zu haben. Dabei haben wir unsere Programme ei-
gentlich nicht verheimlicht.

Zu Ihrer Erinnerung seien noch einmal einige wichtige
Programme stichwortartig genannt: JUMP für junge
Leute, das SGB-III-Vorschaltgesetz insbesondere für Äl-
tere und Langzeitarbeitslose und jetzt – das ist neu – die
Modellvorhaben, um Beschäftigungschancen von Ge-
ringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen auszuloten
und zu erproben.

Heute beschließen wir einen weiteren Baustein der ak-
tiven Arbeitsmarktpolitik. Er soll dazu beitragen, Lang-
zeitarbeitslose, die Sozial- oder Arbeitslosenhilfe oder
auch beide Leistungen ergänzend beziehen, schneller, ef-
fizienter und möglichst dauerhaft in den regulären Ar-
beitsmarkt einzugliedern. Dazu sollen die vielfältigen po-
sitiven Erfahrungen aus der bisher mehr freiwilligen
Zusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeitsämtern ge-
nutzt werden.

Die neue Regelung, die Zusammenarbeit, die bereits
bisher im BSHG und im SGB III als Auftrag formuliert
war, nun verbindlich zu machen, kommt aus der Praxis,
wird von den Ländern positiv gewertet und findet die Zu-
stimmung der kommunalen Spitzenverbände. Das Glei-
che gilt für die im Gesetz verankerten Modellvorhaben.
Mit diesen, vom Bund finanziell geförderten Modellen
sollen neue Wege der Integration in den regulären Ar-
beitsmarkt erprobt werden, die schnell, wirksam und un-
bürokratisch für die Betroffenen gestaltet werden.

In einem Kooperationsvertrag vereinbaren Arbeits-
und Sozialämter aus den regionalen Möglichkeiten he-
raus, wer die schwerpunktmäßige Betreuung übernimmt.
Dazu gehören zum Beispiel Beratung, Vermittlung, Erar-
beitung von Eingliederungsplänen, Vorbereitung und Or-
ganisation von Eingliederungsmaßnahmen, Auszahlung
von Leistungen, also Arbeitslosenhilfe und Hilfe zum Le-

bensunterhalt. Dieser gebündelte Service für Arbeitslose,
Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfebezieher zusammen
kann entweder vom Sozialamt oder vom Arbeitsamt oder
auch an einer Stelle gemeinsam oder von einer gemein-
sam beauftragten Stelle wahrgenommen werden.

In den Modellvorhaben sollen nicht nur die tatsächli-
chen und rechtlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit
ausgeschöpft werden, sondern die in das Gesetz aufge-
nommene Experimentierklausel ermöglicht darüber hi-
naus – Herr Weiß, das sage ich noch einmal, weil Sie ges-
tern gemeint haben, das sei nur ein bisschen
Organisation –, dass man gemeinsam Zugriff auf die In-
strumentenkästen aus beiden Gesetzen hat, um auf die je-
weilige Person und Situation bezogen maßgeschneiderte
Eingliederungsschritte zu kombinieren.

Auch auf das Modell begrenzte datenschutzrechtliche
Änderungen und die geregelte Möglichkeit, von Verfah-
rensvorschriften abzuweichen, erleichtern das Vorhaben.

Unabdingbar ist für uns, dass den Arbeitslosen durch
die Einbeziehung in das Modell keine rechtlichen und fi-
nanziellen Nachteile entstehen. Mit unserem Änderungs-
antrag haben wir diese Feststellung aus der Begründung
heraus- und direkt in das Gesetz aufgenommen. Die
CDU/CSU-Anträge würden diesen Grundsatz aufheben
und deshalb lehnen wir sie ab. An dieser Stelle sage ich
noch einmal: Was wir gestern aufgenommen haben, die
Anlaufstelle, gehört natürlich in beide Gesetze; das war
ein Fehler von mir.

Modellvorhaben, liebe Kolleginnen und Kollegen, ma-
chen nur Sinn, wenn sie wissenschaftlich begleitet und
ausgewertet werden. Das ist vorgesehen. Mit unserem
Änderungsantrag beziehen wir aber auch Modelle ein, die
nicht mehr finanziell gefördert werden können. Deswe-
gen erhoffen wir uns eine breitere Bewertungsgrundlage.

Aus der bundesweiten Bewertung werden wir Auf-
schluss darüber bekommen, ob und welche gesetzgeberi-
schen Konsequenzen zu ziehen sind. Erst dann – das sage
ich hier zur rechten Seite hin – können wir gesichert fest-
stellen, wie man mit beiden Systemen umgehen kann, ob
und welche Änderungen überhaupt nötig sind.

Ich denke, dass es an dieser Stelle angebracht ist, den
Kommunen für ihre Kooperationsbereitschaft zu danken.
Wir brauchen sie, sonst geht es gar nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Den Arbeits- und Sozialämtern wünsche ich viel Erfolg
und den auf diese Weise geförderten Arbeitslosen den er-
hofften Arbeitsplatz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412120000
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.


(Renate Rennebach [SPD]: Der Mann, der eigentlich Ahnung haben müsste!)





Brigitte Lange

11655


(C)



(D)



(A)



(B)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1412120100
Frau Präsi-
dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Kollegin Lange, ich verstehe ja, dass Reden von
Vertretern der Regierungsfraktionen mit der Belobigung
eigenen Tuns beginnen müssen.


(Klaus Lennartz [SPD]: Nein, aus Überzeugung! – Zuruf von der SPD: Das können Sie auch einmal machen!)


Aber wenn ich an das mittlerweile sehr differenzierte und
sehr wirkungsvolle Instrumentarium der Hilfen zur Arbeit
in unserem Bundessozialhilfegesetz denke, stelle ich fest,
dass bis zum heutigen Tag dieses Instrumentarium dasje-
nige ist, das zu Zeiten unserer Regierungsverantwortung
beschlossen worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Nur ist und bleibt es bis zum heutigen Tag dabei, dass
für Langzeitarbeitslose – das sind Menschen, die in der
Sozialhilfe und/oder in der Arbeitslosenhilfe sind – unter-
schiedliche Systeme unseres Sozialstaates zuständig sind.
Dazu gehören unterschiedliche Verwaltungsstrukturen,
unterschiedliche Kostenträgerschaften und unterschiedli-
che Hilfesysteme, was die Leistungen und was die Maß-
nahmen anbelangt.

Nun haben die Koalitionsfraktionen einen Gesetzent-
wurf vorgelegt, der den anspruchsvollen Titel „Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe“ trägt.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das können Sie nicht ertragen!)


Die entscheidende Frage ist nicht, ob sich organisatorisch
etwas ändern kann, sondern, ob sich für den Hilfeemp-
fänger etwas ändert. Diese Frage muss man mit Nein be-
antworten.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Woher wissen Sie das im Voraus?)


Verehrte Frau Kollegin Lange, Sie haben die Instru-
mentarien angesprochen. Die Instrumentarien konnten für
die beiden Arten von Hilfeempfängern schon bisher ge-
meinsam angewendet werden, wenn sich zum Beispiel
Arbeits- und Sozialamt darauf verständigt haben, sich
durch eine beiderseits verantwortete Arbeitsförderungs-
gesellschaft um beide Personenkreise speziell zu küm-
mern.

Die Modellversuche sehen nunmehr vor, dass es in ei-
nem Landkreis das Modell Arbeitsamt geben kann, wo-
nach das Arbeitsamt auch für die arbeitsfähigen Sozial-
hilfeempfänger zuständig ist. Im nächsten Landkreis kann
es das Modell Sozialamt geben, wodurch das Sozialamt
auch für die arbeitslosen Hilfebezieher zuständig ist. Als
dritte Variante gibt es die Möglichkeit, dass eine beauf-
tragte Stelle sowohl für Bezieher von Arbeitslosenhilfe als
auch für Sozialhilfeempfänger zuständig ist. An der Aus-
gestaltung der Hilfeangebote ändert sich aber nichts.

Die Kernfrage, die sich uns politisch stellt, ist: Gibt es
für langzeitarbeitslose Menschen durch ein neues Gesetz
mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und mehr Chancen
für eine Rückkehr in die Arbeit?


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412120200
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1412120300
Ja, bitte
schön.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412120400
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.


Dr. R. Werner Schuster (SPD):
Rede ID: ID1412120500
Herr Kollege Weiß,
ich habe zwei kurze Fragen. Erstens: Sind Sie noch als
Kommunalpolitiker tätig? Zweitens: Kennen Sie aus
Ihrem praktischen Erfahrungsschatz den Unterschied für
die Betroffenen zwischen freiwilliger Kooperation und
gesetzlich vorgegebener Kooperation?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1412120600
Zu Ihrer
ersten Frage. Verehrter Herr Kollege Schuster, ich war
mehrere Jahre Fraktionsvorsitzender – –


(Klaus Lennartz [SPD]: „Sind Sie“ war die Frage!)


– Ich beantworte seine Frage; ich muss sie beantworten
und nicht Sie. – Ich war mehrere Jahre Fraktionsvorsit-
zender der CDU im Gemeinderat der Stadt Freiburg


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Und zwar erfolgreich!)


und bin mit meiner Wahl in den Deutschen Bundestag aus
dem Kommunalparlament ausgeschieden.


(Klaus Lennartz [SPD]: Sie sind es also nicht mehr! – Gegenruf des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Er ist kein Ämterhäufer, im Gegensatz zu anderen!)


Zweitens. Den von Ihnen angesprochenen Unterschied
kenne ich sehr wohl. Ich werde im weiteren Verlauf mei-
ner Ausführungen darauf zu sprechen kommen, was Sie
als Koalition mit dem Gesetzgebungsvorhaben bewirken
wollen und was wir als CDU/CSU-Fraktion gerne noch
zusätzlich in diesem Gesetz geregelt hätten. Dann wird
vielleicht deutlich, was ich meine.

Ich befürchte, dass das Gesetz letztlich nur die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter im Arbeitsamt und im Sozial-
amt stärker belasten wird, die sich jeweils in die andere
Gesetzesmaterie werden einarbeiten müssen. Das Gesetz
wird aber letztlich nicht zu mehr Beschäftigung für die
Menschen führen, die als Langzeitarbeitslose dringend
darauf warten, dass ihnen ein Weg zurück in die Arbeit ge-
wiesen und ihnen geholfen wird.

Wir haben bereits seit der Vereinbarung zwischen den
kommunalen Spitzenverbänden und den Arbeitsverwal-
tungen vom Mai 1998 eine ganze Reihe von erfolgreichen
und praktischen Formen der Zusammenarbeit zwischen
Arbeitsverwaltung und Sozialämtern. Diese intensive Zu-
sammenarbeit hat in vielen Städten und Landkreisen her-
vorragende Ergebnisse gebracht. Wenn jetzt der Gesetz-
geber neue Formen der Zusammenarbeit zwischen
Arbeitsämtern und Sozialämtern ermöglichen will, sollte






(C)



(D)



(A)



(B)


er nach unserer Auffassung auch den Mut aufbringen,
weiter zu gehen, als dies der sich rein auf das Organisato-
rische beschränkende Gesetzentwurf der Koalitionsfrak-
tionen tut. Das Modellvorhaben soll die Chance eröffnen,
tatsächlich etwas an zusätzlichen Erkenntnissen darüber
zu gewinnen, wie wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
besser miteinander verknüpfen und unsere Hilfesysteme
für Langzeitarbeitslose verbessern können.

Die Koalitionsfraktionen begründen ihren Entwurf da-
mit, dass Reibungsverluste, finanzielle Verschiebebahn-
höfe und überflüssige Bürokratie vermieden und die Stär-
ken beider Träger gebündelt werden sollten. Dann aber
müssen Sie auch erlauben, dass die Stärken beider Träger
zur Geltung kommen können.

Deswegen haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion im Ausschuss Folgendes beantragt: Erstens. Nicht
nur in den Städten und Kreisen der Modellvorhaben, son-
dern überall in Deutschland sollen Arbeitsämter und So-
zialämter ihre Zusammenarbeit bei der Hilfe für Lang-
zeitarbeitslose dadurch intensivieren, dass sie sowohl für
Arbeitslosenhilfebezieher als auch für Sozialhilfeempfän-
ger gemeinsame Anlaufstellen errichten. Das hat die Ko-
alition übernommen.

Zweitens. Wenn das Sozialamt in einem Modellgebiet
auch die Betreuung der Arbeitslosenhilfebezieher über-
nimmt, dann sollte es für die Vermittlung beider Perso-
nengruppen die gleichen Instrumentarien anwenden kön-
nen. So soll das Gesetz dem Sozialamt auch die Chance
geben, zu zeigen, ob es mit seinen Möglichkeiten und In-
strumentarien sowohl Sozialhilfeempfänger als auch Ar-
beitslosenhilfebezieher besser und schneller wieder in
neue Arbeit vermitteln kann. Leider haben Sie das abge-
lehnt.

Drittens. Oftmals ist für eine Vermittlung in eine Tätig-
keit entscheidend, ob die Anreizsysteme, auch die finan-
ziellen Anreizsysteme, für Arbeitslose genügend ausge-
prägt sind. Im Bereich der Sozialhilfe haben wir das
mittlerweile bis hin zu den Modellversuchen mit einem so
genannten Einstiegsgeld. Wir wollten wenigstens teil-
weise auch für Arbeitslosenhilfebezieher solche Anreiz-
systeme schaffen. Auch das haben Sie abgelehnt.

Frau Lange, es geht eben nicht um das Beschneiden
von Rechten, sondern für uns gehört beides zusammen:
Wir wollen die bisherigen Beschränkungen des Sozial-
amtes etwas einreißen und auf der anderen Seite die An-
reizsysteme nach oben führen. Deswegen muss ich mich
entschieden dagegen verwahren, dass wir einen Gesetz-
entwurf vorgelegt hätten, mit dem etwa die Möglichkei-
ten und Rechte von Langzeitarbeitslosen abgebaut wür-
den.

Erst mit den Änderungsanträgen unserer Fraktion
macht dieses Gesetz überhaupt Sinn; denn dann können in
den neuen Modellversuchen auch neue Erkenntnisse ge-
wonnen werden. Sie haben dazu erklärt – Sie haben das
auch hier gesagt, Frau Lange –, diese Modellversuche
sollten Grundlagen für eine flächendeckende Regelung
liefern, auf dieses Endziel gingen wir zu. Aber wozu ma-
chen wir Modellversuche, meine Damen und Herren,
wenn man nachher in der Auswertung nichts herausfin-
det, weil man gar nichts ausprobieren konnte, außer dass

bestimmte Verwaltungen organisatorisch zusammenge-
legt worden sind?


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: So sind die!)


Modelle müssen Erkenntnisse liefern können und wir
wollen den besten Weg finden, wie arbeitsfähige Sozial-
hilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosenhilfe wie-
der in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermittelt
werden können. Wir wollen Modellversuche, in denen
doppelte Arbeit, doppelte Bürokratie und doppelte Zu-
ständigkeiten abgebaut und vermieden werden. Wir wol-
len mehr Hilfe, mehr Beratung, mehr Effizienz, mehr er-
folgreiche Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in den
ersten Arbeitsmarkt.


(Konrad Gilges [SPD]: Das hätten Sie doch alles machen können! – Zuruf von der SPD: 16 Jahre hattet ihr Zeit!)


Wir wollen Modelle, aus denen man wirklich etwas für
die Zukunft lernen kann. Der große Unterschied, der an
diesem zugegebenermaßen kleinen Gesetzeswerk deut-
lich wird, ist der: Sie von der Sozialdemokratie und von
den Grünen wollen Sozialpolitik immer nur verwalten.


(Lachen bei der SPD)

– So ist es doch! Wir wollen Sozialpolitik gestalten. Das
ist der Unterschied.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Sie wissen ja gar nicht, was Sozialpolitik ist!)


Um Sozialpolitik auch mit zukunftsfähigen Modellen zu
gestalten, bedarf es mehr Mut und mehr Grips, als die Ko-
alition hier aufbringen will.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lothar Mark [SPD]: Da haben Sie Recht, Sie brauchen mehr Grips!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412120700
Nun hat die Kollegin
Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412120800
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle wis-
senschaftlichen Institute bestätigen uns die günstigen
Globalprognosen für den Arbeitsmarkt. Aber das verrin-
gert nur scheinbar den Handlungsdruck für eine aktive Ar-
beitsmarktpolitik. Wir werden auch in Zukunft mit den
Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert sein.
So bedauerlich es auch ist: Insbesondere in den neuen
Bundesländern werden wir uns damit auseinander setzen
müssen.

Herr Kollege Weiß, Sie rühmen sich hier mit der Poli-
tik Ihrer Regierung in den vergangenen 16 Jahren.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Die war gut! Die war sehr erfolgreich!)


Sie rühmen sich mit dem, was Sie alles gemacht haben,
und Sie ignorieren dabei – das muss man jetzt der
Fairness halber unterstreichen –, dass gerade in Ihrer




PeterWeiß (Emmendingen)


11657


(C)



(D)



(A)



(B)


Regierungszeit die Arbeitslosigkeit nicht nur gestiegen,
sondern geradezu explodiert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wer so etwas sagt, ignoriert aber auch die deutsche Einheit!)


Die zukünftige Arbeitsmarktpolitik wird zum Ziel ha-
ben müssen, Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Sie
wird uns auch Wege aufzeigen müssen, wie wir Langzeit-
arbeitslose in den Arbeitsmarkt integrieren können.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Bis jetzt ist davon aber nichts zu spüren, nach zwei Jahren!)


Für die Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt
sind auch die individuellen Fähigkeiten der betroffenen
Personen wichtig. Es geht um eine wirkliche Betreuung,
um individuelle Eingliederungspläne. Diese Eingliede-
rungspläne sollen vor allem regional in den zuständigen
Arbeitsämtern und auch in den Sozialhilfebehörden ent-
wickelt werden, damit auf diese Menschen eingegangen
und nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.


(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir wollen die Maßnahmen bündeln; genau das ist der
Kern unseres Antrags. Es geht darum, auf diese Menschen
einzugehen. Es geht darum, Langzeitarbeitslosigkeit ab-
zubauen. Es geht nicht darum, irgendeine Verwaltung auf-
zuplustern. – Übrigens verwahre ich mich gegen den Satz,
wir wollten hier nur verwalten, auch wenn ich Verwal-
tungswissenschaftlerin bin. Auch Verwaltung hat etwas
Gutes.– Es geht darum, problemadäquate Lösungen zu
finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: Das ist denen aber fremd!)


Nach diesem Modellvorhaben kommt es zu einer Verän-
derung des materiellen Rechts. Durch eine verbesserte
Zusammenarbeit zwischen den Arbeits- und Sozialämtern
sollen die beruflichen Eingliederungschancen von Lang-
zeitarbeitslosen erhöht werden. Mithilfe einer Experi-
mentierklausel möchten wir genau das testen. Wir verein-
fachen auch die Verwaltungsverfahren; das ist dringend
notwendig. Wir probieren also nicht nur aus, sondern ver-
einfachen auch. Besonders wichtig ist dabei, dass Sozial-
hilfeempfänger in Zukunft Zugang zu den Instrumenten
der aktiven Arbeitsmarktförderung haben. Das ist der
Knackpunkt dieses Gesetzentwurfes und den können Sie
nicht einfach mit Ihrem Verwaltungsargument, das Sie an-
geführt haben, wegdiskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein wichtiger Kernpunkt der Modellvorhaben ist also
die Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Es geht um
eine gemeinsame Anlaufstelle. Diese Leistung soll ent-
weder vom Arbeitsamt, vom Sozialamt oder von einer
gemeinsam beauftragten Stelle erfüllt werden. Auf regio-
naler Ebene soll entschieden werden, welcher Ort für eine
gemeinsame Anlaufstelle für Langzeitarbeitslose sinnig

und am erfolgreichsten ist. Welche Lösung am besten ist,
soll in diesem Experiment erkundet werden. Wir wollen
testen, wir wollen ausprobieren, wir wollen neue Wege er-
forschen. Wir wollen vor allem nicht stehen bleiben.

Zielpersonen dieser Projekte sind Menschen, die ent-
weder ergänzende Sozialhilfe bekommen oder volle So-
zialhilfe oder Arbeitslosenhilfe erhalten. Entscheidend
dabei ist die in der Gesetzgebung vorgegebene Zielrich-
tung. Es geht um die Erleichterung der Vermittlung von
Arbeitslosen. Das haben wir in dem Änderungsantrag
noch einmal unterstrichen. Wir wollen keinerlei Ein-
schränkungen von bestehenden materiellen Ansprüchen.
Genau das ist nämlich der Unterschied zu Ihrem Gesetz-
entwurf, den wir übrigens ablehnen. Wir wollen keine
Eingriffe in die Zumutbarkeit, sondern wir wollen den Be-
troffenen eine Hilfestellung geben.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Es ist wichtig, dass sie Arbeit finden!)


Ein Kriterium bei der Auswertung der Modellprojekte
wird sein, ob es uns tatsächlich gelingt, Sozialhilfeemp-
fänger durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktför-
derung zu integrieren. Die Integration der Arbeitslosen
in den ersten Arbeitsmarkt ist eines unserer wichtigsten
politischen Ziele.

Der heutige Antrag macht wiederum deutlich: Wir
schreiben diese Menschen nicht ab. Wir wollen diese
Menschen nicht bestrafen oder stigmatisieren. Wir möch-
ten sie vor allem auch nicht in unproduktive Arbeit ab-
drängen, sondern wir wollen Brücken bauen für Men-
schen, die von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind,
damit sie ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufneh-
men können. Das vorliegende Modellvorhaben ist hierfür
ein sehr, sehr wichtiger Baustein. Deshalb verdient es
nicht nur unsere, sondern vor allem auch Ihre Unter-
stützung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412120900
Nun hat das Wort der
Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1412121000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der nach wie vor
hohen Arbeitslosigkeit in unserem Lande begrüßen wir
natürlich jeden Schritt, der erwarten lässt, dass mehr Men-
schen wieder dauerhaft in Arbeit gebracht werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deswegen werden wir – das möchte ich gleich vorab sa-
gen – dem vorliegenden Entwurf auch zustimmen. Eine
verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsämtern
und den Trägern der Sozialhilfe kann vermutlich dazu bei-
tragen, die Arbeitslosenzahlen zu senken.

Ich füge aber gleich hinzu: Organisatorische Maßnah-
men allein werden wahrscheinlich nicht ausreichen.
Deswegen stelle ich hier fest, dass sich die F.D.P.-
Bundestagsfraktion noch erheblich mehr vorstellen kann,
was gerade auch im strukturellen und materiellen




Ekin Deligöz
11658


(C)



(D)



(A)



(B)


Bereich getan werden kann, um die Zahl der arbeitslosen
Sozialhilfeempfänger zu verringern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich nenne hier beispielhaft die Möglichkeiten der

Arbeitnehmerüberlassungen. In unseren europäischen
Nachbarländern arbeiten die Arbeitsämter sehr erfolg-
reich mit Zeitarbeitsfirmen zusammen und erzielen dabei
gute Fortschritte. Ich nenne auch die Chancen, die sich für
Arbeitnehmer aus befristeten Arbeitsverhältnissen erge-
ben können. Herr Riester möchte in Zukunft diese Form
der Beschäftigung erschweren, die gerade für Wiederein-
steiger interessant ist. Das konterkariert natürlich die
Bemühungen des Gesetzentwurfs, über den wir hier de-
battieren.

Ich möchte hier auch ein Problem ansprechen, das nach
meiner Ansicht nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass es
in vielen Fällen Schwierigkeiten gibt, Menschen aus der
Arbeitslosigkeit oder aus der Sozialhilfe herauszubekom-
men und in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist
– darauf habe ich bereits im Ausschuss hingewiesen – das
Problem des Lohnabstands.Wenn Sozialhilfe unter dem
Strich mehr bringt als Arbeit, dann wird es schwer wer-
den, Sozialhilfeempfänger zur Arbeitsaufnahme zu bewe-
gen. Wenn ein verheirateter Facharbeiter mit zwei Kin-
dern in den meisten Branchen kaum noch das verdienen
kann, was sein Nachbar – ebenfalls verheiratet, zwei Kin-
der – an Sozialhilfe monatlich bezieht, dann haben wir es
eindeutig mit einem Fehlanreiz in unserem Sozialsystem
zu tun.

Ich möchte damit keinesfalls sagen – um nicht falsch
verstanden zu werden –, dass sich alle Sozialhilfeemp-
fänger aus diesen Gründen nur schwer dazu aufraffen
können, sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Ich weiß hier
sehr wohl zu differenzieren. Ich weiß, dass es für die Auf-
nahme von Arbeit auch andere als nur monetäre Gründe
gibt. Aber wir müssen doch feststellen – dazu rufe ich auf;
das wissen Sie auch aus Gesprächen mit Wählern aus
Ihren Wahlkreisen –, dass viele Menschen ganz nüchtern
und ökonomisch abwägen, angesichts der momentanen
Sachlage morgens lieber ein bisschen länger schlafen und
dann möglicherweise am Nachmittag beim Nachbarn,
zum Beispiel beim viel zitierten Facharbeiter, das Bad
fliesen, der aufgrund der Höhe seines Einkommens mög-
licherweise auf Schwarzarbeiter angewiesen ist. Damit
möchte ich sagen, dass wir nicht darum herumkommen
werden, die verkrusteten Strukturen im Arbeits- und So-
zialversicherungsrecht aufzubrechen und auch an das
Lohnabstandsgebot heranzugehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir müssen mutige Reformen in den Sozialversiche-

rungen durchführen, um die Beitragssätze zu senken. Es
müssen auch in Zukunft noch weitere Schritte unternom-
men werden, um die Steuern zu senken. Wir brauchen ei-
nen neuen Ansatz – ich möchte sagen: einen Paradigmen-
wechsel – hinsichtlich der Bedingungen für das Angebot
von Arbeit.


(Beifall bei der F.D.P. – Walter Hirche [F.D.P.]: Dänemark lässt grüßen!)


Damit meine ich, wir müssen auch unsere Sichtweise im
Arbeitsrecht verändern. Wir müssen weg von der Sicht
der Risiken für die Beschäftigten hin zur Sicht der Chan-
cen für die Arbeitsuchenden. Deswegen haben wir Ihnen
vorgeschlagen – das werden wir in Kürze noch einmal
tun –: erstens ein Aufbrechen des Tarifkartells durch die
Möglichkeit, diejenigen die Tarifverträge aushandeln zu
lassen, die am meisten davon verstehen, nämlich die Be-
schäftigten in den Betrieben;


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


zweitens die Erhöhung der Flexibilisierung durch die
Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen; drittens
die Schaffung eines Kündigungsschutzes, mit dem die
Realität vor deutschen Arbeitsgerichten zur Kenntnis ge-
nommen wird und mit dem eine Lösung geschaffen wird,
die auf Abfindung statt auf Bestandsschutz setzt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wie gesagt, den vorliegenden Gesetzentwurf werten

wir nur als einen ersten zaghaften Schritt, der aber im-
merhin in die richtige Richtung geht. Wenn nun auch die
Rahmenbedingungen des materiellen Rechts verändert
werden, kann er auch seine Wirkung entfalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412121100
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.

Herr Kollege, Ihnen ist heute Morgen in Abwesenheit
zu Ihrem runden Geburtstag gratuliert worden. Da Sie nun
da sind, wiederhole ich das: Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall)



Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1412121200
Frau Präsidentin, ich be-
danke mich herzlich.

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Kollegin Lange, ich möchte mich nachdrücklich
Ihren Wünschen anschließen, dass alle Arbeitslosen einen
Arbeitsplatz bekommen. Angesichts der Rede des Kolle-
gen Kolb möchte ich hinzufügen: einen existenzsichern-
den Arbeitsplatz.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage das im Hinblick auf Ihre Forderung nach Einhal-
tung des Lohnabstandgebots, die immer in eine bestimmte
Richtung zielt.

Für mich ist der vorgelegte Entwurf ambivalent. Ich
weiß nicht so recht, worin seine Zielstellung besteht: Ei-
nerseits geht es um Zusammenarbeit, andererseits um
Modellversuche. In Art. 1 Ziffer 1 wird die Zusammen-
arbeit festgeschrieben. Die Arbeitsämter sollen Koopera-
tionsvereinbarungen abschließen, was schon im BSHG
festgelegt ist. In Art. 1 Ziffer 2 werden Modellversuche
vorgeschlagen, die zur Verbesserung der Zusammenarbeit
führen sollen. Wollen wir also Zusammenarbeit oder




Dr. Heinrich L. Kolb

11659


(C)



(D)



(A)



(B)


Verbesserung der Zusammenarbeit? Zusammenarbeit ist
immer gut. Das gilt übrigens auch für die Politik. Viel-
leicht gibt es auch bei den Parteien einmal Modellversu-
che, um unsere Zusammenarbeit zu verbessern. Ich halte
das manchmal für notwendig.


(Beifall bei der PDS)

Am Ende wird sich zeigen, was die Modellversuche wert
waren; deshalb kann man das nicht vorwegnehmen.

Nachdrücklich will ich feststellen, dass wir in dem Ent-
wurf durchaus Positives entdeckt haben. Das gilt insbe-
sondere für die Tatsache, dass die Sozialhilfeempfänger
nun in die Arbeitsförderungsmaßnahmen eingegliedert
werden können. Das ist eine alte Forderung der Arbeits-
losenbewegung, die durchaus richtig ist.


(Beifall bei der PDS)

Um dieser Forderung nachzukommen, bedurfte es aller-
dings keines Gesetzes; man hätte diesen Tatbestand auch
im SGB III einordnen können. Ich will ebenfalls Ihren
nachgereichten Änderungsantrag positiv hervorheben. Da
ist zumindest verbal anerkannt, dass für die Arbeitslosen
im Rahmen der Modellversuche, so ist zu lesen, keine
rechtlichen und finanziellen Nachteile entstehen sollen.
Das ist nicht mehr als recht und billig.

Der Rest ist fragwürdig bzw. nicht akzeptabel oder
aber führt zu einem Paradigmenwechsel. Arbeitsämter
sollen die Aufgaben von Sozialämtern und Sozialämter
die von Arbeitsämtern übernehmen. Beide sind überlastet.
Ich will es einmal zugespitzt sagen: Die Arbeitsämter
können null vermitteln. Wenn sie null vermitteln können,
dann können auch die Sozialämter nur null vermitteln.
Daran ist nicht viel Neues; es führt zu nichts.


(Beifall bei der PDS)

Ich sage deutlich: Daneben besteht die Gefahr – die

Betroffenenverbände sehen das –, dass hiermit etwas auf-
gebaut wird, was der Diskussion über die Zusammenle-
gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – eine Ten-
denz dazu besteht und daher sind entsprechende Befür-
chtungen vorhanden – sehr nahe kommt. Wir können dem
Gesetzentwurf deswegen nicht zustimmen. Ein weiterer
Grund, warum wir ihm nicht zustimmen können, besteht
in der Ausdehnung der Aufgaben auf dritte Einrichtungen,
für die es keine Regelungen gibt und für die hinsichtlich
der Kontrolle – es muss auch eine Kontrolle des Daten-
schutzes geben – durch andere Stellen kein Zugriff vor-
handen ist. Trotz der positiven Aspekte können wir dem
Gesetzentwurf aus den genannten Gründen nicht zustim-
men.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412121300
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1412121400
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! In der Koalitionsver-
einbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
vom 20. Oktober 1998 heißt es:

Um die Vermittlung in Arbeit zu erleichtern und um
überflüssige Bürokratie abzubauen, soll die Zusam-
menarbeit zwischen Sozialämtern und Arbeitsämtern
nachhaltig verbessert werden.

Diese Aussage ist für die Koalitionsfraktionen nicht nur
ein Lippenbekenntnis. Wir setzen mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf diese Forderung aus dem Koalitionsver-
trag Stück für Stück um – übrigens wie vieles andere, das
wir im Koalitionsvertrag festgehalten haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: An manches könnt ihr euch nicht mehr erinnern!)


Es gehört sich, dies hier festzustellen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es uns ge-

lingen, die Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und So-
zialämtern nachhaltig zu verbessern, überflüssige Büro-
kratie in den Ämtern abzubauen sowie die Vermittlung
von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt zu erleich-
tern. Wir wissen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe gehören
zwar zu zwei verschiedenen, historisch gewachsenen Leis-
tungssystemen; dennoch überlappen sie sich in einer
Hauptzielrichtung: Beides sind staatliche Fürsorgeleis-
tungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Einzel-
nen. Diese Überschneidungen wollen wir uns zunutze
machen und Synergieeffekte aus dem Zusammenwirken
beider Leistungssysteme erzielen.

Nehmen Sie als Beispiel Arbeitslosenhilfeempfänger,
die ergänzend Sozialhilfe bekommen; Ende 1989 waren
das 285 000 Personen. Unser Ziel ist es, dieser Gruppe
von Menschen, die vom Schicksal der Arbeitslosigkeit ge-
beutelt sind, zumindest ein wenig den Umgang mit den
Behörden zu erleichtern. Wir wollen deshalb unter ande-
rem ausprobieren, ob es den Menschen Vorteile bringt,
wenn die Antragstellung für Leistungen der Arbeitslosen-
und Sozialhilfe unter einem Dach erfolgt.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll diese Zu-
sammenarbeit für alle Arbeits- und Sozialämter in der
Bundesrepublik verpflichtend werden. Es ist schon gesagt
worden: An manchen Orten funktioniert das, da arbeiten
Arbeits- und Sozialämter schon von sich aus zusammen.
Wir schreiben es jetzt aber vor. Dies soll in Form von Ko-
operationsvereinbarungen geschehen, in denen sich die
örtlichen Arbeitsämter zur Zusammenarbeit mit den zu-
ständigen Sozialhilfeträgern verpflichten.

Darüber hinaus – das ist schon gesagt worden – fördert
die Bundesregierung Modellvorhaben, für die wir in den
nächsten Jahren jeweils bis zu 30 Millionen DM im Jahr
zur Verfügung stellen. Im Rahmen des geltenden
Rechts – das ist ganz wichtig, Herr Weiß – sind jedoch
wirklich innovativen Modellversuchen zur Verbesserung
der Zusammenarbeit enge Grenzen gesetzt. Deshalb ent-
hält der vorliegende Gesetzentwurf gesetzliche Experi-
mentierklauseln, die das Spektrum der in Betracht kom-
menden Lösungsansätze deutlich erweitern.

Jetzt will ich sagen, warum es geht: Ziel der Experi-
mentierklauseln ist ein Öffnen der Instrumentenkästen
von SGB III, also der Arbeitsförderung, und dem Bun-
dessozialhilfegesetz für das jeweils andere Leistungssys-
tem. Wir möchten ausprobieren, ob es sinnvoll ist, wenn




Dr. Klaus Grehn
11660


(C)



(D)



(A)



(B)


Arbeitslosenhilfebezieher an Maßnahmen der „Hilfe zur
Arbeit“ nach dem BSHG teilnehmen. Ebenso interessie-
ren uns Erfahrungen, die Sozialhilfebezieher machen,
wenn sie in Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung in-
tegriert werden. Die Experimentierklauseln sollen auch
die Übertragung von Aufgaben der Arbeitsämter und So-
zialhilfeträger – etwa die Leistungsgewährung – auf die
jeweils andere Behörde oder eine dafür gemeinsam gebil-
dete Stelle möglich machen. Weiterhin schaffen die Ex-
perimentierklauseln die Voraussetzung für den im Rah-
men vieler Modellvorhaben erforderlichen Austausch der
Daten von Leistungsbeziehern. Wir erhoffen uns aus den
Modellvorhaben auch Erkenntnisse darüber, wie sich das
Verhältnis der Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe zukünftig ausgestalten wird.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412121500
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1412121600
Nein, bitte nicht.

Mittelfristig muss geprüft werden, ob zur Verbesserung
der Integration der arbeitslosen Bezieher von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe in Arbeitsverhältnisse beide Leis-
tungen inhaltlich einander angenähert oder zusammenge-
führt werden sollen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Also doch!)


Konkrete Entscheidungen über eine bessere Verzahnung
oder eine Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe sind jedoch erst am Ende eines umfassenden
Diskussionsprozesses möglich, in dem alle konzeptionel-
len, politischen und finanzverfassungsrechtlichen Fra-
gestellung hinreichend Berücksichtigung finden müssen.
Wichtiger Bestandteil dieses Diskussionsprozesses wer-
den zweifellos die Modellvorhaben und die Erfahrungen
mit den Experimentierklauseln sein.

Ich sage es ganz offen: Wir betreten mit einigen Mög-
lichkeiten, die die Experimentierklauseln bieten, Neu-
land. Wir betreten dieses Neuland aber ganz bewusst und
mit einer fest umrissenen Zielvorstellung.

Ich freue mich ganz besonders darüber, dass der vor-
liegende Gesetzentwurf schon im Vorfeld die Zustim-
mung der von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz
eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Arbeitslosen-
hilfe/Sozialhilfe“ erhalten hat. Ich erwähne das auch des-
halb, weil in dieser Arbeitsgruppe sowohl Vertreter der
A- als auch der B-Länder sitzen.

Ich sage ausdrücklich an die Adresse von Herrn Weiß:
Es hilft nicht, dass Ihr Fraktionsvorsitzender hier in glo-
balen Aussprachen immer ankündigt, man müsse drin-
gend etwas tun, Sie sich dann aber verweigern und dage-
gen stimmen, wenn diese Koalition etwas tut.


(Beifall bei der SPD)

Ich halte das für ein falsches politisches Verhalten.

Ich bin daher zuversichtlich, dass wir sowohl über den
heute zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurf als auch

über die in einigen Jahren auf uns zukommende Rich-
tungsentscheidung einen parteiübergreifenden Konsens
zustande bringen werden. Diese Bundesregierung ist an-
getreten, um den Reformstau in diesem Lande aufzulösen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412121700
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1412121800
Nein.

Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in diese
Richtung. Darum bitte ich Sie auch herzlich um Zustim-
mung zu diesem Entwurf.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412121900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung der Zusammenarbeit
von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe, Drucksa-
chen 14/3765 und 14/4163. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf bei mehreren
Gegenstimmen in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und PDS ist der Gesetzentwurf
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang

Bosbach, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst –
Tarifergebnis auf Beamte übertragen
– Drucksache 14/3772 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss

ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van
Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Anpassung von Dienst- und Versorgungs-

(Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetz 2000 – BBVAnpG 2000)





Dr. Klaus Grehn

11661


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksache 14/4134 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Meinrad Belle, CDU/CSU-Fraktion.


Meinrad Belle (CDU):
Rede ID: ID1412122000
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit
und Berechenbarkeit sind die wichtigsten Grundlagen
und Voraussetzungen für eine gute Politik. Das, meine
Damen und Herren, war der Ratschlag eines alten, erfah-
renen und angesehenen Bürgermeisters, als ich vor über
30 Jahren in die Politik eingestiegen bin.

Diese Grundsätze verlassen Sie offensichtlich mit Ih-
rer Beamtenpolitik. Damit verspielen Sie Ansehen und
Vertrauen in der Beamtenschaft und bei den Versorgungs-
empfängern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Fraktion hat daher einen Gesetzentwurf zur Besol-
dungsanpassung vorbereitet. Wir haben uns aber heute
zunächst für die Beratung unseres Entschließungsantrags
entschieden, der ja offensichtlich auch Wirkung bei Ihnen
gezeigt hat; denn die Bundesregierung hat, von diesem
Entschließungsantrag getrieben, gestern sozusagen die
Katze aus dem Sack gelassen und das Hinausschieben der
Erhöhung der Beamten- und Versorgungsbezüge auf den
1. Januar 2001 beschlossen. Dieser Beschluss wird auch
nicht durch die Sonderzahlung für die unteren Gehalts-
gruppen besser.

Mit der geplanten tatsächlichen Nullrunde für das Jahr
2000 verstößt die Bundesregierung in eklatanter Weise
gegen die Fürsorgepflicht für Beamte und Versorgungs-
empfänger. Sie bestraft die Beamten dafür, dass sie kein
Streikrecht besitzen, und verletzt ihre Verpflichtung nach
§ 14 Bundesbesoldungsgesetz,

die Besoldung ... entsprechend der Entwicklung der
allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Ver-
hältnisse ... regelmäßig

anzupassen.

(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr! Skandalös!)


Ich will dies gerne begründen: Das Dienstrechtsre-
formgesetz aus der letzten Legislaturperiode bringt, bezo-
gen auf das Jahr 2008, Einsparungen für Bund, Länder
und Gemeinden in Höhe von 22,8 Milliarden DM. Ab
2008 werden sich dann jährliche Einsparungen in Höhe
von 3,8 Milliarden DM ergeben. Diese Einsparungen, zu
denen wir uns auch heute noch bekennen, schlagen ganz
konkret als Kürzungsmaßnahmen beim Monatsgehalt
fast jedes Beamten durch. Gleichzeitig kürzt das Versor-
gungsreformgesetz kurzfristig, durch strukturelle Einzel-
maßnahmen, die Versorgungsausgaben um jährlich 5Mil-
liarden DM und führt über die Versorgungsrücklage zu

einer dauerhaften Kürzung der Bezüge der aktiven Beam-
ten und der Versorgungsempfänger um 3 Prozent.


(Peter Enders [SPD]: Wann ist das beschlossen worden?)


Ich habe vorhin gesagt: Dazu bekennen wir uns. Wo gibt
es sonst noch durchgängig Gehalts- und Rentenkürzun-
gen? Auch die Fachleute Ihrer Regierungskoalition be-
tonten – Herr Kollege, Sie waren damals noch nicht da-
bei – bei ihren Reden ganz besonders, dass im Hinblick
auf diese Einsparmaßnahmen für Sonderopfer der Be-
amten kein Raum mehr gegeben sei, insbesondere nicht
für die Verschiebung der Besoldungsanpassungen.

Nach Ihrer Regierungsübernahme haben Sie unsere
Rentenreform mit dem demographischen Faktor zurück-
genommen. Die Versorgungsrechtsreform blieb aber
praktisch unverändert. Insbesondere die dauerhafte Kür-
zung der Gehälter und Pensionen um 3 Prozent bleibt voll
wirksam.

Ich fasse zusammen: Erstens. Die Dienst- und Versor-
gungsbezüge sind dauerhaft gekürzt. Zweitens. Die Be-
amten und Versorgungsempfänger werden von Ihrer so
genannten Ökosteuer zur Finanzierung der Rentenversi-
cherungsbeiträge voll getroffen. Ohne jegliche Entlastung
müssen höhere Heizkosten, Benzin- und Stromkosten ge-
tragen werden. Drittens. Zusätzlich sollen sie nun dafür
noch mit einer Nullrunde für das Jahr 2000 „belohnt“ wer-
den. Das kann doch wohl nicht wahr sein!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Beamtenschaft besteht nicht nur aus den besser

verdienenden Regierungsdirektoren und Ministerialräten.
Nur 17,5 Prozent aller Beschäftigten gehören dem höhe-
ren Dienst an, knapp 35 Prozent dem gehobenen Dienst
und knapp 48 Prozent dem einfachen und mittleren
Dienst. Die Sonderzahlung in den unteren Gehaltsklassen
bietet zwar – das will ich anerkennen – teilweise einen
Ausgleich, sie bringt aber Nivellierungen und straft alle
Sonntagsreden von Leistungsförderung und Leistungsan-
reizen Lügen. Insbesondere die 1,3 Millionen Versor-
gungsempfänger, die ja auch zur Hälfte aus dem einfa-
chen und mittleren Dienst kommen, werden nun von der
Nullrunde voll und eiskalt erwischt.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr bedauerlich!)


Hier gilt immer noch der alte Spruch: Der Beamte er-
hält zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade weil die Versorgungsrechtsreform 1998 bei den
Pensionären unverändert wirkt, ist dieses Sonderopfer der
Nullrunde 2000 eine große Ungerechtigkeit.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gnadenlos!)

Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes

stieg das Durchschnittseinkommen der unselbstständig
Beschäftigten von 1970 bis 1999 um 248 Prozent. Das
Durchschnittseinkommen der Beamten stieg im gleichen
Zeitraum lediglich um 218 Prozent. Dieser Unterschied
ergibt einen effektiven Rückstand der Beamten und




Vizepräsidentin Anke Fuchs
11662


(C)



(D)



(A)



(B)


Versorgungsempfänger bei der Einkommensentwick-
lung von 14 Prozent. Das ist ein zusätzlicher Grund, ge-
gen jedes weitere Sonderopfer vorzugehen. Mit Ihrer Be-
soldungspolitik zerstören Sie auch alle Motivations- und
Leistungsanreize, die wir damals gemeinsam mit dem
Dienstrechtsreformgesetz eingeführt haben.

Ich appelliere daher heute an Sie: Folgen Sie Ihrem Ge-
fühl und Ihrem Verstand und stimmen Sie unserem Ent-
schließungsantrag zu! Kehren Sie zu einer gemeinsamen
gerechten und verlässlichen Besoldungs- und Versor-
gungspolitik zurück!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Einsatz für den kleinen Mann war das!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412122100
Das Wort hat jetzt der
Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.


Hans-Peter Kemper (SPD):
Rede ID: ID1412122200
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist guter Brauch und entspricht der
langjährigen Tradition und den langjährigen Forderungen
der SPD, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst der
Höhe nach auch für die Beamten zu übernehmen. Das tun
wir, aber nicht deshalb, weil Sie, Herr Belle, oder weil die
CDU das gefordert hat. Vielmehr haben wir uns aus eige-
ner Einsicht massiv dafür eingesetzt,


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Spät genug!)

dass die Beamten gleichgestellt werden. Wir werden die
Tarifabschlüsse exakt übernehmen, also eine Erhöhung
von 2 Prozent im ersten Zug und von 2,4 Prozent im zwei-
ten Zug vornehmen,


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Nächstes Jahr!)

abzüglich 0,2 Prozentpunkte Versorgungsrücklage, die
unter Ihrem Innenminister Kanther, der inzwischen bei Ih-
nen in Ungnade gefallen ist, beschlossen worden ist.


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Was gut war, war gut!)


Ich habe nichts dagegen – ich trage das ja mit –, dass er in
Ungnade gefallen ist. Er hat mir immer gesagt, dass wir
die Geldwäsche und die organisierte Kriminalität
bekämpfen müssen. Wenn ich aber bedenke, dass er sich
selbst der Geldwäsche schuldig gemacht und sich im
Dunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat,
während wir im Ausschuss ein halbes Jahr lang gemein-
sam über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und der Geldwäsche geredet haben, dann muss ich sagen,
dass das ein Problem ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Meinrad Belle [CDU/CSU]: Das ist nur Ablenkung! – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Zur Sache, Schätzchen!)


– Ich bin nur auf Ihren Zuruf eingegangen.

Es war angesichts Ihrer Hinterlassenschaft der horren-
den Schulden nicht ganz einfach, dieses Ergebnis zu er-
reichen. Unsere Fraktion und insbesondere die Innenpoli-
tiker haben mit dem Finanzminister verhandelt. Wir sind
stolz, dieses Ergebnis erreicht zu haben, was angesichts
der schwierigen Situation nicht einfach war. Wir haben
lange gebraucht, dieses Ergebnis zu erreichen.

Allerdings wird die Übernahme der Tarifabschlüsse
zeitlich hinausgeschoben. In diesem Punkt haben Sie
Recht, Herr Belle. Der Angleichungstermin ist jeweils
der 1. Januar. Aber wichtig und entscheidend ist – ich habe
gestern Abend von vielen Beamtenorganisationen ein Lob
dafür bekommen –: Es hat keine Absenkung des Niveaus
gegeben, die sich in den nächsten Jahren negativ auswir-
ken könnte.


(Zuruf des Abg. Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Komm, erzähl nichts!)


– Herr Marschewski, Sie waren selbst dabei, als sich die
Beamten des BGS lobend über unsere Entscheidung ge-
äußert haben.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was? – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Das habe ich nicht gehört!)


Natürlich spielt der Sparzwang eine große Rolle. Sie
haben uns eine gigantische Schuldenlast hinterlassen, die
noch unseren Enkeln zu schaffen machen wird. Sie hätten
es fast geschafft, die künftigen Generationen und unseren
Staat handlungsunfähig zu machen. Aber zum Glück hat
der Wähler Sie an der Vollendung dieses Chaos gehindert,
indem er Sie abgewählt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Übernahme des Tarifergebnisses lässt die aktiven

und die Ruhestandsbeamten trotz schwieriger Haushalts-
bedingungen an der allgemeinen Einkommensentwick-
lung teilhaben. Herr Belle, Sie haben die Verlässlichkeit
und die Nullrunden angesprochen. Dazu will ich Ihnen sa-
gen: Was die Beamten jetzt bekommen, ist deutlich mehr
als das, was sie während Ihrer Regierungszeit bekommen
haben. Sie haben viele Jahre lang nicht einmal eine Er-
höhung auf dem Niveau der Inflationsrate vorgenommen.
Als Sie die Regierung gestellt haben, hatten die Beamten
Jahr für Jahr immer weniger im Portemonnaie.


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Nicht ablenken!)

Ich will Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen vor-

halten. In den Jahren 1989, 1993, 1994, 1996 und 1997
haben die Angehörigen des öffentlichen Dienstes, also
auch die Beamten, jedes Jahr netto weniger im Portemon-
naie gehabt. Da Sie die Glaubwürdigkeit angesprochen
haben, muss ich Ihnen sagen: Es ist völlig unglaubwürdig,
wenn die damals für dieses Chaos Verantwortlichen heute
Krokodilstränen weinen und beklagen, dass die jetzige
Regierung zu wenig für die armen Beamten tue.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir hatten im letzten Jahr eine Erhöhung von 3,1 Prozent
bei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent. Ich kann mich
nicht erinnern, dass Sie jemals Vergleichbares auf die
Beine gestellt haben.




Meinrad Belle

11663


(C)



(D)



(A)



(B)


Die zeitliche Verschiebung – das habe ich deutlich ge-
sagt – erfüllt auch mich nicht mit Freude. Aber ich sage
Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und F.D.P.: Sie sind diejenigen, die eigentlich an die-
ser Stelle beschämt schweigen müssten. Ich kann es Ihnen
nicht ersparen, Sie mit einigen Fakten und Taten aus der
Zeit Ihrer Regierung zu konfrontieren. Ich will in diesem
Zusammenhang nur einmal die Verschiebung in den letz-
ten Jahren aufführen. 1991 gab es eine Verschiebung um
zwei Monate, 1993 um vier Monate, 1994 um drei Mo-
nate, 1995 um vier Monate,


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Vor den Reformgesetzen noch!)


1997 um zwei Monate und bei den B-Gruppen um sechs
Monate. Das kann ich verstehen, weil es diesen Gruppen
nicht ganz so schlecht geht.

Ich will noch zur Anhebung der Bemessungsgrenzen
in Ostdeutschland Stellung nehmen. Dies ist sicherlich
eine für die Menschen in Ostdeutschland nur schwer er-
trägliche Schlechterstellung. Aber auch hier muss ich Ih-
nen sagen, dass wir das nicht verursacht haben. Diese Un-
gleichbehandlung haben wir doch von Ihnen geerbt. Sie
haben fast ein Jahrzehnt Zeit gehabt, diese Ungleichheit
zu beseitigen. Aber Sie haben es nicht getan. Wir haben
das Problem in Angriff genommen. Wir steigern die An-
gleichung in drei Stufen zumindest auf 90 Prozent. Das
hätte ich mir von Ihnen gewünscht. Sie wissen genau, dass
eine sofortige Anhebung unheimlich viel Geld gekostet
hätte, insbesondere für die Länder, nämlich circa 5 Milli-
arden DM; 4,7 Milliarden DM sind es ganz genau. Das,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P.,
wissen Sie genau.

Deshalb ist die Forderung, die Sie hier heute erheben,
mehr als scheinheilig. Sie sollten sich mit einem kräftigen
„mea culpa!“ an die Brust klopfen. Herr Marschewski, Sie
sind Lateiner und alter Messdiener; da wissen Sie, was
das heißt. Sie sollten in sich gehen und uns nicht kritisie-
ren.

Wir haben – das will ich hier öffentlich sagen – einen
engagierten, leistungsstarken öffentlichen Dienst. Der öf-
fentliche Dienst ist nicht, wie man es gelegentlich in der
Presse liest, eine Ansammlung von Faulpelzen der Na-
tion, die in der öffentlichen Hängematte liegen. Der
größte Teil der öffentlich Bediensteten will sich einbrin-
gen, ist leistungsfähig und leistungsbereit. Deswegen bin
ich froh, dass wir dieses Ergebnis erreicht haben. Die SPD
lässt den öffentlichen Dienst, lässt die Beamten – wie die
übrigen Arbeitnehmer auch – nicht im Regen stehen. Da-
ran können Sie sich ein Beispiel nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412122300
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1412122400
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon eine miss-
liche Situation, wenn man – wie soeben der verehrte Kol-

lege Kemper – hier am Rednerpult etwas vertreten muss,
hinter dem man selbst nicht richtig stehen kann, weil es
im Widerspruch zu dem steht, was man früher in diesem
Hohen Hause vertreten hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Peter Kemper [SPD]: Das geht euch genauso!)


Dabei, meine Damen und Herren, ist die Situation doch
relativ einfach: Die Tarifverhandlungen für die Arbeiter
und Angestellten des öffentlichen Dienstes haben ein ak-
zeptables Ergebnis erbracht. Die Tarifvertragsparteien ha-
ben Vernunft gezeigt. Jetzt sind wir am Zug, die alte
Richtschnur, die wir in diesem Haus immer gemeinsam
vertreten haben, zu verwirklichen: Die Beamten dürfen
nicht besser, aber sie dürfen auch nicht schlechter gestellt
werden als ihre angestellten Kollegen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Von dieser simplen Erkenntnis ausgehend, legt Ihnen

die F.D.P.-Bundestagsfraktion heute einen entsprechen-
den Gesetzentwurf mit folgender Zielsetzung vor: Wir
wollen die vollständige und zeitgleiche Übertragung des
Tarifergebnisses vom 19. Juni auf die Beamten und Ver-
sorgungsempfänger.


(Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])

Dies bedeutet im Einzelnen: erstens Einmalzahlung in

Höhe von 400 DM für die Monate April bis Juli 2000 für
alle Beamten und Versorgungsempfänger; zweitens li-
neare Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge um
2 Prozent ab 1. August 2000 – darin besteht der Unter-
schied zu Ihnen – und um weitere 2,4 Prozent ab 1. Sep-
tember 2001; drittens weiterer Aufbau der Versorgungs-
rücklage durch Zuführung von jeweils 0,2 Prozent der
Anpassungsbeträge zur notwendigen Finanzierung künf-
tiger Versorgungsausgaben; viertens Erhöhung des Fami-
lienzuschlags als Folgerung aus der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 und
fünftens lineare Anhebung der Dienst- und Versorgungs-
bezüge in den neuen Bundesländern in drei Stufen bis auf
90 Prozent des Westniveaus bis zum Jahr 2002.

All das haben die Tarifvertragsparteien so vereinbart.
Ich sehe überhaupt nicht ein, aus welchem Grund dies
nicht auch sofort für die Beamtinnen und Beamten und die
Versorgungsempfänger gelten sollte.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie sollten daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von

den Regierungsfraktionen, die Besoldungs- und Versor-
gungsanpassung nicht auf den Beginn des nächsten Jah-
res verschieben. Da nützt alles Kramen im Archiv über-
haupt nichts; denn wir verlangen von Ihnen nicht mehr
und nicht weniger, als dass Sie jetzt genau das machen,
was Sie in der Zeit, als Sie in der Opposition waren, im-
mer gefordert und für den Fall der Regierungsübernahme
versprochen haben. Nicht mehr und nicht weniger sollen
Sie jetzt einlösen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Peter Kemper [SPD]: Aber Sie fordern das, was Sie selbst nicht gemacht haben!)





Meinrad Belle
11664


(C)



(D)



(A)



(B)


Das bedeutet ganz konkret, dass Sie in diesem Fall den
Gesetzentwurf der F.D.P. übernehmen sollten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412122500
Das Wort hat jetzt der
Kollege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412122600
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegen
Meinrad Belle und gerade eben Max Stadler haben Oppo-
sitionsreden gehalten. Man könnte sagen: Das ist ja auch
ihr Job. Sie stellen die Opposition in diesem Hause dar.
Trotzdem möchte ich daran erinnern, dass auch eine Op-
position Verantwortung für das Gesamtwesen Bundesre-
publik Deutschland übernehmen sollte.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber nicht für euren Mist!)


Wir können uns noch daran erinnern, wie es damals in
der Opposition war. So lange ist das noch nicht her.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir frischen die Erinnerung bald wieder auf!)


Als wir in der Opposition waren, war unser Ansatz immer:
Eine gute Opposition regiert immer mit. Ihr Ansatz ist al-
lerdings ein anderer. Eine Opposition sollte sich immer als
eine Regierung im Wartestand verstehen. Was Sie hier ge-
macht haben, war Populismus pur.

Der Kollege Kemper hat darauf hingewiesen, was wir
von Ihnen übernommen haben. Ich möchte das kurz in
Erinnerung rufen: Gestern vor genau zwei Jahren ist die
alte Bundesregierung abgewählt worden. Bei diesen
zwei Fraktionen haben wir es ja nicht mit Unbekannten zu
tun. Einer der Gründe für die Abwahl der alten Bun-
desregierung war, dass Sie vollmundig Versprechungen
abgegeben haben, die Sie nachher nicht gehalten haben.
Stattdessen kam es zu ständigen Abgabenerhöhungen und
einer ruinösen Staatsverschuldung.


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Nur keine Ablenkung!)


Diese Staatsverschuldung – das ist bekannt – hat jeden
Beamten und jede Beamtin mitgetroffen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Ihr wolltet ja die Wiedervereinigung nicht! Sonst wäre es billiger gewesen! Das weiß ich auch!)


Insofern haben Sie keinerlei Veranlassung, diese
Regierung zu kritisieren. Wir haben von Anfang an klar
auf eine strikte Konsolidierung des Haushalts und eine
sozial ausgewogene Politik gesetzt. Das steht bei uns im
Vordergrund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich als Schwaben eines sagen: Wir achten

mit Argusaugen darauf, dass die Konsolidierungserfolge
dieser Regierung nicht geschmälert werden. Bei uns wird
nichts „verveschberd“, wie man das bei uns so schön sagt.
Gleichwohl ist klar, dass die Erhöhung der Bezüge von

Beamten und Pensionären angestanden hat. Ich finde, die
Eckpunkte, auf die sich unsere beiden Fraktionen geeinigt
und die wir jetzt durchgesetzt haben, können sich durch-
aus sehen lassen.

Ich möchte insbesondere auf einen Aspekt hinweisen,
nämlich die Tatsache, dass die unteren Besoldungsgrup-
pen, also A 1 bis A 9, zusätzlich zu der Erhöhung der
Bezüge ab dem 1. Januar 2001 für die Monate September
bis Dezember dieses Jahres eine Einmalzahlung von je-
weils 100 DM, insgesamt also 400 DM, bekommen. Das
ist etwas, was sich angesichts der Probleme, die wir gegen-
wärtig im Haushalt zu beklagen haben, sehen lassen kann.

Herr Kollege Kemper hat auf einen Akzent
hingewiesen, der uns sehr wichtig ist: Wir werden die
Angleichung der Bezüge für die Beamten in den neu-
en Ländern beschleunigen. Ab dem 1. August 2000 er-
höht sich der Bemessungssatz auf 87 Prozent. Am 1. Ja-
nuar 2001 beträgt er 88,5 Prozent, am 1. Januar 2002
schließlich 90 Prozent. Damit haben wir etwas geschafft,
was im Grunde kaum möglich ist, nämlich die Quadratur
des Kreises: einerseits das berechtigte Interesse der
Beamten an einer Erhöhung ihrer Bezüge zu befriedigen
und andererseits den Konsolidierungskurs einzuhalten.
Zudem gelingt es, sicherzustellen, dass die Pensionen der
Beamten in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt nicht
stärker angehoben werden als die gesetzlichen Renten vo-
raussichtlich angepasst werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass wir hier auch in der sozialen Symmetrie
bei der Anpassung der Alterssicherungssysteme eine gute
Lösung erreicht haben.

Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede in Erin-
nerung rufen: Von den beiden Fraktionen, die jetzt so
spendabel auftreten möchten, haben wir 1,5 Billionen DM
Schulden geerbt.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es hat euch keiner gezwungen!)


– Lieber Eckart von Klaeden, unser Zukunftsprogramm
für die nächsten vier Jahren ist mit dem Ziel, den Schul-
denberg um 150 Milliarden DM zu senken, zugegebener-
maßen sehr ehrgeizig.

Ich appelliere an die Opposition: Geben Sie Ihren Popu-
lismus auf. Helfen Sie uns dabei, das zu tun, was für diese
Republik notwendig ist.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wenn wir die Privatisierung der Post nicht gemacht hätten, hätten Sie keine UMTS-Lizenzen bekommen!)


– Darüber können wir gerne reden. Das ist aber ein ande-
res Thema. Stellen Sie doch einen entsprechenden Antrag.
Wir lassen uns von der Opposition nicht von unserem
Kurs abbringen und appellieren an die Öffentlichkeit, das
Manöver der CDU/CSU und der F.D.P. zu durchschauen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Alles Ablenkung!)

Wir haben gesehen, was Sie während Ihrer Regierungszeit
gemacht haben. Unsere Überschrift heißt: solide Haus-
haltspolitik ohne soziale Kälte.




Dr. Max Stadler

11665


(C)



(D)



(A)



(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412122700
Jetzt hat die Kollegin
Petra Pau, PDS-Fraktion, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1412122800
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es kommt nicht oft vor, dass ich mit
Mitgliedern der bayerischen Landesregierung einer Mei-
nung bin. Heute Vormittag haben wir an einem Beispiel
gezeigt, wie es anders sein kann. Als ich aber gestern eine
Agenturmeldung zu den Ergebnissen Ihrer Beratungen
las, kam ich nicht umhin, erst einmal dem bayerischen Fi-
nanzminister, Kurt Falthauser, CSU, zuzustimmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Faltlhauser heißt er!)


– Entschuldigung, Faltlhauser. Ich werde das noch lernen,
wenn wir demnächst öfter übereinstimmen.


(Beifall bei der PDS)

Er meinte – ich darf zitieren –, dass das Trostpfläster-

chen dieser Regelung, die Einmalzahlung für Gering-
verdiener, nichts für die Masse der Beamten ändere und
dass Beamte für die Bundesregierung offensichtlich
Staatsdiener zweiter Klasse sind.

Herr Kollege Özdemir, da nutzt es überhaupt nichts,
auf die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hinzuweisen.
Wir sollten die derzeitige Bundesregierung beim Wort,
bei ihrem Programm und bei ihrem Eintreten für soziale
Gerechtigkeit vor genau zwei Jahren nehmen; Sie haben
zu Recht an den Wahltag erinnert.

Da wird es dann ganz schwierig, wenn wir einer
Gruppe, nämlich den Beamten, besonders verantwor-
tungsvolle und manchmal auch gefahrvolle Arbeit – völ-
lig zu Recht – abverlangen, – ich komme gerade wie auch
Kollegen Ihrer Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion von
einer Veranstaltung mit Kriminalbeamten –, ihnen aber
auch sagen: Dafür, dass ihr gefahrvolle Arbeit leistet, dass
wir von euch erwarten, dass ihr jederzeit auch die ho-
heitlichen Aufgaben des Staates gegenüber den Bürgerin-
nen und Bürgern wahrnehmt, dürft ihr am Ende des Mo-
nats aber auch noch etwas abliefern und nicht etwa eine
Anerkennung bekommen, indem einfach die Ergebnisse
der Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes auf
euch übertragen werden.

Ich finde, dass in den Vorschlägen der F.D.P. ein Lö-
sungsweg aufgezeigt ist. Darüber sollte man ordentlich
reden, auch in Anerkennung der Leistung der Betroffenen.


(Beifall bei der PDS)

Ein weiterer Punkt, der auch nicht berücksichtigt wird,

ist folgender: Es fehlt nicht nur – wie wir aus meiner Sicht
völlig zu Recht kritisiert haben – der Fahrplan für die An-
passung der Vergütung der Angestellten, sondern Sie
gehen gegenüber den Beamten im Ostteil des Landes nun
auch doppelt ungerecht vor.


(Beifall bei der PDS)


Nicht nur der Fahrplan ist nicht absehbar, sondern für sie
werden sich diese Kürzung und diese Verschiebung der
Angleichung bis zu ihrer Pensionierung auswirken. Das
heißt, sie werden, wenn sie ihre Pension empfangen, noch
daran erinnert, welche Tarifabschlüsse im Jahr 2002
durch Sie nicht übertragen wurden. Es hat keinen Sinn,
hier an Ehrlichkeit, an Moral und was weiß ich zu appel-
lieren oder die Geschichte anzuführen, sondern wir soll-
ten uns mit unseren Wahlversprechen, aber auch mit un-
seren konkreten Politikkonzepten, mit denen wir in den
Wahlkampf gezogen sind, beim Wort nehmen und nach
Lösungen suchen.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412122900
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper das Wort.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412123000
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es ist schon interessant, hier zu-
zuhören. Wenn ich mich beispielsweise daran erinnere,
dass es im Jahr 1989 einen Tarifabschluss von 1,4 Prozent
bei einer Inflationsrate von 2,9 Prozent gab, dann frage
ich die Kolleginnen und Kollegen von F.D.P., CDU und
CSU: Wo war denn damals Ihr Aufschrei? Letztendlich ist
es doch wichtig, was die Beamtinnen und Beamten und
die Angestellten im öffentlichen Dienst in der Tasche ha-
ben. Damals hatten sie weniger in der Tasche, aber Sie ha-
ben keinen Aufschrei getan.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren: Bei-

spielsweise gab es im Jahre 1993

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist uralt!)

einen Tarifabschluss, der bei 3 Prozent lag, die Inflations-
rate lag aber bei 3,7 Prozent. Merkwürdigerweise ist die
Beamtenbesoldung auch noch erst einige Monate später
erhöht worden.


(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Zwei!)

Meine Damen und Herren von der Opposition, wo war
denn damals Ihr Aufschrei? Vor allen Dingen: Wo war
Ihre Gesetzesvorlage, dem so nicht zu folgen? Ich kann es
nicht feststellen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412123100
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412123200
Ja, aber nur, weil es der Kollege
Belle ist.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412123300
Der Kollege Belle hat
jetzt das Wort. Bitte sehr.


Meinrad Belle (CDU):
Rede ID: ID1412123400
Lieber Herr Kollege
Körper, ich wollte Sie heute Abend eigentlich nicht




Cem Özdemir
11666


(C)



(D)



(A)



(B)


ärgern, aber nach diesem Einstieg muss ich Sie doch fra-
gen, was Sie heute Abend zu Ihrer Aussage in diesem Ho-
hen Hause am 16. Januar 1998 bei der Diskussion über
die Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform sagen.
Ich darf Sie zitieren:

Die Tarifergebnisse im öffentlichen Dienst müssen
künftig wieder inhalts- und zeitgleich auf den Beam-
tenbereich übertragen werden.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ein Staatssekretär darf nicht die Unwahrheit sagen!)


Wie beurteilen Sie diese Aussage heute Abend in Ihrem
neuen Amt?

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412123500
Herr Kollege Belle, wenn Sie es
mir nachsehen, will ich noch einen Satz vorweg loswer-
den. Ich beziehe mich auf das Jahr 1996.


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Das war alles vor der Reform! – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: 1946 wäre noch besser!)


Damals hatten wir eine Inflationsrate von 1,3 Prozent. Sie
haben den Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine ein-
malige Zahlung von 300 DM zugestanden und somit auch
den Basiseffekt erheblich reduziert.


(Hans-Peter Kemper [SPD]: Unglaublich! Sie haben die Beamten ausgeplündert!)


Sie sind meilenweit davon entfernt gewesen, das Tarifer-
gebnis zu übertragen. Das war die Wirklichkeit Ihrer Po-
litik.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Ihr wolltet doch alles besser machen! Ihr macht es ja genauso schlecht!)


Lieber Herr Kollege Belle, ich will jetzt auf Ihre Frage
eingehen. Wir haben uns – vielleicht im Gegensatz zu
Ihnen – in der Oppositionsrolle konstruktiv verhalten,
beispielsweise indem wir der Versorgungsrücklage zu-
gestimmt haben. Sie wissen das. Hier gab es keinen poli-
tischen Streit. Man hätte aufgrund so mancher politischer
Effekthascherei im Grunde auch anders entscheiden kön-
nen. Aber wir haben das, was wir in der Opposition
gemacht haben, fortgesetzt, und zwar unter dem Aspekt
der Glaubwürdigkeit. Ich finde, das ist gut so.


(Meinrad Belle [CDU/CSU]: Gut abgelenkt!)

Dann will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben

beispielsweise im Jahre 1999 einen Tarifabschluss von
3,1 Prozent bei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent erzielt.
Wenn Ihr Innenminister das als Tarifergebnis nach Hause
gebracht hätte, dann hätten Sie ihm meilenweit einen
roten Teppich ausgerollt. Da bin ich ganz sicher. Man
kann Otto Schily für diese gute Verhandlung und dieses
Tarifergebnis nur dankbar sein.


(Beifall bei der SPD)

Das Entscheidende ist, was die Menschen in den

Taschen haben. Das Jahr 1999 war in dieser Hinsicht ganz

entscheidend. Jetzt stehen wir vor der Frage: Was machen
wir in den nachfolgenden Jahren? Wir machen einen
Vorschlag, in dem wir die Jahre 1999 bis 2002 zusam-
menfassen und insgesamt eine Erhöhung von über
7,5 Prozent haben. Ich bin der Auffassung: Auf die Zeit
verteilt ist dies für die Beamtinnen und Beamten sowie die
Versorgungsempfänger ein stolzes Ergebnis. Das sollten
Sie einmal einräumen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen ganz genau: Es wäre vieles viel leichter zu
beschließen, wenn sich der Haushalt nicht in einem solch
schlechten Zustand befinden würde,


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Den Sie verschuldet haben!)


den Sie – das kann ich Ihnen leider nicht ersparen – zu ver-
antworten haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig, das kann man nicht oft genug sagen!)


Sie können nicht so tun, als ob man bestimmte Bereiche
aus der Konsolidierungspolitik herausnehmen kann.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auch Stadler war dabei!)


Lieber Herr Stadler, mit dem jetzt vorliegenden Ergeb-
nis haben wir nämlich von den Prozentzahlen her exakt
die Übernahme des Tarifergebnisses von 2 und 2,4 Pro-
zent zum 1. Januar 2001 und zum 1. Januar 2002 mit einer
vier- bis fünfmonatigen Verschiebung. Das ist richtig.
Aber eine Verschiebung ist für die Beamtinnen und
Beamten allemal besser, als den Basiseffekt zu senken,
der dann in die Zukunft hineinwirkt.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412123600
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Stadler?

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412123700
Wir Innenpolitiker reden immer
gern miteinander, also ja.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412123800
Herr Dr. Stadler, bitte.

(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Mach die Frage nicht so schwer, sonst kann er sie nicht beantworten!)



Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1412123900
Herr Kollege Körper, wür-
den Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, dass auch zu
dem Zeitpunkt, in dem Sie hier in diesem Hohen Hause
die vollständige und zeitgleiche Übernahme des Tarifer-
gebnisses auf die Beamtenschaft gefordert haben, die
Haushaltslage ohnehin schon schwierig war und Sie dies
nicht davon abgehalten hat, damals die Forderung zu ver-
treten, von der Sie jetzt selber abrücken?


(Walter Hirche [F.D.P.]: Die Verschuldung wäre weit größer gewesen!)





Meinrad Belle

11667


(C)



(D)



(A)



(B)


F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1412124000
Ich habe Ihnen gesagt, dass wir
mit diesem Prozentergebnis die Übernahme des Tarifer-
gebnisses erreicht haben. Ich habe das mit dem Basisef-
fekt erklärt. Lieber Kollege Stadler, in Anbetracht dieses
schwierigen Haushaltes war dies ein großartiger Erfolg.
Dieses Ergebnis entspricht auch der Leistungsbereitschaft
und der Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten. Dafür
kann man nur dankbar sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie leichtfertig einige mit diesen Themen umgehen,
wird daraus ersichtlich, wie im Vorfeld dieser Tarifver-
handlungen eine Angleichung Ost-West auf einen
Schlag gefordert worden ist, ohne letztendlich zu wissen
und zu erkennen, wie dies die öffentlichen Haushalte be-
lasten würde. Das hätte für Länder und Bund auf einen
Schlag eine Mehrbelastung von 9 Milliarden DM ge-
bracht, wobei der Bund den wesentlich geringeren Teil zu
tragen gehabt hätte. Aber, ich glaube, Herr Kollege Belle,
darin stimmen Sie mir zu: Es ist unseriös, so etwas ein-
fach in den Raum zu stellen, ohne die Belastungen für den
Haushalt aufzuzeigen. Ich denke, das muss man auch im-
mer wieder sehen.

Es war ein sehr guter Zeitpunkt, zu dem wir das Eck-
punktepapier vorgelegt haben. Ich will gar nicht ver-
hehlen: Es war für uns wichtig, wie sich die Renten zu-
künftig entwickeln werden. Wir können natürlich die
Rentenentwicklung nicht getrennt von der Versorgungs-
entwicklung sehen. Deswegen ist der Zeitpunkt günstig.
Herr Kollege Belle, Sie sagen, wir wären von Ihrem
Entschließungsantrag vorangetrieben worden – das klingt
ja immer ein bisschen nach Jagdgesellschaft. Ich denke,
wenn sich die Jagdgesellschaft so in Grenzen hält, dann
regieren wir noch lange weiter.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412124100
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage
auf Drucksache 14/3772 zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Finanz-
ausschuss, den Haushaltsausschuss und den Verteidi-
gungsausschuss zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/4134 soll ebenfalls an diese Ausschüsse
überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge?
– Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Dehnel, Günter Nooke, Michael Stübgen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Uranerzbergbau-Schäden beseitigen
– Drucksache 14/3373 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Dehnel, CDU/CSU-Fraktion.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412124200
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Zu den erfolgreichs-
ten Kapiteln des Aufbaus Ost nach der Wiedervereinigung
unseres deutschen Vaterlandes zähle ich die Sanierung der
Uranerzbergbau-Schäden in den betroffenen Regionen
Sachsens und Thüringens. Ich glaube, dass dieses Thema
morgen in der Debatte zu den zehn Jahren deutsche Ein-
heit wahrscheinlich keine Erwähnung findet. Bei der jet-
zigen Regierungskoalition wundert mich das nicht; denn
von dieser hat sich auch zwei Jahre nach Regierungsan-
tritt noch kein Minister vor Ort die Sanierungsaufgaben
und -erfolge angeschaut.
Ganz anders die Regierungsvertreter der damaligen Re-
gierungsmannschaft unter Bundeskanzler Kohl.


(Beifall bei der CDU/CSU)

– Richtig, das ist einen Beifall wert. – Ich erinnere mich
noch genau: Im Frühjahr 1991 waren wir als CDU-Abge-
ordnete zum ersten Mal von Bundeskanzler Dr. Helmut
Kohl eingeladen. Wir traten in den NATO-Saal im Bun-
deskanzleramt ein und waren überrascht, dass wir als ganz
junge, neue Abgeordnete überhaupt in das Kanzleramt
eingeladen worden sind. Dann konnten wir all unsere Pro-
bleme, die wir in den neuen Bundesländern hatten, vor-
tragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein sehr bewegender Augenblick!)


Ich habe damals diese Wismut-Sanierung ange-
sprochen. Unmittelbar hinterher wurde sie zur Chefsache
erklärt – und nicht nur erklärt: Es wurde eine Tatsache da-
raus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Schon im Sommer 1991 war Bundesumweltminister
Töpfer in den Uranerzbergbau-Gebieten in Schlema im
Erzgebirge. Er hat sich dort ein Bild von den Schäden ge-
macht. Bereits im Herbst standen umfangreiche Mittel für
die Sanierung bereit.

Dieses Unternehmen, die Wismut GmbH, hatte als
Sowjetische Aktiengesellschaft von 1945 bis 1953 und
von 1954 bis 1991 als Sowjetisch-Deutsche Aktienge-
sellschaft Wismut 1,5 Milliarden Tonnen Erz und Gestein
gefördert, um aus 200MillionenTonnen Erz 231 000Ton-
nen Uran, das so genannte Yellow Cake, zu gewinnen.
Dieses wurde vor allem für die sowjetische Atomrüstung
gebraucht. 1954 waren bei der Wismut 120 000 Bergleute
beschäftigt, 1989 noch 42 000, denn zum Glück
hatte die Abrüstungspolitik auch in der DDR ihren
Niederschlag gefunden. Dies ist aber nur der klaren Hal-
tung der damaligen Bundesregierung hinsichtlich des






(C)



(D)



(A)



(B)


Doppelnullbeschlusses zuzurechnen. Ich glaube, wir soll-
ten uns wirklich daran erinnern.


(Jelena Hoffmann [Chemnitz] [SPD]: Sie haben doch bis jetzt geschlafen! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Er hat Recht!)


Auch bei uns in der ehemaligen DDR, hinter Mauer
und Stacheldraht, haben wir das so empfunden, denn auch
in unserer Heimat standen SS-20-Raketen. Wir wussten,
dass uns genau dieser Doppelnullbeschluss letzten Endes
die Abrüstung gebracht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nach dem Stopp des Uranerzbergbaus bestand die Auf-

gabe, an den vier Wismut-Standorten Aue und Königstein
in Sachsen sowie Ronneburg und Seeligenstädt in Thürin-
gen fast 3 700 Hektar Betriebsgelände, davon 50 Prozent
Halden, zu sanieren und 1 400 Kilometer horizontale
Grubenbaue zu verwahren. Bildlich gesehen ist das eine
Strecke wie die von Berlin nach Paris. Es war eine
gewaltige Herausforderung, vor der das nunmehrige
Bundesunternehmen Wismut GmbH und ihr Auftragge-
ber, die Bundesregierung, 1991 standen.

Trotz erheblicher Reduzierung der Arbeitskräfte von
circa 44 000 auf gegenwärtig 3 150 gehört die Wismut
nach wie vor zu den größten Arbeitgebern der Bergbaure-
gion, die zusätzlich an fast 1 000 Fremdfirmen Aufträge
vergibt. Für die Sanierungskonzepte waren rund 3 000
Genehmigungsanträge bei den zuständigen Behörden
eingebracht worden. Auch diese wurden zügig bearbeitet.
Allen diesen Mitarbeitern sollten wir heute aus diesem
Hause einmal für die hervorragende Arbeit und die Er-
gebnisse, die bereits erbracht wurden, ein herzliches
Dankeschön sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das sichtbarste Zeichen dieser Heilung von Wunden in

der Umwelt und der Wunden in den Seelen von Menschen
ist das Wiedererstehen des Kurbades Schlema, welches
förmlich in den Abraumhalden versunken war. Dieser Ort
war vor und unmittelbar nach der Wende ein Symbol für
den Verfall und hatte den Namen „Tal des Todes“ in den
entsprechenden Medien. Heute schreiben sie anders.
Heute schreiben sie: „Die Wismut-Wunden werden
geschlossen“, „Größtes Geheimnis der DDR nun eine
Expo-Attraktion – Kleine Schwester mit grüner Zukunft“,
„Wismut GmbH sanierte Haldenkomplex zwischen Al-
beroda und Schlema – circa vier Jahre Bauzeit“ und „Aus
Schlema wird ein weltweites Expo-Projekt“.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist doch eine ganz andere Entwicklung. Wir sind in
unserer Region auch froh, dass diese Negativ-Bericht-
erstattung endlich aufgehört hat.

Heute kann man von der so genannten Herzoghöhe,
nach dem ehemaligen Bundespräsidenten benannt, oder
vom „Biedenkopfblick“


(Lachen bei der SPD – Jelena Hoffmann [Chemnitz] [SPD]: Vor allen Dingen!)


hinunter auf eine Kurlandschaft schauen, über die selbst
die Curies, die bei uns das Radium für ihre Versuche ge-
holt haben, staunen würden.

Meine Damen und Herren, dieses von Einheimischen
und Besuchern oft als „Wunder der Einheit“ bezeichnete
Erscheinungsbild der Sanierung wurde durch das Bereit-
stellen von 13Milliarden DM aus Haushaltsmitteln der al-
ten Bundesregierung über eine Laufzeit von circa
15 Jahren ermöglicht. Wohlweislich hatte die CDU/CSU-
Fraktion dies 1998 noch in ein Gesetz zur Absicherung
einbringen lassen. Damit waren natürlich auch keine
großen Kürzungen mehr möglich.

Ich bin der heutigen Bundesregierung durchaus
dankbar, dass sie nur geringe Kürzungen bei diesem
Sanierungsauftrag vorsieht. Ich würde mich freuen, wenn
das weiterhin so bliebe, auch wenn sich Minister Müller
und Minister Trittin bei bestimmten Terminen vor Ort im-
mer wieder haben entschuldigen lassen. Auch bei
Empfängen waren sie nicht da. Sie haben uns zwar einge-
laden, aber sind nie vor Ort erschienen.

Zur Erinnerung muss man natürlich auch sagen, dass
Frau Merkel als damalige Bundesumweltministerin
mehrfach vor Ort war und dort mit Sachkunde geglänzt
und keine Show abgezogen hat, wie das jetzt der Bun-
deskanzler bei seiner Reise durch die neuen Bundesländer
vorgemacht hat. Es war damals ganz anders, damals war
Sachkunde gefragt und keine Show.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das war damals ja auch Chefsache!)


– Das war auch Chefsache, und zwar echte Chefsache.
Es war richtig, die bisher getätigten Sanierungen so

zügig und konsequent anzupacken und mit hoher Priorität
durchzuführen. Ein Großteil der Aufgaben ist schon be-
wältigt. Dies kann man aber leider nicht von den Schäden
des Uranerz-Abbaus sagen, die so genannte Altstandorte
sind. Diese befanden sich 1991 nicht im Eigentum des
Bundes. Das geht aus einem Abkommen zwischen der
DDR und der Sowjetunion von 1962 sowie dem Wismut-
gesetz von 1991 hervor, welches rein rechtlich nur auf
diesem basieren konnte.

Demnach sind – auch nach gerichtlichen Entscheidun-
gen – die Kommunen und Länder für die Sanierung ver-
antwortlich. Da aber die damalige DDR mit Sanierung
nichts im Sinn hatte und der Bergbau als Raubbau be-
trieben wurde, sind jetzt die Regionen und Kommunen
einfach überfordert. Davon ist besonders Johanngeor-
genstadt betroffen. Diese Stadt im Erzgebirge ist von
diesen Hinterlassenschaften stark belastet; dort stieg die
Anzahl der Bewohner von circa 8 000 im Jahre 1946 auf
sage und schreibe 40 000 im Jahre 1953, von denen die
meisten Flüchtlinge aus Sudetendeutschland und Schle-
sien waren, die Arbeit und Wohnung suchten. Viele wur-
den auch zugewiesen und auch zum Bergbau verpflichtet,
ohne je diesen Beruf erlernt zu haben. Das Gute war: Sie
hatten dadurch auch Wohnung und Brot. Die Wismut hat
somit nicht nur Schlechtes gemacht.




Wolfgang Dehnel

11669


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Altstadt wurde bis auf wenige Häuser und die
Kirche – wegen der Proteste vom 17. Juni 1953 – zuguns-
ten des Bergbaus zwangsgeräumt und abgerissen, Woh-
nungsbauten im so genannten Sibirienstil sind entstanden
und das urbane Umfeld wurde zerstört. Heute hat Johann-
georgenstadt wieder seine Einwohnerzahl wie vor
50 Jahren. Das hinterließ bzw. hinterlässt sehr tiefe
Spuren. Die so genannten Sibirienbauten stehen leer und
sind – ähnlich den verlassenen Standorten des Kohleab-
baus in Nordrhein-Westfalen – verkommen. In Nord-
rhein-Westfalen gab es aber gewaltige Strukturhilfen. Das
wünschen wir uns natürlich jetzt auch für Johanngeor-
genstadt. Die Bürger von Johanngeorgenstadt, die Verant-
wortungsträger in Kommune und Land und auch die Man-
datsträger in Bund und Land haben bisher viel getan, um
diese Last zu schultern. Erste Erfolge sind schon zu sehen:
Die Sanierung des Bahnhofs, der Straßen und der Häuser
kommt voran.

Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte
nun bewirken, dass sich Bund und Länder sozusagen
gemeinsam in das Rettungsfahrzeug begeben. Sie sollen
gemeinsam bei der Sanierung der Altstandorte der Uran-
bergbau-Gebiete in den benachteiligten Regionen einen
Großteil der unverschuldeten Lasten des schweren Ruck-
sackes der Vergangenheit tragen und erleichtern helfen.
Erste Gespräche hat es ja schon zwischen der Bun-
desregierung – wo ist deren Vertreter jetzt hin? –


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412124300
Er sitzt im Augen-
blick bei der SPD-Fraktion. Er hört aber ganz genau zu.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412124400
– und der sächsi-
schen Landesregierung gegeben. Dies sollte auch weiter-
hin über Parteigrenzen hinweg möglich sein. Ich fordere
auch die rot-grünen Koalitionsfraktionen auf: Machen Sie
bei unserem Antrag mit, unterstützen Sie uns, ich lade Sie
im Namen meiner Fraktion dazu ein.

Leider ist bei der Behandlung dieses Themas – wenn
ich es richtig sehe – Staatsminister Schwanitz wieder ein-
mal nicht da. Die Problematik betrifft auch die Region,
aus der er kommt.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das gefällt uns überhaupt nicht, wenn der zuständige Ostminister nicht anwesend ist!)


Es ist offensichtlich: Bei Wirtschaftsdebatten ist er
nicht da und auch bei dieser Debatte nicht. Dafür ist aber
Staatssekretär Mosdorf anwesend. Ich bin überzeugt da-
von, dass er, wenn er spricht, irgendwelche Maßnahme-
mittel ankündigen wird. Wenn das so ist, hat unser Antrag
etwas bewirkt und ich glaube, dann sind die Bürger in
meiner Heimat und ich sehr zufrieden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412124500
Jetzt hat der Kollege
Werner Labsch, SPD-Fraktion, das Wort.


Werner Labsch (SPD):
Rede ID: ID1412124600
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und liebe Kollegen! Die Sanierung der Bergbau-
folgeschäden in den Uranerzbergbauregionen sowie in
den mittel- und ostdeutschen Braunkohlerevieren war
nach der Wende erstens aus bergrechtlichen Gründen
zwingend erforderlich, zweitens aus ökologischen Grün-
den notwendig und drittens aus arbeitsmarktpolitischen
Gründen wegen des Niedergangs der Industrie in diesen
Regionen hilfreich. Diese Sanierung ist auch weiterhin er-
forderlich. So weit die Vorgeschichte dazu.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das hat ja niemand bestritten! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie bestätigen die Richtigkeit unserer Politik! Was wir gemacht haben, war richtig!)


– Der Politik insgesamt und der IG BCE ist hohe Aner-
kennung geschuldet, nicht aber in erster Linie Herrn Kohl.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben doch diese Mega-Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahme in Ostdeutschland eingeleitet.

Nun zu Ihrem Antrag: Ich erlaube mir, die Frage zu
stellen, was Sie mit diesem Antrag eigentlich erreichen
wollen. Herr Dehnel hat übrigens auch nichts dazu beige-
tragen, dass ich es begriffen hätte.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das hat aber andere Gründe! – Zuruf von der CDU/CSU: Sie können ihm ruhig zustimmen; er ist ein guter Antrag!)


Dass die Sanierung der großflächig radioaktiv ver-
seuchten Wismut-Altlasten eine der großen ökologi-
schen Herausforderungen für Deutschland war, das wis-
sen wir hier alle. Das müssen Sie uns nicht noch einmal
sagen. Dass sich die Sanierungstätigkeit jetzt bereits fast
zehn Jahre hinzieht und dabei große ökologische Erfolge
zu verzeichnen sind, das wissen wir auch alle. Dass dazu
eine Menge Geld notwendig war, wissen wir auch alle.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Sind Sie allwissend oder was?)


– Ich sprach von „wir“, nicht nur von mir.
Ich unterstelle vor allen Dingen Ihnen, Herr Dehnel

– die anderen Kollegen sind davon gar nicht so betrof-
fen –, dass Sie mit Ihrem Antrag bei den Menschen in der
Region, um die es geht, den Eindruck erwecken wollen,
dass Sie die rot-grüne Koalition vor sich her treiben müs-
sen, damit wir begreifen, was dort noch zu tun sei. Wir
wissen das aber.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dann tun Sie es doch! – Zuruf von der CDU/CSU: Dann stimmen Sie doch zu!)


Als Robin Hood waren Sie hier zu schwach, Herr Dehnel,
aber als Fensterredner haben Sie eine gute Figur abgege-
ben.


(Beifall bei der SPD)





Wolfgang Dehnel
11670


(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Damen und Herren, Sie wissen genau wie wir,
dass nach den erarbeiteten Sanierungskonzepten, die lau-
fend fortgeschrieben werden, gearbeitet wird und dass
dies bereits zu erheblichen Erfolgen geführt hat.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist die beste Begründung für unseren Antrag, die ich je gehört habe!)


In Kenntnis des bisherigen Sanierungsfortschritts so-
wie der Tatsache, dass die Sanierung noch nicht beendet
sein kann, hat sich das BMWi mit Nachsorge- und Lang-
zeitaspekten der Sanierung und mit der Zukunft des Un-
ternehmens Wismut GmbH befasst. Nachsorge- und
Langzeitaufgaben beinhalten sowohl die Wasserbehand-
lung, die Pflege und Bewirtschaftung von sanierten
Flächen, die Umweltüberwachung und die bergmänni-
sche Nachsorge als auch Regelungen zur Abfederung von
sozialen Lasten, Arbeitsplatzgarantien und die Bewertung
des Vermögens.

Die bisher vom Bund zuletzt im April dieses Jahres ge-
führten zwei Gespräche mit den Freistaaten Sachsen und
Thüringen fanden im Hinblick auf eine mögliche vertrag-
liche Regelung statt und werden Ende des Jahres fortge-
führt.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Waren Sie überhaupt schon bei der Wismut?)


Ein vom Bund in Auftrag gegebenes Gutachten ist den
Ländern Thüringen und Sachsen am 21.August zugestellt
worden. Eine Stellungnahme dieser Länder liegt bis heute
noch nicht vor. Ich stelle das nur fest und will das gar nicht
bewerten.

Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Wis-
mut GmbH als Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber für
diese Region – die Firma hat derzeit noch etwa 3 000Mit-
arbeiter – sieht der Bund für das Jahr 2010 die Übertra-
gung der Wismut GmbH an die Länder vor. Hier liegt die
Zukunft der Wismut GmbH und der Menschen in der Re-
gion – dazu hätten Sie einmal etwas sagen sollen –, und
zwar gerade wegen der Erfolge, wegen des angearbeite-
ten und erworbenen Know-hows.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Genau, und das muss vermarktet werden!)


– Genau das. Das habe ich vermisst; dazu haben Sie über-
haupt kein Wort gesagt.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das steht doch überhaupt nicht zur Debatte! Zum Antrag!)


Aus diesem Grunde verdienen die Wismut-Consulting
und die Menschen größte Aufmerksamkeit. Die werden
sie von uns auch erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil aus
diesem Know-how und der Erfahrenheit dieser Menschen
nunmehr Kapital und Arbeit erwachsen können.

Sie wissen, dass vor allen Dingen in den mittel- und
osteuropäischen Staaten die EU bereits Mittel für erste
Aufgaben zur Verfügung gestellt hat, in Bulgarien über
eine PHARE-Förderung und in Polen und Tschechien mit
der Inaussichtstellung von Aufträgen. Hier wird das Un-
ternehmen Wismut-Consult sein konzentriertes Wissen
und seine Erfahrung einbringen und damit wird für die

Region das ermöglicht, wofür jahrelang schließlich auch
Geld ausgegeben wurde.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Stimmen Sie zu, Herr Labsch, oder nicht?)


– Ich weiß ja gar nicht, wo ich zustimmen soll.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Weil Sie den Antrag noch gar nicht gelesen haben!)


Deutschland war weltweit in der Bergbautechnik und
-technologie Marktführer und hat jetzt die Chance, dies
auch in der Bergbausanierung zu sein.

Erlauben Sie noch ein paar Bemerkungen zum Son-
derfall Johanngeorgenstadt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Der redet wie ein Blinder von der Farbe!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412124700
Herr Kollege, Sie ha-
ben die Redezeit überschritten.


Werner Labsch (SPD):
Rede ID: ID1412124800
Einen kleinen Moment noch.
Dieser Ort ist einer der am schwersten betroffenen. Sie

haben Recht, Herr Dehnel.

(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das steht alles im Antrag!)

Mir sind aber verschiedene politische Initiativen bekannt.
Unter anderem gibt es noch einen Antrag Ihrer Fraktion
zur Beteiligung des Bundes an der schnellen Sanierung.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Aber das war rechtlich nicht möglich!)


Jedoch nicht die Kostenbeteiligung des Bundes ist hier die
entscheidende Frage. Fakt ist – das haben Sie vergessen
zu sagen –, dass die laufenden Genehmigungsverfahren
für diese Sanierungsmaßnahmen frühestens Ende 2001
einen Beginn der Maßnahmen zulassen werden. Also kön-
nen wir darüber weiter reden.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412124900
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Herr Labsch, stimmen Sie dem Antrag nun zu oder nicht? Das ist doch die Frage!)



Werner Labsch (SPD):
Rede ID: ID1412125000
Um Gottes willen, zu Ihrem
Antrag, zu dieser Fensterrede: Nein! Herr Dehnel, auch
Sie haben nichts dazu zu melden. Das, was Sie uns gesagt
haben, wissen wir alle seit Jahren.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch dem Antrag zu!)


– Sie haben keinen Antrag gestellt.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was? Über den diskutieren wir doch!)

Die Bürgermeister der Orte um Johanngeorgenstadt
haben ein Grobkonzept erarbeitet. Hätten Sie das




Werner Labsch

11671


(C)



(D)



(A)



(B)


vorgestellt, dann hätten wir vielleicht darüber abstimmen
können.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie dem Antrag doch zu!)


– Dem Antrag ist überhaupt nicht zuzustimmen. Das ist
heiße Luft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Dehnel [CDU/ CSU]: Das war eine echte Grubeneinfahrt!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412125100
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1412125200
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zum Bergbaukonzern Wis-
mut ist eine Menge gesagt worden. Ich habe nicht allzu
viel Zeit; deswegen will ich die ganzen Daten nicht
wiederholen.

Nur so viel: Der Bergbaukonzern schürfte Uran zur
Lieferung an die Sowjetunion und war zu DDR-Zeiten
das größte Unternehmen Sachsens. Nach der Wiederver-
einigung wurde der Uranbergbau eingestellt. Die Sowjet-
union übertrug ihren Anteil an der Wismut auf die Bun-
desrepublik Deutschland, die sich damit verpflichtete, für
die Sanierung der schwer geschädigten Umwelt nunmehr
allein zuständig aufzukommen. Für Altlasten, die seit
1963 entstanden sind, besteht deshalb auch eine Sanie-
rungsverpflichtung der Wismut GmbH als Unternehmen
des Bundes.

Jetzt ist das Problem aber, Herr Labsch: Offen ist, wer
für die Sanierung der Altlasten gerade steht, die vor 1963
entstanden sind, für die so genannten Wismut-Altstand-
orte. Um deren Sanierung geht es nämlich im vorlie-
genden Antrag. Deswegen ist es vollkommen berechtigt,
dass man darüber spricht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wie wir wissen, gibt es eine klare föderale Aufgaben-

teilung zwischen dem Bund und den Ländern. Der
grundsätzliche Befund ist deshalb klar: Trotz der berech-
tigten Interessen der Erzgebirgsregion – betroffen ist vor
allem die Gegend um Johanngeorgenstadt – handelt es
sich eindeutig um eine Aufgabe des Landes Sachsen.
Trotz dieser grundsätzlichen Feststellung steht die F.D.P.
der Überlegung, dass sich der Bund an der Beseitigung
der durch den Uranerzbergbau verursachten Entwick-
lungsnachteile der dortigen Region beteiligen soll, aufge-
schlossen gegenüber, und zwar deswegen, weil Land und
Kommune mit den finanziellen Lasten, die für die Sanie-
rung notwendig sind, überfordert wären.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dabei darf natürlich – darauf ist völlig zu Recht hinge-

wiesen worden – nicht vergessen werden, dass das bei der
Sanierung gewonnene Know-how ein Gewinn bringender
Exportartikel ist, von dem die Region auch weiterhin
profitiert. Uranerzbergbau wurde und wird in vielen Län-
dern der Welt betrieben. Insbesondere in Osteuropa und in
den GUS-Staaten wurden gleiche oder ähnliche Techno-

logien angewandt wie im östlichen Teil Deutschlands, mit
vergleichbaren Auswirkungen auf die Umwelt.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Auch in Kanada, in den USA, in Australien!)


Die Tochterfirma Wismut-Consult hat deswegen im
Auftrag der EU-Kommission und privater Investoren in
den letzten Jahren eine Reihe von Projekten bearbeitet,
bei denen es um die Ausarbeitung von Sanierungslösun-
gen für Uranerzbergbaustandorte in diesen Ländern sowie
um den Transfer von Know-how ging.

Maßgeblich für ein Engagement des Bundes sollte al-
lerdings die besondere Bedeutung einer Sanierung der
Altlasten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
sein. Der Grundsatz, dass die Erfüllung regionaler Aufga-
ben in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört, muss
trotzdem nicht aufgegeben werden. Es wäre beispiels-
weise überlegenswert, die Geschäftsanteile an der Wis-
mut GmbH auf Sachsen und gegebenenfalls auf weitere
Länder zu übertragen. Als Gegenleistung für eine solche
Verantwortungsübernahme durch die Länder müsste dann
jedoch auch eine angemessene Beteiligung des Bundes an
der Sanierung der Wismut-Altstandorte in ausreichender
finanzieller Dimension gewährleistet sein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dabei sollten wir – zuständig ist ja der Umweltminister;
er ist federführend – vor allen Dingen auch darauf achten,
dass das hohe Niveau der ökologischen Sanierungsziele
unbedingt aufrechterhalten wird.

Ich finde es bemerkenswert, dass kein Vertreter der
Bundesregierung zu diesem Tagesordnungspunkt redet.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Was? Von der redet keiner? Das finde ich stark! – Zuruf von der SPD: Die handelt ja! Deswegen muss sie nicht reden!)


– Wenn die Bundesregierung handeln würde, dann müsste
sie in der Tat hier nichts erklären.

Wie gesagt, ich finde es bemerkenswert, dass die Bun-
desregierung zu diesem Tagesordnungspunkt keine Stel-
lung bezieht. Ich fordere Sie auf, dem Bundestag Ihre
Überlegungen zu diesem Sachverhalt darzulegen und uns
auch mitzuteilen, ob es Schätzungen über die mit einer Sa-
nierung verbundenen Kosten gibt. Wir sollten alle mitei-
nander ein Gespräch führen und zu einer Unterstützung
der Region rund um Johanngeorgenstadt kommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Gute Rede! – Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das war Sachkunde!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412125300
Das Wort hat nun die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1412125400

Verehrte Präsidentin! Guten Abend, meine Damen und
Herren! Auch in Deutschland kann man die Folgen
von Uranerzbergbau – es sind auch die Folgen des




Werner Labsch
11672


(C)



(D)



(A)



(B)


Betreibens von Atomkraftwerken – besichtigen, nämlich
anhand der Hinterlassenschaft von 40 Jahren Uranberg-
bau in der Nähe von Gera. Es ist eine verwüstete, ver-
strahlte und zerstörte Landschaft mit 240 Meter tiefen
Löchern und mit 100 Meter hohen Abraumhalden.


(Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU]: Machen Sie es nicht schlimmer, als es ist!)


Nicht anders sieht es – auch das muss man in Erinne-
rung rufen – übrigens überall dort aus, wo auch heute
noch Uran abgebaut wird, um deutsche Atomkraftwerke
zu betreiben. Dabei ist nicht nur die regionale
Umweltzerstörung vor Ort problematisch; vielmehr ist es
auch problematisch, dass große Mengen strahlenden Ma-
terials an die Erdoberfläche geholt werden und dort im
Abraum liegen gelassen werden. In den Halden befinden
sich alle möglichen Schwermetalle, Gifte und strahlende
Stoffe wie Nickel, Arsen, Sulfide, Sulfate und auch Ra-
don.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Sie reden gerade so, als wären Sie noch nie in den Sanierungsgebieten gewesen! – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: Das waren Sie auch nicht!)


– Herr Kollege, wenn alles saniert wäre, dann müssten wir
hier nicht mehr darüber sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt nach wie vor eine Gefährdung vor Ort – des-

wegen ist die Sanierung notwendig –, und zwar nicht nur
für denjenigen, der sich auf den Halden aufhält; vielmehr
besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass kontaminier-
ter Schwebestaub durch Winde in die Umgebung geweht
wird und dass dadurch die Felder mit Schwermetallen ra-
dioaktiv belastet werden.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Aber deshalb decken wir ja die Halden ab! Soll ich Ihnen die Bilder zeigen?)


Deswegen ist eine Sanierung – völlig richtig – absolut
notwendig.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Die Sanierung ist in vollem Gange. Sie wurde unter an-
derem von der alten Bundesregierung in Gang gesetzt.
Zurzeit sind 19 Prozent der Flächen der Wismut GmbH
saniert. Allerdings ist die Sanierung des Untertagebaus
schon wesentlich vorangeschritten. Von den 13 Milliar-
den DM, die dafür bereitgestellt wurden, sind mittlerweile
6,6 Milliarden DM abgeflossen. Es sind also in der Tat er-
hebliche Fortschritte zu verzeichnen. Man muss auch sa-
gen, dass die Umweltbelastung und die Belastung der
Menschen in dieser Region aufgrund dieser Fortschritte
eindeutig zurückgegangen ist.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Jetzt kommt sie hier endlich zum Kern!)


– Warten Sie ab, ich komme schon dazu.
Offen ist aber noch die Frage, wie mit den Altstandor-

ten umgegangen werden muss, die überwiegend bereits
vor 1962 stillgelegt wurden. Die Zuständigkeit liegt bei
den Ländern und bei den Kommunen. Dadurch, dass die

Flächen bis heute nicht saniert worden sind, sind große
Probleme in der Regionalentwicklung entstanden; denn
aus den unsanierten Uranhalden kann man keine Ge-
werbe-, Naherholungs- oder Naturschutzgebiete machen.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: So ist es!)

Der Bund wird seinen Anteil zur Sanierung beitragen.

Wir stehen zu unserer Verantwortung in dieser Frage. Zur-
zeit finden zwar Gespräche mit den Ländern statt, aller-
dings ohne Ergebnis, weil die Länder Sachsen und
Thüringen teilweise eine unterschiedliche Position ein-
nehmen.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Dieses Ergebnis fordern wir mit dem Antrag ein!)


Ihr Antrag ist aber absolut scheinheilig. Ich möchte Sie
an dieser Stelle daran erinnern, dass die von Ihnen getra-
gene frühere Bundesregierung die Frage der Sanierungs-
pflicht der Wismut-Altstandorte – es geht um die Rolle,
die die Bundesregierung dabei gespielt hat – kategorisch
verneint hat. Der Bund wollte dafür keinen einzigen Pfen-
nig in die Hand nehmen.


(Bärbel Sothmann [CDU/CSU]: Sie wollen doch alles besser machen!)


Mit dem von Ihnen eingebrachten Antrag handeln Sie
nach dem guten alten Adenauer-Prinzip: Was kümmert
mich mein Geschwätz von gestern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Gegensatz zu Ihnen hat die Bundesregierung das
Problem begriffen. Jetzt laufen die Gespräche. Ich denke,
wir werden sehr bald eine Lösung finden, durch die ge-
meinsam mit den Ländern Sachsen und Thüringen die
Sanierung der Altstandorte in Angriff genommen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Anstatt hier so scheinheilige Anträge zu stellen – in
der Regierungsverantwortung haben Sie nichts dafür ge-
tan! –, sollten Sie sich als glühende Verfechter der Atom-
kraft für die Schäden verantwortlich fühlen, die beim Ab-
bau von Uran entstehen, das man benötigt, um in
Deutschland Atomkraftwerke zu betreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


In anderen Ländern, in denen man meistens weniger ver-
antwortlich als in Deutschland vorgeht, wird aufgrund der
Tatsache, dass wir Atomkraftwerke betreiben, Uran abge-
baut, mit all den Konsequenzen, die das für die Menschen
in diesen Ländern hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie weinen hier Krokodilstränen über den Uranerz-

bergbau in der ehemaligen DDR,

(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Ihr Kollege von der SPD hat gerade etwas anderes gesagt! Er hat gesagt, dass das Know-how in die ganze Welt getragen wird! Sehr widersprüchlich zwischen Rot und Grün!)





Michaele Hustedt

11673


(C)



(D)



(A)



(B)


um dessen Zustand Sie sich zu Ihrer Regierungszeit nicht
gekümmert haben. Wie gesagt, das nenne ich scheinhei-
lig.

Die Bundesregierung wird sich zusammen mit den
Ländern Sachsen und Thüringen – davon bin ich über-
zeugt – auch um dieses Problem verantwortungsbewusst
kümmern. Sie sollten lieber die Verantwortung für die-
jenigen Schäden übernehmen, die in anderen Ländern
durch das Betreiben von deutschen AKWs entstehen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ich bin von Ihrer Rede sehr enttäuscht!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412125500
Jetzt hat der Kollege
Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1412125600
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Namens der PDS-Fraktion möchte
ich den Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion
zu diesem Antrag aufrichtig gratulieren. Wir unterstützen
ihn vorbehaltlos.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Und das vom Kalibergbau!)


Sie wissen genau, warum: Vor vier Jahren und drei Mo-
naten haben wir einen gleichartigen Antrag eingebracht.
Damals haben Sie von einer Behandlung nichts wissen
wollen.


(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damals wäre es ein Leichtes gewesen, mit den CDU-re-
gierten Ländern Thüringen und Sachsen eine Einigung zu
erzielen. Was Sie jetzt machen, ist Augenwischerei und
Scheinheiligkeit. Das glaubt Ihnen kein Wähler in Ihrer
Region.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die von Ihnen damals getragene Regierung trägt die
Verantwortung dafür, dass die Wismut bis heute bei der
Sanierung kontaminierte Flächen von teilweise wenigen
Quadratkilometern ausklammern muss, weil sie 1962 den
Kommunen übereignet worden waren. Das ist keine Sa-
nierung. Sanieren können Sie nur großflächig und im
Ganzen; sonst sind zukünftige Katastrophen program-
miert.

Bei den hier in Rede stehenden, den Kommunen 1962
rückübertragenen und bis heute unsanierten Gebieten
handelt es sich insgesamt um eine Größenordnung von
etwa 1 400 Quadratkilometern. Schätzungen über den Be-
darf an finanziellen Mitteln für die Sanierung schwanken
zwischen 750 Millionen und 2 Milliarden DM. Die Kom-
munen als Eigentümer sind damit natürlich völlig über-
fordert. Allein in Thüringen haben die Kommunen nächs-
tes Jahr 215 Millionen DM weniger in den Kassen als

noch in diesem Jahr. Da der Bund sich nicht für zuständig
hält, passiert seit zehn Jahren so gut wie nichts, acht Jahre
davon unter der politischen Verantwortung des Antrag-
stellers, der CDU/CSU.


(Beifall bei der PDS)

Leider wird jede weitere Verzögerung aber nicht nur

teuer, was schon schlimm genug wäre. Sie führt gleich-
zeitig, wie schon in den vergangenen Jahren, in den be-
troffenen Gegenden zu einem weiteren Abbau Ost.
Natürlich siedeln sich da keine Firmen an. Vorhandene
Firmen verschwinden. Die Bevölkerung zieht weg. Die
Sanierung könnte diesen katastrophalen Prozess mit ei-
nem Schlag umkehren. Man würde eine größere Zahl von
zusätzlichen Arbeitsplätzen schaffen und die Gebiete für
Unternehmen und Bevölkerung wieder attraktiv machen.

Nach Lage der Dinge sollte man eigentlich opti-
mistisch sein, dass jetzt von der Regierung die richtige
Richtung eingeschlagen wird. Immerhin haben SPD und
Grüne in vergangenen Oppositionszeiten immer gefor-
dert, was die CDU/CSU als Regierungspartei stets ver-
hindert,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


aber nun plötzlich eingeklagt hat: nämlich den Sanie-
rungsauftrag der Wismut GmbH auf die den Kommunen
zurückgegebenen Flächen auszuweiten. Leider ist es je-
doch im Bundestag nicht nur in dieser Frage, sondern
recht oft üblich, das, was man als Opposition fordert, in
der Regierungsverantwortung schnellstens zu vergessen.
So werden ja auch die allgemeinen Mittel für die Wismut-
Sanierung von der Regierung Jahr für Jahr gekürzt, ob-
wohl die SPD als Oppositionspartei zu Recht ständig die
Erhöhung dieser Mittel gefordert hat.

Deshalb appelliere ich an Sie: Handeln Sie heute. Fin-
den Sie eine Finanzierungsregelung für die Sanierung der
alten Wismut-Flächen in Sachsen und Thüringen. Werten
Sie damit die mit 13 Milliarden DM finanzierte Wismut-
Sanierung zu einer tatsächlichen Rekultivierung der gan-
zen Region auf. Warten Sie nicht, bis Schäden eingetreten
sind, die später überhaupt nicht mehr repariert werden
können.


(Beifall bei der PDS)

Machen Sie es nicht wie bei den Rentenregelungen für

ostdeutsche Bergleute, auch für diejenigen der Wismut.
Viele von ihnen sind heute stark benachteiligt, weil der
Bundestag den Ausschluss solcher Benachteiligungen
nicht ernst genug genommen hat. Ich erwähne das in die-
sem Zusammenhang nur, weil ich die Hoffnung nicht auf-
geben werde, dass auch in diesem Punkt noch eine
nachträgliche Gerechtigkeit erreicht werden kann.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412125700
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1412125800
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin. – Für die Sanierung der alten Wismut-
Flächen gilt immer noch, was schon 1990 galt: Zum




Michaele Hustedt
11674


(C)



(D)



(A)



(B)


sofortigen Handeln in dieser Sache gibt es keine vernünf-
tige und verantwortbare Alternative. Die CDU/CSU hat es
nun endlich begriffen. Jetzt hoffen wir auf die Koalition.


(Beifall bei der PDS – Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Ach du liebe Zeit! Sie waren wohl auch noch nicht bei Wismut!)


– Ich war, behaupte ich, mehr bei der Wismut als Sie, Herr
Kollege Dehnel. Ich würde Ihnen raten: Kommen Sie ein-
mal in meine Region, dann sehen Sie, was Sie verbrochen
haben. Die Schäden sollten Sie einmal reparieren!

Vielen Dank.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was denken Sie, was SED und PDS verbrochen haben!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412125900
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Jelena Hoffmann.


Jelena Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1412126000
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zur Beseitigung der Uranerz-
bergbau-Schäden gelesen habe, war mein erster Gedanke:
Eigentlich haben wir es nicht nötig, uns von der Opposi-
tion belehren zu lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Oder sind Sie, Herr Dehnel, erst jetzt aufgewacht? Warum
haben Sie Ihre Forderungen nicht an Ihre damalige Re-
gierung gestellt?


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Haben wir doch gemacht! 13 Milliarden haben wir investiert!)


Da haben Sie ein Stückchen von der Entwicklung in
Ihrem eigenen Wahlkreis verschlafen und verpasst.

Zuerst kann ich unsere Einigkeit darin feststellen, dass
es einen Sanierungsbedarf der Altstandorte des Uran-
bergbaus gibt. Das sind die Flächen, die vor 1962 stillge-
legt worden sind und nicht vom Wismut-Vertrag 1991 er-
fasst sind. Hier besteht natürlich Handlungsbedarf.
Darüber brauchen wir auch nicht zu streiten.

Zweitens dürfte auch klar sein, dass die Wismut GmbH
in Chemnitz am besten geeignet ist, solche Aufgaben zu
übernehmen. Durch die langjährige Erfahrung besitzt sie
heute ein hervorragendes Know-how auf Weltniveau und
ist darüber hinaus eine wichtige Stütze der Region. Das
wissen Sie auch.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das haben wir auch schon gesagt!)


Aufträge im Wert von über 250 Millionen DM werden je-
des Jahr von der Wismut GmbH vergeben. Diese bleiben
zum größten Teil in der Region. Damit ist die Wismut
auch ein ganz wichtiger Pfeiler auf dem Arbeitsmarkt.
Mein Kollege Labsch hat schon darauf hingewiesen, dass
über 3 000 Mitarbeiter bei der Wismut unter Vertrag sind.
Dazu kommen über 300 Azubis. Gerade in diesem Jahr
sind noch 100 neue Azubis eingestellt worden.

Über die Problemlage und den Handlungsbedarf sind
wir uns also einig.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das ist ja schon viel wert!)


Die Streitfrage ist allein, wer das alles finanzieren soll.
Die Länder sagen, gutachterlich bestätigt: Dafür ist ganz
klar der Bund zuständig. – Der Bund sagt, auch gutach-
terlich bestätigt: Das ist ganz klar Sache der Länder.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Der Steuerzahler bezahlt es, Jelena!)


Was haben Sie, meine lieben Kollegen von der Opposi-
tion, in Ihren langen Regierungsjahren zur Lösung dieser
Frage beigetragen?


(Susanne Kastner [SPD]: Gar nichts! – Zuruf von der PDS: Geschlafen! – Gegenruf des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir haben über 12 Millionen DM investiert!)


Sie haben das Problem meiner Meinung nach schlicht und
einfach ausgesessen und sich mit einem der größten In-
vestitionsrisiken der Region abgefunden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Dehnel [CDU/ CSU]: Das ist doch nicht wahr! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Kein Wort davon ist wahr, was Sie sagen!)


Zahlreiche Petitionen und Schreiben an die damalige
Regierung haben Sie nicht bewogen, sich einmal mit dem
Problem der Menschen, die dort arbeiten, leben und woh-
nen bleiben wollen, auseinander zu setzen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Kein Wort ist wahr von dem, was du erzählst! Das weißt du ganz genau! – Walter Hirche [F.D.P.]: Solche falschen Behauptungen haben Sie wirklich nicht nötig!)


Unsere Bundesregierung hat dagegen diese Frage aufge-
griffen. Wir führen bereits Gespräche mit den Ländern. Es
ist gut, dass Sie endlich über diese Fragen diskutieren
wollen, aber wir handeln doch schon, meine Damen und
Herren.

Sie wissen doch, dass die eigentlichen Probleme ganz
woanders liegen. Ich wundere mich, dass ausgerechnet
Sie von der CDU Ihre Finger in diese Wunde legen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Berechtigt!)

Der überwiegende Teil der Altstandorte liegt in Sachsen,
einige auch in Thüringen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412126100
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?


Jelena Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1412126200
Ja.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1412126300
Frau Kollegin
Hoffmann, ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchungs-
kommission eines Dresdner Institutes mehrere Jahre vor




Gerhard Jüttemann

11675


(C)



(D)



(A)



(B)


Ort gearbeitet hat, um die Altlasten an diesen Altstandor-
ten zu untersuchen, und erst jetzt im Frühjahr einen Be-
richt vorgelegt hat, auf dessen Basis ich diesen Antrag er-
arbeitet habe, den ich Ihnen gemeinsam mit meiner
Fraktion vorgelegt habe, damit endlich etwas getan wer-
den kann? Vorher wäre das gar nicht möglich gewesen, da
die Schäden nicht wissenschaftlich belegt waren.


Jelena Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1412126400
Ja, das ist mir
bekannt. Ich habe mich sogar mit den Resultaten dieses
Berichtes auseinander gesetzt. Die Frage ist, warum das
jetzt erst passiert. Über die Gebiete in Ronneburg haben
wir schon vor vier bis fünf Jahren diskutiert; dort ist die
eine Seite des Baches Sanierungsgebiet, die andere Seite
des Baches aber nicht, da diese Fläche vor 1962 stillgelegt
wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt möchte ich fortfahren: Schlema und Johannge-
orgenstadt sind zwei Orte in Sachsen, die nicht weit
auseinander liegen. Schlema, von der Wismut saniert, ist
wieder zu einem schönem Kur- und Badeort geworden.
Dagegen ist aber der Sonderfall Johanngeorgenstadt nach
wie vor ungelöst. Hier gerät die Regierung in Sachsen,
wie ich meine, zu Recht unter Druck, denn das Ver-
ständnis der ansässigen Bevölkerung dafür, dass bis jetzt
nichts gemacht worden ist, Investoren die Region verlas-
sen und junge Menschen weggehen, ist doch sehr strapa-
ziert. Unsere Regierung war bereit, Johanngeorgenstadt
aus den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern he-
rauszunehmen und als Sonderfall zu betrachten. Sachsen
hat das aber abgelehnt.

Noch mehr: Die letzte Runde der Bund-Länder-Ver-
handlungen hat Sachsen abgesagt. Wissen Sie, warum? –
Weil der Freistaat Sachsen seine Hausaufgaben nicht er-
ledigt hatte. Es wurden bis jetzt keine vollständige Auf-
listung der Sanierungsgebiete auf den Tisch gelegt und
noch nicht die anfallenden Kosten ermittelt.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr! – Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Woher haben Sie diese Informationen?)


– Ich habe heute mit Sachsen telefoniert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich kann ja verstehen, dass die CDU-Regierung in Sach-
sen den finanziellen Bedarf genau abschätzen muss, aber
damit beschäftigt sie sich jetzt nach Ansicht der Bevölke-
rung in diesem Gebiete schon zu lange. Ich vermute fast,
Ihren Parteifreunden in Sachsen, die nicht auf bequemen
Oppositionsbänken wie Sie hier sitzen, brennt die ganze
Sache nicht so recht unter den Nägeln, sonst würden sie
doch jetzt handeln.

Liebe Kollegen von der Opposition, ich kann Ihnen nur
empfehlen: Verschwenden Sie Ihre Energie nicht damit,
unnötige Anträge zu schreiben. Machen Sie besser bei
Ihren Parteileuten in Sachsen und vielleicht auch in

Thüringen Druck, damit wir in der Sache endlich voran-
kommen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1412126500
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3373 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-
führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit

(16. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die

Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur 22. Änderung der
Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit-
gliedstaaten für Beschränkungen des Inver-
kehrsbringens und der Verwendung gewisser

(Phthalate)

88/378/EWG zur Angleichung der Rechtsvor-
schriften der Mitgliedstaaten über die Sicher-
heit von Spielzeug
– Drucksachen 14/2747 Nr. 2.32, 14/3710 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Dr. Paul Laufs
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Soweit ich weiß, wurden alle Reden zu Protokoll ge-
geben.1) Ich eröffne die Aussprache und schließe sie, da
keiner reden möchte, wieder.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/3710. Der Ausschuss empfiehlt die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für die Aus-
schussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen?– Bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ist die
Beschlussempfehlung angenommen worden.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika

Balt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten
von Selbstständigen und deren mithelfenden




Wolfgang Dehnel
11676


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

Familienangehörigen in Land- und Forstwirt-
schaft und im Handwerk der DDR
– Drucksache 14/4038 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Balt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Anerkennung der Rentenversicherungszeiten
von Blinden- und Sonderpflegegeldempfänge-
rinnen und Sonderpflegegeldempfängern der
DDR
– Drucksache 14/4041 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses

(2. Ausschuss)

Sammelübersicht 70 zur Petition

(Gesetzliche Regelungen zur Berücksichtigung niedriger freiwilliger Beiträge in der ehemaligen DDR)

– Drucksache 14/1563 –

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor. Es ist eine Aussprache von einer halben Stunde ver-
einbart worden. Soweit ich weiß, wurden die Reden zu
Protokoll gegeben.2) Sprechen möchte jetzt noch die Ver-
treterin der PDS. Ich bitte zu beachten, dass ein Vertreter
des zuständigen Bundesministeriums zu dieser Ausspra-
che anwesend ist.

Ich erteile der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion,
das Wort.


Monika Balt (PDS):
Rede ID: ID1412126600
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit der Übernahme der Re-
gierungsverantwortung erklärte der Bundeskanzler den
Aufbau Ost zur Chefsache. Hunderttausende Rentnerin-
nen und Rentner in den neuen Bundesländern verbanden
damit die Hoffnung, dass Überführungslücken in der ge-
setzlichen Rentenversicherung nun endlich geschlossen
würden. Wir meinen, zehn Jahre nach der deutschen Ein-
heit ist das auch höchste Zeit.


(Beifall bei der PDS)

Was ist der aktuelle Stand? Ein hartnäckiger Irrtum

zum Beispiel ist, dass alle Ansprüche und Anwart-
schaften aus DDR-Zeiten in das Rentenrecht der BRD
überführt wurden. „Überführung“ bedeutet eben nicht,
dass alle in der DDR rechtmäßig erworbenen Renten- und
Versorgungsansprüche anerkannt wurden und sich jetzt
im Rentenrecht der BRD wiederfinden. „Überführung“
bedeutet vielmehr, dass die in der DDR erworbenen An-

sprüche und Anwartschaften auf eine Rente oder eine Ver-
sorgung beseitigt und durch Ansprüche und Anwartschaf-
ten nach dem SGB VI ersetzt wurden.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Abgesehen vom befristeten Weitergelten des DDR-Ren-

tenrechts bis zum 31. Dezember 1996 für den Fall, dass
die DDR-Rente im Vergleich zur SGB-VI-Rente die güns-
tigere Leistung war, hat das Rentenrecht der DDR nur
noch bis zum 31. Dezember 1991 gegolten. Mit Wirkung
vom 1. Januar 1992 trat das SGB VI in Kraft. Das
DDR-Recht wurde somit durch das SGBVI ersetzt. Über-
führt im Sinne von übernommen oder beibehalten wurden
nur solche DDR-Ansprüche und -Anwartschaften, die
auch in der BRD existierten. Dagegen wurden alle
DDR-Ansprüche und -Anwartschaften nicht berücksich-
tigt, die es in der BRD für gleiche oder für vergleichbare
Sachverhalte nicht gab.

Wenn wir von Überführungslücken reden, sind wir uns
der Tatsache bewusst, dass es sich aus DDR-Sicht und erst
recht aus Sicht der Betroffenen tatsächlich um Lücken
handelt, weil rechtmäßig in der DDR erworbene An-
sprüche abgeschafft worden sind und sich im BRD-Recht
nicht mehr wiederfinden.


(Gerhard Jüttemann [PDS]: Richtig! Das ist genau der Punkt!)


Aus BRD-Sicht sind das jedoch keine Lücken. Hier
herrscht bis zum Bundessozialgericht der Gedanke, dass
die BRD über ein modernes und bewährtes Rentenrecht
verfügt, das seit dem 1. Januar 1992 auch im Osten
Deutschlands gilt und dort zum Segen für die Rentnerin-
nen und Rentner das DDR-Recht abgelöst hat. Aber er-
klären Sie mir einmal, wie eine Rentnerin oder ein Rent-
ner in der DDR Ansprüche erwerben konnte, die heute
nach BRD-Rentenrecht Bestand hätten.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das könnte ich jetzt nicht erklären! Können Sie nicht etwas Leichteres fragen?)


– Ich finde das gar nicht lächerlich, weil ziemlich viele
Menschen in unserem Land betroffen sind.


(Beifall bei der PDS)

Unsere Anträge behandeln Überführungslücken, die

für die Betroffenen außerordentliche Härten bedeuten.
Das sind vor allem Rentenansprüche für Blinde und Son-
derpflegegeldempfänger, die nach DDR-Recht trotz Be-
rufstätigkeit nicht beitragspflichtig waren, aber als versi-
cherungspflichtig galten. Dabei wurden die Betriebs-
anteile regelmäßig abgeführt. Darunter fallen freiwillige
Beiträge zur Sozialversicherung, die ab 1. Januar 1962
in Höhe von 3 bis 12 Mark geleistet wurden, sowie
Versicherungszeiten mithelfender Familienangehöriger
– meistens waren es die Ehefrauen – von Landwirten,
Handwerkern und anderen Gewerbetreibenden.

Wir wissen, dass der betroffene Personenkreis noch
viel größer ist. So gilt beispielsweise Gleiches für die
Personen, die Blinde und Menschen mit Behinderungen




Vizepräsidentin Anke Fuchs

11677


(C)



(D)



(A)



(B)


2) Anlage 3

gepflegt haben. Um zu verdeutlichen, über was wir hier
reden, möchte ich aus zwei Briefen zitieren. Eine Frau aus
Rostock schreibt mir:

In meiner Rentenangelegenheit fühle ich mich unge-
recht behandelt. Die Arbeit bei meinem Vater in der
Landwirtschaft von 1960 bis 1968 wird nicht aner-
kannt. Meine Mutter starb 1960. ... Ich habe meinen
Beruf aufgegeben, um meinem Vater zu helfen.
Heute bekomme ich eine Rente von 429 DM.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das war doch Ihre Partei, die die Rentenversicherung in der DDR durchgebracht hat!)


– Herr Kollege, hören Sie zu: 429 DM. –
Ich kann nicht verstehen, dass das Gesetz bei mir
keine Anwendung findet. Ich habe von 1960 bis 1996
freiwillige Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.Um
beim Bundessozialgericht zu klagen, fehlt mir das
Geld. Was soll ich tun?

Das sind Schicksale von Betroffenen.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Einen Schrotthaufen hinterlassen und sich dann noch aufregen!)


In Bezug auf die Bezieher von Blinden- und Sonder-
pflegegeld schreibt eine Frau aus Berlin:

So muss ein blinder Physiotherapeut, der in Kurein-
richtungen im Schichtbetrieb gearbeitet hat, mit einer
Rente um die 1 000 Mark leben. Aber leider spielen
diese Menschen verachtenden Zustände keine Rolle
in der gegenwärtigen Diskussion um die Rentenre-
form.

Nur die PDS-Fraktion im Bundestag hat einen Antrag ge-
stellt, in dem sie fordert, diese Zeiten der Berufstätigkeit
in das Sozialgesetzbuch VI aufzunehmen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Es wird höchste Zeit!)

Eigentlich müsste Ihnen doch an dieser Stelle das Wort

von der sozialen Gerechtigkeit im Halse stecken bleiben,
wenn Sie so gravierende Ungerechtigkeiten nicht endlich
beseitigen.

Danke.

(Beifall bei der PDS – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: So etwas Scheinheiliges! – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Hinterlassenschaft des Arbeiterparadieses!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1412126700
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird unter Tagesordnungspunkt
13 a und 13 b die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4038 und 14/4041 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da
das Haus damit einverstanden ist, sind die Überweisungen
so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt
13 c. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der

PDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer
stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4039? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.

Wer stimmt für Sammelübersicht 70 in der Ausschuss-
fassung auf Drucksache 14/1563? – Wer stimmt dagegen?
– Enthaltungen? – Sammelübersicht 70 ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtli-
cher Standards und Förderung arbeitsmarktpo-
litischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz
– Drucksache 14/4036 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

Die vorgesehenen Reden der Kollegen Klaus Wiesehügel,
Hartmut Schauerte, Ekin Deligöz, Dr. Heinrich L. Kolb,
Ursula Lötzer und des Parlamentarischen Staatssekretärs
Siegmar Mosdorf werden zu Protokoll genommen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4036 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-
führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. – Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigen-
heimzulagengesetzes und anderer Gesetze
– Drucksache 14/4130 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard
Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagen-
gesetzes
– Drucksache 14/4131 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsaus-
schuss

Auch die Reden hierzu werden zu Protokoll genom-
men, und zwar die Reden der Kollegen Horst Schild,




Monika Balt
11678


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4

Dr. Michael Meister, Frau Eichstädt-Bohlig, Michael
Goldmann und Christine Ostrowski sowie Wolfgang
Spanier.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/4130 und 14/4131 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich möchte mich bei den Parlamentarischen Geschäfts-
führerinnen und Geschäftsführern, sowie bei denjenigen,
die ihre Rede zu Protokoll gegeben haben, auch im
Namen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes-

tagsverwaltung für die zügige Beratung heute Abend – es
gab ja ursprünglich eine andere Perspektive – herzlich be-
danken.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges ein auf morgen, Freitag, den 29. September 2000, um
9 Uhr.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.