Gesamtes Protokol
Guten Morgen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, Herr Platzmeister Glomb,
der der Verwaltung des Deutschen Bundestages seit 1974
angehört, hat den Präsidenten bzw. die Präsidentin heute
zum letzten Mal zur Eröffnung der Sitzung an seinen bzw.
ihren Platz begleitet. Wir danken ihm alle sehr herzlich für
seine treue Mitarbeit und wünschen ihm alles Gute.
Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dr. Klaus
Grehn, der am 26. September seinen 60. Geburtstag fei-
erte, nachträglich sehr herzlich. Ich bitte, es ihm auszu-
richten.
Gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
werden vom Deutschen Bundestag fünf Mitglieder in das
Kuratorium der Stiftung entsandt. Hierfür werden vorge-
schlagen: von der Fraktion der SPD der Kollege Bernd
Reuter als ordentliches und der Kollege Dietmar Nietan
als stellvertretendes Mitglied, von der Fraktion der
CDU/CSU der Kollege Wolfgang Bosbach als ordentli-
ches und der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl als stellvertre-
tendes Mitglied, von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN der Kollege Volker Beck als ordentli-
ches und Herr Günter Saathoff als stellvertretendes Mit-
glied, von der Fraktion der F.D.P. der Kollege Dr. Max
Stadler als ordentliches und der Kollege Dr. Günter
Rexrodt als stellvertretendes Mitglied und von der Frak-
tion der PDS die Kollegin Ulla Jelpke als ordentliches
und der Kollege Dr. Heinrich Fink als stellvertretendes
Mitglied. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann sind die genannte Kollegin und die
genannten Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der
Stiftung entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte liegen Ihnen in
einer Zusatzpunktliste vor:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Lage
des Transportgewerbes
a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Einsetzung
eines Untersuchungsausschusses – Drucksache 14/3822 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS: Bürgerbahn statt
Börsenbahn – Drucksache 14/3784 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Tourismus
3. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– zu dem Antrag der Abgeordneten Georg Brunnhuber, DirkFischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Transrapid-projekt zügig realisieren– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, EvaBulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDS: Gesetzliche Verpflichtungzum Bau der Transrapidstrecke Berlin–Hamburg auf-heben– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
, Rudolf Seiters, Dirk Fischer (Hamburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Ausbau und Modernisierung der Transrapidversuchs-anlage Emsland und Fortsetzung der Planfeststellungs-verfahren für die Magnetschwebebahn-Referenz-strecke Hamburg–Berlin – Drucksachen 14/2359,14/2524, 14/3183, 14/4135 –Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Mertens4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung zur Fortgeltung des Laden-schlussgesetzes nach den Sanktionen gegen eine thüringi-sche Friseurin5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler,Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs11541
121. SitzungBerlin, Donnerstag, den 28. September 2000Beginn: 9.00 Uhreines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versor-
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
FinanzausschussVerteidigungsausschussHaushaltsausschuss6. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und andererGesetze – Drucksache 14/4130 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ing. DietmarKansy, Dirk Fischer , Eduard Oswald, weiteren Ab-geordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagen-gesetzes – Drucksache 14/4131 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss8. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jah-resbericht 2000 zum Stand der deutschen Einheit – Druck-sache 14/4129 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
InnenausschussSportausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und Medien9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Kaspereit,Dr. Mathias Schubert, Christel Deichmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten WernerSchulz , Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zehn Jahre Ein-heit Deutschlands – Drucksache 14/4132 –10. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes über den Verkauf vonMauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Eigentü-mer und zur Änderung anderer Vorschriften – Drucksache14/4140 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss11. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi undder Fraktion der PDS: Rückgabe von Grundstücken und Ge-bäuden im ehemaligen Grenzgebiet zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Deutschen DemokratischenRepublik – Drucksache 14/4149 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschuss12. Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Rauen, GerdaHasselfeldt, Dietrich Austermann, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Senkung der Mineralölsteuer und zur Abschaffungder Stromsteuer – Drucksa-che 14/4097 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
überwiesen:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOBei dem in der 115. Sitzung des Deutschen Bundesta-ges überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf soll derAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ge-strichen werden.Gesetzentwurf von den Abgeordneten AlfredHartenbach, Hermann Bachmeier, BernhardBrinkmann , weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der SPD sowie den AbgeordnetenVolker Beck , Marieluise Beck (Bremen),Claudia Roth , weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzur Beendigung der Diskriminierung gleich-geschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspart-
überwiesen:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnungAuswärtiger AusschussInnenausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussDa Sie alle gut zugehört haben, wissen Sie nun ganzgenau, wie diese Woche abläuft. Sind Sie mit dem Ver-fahren einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist es so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis c auf:a) Vereinbarte DebatteFür Toleranz und Menschlichkeit – gegenFremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ge-walt in Deutschlandb) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUNachhaltige Bekämpfung von Extremismus,Gewalt und Fremdenfeindlichkeit– Drucksache 14/4067 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Petra Pau, Sabine Jünger, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDSHandeln gegen Rassismus, Antisemitismus,Fremdenfeindlichkeit und daraus resultieren-der Gewalt– Drucksache 14/4145 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Auch damitsind Sie einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat für die SPD-Fraktion der Kollege Wolfgang Thierse das Wort.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Vizepräsidentin Anke Fuchs11543
über ein Thema, das uns alle beschäftigt, bedrückt, he-rausfordert, und zugleich über ein Thema, bei dem die Ei-nigkeit der Demokraten, unsere grundlegende Überein-stimmung sich zeigen wird und sich bewähren muss.Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochenund Monaten, in denen die deutsche Öffentlichkeit aufge-regt, empört, entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeind-lichkeit, Rassismus und extremistische Gewalt diskutierthat, haben wir etwas gelernt. Haben wir wirklich etwasgelernt? Oder war das Ganze nur ein mediales Sommer-theater? Ich hoffe es nicht. Denn neu ist nichts.93 Tote, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt hat esin den letzten zehn Jahren in Deutschland gegeben. Dashaben zwei Zeitungen dokumentiert. Über 1 000 Schän-dungen jüdischer Friedhöfe in den letzten Jahrzehnten –das ist die grausige Bilanz eines gerade erschienenen Bu-ches. Die Namen Rostock und Mölln, Eberswalde undSolingen, Hoyerswerda, Guben und Hünxe – die Na-mensliste ließe sich fortsetzen – sind verbunden mit derErinnerung an schreckliche Gewalttaten gegen Bürgerausländischer Herkunft.Ich sage nicht, dass Deutschland ein rechtsextremisti-sches Land ist, dass die Deutschen ein ausländerfeindli-ches Volk sind. Das wäre nicht nur schlicht falsch,
sondern eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit derDeutschen.
Ich will auch betonen, damit wir uns darüber nicht zer-streiten, dass Intoleranz und Gewalt in jedem Falle unsereÄchtung und unseren Widerstand finden müssen, egal, obsie rechts- oder linksextremistisch motiviert, begründet,drapiert sind. Aber in dieser Zeit haben wir eine Gefahrvor allem von Rechtsaußen und der haben wir uns zu stel-len – jetzt. Sie ist die Herausforderung unserer demokra-tischen Gemeinschaft.
Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass sich alle in die-sem Hause in der Abwehr dieser Gefährdung unseresfriedlichen Zusammenlebens, dieses Angriffs auf dieWertegrundlagen unserer Demokratie einig sind. Dasheißt aber auch, zu begreifen, dass es nicht mehr um einso genanntes Randphänomen geht, sondern dass die Ge-fährdung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein-reicht.Rechtsextremismus ist eben nicht mehr ein parteipo-litisch isolierbares Phänomen. Man konnte in den vergan-genen Jahren in der Bundesrepublik, im Westen immerglauben, dass es ein parteipolitisch isolierbares Phänomenist. Die NPD wurde in Landtage gewählt; nach vier Jah-ren fiel sie wieder heraus, weil die Bürger von dem Ver-halten der Abgeordneten enttäuscht waren. Man konnteimmer glauben, das sind die alten Herren, die ein paarjunge Leute um sich versammeln, ein isolierbares Phäno-men.Nein, jetzt müssen wir begreifen: Es hat sich etwaszum Schlimmen geändert. Ausländerfeindlichkeit ist ebenbei nicht wenigen Menschen ein fast selbstverständlicherTeil des Alltagsbewusstseins geworden. Der Rechtsextre-mismus ist geradezu ein kulturelles Phänomen geworden.Er bedient sich unterschiedlicher kultureller Instrumente,um sich zu vermitteln. Er ist weniger parteipolitisch fass-bar.Ich war in den vergangenen anderthalb Jahren viel un-terwegs, besonders in Orten rechtsextremistischer Ge-walttaten, in so genannten rechten Hochburgen. Ich habemir vorher nicht vorstellen können, was man da erlebenkann, das Ausmaß von Angst, das sich bereits verbreitethat. Es war mir unvorstellbar, dass junge Leute nicht mehrwagen, in bestimmte Teile einer Stadt zu gehen, einen Ju-gendclub zu besuchen. Die Gespräche mit Opfern von Ge-walt, mit von ihrer Angst gelähmten Jugendlichen habenmich nicht mehr losgelassen. Es gibt wirklich, was dieRechtsextremen großtönend „nationale befreite Zonen“nennen. Wir können es anders nennen: Stadtquartiere undGegenden, in denen die rechten Schläger und die rechtenIdeologen dominieren und die anderen nur unter Angst le-ben und existieren können.Aber ich habe bei diesen Besuchen auch etwas andereserlebt, nämlich alltäglichen demokratischen Anstand,vielfältige Initiativen von jungen Leuten, von Lehrern,von Kommunalpolitikern, die sich dagegen wehren, Akti-vitäten an Schulen. Deswegen sage ich immer: Wir müs-sen die falsche Faszination durch Gewalttäter und Ge-walttaten überwinden und uns wieder faszinieren lassendurch den normalen alltäglichen Anstand unserer Bürgerund gerade auch unserer jungen Leute.
Ich habe aber ebenso erlebt – auch das gehört zu mei-nen Erfahrungen –, dass es durchaus Verharmlosung, Be-schönigung gibt aus Angst um die Beschädigung des Ima-ges einer Stadt. Ich verstehe das. Man darf die Namen, dieich genannt habe, nicht auf diese Gewalttaten reduzieren.Ich verstehe das. Trotzdem ist das eine Haltung, die zuüberwinden ist. Ich sage ausdrücklich: Es handelt sichhier nicht vor allem und nicht nur um ein ostdeutschesProblem – damit wir uns nicht missverstehen.Ich sage ferner: Mir sind bei diesen Besuchen und denErfahrungen, die ich gemacht habe, alle einfachen, allemonokausalen Erklärungen für den Rechtsextremismusund für Gewalt, etwa nach dem Muster, Arbeitslosigkeitund Ausbildungsplatznot bewirke rechtsextreme Ein-stellungen, vergangen. Wir wissen doch, dass viele vonden rechtsextremen Ideologen und Schlägern nicht Ar-beitslose sind und nicht ohne Ausbildung sind.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Wolfgang Thierse11544
Dies gilt auch für Behauptungen, die deutsche Einheit, dieDelegitimierung der DDR und ihres Antifaschismus seienschuld. So etwas habe ich eher aus Ihren Reihen gehört.Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen.
Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen: Reden wir vonÜberforderungsängsten und von Vereinfachungsbedürf-nissen. Das bekommen wir doch mit. Wir sind inmitten ei-nes rasanten Wandels, einer beschleunigten Entwicklung:ökonomisch, technologisch, in der Forschung, im sozia-len Leben. Wir erleben die radikale Veränderung der Ar-beitswelt. Dieser rasante Wandel erzeugt Verunsicherungund massive Ängste bei denjenigen, die nicht sicher sind,nicht sicher sein können, dass sie erfolgreich darin seinkönnen.In Ostdeutschland ist das besonders deutlich zu se-hen. Die Radikalität des Umbruchs in allen Lebensberei-chen hat jeden betroffen. Die Komplexität, das scheinbarÜberwältigende der Probleme erzeugt ein menschlich ge-wiss sehr verständliches Vereinfachungsbedürfnis, dasBedürfnis nach einfachen Antworten auf komplexe, über-wältigende Fragen. Diese Bedürfnisse und diese flottie-renden Ängste machen Menschen empfänglich für dieBotschaften radikaler, bösartiger Vereinfachungen.Reden wir von der Ethnisierung sozialer Konflikte.Unsere Gesellschaft hat gewiss Integrationsprobleme. Siesind sehr unterschiedlicher Art. Die Ängste aber vor Des-integration, davor, den Anschluss zu verlieren, nicht mit-halten zu können, sind groß und ebenso das Bedürfnisnach Bindung, nach Beheimatung, nach sozialer Zu-gehörigkeit, nach Gruppenzugehörigkeit. Auch daranknüpfen die rechtsextremen Ideologen an. Das Kernstückihres Angebots ist die Ideologie der Ungleichwertigkeit.Raul Hilberg, der Historiker des Holocaust, hat einmalgesagt: „Die Logik des völkermordenden Verbrechens be-ginnt mit der Definition des Fremden.“ Wir sind also ge-warnt.An dieser Stelle möchte ich doch einen Blick auf diespezifisch ostdeutsche Seite des Problems werfen. Ichwiederhole: Es geht nicht nur um ein ostdeutsches Pro-blem; aber das Problem hat ein ostdeutsches Gesicht, dasnicht nur und nicht an erster Stelle durch die Vereinigungund die Schwierigkeiten des Umwälzungsprozesses her-vorgerufen ist.Es gibt Umfragen aus den Jahren 1990 und 1991, dieBeunruhigendes aussagen über das, was in den Köpfenund Herzen der Ostdeutschen vor sich ging. Ich erinneremich an Untersuchungen, die unser ehemaliger KollegeKonrad Weiß in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre über dieSkinheadszene, die rechte Szene in der DDR angestellthat. Diese durften nie veröffentlich werden und waren nurals innerkirchliches Material verfügbar. Es gibt eineschlimme Tradition aus SED-Zeiten: eine Tradition desRechtsextremismus, des Antisemitismus. Dies wurde im-mer unter den Teppich gekehrt, weil nicht sein konnte,was nicht sein durfte. Es konnte nicht bearbeitet werden;denn der Antifaschismus von oben war ja ideologischeStaatsdoktrin.Erinnern wir uns auch an eine andere Erbschaft derSED-Diktatur. Die DDR war eben ein eingesperrtesLand. Wie sollten Menschen selbstbestimmt, konflikt-fähig werden, den Umgang mit Fremdem und Fremdenerlernen, das Aushalten von Differenzen einüben? Wiesollten sie Demokratieerfahrungen machen?Das wirkt nach, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder PDS. Sie kennen die Umfrage von Forsa über den Zu-sammenhang zwischen PDS-Wählerschaft und bestimm-ten Einstellungen zur Ausländerfrage. Ich sage nur, dassunendlich viel an dieser Erbschaft zu bearbeiten ist.Ein weiterer Aspekt ist das ideologische Denkmuster,das uns in einem verkommenden Marxismus-Leninismuseingebläut wurde: schwarz-weiß, Freund-Feind, der Klas-sengegner. So kam ein Klassenkampfmuster in die Köpfe,das immer nach einem einfachen Schema verlief.Ein letzter Aspekt, der vielleicht am schwierigsten zubesprechen ist: Die DDR hat unter den Werthaltungen, diesie den Menschen aufgeprägt hat, wohl am folgenreichs-ten die Vorstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit ge-prägt. Ich will das nicht kritisieren; das Bedürfnis nachGerechtigkeit ist ein sehr menschliches Grundbedürfnis.Aber jetzt wird sichtbar, dass die spezifische Ausprägungder Gleichheitsvorstellung eine Rückseite hat: den Kon-formitätszwang, die Unfähigkeit, mit Differenzen umzu-gehen und soziale, kulturelle, weltanschauliche Differen-zen auszuhalten. Ich hätte mir jedenfalls nicht vorstellenkönnen, dass es eine neuerliche Kombination von So-zialismus und Nationalismus gibt. Ich sage trotzdem, in-dem ich dies so beschreibe, dass dies nicht ein ostdeut-sches Problem ist. Aber da ist viel mehr aufzuarbeiten.
Was ist zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wirsind uns einig: Wir müssen die Gewalt energisch bekämp-fen und mit außerordentlicher Geduld und viel Kraft dieUrsachen der Gewalt bearbeiten. Wir reden über einenAntrag zum Verbot rechtsextremistischer Parteien,also der NPD. Polizei und Justiz haben selbstverständlichihre Pflicht zu tun. Natürlich geht es darum, dass wir Ar-beitslosigkeit verringern und verlässliche Perspektivenfür junge Leute schaffen. Aber es geht eben auch – das istsehr schwierig – um ein neues Begreifen des Rangs undGewichts von Bildung und Aufklärung. Es muss uns er-schrecken, dass nach so vielfältigen Anstrengungen un-terschiedlicher Art in den vergangenen 40, 50 Jahren inDeutschland bei Umfragen unter jungen Leuten, wasAuschwitz oder Holocaust bedeute, so viel Unwissenheitzum Ausdruck kommt. Das zwingt uns zum Nachdenkendarüber, was wir anders machen müssen, was falsch ge-laufen ist, was wir gegenüber einer neuen Generation ver-ändern müssen, damit dieses geschichtliche Gedächtnisund die Verpflichtung daraus für das Heute weiterleben.
Wir müssen an den Vorurteilen arbeiten, die von einerunerträglichen Zähigkeit sind. Ich war in Hoyerswerda,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Wolfgang Thierse11545
einer Stadt mit 50 000 Einwohnern. Ich fragte den Bür-germeister: Wie viele Ausländer gibt es hier? Er antwor-tete: 500. In einem Gespräch mit jungen Leuten – sie wa-ren alle keine Rechtsaußen – nannten sie mir auf dieFrage, wie viele Ausländer denn nach ihrer Meinung inHoyerswerda lebten, Zahlen zwischen 2 000 und 10 000.So übertragen sich Vorurteile über eine Gefahr und Ge-fährdung.Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen begreifen,dass demokratische und moralische Erziehung wiedervon viel größerem Gewicht sein müssen; denn wir müs-sen hier auch vom Phänomen moralischer Entwurzelungsprechen, wenn elementarste Regeln des menschlichenZusammenlebens, etwa das Gewalttabu, das auch bedeu-tet, dass man nicht auf jemanden tritt, der am Boden liegt,nicht mehr funktionieren. Hier müssen wir nach den Ur-sachen fragen: Was ist in der Schule los, was passiert inden Familien, was tun die Massenmedien? Ich sage auchhier: Bei einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigstenGegenstand ihrer abendlichen Fernsehunterhaltungmacht, ist etwas nicht in Ordnung.
Begreifen wir neu den Rang von Jugendarbeit undJugendpolitik. Ich lasse das besondere Problem beiseite,ob das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit in Ost-deutschland überhaupt funktioniert und ob wir es nichtverändern müssen.
Aber es geht darum, demokratische Initiativen zu stärken,die alltägliche Courage zu unterstützen. Wir haben Ge-walt energisch und entschlossen zu bekämpfen. Danebendürfen wir aber die anderen Aufgaben, die mittel- undlangfristiger Natur sind, nicht aus den Augen verlieren.Denn worum geht es? Um eine Kultur der Anerkennungoder, wie Bundespräsident Rau es wunderbar und treffendformulierte, um eine Gesellschaft, in der wir Menschenohne Angst verschieden sein können.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das für die Preisvergabe zuständige Kura-
torium der Stadt Frankfurt hat einstimmig beschlossen,
Wolfgang Thierse den Ignatz-Bubis-Preis zu verleihen für
seine Verdienste um Verständigung und für seinen Einsatz
gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Ich glaube, dies
ist die passende Stelle, um ihm dazu herzlich zu gratulie-
ren.
Nun erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion
dem Kollegen Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fülle der schlim-men ausländerfeindlichen, rassistisch motivierten Strafta-ten der letzten Zeit hat vor allem in den Sommermonatendie Ursachen, Auswüchse und Folgen von Extremismusund Gewaltbereitschaft und der damit verbundenen kri-minellen Energie erneut in das öffentliche Bewusstseingerückt. Selten zuvor ist über diese Themen so ausführ-lich gesprochen, geschrieben und gesendet worden wie inden letzten Wochen und Monaten.Zu viel? – Ich meine, nein. Denn gerade die jüngstenGewalttaten der rechtsextremen Szene und die damit ver-bundenen Folgen für die Opfer, für die Angehörigen, fürdas friedliche Zusammenleben von Menschen unter-schiedlicher Nationalität, Hautfarbe und Religion und fürdas Ansehen unseres Landes in der Welt müssen uns auf-rütteln, noch wachsamer zu werden gegenüber jeder Formvon Intoleranz, Extremismus und Gewalt.
Sie verlangen eine entschiedene Reaktion, nicht nurdes Staates und seiner Institutionen, sondern auch allerverantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürger unse-res Landes. Unser Dank und unsere Anerkennung ge-bühren denen, die sich, zum Teil unter Inkaufnahme eige-ner Gefährdungen, Extremismus und Gewalt nichtbeugen, die Mut und Zivilcourage zeigen und damit un-missverständlich deutlich machen, dass Deutschlandbraunen Terror nicht ein zweites Mal dulden wird.Gelegentlich war zu hören, dass der Kampf gegenRechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in denSommermonaten mangels anderer wichtiger Themen dieSchlagzeilen so lange dominiert habe. Das mag sein. Un-geachtet dessen gehört der Kampf gegen jede Form vonIntoleranz, Extremismus und Gewalt auch weiterhin inden Mittelpunkt sowohl des politischen Bemühens alsauch des öffentlichen Interesses. Diesen Auftrag gibt unsArt. 1 des Grundgesetzes:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichenGewalt.Dieser staatliche Schutz gebührt allen Menschen in unse-rem Land, gleich welcher Nationalität, Hautfarbe oderReligion.
Wer die richtigen, jetzt notwendigen Entscheidungentreffen will, muss sich gleichermaßen ernsthaft mit Ursa-chen, Wirkungen und Folgen von Extremismus jederSpielart und der Gewaltbereitschaft insgesamt beschäfti-gen. Die unbestreitbare Tatsache, dass es auch über 7 000gewaltbereite Linksextremisten und mindestens 67 extre-mistische Ausländerorganisationen mit einem erhebli-chen Gefährdungspotenzial gibt, darf uns nicht dazu ver-leiten, rechten Extremismus gegen linken Extremismus
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Wolfgang Thierse11546
und rechte Gewalt gegen linke Gewalt aufzurechnen odergar die Probleme zu relativieren.Die öffentliche Diskussion über Ursachen und Folgendes braunen Terrors ist nicht überflüssig, sondern überfäl-lig. Wenn Ausländer oder Angehörige anderer Minderhei-ten verfolgt, gehetzt, zusammengeschlagen oder gar getö-tet werden, dann müssen Staat und Gesellschaft Flaggezeigen, nicht nur zum Schutz der Rechtsordnung und allerOpfer, sondern auch zum Schutz des Staates insgesamt;denn nicht wenige Extremisten wollen diesen Staat um-stürzen. Sie wollen eine andere Republik.Wenn es Extremismus und Gewalt auf beiden äußers-ten Rändern des politischen Spektrums gibt, dann ist daskein Grund zur Beruhigung, sondern Grund zu einer dop-pelten Beunruhigung und eine doppelte Herausforderungfür unsere wehrhafte Demokratie.
Deshalb sagen wir, die Union: Notwendig ist ein ent-schlossener Kampf gegen jede Form von Intoleranz, Hassund Gewalt, ganz gleich, aus welchen politischen Moti-ven die Täter handeln.
Wir sagen grundsätzlich: Null Toleranz der Intoleranz!Wenn am Ende des vergangenen Jahres 134 rechtsex-treme Organisationen registriert wurden und damit 20mehr als noch vor einem Jahr, wenn das rechtsextremisti-sche Potenzial auf über 51 000 Personen geschätzt wirdund wenn die Zahl der Gewaltbereiten auf 9 000 – Ten-denz steigend – beziffert wird, dann belegen diese Zahlen,wie wichtig ein nachhaltiger, entschlossener Kampf ge-gen den Rechtsextremismus ist. Wenn dieser Kampf er-folgreich sein soll, dann brauchen wir viele fundierte In-formationen, Daten und Fakten. Dafür brauchen wir gutfunktionierende und gut ausgestattete Verfassungs-schutzämter mit qualifizierten und motivierten Mitarbei-tern. Wer sie in ihrer personellen oder organisatorischenSchlagkraft schwächen will, schwächt damit die Abwehr-kräfte unseres Landes gegen die erklärten Feinde unsererfreiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Die Union begrüßt, dass die Bundesregierung nachzunächst verkündeter Ablehnung dann doch noch denVorschlag des bayerischen Innenministers GüntherBeckstein aufgegriffen hat, zu prüfen, ob genügend An-haltspunkte dafür vorhanden sind, dass ein Antrag aufVerbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht hinrei-chende Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zwar vertrittdie NPD verfassungsfeindliche Ziele; aber das alleinekönnte einem Verbotsantrag noch nicht zum Erfolg ver-helfen.Eine weitere wichtige Voraussetzung für ein Verbot istein aggressiv-kämpferisches Auftreten als Indiz für einefeindliche Haltung gegen unsere verfassungsmäßige Ord-nung, zum Beispiel durch militante Erklärungen oderdurch Aufrufe zu Straftaten. Auch für die Prüfung der Er-folgsaussichten eines Verbotsantrags sind wir auf Infor-mationen nicht nur der Strafverfolgungsbehörden, son-dern auch der Verfassungsschutzämter des Bundes undder Länder angewiesen. Wenn die notwendigen Informa-tionen vorliegen und eine hinreichende Erfolgsaussichtbelegen, dann erwarten CDU und CSU, dass die Bundes-regierung einen entsprechenden Verbotsantrag stellt.
Ein Verbot könnte zwar durch eine Zerschlagung derStruktur und der Organisationskraft der NPD einen wich-tigen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismusleisten, aber eben nur einen Beitrag. Mindestens ebensonotwendig ist eine intensive Befassung mit den Gründenvon Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt.Aus vielen Untersuchungen wissen wir: Es gibt nicht nureinen Grund, eine Ursache, ein Motiv. Oft kommen dieüberwiegend jungen Täter aus besonders schwierigen fa-miliären und sozialen Verhältnissen. Oftmals wurden sieselber ganz früh und unmittelbar mit Gewalt konfrontiert.Zerfallende soziale Milieus und eine stetig nachlas-sende Bindungskraft gesellschaftlicher Institution könnenjunge Menschen, die in Gefahr sind, auf die schiefe Bahnzu geraten, nicht mehr auffangen. Hinzu kommen sozialeund kulturelle Ängste und nicht zuletzt die Verführungdurch Medien, zum Beispiel durch einschlägige Homepa-ges im Internet oder durch eine aggressive rechtsextrememusikalische Szene.Vor diesem Hintergrund brauchen wir für eine erfolg-reiche Bekämpfung von Extremismus und Gewalt einevernünftige Kombination von sozialer Prävention undstaatlicher Repression.
Wir brauchen Hilfsangebote für gefährdete Kinder undJugendliche ebenso wie eine schnelle und konsequenteReaktion auf Straftaten. Wir müssen beides gewährleis-ten. Wir brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft derFamilien und der Schulen, wohl wissend, dass die Schulenicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie,Gesellschaft und Politik sein kann. Vor allem brauchenwir eine Kultur der Toleranz und der Akzeptanz auch de-sjenigen, der anders ist.
Es mag zwar Fälle geben, bei denen Hopfen und Malzverloren ist. Aber das gilt sicherlich nicht für alle, die sichin der rechten Szene bewegen. Dies zeigen gerade Aus-steiger, die es geschafft haben, die schiefe Bahn zu ver-lassen.Der stellvertretende Bundesvorsitzende der GdP hatvor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass wir auchHilfsangebote für gefährdete Jugendliche aus der so ge-nannten Skinheadszene und für Aussteiger aus der rech-ten Szene machen müssen.Das sei zwar unpopulär, aber trotzdem erforderlich. –Freiberg hat Recht: Wir dürfen Jugendliche, die noch keinvollständiges rechtsextremes Weltbild haben, nicht denbraunen Rattenfängern überlassen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Wolfgang Bosbach11547
In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden,wie wichtig es ist, dass das Recht dem Unrecht nicht wei-chen darf. Somit müsste heute eigentlich jedem klar sein,dass auch Gewalt gegen Sachen nicht toleriert werdendarf und dass der Ruf „Macht kaputt, was euch kaputt-macht!“ dazu führen kann, dass Blut fließt.In vielen Veröffentlichungen wurde darauf hingewie-sen, wie wichtig eine aktive Jugendverbandsarbeit– auch der Präsident hat dies erwähnt – und auch dieArbeit anderer Vereine seien. Ohne sie und das ehrenamt-liche Engagement von Millionen wäre unser Land vielärmer.
Beispiel Sport: Ich bin der festen Überzeugung, dassdie gesellschaftliche Bedeutung des Sportes – hiermitmeine ich weniger den Spitzen- als vielmehr den Breiten-sport – eher unterschätzt als überschätzt wird. Dies gilt inbesonderer Weise für die Erziehung junger Menschen. Sieerlernen und trainieren in den Vereinen nicht nur be-stimmte Sportarten, sondern sie erlernen gleichzeitig, na-mentlich im Mannschaftssport, richtiges Sozialverhalten;sie erleben Freundschaft und Respekt vor der Leistungdes Gegners. Sie lernen, dass Teamgeist für den Erfolgwichtig ist und dass sich Anstrengungen lohnen. Wermehrfach in der Woche hart trainieren muss und danachhundemüde ins Bett fällt, der kommt nicht so leicht aufkrumme Gedanken.
Sind es nicht vor allem die Sportvereine, in denen tag-täglich gerade für junge Menschen ausländischer Her-kunft wichtige Integrationsleistungen erbracht werden? Indieser Beurteilung werden wir uns vermutlich schnell ei-nig sein. Dann jedoch sollte der Staat die Arbeit der Ver-eine und das vielfältige ehrenamtliche Engagement vonMillionen nicht nur fordern, sondern auch fördern.
Der Staat sollte alles unterlassen, was die Arbeit unsererVereine und der dort ehrenamtlich Tätigen unnötig er-schwert.
Wichtig ist, dass wir jetzt, nach einer langen Zeit mitvielen öffentlichen Debatten und klugen Appellen, inwichtigen Bereichen zu Entscheidungen kommen. UnserAntrag enthält viele konkrete Vorschläge, insbesondereim Hinblick auf die notwendige Reaktion des Staates hin-sichtlich der Verfolgung von Straftaten und der Aburtei-lung überführter Straftäter. Wir alle wissen, dass eineschnelle Reaktion der Gerichte gerade auf jugendlicheStraftäter oftmals mehr Eindruck macht als eine harteStrafe. Wir plädieren nicht für den berüchtigten „kurzenProzess“, aber dafür, dass wir einmal ernsthaft darübernachdenken, ob in geeigneten Fällen nicht auch bei ju-gendlichen Tätern ein beschleunigtes Verfahren, das jetztgemäß § 79 JGG ausgeschlossen ist, sinnvoll oder gar not-wendig sein kann. Gut 75 Prozent der fremdenfeindlichenGewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese eineZahl belegt, welche wichtige Funktion das Jugendstraf-recht bei der Bekämpfung gewaltbereiter Extremisten ha-ben kann. Auch unser Vorschlag eines so genanntenWarnarrestes, der neben einer zur Bewährung ausgesetz-ten Jugendstrafe verhängt werden kann, damit der Tätereinmal hautnah spürt, was Freiheitsentzug für ihn persön-lich bedeutet, sollte nicht abgelehnt werden.Am 29. Januar dieses Jahres – zum Andenken an denso genannten Tag der Machtergreifung, den 30. Januar1933 – sind erneut Hunderte von Neonazis mitschwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tormarschiert.
Diese Bilder gingen um die ganze Welt. Sie haben das An-sehen unseres Landes erheblich beschädigt.
Solche Bilder sind eine Zumutung, vor allem für unserejüdischen Mitbürger.
Die zuständigen Behörden hätten diese Demonstrationgerne verhindert. Das war jedoch auf der Grundlage desgeltenden Rechts nicht möglich. Das geltende Demon-strationsrecht garantiert leider auch den Neonazis zumTag der Machtergreifung, zu Führers Geburtstag oder zuanderen unappetitlichen Anlässen eine höchst medien-wirksame Kulisse, einschließlich Schutz durch die Poli-zei. Genau das müssen wir ändern.
Wir haben bereits vor geraumer Zeit vorgeschlagen,das Recht dahin gehend zu ändern, dass die Bundeslän-der – sofern sie es als notwendig erachten – um Gebäudeoder Orte von besonderer, herausragender nationaler undhistorischer Bedeutung in einem räumlich eng umgrenz-ten Bereich befriedete Bezirke einrichten können, in de-nen Demonstrationen dann verboten werden können,wenn sie erkennbar im Widerspruch zur Bedeutung desOrtes stehen und dadurch die Würde des Ortes gestörtwird.Für die Hauptstadt Berlin hat Innensenator Werthebachbeispielhaft die Neue Wache, das Brandenburger Tor unddas noch zu errichtende Denkmal für die ermordeten Ju-den Europas genannt. Dass grölende Neonazis demnächstwieder durch das Brandenburger Tor marschieren und inRichtung Holocaust-Mahnmal abbiegen, um dort zu de-monstrieren, dass der braune Spuk noch nicht vorbei ist,muss für jeden rechtschaffenen Bürger ein Albtraum sein.Diesen Albtraum können wir verhindern. Wir müssen ihnverhindern.
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Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behaup-tung, die Union wolle das Grundrecht auf Demonstrati-onsfreiheit außer Kraft setzen, erfüllt ebenso wie die Aus-sage, wir dürften unsere politischen Entscheidungen nichtvon den in London, New York oder Tel Aviv veröf-fentlichten Meinungen abhängig machen, den Tatbestanddes groben Unfugs. Selbstverständlich müssen wir stets ineigener Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewis-sen entscheiden. Es kann uns aber doch nicht völliggleichgültig sein, was die Menschen in England, in denUSA oder in Israel über uns denken, wenn sie diese Bil-der sehen. Die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordneten-haus ist mittlerweile der gleichen Meinung, das LandRheinland-Pfalz offenbar auch. Bei dem einen geht es et-was schneller, bei dem anderen dauert es etwas länger.Wir wollen keinen unnötigen Streit. Wir bieten derMehrheit des Hauses ausdrücklich konstruktive Ge-spräche über die wichtigen Fragen des Demons-trationsrechtes an.
Wenn wir hier gemeinsam zu einer vernünftigen Lösungkämen, dann wäre das ein wichtiger Beitrag zu der vorwenigen Tagen von Innenminister Beckstein zu Rechteingeforderten Harmonie gegen den Terror.Die Bundesrepublik Deutschland ist kein ausländer-feindliches Land – ganz im Gegenteil. Gerade deshalbkönnen wir in unserem Land Rassismus und Fremden-feindlichkeit nicht dulden. Aber wir können auch nichtdulden, dass jedes Nachdenken über eine andere Zuwan-derungspolitik, die stärker die Interessen unseres Landesberücksichtigt, von vornherein als fremdenfeindlich oderrassistisch diskriminiert wird.
Die Debatte, die wir in den vergangenen Monaten ge-führt haben und auch in den kommenden Monaten nochführen werden, darf nicht das Ergebnis haben, dass in un-serem Land nicht mehr über die Chancen einer vernünfti-gen und die Risiken einer unvernünftigen Zuwanderungs-politik offen und vorurteilsfrei gesprochen werden darf.Wer will ernsthaft bestreiten, dass Zuwanderung für einLand unter bestimmten Bedingungen nicht nur aus volks-wirtschaftlichen, sondern auch aus vielen anderen Grün-den eine Bereicherung bedeuten kann? Wer will auf deranderen Seite bestreiten, dass Zuwanderung auch für un-ser Land unter bestimmten Bedingungen eine Belastungsein kann, insbesondere dann, wenn die Zahl der Zuwan-derer zu groß ist und die Integrationsfähigkeit des Landesund die Integrationsbereitschaft vieler Bürgerinnen undBürger überfordert?
Dies gilt insbesondere dann, wenn zu viele kommen, dieweder integrationsfähig noch integrationswillig sind, oderwenn sich durch Gettoisierung Parallelgesellschaften bil-den, mit der Folge, dass die dringend notwendige Inte-gration nicht erfolgen kann.Deutschland muss zur Sicherung wissenschaftlicherSpitzenleistungen, hoher Innovationskraft und wirtschaft-licher Dynamik offen sein für ausländische Fachkräfte,Unternehmer und Wissenschaftler. Weltoffenheit ist Vo-raussetzung für herausragende Leistungen in allen Berei-chen, nicht nur im Sport. Gleichzeitig müssen wir aberauch offen darüber reden können, dass wir nicht alle sozi-alen und humanitären Probleme der Erde auf dem Bodender Bundesrepublik Deutschland lösen können,
dass ungesteuerte und unsteuerbare Zuwanderung mitProblemen verbunden ist und dass wir in dem wichtigenund sensiblen Bereich der Zuwanderung unser Land unddie Bürger nicht überfordern dürfen.Natürlich kann und muss man über den besten Weg zurBekämpfung des Extremismus streiten. Aber wir solltenuns nicht gegenseitig das Bemühen absprechen, den Ex-tremismus in allen Erscheinungsformen zu bekämpfen.Die notwendige Gemeinsamkeit hintertreibt, wer andereder geistigen Urheberschaft rechtsradikaler Ausschreitun-gen bezichtigt.
Solche Polemik nutzt Extremisten. Es muss in diesemLande auch noch erlaubt sein, wertkonservative Positio-nen zu vertreten, ohne gleich als rechtsradikal diffamiertzu werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einemStaat, der sich wehren kann, der sich zu wehren weiß. Un-sere Demokratie ist stabil; daran sollte kein Zweifel auf-kommen. Der wehrhafte demokratische Rechtsstaat istfest im Bewusstsein der Deutschen verankert. Berlin istnicht Weimar.Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich derKollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am13. Februar 1999 wird Farid Guendoul, Flüchtling aus Al-gerien, 28 Jahre alt, in Guben in Brandenburg von Rechts-radikalen durch die Stadt gejagt. In seiner Panik tritt er ineine Glastür und stirbt an den Verletzungen.Am 14. Juni dieses Jahres wird Alberto Adriano, ein39-jähriger Migrant aus Mosambik, in Dessau von dreiNeonazis erschlagen. Einer der Täter sagt später vor Ge-richt: Ich habe den Neger getreten, weil ich ihn hasse.9. Juli 2000: Fünf Rechtsextremisten überfallen inWismar einen 52-jährigen Obdachlosen und töten ihn.13. September dieses Jahres: Zwei Skinheads erschlagen
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in Flensburg einen 45-jährigen Obdachlosen. In beidenFällen leugnen die Ermittlungsbehörden leider denrechtsextremen Hintergrund der Tat.Jüngstes Beispiel: Am 23. September dieses Jahresfliegt ein Molotowcocktail in ein Übergangswohnheim inWuppertal, in dem 47 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien le-ben. Zwei Kinder werden zum Glück nur verletzt. Ichmöchte nur daran erinnern: In der Nachbarstadt Solingenwaren 1993 bei einem ganz ähnlichen Anschlag fünf tür-kische Mädchen und Frauen ums Leben gekommen.Meine Damen und Herren, es vergeht immer noch keinTag, an dem nicht Menschen in Deutschland von rechts-radikalen Schlägern angegriffen, verletzt oder getötetwerden, und zwar nur, weil sie Schwarze sind, weil sieFlüchtlinge sind, weil sie Obdachlose sind, weil sie ho-mosexuell sind. Auch ich finde es gut, dass dieses Themaim Sommer breit diskutiert wurde. Es ist gut, dass wirheute diese Debatte führen. Aber andererseits – das sageich hier auch sehr deutlich – ist es schlimm, dass die Ge-fahr rechtsextremer Gewalt immer erst dann auf die Ta-gesordnung kommt, wenn Menschen getötet wurden.
Wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht erneutwiederholen. Nach den mörderischen Anschlägen vonMölln 1992 und von Solingen 1993 war die Empörung inder Bevölkerung sehr groß. Damals schien auch dieAuseinandersetzung mit den Ursachen fremdenfeindli-cher Gewalt plötzlich ernsthafter. Sogar Sie, meine Da-men und Herren von der CDU/CSU, diskutierten damalsernsthaft die Einführung der doppelten Staatsbürger-schaft. Doch wirklich dauerhafte Konsequenzen imKampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wur-den nicht gezogen. Jetzt sind wir wieder fassungslos an-gesichts der Opfer dieser brutalen Übergriffe. Deshalbmüssen wir uns doch fragen: Was bleibt von unseren Dis-kussionen? Reicht der Appell an die Zivilcourage desEinzelnen?In mancherlei Hinsicht sind wir uns ja, was die Maß-nahmen betrifft, einig. Wir alle wollen eine schnelle, kon-sequente Strafverfolgung. Es ist gut, dass die Justiz denMord in Dessau so schnell geahndet hat. Das ist ein gutesBeispiel dafür, wie es gehen kann.
Wir brauchen auch neue Formen der Bildungsarbeit, eineNeuorientierung der Jugendarbeit. Auch darin sind wiruns einig. Wir sollten auch ein NPD-Verbot gründlichprüfen. Allerdings – das möchte ich auch sehr deutlich sa-gen – darf ein Verbotsantrag nicht vor dem Bundesverfas-sungsgericht scheitern, denn dann würde die NPD auchnoch ein demokratisches Gütesiegel von höchstrichterli-cher Instanz bekommen. Das wäre eine Katastrophe unddarf auf keinen Fall passieren.
Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein: Auch einVerbot der NPD löst die Probleme des Rechtsextremis-mus nicht. Wir müssen gegen die Vergiftung in den Köp-fen und Herzen der Menschen angehen, wenn wir Rassis-mus, Antisemitismus und Rechtsextremismus wirksamund vor allen Dingen dauerhaft bekämpfen wollen. Dastellt sich mir, Herr Beckstein, schon die Frage: Wie pas-sen Ihre Forderung nach dem NPD-Verbot und Sätze wie:„Wir brauchen weniger Ausländer, die uns nur ausnützen,und mehr, die uns nützen“, zusammen?
Sie stehen mit solchen Aussagen nicht allein. Ich willnicht alle diese Aussagen der vielen Politikerwiederho-len wie die von Herrn Lummer und Herrn Kanther, HerrnLandowsky und Herrn Schönbohm, Herrn Zeitlmann undHerrn Stoiber. Die Botschaften waren immer die gleichen:„Das Boot ist voll. Die Gastfreundschaft geht zu Ende.Der Staatsnotstand ist nahe.“
Solche Sprüche, meine Damen und Herren, können auchein Nährboden sein, auf dem organisierter Rechtsextre-mismus wachsen und gedeihen kann.
Ich sage nicht, dass es hier einen direkten Ursachenzu-sammenhang gibt, aber ich sage: Wir müssen vorsichtigdamit sein, welche Signale wir an diese Gesellschaft hi-neingeben.
– Ja, das ist doch gut.Ich denke, wir sollten diesen Zusammenhang wirklichsehen. Schauen wir auf die letzten 20 Jahre deutscher Po-litik: Anfang der 80er-Jahre wurde in aufgeheizter gesell-schaftlicher Stimmung Einwanderern aus der Türkei dieRückkehr empfohlen. Dies sollte mit Rückkehrgeldern er-reicht werden. In der Folge waren vor allen Dingen dieseMenschen Opfer von Anschlägen. In den 90er-Jahren er-hitzte die Asyldebatte die Gemüter so weit, dass es zurGrundgesetzänderung kam. Höhepunkte dieser Debattewaren die Anschläge von Mölln, von Hünxe und von So-lingen. Im vergangenen Jahr zog Herr Koch mit der Un-terschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaftzu Felde. Und Herr Rüttgers ging mit dem Slogan „Kin-der statt Inder“ in den Wahlkampf. Meine Damen undHerren von der Opposition, damit muss endlich Schlusssein! Mit solchen Kampagnen muss Schluss sein!
Ich will auch denjenigen, die zurzeit eine tabufreie Dis-kussion über Einwanderung und Flüchtlinge fordern, sa-gen – und sie damit wenigstens zum Nachdenken auffor-dern –: Es müsste in dieser Gesellschaft doch ein Tabu
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sein, Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebendenMigranten, auf dem Rücken von Flüchtlingen und Min-derheiten zu machen.
Ich finde es wirklich bedauerlich, dass ein solcherKonsens, wie es ihn in anderen Ländern gibt, in der Bun-desrepublik nicht möglich ist. In den Niederlanden zumBeispiel sind sich alle demokratischen Parteien darübereinig, dass man dieses Thema nicht zum Wahlkampf-thema macht. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir dasauch in der Bundesrepublik erreichen.
Deshalb reicht es auch nicht, wenn man sich hinstelltund sagt: Wir lehnen jede Gewalt mit Abscheu undEmpörung ab. Wir müssen nicht nur zeigen, dass wir Ras-sismus und Gewalt nicht dulden, sondern wir müssenauch selbst die demokratischen Werte vermitteln, vondenen wir unsere Kinder, die Jugendlichen in Ost undWest, überzeugen wollen. Deshalb meine ich: Auf keinenFall dürfen wir Bürgerrechte, zum Beispiel das Versamm-lungsrecht, einschränken. Das käme doch einer Kapitula-tion des Rechtsstaates vor den Rechtsextremen gleich,meine Damen und Herren.Der Staat darf nicht nur Humanität einfordern, er mussselbst human sein. Politik muss aufklären, muss Vorur-teile bekämpfen, muss die Achtung vor dem Fremden vor-leben, muss sich auf die Seite der Verfolgten stellen, undzwar eindeutig und unmissverständlich. Dann wäre unserWerben um Zivilcourage im Alltag und um bürgerschaft-liches Engagement auch glaubwürdig.Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,die demokratische Substanz einer Gesellschaft erkenntman auch an ihrem Umgang mit Minderheiten. Deshalbist unser Platz an der Seite von Verfolgten und Flüchtlin-gen, auch solchen im Kirchenasyl. Deshalb wird es mituns auch keine Verschärfung des Asylrechts geben.
Unser Platz ist an der Seite von Einwanderern, auch wennsie nicht über Studium und hoch dotierte Verträge verfü-gen. Deshalb brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Un-ser Platz ist an der Seite von Homosexuellen. Deshalbwollen wir mit der eingetragenen Partnerschaft endlichgleiche Rechte schaffen. Und unser Platz ist an der Seitevon Obdachlosen.Ich fordere die Innenministerkonferenz auf: Setzen Sieendlich den Beschluss des Bundestages um, ein Bleibe-recht für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herze-gowina und dem Kosovo zu schaffen, die nicht in ihreHeimat zurückkehren können.
An uns alle gerichtet: Lassen Sie uns endlich das inhu-mane Flughafenverfahren abschaffen, das immer wiedervon Amnesty International kritisiert wird!
Es ist einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft un-würdig, Menschen wochenlang in Flughafenbarackeneinzusperren. Das wären klare Signale für mehr Humani-tät.Wir dürfen vor allen Dingen die Opfer nicht vergessen.Viele Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren zuSchaden gekommen. Nach der Recherche der „Frankfur-ter Rundschau“ und des „Tagesspiegel“ sind seit 199093 Menschen durch rechtsextreme Gewalttaten getötetworden. Es gibt inzwischen sehr viele ehrenamtliche Op-ferschutzinitiativen, die wichtige und absolut professio-nelle Arbeit leisten. Wir müssen sie unterstützen und dafürsorgen, dass die Finanzmittel, die wir zum Kampf gegenRechtsextremismus bereitstellen, auch bei diesen Initiati-ven vor Ort unbürokratisch und schnell ankommen.
Zum Schluss – dies sage ich im Hinblick auf das, wasSie, Herr Bosbach, angesprochen haben –: Beenden Sie,meine Damen und Herren von der Opposition, in dieserDiskussion doch endlich diesen unsäglichen Eiertanz umrechts und links! Wenn Flüchtlingsheime brennen, dannsollten wir nicht über Autonome reden. Wenn schwarzeMenschen nur wegen ihrer Hautfarbe getötet werden,dann sollten wir nicht über Antifa-Gruppen sprechen.Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, dann soll-ten wir nicht über irgendwelche kommunistischen Split-tergrüppchen – schon gar nicht über eine Fraktion in die-sem Hause – reden.
Damit sollten wir aufhören. Das ist eine Verharmlosungdes Rechtsextremismus.Wir müssen Verantwortung zeigen. Wir müssen Farbebekennen gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antise-mitismus und Gewalt. Darum muss es in den nächstenJahren gehen.Vielen Dank.
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das
Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchtezunächst Ihnen, Herr Bundestagspräsident und KollegeThierse, im Namen meiner Fraktion sehr herzlich zur Ver-leihung des Ignatz-Bubis-Preises gratulieren. Ich möchtediesen Dank ausdrücklich mit einer Wertschätzung und
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Anerkennung Ihrer vorzüglichen Ausführungen ver-binden, die Sie heute Morgen gemacht haben.
Der Deutsche Bundestag hat sich zuletzt am 8. Junidieses Jahres mit dem Thema Rechtsextremismus befasst.Meine Fraktion hatte einen Antrag zur Beratung einge-bracht. Auch die PDS und die Koalitionsfraktionen hattenanschließend entsprechende Anträge auf die Tagesord-nung gesetzt. Dieser Tagesordnungspunkt wurde aber erstzu nachtschlafender Zeit aufgerufen. Der Stenographi-sche Bericht vermerkt an dieser Stelle, dass alle Redenhierzu zu Protokoll gegeben worden sind und dass damiteine Aussprache nicht stattgefunden hat. Ich glaube, wirmüssen uns selber die Frage stellen, ob wir diesem dra-matischen Thema immer die nötige Aufmerksamkeit ge-schenkt haben.
Betrüblicherweise stimmt die Einschätzung, dass im-mer erst etwas passieren muss, bevor ein solches Themain diesem Hause zur Kernzeit diskutiert wird. Ich muss andieser Stelle noch bemerken – selbstverständlich sprecheich damit nicht die beiden Kollegen an, die auf der Bun-desratsbank sitzen –: Es muss kritisiert werden, dass beieiner solchen Debatte – bis auf die erwähnte Ausnahme –gähnende Leere auf der Bundesratsbank herrscht, obwohldie Innenminister der Länder für die Bekämpfung desRechtsextremismus federführend sind.
Dreieinhalb Monate später findet aufgrund dieserschrecklichen Vorkommnisse eine bemerkenswerte De-batte zur Kernzeit im Deutschen Bundestag statt. Dazwi-schen lag die parlamentarische Sommerpause. In dieserZeit passierten betrübliche Vorfälle, mit denen wir überalle Parteigrenzen hinweg konfrontiert worden sind.Diese Vorfälle haben uns betroffen gemacht, nicht nur,weil wir oft von jungen Menschen angesprochen werden,sondern weil sich jeder weit über unsere politischen Funk-tionen hinaus als Staatsbürger geniert, vielleicht sogarmanchmal schämt, wenn er derartige Berichte in den Zei-tungen lesen muss.
Das ist ein Grundgefühl, das wir als diejenigen, die in die-sem Lande politische Verantwortung tragen, mit den al-lermeisten in Deutschland teilen.Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 1999 lagschon im Juni dieses Jahres allen vor und hätte genügendStoff für die Diskussion geboten, die wir jetzt sinnvoller-weise hier führen. Ich glaube, wir beschäftigen uns in die-sem Hause oftmals mit ausführlichster Redezeit mit einerVielzahl von geradezu „bedeutenden“ Themen, dass ichmich manchmal frage: Wie kann man eigentlich so langezu diesem Thema hier sprechen?
Wenn ein Thema aber wirklich einmal wichtig ist, dannfindet die Debatte darüber zu einem Zeitpunkt statt, andem die deutsche Öffentlichkeit naturgemäß kaum nochteilnehmen kann, weil die Medien berechtigterweise umMitternacht oder kurz vor Mitternacht kaum noch Inte-resse haben, so etwas zu übertragen.Ich möchte nicht die Zahlen wiederholen, die von Ih-nen, Herr Thierse, und auch von anderen, zum Beispielvon dem Kollegen Bosbach, angeführt worden sind. Ichglaube auch, dass uns ein Streit über die Statistiken hiernicht weiterhilft. Die einen berufen sich auf die Statistik,die in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht wird.Andere nennen andere Statistiken und sagen: Es warengar nicht fast 100, sondern weit weniger Opfer. Daraufkommt es nicht an. Jeder dieser Fälle ist so dramatisch fürunser Ansehen und unser gesellschaftliches Zusammenle-ben, dass er diese Debatte wahrlich rechtfertigt.
Ich möchte an einen Punkt anknüpfen, den Sie, HerrKollege Thierse, hier angesprochen haben, weil ich finde,dass er wichtig ist. Sie haben sehr ausgewogen und sensi-bel auf die Diskussion in Ostdeutschland, in den so ge-nannten neuen Bundesländern, hingewiesen. Wir alle wis-sen, dass der politische Extremismus auch inOstdeutschland in großer Zahl Teilnehmer, Mitläuferund aggressive Täter findet. Aber das Problem des politi-schen Extremismus auf Ostdeutschland zu reduzierenwäre ein Desaster für die politische Diskussion. Die Strip-penzieher sitzen nämlich im Westen.
Diejenigen, die die rechtsextreme DVU mit widerli-chen Kampagnen in den Landtag in Sachsen-Anhalt kata-pultiert haben, sitzen als Geldgeber, Strippenzieher oderSchreibtischtäter im Westen. Das ist etwas, was nicht un-terbewertet werden darf. Es ist eine gesamtdeutscheHerausforderung, den politischen Extremismus zubekämpfen. Es ist nicht nur eine Herausforderung für Ost-deutschland.
Da von den Bundesländern die Rede gewesen ist, ist esim Grunde genommen geradezu müßig, dennoch notwen-dig, dies an dieser Stelle anzuführen: Es gibt die rechts-extreme DVU in Sachsen-Anhalt. Wir wissen, welche mi-serable Politik sie gemacht hat, seitdem sie dort imLandtag sitzt. Aber seit zwei Legislaturperioden gibt esauch in Baden-Württemberg eine rechtsextreme Partei:die Republikaner. Beide muss man bekämpfen, nicht nurdie Partei in Ostdeutschland.
Man bekämpft diesen politischen Extremismus nachAuffassung der Freien Demokraten nicht, wenn man dasThema für die eigenen parteipolitischen Ziele instrumen-talisieren möchte. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen
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Dr. Guido Westerwelle11552
der PDS, komme ich um diese kritische Bemerkung nichtherum, weil Sie diese Aussage in dieser Woche gemachthaben: Wenn die PDS dem Bundesinnenminister vorwirft,„Stichwortgeber der Neonazis“ zu sein – das ist ein wört-liches Zitat –, weil er sich für eine offene Diskussion überdie Zuwanderung nach Deutschland ausspricht und voreiner ungesteuerten Zuwanderung warnt, dann ist das inmeinen Augen nicht nur eine grobe politische Entglei-sung, sondern auch eine fatale Verharmlosung des politi-schen Extremismus in Deutschland.
Frau Kollegin Müller, Ihnen muss ich sagen: Es istnicht in Ordnung, wenn Sie hier einerseits – an Mitgliederdieses Hauses, in diesem Falle an die Mitglieder der kon-servativen Opposition adressiert – sagen, sie würden hierden Nährboden für bestimmte extremistische Entwick-lungen bereiten, und gleichzeitig in einem Nebensatz hin-zufügen: Aber natürlich will ich nicht sagen, dass sie dieUrsache dafür sind. In dem Augenblick, in dem Sie einWort wie „Nährboden“ in die Diskussion einbringen undan Mitglieder dieses Hauses adressieren, begehen Siemeiner Meinung nach einen großen Fehler. Sie solltenjetzt nicht alles, was den Grünen lieb und teuer ist, poli-tisch damit begründen, dass der Extremismus bekämpftwerden muss. Sie können Anträge zur Flughafenregelungin diesem Haus einbringen und vermutlich hätten Siedafür die Zustimmung der Freien Demokraten. Ich glaubeaber, es ist ein Fehler, wenn in diese Extremismusdebattealles eingeführt wird, was einem persönlich politischwichtig ist.Die Neonazi-Keule – das muss ich an die PDS gerich-tet sagen – dürfen Sie nicht schwingen. Ich befürchtenämlich wirklich, dass Sie damit denjenigen einen Gefal-len tun, die wir gemeinsam politisch bekämpfen sollten.
Man muss sich auch überlegen, wo man etwas sagt. Esgibt mehrere Mitglieder dieses Hauses, die dem vom Ver-fassungsschutz beobachteten Zeitungsorgan „JungeFreiheit“ Interviews gegeben haben. Ich bedauere das.
Diese Zeitung ist im Verfassungsschutzbericht genanntworden und es wäre spätestens jetzt weiß Gott nicht mehrnotwendig gewesen, diesem Blatt eine solche Aufmerk-samkeit zukommen zu lassen. Ich muss der Bundesregie-rung, Herrn Minister Schily und den anderen Mitgliederndes Kabinetts, sagen: Es ist nicht in Ordnung, dass einStaatsminister dieser Bundesregierung der „Jungen Frei-heit“ in der vorvergangenen Woche ein Interview gegebenhat und damit diesem Blatt sogar noch das regierungs-amtliche Siegel verleiht und der Eindruck entsteht, mankönne sich mit einer solchen Zeitung normal unterhalten.
Es geht nicht darum, was er gesagt hat. Es geht darum,dass er ein solches Blatt aufwertet. Das sollten Sie zurück-nehmen, davon sollten Sie sich distanzieren. Das Inter-view war nicht nur ein Akt politischer Ungeschicklich-keit, sondern ich glaube, es war eine politischeAufwertung, die nicht sinnvoll ist.Meine Damen und Herren, ich will noch zwei Themenansprechen, die mir wichtig sind und die in die Debatteüber den politischen Extremismus eingeführt wordensind. Das erste Thema ist das Parteiverbot. Ich kann nuran das anknüpfen, was Frau Kollegin Müller hier zum an-gestrebten Verbotsverfahren gegen die NPD gesagt hat.Ich habe bereits in der letzten innenpolitischen De-batte, als wir über den Haushalt diskutiert haben, gesagt:Es wäre ein Fehler, wenn ein solcher Verbotsantrag auspolitischer Opportunität heraus gestellt wird. Wenn einVerbotsantrag gestellt wird, dann darf es nicht nur hinrei-chende Chancen für den Erfolg geben, dann muss mansich so sicher sein, wie man sich vor Gericht nur sichersein kann, dass dieses Verbotsverfahren zum Erfolg führt.Denn anderenfalls bekommt diese Partei quasi noch eineTÜV-Plakette vom Bundesverfassungsgericht und daswäre meiner Meinung nach ein Fehler.
Sie, Herr Innenminister, haben vor drei Wochen be-züglich des Vereins „Blood & Honour“ das Vereinsver-botsverfahren gewählt. Ich glaube, dass Sie den richtigenWeg gegangen sind.
Das ist ein vernünftiger Weg, weil es sich um einen Ver-ein und nicht um eine Partei handelt. Für Parteien gilt dasbesondere Privileg der Verfassung. Mit dem Vereinsver-botsverfahren können Sie leichter und übrigens effizientgegen den politischen Extremismus vorgehen.Meine Damen und Herren, das Letzte, was ich in An-betracht der Redezeit sagen möchte, ist das Folgende: Ichglaube, dass wir in Deutschland weit mehr Toleranz, Mit-menschlichkeit und aktiv gelebte Demokratie haben, alses braune Hemden, Springerstiefel und Bomberjackengibt. Deswegen gilt, dass wir immer wieder – bei allerNotwendigkeit dieser Debatte – gerade auch im Auslanddarauf hinweisen sollten, dass unser Land ein tolerantesLand ist. Es ist ein Rechtsstaat, es ist eine wunderbare De-mokratie. Wir sollten nicht zulassen – an welcher Stelleauch immer –, dass das Ansehen Deutschlands in derWelt, nicht nur bei uns selbst, durch Bilder zerstört wird.Das ist unser gemeinsamer Auftrag, denn diese Debatteverpflichtet zur Gemeinsamkeit und sollte nicht zur Kon-frontation führen.
Für die PDS-Fraktionerteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke.
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Dr. Guido Westerwelle11553
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die breite gesellschaftliche Debatte über den
Rechtsextremismus, die wir seit dem Sommer führen, ist
unserer Meinung nach eine große Chance, um lange be-
stehende Versäumnisse endlich zu korrigieren. Zu solchen
Korrekturen, Herr Bosbach, gehört auch, dass die
CDU/CSU endlich aufhört, linken und rechten Extremis-
mus auf eine Stufe zu stellen.
Angesichts von über hundert Menschen, die seit 1990 von
Rechtsextremisten getötet worden sind, ist das wirklich
eine unerträgliche Verharmlosung, die Sie hier immer
wieder betreiben.
Diese Verharmlosung reicht leider in alle gesellschaft-
lichen Bereiche. In Schleswig ist vor kurzem ein Obdach-
loser von zwei Neonazi-Skinheads totgetreten worden.
Trotzdem stufen die Polizei und die Staatsanwaltschaft
ihre Tat nicht als rechtsextremistisch ein. Obdachlose ge-
nießen offenbar keinen gesellschaftlichen Schutz.
Auch die Justiz muss ihren Umgang mit rechten Ge-
walttätern kritisch überprüfen. Wie sehr das nötig ist,
zeigt auch die Dokumentation des „Tagesspiegels“ und
der „Frankfurter Rundschau“. Darin werden Urteile zi-
tiert, bei denen einem wirklich die Haare zu Berge stehen.
Wörtlich heißt es zum Beispiel, es sei nicht nachzuwei-
sen, dass ein Skinhead, der einen 17jährigen Kurden getö-
tet hat, „zum Zeitpunkt des Messerstichs rassistische Mo-
tive verinnerlicht“ hatte.
Um Neonazis zu bekämpfen, ist aber mehr erforderlich
als entschlossenes Handeln von Polizei und Justiz. Kir-
chen, Gewerkschaften, andere Verbände, die Wirtschaft,
alle müssen sich einmischen, denn der Rechtsextremis-
mus reicht, wie Herr Thierse hier richtig gesagt hat, weit
in die Mitte der Gesellschaft. Beispiele dafür sind Tradi-
tionsverbände der Wehrmacht, Burschenschaften und
Teile der Vertriebenenverbände. Dort hat sich in der Ver-
gangenheit eine enge Zusammenarbeit zwischen Konser-
vativen und Rechtsextremisten entwickeln können und
ich meine, dass auch dieses Parlament damit nicht mehr
ignorant und verharmlosend umgehen darf.
Ein anderes Beispiel ist die weit verbreitete Fremden-
feindlichkeit. Sie ist Ergebnis jahrelanger falscher Poli-
tik. Wer Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, als
„Gastarbeiter“ diskriminiert, als Menschen zweiter
Klasse einstuft, ihnen nicht einmal das kommunale Wahl-
recht einräumt, wer Flüchtlinge als „Asylanten“ herab-
setzt und das Asylrecht so restriktiv wie möglich hand-
habt, muss sich nicht wundern, wenn braune Gewalttäter
noch ganz anders gegen diese Menschen vorgehen.
Wer Rechtsextremismus bekämpfen will, muss frem-
denfeindliche Bestimmungen und Gesetze grundlegend
korrigieren und aufheben. Wenn zum Beispiel Menschen
aus Vietnam, die seit über zehn Jahren hier leben, oder
Menschen aus Krisengebieten wie Sri Lanka und anderen
Regionen abgeschoben werden, dann muss das ebenfalls
thematisiert werden, genauso wie die Gettoisierung von
Flüchtlingen. Das arbeitet meines Erachtens in der Tat
auch den Brandstiftern in die Hände, denn die Hemm-
schwellen werden hier immer niedriger.
Auch fremdenfeindliche Sprüche, wie wir sie aus die-
sem Hause und aus anderen Parlamenten kennen – „Kin-
der statt Inder“ ist schon genannt worden, „Grenzen der
Belastbarkeit“ nenne ich –, aber auch Kampagnen, wie sie
von der CDU/CSU gegen den Doppelpass geführt wur-
den, tragen zu diesem Klima bei.
Ich habe hier eine Resolution des Jugendparlaments
aus diesen Tagen. Ich zitiere:
Rechtsextremismus lebt von der täglichen Sorge vor
dem Neuen und dem Vorurteil gegenüber allem
Fremden. Mancher scheinbar harmlose Spruch über
Minderheiten bereitet den Boden vor.
An anderer Stelle heißt es:
Vor allem Politikerinnen und Politiker dürfen keinen
Zweifel darüber aufkommen lassen, dass Auslände-
rinnen, Einwanderer, Flüchtlinge, Menschen anderer
Hautfarbe oder anderen Glaubens nicht nur geduldet,
sondern willkommen sind.
Ich meine, dass diese Resolution, die ja einstimmig
vom Jugendparlament beschlossen wurde, ein Vorbild für
den Deutschen Bundestag sein sollte und er sich diese zu
Eigen machen sollte.
Ich will jetzt einige Punkte nennen, auf die sich der
Bundestag meines Erachtens bei gutem Willen als auf
eine Art Sofortprogramm sehr schnell einigen könnte.
Erstens. Es gab vor Jahren eine gute Kampagne der Ge-
werkschaften: „Mach’ meinen Kumpel nicht an“. Eine
ähnliche Kampagne durch Aufklärungsarbeit könnte so-
fort beginnen, wenn denn dafür die Mittel zur Verfügung
gestellt würden.
Darüber hinaus könnten auch Preisausschreiben an
Schulen und unter Jugendlichen mit der Losung „Weg mit
dem Nazidreck“ veranstaltet werden. Sicherlich würde
das dazu beitragen, in den Schulen Diskussionen anzure-
gen bzw. gegen Nazischmierereien und Nazisprüche
vorzugehen.
Zweitens. Innenbehörden und Verfassungsschutzämter
haben rechte Gewalt jahrelang verharmlost. Deshalb ist
eine unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rassismus
und rechte Gewalt dringend nötig, an die sich vor allen
Dingen auch die Opfer rechter Gewalt wenden können.
Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die von
vielen Kriminologen.
Drittens. Es ist hier schon gesagt worden, dass für die
Opfer rechter Gewalt und ihre Angehörigen mehr getan
werden muss. Im Opferentschädigungsgesetz steht bisher,
dass nur Menschen, die hier länger als ein halbes Jahr le-
ben, Entschädigungen erhalten können. Das muss unbe-
dingt verbessert werden. Ich möchte an dieser Stelle noch
einmal darauf hinweisen, dass es nicht sein kann, dass
Menschen, die Opfer rechter Gewalt geworden sind, ab-
geschoben werden, wie es passiert ist.
Frau Kollegin, den-ken Sie an Ihre Redezeit.
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Ich komme gleich zum Schluss.
Ein weiterer Vorschlag, der mir noch sehr wichtig ist,
bezieht sich auf eine Idee, die die Gewerkschaft der Poli-
zei schon 1994 aufgegriffen hat. Ich zitiere aus dem Vor-
schlag:
Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, darauf
hinzuwirken, dass ... Bestrebungen zur Wiederbele-
bung nationalsozialistischen Gedankengutes für
verfassungswidrig erklärt werden.
Sie schlägt vor, dies in Art. 26 des Grundgesetzes aufzu-
nehmen. Auch das wäre eine wichtige Initiative.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sehr deutlich sa-
gen: Rechtsextremismus muss bekämpft werden. Die an-
tifaschistische Bewegung formuliert im Moment die Pa-
role: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein
Verbrechen. – Danach sollten wir handeln.
Jetzt erteile ich der
Kollegin Ute Vogt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ein älterer Herr proklamiertam Tresen der „Winzerstube“, dass es doch gut wäre,wenn der „Herr aus Braunau“ wieder da wäre, um Ord-nung zu schaffen. Die Kellnerin sagt: Hitler interessiertmich nicht; ich lasse eben die Rollläden herunter, wenndie Herren von der NPD da sind. Dann bringe sie das Bierund das sei es dann.Andere schreien auf Aufmärschen: Keine Arbeit für AliMustafa in Germanien! Ein Landesvorsitzender der NPD,ein Student der Rechtswissenschaften, fasst zusammen,das Recht der Ausländer in Deutschland sei, zu wählen, obsie per Flugzeug oder per Eisenbahn aus dem Land ge-worfen werden wollen.Wesentlich subtiler geht es an manchen Stammtischenoder anderen Orten zu, wo Sprüche und Witze auf Kostenanderer Menschen, Menschen, die einem fremd sind oderdie aus anderen Ländern kommen, gerissen werden. ÜberWitze lachen viele. Andere Aussagen entsetzen uns. Siespiegeln die Vorurteile von Menschen wider. Die Aussa-gen sind nicht selten Ausdruck von Ängsten vieler Bür-gerinnen und Bürger. Vorurteile und Ängste vor der eige-nen Zukunft fügen sich schnell zur Suche nach einemSündenbock zusammen, einem, der für alle Unsicherhei-ten und für alles Schlechte in der eigenen Lebenssituationherhalten muss.Es ist unsere Verantwortung, hier in diesem Parlamentals Politikerinnen und als Politiker diese Ängste ernst zunehmen. Es ist aber gleichzeitig auch unsere Verantwor-tung und unsere Verpflichtung, Vorurteilen undoberflächlichen Betrachtungen entschieden entgegenzu-treten und zu widersprechen.
Es ist richtig, dass wir ein breites gesellschaftlichesBündnis brauchen. Auch ist es notwendig, dass wir Bür-gerinnen und Bürger, Verbände, Vereinigungen und vieleGruppierungen auffordern, mitzumachen, Zivilcouragezu zeigen und sich für die Demokratie aktiv zu engagie-ren.Aber all diese Appelle, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, werden ins Leere laufen, wenn wir nicht selbst vor-bildlich handeln,
wenn wir selbst bei der Auswahl der Worte nicht sehrsorgfältig sind, mit denen wir über andere Menschen undüber anstehende Probleme reden. Es geht um Sorgfalt, ge-naues Hinschauen und differenziertes Argumentieren.Das heißt auch, dass wir der Versuchung widerstehenmüssen, bei Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerungeinzuhaken und auf populistische Weise um Wähler-stimmen zu buhlen, weil dies in der Konsequenz zu Aus-grenzung führt und damit Fremdenfeindlichkeit unter-stützt wird und Argumente für sie geliefert werden.Ich hätte mir sehr gewünscht, dass viele der politischenAuseinandersetzungen des letzten Jahres und insbeson-dere viele der Kampagnen im Rahmen von Landtags-wahlkämpfen nicht stattgefunden hätten.
Wir sollten heute gemeinsam nach vorne schauen und unsüberlegen, wo die Herausforderungen für unsere Demo-kratie und für uns als Parlamentarier liegen. Wir solltender Versuchung widerstehen, einfache Lösungen anzubie-ten. Verbote sind in vielen Fällen unabdingbar, aber wirwissen alle: Verbote ändern keine Gesinnung.Ich möchte auf eine Gefahr beim Verbot der NPD hin-weisen. Es sind – es wurde schon angesprochen – auch an-dere rechtsextreme Parteien bei uns im Land tätig. DieDVU und die so genannten Republikaner haben sich so-gar in Landtagen festgesetzt. Wir sollten in dieser Dis-kussion nicht zulassen, dass diese sich das Mäntelchen derUnschuld umhängen, mit dem Finger auf die NPD zeigenund sagen: Das sind die Bösen, wir sind die Guten. – Ichsage Ihnen: Mir dreht es wirklich den Magen um, wennich sehe, dass Herr Schlierer in Baden-Württemberg imMoment eine Veranstaltung ankündigt, auf der er zumThema „Keine Gewalt gegen Fremde“ redet, weil dieseLeute die geistigen Brandstifter sind, sie Vorurteileschüren und sie täglich mit allem, was sie sagen und tun,dafür arbeiten, dass Menschen gegeneinander aufgehetztwerden.
Diese Verlogenheit muss man aufdecken und gegen siemuss man sich stellen. Es geht darum, dass wir in unsererGesellschaft umdenken. Wir brauchen einen Wandel inden Grundeinstellungen. Wir wissen – Wolfgang
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Thierse hat es angesprochen –: Es gibt keine einfachenLösungen, weil es vielfältige Formen von Rechtsextre-mismus gibt. Es handelt sich eben nicht mehr um den ar-beitslosen Alkoholiker aus dem problematischen Wohn-viertel, sondern es gibt in einigen Teilen der Bevölkerungeine schleichende, stille Akzeptanz von Vorurteilen. Esentwickelt sich zum Teil auch an unseren Hochschuleneine intellektuelle Szene, die die geistige Brücke hin zumRechtsextremismus bildet und die die ideologischenGrundlagen dafür legt, dass andere auf die Straße gehen,junge Menschen einfangen und versuchen, sie für sich zugewinnen.
Zum Thema Differenzierung habe ich insbesondere andie Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU die Bitte,dass wir tatsächlich auch zwischen Rechts- und Links-extremismus unterscheiden.
Wir sind uns einig, dass wir Extremismus in jeder Formbekämpfen und ihn von beiden Seiten angehen wollen.Aber es sind unterschiedliche Debatten; denn Links- undRechtsextremismus unterscheiden sich in der Zielsetzungund der Motivation der Einzelnen. Wir brauchen andereAnsätze für die jeweilige Gruppe. Ich bitte Sie, dass wirdiese beiden Diskussionen zwar führen, aber sie getrenntführen und nicht immer versuchen, alles in einen Topf zuwerfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es schaffenwollen, dass es nicht nur ein kurzes Aufflackern in einersonst nachrichtenarmen Zeit des Sommers war, wenn wirwollen, dass das Thema Rechtsextremismus aktiv aufge-griffen wird, dann bedeutet das: Wir müssen uns diesemThema langfristig widmen. Wir müssen uns dauerhaft an-strengen, unsere Demokratie positiv darzustellen. Wirmüssen den Wert der Demokratie gemeinsam verdeutli-chen und bewusst machen.Ich finde, die Debatte heute ist ein guter Anfang, weilwir dadurch – zumindest bisher – gezeigt haben, dass wirin der Lage sind, eine demokratische Streitkultur in die-sem Haus zu pflegen, bei der man unterschiedliche Argu-mente austauschen kann, ohne dass man jeweils nur plattaufeinander einhaut. Es gibt kein einfaches Rezept fürkurzfristige Erfolge. Entscheidend ist, dass wir jungeMenschen, die für leere Parolen anfällig sind, ernst neh-men, ihre Schwierigkeiten und Ängste aufgreifen, sie inunsere Überlegungen einbeziehen, ihnen Selbstwertge-fühl vermitteln und vor allem zeigen, dass wir sie brau-chen und dass sie in der Gesellschaft mitmachen können,
sodass sie nicht auf zweifelhafte Kameradschaften ange-wiesen sind. Es ist ganz zentral, dass wir anerkennen: Nurwer stark ist und wen wir selbst mit einer Position in un-serer Gesellschaft ausstatten, nur der hat auch die Kraft,andere neben sich anzuerkennen und anzuerkennen, dassauch jemand, der anders ist als man selbst, seinen Stel-lenwert hat und seinen wichtigen Beitrag in dieser Ge-sellschaft leisten kann.Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam tatsächlich nachdiesen Maximen handeln, denn auch junge Leute lernennicht so viel aus Büchern, sondern viel mehr aus dem, wasman ihnen vorlebt. Insofern sind wir alle in einer großenVerantwortung.
Nun erteile ich dem
bayerischen Staatsminister des Innern, Herrn Dr. Günther
Beckstein, das Wort.
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (von
Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Abgeordneten! Ich halte es für wichtig, dass der Deutsche
Bundestag sich heute in einer grundsätzlichen Debatte mit
der Frage der Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit beschäftigt. Ich halte es auch für
wichtig, dass die Länder, denen hierbei eine große Auf-
gabe zukommt, hier das Wort ergreifen. Darum möchte
ich mich ausdrücklich bei der CDU/CSU-Fraktion dafür
bedanken, dass sie mir Redezeit abtritt. Denn einer der
Gründe, warum Vertreter des Bundesrats nicht immer in
großer Zahl vertreten sind, ist ja, dass die Abgeordneten
des Bundestages die Anrechnung auf die eigene Redezeit
nicht überall extrem schätzen.
Herr Minister, Sie
könnten aber auch zuhören. Das wäre doch ganz gut.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, für diesen Hinweis bin ich dankbar, aberich weise darauf hin, dass das Zuhören dank modernerKommunikationsmittel auch möglich ist, wenn man nichthier im Saal sitzt.
Man braucht auch stundenlange Reisen gar nicht erst an-zutreten, wenn man die Debatten über ein entsprechendesMedium verfolgt.
Aber mir geht es darum, deutlich zu machen, dass ichdiese Debatte für wichtig halte, und ich will meinen Bei-trag dazu leisten.Lassen Sie mich in allem Ernst sagen – ich will dasganz bewusst vor die Klammer setzen, weil wir in dieserDiskussion auch die eine oder andere politische Ausei-
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Ute Vogt
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nandersetzung zu führen haben –, dass es mir als demVerantwortlichen für die Sicherheit in einem Bundeslandeine drängende Sorge ist und es mir manchmal den Schlafraubt, wenn ich daran denke, dass es Menschen im Landgibt, die Angst haben, auf die Straße zu gehen. Politik imRechtsstaat trägt dafür die Verantwortung, dass jede Per-son sich an jeder Stelle des Landes aufhalten kann und siesicher ist, unabhängig davon, ob es Tag oder Nacht ist, obsie Mann oder Frau ist, unabhängig davon, ob es sich umeinen Deutschen oder Ausländer handelt, ob sie vonschwarzer, weißer oder gelber Hautfarbe ist, und – das be-tone ich – unabhängig davon, ob sie Wissenschaftler oderFlüchtling ist. Selbst derjenige, der am nächsten Tag ab-geschoben werden muss, sollte nicht Angst haben müs-sen, am Tag vorher von irgendeinem Schläger angegriffenzu werden. Wenn das passiert, haben alle Verantwortli-chen die Aufgabe, mit aller Massivität des Rechtsstaatsgegen Gewaltübergriffe vorzugehen.
Der Schutz vor Gewalt, der Schutz der persönlichenUnversehrtheit, ist die absolute Voraussetzung für alleweiteren Menschenrechte, die geltend zu machen sind.Deswegen ist der Schutz vor Kriminalität auch eine der al-lerersten Aufgaben, die jeder Rechtsstaat hat und die erwahrnehmen muss. Sobald ein Staat diese Aufgabe nichtmehr hinreichend wahrnehmen würde, wäre auch die Ak-zeptanz eines solchen Staates gefährdet.Wir müssen jetzt natürlich fragen: Wie ist die aktuelleSituation? Im Sommer hatten wir eine Menge Gewaltta-ten. Ich habe auch überhaupt keine Probleme damit fest-zustellen, dass die aktuelle Frage derzeit der Rechtsex-tremismus ist. Jeder weiß, dass wir auch mit anderenExtremismusformen, zum Beispiel dem Ausländerextre-mismus – Stichwort PKK –, in den vergangenen JahrenSchwierigkeiten hatten, aber die aktuelle Diskussion be-trifft in erster Linie den Rechtsextremismus. Deswegenwill ich mich dem auch stellen und fragen: Was müssenwir tun? Gerade wenn ich die Besorgnis der Menschenernst nehme, muss ich darauf hinweisen: Wir müssendafür sorgen, dass jeder in diesem Land sicher ist und sichsicher fühlt.Bei allen gut gemeinten Darlegungen warne ich davor,den Eindruck zu erwecken, man dürfe als Ausländer nir-gendwo mehr auf die Straße gehen, ohne gefährdet zusein. Herr Kollege Özdemir, wir waren bei dem Ab-schiedsempfang des türkischen Botschafters Vural, dermich mit ergreifenden Worten darauf hingewiesen hat,dass nach seiner Meinung die derzeitige Diskussion dazuführe, dass sich viele türkische Mitbürger nicht mehr aufdie Straße trauten.Da kann ich für Bayern nur sagen: Bei monatlich dreibis vier Straftaten in diesem Bereich in ganz Bayern wärees falsch zu sagen: Leute, ihr dürft nicht mehr auf dieStraße. – Wir müssen jede dieser Straftaten verhindernund unterbinden sowie verübte Straftaten mit Härte be-strafen. Wir müssen aber auch den Mitbürgern sagen:Macht euch nicht unnötig Angst, damit ihr euch nicht sel-ber eure Freiheitsrechte nehmt.
Ich sage das gerade auch nach Gesprächen mit jüdi-schen Mitbürgern. Es belastet mich enorm, dass jüdi-sche Mitbürger in unserem Land wieder darüber diskutie-ren, ob man in Deutschland bleiben kann oder nicht. Daswird der Realität nicht gerecht. Wir müssen alle Anstren-gungen unternehmen, jede Spur von Antisemitismus mitMassivität zu bekämpfen. Wir müssen aber auch sagen:Natürlich könnt ihr in unserem Land leben und wir wol-len alle Voraussetzungen dafür schaffen.Bezüglich der langfristigen Ursachen von Gewalt undder Möglichkeit, sie langfristig zu bekämpfen, möchte ichausdrücklich feststellen, dass vieles von dem, was HerrThierse gesagt hat, und praktisch alles, was Herr Bosbachgesagt hat, auch meine Meinung ist, sodass ich hier aufvieles verweisen kann, ohne dies im Einzelnen noch ein-mal darstellen zu müssen.Ich glaube, allen ist klar, dass die Bekämpfung der psy-chologischen und erzieherischen Ursachen für Gewalteine langfristige Aufgabe ist. Hierbei sind viele Bereiche,die Erziehung, die Schule, Eltern und auch Kirchen, alsoalle, die Werte vermitteln, in besonderer Weise gefragt.Meine Aufgabe als Innenminister ist es, in besondererWeise die kurzfristigen Maßnahmen darzustellen, dennselbstverständlich können wir nicht warten, bis alle lang-fristigen Maßnahmen der Jugendarbeit, der Jugendpolitikbis hin zum Sport wirken. Wir müssen vielmehr fragen:Wie kann man kurzfristig Gewalt und Extremismus un-terbinden?Eine der entscheidenden Grundlagen dafür ist fürmich, dass wir im Grundgesetz das Prinzip der wehrhaf-ten Demokratie verankert haben. Das bedeutet, dass wirein Staat sind, der von Toleranz geprägt ist, dass es einenweiten, freiheitlichen Raum gibt, dass der Staat daraufvertraut, dass sich im Meinungskampf die Kraft der Ar-gumente bewährt und nicht irgendwelche Schlägertrup-pen die Oberhand gewinnen, dass Entscheidungen durchWahlen getroffen werden. Wehrhafte Demokratie bedeu-tet aber auch, dass es keine Freiheit für aggressive Feindeder Freiheit geben kann.Das war für mich der Ausgangspunkt für meine Aus-sage: Wir haben in den vergangenen Monaten eindeutigfeststellen müssen, dass die NPD eine besondere Bedeu-tung im Bereich des Rechtsextremismus erlangt hat. Ichhabe übrigens, ohne dass die Öffentlichkeit sowie dieKollegen der SPD dies wahrgenommen hätten, bereits imvergangenen Jahr in einer Pressekonferenz darauf hinge-wiesen – ich könnte wörtlich zitieren, was ich im Früh-jahr 1999 ausgeführt habe –, dass NPD, Neonazis und Au-tonome dabei sind, eine neue, besondere Gefahr zuwerden.Ich habe das Verbot der NPD aus zwei Gründen zurDiskussion gestellt: Einmal geht es mir darum, ein Zei-chen für die Bereitschaft des demokratischen Staates zusetzen, die Mittel der wehrhaften Demokratie einzu-setzen, und zwar alle Mittel, die unser Rechtsstaat zur
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Staatsminister Dr. Günther Beckstein
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Verfügung hat. Als Zweites ist mir wichtig, dass ein zen-traler Faktor in der Organisation der rechtsextremen Ge-walt frontal angegangen wird und durch das Verbot in sei-nen Möglichkeiten entscheidend beschnitten wird.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-
Schröter von der PDS?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja,
bitte.
Bitte sehr, Frau Kol-
legin.
Herr Minister
Beckstein, Sie haben gerade von der wehrhaften Demo-
kratie gesprochen. Ich unterstütze das. Für mich gehören
zur wehrhaften Demokratie auch Demonstrationen gegen
Rassismus. Ich komme aus einem Wahlkreis, in dem es
bis vor kurzem eine Druckerei gab, die NPD-Druckerei
Sinning, die jetzt aber weggezogen ist.
Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass zum Beispiel
Menschen, die gegen diese Druckerei demonstriert haben,
die in Passau gegen DVU und NPD demonstrieren, in
Ihrem Verfassungsschutzbericht erscheinen?Glauben Sie
nicht, dass auch das Rassismus fördert? Wie beurteilen
Sie die Tatsache, dass der Ministerpräsident Bayerns, des
zweitgrößten Bundeslandes, immer wieder von einer
„durchrassten Gesellschaft“ spricht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ichwill nur knapp darauf antworten.Zunächst: Das Verbot einer Demonstration ist dannmöglich, wenn es Hinweise auf Gewalttätigkeiten gibt.Auch wenn Leute gegen Rassismus demonstrieren, müs-sen sie friedliche Mittel wählen und dafür sorgen, dassGewalttäter nicht dabei sind.
Ich sage das gerade auch an Ihre Adresse: Sorgen Siedafür, dass Sie sich von der „Arbeitsgemeinschaft JungeGenossInnen“ in der PDS,
die von nahezu allen Bundesländern als eine verfassungs-feindliche und auch nicht die Friedlichkeit wahrende Or-ganisation eingestuft wird – lesen Sie den Bericht desBundesamts für Verfassungsschutz nach –, distanzieren!Denn Sie tragen damit Mitverantwortung für die Gewaltin diesem Land.
Das Zweite. Ich halte es schlichtweg für unanständig,einem Politiker, der sehr viel reden muss – wie wir Politi-ker alle –, eine Äußerung, die er nach wenigen Minutenzurückgenommen und für die er sich entschuldigt hat,auch nach Jahren noch zuzurechnen. So kann man nichtmiteinander umgehen.
Dass sich die NPD verändert hat, ist eindeutig.Führende Persönlichkeiten von Organisationen, die wirverboten haben – in den vergangenen zehn Jahren sindzehn Vereinigungen im rechtsextremistischen Bereichvom Bund und zwei von Bayern verboten worden –, sindzur NPD übergetreten. Ich will da durchaus Ross und Rei-ter nennen, obwohl das unappetitlich ist. Aber man musssehen, welche Gefahren bestehen. Ich will nur drei Na-men nennen: Sascha Roßmüller, der beim NationalenBlock war, ist jetzt der Bundesvorsitzende der Jungen Na-tionaldemokraten. Jens Pühse, der bei der NationalenFront war, die wir verboten haben, ist jetzt Bundes-organisationsleiter. Steffen Hupka, der ehemalige NPD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, war ebenfallsfrüher bei der Nationalen Front.Wir haben darauf hingewiesen, dass die NPD ein Drei-Phasen-Konzept hat: Kampf um Köpfe, Kampf um dieStraße, Kampf um Parlamente. Sie selber sagt, dass essich bei ihrer jetzigen Aktivität um den Kampf um dieStraße handelt. Dabei verfolgt sie eine Doppelstrategie,wie die Verfassungsschutzbehörden festgestellt haben:Ausnutzen der Privilegien einer Partei – zum Beispiel mitder Erleichterung im Bereich des Demonstrationsrechts –und gleichzeitig Einbindung von Kameradschaften undSkinheads einschließlich Gewaltbereiter.Deswegen muss man meines Erachtens, wenn manwirklich alle Mittel der wehrhaften Demokratie einsetzenwill, auch die Frage eines NPD-Verbotes angehen, zumaldort völkischer Kollektivismus, Rassismus, übersteigerterNationalismus und die Diffamierung der Parteien und desStaates – von „Demokratur“ ist da die Rede – völlig ein-deutig nachgewiesen sind.Wir haben einen ganzen Leitz-Ordner voll Materialdazu an die zuständigen Stellen des Bundes gegeben. Ichhabe gelesen, dass der Bundeskanzler mir bei der Debattehier im Bundestag am 13. September schöne Grüße hatausrichten lassen; verbunden mit der Aufforderung, wirsollten Material liefern. Ich bedaure, dass die Bürokratiein der Bundesregierung so langsam ist, dass das zwischendem 16. August – der ersten, großen Teillieferung – bzw.Ende August – der zweiten, abschließenden Lieferung –und dem 13. September nicht bis zum Bundeskanzleramtgedrungen ist.
– Ja, ich weiß selber, wie hemmend Bürokratie sein kann.Aber in der Spitze sollte das nicht vorkommen. Das stelltder Aktionsfähigkeit des Kanzleramts kein gutes Zeugnisaus. Herr Schily, vielleicht geben Sie da einmal Nachhil-feunterricht.
Wir haben diese Materialien vorgelegt. Ich bin wieauch meine Mitarbeiter im Haus felsenfest davon über-zeugt – wir hatten das über Monate geprüft –, dass dieMittel eindeutig beweisen, dass die NPD nicht nur eine
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verfassungsfeindliche, sondern auch eine aggressivkämp-ferische Partei ist.Weil hier die Diskussion beginnt, möchte ich einesganz deutlich sagen: Ich halte es für erforderlich, dass al-les, was der Verfassungsschutz ermittelt hat, in das Ver-botsverfahren eingeführt werden kann. Ich bin Ihnen,Herr Minister Schily, dankbar dafür, dass Sie dafür sor-gen, dass nicht beispielsweise der Datenschutz verhin-dert, dass Abhörergebnisse aus rechtsstaatlich zulässigenTelefonüberwachungen verwendet werden können. Eskann ja wohl nicht richtig sein, dass der Verfassungs-schutz die Aufgabe hat, Gefahren für die Demokratie fest-zustellen, aber dass man das, was dann festgestellt wird,nicht in Verfahren einbringen kann. Ich meine, wir müs-sen glasklar auf dieser Möglichkeit bestehen. Notfallsmüssen wir in diesem Parlament dafür entsprechenderechtliche Grundlagen schaffen.
Ich bin auch dafür – und ich bedanke mich, dass hierZustimmung von den Länderkollegen signalisiert wordenist –, dass wir die Möglichkeit der Überwachung desPost- und Fernmeldeverkehrs bei einzelnen Straftäternhaben müssen. Bisher ist dafür Voraussetzung, dass essich um Banden, um Gruppen handelt.Es ist davon gesprochen worden, dass die meistenTäter im rechtsextremistischen Bereich zwischen 18 und21 Jahre alt sind. Dennoch dürfen wir nicht automatischsagen: Das sind Jugenddummheiten. Wenn ein 20-Jähri-ger „Juden raus“ ruft oder entsprechende Schmierereienmacht, dann verdient er es in aller Regel, dafür als Er-wachsener bestraft zu werden. Das kann nicht etwa alseine Jugenddummheit abgetan werden.
Ich appelliere auch an alle, anders als in der Vergan-genheit den Verfassungsschutz nicht zu schwächen, son-dern den Verfassungsschutz zu stärken. Herr Özdemir, wirbrauchen einen starken Verfassungsschutz, damit wirnicht erst den Straftätern hinterherlaufen, sondern mögli-che Straftaten, gerade auch im rechtsextremistischen Be-reich, verhindern. Ohne einen starken Verfassungsschutzhätten wir nie die Kundgebungen anlässlich des Heß-To-destages in Wunsiedel in den Griff gekriegt. Das muss derVerfassungsschutz vorher wissen, damit die Polizei dortist, wenn die Leute ankommen, damit sie sie präventivkontrollieren und diejenigen, die beispielsweise verbo-tene Gegenstände dabei haben, in den polizeilichen Un-terbindungsgewahrsam nehmen kann. Mit diesen Mitteln,die die wehrhafte Demokratie setzt, haben wir die Proble-matik dieser Fragen massiv reduzieren können. Wir sindja auch in anderem Zusammenhang, beispielsweise beiden Fußball-Hooligans, so vorgegangen.Eine kleine Randfrage noch, die mir aber auch ein we-sentliches Anliegen ist: Ich ärgere mich seit Jahren darü-ber, dass Extremisten gerade deswegen, weil sie Extre-misten sind, das Bedürfnis nach einem Waffenscheinzuerkannt wird. Es kann doch nicht richtig sein, dass einextremistischer Herausgeber einer Nationalzeitung ge-rade deswegen die Möglichkeit hat, einen Waffenscheinzu bekommen, weil er sagt, dass er auch von Linksextre-men bedroht wird. Wir müssen in die Novelle des Waf-fengesetzes einführen, dass Extremisten keinen Waffen-schein bekommen.
Ich stimme auch zu, dass wir die Möglichkeiten desOpferschutzes verbessern müssen. Aber ich sage auch:Das ist ein generelles Problem. Wir müssen insgesamtdafür sorgen, dass wir nicht immer nur an die Täter den-ken. Vielmehr müssen wir insbesondere auch daran den-ken, wie wir Opfer besser schützen können, zum Beispielin den Gerichtsverfahren. Wir haben in Bayern partiell dieMöglichkeit eingeführt, dass ein Opfer von Gewaltebenso einen Pflichtverteidiger auf Steuerzahlerkostenbekommt wie der Täter.
Ich appelliere an Sie, diese Möglichkeit überall einzu-führen. Wenn Sie das vielleicht auch noch von Bundeswegen bezahlen, dann wären wir natürlich völlig glück-lich.Zu einem letzten Punkt: Es gehört in ein Parlament,dass man in der geistigen Auseinandersetzung um solcheDinge ringt. Ich bin den Kollegen Bosbach undWesterwelle ausnehmend dankbar, dass sie ausdrücklichsagen: Es muss möglich sein, wertkonservative Haltun-gen darzustellen oder auch Fragen anzusprechen, die ei-nen großen Teil der Bevölkerung bewegen, ohne dass dasin der Polemik der Diskussion gleich als Kampfmittel derDemagogie bezeichnet wird und man so tut, als hätte dasetwas mit Rechtsextremismus zu tun.Ich möchte Sie, Frau Müller, direkt ansprechen: Ichfinde es schon seltsam, dass man sagt, es müsse einheitli-che Meinung sein, dass man sich über Fragen der Auslän-derpolitik nicht streitet, sondern großen Konsens herstellt,und die Niederlande als Beweis dafür anführt. Das Asyl-recht der Niederlande wäre mit unserer Zustimmung mor-gen einzuführen: Aufenthaltsbeschränkung für diejeni-gen, die reinkommen, und beschleunigte Verfahren,sodass die Außerlandesverbringung der Abzuschie-benden, der Abgelehnten, binnen drei Monaten möglichist. So partiell kann man nicht denken, dass man sagt: Das,was meine Meinung ist, das ist die Demokratie, und an-dere Meinungen sind automatisch Extremismus. Es istauch eine Form des totalitären Denkens, wenn man deneigenen Standpunkt absolut setzt.
Demokratie lebt davon, dass man den anderen ernstnimmt. Aber wenn Sie für Ihre Meinung absolute Gültig-keit beanspruchen, dann können wir das mit demselbenRecht auch für unsere Meinung verlangen.Als ich damals an diesem Pult das erste Mal dargestellthabe, was wir uns unter einer neuen Ausländerpolitik vor-stellen – ich bin der Meinung, dass man auch hier darüberreden muss –, habe ich Folgendes gesagt: Ich lasse esnicht zu, dass irgendjemand die Leistungen der Bundes-länder im Bereich humanitärer Verpflichtungen gerade in
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den letzten Jahren bei der Aufnahme von Flüchtlingenkleinredet. Wir haben mehr Bosnier, mehr Kosovo-Alba-ner als jedes andere Land in Europa aufgenommen,
übrigens ohne nennenswerte finanzielle Hilfe des Bun-des – unabhängig davon, ob es die frühere oder die jetzigeBundesregierung war.Die Länder und die Gemeinden haben die finanziellenOpfer erbracht. Wir haben hier mehr Humanitäres geleis-tet als alle anderen europäischen Länder zusammen. Daswar zwar gut so. Aber wir müssen darüber hinaus durchVeränderung unseres Ausländerrechts mehr Spielräumefür die Aufnahme von Menschen schaffen, die wir benöti-gen – ich verwende extra nicht den Begriff „Nutzen“ –,und zwar von Wissenschaftlern bis hin zu Fußballspie-lern. Jedes Land auf der Welt richtet sein Einwanderungs-recht an den eigenen Interessen aus. Wer das bestreitet,verkennt die Bedeutung dieser Frage, zumal auch unsereMitbürger nicht ohne weiteres bereit sind, selber finanzi-elle Opfer zu erbringen, zum Beispiel massive Einschnittedurch eine Gesundheitsreform hinzunehmen und auf be-stimmte medizinische Behandlungen zu verzichten, undgleichzeitig in anderen Bereichen grenzenlose Unterstüt-zung zu gewähren.Es ist zwar nicht erstaunlich, dass die PDS die Fragedes volkswirtschaftlichen Nutzens ganz bewusst tabui-siert und als Kampfmittel missbraucht, denn die Nachfol-georganisation der SED hat bis heute Leute in ihren Rei-hen, die auf jeden Fall als Extremisten bezeichnet werdenmüssen und die selber über Jahre hinweg die Menschen-rechte mit Füßen getreten haben. Aber dass auch Teile derGrünen und der SPD die Tabuisierung dieser Frage ganzbewusst als Kampfmittel einsetzen, ist meines Erachtensein schwerer Fehler, weil das die bisherige Einigkeit überden Grundsatz gefährdet, dass in der Demokratie zwarüber alles gestritten werden kann, aber über eines nicht:Die Auseinandersetzungen, die in Form von Rede und Ge-genrede, von Argument und Gegenargument geführt wer-den, werden letztlich durch Abstimmungen im Parlamentund durch Wahlen und nicht durch Gewalt entschieden.Darüber sollte es einen Grundkonsens geben.
Das betrifft auch die Frage – die kann sich sehr schnellwieder anders stellen – nach dem Schwerpunkt der Ge-walt. Herr Schily, wie intensiv bereiten wir uns doch aufpolizeilicher Ebene auf den nächsten Castor-Transportin diesem Jahr vor! Wenn er durchgeführt wird, dann wer-den Sie sehen, dass sich beim Thema Gewalt auch wiederandere Fragen stellen. Sie wollen doch auch nicht, dass je-der, der gegen Atomkraft ist, für die rund um den Castor-Transport begangenen Gewalttaten verantwortlich ge-macht wird.Wenn wir von demokratischer Gemeinsamkeit reden,dann setzt das auch Toleranz der anderen Meinung, auchder Meinung von Wertkonservativen, voraus. Wenn wirdiese Toleranz nicht aufbringen, können wir mit dem Re-den aufhören. Wir brauchen Gemeinsamkeit bei derBekämpfung des Rechtsextremismus, des Linksextremis-mus und der Gewaltbereitschaft. Aber wir brauchen aucheine gemeinsame Auffassung darüber, dass wir in einerDemokratie über alle Fragen, die die Menschen bewegen,reden, diskutieren und manchmal auch streiten können.
Herr Minister, Sie
hätten noch Gelegenheit gehabt, auf eine Frage des Kol-
legen von Larcher zu antworten. Aber diese Gelegenheit
ist jetzt vorbei.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Cem Özdemir,
Bündnis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte,bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne, zunächstdie Gelegenheit nutzen, Herrn BundestagspräsidentThierse zur Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises derStadt Frankfurt zu beglückwünschen. Ich glaube, er hatmit der Rede, die er heute gehalten hat, bewiesen, dass erdiesen Preis zu Recht erhalten hat.
Ich möchte uns allen ein Kompliment für die bisherigeQualität der Debatte machen. Ich glaube, wir hatten imBundestag selten eine Debatte, die sich zu herausgehobe-ner Zeit mit diesem Thema auf diese Weise beschäftigthat. Von einigen Ausnahmen abgesehen haben die meistender Versuchung widerstanden, hier die klassischen Kli-schees zu wiederholen, und sich die Mühe gemacht, denTiefgang der Debatte im Sommer in diesem Hause fort-zuführen.Ich will Ihnen ein Angebot machen – von den Kollegender Union wurde das gelegentlich angesprochen –: WennSie das Bedürfnis haben, über den Linksradikalismus zudiskutieren, dann tun Sie das. Sie haben die Möglichkeit,in diesem Haus Anträge zu stellen und Debatten zu bean-tragen. Das wird dann so geschehen. Niemand scheut sichdavor, diese Debatten zu führen.Ich will ausdrücklich wiederholen – es wurde ver-schiedentlich gesagt –: Linksradikalismus und Rechtsra-dikalismus in der Bundesrepublik Deutschland könnenund dürfen nicht gleichgestellt werden. Wir haben zurzeitdas Problem, dass das Leben von Menschen auf eine ganzextreme, widerliche Art und Weise bedroht wird. Die Zah-len sprechen eine sehr deutliche Sprache. Ich glaube, wirsollten die Qualität der Debatte im Sommer nicht dadurchkaputtmachen, dass wir dort Gleichsetzungen vornehmen,wo sie nicht gestattet sind.
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, den Medienzu danken; denn es waren die Medien, die dieses Themain alle Wohnzimmer getragen haben. Sie haben die Per-spektive der Opfer, die allzu oft und allzu lange vergessenworden sind, in den Mittelpunkt gerückt. Die Medien
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Staatsminister Dr. Günther Beckstein
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haben auch deutlich gemacht, dass es neben allem Kri-tikwürdigen, neben allem Widerwärtigen – Glatzköpfe,Rechtsradikale, die gegen die Opfer ihrer Gewalt het-zen – viele Initiativen in unserer Republik und viele en-gagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die sich fürein tolerantes Zusammenleben in Deutschland einsetzen.Dies ist das anständige Deutschland, das wir Abgeordne-ten in diesem Hause vertreten. Daran sollten wir uns im-mer wieder erinnern.Die Medien haben darauf hingewiesen, dass esheute beispielsweise das „www.netz-gegen-rechts.de“,die „Aktion ,Z’“ der „taz“, die Spendensammelaktionder „Zeit“ und des „Stern“ für die Amadeo-Antonio-Stif-tung – der der Bundestagspräsident und ich angehören –gibt. Außerdem haben die Medien deutlich gemacht: Esbedarf Maßnahmen mit Tiefe. Die Grundvoraussetzungfür ein Verhindern der Ausbreitung rechtsextremen Ge-dankengutes ist die Verteidigung demokratischer Wertedurch die Zivilgesellschaft.
Dazu gehört allerdings auch, dass man sich dem Tür-kenwitz entgegenstellt, der irgendwann zum Judenwitzwird.
Jeder und jede ist gefordert – auch im Betrieb –, nichtwegzuschauen, wenn solche Witze geäußert werden,sondern mutig einzugreifen. Es geht um den Einsatz fürdie Werte dieser Gesellschaft, die immer und überallverteidigt werden müssen. Initiativen wie die „AktionNoteingang“, „Exit“, der „Verein Miteinander“, „AktionCourage“ und die bereits mehrfach erwähnte„Amadeo-Antonio-Stiftung“ leisten eine hervorragendeArbeit. Ich glaube, ich kann ihnen im Namen des ganzenHauses für ihre Demokratiearbeit – nichts anderes ist es,was sie tun – danken. Sie arbeiten für unsere Demokratieund setzen das um, wofür wir hier gemeinsam werben.
Wir brauchen mehr mobile Beratungsteams. Die Kom-munen, die Schulen und die Polizei dürfen im Umgangmit Rechts nicht alleine gelassen werden. Sie müssen be-raten und entsprechend geschult werden, damit sie nochbesser als in der Vergangenheit in der Lage sind, sich demRechtsextremismus entgegenzustellen.Herr Beckstein, Sie haben das NPD-Verbot angespro-chen. Andere Redner sind ebenfalls darauf eingegangen.Ich möchte dieses Thema in aller Ernsthaftigkeit aufgrei-fen. Sie wissen, dass wir in dieser Republik bereits meh-rere Verbote gegen rechtsextreme Organisationen erlas-sen haben. Die FAP und die Wiking-Jugend wurden 1992verboten. Mittlerweile gibt es eine Art Arbeitsteilung inder rechtsextremen Szene. Sie kennen dies aus den Be-richten des Verfassungsschutzes, aber auch von vielen Ex-perten.Eine wichtige organisatorische Stütze sind die NPDund natürlich auch die Jungen Nationaldemokraten.Durch das Parteienprivileg – Sie haben das angesprochen –kann die NPD Veranstaltungen organisieren, Säle mietenund beispielsweise auch die staatliche Parteienfinanzie-rung in Anspruch nehmen. Deshalb ist es gut und richtig,dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländernzurzeit die Voraussetzungen eines Verbotsantrages prüft.Frau Kollegin Müller, Kollege Westerwelle und anderehaben angesprochen, was das heißt: Wir müssen uns si-cher sein, dass wir, wenn wir vor das Bundesverfassungs-gericht ziehen – man wird sich bestimmt in Karlsruhewiedersehen –, nicht hinterher als Verlierer dastehen.
In diesem Fall würden nicht nur wir, sondern auch die de-mokratische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch-land würde verlieren, wenn die NPD dort einen Persil-schein für ihre widerliche Arbeit bekommt.Deshalb – dies möchte ich hinzufügen –: Ich warne da-vor, die Debatte auf ein Verbot der NPD zu konzentrieren.Uns alle erfüllt die Sorge, dass hier mit unrealistischen Er-wartungen gearbeitet wird. Es darf nicht zu einer vo-rübergehenden Entsorgung des Problems kommen. Nichtein einziges Problem durch einen Wähler der NPD wirddurch ein Verbot aus der Welt geschaffen werden. Nichtein einziger Sympathisant der NPD, nicht einer der Kaderder NPD wird seine Meinung ändern, weil die NPD ver-boten sein wird. Wir müssen uns dann auch die Frage stel-len: Was machen wir mit der DVU, was machen wir mitden Republikanern? Dann sehen Sie, dass es so einfach,wie das oft dargestellt wird, nicht ist.Wir brauchen auch mehr Opferberatungsstellen. Eswurde bereits der sehr unappetitliche Streit um die Zahlder Opfer angesprochen. Ich will mich an diesem Streitnicht beteiligen; es wurde das Notwendige dazu gesagt.Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel, für das wir alle uns ge-meinsam schämen müssen. Deshalb brauchen wir auchmehr Opferberatungsstellen, damit die Opfer rechtsradi-kaler Gewalt – da gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer, wieall diejenigen, die sich vor Ort umschauen, wissen – in derLage sind, dort, wo man sie versteht, ohne Scheu von demzu berichten, was ihnen angetan wurde. Auch unsere Po-lizei braucht das, damit sie besser in die Lage versetztwird, sich den rechtsradikalen Straftätern entgegenzuset-zen.
Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Stich-wort Schule. Die Schulen haben mittlerweile wahr-scheinlich mit die zentralste Funktion in diesem Bereich,weil wir es zunehmend mit Familien zu tun haben, die ihreAufgabe nicht erfüllen können. Entweder sind sie nicht inder Lage oder sie haben selber nie erfahren, was es heißt,Werte zu vermitteln: Werte wie Nächstenliebe, Werte wieToleranz, Werte wie das Zugehen auf Menschen fremderethnischer Herkunft. Die Schule hat zunehmend die Auf-gabe, zu kompensieren. Das ist nicht einfach. Wir müssenunsere Lehrer dabei unterstützen. Wir müssen sie aberauch in die Lage versetzen, diese Aufgabe zu erfüllen,
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weil sie zunehmend Dinge tun müssen, für die sie eigent-lich nicht ausgebildet sind und die ursprünglich nichtihrem Auftrag entsprechen.Es gibt aber viele Lehrer in den neuen Ländern – ichhabe mich selber oft mit Lehrern unterhalten –, die sagen:Ich bin müde, ich musste viele Jahre die Werte eines Re-gimes predigen, das zusammengebrochen und sinnlos ge-worden ist, und heute soll ich den Kindern etwas über De-mokratie erzählen. Lasst mich in Ruhe mit Politik, ich willdamit nichts zu tun haben!Man muss diesen Lehrern sagen, dass sie damit der of-fenen, pluralen Gesellschaft, die sie vertreten und für diesie werben sollen, einen Bärendienst erweisen. Nein, wirwerden sie nicht in Ruhe lassen können. Die Lehrer dür-fen auch die Kinder nicht in Ruhe lassen mit den Wertendieser Gesellschaft; denn sonst würde sich die Demokra-tie zurückziehen.
Ich möchte zum Schluss auf zwei Dinge eingehen, diemich nach wie vor nicht in Ruhe lassen, weil sie mich ei-nerseits zornig machen und mir andererseits auch meinenMut nehmen, mich dem Rechtsradikalismus entgegen-zusetzen. Ich werde oft für die Bundesrepublik Deutsch-land ins Ausland zu Reden eingeladen, demnächst wiederam 3. Oktober. Natürlich nutze ich die Gelegenheit, dortfür das andere Deutschland zu werben, für das plurale, fürdas demokratische Deutschland, das eine Mehrheit ist.Aber ich habe große Schwierigkeiten, das mit Überzeu-gung zu tun, wenn ich sehen muss – da möchte ich Sienoch einmal ansprechen, Herr Beckstein, weil Sie denVerfassungsschutz genannt haben –, dass in Thüringender Schwerpunkt bei der Arbeit des Verfassungsschutzesnach wie vor bei der Bekämpfung des Linksradikalismusgesetzt wird, obwohl jeder in der Republik weiß, wo dieProbleme in Thüringen sind und wo Thüringen in der Ge-waltstatistik rangiert – nämlich nicht ganz unten, sondernganz oben.
Angesichts dessen kann ein solcher Schwerpunkt dochnicht richtig sein. Ich habe Schwierigkeiten, das – nichtnur im Ausland – zu vertreten und zu sagen: Dort ge-schieht all das, was geschehen muss, um sich dem Rechts-radikalismus entgegenzusetzen.Das letzte Beispiel stammt aus Mecklenburg-Vorpom-mern – damit mir keine parteipolitische Einseitigkeit vor-geworfen werden kann –: Neulich bei „Panorama“ konnteman sehen, wie Sondereinsatzeinheiten, die zur Bekämp-fung des Rechtsradikalismus da sind, sich an einer Tank-stelle vor sich mobilisierenden Skinheads zurückziehen,weil sie sich sagen: „Es ist besser, wenn wir uns zurück-zuziehen, sonst kommt es zu irgendwelchen negativen Er-eignissen.“ Bei einem solchen Vorgehen hat sich dortnicht nur die Polizei von Mecklenburg-Vorpommernzurückgezogen, es hat sich auch diese Gesellschaftzurückgezogen. Das kann es nicht sein, wofür dieser Staatsteht.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Es ist erschreckend, mit welcher Be-denkenlosigkeit in unserem Lande Menschen wegge-stoßen, ausgegrenzt, sich selbst überlassen werden:Ausländer, Obdachlose, Behinderte, alte Leute. Der Geistder Gedankenlosigkeit, die Angst vor dem Fremden unddie Menschenverachtung sind die Quellen dieser Intole-ranz.Das wird einem auf so beschämende Art und Weisewieder deutlich und bewusst, wenn man an die Ereignisseder vergangenen Sommermonate denkt. Es stimmt michäußerst nachdenklich, dass die Hemmschwelle für Ge-walt bei von Hakenkreuz und Bier verblendeten Jugend-lichen so weit gesunken ist, dass der Zynismus der Wortebereits in Drangsalierung, ja sogar Mord umschlägt.Meine Damen und Herren, solche Parolen wie „Auslän-der raus!“, mit all ihren Variationen an Hauswände ge-schmiert oder auf der Straße gebrüllt, sollte man nichtmehr länger nur als Gerede und leere Worte unterschät-zen. Schon Faust irrte, als er sprach: „Ich kann das Wortso hoch unmöglich schätzen.“ Worte können sehr wohlverletzen, schlagen, vergiften, ja töten. Worte sind eineMacht, täglich tausendfach belegbar. Ebenso wahr ist,dass Worte auch Gutes bewirken können, die klärenden,die ermutigenden, die ehrlichen, die kritischen.Lassen Sie uns in diesem Sinne ohne parteipolitischeBrille in Gemeinsamkeit und Entschlossenheit die Kraftaufbringen, unsere Demokratie immun gegen braunes Ge-dankengut und seine Auswucherungen zu machen.
Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft aufder Straße, aber vor allem um die Köpfe unserer Jugendist eine Kriegserklärung an unsere Demokratie und stellteine gesamtgesellschaftliche Herausforderung an alleDemokraten, an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften undnicht zuletzt an die Politik dar. Als Abgeordneter ausHoyerswerda weiß ich, wie schädlich sich rechtsextremeGewalt auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-schaft allgemein auswirkt. Auch weiß ich, wie zählebigund hartnäckig ein Negativimage für eine Region wirkt,wie Medien fleißig und immer wieder ein Klischee be-dienen. Deshalb reagiere ich äußerst sensibel auf gefähr-liche Vereinfachungen, erst recht auf herablassende Be-richterstattung mancher Medien über den „unkultiviertenOsten“, die Rechtsextremismus quasi als Ost-Phänomeneinfach abqualifizieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsamdieser Tendenz entschieden entgegentreten. Ostdeutsch-land darf und kann man nicht einfach pauschal in die
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rechte Ecke stellen. Die Worte von Herrn Thierse habenmir heute sehr viel Mut gemacht. Zwar liegt in den neuenLändern regional ein Schwerpunkt rechtsextremer Ge-walttaten und der Rechtsextremismus in den neuen Län-dern ist jünger und auch militanter, aber die geistigenBrandstifter und die Geldquellen sitzen in den alten Bun-desländern. Deswegen ist das Problem des Rechtsextre-mismus kein regionales, sondern ein gesamtdeutsches.
Ebenso falsch und gefährlich sind zu einfache und zueinseitige Erklärungsversuche für die Phänomene vonAusländerfeindlichkeit,Rechtsextremismus und Gewaltbesonders in den ostdeutschen Ländern. Es gibt eben ei-nen ganzen Komplex von Ursachen. Sicher hat der ge-sellschaftliche Umbruch nach der Wende vor über zehnJahren zu Orientierungslosigkeit und Frustration beige-tragen und zu einem Wertevakuum geführt, das derRechtsextremismus leider auch ausfüllen konnte. Auchdie autoritären Strukturen in der DDR haben das Entste-hen des braunen Sumpfes begünstigt. Wer, wie in der ge-lebten Arbeiter- und Bauernrepublik, nie die Chancehatte, Alltagserfahrungen mit gleichaltrigen Ausländernzu sammeln, kann auch seine Vorurteile nicht kritischüberprüfen, seine Ängste nicht überwinden. Deshalbmuss es endlich verstärkt Programme geben, die diese Er-fahrung möglich machen. Es muss schwerpunktmäßig inden neuen Ländern in Projekte zur Förderung der Weltof-fenheit von Jugendlichen investiert werden.
Sicher gehören wirtschaftliche Probleme zu den Fak-toren, die Extremismus jeder Art begünstigen. Wennjunge Menschen nicht die Perspektive haben, sich in denStädten und Gemeinden, in denen sie zu Hause sind, ihrenLebensunterhalt zu verdienen, und keine berufliche Zu-kunft sehen, dann wird es einfach schwierig, die sich da-raus ergebenden Frustrationen aufzufangen und die vielbeschworene Bürgergesellschaft zu stärken. Wenn es unsnicht gelingt, die wirtschaftlichen Problemregionen be-sonders in den neuen Ländern auf eine wirtschaftliche Zu-kunftsbasis zu stellen, werden sich Aggression und Ge-walt weiter ausbreiten, werden Eliten abwandern undpotenzielle Investoren nicht bereit sein, dort Risikokapi-tal zu investieren.Wir müssen der Jugend Chancen bieten, Talente undFähigkeiten zu entfalten, eine Aufgabe zu haben. Dazugehört die Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeit in unsererGesellschaft, dazu gehört ein attraktives und modernesAngebot der Vereine für Sport, Kultur und gesellschaftli-ches Engagement. Hier ist nicht nur der Staat, sondern un-sere Gesellschaft als Ganzes, auch jeder Einzelne gefor-dert.
Allein die wenigen angerissenen Probleme verdeutli-chen eines: Uns hilft kein kurzfristiger Aktionismus. Esgibt keine schnellen Erfolge, die man medienwirksamverkaufen kann.
Die Politik – also auch wir – muss beweisen, dass sieüber genügend Zivilcourage verfügt und auf langfristigeKonzepte setzt, deren Ergebnisse sich möglicherweiseerst in einigen Jahren zeigen. Die F.D.P. hat dazu bereitsim Frühjahr ein langfristig angelegtes und mit jährlich250 Millionen DM ausgestattetes Programm vorgeschla-gen – eine gute Grundlage für gemeinsames Handeln.Danke.
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Innenminister des Landes Niedersachsen,
Heiner Bartling.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Deutschland ist eine lebendige, starke und erfolgreicheDemokratie. Deutschland ist ein liberales, weltoffenesund tolerantes Land, in dem fast alle Menschen sicher le-ben können.Wer nicht sicher hier leben kann, sind diejenigen, dieRassenhass, Intoleranz und Gewalt predigen. Sie sind es– und nicht friedliebende Bürgerinnen und Bürger – diesich in unserem Land nicht sicher fühlen dürfen. Sie sindes, die mit permanenter Überwachung, konsequenter po-lizeilicher und strafrechtlicher Verfolgung sowie gesell-schaftlicher Ächtung zu rechnen haben.Unser Bundesland Niedersachsen hat sich bereits un-ter meinem Vorgänger Gerhard Glogowski der Aufgabe,den Rechtsextremismus zu bekämpfen, erfolgreich ge-stellt. Niedersachsen hat nach meiner Auffassung seineHausaufgaben gemacht. Ich würde gerne dem KollegenWesterwelle noch eine andere Erklärung für die Nichtan-wesenheit der Innenminister der Länder anbieten: Sie allemachen ihre Hausaufgaben, Herr Westerwelle, deswegensind sie nicht vollständig anwesend.Aber nicht alle, meine Damen und Herren, haben ihreHausaufgaben gemacht. Das lässt sich unter anderemauch von der alten Bundesregierung sagen. So musste dasBundesinnenministerium unter Manfred Kanthers Füh-rung beim Verbot der FAP und der Wiking-JugendMitte der 90er-Jahre von anderen, unter anderem auchvon Niedersachsen, geradezu zum Jagen getragen wer-den.Vieles von dem, was die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion in ihrem Antrag fordert, greift deshalb nichts Neuesauf. So ist es nicht zuletzt der Initiative Niedersachsens,aber auch der Anregung aus Bayern zu verdanken, dassjetzt bis Mitte Oktober die Aussichten für ein NPD-Ver-bot geprüft werden. Allerdings kann es nicht so gehen,wie Herr Beckstein das angelegt hatte, nach dem Motto:„Hannemann, geh du voran!“ Also: Die Bundesregierungsoll mal machen. Wenn wir nach sorgfältiger Prüfung zudem Ergebnis kommen, dass ein NPD-Verbot sinnvoll
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und erfolgreich erscheint, sollten alle Verfassungsorganediesen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen.
Wir in Niedersachsen schöpfen darüber hinaus dieMöglichkeiten, die das Vereinsrecht gegen Rechtsextre-misten bietet, konsequent aus, wobei wir immer wiederrechtliche Risiken eingegangen sind. So wurden in Nie-dersachsen bzw. auf niedersächsische Initiative hin 1992der Deutsche Kameradschaftsbund Wilhelmshaven, 1994die Wiking-Jugend, 1995 die FAP sowie 1998 die das Hei-deheim in Hetendorf tragenden Vereine verboten. Wirwerden rechtsextremistische Organisationen auch weiter-hin beobachten und, sofern die Voraussetzungen vorlie-gen, verbieten. Dabei werden wir das Mittel des Verbotsauch für die angeblich nicht organisierten so genanntenKameradschaften genau prüfen.Die Linie des Landes ist es daneben, unter voller Aus-schöpfung des rechtlichen Rahmens versammlungsrecht-liche Veranstaltungen der gewaltbereiten rechtsextremi-stischen Szene zu verbieten. Auch ohne tief greifendeÄnderung des Versammlungsrechts – das ist meine festeÜberzeugung – lassen sich in diesem Bereich durchausErfolge erzielen. So haben wir in Niedersachsen in denletzten fünf Jahren 37 rechtsextremistische Versammlun-gen untersagt bzw. aufgelöst. Die allermeisten dieser Ver-botsverfügungen, nämlich 31, wurden von den Gerichtenbestätigt.Seit Anfang der 90er-Jahre gehen Polizei und Verfas-sungsschutz konsequent gegen rechtsextremistische undfremdenfeindliche Straftäter vor. Skinhead-Konzerteund Neonazi-Aufmärsche wurden, soweit das rechtlichmöglich war, von der Polizei aufgelöst. Die polizeilichenMaßnahmenkataloge, von denen jetzt allenthalben – auchin dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion – die Rede ist, ent-halten insofern nicht so sehr viel Neues.Man kann jedoch nie ganz ausschließen, dass grölendeNeonazis aufmarschieren und die Polizei dann nicht so-fort zur Stelle ist. Zudem haben – das müssen wir sehrsorgfältig registrieren – die Aktivitäten der Rechtsextre-misten eine neue Qualität erreicht: Sie treten frecher, ge-waltbereiter und brutaler auf. Sie agieren ganz bewusstüber Ländergrenzen hinweg in der Absicht, die Polizei zutäuschen und Gegenmaßnahmen zu unterlaufen. Sie nut-zen verstärkt das Internet für die Propaganda. Aus all die-sen Gründen werden wir unsere Maßnahmen weiter in-tensivieren. Polizei, Verfassungsschutz und Justiz spielenbei der Bekämpfung des Rechtsextremismus eine beson-dere Rolle.Das heißt konkret: Erstens. Die Polizei muss denRechtsextremisten auf den Füßen stehen. Sind die Namender Schläger bekannt, werden sie bei bevorstehenden Ge-fahren von der Polizei in Gewahrsam genommen. Zwei-tens. Wir brauchen eine bundesweite Datei „GewalttäterRechts“ nach dem Modell der Hooligan-Datei. Drittens.Wir brauchen eine einheitliche Begriffsdefinition vonRechtsextremismus, um die Aussagekraft von Lagebil-dern zu verbessern. Viertens. Wir brauchen die Erfassungaller Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund– also auch von Propagandadelikten, die wir übrigens ge-nerell aufnehmen, was aber nicht überall geschieht –, umzu einer offenen Analyse der Situation zu kommen. Fünf-tens. Wo Rechtsextremisten mit ihren Taten Geld verdie-nen, etwa durch den Vertrieb von Skinhead-Musik, wer-den wir diese illegalen Gelder beschlagnahmen undabschöpfen.Von Kritikern wird jetzt immer wieder betont, repres-sive Mittel von Polizei und Justiz wirkten nur begrenzt,die Schule könne nicht jedes gesellschaftliche Problemlösen, die Polizei könne den Rechtsextremismus nicht al-lein bewältigen, durch ein Verbot der NPD sei der Rechts-extremismus nicht aus der Welt. Das mag ja für sich ge-nommen alles richtig sein. Aber ich bin der Auffassung,wir sollten uns nicht auf das konzentrieren, was wir allesnicht tun können. Stattdessen sollten wir jetzt möglichstrasch, konsequent und effektiv das tun, was wir tun kön-nen
und wofür wir gegenüber der Gesellschaft wie auch ge-genüber potenziellen Opfern verantwortlich sind.Erforderlich sind vor allem konkrete Maßnahmen,die unmittelbare Wirkung zeigen. Entschlossenes Han-deln im Konkreten ist ein deutliches Signal für alle: fürgefährdete Jugendliche, denen wir helfen wollen, fürbraune Schläger, denen im Guten nicht mehr geholfenwerden kann, und für diejenigen, die glauben, das gehe siealles nichts an.In unserem Bundesland haben wir uns deshalb ent-schlossen, das – wie wir es nennen – „Netzwerk Innere Si-cherheit“ noch dichter zu knüpfen. Mit einer ganzen Se-rie von Veranstaltungen werden wir deshalb in dieRegionen des Landes gehen. Wir wollen dabei zur Über-nahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung ermuti-gen und die regionale Verknüpfung präventiver Arbeitstärken.Das alles reicht allerdings noch nicht aus; denn diegesamtgesellschaftliche Vernetzung muss sich auch aufBundesebene widerspiegeln, um besonders effektiv zusein. Schließlich halten sich Neonazis nicht an Länder-grenzen. Wir haben das gerade wieder am Wochenendefestgestellt, als die niedersächsische Polizei gemeinsammit der Polizei anderer Länder an der Grenze zu Meck-lenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ein Skinhead-Konzert mit Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebietaufgelöst hat. Ich appelliere deshalb an Bund und Ländersowie an die gesellschaftlichen Gruppen, sich im gleichenMaße wie Niedersachsen für das Deutsche Forum Krimi-nalprävention zu engagieren, damit das DFK endlichseine Arbeit aufnehmen kann.Trotz dieser konkreten Schritte dürfen wir uns nicht derIllusion hingeben, den Rechtsextremismus ganz und garbeseitigen zu können. Das heißt: Wir müssen dicke Bret-ter bohren, und zwar immer wieder. Hier ist ein langerAtem gefragt, nicht kurzfristiger Aktionismus. Das giltnicht nur während eines Sommers, sondern auch danach,
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so wie wir es in Niedersachsen über viele Jahre schon ge-tan haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, zu demalle Fraktionen Anträge vorgelegt haben. Wir sollten unsaber auch fragen: Was können Bürgerinnen und Bürgervon dieser Debatte heute erwarten? Ich meine zweierlei:Zum einen kann der Nachweis erbracht werden, dass esder Bundestag wirklich so ernst meint, dem Rechtsextre-mismus Einhalt zu gebieten, wie es im Sommer und da-nach vielfach zu hören war. Zum anderen kann belegtwerden, dass es sich um eine grundlegende Herausforde-rung für Leib und Leben allzu vieler, aber auch für dieVerfasstheit der Bundesrepublik insgesamt handelt.
Ich möchte den Zahlenbeispielen noch eines hinzufü-gen, um die Dimension, über die wir hier reden, zuerhellen: Allein im vergangenen Jahr wurden über10 000 Straf- und Gewalttaten registriert, die fremden-feindlich, antisemitisch oder rassistisch motiviert waren.Das waren durchschnittlich 27 am Tag und mehr als einein der Stunde. Wir alle wissen doch, dass dies nur dieSpitze des Eisberges beschreibt. Denn die tatsächlicheZahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten liegt um einVielfaches höher. Alltägliche Demütigungen, Ängste undErniedrigungen lassen sich statistisch ohnehin nicht er-fassen. Deshalb finde ich – bei allen unterschiedlichenAuffassungen in der Sache –, wir sollten bei diesemThema auf jegliches parteipolitisches Muskelspiel ver-zichten. Ich bin dazu bereit.
Ich stimme der Kollegin Vogt zu, die in der „Frankfur-ter Rundschau“ vom 7. August dieses Jahres anbot, einhohes Maß an Übereinstimmung im Bundestag anzu-streben und dies auch in unseren Beschlüssen auszu-drücken.Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnenwir auch in drei anderen Einschätzungen übereinstim-men: Erstens. Wir führen die Debatte viel zu spät. Deshalbsollten wir sie umso grundsätzlicher und konkreterführen. Zweitens. Wir führen die Debatte zu einer sub-stanziellen Frage, weshalb wir auf jegliche Relativierun-gen verzichten sollten.
Drittens. Wir führen sie in eigener Sache, weshalb wirunsere eigene politische Verantwortung nicht delegierendürfen.Es ist ja völlig in Ordnung, von der Gesellschaft Zivil-courage gegen Rechts zu fordern. Denn der Rechtsextre-mismus ist ein gesellschaftliches Problem und damit nurgesamtgesellschaftlich zurückzudrängen. Wir alle aberwerden unglaubwürdig, wenn wir diesen Appell in dasLand schicken, ohne zugleich gesellschaftliches Engage-ment zu stärken und Zivilcourage zu schützen: sowohl dieOpfer rechtsextremistischer Gewalt als auch zum Beispieldie mutige Berlinerin, die seit Jahren faschistische Sym-bole und Losungen von Gebäuden entfernt
und neben den rechtsextremen Schlägern auch Anzeigenwegen Sachbeschädigung fürchten muss. Kontraproduk-tiv, ja verlogen wäre es auch, wenn wir Sonderprogrammefür Sozial-, Jugend- oder Kulturarbeit verabschieden undzugleich jene, die permanent Sozial-, Jugend- oder Kul-turarbeit leisten können oder wollen, vermeintlichenSparzwängen opfern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Ge-danke: Ich möchte dringend dafür werben, ganz einfacheAntworten zu vermeiden, zum Beispiel in der aktuellenDebatte um das NPD-Verbot. Damit ich nicht missver-standen werde: Liegen die Gründe vor, werden wir unsnatürlich entsprechend verhalten. Aber so wie diese De-batte geführt wird, birgt sie mehrfache Gefahren von Ver-simpelungen oder Scheinlösungen, vor allem, wenn es alsKönigsweg gepriesen wird.Herr Kollege Beckstein, mir braucht niemand etwasüber den Charakter, die Ziele oder die Funktion der NPDbeziehungsweise ihres militanten Ablegers, der JN, zu er-zählen. Gerade für die PDS hier in Berlin gab es schlimmeAnlässe, sich mit dieser rechtsextremistischen Kampf-truppe zu befassen. Wenn ich mir ansehe, was Sie in denVerfassungsschutzberichten zur NPD und an Verbotsar-gumenten anführen, stelle ich fest, dass wir dies offenbarsehr viel gründlicher taten als Ihr Verfassungsschutz. Siesollten Ihre Feindbilder aktualisieren; denn die „AG Jun-ger GenossInnen“ in und bei der PDS gibt es seit Jahrennicht mehr.
Die Konzentration auf die NPD verengt aber auch denBlick auf die Komplexität des Problems. Die Konzentra-tion auf Verbote birgt die Gefahr, dass grundlegende Bür-gerrechte zur Disposition gestellt werden. Herr KollegeBosbach, das gilt auch für das Demonstrationsrecht. Auchich finde es unerträglich, wenn Neonazis durch das Bran-denburger Tor marschieren. Ich will sie aber auch nicht inBerlin-Hellersdorf, Passau oder Lübeck demonstrierensehen.
Ein letzter Gedanke: Der Rechtsextremismus war, istund bleibt ein Problem der gesamten Bundesrepublik. Be-sonders problematisch jedoch und auch nicht kleinzure-den ist die derzeitige Situation in den neuen Bundeslän-dern. Etwa die Hälfte aller verübten fremdenfeindlichenGewaltdelikte erfolgt dort, und vielerorts – das wurdeschon beschrieben – wird rechtsextremistische Kulturdurch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung geduldet
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Minister Heiner Bartling
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oder gar unterstützt; aber wehe uns, wenn wir eindimen-sionale Erklärungen zu den Ursachen abgeben.
Drängend und nötig ist die nunmehr begonnene gesell-schaftliche Auseinandersetzung. Kollege Thierse hatvöllig zu Recht die besondere Verantwortung der PDS an-gesprochen. Ich will, dass sich auch die PDS weiter dafüreinsetzt, dass diese Debatte nicht versandet und dass siezu antifaschistischen Konsequenzen und gesellschaftli-chen Veränderungen führt. Sie haben Recht, wenn Sie be-klagen, dass sich Rechtsextremismus erneut mit Sozialis-mus vermengt. Aber dann sollten wir beide innehalten, ichals Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismusund Sie als Sozialdemokrat. Ich möchte mit Ihnen ge-meinsam klar machen, dass Fremdenfeindlichkeit, Neofa-schismus, Rassismus und Antisemitismus weder demo-kratisch noch sozialistisch sind. Das sollten wirgemeinsam in Ost und West demonstrieren.
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun der Kollege Sebastian Edathy.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Wenn wir heute eine Debatte miteinan-der führen, die weniger kontrovers und unversöhnlich istals viele andere Aussprachen, die an diesem Ort sonststattfinden, dann ist das gut. Es ist gut, weil wir uns alsDemokraten darin einig sein müssen, dass wir die Grund-lagen unseres Gemeinwesens niemals preisgeben dürfen.Zu den Grundlagen unseres Gemeinwesens gehört ele-mentar der erste Satz des ersten Artikels unserer Verfas-sung, der heißt:Die Würde des Menschen ist unantastbar.Da steht nicht, die Würde der Nichtbehinderten ist unan-tastbar. Da steht nicht, die Würde derer, die nicht obdach-los sind, ist unantastbar. Da steht nicht einmal, die Würdedes deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Nein, da stehtso schlicht wie eindrucksvoll: Die Würde des Menschenist unantastbar.Das heißt, dort, wo die Würde des Menschen mit Wor-ten verhöhnt oder mit Taten in den Schmutz gezogen wird,da wird ein Kern unserer Verfassung infrage gestellt. Derzentrale Grund, dem Rechtsextremismus mit Nachdruckentgegenzutreten, ist für mich deshalb nicht – nicht in ers-ter Linie jedenfalls –, dass das Ansehen Deutschlands, dieAchtung Deutschlands im Ausland leiden könnte.
Nein, ich halte es für viel entscheidender, dass unsereSelbstachtung leiden muss, wenn wir zulassen, dassFeinde der Demokratie in diesem Land die Würde vonMenschen mit Füßen treten.
Wer Menschen angreift, weil er ihre Würde für antast-bar hält, wendet sich gegen die Grundlagen unseres Ge-meinwesens und trifft nicht nur diejenigen, die er ganzpraktisch angreift, sondern er greift uns alle an. Deswegensind wir auch alle gehalten, in unserem Land an jedem Ortund zu jeder Zeit die Gültigkeit des Grundgesetzes si-cherzustellen.Fast auf den Tag genau vor 38 Jahren, im späten Sep-tember des Jahres 1962, stellte Präsident John F. Kennedydurch den Einsatz von 400 Bundesbeamten sicher, dassder dunkelhäutige Staatsbürger James Meredith seinStudium an der Universität von Mississippi aufnehmenkonnte, was ihm zuvor aus rassistischen Gründen ver-wehrt worden war. 400 Menschen sorgten damals dafür,dass ein Mensch sein demokratisches Recht wahrnehmenkonnte. Das war richtig, das war nicht unverhältnismäßig,weil ein demokratischer Staat – das gilt für die USA wiefür uns heute – es nicht hinnehmen kann und darf, dassseine Verfassungsprinzipien in Frage gestellt werden,auch wenn das nur einen einzigen Menschen, der in die-sem Land lebt, betrifft.
Das heißt für mich auch, meine Damen und Herren, eswäre beschämend, wenn wir nicht gewährleisten könnten,dass sich auf den Marktplätzen und auf den Straßen unse-res Landes die hier lebenden Menschen ohne Angst be-wegen können. Ich denke – und habe auch die Debatte soaufgefasst –, dass hierüber Konsens besteht.Wer meint, das Gewaltmonopol des Staates anzwei-feln zu können, dem muss mit allen dafür erforderlichenMitteln deutlich gemacht werden, dass er sich irrt, weil füruns die Verteidigung der menschlichen Würde keine Ne-benaufgabe, sondern eine Kernaufgabe ist. Wenn eine sol-che Debatte, wie wir sie heute führen, dazu beitragenkann, uns das noch einmal selbst und gegenseitig bewusstzu machen, dann betrachte ich das zunächst einmal als einsehr gutes Ergebnis dieser Debatte.Ebenso wichtig finde ich, bereits tätig zu werden, be-vor die demokratiefeindliche Idee von der Antastbarkeitder menschlichen Würde zur Tat führt, ja anzusetzen, be-vor eine solche Idee überhaupt entstanden ist. Deshalbreicht es nicht aus, über Verbote zu diskutieren, denn dasallein würde eindeutig zu kurz greifen.Das Verbot einer extremistischen Partei ändertzunächst einmal nichts daran, dass es offenbar Leute gibt,die bereit sind, sich einer solchen Partei anzuschließen,und das Verbot einer Demonstration gegen Toleranz än-dert zunächst einmal nichts daran, dass es Menschen gibt,die bereit sind, zu einer solchen Demonstration zu gehenund an ihr teilzunehmen. Ich glaube, wir müssen uns klarmachen: Mit der Bekämpfung von Symptomen alleinekommen wir nicht zum Ziel; wir müssen auch an die Ur-sachen herangehen.
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Petra Pau11566
In dieser Hinsicht haben wir eine mindestens doppelteAufgabe. Menschlichkeit und Toleranz nämlich müssenvor Ort gelebt werden. Wir können sie weder in Parla-menten noch in Regierungen sozusagen herbeibeschlie-ßen.Umgekehrt aber ist auch richtig, dass dort, wo es nötigist, Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaft – übri-gens auch materiell – verstärkt gefördert werden müssen.Ich freue mich, dass die Bundesregierung noch im Som-mer durch entsprechende Beschlüsse die Weichen in dieseRichtung gestellt hat.Zum anderen – das will ich hier aber auch sagen – soll-ten und müssen wir als Demokraten im Alltagsgeschäftbei aller bisweilen zugespitzten Auseinandersetzung, vonder die Demokratie ein Stück weit ja auch lebt, darauf ach-ten, politische Diskussionen so zu führen, dass niemandGefahr läuft oder gar in Kauf nimmt, zum Stichwortge-ber für Gegner der Demokratie zu werden.
Meine Damen und Herren, es gibt leider nicht nurgeworfene Brandsätze, es gibt auch gesprochene Brand-sätze. So sollte meines Erachtens für Demokraten die Zu-gehörigkeit von Minderheiten zu unserem Gemeinwesenvöllig unstrittig sein. Es wäre gut, wenn wir aus der aktu-ellen Debatte heraus vielleicht doch gemeinsam zu derÜbereinkunft finden könnten, dass in Zukunft in Deutsch-land eben keine Wahlkämpfe – jedenfalls nicht seitens de-mokratischer Parteien – auf dem Rücken von Minderhei-ten geführt werden.
Wer um eines parteipolitischen Vorteils willen in die-ser Hinsicht polarisiert, der muss prüfen, ob er wirklichdes kurzfristigen Gewinns der einen oder anderen Stimmewegen die damit verbundene Beschädigung des innerenFriedens verantworten kann. Wenn ein Satz aus der Wis-senschaft richtig ist, dann glaube ich, dass es der Satz ist,die Botschaft des Rechtsextremismus gewinne nur dannan Bedeutung und Zuspruch, wenn sie durch den Konser-vatismus mittelbar popularisiert werde.
In diesem Zusammenhang will ich doch noch ein Wortzu Herrn Beckstein sagen, der meinte, man müsse in einerDemokratie über alles sprechen können. Das ist wohlwahr; aber die Frage ist, wie man über alles spricht
und ob man Minderheiten instrumentalisiert oder dann,wenn die Gefahr besteht, sie zu instrumentalisieren, eherdarauf verzichtet. Ich glaube, im Umgang mit Minderhei-ten zeigt sich die wahre Qualität einer Demokratie.
Ich möchte dem Bundestagspräsidenten ausdrück-lich dafür danken, dass er – übrigens nicht erst seit diesemSommer – mit klaren Worten auf das Problem des Rechts-extremismus hinweist und die Dinge beim Namen nennt.Viel zu lange ist in dieser Hinsicht beschönigt und ver-drängt worden. Ich habe heute mit einigem Unverständnisin den Zeitungen gelesen, dass Wolfgang Thierse seitensprominenter Vertreter der Unionsfraktion vorgeworfenwird, er sei parteilich. Dieser Vorwurf der Parteilichkeitist insofern richtig, als der Bundestagspräsident – heutehat er es wieder deutlich gemacht – engagiert für unsereVerfassung Partei ergreift. Damit nimmt er die Aufgabewahr, die er als Präsident dieses Hauses hat.
Dem Bundestag liegen mittlerweile Anträge aller Frak-tionen vor, die sich mit Wegen zur Bekämpfung desRechtsextremismus befassen. Ende Oktober wird es einegemeinsame öffentliche Anhörung des Innenausschus-ses und des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauenund Jugend geben. Danach werden wir die Vorlagen ab-schließend beraten. Ich hoffe, es wird uns gelingen, imZuge dieser Beratungen zu einer fraktionsübergreifendenPosition zu gelangen, die dann zu konkreten Folgen führt.Es reicht nicht, Rechtsextremismus zu analysieren.Man muss ihn auch bekämpfen. Täuschen wir uns nicht:Das ist keine kurzfristig zu erledigende Aufgabe. Das isteine langfristige Aufgabe. Und das ist nicht die Aufgabeeines Teiles dieses Hauses. Das ist eine Aufgabe, der wiruns als Demokraten alle gemeinsam stellen müssen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe dem Kolle-
gen Hartmut Büttner für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieUngeister von gestern scheinen tatsächlich wieder aufer-standen zu sein. Rechtsextremisten in Uniform und Kno-belbechern marschierten durch das Brandenburger Tor.Ausländer und fremdartig erscheinende Menschen in un-serem Land haben zunehmend Angst. Einige von ihnen– das wurde hier schon deutlich dargelegt – wurden be-drängt, gejagt und sogar getötet. Deutschland im Herbst2000 scheint ein Land geworden zu sein, das seineWeltoffenheit als Kultur-, Import- und Gastland einergroßen Prüfung unterzieht.Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutzbelegen, dass die Demokraten in Deutschland die Ent-wicklung des rechten Extremismus genau beobachten undihm klar entgegentreten müssen. Ende des letzten Jahresgab es immerhin 134 rechtsextremistische Organisationenund Zusammenschlüsse. 10 037 Straftaten wurden von
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Sebastian Edathy11567
Rechtsextremisten verübt, davon 746 Gewalttaten. Imersten Halbjahr dieses Jahres scheint die Zahl der Ge-walttaten etwas rückläufig gewesen zu sein. Gegenüber402 im Vorjahr reduzierte sie sich auf 330 Straftaten. Eswäre sehr schön, wenn sich die Tendenz einer abnehmen-den Gewaltanwendung auch in diesem zweiten Halbjahrfortsetzen würde. Es gibt aber keinerlei Anlass zu einervorschnellen Entwarnung.Es wurde schon angesprochen: Fast drei Viertel derrechtsextremen Gewalttäter sind Jugendliche. Gerade indiesem Bereich ist es ganz entscheidend, dass die staatli-che Reaktion möglichst rasch erfolgt. Eine schnelle, kon-sequente und spürbare Ahndung der Straftat mit einer ra-schen Aburteilung beeindruckt die jugendlichen Täterzumeist mehr als eine Strafe, die erst nach vielen Mona-ten oder sogar Jahren verhängt wird.
Deswegen sollten wir alle gemeinsam möglichstschnelle Gerichtsverfahren einfordern. Je schneller dieStrafe der Tat tatsächlich auf dem Fuße folgt, umso eherwirkt die Strafe präventiv. Dabei sollten DeutschlandsRichter gerade auch gegenüber den jugendlichen Täterndas Instrumentarium um so genannte pädagogische Stra-fen erweitern können. So fordern wir – wir haben das inunserem Antrag deutlich gemacht – die Einführung einesWarnarrestes. Die zur Bewährung ausgesetzte Jugend-strafe wird von vielen Jugendlichen als Sanktion kaumwahrgenommen. Die gleichzeitige Anordnung einesJugendarrestes würde dem jungen Menschen nachdrück-lich den Ernst der Lage vor Augen führen. Sollten hierzugesetzliche Ergänzungen notwendig sein, ist meine Frak-tion dazu gern bereit.Natürlich muss der rechtsextremen Szene auch dieMöglichkeit zu medienwirksamen Aufmärschen undVeranstaltungen genommen werden. Es wurde hier schondargestellt, dass die Bilder des 29. Januar, als Neonazismit schwarz-weiß-roten Fahnen durch das BrandenburgerTor marschiert sind, einfach unerträglich sind. Diese Bil-der, in der ganzen Weltöffentlichkeit übertragen, beschä-digen das Ansehen unseres Landes.
Diese öffentlichen Ereignisse und die zahlreichen Ge-walttaten lassen selbst bei Politikern des linken politi-schen Lagers zunehmend nach einer stärkeren Rolle vonPolizei und Justiz rufen. Viele von Ihnen haben sich in derVergangenheit sehr zurückhaltend oder ablehnend gegen-über polizeilichem Handeln gezeigt und allein sozial-pädagogischen Konzepten den Vorrang gegeben.
Auch die Rolle des Verfassungsschutzes wurde ausdiesen Kreisen mehr als eine Gefahr für die innere Libe-ralität denn als ein Eckstein der wehrhaften Demokratieangesehen. Traurigstes Beispiel ist mein HeimatlandSachsen-Anhalt. Die frühere bürgerliche Koalition ausCDU und F.D.P. hatte den Verfassungsschutz behutsamaufgebaut. Circa 120 Mitarbeiter zählte der Verfassungs-schutz beim Regierungswechsel 1994; er sollte mittel-fristig auf 150 Mitarbeiter ausgebaut werden. Seit demRegierungswechsel zu einer PDS-gestützten Minderheits-regierung gab es hier einen totalen Kurswechsel. Unterdem Druck der PDS wurde der Verfassungsschutz auf80 Personen reduziert. Mit der Hälfte der ursprünglichvorgesehenen Mitarbeiter soll eine deutlich gestiegeneBedrohungslage beobachtet werden.Dass das so nicht geht, zeigt die Tatsache, dass sichmein Heimatland leider zu einem Schwerpunktlandrechtsextremistisch motivierter Straftaten entwickelt hat.Bezogen auf die Einwohnerzahl hatten wir sowohl in1998 als auch in 1999 die meisten Gewalttaten mit rechts-extremem Hintergrund aller 16 deutschen Bundesländer.Auf dem Altar des unsäglichen Magdeburger Modellswurden die Sicherheitsinteressen unserer Mitbürger ge-opfert. Das finde ich besonders skandalös.
Aber auch einige wenige andere Länder – HerrBartling, ich muss hier Niedersachsen ansprechen – habennicht anders gehandelt. Niedersachsen reduzierte seinenVerfassungsschutz während der Amtszeit des Minister-präsidenten Gerhard Schröder um nahezu die Hälfte. Da-mit wurden dem Rechtsstaat die Mittel genommen, dieFeinde unseres Gemeinwesens von rechts und links zu-mindest wirkungsvoll beobachten zu können.In einem Expertengespräch des Innenausschusses imMärz 1998 zum Thema Rechtsextremismus in Deutsch-land stellten wir bereits große Unterschiede auch zwi-schen den verschiedenen ostdeutschen Bundesländern beiMaßnahmen gegen den rechten Extremismus fest. Es wardas christlich-demokratisch regierte Sachsen, welches mitder Sonderkommission Rechtsextremismus konsequentgegen die Gefahren von rechts außen vorging.Auch im CDU-regierten Thüringen wird die gleicheEntschlossenheit gegen den Extremismus praktiziert. Ge-rade die schnelle Aufklärung des verbrecherischen Brand-anschlages auf die Erfurter Synagoge im April dieses Jah-res ist ein weiteres positives Beispiel aus Ostdeutschland.Nicht zuletzt die rasche Verurteilung und Bestrafung derTäter hat die rechtsradikale Szene deutlich beeindruckt.Der Inspekteur der sächsischen Polizei hat in unserer An-hörung damals deutlich dargestellt, dass nur eine unnach-sichtige Verfolgung die einzige Sprache sei, die Rechts-extremisten tatsächlich verstehen würden. Lange, fast zulange hat es gedauert, bis diese Auffassung auch im linkenund grünen Lager langsam an Boden gewinnt.
– Lange, fast zu lange.Die besondere Anfälligkeit von Menschen aus denneuen Bundesländern für den rechten Ungeist ist heutebereits mannigfaltig analysiert worden. Dr. Rainer Erb
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Hartmut Büttner
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vom Zentrum für Antisemitismusforschung sieht dieWurzeln in der mangelhaften Auseinandersetzung mitdem Rechtsextremismus in der DDR. Die DDR hattesich selbst einen Persilschein ausgestellt, garantiert fa-schismusfrei zu sein. Trotzdem gab es auch in der DDRrechtsextremistische Tendenzen, die natürlich alle unterder Decke gehalten worden sind.Gewalttätiger Höhepunkt war ein Skinheadüberfall aufdie Ostberliner Zionskirche 1987. Die Haltung vonSkinheadgruppen, die in Cottbus, Dresden, Halle, Mag-deburg, Erfurt und Leipzig auffällig geworden waren,charakterisierte die FDJ damals als durch Brutalität, Ge-walt, Neofaschismus, Antisemitismus und Ausländerhassgekennzeichnet. Dokumente über diese Vorfälle kannman in der Gauck-Behörde umfassend nachlesen.Frau Kahane von der Arbeitsstelle für Ausländerfragensieht in einem Mix aus fehlenden demokratischen Erfah-rungen, Unkenntnis im Zusammenleben mit Ausländern,einer Ablehnung des Schutzes von Minderheiten und so-zialer Unsicherheit die Hauptursachen für die stärkere Be-deutung des Rechtsextremismus in den neuen Ländern.Aber ich möchte davor warnen, dass das Thema Rechts-extremismus einfach als ostdeutsche Besonderheit dar-gestellt wird. Ich danke den Vorrednern, ich danke vor al-len Dingen auch dem Vizepräsidenten des Zentralrates derJuden in Deutschland, Michel Friedman, der ganz klargestellt hat, man dürfe das Thema Rechtsextremismusnicht in Ostdeutschland entsorgen. Wir haben in ganzDeutschland mit diesem Problem zu tun.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber auch zu-gestehen, dass bei uns in den neuen Ländern der Rechts-extremismus eine ganz besondere Dimension hat. DieRechtsextremisten setzen dabei neuerdings auch auf ein„Erbe des wahrhaften nationalen Sozialismus“. Das isthier auch angesprochen worden. Die NPD selbst präsen-tiert sich klar als Partei mit sozialistisch-antikapitalisti-schen Inhalten. Chefideologe des sächsischen Landesver-bandes der NPD ist Professor Dr. Nier, ein ehemaligerProfessor für dialektischen und historischen Materialis-mus. Im Mai vergangenen Jahres wurde in der Partei eineArbeitsgruppe „Sozialisten in der NPD“ gegründet.Das verlangt von uns allen große Aufmerksamkeit,denn – da darf ich besonders die Damen und Herren derPDS ansprechen – das Interessante ist: Bei den Landtags-wahlen in Sachsen-Anhalt kandidierte aus dem ganzenrechtsextremistischen Spektrum nur die DVU mit einerLandesliste. Keine andere rechtsextremistische Partei warim Angebot im Wettbewerb um die Erststimme. Die meis-ten Erststimmen der DVU-Wähler erhielt mit 23 Prozentdie PDS. Dieses Wahlergebnis wird auch durch eine im„Spiegel“ veröffentlichte neuere Umfrage gestützt.17 Prozent der PDS-Wähler könnten sich vorstellen, aucheine rechte Partei zu wählen. So viel rechtsradikales Po-tenzial zählen Meinungsforscher bei keiner Anhänger-schaft einer anderen Partei. Ihr Vordenker André Brie sagtauch, warum: Im Staat des real existierenden Sozialismusseien die Menschen zu Autoritätshörigkeit, Hierarchie-denken und Harmoniesucht erzogen worden, die „einenNährboden für die Neonazis bilden“.
Wie sich überhaupt die extremistischen Ideologien vonrechts und links im Kampf gegen unsere Grundordnunghäufig einig sind. Die Grenzlinien zwischen rechts undlinks verschwimmen besonders bei Gruppen wie denNationalrevolutionären von rechts und Nationalkommu-nisten von links immer mehr. Für uns als Demokratensollte deshalb die ideologische Ausrichtung der Extre-misten völlig ohne Belang sein. Vielmehr sollte allein ihrKampf gegen unser demokratisches Gemeinwesen eineBedeutung haben. Denn bei den Gewalttaten liegen rechtsund links nicht weit auseinander. Das ist in diese Debattenoch nicht eingeführt worden. 1990 standen 746 rechts-extremen Gewalttaten 711 linksextreme Gewalttatengegenüber. Hier aufrechnen zu wollen wäre falsch. Wirsollten versuchen, den Weg, den wir als frühere Regie-rungskoalition eingeschlagen hatten, fortzusetzen. ZurErinnerung: Wir haben damals 13 Verbotsverfügungengegen rechtsextremistische Vereinigungen in Bund undLändern erlassen. Wir hatten eine personelle Verstärkungder Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Ver-fassungsschutz erreicht. Wir hatten die Verwendung auchvon verfremdeten oder verzerrten Symbolen nationalsozi-alistischer oder anderer verbotener Organisationen unterStrafe gestellt. Schließlich enthielt das Verbrechens-bekämpfungsgesetz von 1994 einen ganzen Katalog vonMaßnahmen, um den Rechtsextremismus einzudämmen.In unserem heute vorliegenden Antrag versuchen wir,genau diesen Weg konsequent fortzusetzen. Neben Maß-nahmen der Polizei und der Justiz muss vor allem eineumfassende Präventionsarbeit vor Ort dem Extremismusjeglicher Couleur das Wasser abgraben.
Wir haben eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet,wie die Erziehungskraft der Familien gefördert, die Schu-len bei ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt und letztend-lich die Bürgergesellschaft hierbei gestärkt werden kön-nen.Wir wollen eine nachhaltige Bekämpfung des Extre-mismus aller Schattierungen. Parteien, die durch man-gelnde Trennschärfe selbst Beobachtungsobjekt des Ver-fassungsschutzes geworden sind, fallen für uns dabei alsBündnispartner völlig aus.
Nach dem Verfassungsschutzbericht von Baden-Würt-temberg haben sich so besonders die westlichen Landes-verbände der PDS „zum Tummelplatz von Linksextre-misten verschiedener Herkunft“ entwickelt.Deswegen, meine Damen und Herren, schauen wir ge-schärft auf die gesamte extreme Szene; denn die Union istnicht auf einem Auge blind. Ich würde mir wünschen,dass wir nach zehn Jahren deutscher Einheit in diesemBundestag damit nicht allein bleiben.Herzlichen Dank.
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Hartmut Büttner
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Für die FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun die KolleginAnnelie Buntenbach.
Nach der Sommerdebatte über Rechtsextremismus sindpraktische Konsequenzen überfällig. Wir brauchen Maß-nahmen, die der Stärkung der demokratischen Zivilge-sellschaft und der Förderung von Zivilcourage dienen.Dabei sind Vorstöße zur Einschränkung allgemeiner Bür-gerrechte – gerade des Versammlungsrechts – Schritte indie falsche Richtung. Es geht im Übrigen auch nicht umeine Ausweitung der Sicherheitsapparate, es geht im Ge-genteil um eine Umorientierung, um die Überwindungvon bestehenden Strategie- und Ausbildungsdefiziten.Der Bundesgrenzschutz, Herr Büttner, ist ja jetzt schonfür die Sicherheit auf den Bahnhöfen zuständig, er ist abervielfach mit verdachtsunabhängigen Kontrollen gegenImmigranten beschäftigt. Die Orientierung muss aberganz klar darauf gerichtet sein, Neonazis, die dunkelhäu-tige Reisende anpöbeln, gerade von den Bahnsteigen inOstdeutschland zu verdrängen. Es geht also um eine Um-orientierung der Sicherheitskräfte und nicht um eine Aus-weitung.
Eine Einschränkung allgemeiner Bürgerrechte geht indie falsche Richtung, wenn wir Demokratie stärken wol-len, zu Zivilcourage und Einmischung anregen wollenund dem Rechtsextremismus eine lebendige und selbst-bewusste Demokratie entgegenstellen wollen. Im Antragder Regierungsfraktionen sind eine Reihe konkreter Maß-nahmen, die in diese Richtung gehen. Sie wurden hier teil-weise schon vorgestellt und ich möchte sie nicht wieder-holen.Stattdessen möchte ich einen wichtigen Punkt heraus-greifen: den Opferschutz. Ich möchte dabei beispielhaftauf die Arbeit einer gesellschaftlichen Initiative, der „Op-ferperspektive“ in Brandenburg, hinweisen. Das sindMenschen, die sich um diejenigen kümmern, die in diesenDebatten viel zu selten zur Sprache kommen, nämlich umdie Opfer rechtsextremer Gewalt: Flüchtlinge, Obdach-lose, Behinderte, Homosexuelle oder alternative Jugend-liche. Diese Menschen unterstützt die „Opferperspektive“dabei, Perspektiven für die Zeit nach dem Angriff zu ent-wickeln, begleitet und unterstützt sie bei Behördengän-gen, Antragstellungen, bei Gerichtsverfahren und vermit-telt gegebenenfalls auch psychotherapeutische Hilfe.Dabei versucht sie, die Isolierung der Opfer zu durchbre-chen, die zumeist zu Minderheiten gehören, die auch vonder Gesellschaft ausgegrenzt werden.Die Widerstände, mit denen sie sich dabei herumschla-gen muss, sind kaum vorstellbar: wenn zum Beispiel eineBehörde die psychologische Betreuung der Opfer ablehnt,weil das Asylbewerberleistungsgesetz sie angeblich nichtvorsieht oder wenn schlicht abgelehnt wird, Flüchtlinge,die Opfer rechtsextremer Gewalt geworden sind, in eineranderen Unterkunft unterzubringen als an dem Ort, wo siedie Gewalt erfahren haben. Ich möchte der „Opferper-spektive“ stellvertretend für die vielen Initiativen, die sichmit Rechtsextremismus auseinander setzen, an dieserStelle Anerkennung für ihre Arbeit aussprechen.
Diese Initiativen brauchen aber nicht nur ideelle, son-dern auch finanzielle Unterstützung. Ich hoffe, dass wirbei den Haushaltsberatungen einen Weg finden werden,diese Unterstützung unbürokratisch zu leisten.
Eine Frage dürfen wir gerade in dieser Debatte nichtaussparen: Was können wir selbst – jenseits der Appellean die Zivilgesellschaft – zur Minderung des ProblemsRechtsextremismus beitragen? Rechtsextreme sehen sichdann zur Gewalt ermutigt, wenn sie glauben, sich inÜbereinstimmung mit den Einstellungen von Teilen derGesellschaft zu befinden. Ich kann hier nicht auf die ver-schiedenen Ursachen von Fremdenfeindlichkeit einge-hen. Aber eine der Hauptursachen für fremdenfeindlicheEinstellungen und rechtsextreme Gewalt ist die Art undWeise des Umgangs der Politik mit Minderheiten sowieFragen der Asyl- und Migrationspolitik.
Dieser Zusammenhang, auf den seit der Asyldebatteder 90er-Jahre zahlreiche Wissenschaftler hinweisen, darfnicht länger tabuisiert werden.Ich finde, es ist an der Zeit,dass wir uns diesem Problem offen und selbstkritisch stel-len.Leider ist gerade das nicht gemeint, wenn in letzter Zeitvielfach von einer Enttabuisierung der Asylpolitik dieRede war. Tabus bestehen da, wo ein humanitärer Um-gang mit Menschen aufhört. Es ist richtig und in einerDemokratie unverzichtbar, an diesem Punkt weiter Tabuszu setzen.
Die Frage ist nicht, ob wir über Asyl- und Einwande-rungspolitik reden, sondern wie wir darüber reden. Hierist ein Paradigmenwechsel überfällig: weg von der Ab-wehr- und Abschottungsperspektive hin zu der Perspek-tive einer offenen Einwanderungsgesellschaft, zu Auf-nahme, Integration und Schutz von Flüchtlingen undMinderheiten.
Dieser Perspektivwechsel muss sich auch in der Arbeitdes Parlaments wiederfinden. Die Schaffung eines mo-dernen Staatsbürgerschaftsrechts und die Neuregelungdes Arbeitserlaubnisrechts für Flüchtlinge waren ersteSchritte in diese Richtung. Sie reichen aber bei weitemnicht aus. Abschiebehaft, Flughafenverfahren und die Un-terbringungssituation von Flüchtlingen sind keine Bei-spiele für einen humanitären Umgang mit Menschen.
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Populistische Debatten und eine Zuwanderungsdiskus-sion nach reinen Nützlichkeitskriterien schwächen die hu-manitäre Orientierung der Gesellschaft. Ich hoffe – meh-rere Redner haben das schon angesprochen –, dass dieheutige Debatte zumindest ein konkretes, greifbares Er-gebnis für die Zukunft hat, nämlich eine ethische Selbst-verpflichtung aller hier im Hause, politische Ausei-nandersetzungen und Wahlkämpfe nicht mehr auf Kostenvon Minderheiten zu führen.
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Hans-Peter Kemper.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Drei Monate ist es her, dass wir un-seren Antrag gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeind-lichkeit, Antisemitismus und Gewalt in erster Lesung hierberaten wollten. Herr Westerwelle hat es eben schon an-gesprochen: Wir waren ein wenig erstaunt, dass dieseswichtige Thema zu nachtschlafender Zeit auf die Tages-ordnung gesetzt wurde und die Redner dann auch nochihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Mich hat das da-mals sehr geärgert.
Denn wir hatten kurz vorher ein Bündnis für Demokratieund Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt begründetund das wichtigste Gremium, der Deutsche Bundestag,beschäftigte sich mit diesem Thema nachts. Es ist traurig,dass uns die Medien während des Sommers durch ihretägliche Berichterstattung über die Straftaten braunerHorden erst dazu bringen mussten, dass das Thema heuteda diskutiert wird, wo es hingehört: in der Kernzeit desDeutschen Bundestages.
Die F.D.P. und die PDS hatten damals ebenfalls An-träge eingebracht. Diese Anträge enthielten wichtige Teil-aspekte zum Rechtsradikalismus. Die CDU/CSU hat voreinigen Tagen einen eigenen Antrag eingebracht. Positivist, dass alle Fraktionen bereit sind, sich ernsthaft mit die-sem Thema auseinander zu setzen. Es geht heute darum,bei diesem Thema mehr das Verbindende als das Tren-nende zu sehen.
Rechtsextremismus ist mehr als nur dumpfe Auslän-derfeindlichkeit. Er ist viel umfassender. Er zielt auf dieWürde des Menschen, auf Leben und körperliche Unver-sehrtheit. Er zielt auf Artikel 1 unserer Verfassung und aufdie weiteren wichtigen Artikel. Jede Art von rechtsextre-mer Gewalt ist zutiefst verabscheuungswürdig und mussmit aller Konsequenz bekämpft werden. Aber auch die la-tente Ablehnung von Minderheiten und Menschen ande-rer Herkunft und anderen Aussehens stellt eine Gefahr fürfriedliches Miteinander dar und bietet erst den Nährbo-den, auf dem rechtsextremistische Gewalt gedeiht.Dabei sind es oft die Signale, die von Politikern undanderen Personen des öffentlichen Lebens ausgesandtwerden, die eine verheerende, aber auch eine stabilisie-rende Wirkung auf gefährdete junge Menschen habenkönnen. Ich erinnere mich noch genau: Am so genanntenHerrentag 1994 hatten in Magdeburg betrunkene Radi-kale Ausländer durch die Stadt gehetzt. Letztere musstendamals um ihr Leben laufen. Der damalige Polizeipräsi-dent hatte eine wohlfeile Erklärung zur Hand: zu vielSonne und zu viel Bier. Ich denke, das war eine Vernied-lichung und eine Verharmlosung von verabscheuungs-würdigen Taten, wie sie schlimmer nicht sein können. DerPolizeipräsident war – Gott sei Dank – dann nicht mehrsehr lange im Amt.
Herr Koch hat in Hessen mit seiner Unterschriftenak-tion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eines Wahl-erfolgs wegen das Risiko in Kauf genommen, denfalschen Leuten die falschen Signale zu geben. Und HerrRüttgers hat in Nordrhein-Westfalen mit seiner unseligenKampagne „Kinder statt Inder“ nicht nur den Republika-nern den Wahlslogan geliefert, sondern sie haben sichausdrücklich auch noch bei ihm bedankt; denn er hat ih-nen das Thema geliefert. Das, denke ich, war verantwor-tungslos. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen diesesHauses, auch den Kolleginnen und Kollegen der CDU,dankbar, dass sie teilweise deutlich dagegengehalten undsich von diesen Aktionen und Aktivitäten distanziert ha-ben.
Auch gedankenlose Verwaltungsakte gehören dazu.Ich denke an den Ägypter Salah al-Namr, der im bran-denburgischen Elsterwerda eine florierende Pizzeria be-trieb. Die wurde von Radikalen in Brand gesetzt, brannteab, und das brandenburgische Innenministerium unterLeitung von Herrn Schönbohm hatte nichts Besseres zutun, als den nun erwerbslosen Ägypter auszuweisen.
Es sind die täglichen, oft gedankenlosen Signale, dieunsere Gesellschaft mit prägen. Ich weiß genau, wovonich rede, werde ich doch häufig im eigenen Umfeld bis hi-nein in meine Familie damit konfrontiert. Es tut schonweh, wenn mein Sohn nach Hause kommt und sagt:„Papa, mich haben sie wegen meines ausländischen Aus-sehens nicht in die Diskothek gelassen.“ Dann erfasstmich eine kalte Wut auf die Politiker Koch und Rüttgers,die mit ihren Aktionen genau dieser Richtung die Stich-worte geben haben.
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Annelie Buntenbach11571
– Sie brauchen sich nicht aufzuregen; Sie sollten sich anHerrn Rüttgers und Herrn Koch wenden, um diesen un-sensiblen Umgang mit diesem Thema zu vermeiden.
Es sind verheerende Signale, die wir unseren Jugendli-chen geben, wenn wir sagen: Die mit den blonden Haarenund den blauen Augen dürfen rein, die mit den dunklenAugen und den schwarzen Haaren müssen draußen blei-ben. Wir sollten uns auch davor hüten, einer Argumenta-tion auf den Leim zu gehen, die da lautet: Es sind zu vieleAusländer hier. Das klang heute einige Male an. Das för-dert den Rechtsradikalismus.Ich will ja die Integrationsprobleme und auch die Aus-länderstraftaten gar nicht klein reden. Die sind vorhanden;das weiß jeder von uns. Aber klar muss auch sein: Nichtdie Ausländer sind für den Rechtsradikalismus verant-wortlich, sondern sie sind deren Opfer.
Außerdem stimmen diese Argumente auch nicht; dennerstens ist der Rechtsradikalismus dort am größten, wo esdie wenigsten Ausländer gibt, und zweitens würde einesolche Argumentation zudem den rechten Dummköpfeneine Rechtfertigungsgrundlage bieten nach dem Motto:Ihr seht es ja, alle sind sauer darüber, aber wir tun was. Ichglaube, es wäre verheerend, wenn wir solche Signale aus-senden würden.
Wir wollen erreichen, dass Rechtsextremismus, Aus-länderfeindlichkeit und Antisemitismus entschlossen ent-gegengetreten wird durch mehr Zivilcourage in der Be-völkerung, durch Schaffung von Rahmenbedingungen,die das Aufkeimen rechtsextremistischer Gewalt verhin-dern, und durch entschlossenes Handeln der Strafverfol-gungsbehörden. Herr Bosbach hat völlig Recht, wenn ersagt: Wir brauchen Repression und Prävention gleicher-maßen. Viele junge Menschen können an einem Abglei-ten in den Rechtsradikalismus gehindert werden bzw. siekönnen zurückgeholt werden. Und da ist Vorbeugen im-mer noch deutlich besser als Heilen. Im Übrigen ist esauch eine Ecke billiger; das sollte man nicht vergessen.Wir müssen den jungen Menschen Angebote machen,aber wir müssen auch darauf bestehen, dass diese Ange-bote angenommen werden. Wer trotz aller Bemühungenund Angebote nicht hören will, der muss die Härte des Ge-setzes spüren – ich sage das auch deutlich – bis hin zumPolizeiknüppel.Wir müssen uns um die Opfer kümmern. Das ist mehr-fach angesprochen worden. Die Opfer sind die eigentli-chen Leidtragenden. Wenn solche Straftaten passieren,neigen wir ja gelegentlich dazu, sofort in der Vergangen-heit der Täter zu forschen. Hatte der Junge eine schwereJugend? Was hatte er sonst für Gründe, rechtsradikal zuwerden? Was hatte er sonst für Gründe, Straftäter zu wer-den? Ich sage: Wir müssen uns um Opfer und Täter glei-chermaßen kümmern, aber im Zweifelsfall ist mir die Zu-kunft der Opfer wichtiger als die Vergangenheit der Täter.Ich denke, das sollte unsere Handlungsmaxime hier sein.
Die Gesetze reichen aus. Der Ruf nach Verschärfungder Strafen ist überflüssig. Gerade jetzt haben wir erlebt,dass die brutale Ermordung Alberto Adrianos vor demOberlandesgericht in Naumburg gesühnt wurde. Die Tä-ter sind fast zu Höchststrafen verurteilt worden. Der Straf-rahmen reicht also aus. Er muss nur ausgeschöpft werden.Das hat unsere Justiz lange Zeit nicht begriffen.
Zur Bekämpfung gewalttätiger Angriffe auf Men-schen, Gedenkstätten und Synagogen ist auch ein deutli-ches Zeichen der gesamten Gesellschaft geboten. SolchenGewalttaten müssen der vermeintlich und zum Teil leiderauch tatsächlich vorhandene Boden und die Unterstüt-zung aus der Gesellschaft entzogen werden. Hier setzt un-ser Bündnis für Demokratie und Toleranz auch an. Wirbrauchen Menschen, die vorangehen. Wir brauchen Men-schen, die Zivilcourage zeigen. Wir brauchen Menschenaus Politik und Sport, die mutig vorangehen und Flaggezeigen. Wenn heute von hier aus das Signal ausgeht, dassdie öffentliche Ächtung von Extremismus jeder Art einAnliegen aller Politiker ist und dass alle Politiker sich auf-gemacht haben, den Anfängen zu wehren, dann war dasheute Morgen eine gute Veranstaltung.Ich bedanke mich.
Für die PDS-Frak-
tion spricht die Kollegin Angela Marquardt.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Ich werde am 7. Oktober an ei-ner antifaschistischen Demonstration, die hier inBerlin stattfindet, teilnehmen. Sie richtet sich nicht nurgegen die in Berlin-Köpenick ansässige NPD-Zentrale,sondern auch gegen das in der Nachbarschaft liegendeAbschiebegefängnis Grünau. Wir werden dort vor allemauf den Zusammenhang von neonazistischer Gewalt undstaatlicher Abschiebepolitik hinweisen und klarmachen,dass es beim Thema Rechtsextremismus vor allem umRassismus geht und dass genau dieser nicht nur unterNeonazis existiert, sondern überall in der Gesellschaft,wie heute schon mehrfach betont wurde. Deswegen findeich es schlimm und möchte darauf hinweisen, dass esnatürlich auch rassistische Elemente in der zurzeit betrie-benen Asylpolitik gibt.Ich nehme an, dass nur wenige von Ihnen in diesemHause an dieser Demonstration teilnehmen werden, vorallem auch deshalb, weil sie von der „AntifaschistischenAktion Berlin“ organisiert wird. Das ist nur eine von vie-len kriminalisierten antifaschistischen Gruppierungen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Hans-Peter Kemper11572
die sich seit Jahren aktiv gegen neofaschistische Struktu-ren in dieser Gesellschaft eingesetzt haben.
Es ist eine gesellschaftliche Erfahrung, dass das Enga-gement gegen Rechts inzwischen nicht nur Zivilcouragehinsichtlich Rassismus und Nazis erfordert, sondern auchhinsichtlich staatlicher Repression und staatlichem Ras-sismus, die es in den Ausländerbehörden, auch in der Po-lizei und sogar in den Sozialämtern gibt. Deswegen lässtsich Rechtsextremismus eben nicht mit ein paar zentralgesteuerten Plakataktionen bekämpfen. Dieser Kampf er-fordert vielmehr eine langwierige Kleinarbeit vor Ort, sowie sie Antifa-Gruppen über Jahrzehnte hinweg betrie-ben haben.
Sie haben recherchiert, haben rechte Strukturen offengelegt, haben darüber gesprochen und haben vor allenDingen – das wurde hier schon angesprochen – Opfernrechter Gewalt beigestanden. Sie haben lautstark protes-tiert. Sie kämpfen bis heute für eine Gesellschaft, die Ras-sismus und Diskriminierung von Minderheiten aus-schließt. Nicht selten werden sie dafür als Chaotenbeschimpft. Das haben sie in meinen Augen nicht ver-dient.
Natürlich müssen wir über Parteigrenzen hinweg ge-gen Rechtsextremismus auftreten. Ich bin die Letzte, dienicht bereit wäre, dies in diesem Haus auch gemeinsam zutun. Aber Sie werden verstehen, dass ich angesichts derRealität und der hier gemachten Äußerungen zumindestmanches als halbherzig bezeichnen möchte, vor allemdann, wenn ich mir vor Augen führe, wie darüber disku-tiert wird; denn natürlich werden wir alle einer Meinungsein, dass Ausländer hier in Frieden leben müssen und vorNaziübergriffen geschützt sein müssen. Aber stehen wirnoch auf einer Seite, wenn es darum geht, die Angst vonAusländerinnen und Ausländern vor Abschiebung zubekämpfen? Ist nicht manchem hier das eigene Hemdnäher als die Menschenwürde?Wenn auch heute wieder das Problem Rechtsextremis-mus zu einem Jugendproblem erklärt wird, dann kann ichdas wirklich nicht mehr verstehen; denn gerade rechte Ju-gendliche, die auf Rassismus, autoritäres Denken und Mi-litarismus setzen, wissen oft, dass sie diese Vorstellungenmit vielen Erwachsenen, Erziehern und Sozialarbeiternteilen. Das muss genauso thematisiert werden wie dasProblem des Rechtsextremismus unter Jugendlichen.
Hierbei sind alle gefragt. Natürlich, Kollege Thierse, giltdies in ganz besonderer Weise für die PDS. Ich werdemich gegen solche Tendenzen auch in meiner Partei im-mer einsetzen.Angesprochen sind darüber hinaus diejenigen, die dasThema Rechtsextremismus erst interessant fanden, als eszum Füller des Sommerlochs wurde. Angesichts der Tat-sache, dass ich selbst schon häufiger bedroht wurde, an-gesichts der Tatsache, dass in diesem Land Menschen tot-geschlagen werden, halte ich es für eine Farce, dies mitCastor-Transporten zu vergleichen. Dafür sollte man sichwirklich schämen.Sollte doch jemand zu dieser Demo gehen wollen: Siefindet am 7. Oktober um 13 Uhr am S-Bahnhof Spind-lersfeld in Berlin-Köpenick statt.
Zum Abschluss die-
ser Debatte gebe ich nunmehr dem Bundesminister des
Innern, Otto Schily, das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Es stimmt mich zuver-sichtlich, dass in der heutigen Debatte alle im Bundestagvertretenen Parteien, wenn auch mit unterschiedlichenAkzenten, eine offensive Auseinandersetzung mit Rechts-extremismus und Gewalt angemahnt haben. Demokratiedarf nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschen in unse-rer Mitte zu Tode gehetzt, wenn Ausländerunterkünfte inBrand gesetzt, wenn jüdische Friedhöfe geschändet, wennObdachlose erschlagen und wenn andere Gewalttaten ver-übt werden.
Demokratie muss sich aktiv zur Wehr setzen. Wir alle, zu-allererst der demokratische Rechtsstaat, sind dafür ver-antwortlich, dass das geschieht.Rechtsextremismus und Gewalt lassen sich gewissnicht nur durch gutes Zureden und freundliche Ermah-nungen überwinden. Der demokratische Staat muss auchseine Stärke beweisen. Deshalb muss der Staat seineMachtmittel entschlossen und mit der gebotenen Härteeinsetzen. Wir dulden keine rechtsfreien Räume, keine sogenannten national befreiten Zonen.
Das Gewaltmonopol des Staates gilt in Deutschlandüberall und uneingeschränkt. Wir werden davon keinenMillimeter abdrücken.
In der alltäglichen Arbeit – lassen Sie mich das an die-ser Stelle sagen – ist die Durchsetzung des staatlichen Ge-waltmonopols zuallererst die Aufgabe von Polizei undBundesgrenzschutz. Sie erfüllen diese Aufgabe oft unteräußerst schwierigen und gefahrvollen Bedingungen. Ichspreche allen Angehörigen der Polizeien der Länder unddes Bundesgrenzschutzes meinen ausdrücklichen Dank
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Angela Marquardt11573
für ihre Arbeit aus. Sie müssen wissen, dass wir sie ge-meinsam unterstützen.
Wir müssen uns auch darüber einig sein, dass wir dort,wo es erforderlich und aussichtsreich ist, ohne Zögern vonMöglichkeiten des Vereinsverbots bis hin zum Parteien-verbot Gebrauch machen. Es ist gut, dass das Verbot derneonazistischen Organisation „Blood and Honour“ allge-meine Zustimmung gefunden hat. Ich danke in diesemZusammenhang den Länderinnenministern für die engeund vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese wird sichauch bei der Prüfung, ob ein Verbotsverfahren gegen dieNDP eingeleitet werden soll, bewähren.Wir müssen auch prüfen, wie wir künftig provokanteAufzüge der NPD und anderer neonazistischer Organisa-tionen vor symbolträchtigen Orten und vor exponiertenStellen wie dem künftigen Holocaust-Mahnmal und derNeuen Wache unterbinden.
Das müssen wir sorgfältig prüfen. Ich befinde mich imGespräch darüber mit den Länderinnenministern.Wir alle wissen, dass Verbote Rechtsextremismus undGewaltbereitschaft nicht über Nacht zum Verschwindenbringen. Was sich an neonazistischem, antisemitischemund rassistischem Unrat in den Köpfen eingenistet hat,was an Gewaltbereitschaft und Brutalität die Herzen jun-ger Menschen vergiftet, das lässt sich nicht einfach durchVerbote beseitigen. Dazu bedarf es langfristiger und ziel-genauer Strategien, für die wir präventive Konzepte ent-wickeln müssen. Die Bundesregierung setzt in diesemSinne in den verschiedenen Ressorts auf umfassende Pro-jekte und Programme. Sie stellt dafür erhebliche finanzi-elle Mittel bereit, allen voran das Bundesministerium fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend und das Bundes-ministerium für Arbeit und Sozialordnung. Zu nennen istauch das Projekt „Die soziale Stadt“ aus dem Bundesbau-ministerium. Man sollte so etwas nicht unterschätzen.
Auch das soziale Umfeld in der Stadt ist bedeutsam fürdas Thema, das wir heute diskutieren.Viele dieser Programme sollen den Prozess der Inte-gration direkt oder indirekt fördern. Mit einer verbesser-ten Integrationspolitik strebt die Bundesregierung denAbbau von Diskriminierung und die Schaffung von Chan-cengleichheit und gegenseitiger Toleranz an. Eine gelun-gene Integration ist ein wesentliches Element, umRechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit entgegen-zuwirken.Sicherlich – das will ich hier nicht verschweigen –müssen diese Programme immer wieder auf ihre Zielge-nauigkeit und Effizienz hin überprüft werden. Dabeikommt es darauf an, dass wir uns ein genaues Bild überdie tatsächlichen Geschehnisse verschaffen. Wenn es Un-genauigkeiten bei Statistiken gegeben haben sollte, wer-den wir sie bereinigen. Ich warne allerdings davor, alles,was in der Zeitung steht, schon von vornherein für allge-mein gültig zu halten. Wir müssen genau hinsehen, ob alldas, was da geschrieben steht, stimmt. Ich habe dafür eineProjektgruppe eingerichtet. Wir werden das in aller Ruheund Sorgfalt prüfen. Wir lassen ferner einen periodischenSicherheitsbericht erarbeiten, der über die Kriminalstatis-tik hinaus ein genaueres Bild des tatsächlichen Gesche-hens vermitteln wird. Dabei muss auch untersuchtwerden – das haben heute viele gesagt –, wie Fremden-feindlichkeit entsteht oder gefördert wird.Meine Damen und Herren, an der Stelle muss ich etwaseinfügen. Hier ist kritisiert worden, dass ich in bestimm-ten Politikfeldern – das wiederhole ich ausdrücklich –eine tabufreie Diskussion anmahne. Das aber ist meineÜberzeugung. Wer die Argumente auf seiner Seite weiß,braucht auch kein Tabu. Er kann seine Argumente offenvortragen, und wenn er die besseren hat, wird er in derDiskussion obsiegen. Es muss möglich sein zu sagen:Das Zusammenleben mit Ausländern ist auchschwierig und anstrengend. Wer das leugnet odernicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehrToleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaftunglaubwürdig. Es hilft nicht, vor Problemen die Au-gen zu verschließen oder allein schon ihre Beschrei-bung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.
Ich vermisse den Beifall der Grünen; das sind nämlichWorte aus der Rede des Bundespräsidenten. Das, was der
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eshat keinen Zweck, die Augen vor Problemen zu ver-schließen.
Dann nämlich überlassen wir die Diskussion den Ratten-fängern auf der rechtsextremistischen Seite.
Wir müssen die Probleme offen diskutieren. Es hat keinenZweck, dabei die Pose der moralischen Überheblichkeiteinzunehmen. Die besseren Argumente sollen zählen.Es ist übrigens durchaus zulässig und in einer freienDemokratie auch angemessen, dass jemand den Stand-punkt vertritt, die generelle Einführung der doppeltenStaatsbürgerschaft sei nicht wünschenswert. Das ist zuläs-sig, das ist noch keine Förderung von Rassismus oderFremdenfeindlichkeit. Mein Freund Professor Dan Dinerhat diese Auffassung – ich teile sie nicht, wie Sie wissen –in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit gutenGründen vertreten. Wer diesen Mann mit seinem Famili-enhintergrund des Rassismus zeihen will, der unterliegtdabei einem schwerwiegenden Irrtum.
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Bundesminister Otto Schily11574
Deshalb lassen wir uns nicht auf eine solch verkürzteSprechweise ein. Jeder soll seine Worte wägen. Geradediejenigen, die meinen, die Sorgfalt der Wortwahl an-mahnen zu müssen, sollten einmal überprüfen, ob sie sel-ber ihren Mahnungen eigentlich immer entsprechen.Ich will an der Stelle noch etwas sagen: InnenministerBeckstein, der Kollege aus Bayern, hat sehr profilierteAuffassungen, die sicherlich in vielen Dingen meinen ei-genen Auffassungen konträr widersprechen.
Ich werde ihn aber immer in Schutz nehmen, wenn auchnur der leiseste Versuch gemacht wird, ihn in die Nähevon Rassisten zu bringen.
Er ist ein bekennender Christ, er ist aktiver Synodaler. Ge-gen den Vorwurf des Rassismus werde ich ihn immer inSchutz nehmen.Meine Damen und Herren, in meinem Verantwor-tungsbereich bildet die Bekämpfung von Rechtsextremis-mus und Gewalt einen deutlichen Schwerpunkt. Unter an-derem beweist das der in diesem Jahr vorgelegteVerfassungsschutzbericht. Auch den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungs-schutz, insbesondere dem früheren Präsidenten Dr. Frischund dem neuen Präsidenten Dr. Fromm, gebühren Dankund Anerkennung für ihre Leistungen. Wenn wir diesesAmt nicht hätten, müssten wir es einrichten. Wir brauchenes gerade dafür, um die Erkenntnisse über verfassungs-feindliche Aktivitäten an die Öffentlichkeit zu bringen. Imjüngsten Verfassungsschutzbericht befindet sich ein Ka-pitel mit der Überschrift „Verfassungsschutz durch Auf-klärung“. Das ist gewissermaßen Programm. Deshalbverdient das Bundesamt für Verfassungsschutz in diesemHause Unterstützung. Ich hoffe, ihm wird auch künftigdiese Unterstützung gewährt werden.
Wir haben ferner die Arbeitsschwerpunkte in der Bun-deszentrale für politische Bildung umfassend reformiertund sie auf eine verstärkte Auseinandersetzung mitRechtsextremismus und Gewalt ausgerichtet. DerBundesgrenzschutz beteiligt sich ebenfalls aktiv amKampf gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Unter an-derem hat er eine Hotline eingerichtet, die wir durch einebundesweite Plakataktion noch weiter bekannt machenwerden. Wir sollten das, was der Bundesgrenzschutz indiesem Zusammenhang aktiv gegen rechtsextremistischeSchläger auf Bahngeländen oder in den Verkehrsmittelntut, nicht gegen andere Aufgabenbereiche, die ebensowichtig sind, ausspielen. Wenn der Bundesgrenzschutzbei lagebildabhängigen Kontrollen dafür sorgt, dassSchleuserkriminalität und organisierte Kriminalitätbekämpft werden, ist das ebenso notwendig. Das darf manhier nicht irgendwie als Alternative darstellen.
Wir starten das Projekt „Sport gegen Gewalt“. Ichstimme allen zu, die gesagt haben, gerade die Vereins-tätigkeit und sportliche Aktivitäten sind ein wichtigesMittel gegen Gewalt. Wir beobachten übrigens, dass ge-rade die sportbetonten Schulen stärkere Abwehrkräfte ge-genüber Gewalt bei den Jugendlichen entfalten, als es beianderen der Fall ist. Deshalb müssen wir die Länder er-mahnen, den Sportunterricht bitte nicht zu vernachlässi-gen oder etwa einzuschränken.
Auch Sport ist ein wichtiges Mittel, um Jugendliche vonsolchen Fehlentwicklungen abzuhalten.Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um dieVerbreitung neonazistischer, rassistischer, ausländer-feindlicher und antisemitischer Propaganda über das In-ternet zu unterbinden, und zwar national und in-ternational.
Wir haben das „Bündnis für Demokratie und Tole-ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ gegründet. An-fangs hat es einige Stimmen gegeben, die meinten, das seiein ziemlich ohnmächtiges Unterfangen. Die Erfahrungbelehrt uns eines Besseren. Ich lade alle ein, sich an die-sem Bündnis zu beteiligen. Das Bündnis erfährt in derZwischenzeit große Anerkennung und großen Zuspruchaus allen Teilen der Gesellschaft. Es bilden sich lokaleund regionale Bündnisse. Es wird angefragt, wie man mit-arbeiten kann. Ein Beispiel möchte ich erwähnen, dasich in jüngster Zeit bekannt machen durfte: die Stiftungeines hoch dotierten Jugendwettbewerbes, des Victor-Klemperer-Preises, in Zusammenarbeit zwischen Dresd-ner Bank, dem Aufbau-Verlag und dem Bundesin-nenministerium. Das ist ein gutes Beispiel für eineInitiative im Sinne des Bündnisses für Demokratie undToleranz.Es gibt viele andere positive Beispiele. Viele Men-schen, Organisationen und Institutionen engagieren sich:Wirtschaft und Gewerkschaften, der Bundesverband derDeutschen Industrie ebenso wie die Gewerkschaft ÖTV,die Kirchen, die Religionsgemeinschaften und zahlreichehumanitäre Organisationen, private Stiftungen. Lokaleund regionale Bündnisse gegen Rechtsextremismus undGewalt haben sich gebildet. Auch die jetzt von Uwe-Karsten Heye und Paul Spiegel in Gang gebrachte Initia-tive „Gesicht zeigen“ gehört in diesen Bereich. Diese undalle anderen Initiativen sind ein ermutigendes Zeichen,dass die Gesellschaft in Bewegung ist, nicht in Gleich-gültigkeit verharrt, sondern, wie ich eingangs sagte, sichoffensiv mit Rechtsextremismus und Gewalt auseinandersetzt und für Demokratie und Toleranz einsetzt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habemich darüber gefreut, dass heute in vielen Reden Art. 1des Grundgesetzes angesprochen worden ist. Es ist wahr:
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Bundesminister Otto Schily11575
Zentraler Orientierungspunkt für alle unsere gemeinsa-men Bemühungen und Anstrengungen sollte Art. 1 desGrundgesetzes sein.
Uns allen ist der Schutz der Würde des Menschen an-vertraut. Die Würde des Menschen ist mehr als eine pla-kative Formel; auch darüber darf man nachdenken. Sieverweist auf ein Menschenbild, sie verweist auf die geis-tig-seelische Konstitution des Menschen vor dem Ange-sicht einer höheren Ordnung, wie immer man sie sich inder jeweiligen Anschauung vorstellt. Das Wissen um diegeistig-seelische Konstitution des Menschen, die über un-ser eigenes Leben hinausweist, bildet die Grundlage un-seres Gewissens und damit zugleich für das friedliche undgedeihliche Zusammenleben der Menschen. Diese, wieich finde, insgesamt eindrucksvolle Debatte heute wirdhoffentlich dazu beitragen, dass Gewissen und Gesell-schaft sich festigen.Vielen Dank.
Damit schließe ichdie Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisungder Vorlagen auf den Drucksachen 14/4067 und 14/4145an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-geschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4145 soll zu-sätzlich an den Haushaltsausschuss, nicht jedoch an denAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfeüberwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Dasist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d und23 f bis 23 l sowie die Zusatzpunkte 2 a und b auf:23.a) Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung einerDienstleistungsstatistik und zurÄnderung statistischer Rechtsvorschriften– Drucksache 14/4049 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologieb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 14/4053 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheitc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Opferentschädigungsgesetzes undanderer Gesetze– Drucksache 14/4054 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussgemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-derungsurkunden vom 6. November 1998 zurKonstitution und zurKonvention der Interna-tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember1992– Drucksache 14/3952 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologief) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung derStrafprozessordnung und an-derer Gesetze– Drucksache 14/3205 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussg) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im
– Drucksache 14/3831 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussh) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be-griffs „Erziehungsurlaub“– Drucksache 14/4133 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendi) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, HildebrechtBraun , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der F.D.P.Kinderhandel in Afrika verhindern– Drucksache 14/2705 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfej) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfKutzmutz, Gerhard Jüttemann, Dr. Christa Luft,Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion der PDSFertigung des Airbus A3XX struktur- undumweltpolitisch sinnvoll organisieren
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Bundesminister Otto Schily11576
– Drucksache 14/3677 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussk) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSNeue nukleare Abrüstungsinitiativen stattneuer Raketenabwehrprojekte– Drucksache 14/3875 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschussl) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarittaBöttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und derFraktion der PDSKeine Fusion des GMD-Forschungszentrumsfür Informationstechnik und der Fraunhofer-Gesellschaft zulasten der IuK-Grund-lagenforschung– Drucksache 14/4037 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrena) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSEinsetzung eines Untersuchungsausschusses– Drucksache 14/3822 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, UweHiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder PDSBürgerbahn statt Börsenbahn– Drucksache 14/3784 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4054 soll zu-sätzlich an den Rechtsausschuss und an den Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen wer-den. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 24 a bis24 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vor-lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März1998 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung der Repu-blik Südafrika über die Seeschifffahrt– Drucksache 14/3091 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/3846 –Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Michael GoldmannWir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfauf Drucksache 14/3091. Der Ausschuss für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksa-che 14/3846, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 b:Zweite und dritte Beratung des vom Bundes-rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Personenbeförderungsgesetzes
– Drucksache 14/2995 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/3843 –Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Günter BruckmannWir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfzur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes aufDrucksachen 14/2995 und 14/3843. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiterBeratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 24 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtsdes Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit zu dem Antrag der Abge-ordneten Dr. Paul Laufs, Dr. Christian Ruck, Dr. KlausW. Lippold , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU
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Vizepräsident Rudolf Seiters11577
Reaktor-Sicherheitskommission mit unabhän-gigen, fachlich hoch qualifizierten Experten be-setzen– Drucksachen 14/1010, 14/2112 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Axel BergDr. Paul LaufsMichaele HustedtBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-che 14/1010 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und derPDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-tionsausschusses.Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 187 zu Petitionen– Drucksache 14/4078 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 24 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 188 zu Petitionen– Drucksache 14/4079 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 24 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 189 zu Petitionen– Drucksache 14/4080 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 189 ist mit dem gleichenStimmenverhältnis wie zuvor angenommen.Tagesordnungspunkt 24 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 190 zu Petitionen– Drucksache 14/4081 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 190 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 191 zu Petitionen– Drucksache 14/4082 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmenvon SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen dieStimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Tagesordnungspunkt 24 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 192 zu Petitionen– Drucksache 14/4083 –Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Sammelübersicht 192 ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Tagesordnungspunkt 24 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 193 zu Petitionen– Drucksache 14/4084 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten ChristelHumme, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni Brandt-Elsweier, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten MarieluiseBeck , Ekin Deligöz, Kristin Heyne,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENNeue Initiativen zur Frauenbeschäftigung– zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss,Maritta Böttcher, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDSGleichstellung von Frauen und Männern imErwerbsleben– zu dem Antrag der Abgeordneten MariaEichhorn, Hannelore Rönsch ,Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUBekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit inDeutschland– zu der Unterrichtung durch das Europäische Par-lamentEntschließung des Europäischen Parlaments zuden besonderen Auswirkungen der Frauenar-beitslosigkeit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters11578
– Drucksachen 14/1195, 14/1529, 14/1549,14/155 Nr. 1.1, 14/2746 –Berichterstattung:Abgeordnete Christel HummeIrmingard Schewe-GerigkDorothea Störr-RitterIna LenkeMonika BaltNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Zeit von anderthalb Stunden vorgesehen.– Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damiteinverstanden.Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der Par-lamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerinfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Edith Niehuis,das Wort.D
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir de-battieren heute über einige Anträge zur Frauenbeschäfti-gung. Frauenbeschäftigung ist natürlich Teil der gesamtenBeschäftigungslage. Das heißt: Wer Arbeitslosigkeit er-folgreich bekämpft, wie wir es tun, hat eine erfolgreicheGleichstellungspolitik gemacht.
Anders herum: Eine katastrophale Lage auf dem Arbeits-markt, wie wir sie aus der letzten Legislaturperiode mit4,5 Millionen Arbeitslosen kennen, gefährdet auch dieGleichstellung von Frauen und Männern erheblich. Wirhatten uns doch schon daran gewöhnt, immer wieder fest-zustellen: Frauen sind die Ersten, die entlassen, und dieLetzten, die wieder eingestellt werden. Darum ist es sowichtig, dass wir eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkteingeläutet haben.
Diese Trendwende bezieht sich auch auf den Unter-schied zwischen den Arbeitslosenquoten von Frauen undMännern, insbesondere was den Osten anbetrifft. War dieArbeitslosenquote der Frauen im Osten im August 1998noch um 5 Prozentpunkte höher als die der Männer, wa-ren es im August 2000 bei insgesamt niedrigerem Niveaunur noch 3 Prozentpunkte. Das sagt mir: Wir haben zwarnoch viel zu tun, aber wir sind mit unserer Beschäfti-gungspolitik auf dem richtigen Weg.
– Nein, sie ist nicht gestiegen.
– Der Unterschied zwischen den Arbeitslosenquoten vonFrauen und Männern betrug 5 Prozentpunkte. Innerhalbvon zwei Jahren ist dieser Unterschied auf 3 Prozent-punkte gesunken. Das verdeutlicht die Richtigkeit unse-res Ansatzes.Wir können erkennen, dass in der Beschäftigungspoli-tik in der Tat ein Wechsel stattgefunden hat. Erinnern wiruns: Wie war das denn auf dem EU-Beschäftigungsgipfel1997 in Luxemburg, auf dem die damalige Bundesre-gierung unter Kanzler Kohl als Bremser in Sachen euro-päischer Beschäftigungspolitik auftrat, weil sie im euro-päischen Vergleich nur wenig vorzuweisen hatte? DieseSituation hat sich erheblich verändert. Heute versteht sichdie Bundesregierung mit ihren nationalen Aktionsplänen,
in denen die Verwirklichung der Chancengleichheit vonMann und Frau eine selbstverständliche und wesentli-che Querschnittsaufgabe ist, als aktiver Teil europäischerBeschäftigungspolitik mit ihren beschäftigungspoliti-schen Zeitlinien.
Rat und Kommission werden demnächst den gemein-samen Beschäftigungsbericht vorlegen. In diesem Berichtwerden einige Maßnahmen dieser Bundesregierung posi-tiv hervorgehoben werden.
Dazu gehören das Programm „Frau und Beruf“
und die dadurch eingeleiteten gesetzgeberischen Maß-nahmen sowie andere politische Initiativen. Auch diesesProgramm zeigt, dass wir, was die Beschäftigungspolitikanbetrifft, ein anderes Verständnis haben als unsere Vor-gängerregierung.
Sehen wir uns doch den Antrag der CDU/CSU an, derheute debattiert wird! Sie haben in diesem Antrag Forde-rungen gestellt, die wir befürworten. Wenn ich dann aberin den Bericht über die Ausschussberatungen schaue,dann stelle ich fest, dass Sie von gesetzlichen Maßnahmenabsehen wollen.
Meine Damen und Herren, was ist das für eine Politik, Ap-pelle und Ziele zu formulieren, dann aber darauf zu ver-zichten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen?
Das ist doch die Form von Politik, die Sie gemacht haben,als Sie die Bundesregierung gestellt haben. Für diese Artvon Politik ist dann das Wort „Reformstau“ geprägt wor-den.
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Vizepräsident Rudolf Seiters11579
Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass Teilzeitarbeitgefördert werden muss. Aber dazu bedarf es gesetzlicherMaßnahmen. Das ist der Grund, warum wir das Erzie-hungsurlaubsgesetz – demnächst wird es Elternzeitgesetzheißen – verändert haben. Wir werden den jungen Väternund Müttern vom 1. Januar 2001 an die Gelegenheit ge-ben, dass sie mehr wählen können, wenn sie die Verein-barkeit von Beruf und Familie anstreben.
Vater und Mutter können demnächst gleichzeitig Teilzeit-arbeit als Elternzeit anmelden und haben dann einen An-spruch, nach der Erziehungszeit auf ihren Vollzeitarbeits-platz zurückzukehren.
Das ist doch etwas, was wir brauchen. Die Menschenmüssen auf Gesetze zurückgreifen können, damit sie ei-nen Anspruch haben, ihre individuellen Bedürfnisse um-setzen zu können.
Wenn wir Teilzeitarbeit zur Vereinbarkeit von Berufund Familie fördern, dann müssen wir auch das Ende mit-bedenken. Das Ende ist in diesem Fall die Rente. Darumwird im Moment ein, wie ich finde, hervorragendes Paketaus guter Beschäftigungspolitik, guter Familienpolitikund guter Rentenpolitik geschnürt.
Sie wissen, dass demnächst die Rentenreform ansteht.Danach werden gerade diejenigen, die aufgrund vonKindererziehung in den ersten zehn Lebensjahren ihresKindes ihre Arbeit auf Teilzeit reduziert haben, höhereRentenanwartschaften bekommen. Insofern wird die dis-kontinuierliche Erwerbsbiografie, die Frauen sehr häufigaufwiesen und die für die Rente sehr schädlich war, ir-gendwann endlich der Vergangenheit angehören.
Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, Gleichstel-lungspolitik und Beschäftigungspolitik mit der Vereinbar-keit von Beruf und Familie gleichzusetzen. Das ist aucheine originär frauenpolitische Aufgabe. Ich glaube, wirhaben in unserem Industrieland Bundesrepublik Deutsch-land noch Erhebliches zu tun, um diskriminierendeRahmenbedingungen abzuschaffen. Wie ist es sonst zuerklären, dass Deutschland hinsichtlich der Zahl vonFrauen in Führungspositionen mit 11 Prozent im europä-ischen Vergleich weit hinten liegt? Wie ist zu erklären,dass in den USA der Frauenanteil im Management bei46 Prozent, in Kanada bei 42 Prozent, bei uns aber bei um11 Prozent liegt? Und das ist so, obwohl Frauen inDeutschland hervorragende Bildungsabschlüsse haben.Hier ist die Wirtschaft in Deutschland gefordert, ernst-hafte Schritte zur Verbesserung der Situation von Frauenim Erwerbsleben zu unternehmen.
Mit unserem Programm „Frau und Beruf“ wollen wirdie Zeit beenden, in der nur fruchtlose Appelle erfolgten.Wir sind vielmehr für ein effektives Gleichstellungsgesetzauch für die Privatwirtschaft.
Das wollen wir um der Frauen willen, aber gerade auchum des Wirtschaftsstandortes Deutschland willen. Eswird höchste Zeit, dass die Politik nicht weiter tatenloszusieht, wie Verkrustungen aufgrund geschlechtsspezifi-scher Vorurteile und der Verhaltensstarre der Verantwort-lichen in der Wirtschaft sowohl auf Unternehmer- wieauch auf Gewerkschaftsseite dazu führen, dass vorhan-dene Qualifikationen, nämlich die der Frauen, für denWirtschaftsprozess nicht angemessen abgerufen werden.
Wir haben in den letzten Monaten hochrangige Ge-spräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaftund der Wissenschaft geführt. Wir waren alle der Mei-nung, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Gleich-stellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaftvorangetrieben werden muss. Die Tarifvertragsparteien,die Betriebsparteien erwarten von uns als Bundes-regierung, dass wir ihnen angesichts der guten Beispiele,die es in vielen Unternehmen durchaus gibt, die Chanceeröffnen, Maßnahmen zur Gleichstellung in ihren Firmenautonom umzusetzen. Ich finde, das ist in Ordnung.Ich sage aber genauso deutlich: Wir werden ein Gesetzvorlegen, das die Wirtschaft verpflichtet, die Gleichstel-lung von Frauen und Männern in den Betrieben aktiv um-zusetzen.
Dieses Gesetz wird den Verantwortlichen in der Branche,den Verantwortlichen in den Unternehmen zunächst eineFrist einräumen, in der sie Maßnahmen zur Umsetzungder Gleichstellung von Frauen und Männern gemäß vor-gegebenen Mindeststandards autonom umsetzen können.Für denjenigen aber, der diese im Gesetz vorgegebene Fristverstreichen lässt, werden per Gesetz gleichstellungspo-litische Instrumentarien vorgeschrieben.Sicher lohnt es sich dabei, über den nationalen Teller-rand hinauszuschauen. Von den wirtschaftlich erfolgrei-chen USA können wir lernen, was die Berücksichtigungvon frauenfördernden Maßnahmen bei der Vergabe öf-fentlicher Aufträge bewirkt. Von der Schweiz können wirsehr gut lernen, was in diesem Zusammenhang mit demVerbandsklagerecht möglich ist; denn in der Schweiz,einem ebenfalls erfolgreichen Land, hat das Verbandskla-gerecht zum Erfolg geführt.Ein bedrückendes Kapitel hinsichtlich der Frauenbe-schäftigung sind die nach wie vor bestehenden erhebli-chen Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen.Dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle zulasten derFrauen muss beseitigt werden. Das ist der Grund dafür,dass wir einen umfassenden Lohn- und Einkommensbe-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis11580
richt erstellen lassen, dessen Ergebnisse Ende 2001 vor-liegen werden.Nun ist es leider nicht Sache der Bundesregierung, Ta-rifverhandlungen zu führen; das machen andere. Ich er-warte aber, dass sich dann, wenn der Bericht vorliegt undHandlungsbedarf aufgezeigt worden ist, die Tarifver-tragsparteien aufgefordert fühlen, endlich zu handeln.
Wir müssen auch bezüglich des Berufsspektrums vonFrauen mehr tun. Leider wählen die jungen Frauen immernoch Berufe in einem viel zu kleinen Bereich für sich aus.Darum gibt es neben den von mir genannten gesetzge-berischen Maßnahmen eine Reihe von Initiativen, die hierAbhilfe schaffen sollen. Eine Maßnahme ist die D-21-Initiative, in der wir mit der Wirtschaft zusammen daranarbeiten, dass der Frauenanteil auch in den IT-Ausbil-dungsberufen steigt.Wir müssen mehr tun, um die Lücke bei den Existenz-gründungen durch Frauen zu schließen. Oft mangelt esFrauen, die in der Regel kleine Existenzen gründen wol-len, am unbürokratischen Zugang zu Gründungsdarlehen.Das war der Grund dafür, dass wir im Mai 1999 das Kre-ditprogramm Startgeld aufgelegt haben. Dieses Kredit-programm ist auf kleinere Existenzgründungen ausge-richtet, was dem Gründungsverhalten von Frauen sehrentgegenkommt.Die Bilanz des Startgeld-Kreditprogramms, das genauauf weibliche Existenzgründungen zugeschnitten wurde,sieht so aus, dass 37 Prozent derjenigen, die Kredite überdas Startgeld in Anspruch nehmen, Frauen sind. Das sind10 Prozent mehr als der Anteil selbstständiger Frauen indieser Republik derzeit ausmacht. Die Zahl der Frauen,die in diesem Land demnächst einen Betrieb leiten wer-den, wird also steigen.In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an einefranzösische Studie aus dem Jahr 1996, in der 22 000 Un-ternehmen untersucht wurden. Das Ergebnis: Die vonFrauen geleiteten Unternehmen erwirtschaften über-durchschnittliche Erträge und sind doppelt so rentabel wiedie Betriebe, die von Männern geleitet werden.
Es lohnt sich also, in Frauenbeschäftigung zu investie-ren und diese zu fördern. Vieles von dem, was in den heutevorliegenden Anträgen steht, ist Inhalt der Politik derBundesregierung. Wir werden in diesem Sinne auch wei-termachen.Danke schön.
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht nunmehr die Kollegin Dorothea Störr-
Ritter.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn das Eu-ropäische Parlament feststellt, dass die Arbeitslosigkeitder Frauen in der Mehrheit der Mitgliedstaaten höher istals die der Männer, dann meine ich, hat das damit zu tun,dass wir zum einen zu wenig Arbeitsplätze haben und dasszum anderen die Chancen von Frauen, am Erwerbslebenteilzunehmen, wesentlich geringer sind. Natürlich reizt esmich, Ausführungen zur Wirtschaftspolitik zu machen,die für die Arbeitsplätze ja verantwortlich ist; ich möchtemich hier aber auf die Frage der Chancengleichheit derFrauen konzentrieren.Es ist sicher sinnvoll, die Frage zu stellen, wie dieFrauen selbst ihre Chancengleichheit sehen. Die Befra-gung von 1 113 Frauen und 1 000 Männern durch das In-stitut für Demoskopie in Allensbach im Auftrag derBundesregierung, die durch die Frau Ministerin hier lei-der nicht mehr vertreten ist, brachte Folgendes zutage:Die Frauen in Deutschland sind mit ihrer Gleichberechti-gung so zufrieden wie vor 25 Jahren. Daraus können wir,so denke ich, natürlich nicht den Schluss ziehen, dass dieFrauen damals zufrieden waren.
Die Studie ergab aber auch, dass Männer viele Themendeutlich anders beurteilen als Frauen: 45 Prozent derMänner und nur 16 Prozent der Frauen denken, dieGleichberechtigung sei weitgehend verwirklicht. Aller-dings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass 20 Prozentder Befragten auf die ihnen gestellten Fragen keine Ant-wort geben wollten oder konnten. Auch das sollte uns zudenken geben.Im Ergebnis zeigten die Antworten, dass die Fragenach Erziehungsurlaub für Männer bei den Frauen keinegroße Rolle spielt. Auch die Einrichtung von Teilzeitar-beitsplätzen hat für sie nicht das Gewicht, wie wir manch-mal vielleicht meinen. Erziehungsgeld und Erziehungsur-laub oder – besser gesagt – Erziehungszeit sind zwarMaßnahmen, um etwas in den Griff zu bekommen, kön-nen aber die Ursachen nicht beseitigen. So wird das vonFrauen gesehen.Ganz oben auf der Wunschliste der Frauen steht, be-ruflich weiterzukommen, Karriere zu machen und so vielzu verdienen wie männliche Kollegen.
Ebenso wichtig ist eine gute Altersversorgung trotz mehr-jähriger Babypause.Neun von zehn Frauen sehen laut dieser Studie dieHerstellung von Chancengleichheit im Beruf und die da-mit verbundene finanzielle Unabhängigkeit als Aufgabeder Politik für Frauen. Deshalb müssen wir uns natürlichfragen: Wie ist es möglich, für Frauen eine Chancen-gleichheit am Arbeitsmarkt zu erreichen? Wenn man denVorstellungen der Familienministerin folgt – die Staatsse-kretärin hat das eben angesprochen –, dann soll dies durchZwang geschehen. Hier unterscheiden wir uns, wie ich
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meine, sehr deutlich im Ansatz. Im Folgenden möchte ichdarauf eingehen.
Weil man die Unternehmen offensichtlich für beson-ders naiv hält, spricht man nicht von Zwang, sondern ver-wendet – da lässt der Kindergarten grüßen – einenpädagogischen Trick: In der ersten Stufe sollen die Unter-nehmen selbst ihren Weg zur Chancengleichheit definie-ren, Vorhaben umsetzen und Vereinbarungen treffen. DieMindeststandards werden natürlich vorgegeben, wiezum Beispiel Erhöhung des Frauenanteils, Lohngleich-heit und Maßnahmen gegen sexuelle Diskriminierung.Den Unternehmen wird eine weitestgehende Gestaltungs-freiheit vorgegaukelt.
Sofern sich die Unternehmen diesem Auftrag verwei-gern, kommen gesetzliche Regelungen zum Zuge,
die nach einer gewissen Frist von zwei bis drei Jahrenübernommen werden müssen; das wurde uns schon be-stätigt. Andernfalls – man höre – drohen den Unterneh-men Sanktionen. Im Übrigen sollen Betriebe ohne erfüllteMindeststandards zur Chancengleichheit künftig von öf-fentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Mit diesenVorstellungen soll die Wirtschaft einmal mehr Daumen-schrauben erhalten, die Bürokratie soll aufgebaut werden.
Diese Maßnahmen sollen auferlegt werden, obwohl dieMinisterin als Ergebnis ihrer Dialogforen, die durchge-führt wurden, selbst einräumt, dass sich bereits viele Be-triebe Chancengleichheit und Frauenförderung auf ihreFahnen geschrieben haben.
Die Auswertungen haben ergeben, dass beispielsweiseDaimler-Chrysler den Frauenanteil bei Führungsnach-wuchs seit 1995 um 50 Prozent gesteigert hat. Die Luft-hansa hat ihren Frauenanteil im Management in acht Jah-ren auf 10 Prozent vervierfacht. Bei der Deutschen Postsind 48 Prozent der Beschäftigten Frauen.Wir können sagen: Dieses Glas ist halb voll. Wir kön-nen aber auch sagen: Dieses Glas ist halb leer. Sie gehennur davon aus, dass es halb leer sei. Ich denke, wir solltenauch einmal den halb vollen Teil betrachten.
Bei der Commerzbank liegt der Anteil der Mitarbei-terinnen bei 50 Prozent. 20 Prozent der Frauen arbeiten imaußertarifvertraglichen Bereich. Der Anteil der Frauen imTarifbereich mit Handlungsvollmacht – auch das istetwas – hat sich von 18 Prozent im Jahre 1980 auf knapp55 Prozent im Jahr 2000 gesteigert.Aber das Fazit des Familienministeriums: Die Ergeb-nisse sind teilweise mühsam und langwierig und es be-steht die Gefahr – man höre! – dass sie vom Erfolg desUnternehmens am Markt abhängig gemacht werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungs-koalition, ich frage Sie: Was glauben Sie, wie viele Frau-enarbeitsplätze ein Unternehmen bieten kann, das, weil esam Markt nicht erfolgreich sein kann, von der Bildflächeverschwunden ist?Wenn sich nach 20 Jahren Förderungspraktiken in derWirtschaft bundesweit nur knapp 100 Unternehmen nach-weislich um Prädikate für Chancengleichheit bemühen,dann – so folgert das Familienministerium – kann ange-sichts der anderen zwei Millionen Betriebe nicht längerauf Freiwilligkeit gesetzt werden. Diese Schlussfolge-rung, meine ich, ist sehr abenteuerlich. Weil nur 100 Un-ternehmen Geld und Zeit für eine Auszeichnung investie-ren können, sind die restlichen 2,5 MillionenUnternehmen familien- und frauenfeindlich?Diese Anmaßung muss den vielen Selbstständigen imMittelstand, die seit Jahren in ihren Betrieben Frauen undMütter fördern und unterstützen, die Sprache verschla-gen. Solche Äußerungen zeugen von Nichtwissen, vonIgnoranz und von einer Einstellung, die Unternehmerin-nen und Unternehmer immer noch als ausschließlichgeldgierige Kapitalisten sieht. Der Sozialismus lässtgrüßen.
In der Bundesrepublik arbeiten mehr als die Hälftealler sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in meistinhabergeführten Betrieben mit ungefähr 100 Mitarbei-tern. Diese Betriebe mit weiteren Belastungen und staat-lichen Eingriffen zu überziehen hieße, dem Mittelstandeine weitere Zwangsmaßnahme aufzubürden. Kleine undmittlere Betriebe bis zu zehn Mitarbeitern bezahlen be-reits jetzt im Jahr bis zu 60 000 DM für vom Staat aufge-zwungene Verwaltungsaufgaben. Mittelständische Be-triebe sind bereits heute in erster Linie Buchhalter desStaates, Statistiker und Belegsammler, die einen Großteilihrer Zeit damit verbringen müssen, die Bürokratie desStaates zu befriedigen.Ein Gesetzeschaos, ein durch Ökosteuer und Steuerre-form, durch Rot-Grün nochmals aufgeblähtes Steuer-chaos, ein nicht geregeltes Sozialchaos sowie ein Ver-ordnungschaos nehmen den Betrieben jeglicheHandlungsfreiheit. Diese Betriebe nun auch noch mitZwangsmaßnahmen zur Frauenförderung zu überziehenhieße, diejenigen noch mehr einzuschränken, die nochimmer gewillt sind, an Aufbau und Umsetzung einer Kul-tur der Selbstständigkeit in unserem Land mitzuwirken.Kleine und mittlere Unternehmen haben entscheidendeVorteile, flexible Lösungen hinsichtlich der Gleichstel-lung von Mann und Frau umzusetzen. Sie haben per seflache Hierarchien, besitzen überschaubare Ablaufstruk-turen und verfügen über kurze, formelle Kommunikati-ons- und Entscheidungswege. Im Übrigen haben inder Mehrzahl dieser Betriebe mitarbeitende Ehefrauen
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entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung desPersonals. Ich weiß, dass diese Ehefrauen aus ihrer eige-nen Erfahrung sehr gewillt sind, Frauen in ihren Betriebenunterzubringen und zu stärken.
Bereits jedes vierte Unternehmen in Deutschland wirdvon einer Frau geführt. Es ist eine Tatsache, dass dieMehrzahl der selbstständig tätigen Unternehmerinnen mitFrauen zusammenarbeiten und Frauenbeschäftigung denbetrieblichen Umständen entsprechend zu fördern gewilltsind. Aber sie möchten und müssen dies frei entscheidenkönnen.Hier hilft nicht Zwang, sondern Beratung. Entspre-chende Beratungsstellen können wichtige Informations-und Überzeugungsarbeit leisten. Allerdings müssen dieseBeratungen mehr als Fachwissen für Frauenbelange und-interessen bieten. Berater oder Beraterinnen müssen dieBelange der Betriebe kennen und wissen, wie Betriebe er-folgreich auf dynamische Märkte reagieren können. Be-ratung muss Hand in Hand mit den Betrieben erfolgen unddarf nicht bevormundend sein. Arroganz ist fehl am Platz.Völlig daneben sind Konzepte vom grünen Tisch und dasAnbieten theoretisch besserwissender Patentlösungendurch die realitätsferne Politik. Zielführend ist nur die Ar-beit vor Ort mit einem Eingehen auf die spezifischen Be-lange der Betriebe.Um Chancengleichheit zu verwirklichen, brauchenMädchen und Frauen einen ganzheitlichen Beratungsan-satz; denn Fragen der Partnerschaft oder Familiengrün-dung nehmen bei der Lebensplanung von Frauen zumGlück immer noch viel Raum ein. Diesen Frauen ist mit-nichten geholfen, wenn sie durch Quoten einen Arbeits-platz erhalten. Verschiedene Lebensläufe brauchen in-dividuelle Lösungen. Frauen müssen ihrem Lebenswegentsprechend in den Arbeitsmarkt – es ist völlig egal, aufwelcher Ebene der Hierarchie – eingegliedert werden.Quotenarbeitsplätze lösen die Probleme der Frauen ganzsicher nicht.Weil Unternehmerinnen und Unternehmer nicht per seschlecht sind und eine neue Generation von Selbstständi-gen heranwächst, besteht in vielen Unternehmen auf derLeitungsebene sehr wohl der Wunsch, Fähigkeiten undQualifikationen von Frauen verstärkt zu nutzen. Deshalbmüssen Unternehmen bei der Gestaltung von Weiterbil-dungskonzepten sowie bei der Konzeption und Durch-führung von Qualifikationsmaßnahmen unterstützt wer-den und sie müssen Arbeitskreise mit Personalver-antwortlichen erhalten.
Deshalb müssen Frauen angeregt werden, eigeneIdeen umzusetzen und beruflich unabhängig zu sein. Siemüssen unterstützt werden, eigene Unternehmen zu grün-den und erfolgreich zu führen, um auch Frauen einzustel-len. Aber das, meine sehr verehrten Damen und Herrender Regierungskoalition, wird nur gelingen, wenn dieseFrauen spüren, dass man ihnen als UnternehmerinnenHandlungsfreiheiten lässt,
wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, dass es etwas Res-pektables ist, ein Unternehmen zu führen, dass es etwasAnständiges ist, Gewinne zu machen, und dass Selbst-ständige in unserem Land mit ihren Leistungen anerkannt
und nicht ausschließlich von der Arroganz der politischenMacht gemolken und immer mehr in Zwangsjacken ge-steckt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mit den Armen in einer Zwangsjacke kann weder ein Un-
ternehmer noch eine Unternehmerin Arbeitsverträge un-
terschreiben oder am Ende des Monats die Gehälter für
die Arbeitnehmerinnen ausbezahlen.
Danke.
Ich gebe das Wort derKollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
legen! Frau Störr-Ritter, darin, dass eine gute Wirtschafts-politik Voraussetzung für eine gute Arbeitsmarktpolitikist, da gebe ich Ihnen Recht. Aber dann hört es mit denGemeinsamkeiten auch schon auf. Ich habe mich dieganze Zeit gefragt, mit wem Sie eigentlich gesprochen ha-ben. Glauben Sie, bei der rot-grünen Regierung sei derSozialismus ausgebrochen? Die Vorwürfe, die Sie hier er-hoben haben, treffen uns in keiner Weise. Wenn Sie dieWirtschaftsunternehmen fragen, dann hören Sie, dass wirauf einem guten Weg sind.
Ich möchte einmal mit einem Zitat der Präsidentin desBundesverfassungsgerichtes, Jutta Limbach, beginnen.Sie sagte kürzlich bei der Eröffnung der EuropäischenFührungsakademie für Frauen in Berlin:In Zeiten dynamischer Veränderung ist die Visionä-rin Realistin.Sie zeichnete ein sehr hoffnungsfrohes Bild für das21. Jahrhundert. Danach werden – nach ihren Worten – inParlamenten zukünftig gleich viel Frauen wie Männer sit-zen; heute haben die Frauen hier ja bereits eine Über-macht, sehe ich gerade. – Das Lachen und der Ärger vonFrauen werden uns aus allen Sitzungszimmern und Äm-tern entgegenschallen. An den Schultoren werden ge-nauso viele Väter wie Mütter auf ihre Sprösslinge warten.Frauen und Männer werden also in etwa das Gleiche tun.
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In ihrer Art, sich zu verhalten, werden sie aber auchweiterhin Unterschiede aufweisen. Vielleicht werden wirnach wie vor weniger Frauen auf Fußballplätzen sehen;vielleicht wird die Bundeswehr nach wie vor stärker vonMännern dominiert sein;
vielleicht werden auch vorzugsweise Frauen kleine Kin-der betreuen – dieses aber aufgrund von freien Entschei-dungen und nicht wie bisher aufgrund von Rollenzuwei-sungen oder infolge sozialer und wirtschaftlicherZwänge.
Dass Frauen selbstbestimmt über ihr Leben entschei-den können, ist Ziel rot-grüner Gesellschaftspolitik undnicht nur rot-grüner Frauenpolitik. Dies setzt aber eine ge-rechte Verteilung der Erwerbs- und Familienarbeit zwi-schen den Geschlechtern, eine Chancengleichheit imErwerbsleben und den Abbau der Arbeitslosigkeit vo-raus.Kommen wir einmal zur Standortfrage: Wo also ist derStandort der Erwerbsarbeit der Frauen von heute? Was isterreicht? Wo bestehen weiterhin Nachteile? Ich möchtezunächst auf die positiven Entwicklungen eingehen:Frauen haben in der Bildung aufgeholt, haben die Männerzum Teil überholt. Erwerbstätigkeit ist für Frauen eineSelbstverständlichkeit geworden und Unternehmen be-ginnen, das Potenzial von Frauen gerade in Zeiten tiefgreifender Veränderungen – das Stichwort „Globalisie-rung“ ist gefallen – zu schätzen. Frau Störr-Ritter, es sindeinige, aber es sind nur sehr wenige Unternehmen, die denAuftrag des Art. 3 des Grundgesetzes ernst nehmen undihn auch umsetzen.
Für Frauen bestehen nach wie vor enorme Wettbe-werbsnachteile. Es ist für sie schwerer, einen Ausbil-dungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Frauen beschränkensich auch deshalb auf nur wenige, kaum zukunftsträchtigeBerufe. Sie sind häufiger und länger arbeitslos und öfterunter ihrer Qualifikation beschäftigt als Männer. Dass sieweniger verdienen, ist hier im Hause schon mehrfach er-wähnt worden. Aber auch der Wiedereinstieg in den Be-ruf im Anschluss an die Familienphase ist eines dergroßen Probleme.Lassen Sie mich nun die Arbeitsmarktsituation derFrauen schildern: Nach zwei Jahren rot-grüner Regierungschlägt sich der wirtschaftliche Aufschwung in Deutsch-land allmählich auch auf den Arbeitsmarkt nieder. DieZunahme der Beschäftigung insgesamt geht einher zugroßen Teilen mit einer Zunahme der Frauenerwerbstätig-keit.Auch in Zukunft wird der Strukturwandel hin zu denDienstleistungen die Beschäftigung von Frauen begünsti-gen. Gewinnerinnen der Beschäftigungsentwicklung sinddie hoch qualifizierten Frauen. Frauen ohne Qualifikationoder mit geringer Qualifikation müssen hingegen deutlichgeringere Chancen, eine Beschäftigung zu finden, in Kaufnehmen. Die Zahl der für sie geeigneten Arbeitsplätzeging in der letzten Zeit um die Hälfte zurück und die Ar-beitslosenquote für diese Frauen verdoppelte sich aufüber 21 Prozent. Hier müssen wir handeln und das müs-sen wir ändern.Jedoch sieht es auch bei den qualifizierten Frauennicht rosig aus. Trotz des Beschäftigungsanstiegs findensie nicht in ausreichendem Maße Arbeitsplätze. Viele vonihnen müssen sich noch immer, vor allem beim Berufs-einstieg, mit einem Job begnügen, der nicht ihrer Qualifi-kation entspricht. Dass Hochschulabsolventinnen an denUniversitäten nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern alsSekretärinnen arbeiten, ist leider keine Seltenheit.Beschäftigungszuwächse für Frauen haben vor allemdurch mehr Teilzeitbeschäftigung stattgefunden. Nun sindendlich auch die Männer gefragt, Arbeit zu teilen. Ichfinde, es ist ein Hohn, dass im letzten Jahr die Anzahl derÜberstunden erneut zugenommen hat und jetzt bei nahezu1,8 Millionen liegt, während noch immer fast 4 MillionenMenschen erwerbslos gemeldet sind, von der „stillen Re-serve der Frauen“ ganz zu schweigen.Mit dem neuen Gesetz für mehr Teilzeitarbeit, das Ar-beitsminister Riester kürzlich vorstellte, können Frauenund Männer grundsätzlich ihre Wünsche auf Arbeitszeit-verkürzung durchsetzen, wenn betriebliche Gründe demnicht entgegenstehen, Frau Störr-Ritter. Wir nehmen alsoauf die Betriebe hier Rücksicht.Zukünftig dürfen Teilzeitbeschäftigte gegenüber Voll-zeitbeschäftigten nicht mehr schlechter gestellt werden.Allerdings soll das – für mich bedauerlicherweise – nurfür Beschäftigte gelten, die in Betrieben mit mehr als15 Beschäftigten arbeiten. Unser Nachbarland Nieder-lande hat es mit der Umsetzung der europäischen Richtli-nie zur Teilzeitbeschäftigung für alle Arbeitnehmer zu ei-nem wahren Jobwunder gebracht. Wenn auch bei unsmehr Männer von der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit Ge-brauch machen, kommen wir der wirklichen Chancen-gleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarktentscheidend näher.
Aber auch der Dienstleistungssektor bietet Frauengroße Chancen. Schon heute arbeiten viele Frauen indiesem Bereich und der Trend zur Dienstleistungsgesell-schaft kommt ihnen zugute. Gerade die neuen Informati-onstechnologien treiben den Prozess der Dienstleistungs-gesellschaft voran. Wenn wir also Frauenerwerbslosigkeitabbauen und das Spektrum für die Berufswahl von Frauenerweitern wollen, müssen wir Frauen im IT-Bereichqualifizieren. Mit der Initiative „D 21 – Aufbruch in dasInformationszeitalter“ – die Frau Staatssekretärin hat da-rauf hingewiesen – hat die Bundesregierung hier bereitsreagiert.Existenzgründungen sind bei dynamischen Verände-rungen auf dem Arbeitsmarkt ein wichtiges weiteresStichwort. In einer flexibilisierten Arbeitswelt gewinnt
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Irmingard Schewe-Gerigk11584
Selbstständigkeit zunehmend an Bedeutung. Der Anteilvon Frauen bei den Existenzgründungen ist immer nochsehr gering; er liegt bei gut einem Viertel aller Selbststän-digen. Das resultiert unter anderem daraus, dass ihnendeutlich weniger Startkapital für die Umsetzung ihrer Un-ternehmensideen zur Verfügung steht und die Bankennoch immer sehr zurückhaltend auf die meist niedrigerenKreditwünsche reagieren. Sie sprechen dann von „pea-nuts“ und meinen, solche Dinge sollte man besser lassen,weil sie zu viel Aufwand für die Bank bedeuten. Auch da-rum begrüße ich ausdrücklich das von der Bundesregie-rung aufgelegte Darlehensprogramm Startgeld, das sichbesonders für Frauen und kleine Gründungen eignet.Voraussetzung für eine Existenzgründung ist Quali-fikation und Spezialisierung. Daran hapert es bei Frauenüberhaupt nicht, denn wir hatten noch nie eine so gut aus-gebildete Frauengeneration wie jetzt. Dieser positiveTrend setzt sich aber leider nicht im Berufsleben fort.Die berühmte gläserne Decke setzt hier an. Frauenwerden im Berufsleben immer noch abqualifiziert undsind im oberen Management so gut wie gar nicht anzu-treffen. Ein Vergleich mit unseren europäischen Nachbar-staaten zeigt: Deutschland bildet mit Italien das euro-päische Schlusslicht bei den Führungspositionen; von100 Führungskräften sind gerade einmal vier Frauen. Da-rum sollten wir die Erfolgsstory der USA als Vorbild neh-men, da dort bereits die Hälfte der Stellen im Managementmit Frauen besetzt ist. Wenn vorhin gesagt wurde, dieUSA tauge nicht als Vorbild, muss ich entgegnen: Die po-sitiven Dinge wollen wir natürlich gerne übernehmen,Frau Störr-Ritter, die negativen lassen wir aber dort.
Wir müssen aber auch die bestehenden Instrumenteausbauen und neue Gesetze verabschieden. Zu den In-strumenten: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist entschei-dend für die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt,ob als Berufsrückkehrerinnen, als Teilnehmerinnen an ei-ner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder einer Weiterbil-dungsmaßnahme. Die 1996 von der alten Bundesregie-rung eingeleitete Reform des Arbeitsförderungsgesetzes,die eine Verschlechterung bedeutet hat, hat zu einer mas-siven Diskriminierung der Frauen geführt. Daher ist eineechte Reform des Arbeitsförderungsrechts ein zentra-les frauenpolitisches Vorhaben der rot-grünen Bundesre-gierung.Durch die Neuregelung muss erreicht werden, dassFrauen tatsächlich gemäß ihrem Anteil den Arbeitslosenan allen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik be-teiligt werden, auch dann, wenn sie aufgrund des Ein-kommens ihres Ehemannes keine Leistungen beziehen.Dies betrifft immer noch jede zweite arbeitslose Frau. Esist auch nicht einzusehen, warum Frauen erst langzeitar-beitslos werden müssen, um an Eingliederungsmaßnah-men beteiligt zu werden. Die alte Bundesregierung hattemit der Abschaffung des Berufs-, Einkommens- und Qua-lifikationsschutzes Frauen auf die Qualifikationsrutschenach unten gesetzt. Durch ihr sowieso schon niedrigeresLohnniveau sind sie häufiger in die Sozialhilfeabhängig-keit geraten. Diesen abgeschafften Schutz werden wirwieder herstellen.
Außerdem müssen Erziehungszeiten als Beitragszeitenanerkannt werden. Dies gilt generell für Zeiten, in denenKinder erzogen bzw. Angehörige gepflegt werden. Nur sosteht Berufsrückkehrerinnen der Leistungsbezug oder dieMöglichkeit zur Teilnahme an einer Maßnahme der akti-ven Arbeitsmarktpolitik im Anschluss an Erziehungs-bzw. Pflegearbeit überhaupt offen. Wenn der Wehrdienstfür den Erwerb einer Anwartschaft ausreicht, steht dochaußer Frage, dass auch die Erziehungsarbeit entsprechendanerkannt werden muss. Für mich ist das eine Frage derGerechtigkeit.
Der gleichzeitige Bezug von Erziehungsgeld und Ar-beitslosengeld war bislang dank der alten Bundesregie-rung nicht möglich. Mit dem neuen Erziehungsgeldge-setz haben wir diese Schieflage wieder zurechtgerückt.
Zukünftig haben auch Personen, die aufgrund einer frühe-ren Beschäftigung von bis zu 30 Wochenstunden Arbeits-losengeld erhalten, Anspruch auf Erziehungsgeld.Ich komme nun zu den Regelungen für diejenigen, diebereits eine Beschäftigung haben. Bis jetzt können wir mitden Ergebnissen und den Bemühungen der Betriebe fürdie Gleichstellung von Frauen nicht zufrieden sein. Nurwenige Unternehmen in Deutschland haben bis heute ver-standen, dass Frauenförderung ein wichtiger Baustein ei-nes erfolgreichen Personalmanagements ist. Um diesenpositiven Prozess, den einige wenige Unternehmen be-reits begonnen haben, nicht ins Leere laufen zu lassen,brauchen wir ein effektives Gleichberechtigungsgesetz.
Dieses muss der Unterschiedlichkeit der Betriebe in Artund Größe natürlich Rechnung tragen.Kreativität und Fantasie der Unternehmen lassen sichaber auch dadurch anregen, dass diejenigen Betriebe öf-fentliche Aufträge erhalten, die auf Frauenförderung set-zen. Für die anderen bedeutet der Verzicht auf Frauenför-derung, einen Wettbewerbsnachteil in Kauf nehmen zumüssen. Das ist doch ein echtes Anreizsystem.Neben einem effektiven gesetzlichen Diskriminie-rungsschutz – das betrifft die unmittelbare wie diemittelbare Diskriminierung – brauchen wir aber auch einVerbandsklagerecht für Frauenverbände und Gewerk-schaften, wie es im Umweltbereich schon Gesetz ist.
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Irmingard Schewe-Gerigk11585
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – das ist eineUraltforderung, die man gar nicht mehr aussprechen mag.Sie ist aber bis heute nicht umgesetzt.
Es gibt eine Reihe von Berufen, in denen überwiegendFrauen beschäftigt sind, deren Bezahlung jedoch nicht ge-schlechtergerecht ist. Deshalb müssen die Tarifpartner dieVorgaben des Europäischen Gerichtshofes für eine glei-che Entlohnung beherzigen.
Ein weiteres Mittel zur Umsetzung der Gleichstel-lung in den Betrieben bietet das Betriebsverfassungs-gesetz. Konkretisierungen sind hier dringend erforder-lich. Quotierte Wahllisten könnten eine gleichberechtigteBesetzung der Betriebsräte ermöglichen. Eine Mitbe-stimmungspflicht des Betriebsrates in Sachen Chancen-gleichheit und die Verpflichtung der Arbeitgeber zurZusammenarbeit in Sachen Gleichstellung könnten nichtnur die Rechte der Betriebsräte, sondern auch dieRechte der Frauen stärken.
Dies sind nur einige Anmerkungen zu den gesetzgeberi-schen Maßnahmen, die noch vor uns liegen.Der Handlungsbedarf ist noch immer groß. Zu langegalt das ideologische Bild von Frauen, die für Haushaltund Kinder verantwortlich zu sein hatten und allenfalls alsZuverdienerinnen fungierten. Darum freue ich mich – ichsehe, Herr Dehnel ist da –, dass wir gestern einen Erkennt-niszugewinn bei der CDU zur Kenntnis nehmen konnten.Denn inzwischen hat auch die CDU erkannt, dass eineFörderung der Erwerbsarbeit das Beste für die Fami-lien ist. Das haben Sie hervorragend ausgedrückt, da zuden Familien auch die Frauen und die Mütter gehören.Bisher hatten Sie die Ministerin Bergmann immer dafürgescholten, dass sie sich für verbesserte Erwerbsmög-lichkeiten von Frauen mit Kindern eingesetzt hat. Ich binfroh, dass Sie endlich in eine andere Richtung gehen.Herzlichen Glückwunsch dazu!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit,dass Wirtschaft und Gesellschaft die Mehrheit der Bevöl-kerung nicht länger benachteiligen. Die in dem Antragvorgeschlagenen Maßnahmen werden dazu einen großenBeitrag leisten. Da wir uns inhaltlich offensichtlich in vie-len Punkten einig sind, bitte ich Sie, diesem Antrag zuzu-stimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Liebe Kollegen und Kolleginnen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausgangspunktder heutigen Beratung ist die Entschließung des Euro-päischen Parlamentes zu den besonderen Auswirkungender Frauenarbeitslosigkeit. Das Europäische Parlamentstellt fest, dass „alle jungen Frauen nach Abschluss ihrerAusbildung ... in das Erwerbsleben“ wollen. Immer mehrFrauen sehen die Notwendigkeit einer dauerhaften Be-rufstätigkeit.Wir haben gerade von unseren Kolleginnen gehört,dass trotz der qualifizierten Ausbildung die Arbeitslosen-quote bei Frauen in Europa höher als die der Männer unddie Bezahlung 20 bis 30 Prozent niedriger ist. Dieses Bildzeigt sich auch in der Bundesrepublik.In der Entschließung des Europäischen Parlamenteswerden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Teilzeit-beschäftigung auf Männer ebenso wie auf Frauenauszudehnen, den Mangel an guten und preiswertenKinderbetreuungseinrichtungen zu beheben und der For-derung nach einem attraktiven Elternurlaub für Väter undMütter nachzukommen. Diese Ziele unterstützen wir alsF.D.P. natürlich.
Ich will auch gleich sagen: Wir sind in diesem Parla-ment nicht untätig gewesen. Wir haben unsere Vorstellun-gen zur Familienförderung, zur Erziehungszeit und zumErziehungsgeld vorgebracht. Unser Konzept ist anders alsdas von Rot-Grün. Unser Konzept gibt Arbeitnehmerin-nen und Arbeitgeberinnen einen breiten Freiraum, die Be-rufstätigkeit während einer Erziehungsphase individuellzu bestimmen. Das vermissen wir in Ihrem Konzept.Die Forderung des Europäischen Parlaments nach fle-xibleren Kinderbetreuungsmöglichkeiten unterstützenwir alle, natürlich auch die Männer. Aber der schwarzePeter wird hier immer zwischen Bund, Ländern und Kom-munen hin und her geschoben. Die Dummen sind die Fa-milien, die bei beidseitiger Berufstätigkeit keinen ent-sprechenden Kindergartenplatz bekommen. Wir müssensehen, dass die Bevölkerung mit uns auf allen Ebenen un-zufrieden ist, und sie hat Recht. Die Bundesregierungsollte das, was sie versprochen hat, auch tun. Sie hat näm-lich zu Anfang der Legislaturperiode versprochen, dieLänder bei der Schaffung zusätzlicher Kinderbetreuungs-möglichkeiten zu unterstützen.Liebe Frau Staatssekretärin Niehuis, davon habe ich inden letzten zwei Jahren nichts gehört.
Sie haben im Ausschuss gesagt, Sie würden mit den Län-dern sprechen. Das ist schon ein Tick weniger, als denLändern Geld zu geben. Ich denke, hier sollte wirklich et-was getan werden, und Sie sollten Ihre Versprechungen,die Sie zu Anfang der Legislaturperiode in Ihren Pro-grammen stehen hatten, endlich auch einhalten. So geht esnicht: Erst die Wähler fangen und nachher vergessen, dasGeld zu geben. Das wollen wir nicht machen.
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Irmingard Schewe-Gerigk11586
Heute geht es in dieser Diskussion um die wichtigenThemen Frauenarbeitslosigkeit und Stärkung der Frauen-erwerbstätigkeit. Meine lieben Kollegen und Kolleginnenvon SPD und Grünen, ich arbeite wirklich gerne mit Ih-nen zusammen und viele Dinge machen wir ja auch ge-meinsam. Aber diese Regierungskoalition hat Kon-zepte, die nach Überzeugung der F.D.P. und auch nachmeiner Überzeugung nicht zum Erfolg führen werden.
Ich werde jetzt Beispiele nennen, über die wir unsgerne noch unterhalten können. Die rot-grüne Regierungsetzt einseitig auf Gesetze mit engen Vorgaben undZwang. In den zwei Jahren rot-grüner Herrschaft sind Ge-setze verabschiedet worden und werden Gesetze ange-dacht, die eindeutig negative Wirkung auf die Erwerbs-tätigkeit von Frauen und Männern haben werden. Ichzähle sie auf:Erstens das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit.Frau Schewe-Gerigk, Ziel des Gesetzes war Beschäfti-gungsförderung. Was ist im Ergebnis daraus geworden? –Viele Frauen haben ihre kleinen Existenzen aufgegeben.Ich kenne Fälle aus meinem Wahlkreis. Damit müssen Siesich auch auseinander setzen.Dann will ich, zweitens, zu diesem viel gescholtenen –fangen Sie ruhig jetzt schon an zu lachen – 630-Mark-Gesetz kommen.
Die Frauen, die vor der Gesetzesänderung neben ihremHauptjob zusätzlich gearbeitet haben, haben aufgrund derneuen Regelung ihren Job aufgegeben,
weil einfach die Sozialabgaben und die Steuern zu hochsind. Ich sage: Wir sollten auch für die Frauen da sein, dienoch neben ihrem Job mal zwei Stunden in der Wocheoder zwei Stunden am Tag arbeiten wollen.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage? – Bitte sehr, Frau Kollegin.
Darf ich meine Frage später stellen?
Ich werde zunächst die anderen
Punkte aufführen. Dann kannst du vielleicht auch dazu
noch etwas sagen.
Ich war bei zweitens, beim 630-Mark-Gesetz. Jetzt
komme ich zu drittens, dem neu eingeführten Rechts-
anspruch auf Teilzeitarbeit im Betrieb während der Er-
ziehungszeit. Meine Damen und Herren, Sie belasten
zukünftig die Arbeitgeber, die viele Frauen eingestellt ha-
ben, neben der betrieblichen Belastung durch die Schwan-
gerschaft auch noch mit diesem Rechtsanspruch. Da stellt
sich wirklich die Frage, ob das Frauenbeschäftigungsför-
derung ist. Ich habe da meine Zweifel. Da gehen unsere
parteipolitischen Meinungen wirklich stark auseinander.
Ich meine, dass das nicht der Fall ist. Ich meine, dass ge-
rade der Betrieb, der viele Frauen einstellt, nicht Belas-
tungen, sondern Entlastungen haben soll. Sie aber belas-
ten die Betriebe und entlasten sie nicht.
Viertens nenne ich die Neugestaltung des Kündigungs-
schutzes. Da ist es auch so. Der Schwellenwert für die An-
wendung der besseren Kündigungsschutzregelungen lag
bei zehn Mitarbeitern. Jetzt haben Sie ihn auf fünf zurück-
gefahren. Ich frage Sie: Glauben Sie, dass der Betrieb die
sechste oder siebte Mitarbeiterin einstellt, wenn er da-
durch den Schwellenwert überschreitet und höheren
Kündigungsschutz in Kauf nehmen muss? Ich sage Ihnen:
Diese Dinge können Sie zwar in politischen Veranstaltun-
gen sehr schön erklären, aber die Folgewirkungen Ihrer
Gesetze werden bei Ihnen nicht eingeplant.
Es wurde hier auch schon gesagt, dass das Betriebs-
verfassungsgesetz bald geändert werden soll und auch
kleine Betriebe damit belastet werden sollen. Das ist auch
so etwas.
Wollen Sie jetzt die
Zwischenfrage zulassen?
Lass mich doch bitte noch Gleich-
berechtigungsgesetz nennen. Das soll wie folgt ausse-
hen: In der ersten Stufe erhalten die Betriebe einen Kata-
log mit Frauenfördermaßnahmen, aus dem sie Maß-
nahmen übernehmen müssen. Das nennt die rot-grüne Re-
gierung große Gestaltungsfreiheit, man höre und staune.
Wenn sie das nicht machen, dann zündet die zweite Stufe,
und die heißt: Zwang und Sanktionen.
Meine Damen und Herren, wo werden Arbeitsplätze
geschaffen? – In der Wirtschaft. Wo sollen Frauen mehr
Chancen auf Einstellung haben?
– In der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Diese Auflagen von
Rot-Grün werden dazu führen, dass in Deutschland keine
neuen Arbeitsplätze, jedenfalls nicht für Frauen, ge-
schaffen werden.
Jetzt bitte deine Frage.
Rücksicht genommen wurde.
Frau Kollegin Lenke,
an sich erteile ich das Wort; das tue ich aber hiermit. Bitte
sehr.
Entschuldigung, Frau Präsidentin.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Ina Lenke11587
dass Frauen, aber auch Männer, die in einem BetriebÜberstunden machen, dafür Steuern und Versicherungzahlen sollen, dass sie aber, wenn sie in einem anderenBetrieb einen so genannten 630-Mark-Job ausüben, die-ses nicht machen sollten? Entspricht das Ihrem Gefühlvon Gerechtigkeit?
Also, mein Gefühl für Gerechtig-keit ist auch befriedigt, wenn ein Zweitjob steuerlich be-günstigt wird. Vor der Reform der 630-Mark-Arbeits-verhältnisse hat ja der Arbeitgeber die gesamten Steuerngezahlt, waren also die aus diesen Arbeitsverhältnissen er-zielten Einnahmen steuerfrei. Die darauf entrichtetenSteuern sind damals den Frauen und Männern zugute ge-kommen.Ich bin der Meinung, dass das System, das wir hatten– Hauptjobs sind sozialversicherungspflichtig und Ein-nahmen bis 630 DM bleiben für die Arbeitnehmer steuer-frei –, denjenigen, die zu wenig in ihrem Hauptjob ver-dienten, eine gute Möglichkeit geboten hat, zusätzlichesGeld zu verdienen, das nicht mit hohen Abgaben undSteuern belastet wurde.
Ich sage Ihnen eines: Wer für 630 DM arbeitet, der hateinen Stundenlohn von 15 DM bis 18 DM. Ob dessen Ein-kommen in Steuerklasse V oder VI dann noch mit Abga-ben von 40 oder 50 Prozent belastet werden soll, ist eineFrage, die wir uns wirklich stellen müssen. Es ist mir je-denfalls angesichts der Zahl derjenigen, die für 630 DMin der Bundesrepublik Deutschland arbeiten wollen, wert,für die Wiedereinführung der alten Regelung einzutreten.
Einig sind wir uns natürlich darüber, dass die Weichenfür eine langfristige erfolgreiche Berufstätigkeit vonFrauen schon in der Jugend gestellt werden. 1997 kon-zentrierten sich 55 Prozent der weiblichen Azubis aufzehn Ausbildungsberufe. Aber diese Ausbildungsberufebieten nur eine eingeschränkte Erwerbsperspektive. Da-rüber müssen wir nicht reden. Darüber sind wir uns alleeinig. Auch an den Hochschulen fehlen Frauen in den Be-reichen Naturwissenschaften, Informatik sowie Wirt-schafts- und Betriebswissenschaften.Ich meine, dass es auch im Eigeninteresse und in derEigenverantwortung von Frauen liegt, sich nicht nur überdie private, sondern auch über die berufliche Lebenspla-nung im Klaren zu sein. Das ist bei Männern anders, weilin unserer Gesellschaft noch immer davon ausgegangenwird, dass der Mann der Haupternährer ist. Wir alle sindda natürlich anderer Meinung. Es ist also wichtig, dassauch Frauen eine berufliche Lebensplanung vornehmen.Hier lässt sich mit einer guten Bildungspolitik, die schonin der Schule ansetzt, sicherlich etwas machen. Bund undLänder müssen zusammen für eine gute Kombination vonAnreizen in der Bildungspolitik sorgen.Ich möchte auch ganz deutlich sagen, dass die Wirt-schaft ihren Verpflichtungen nachkommen muss. Ich binzwar der Meinung, dass die in unserer Verfassung veran-kerte aktive Gestaltung der Gleichberechtigung vonMann und Frau auch von den Betriebsinhabern umgesetztwerden muss. Aber ich bin auch der Meinung, dass diekleinen Betriebe nicht so handeln können wie die großen.Große Betriebe wie Siemens und Lufthansa haben schonaus wohlverstandenem Eigeninteresse Frauenförderungbetrieben. Frauen üben dort schon Leitungsfunktionenaus. Hier hat sich einiges verändert.Ich möchte aber auch noch um Verständnis für diekleinen und mittelständischen Betriebe werben. Was ge-schieht dort? 80 Prozent aller Ausbildungsplätze werdenvon mittelständischen Betrieben geschaffen. Fragen Siedoch einmal die großen Unternehmen, wie viele Ausbil-dungsplätze sie zur Verfügung stellen! Daher muss in einePlus-Minus-Rechnung auch das einbezogen werden, wasder Arbeitsmarkt erfordert und was wir von den Betriebenverlangen.Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. Die F.D.P. un-terstützt natürlich alle Maßnahmen, mit denen dafür ge-sorgt werden soll, dass sich Frauen für zukunftsträchtigeBerufe interessieren. Ich kann die Bundesregierung nurdafür loben – das finde ich sehr vernünftig –, dass sie mitder Wirtschaft die D-21-Initiative ins Leben gerufen hat.Solche Aktionen unterstützen wir. Das ist gar keine Frage!Wir unterstützen auch „total equality“. Es ist auch dieAufgabe der zuständigen Staatssekretärin und Ministerin,dafür zu sorgen, dass sich mehr Betriebe daran beteiligen;denn das Interesse an der Auszeichnung für Frauen för-dernde Betriebe hat etwas nachgelassen.Auch über die Förderung der Existenzgründun-gen – das ist gar keine Frage – sind wir uns alle einig, egal,ob Sie das 101. oder das 102. Existenzförderungspro-gramm auflegen. Aber ich muss darauf hinweisen, dasseine immer größer werdende Vielzahl an Förderprogram-men eher negativ zu sehen ist; denn je mehr Programmees gibt, desto verwirrender wird es für die Frauen. Wirmüssen vielleicht die Masse der Existenzförderungsmög-lichkeiten eher eindämmen und vielmehr dafür sorgen,dass sich viele, die einen Betrieb neu gründen wollen, denstaatlichen Förderprogrammen zuwenden und verstehen,welches das Ziel der einzelnen Förderprogramme ist, unddass sie sich nicht von Banken Förderprogramme ver-kaufen lassen die vielleicht teurer als die staatlichen sind.Ich will einmal die Frage stellen, ob es richtig ist, dassdie Kosten, die durch eine Schwangerschaft einer Mitar-beiterin anfallen, den Betrieben individuell zugeordnetsind. Mit diesem Problem sollte sich auch der Frauen- undFamilienausschuss befassen. Wir sollten uns den Lö-sungsmöglichkeiten für dieses Problem widmen. Wennich mit Vertretern kleiner Betriebe spreche, die sehr vieleFrauen eingestellt haben, dann erfahre ich immer wieder,dass das auch mit finanziellen Belastungen verbunden ist.
Viele Inhaber von Betrieben verdienen weniger als200 000 DM. Wenn von ihren 20 Mitarbeiterinnen zehnschwanger sind, dann haben sie Schwierigkeiten, weil sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011588
Ersatz finden müssen. Schwierigkeiten entstehen erstrecht, wenn es den Rechtsanspruch gibt. Es wäre wichtig,Lösungsmöglichkeiten für die gesellschaftspolitischenBelastungen, für die durch die Schwangerschaft und dieErziehungszeit verbundenen Probleme zu finden, die wireinzelnen Betrieben auferlegen.
Frau Kollegin, Sie ha-
ben die Redezeit weit überschritten.
Ich komme zum Schluss.
In unserer globalisierten Wirtschaft darf wirtschaftli-
ches Handeln nicht eingeengt werden, sondern es muss er-
weitert werden. Das kann zu mehr Frauenerwerbstätigkeit
führen. Meines Erachtens zeigen Ihre Gesetze nicht, ob
Sie das in den vier Jahren Ihrer Regierungszeit erreichen.
Ich glaube, Sie gehen weiterhin den Weg von Zwangsge-
setzen und Zwangsregelungen. Es wäre sehr traurig, wenn
Frauenbeschäftigung damit verhindert würde und wenn
sich die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht ver-
bessert.
Das Wort hat nun die
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion haben sich mit dem Amsterdamer Vertrag be-kanntlich zur Durchsetzung von Chancengleichheit undzur Gleichberechtigung der Geschlechter verpflichtet.Angesichts der Defizite bei der Umsetzung auf nationa-ler Ebene kommt immer wieder – ich denke, zu Recht –Druck vonseiten der EU. Das Europäische Parlament hatin der heute zur Debatte stehenden Entschließung sehrklareWorte gefunden, was Chancengleichheit von Frauenund Männern auf dem Arbeitsmarkt bedeutet. Der politi-sche Handlungsbedarf ist groß; doch nach wie vor fehltes auch in der Bundesrepublik an konkreten und nach-haltigen Lösungsansätzen, wie der Diskriminierung vonFrauen auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen ist.Dabei sind die Trends besorgniserregend. Das Wissen-schaftszentrum Berlin hat jüngst alarmierende Zahlenveröffentlicht. Demnach hat allein in der Stadt Berlin nurnoch jede bzw. jeder dritte Erwerbstätige ein so genanntesNormalarbeitsverhältnis, das heißt eine unbefristete Voll-zeitstelle mit normaler sozialer Absicherung. 1991 warendas immerhin noch 45 Prozent. „Berlin wird zur Haupt-stadt der Mc-Jobs“, hat die „taz“ unlängst getitelt. DerDienstleistungssektor expandiert und dabei entstehenüberwiegend ungesicherte Arbeitsplätze. Es sind häufigFrauen, die mangels Alternative auf diese Jobs zurück-greifen müssen.Wenn wir über bessere Erwerbschancen für Frauen re-den, dann können wir diese Entwicklungen nicht außerAcht lassen. Es ist unübersehbar, dass die Flexibilisierungder Beschäftigungsverhältnisse für die allermeisten Men-schen erhebliche Nachteile und nicht etwa, wie immerwieder behauptet, größere Freiheiten gebracht hat. DerAusbau von Niedriglohnbereichen wird fälschlicherweiseauch von vielen Politikerinnen und Politikern der rot-grü-nen Regierungskoalition als Königsweg aus der Arbeits-losigkeit propagiert.Das bestehende Arbeitsförderungsrecht begünstigtdiese Entwicklungen noch, weil es – Frau Schewe-Gerigkhat darauf bereits verwiesen – zum Beispiel keinen Schutzder beruflichen Qualifikation mehr gibt, weil beruflicheKenntnisse und Erfahrungen ihren Wert innerhalb weni-ger Monate verlieren. Da Arbeitslose gezwungen werden,Jobs anzunehmen, die weit unter ihrer Qualifikation lie-gen, wird dieser Trend anhalten. Ich habe mit großerFreude zur Kenntnis genommen, dass auch Sie an genaudieser Stelle politischen Handlungsbedarf, das heißt ge-setzlichen Regelungsbedarf, sehen.Bei der Arbeitsförderung gibt es ebenfalls zahlreicheRegelungen, die Frauen benachteiligen. Ich nenne Ihnennur die Zugangsbarrieren bei Maßnahmen der aktiven Ar-beitsförderung, die angeblich zumutbare Pendelzeit vondrei Stunden täglich, die besonders Frauen trifft und sieoft zwingt, gleich ganz zu Hause zu bleiben, sowie dienicht mehr gewährte Anrechnung von Mutterschafts- undErziehungsurlaub als beitragspflichtig gleichgestellteZeit.Wenn Sie an der Diskriminierung von Frauen bei derArbeitsförderung etwas ändern wollen, dann müssenzahlreiche Regelungen im SGB III verändert werden. Diegeschlechtsspezifische Entdiskriminierung muss ein zen-traler Maßstab für die angekündigte Reform des Arbeits-förderungsrechts sein.
Die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt können wirnur erfolgreich bekämpfen, wenn wir endlich auch die Ar-beitszeitgesetzgebung angehen. Wir brauchen – das isthier vielfach gesagt worden – verbindliche Regelungenfür die Privatwirtschaft.Auch im Beschäftigungspolitischen Aktionsplan– immerhin ein Dokument, mit dem die Bundesregierungihre Aktivitäten gegenüber der Europäischen Union recht-fertigt – setzt sich leider der Stil durch, der uns in denvergangenen Monaten immer wieder begegnet ist. Stattgesetzlicher Vorhaben erwähnen Sie lieber Konferenzen,die Sie veranstalten, und Berichte, die Sie schreiben wol-len. Ein Beispiel: Um die Einkommensunterschiede beiMännern und Frauen zu verringern, wollen Sie bis Endedes Jahres 2001 – die Kollegin Niehuis hat darauf nocheinmal verwiesen – einen Bericht zur Einkommens- undBerufssituation erstellen. Nichts gegen eine solche si-cherlich notwendige Berichterstattung, aber wo bleibendie konkreten Maßnahmen? Wir wissen, dass gerade beiden Erwerbseinkommen massenhaft mittelbare Diskrimi-nierung von Frauen vorkommt. Handeln Sie hier endlichund vertrösten Sie uns bitte nicht, wie gestern in der Aus-schusssitzung, immer darauf, dass wir erst Halbzeit habenund die Legislaturperiode noch zwei Jahre dauert.
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Ina Lenke11589
Ich denke, die Frauen warten darauf, dass etwas getanwird.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Tarifpar-teien dazu bringen, endlich mit den frauendiskriminieren-den Tarifabschlüssen Schluss zu machen – notfalls durchgesetzliche Maßnahmen. Ich weiß, dass das nicht ganzeinfach ist, weil selbstverständlich die Tarifautonomienicht angetastet werden darf, wofür auch und gerade diePDS steht.Sie wollen die hohe Frauenarbeitslosigkeit abbauen.Aber auch hier fehlen konkrete Zielsetzungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, Sie fordern in Ihrem Antrag die Regierung dazuauf, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass Re-ferenzziele für die Mitgliedstaaten verbindlich festge-legt werden. Das begrüße ich ausdrücklich. Aber warumhaben Sie diese nicht im nationalen Aktionsplan festge-legt? Genau da hätten sie nämlich hineingepasst. Die Ideeist ausgezeichnet: Für die Referenzziele sollen die mittle-ren Werte der jeweils drei erfolgreichsten Mitgliedstaatender Europäischen Union Maßstab sein. Wer erfolgreichDiskriminierung bekämpft, wird zum Maßstab für dieanderen. Ich denke, die Bundesrepublik könnte hier mitgutem Beispiel vorangehen und klare Ziele mit Zeitvor-gaben für den Abbau der Diskriminierung von Frauen aufdem Arbeitsmarkt festlegen. Im Übrigen würden Sie dafürsofort Unterstützung von der PDS bekommen.
Derzeit wird sehr viel Bilanz über zehn Jahre deutscheEinheit gezogen. Es lohnt sich, ausdrücklich und dezidiertdie Situation von Ostfrauen zu betrachten. Denn einessteht fest: Der Transformationsprozess war und ist geradefür sie ein Prozess voller Gewinne und Verluste. Was siean politischer Partizipation gewonnen haben, haben sie anökonomischer und sozialer Unabhängigkeit verloren. DieErwerbstätigenquote der Frauen im Osten ist rapide ge-sunken. Sie beträgt inzwischen nur noch gut 56 Prozent;im Westen sind es 55 Prozent. Wir haben es hier mit einerAngleichung zu tun, die nicht gewollt war – vor allemnicht von den Frauen im Osten. Die Zahlen zeigen, inwelch gigantischem Ausmaß Frauen im Osten in den ver-gangenen zehn Jahren Arbeitsplätze verloren haben. Al-lerdings – das ist bemerkenswert – lassen sich die Frauenin den neuen Ländern nach wie vor nicht vom Arbeits-markt verdrängen. Sie haben sich eben nicht, wie viele– vor allem Herren in abgewählten Regierungskreisen –wollten, in die stille Reserve zurückgezogen. Sie behaup-ten ihren Anspruch auf Berufstätigkeit, indem sie sichnach wie vor bei den Arbeitsämtern arbeitslos melden.Zu oft mussten wir uns in den vergangenen Jahren underst letzte Woche vom Präsidenten der Bundesanstalt fürArbeit in der „Super Illu“ sagen lassen, die Probleme aufdem ostdeutschen Arbeitsmarkt hätten mit der so genann-ten ungebrochenen Erwerbsneigung von Frauen zu tun.Mit solchen Argumentationen muss jetzt wirklich Schlusssein.
Wir sehen, es ist nach wie vor eine große Herausforde-rung, jede Form von Diskriminierung aufgrund desGeschlechts wirksam zu bekämpfen. Soziale Gerechtig-keit – das sei in aller Deutlichkeit gesagt – gibt es nur mitund durch Chancengleichheit der Geschlechter.
Das Wort hat nun die
Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-legen und Kolleginnen! Zunächst einmal ein Wort an FrauLenke, die es nicht geschafft hat – das tut mir sehr Leid –,sich über die Lebenswirklichkeit des letzten Jahres zuinformieren. Ich hätte nicht damit gerechnet – das mussich wirklich sagen –, dass Sie nach einem Jahr immernoch die 630-Mark-Jobs anführen, wo wir genau wissen,dass mittlerweile 4 Millionen geringfügig Beschäftigtegemeldet sind. Das heißt also, dass kein Arbeitsplatzwirklich weggefallen ist.
Hinzu kommt, dass diese Frauen endlich einmal abgesi-chert beschäftigt sind. Das ist das eine.Es ist schon interessant, Frau Störr-Ritter, welche Er-gebnisse dabei herauskommen, wenn sich zwei Personeneine Statistik ansehen. Sie stellen fest, dass 25 Prozent derFrauen zufrieden sind. Ich allerdings stelle fest, dass78 Prozent der Frauen wollen, dass mehr für Gleichstel-lung getan wird.
– Das haben Sie so nicht zitiert, Sie haben es nicht wahr-genommen, sondern einfach beiseite gedrängt.Ganz wichtig dabei ist, dass die Frauen dabei die Chan-cengleichheit im Arbeitsleben als erstes und wichtigstesKriterium nennen. All diesen Frauen kann ich heute sa-gen: Diese Forderung war in den zurückliegenden Mona-ten Motor für die Politik der Regierungskoalition und ichgarantiere: Das bleibt auch so.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir, die Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen, haben gemeinsamMitte Juni 1999 neue Initiativen zur Frauenbeschäftigunggefordert. Die Bundesregierung hat im gleichen Monat ihrProgramm „Frau und Beruf“ verabschiedet und damit ei-nen Neuaufbruch bei der Gleichstellungspolitik eingelei-tet. Seit Juni 1999 sind nur 16 Monate – ich betone das –vergangen, in denen wir mehr in Sachen Gleichstellungvon Frauen und Männern auf den Weg gebracht haben alsdie alte Regierung in 16 Jahren.
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Petra Bläss11590
Unsere Politik bringt endlich den entscheidenden Fort-schritt. Künftig werden im Erwerbsleben die Chancennicht mehr nach dem Geschlecht, sondern nach Fähigkei-ten und Leistung vergeben. Ich will Ihnen das ausZeitgründen nur anhand einiger Projekte nachweisen.Frau Staatssekretärin Niehuis wie Frau Schewe-Gerigkhaben auch schon einige Projekte genannt. Entscheidendist, dass das Projekte sind, die bereits beschlossen wurdenund die die Forderung nach Chancengleichheit vonFrauen und Männern im Erwerbsleben praktisch umset-zen.Wir bringen mehr Frauen in IT-Berufe – das wurdeauch schon gesagt – durch Förderprogramme wie D 21und „Frauen ans Netz“. Wir fördern Frauen in Forschungund Wissenschaft mit dem Hochschulsonderprogramm IIIund ermöglichen Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmerin-nen durch die Neuregelung des Altersteilzeitgesetzes, Al-tersteilzeit in Anspruch zu nehmen. Außerdem geben wirjungen Männern, wie hier schon mehrfach gesagt wurde,durch die Neuregelungen von Bundeserziehungsgeldge-setz und Elternzeitgesetz eine realistische Chance, dieEntwicklung ihrer Kinder von Anfang an intensiv mit-zuerleben. Wir machen endlich wieder eine familien- undkinderfreundliche Politik. Dafür stehen Kindergelder-höhung und Steuerreform.Ganz entscheidend ist aber: Wir haben die Gleichstel-lung zum Leitbild unserer Politik gemacht. Der Fachbe-griff hierfür lautet – ich bitte Sie auf der rechten Seite, gutzuzuhören – „gender mainstreaming“. Das heißt, bei jederpolitischen Entscheidung, bei jedem Konzept wird mit zubeachten sein, welche Auswirkungen dies für Männer undFrauen hat.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Ja, bitte.
Frau Schwaetzer,
bitte sehr.
Frau Kollegin,
auch Sie erwähnen jetzt die Initiative D 21. Wenn ich es
richtig sehe, ist das eine Initiative der Wirtschaft, in die
Wege geleitet von den großen IT-Firmen wie zum Bei-
spiel IBM und Alcatel. Deswegen interessiert es mich
sehr, welche speziellen Förderprogramme die Bundesre-
gierung anbietet, was hierbei vereinbart wurde und wo
sich das im Haushalt wiederfindet.
Die Initiative D 21 geht vom
Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
aus, das auch Geldgeber ist und diese Initiative begleitet.
Ich meine, das reicht als Auskunft. Ich kann jetzt spontan
die Haushaltsstelle nicht nennen, aber kann sagen: Das
Ministerium ist Initiator.
Sie gestatten keine
weitere Zwischenfrage, wenn ich es richtig verstanden
habe. – Danke schön.
Die Frau Kollegin ge-
stattet keine weitere Zwischenfrage. Deswegen hat sie
weiter das Wort.
Wenn sich Unternehmen invorbildlicher Weise daran beteiligen, können wir das nurbegrüßen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen Gleich-stellung werden die öffentlichen Arbeitgeber – das istwichtig – mit gutem Beispiel vorangehen. Dazu schaffenwir das Gleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung.Es ist auch höchste Zeit; denn das alte Frauenfördergesetzfür die Bundesverwaltung, das wir Ihnen, meine Herrenund Damen von der CDU/CSU und F.D.P., verdanken, hatleider keine durchgreifenden Erfolge erzielt. Mit IhremAntrag kritisieren Sie von der CDU/CSU sogar die Er-gebnisse Ihrer eigenen Politik in der Vergangenheit.Gleichstellung im öffentlichen Dienst allein reichtnicht aus. Erreichen wir dort nur 3,7 Millionen der be-schäftigten Frauen, sind es in der Privatwirtschaft 12 Mil-lionen. Deshalb werden wir in den kommenden Monatenein Gleichstellungsgesetz auch für die Privatwirtschaftvorlegen. Denn wir wissen, Frauen ziehen auf dem Ar-beitsmarkt nach wie vor den Kürzeren: bei der Ausbil-dungsplatz- wie bei der Arbeitsplatzsuche, bei den beruf-lichen Aufstiegschancen, bei der Bezahlung. Selbst wennsich Frauen tatsächlich dazu entscheiden, einen so ge-nannten Männerberuf – zum Beispiel im Ingenieurbe-reich – zu ergreifen, schützt sie das häufig nicht vor Ar-beitslosigkeit. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung belegt, dass in diesen Berufsfeldernnach wie vor Männer bevorzugt werden.Damit ist klar: Unsere größte Herausforderung ist derKampf gegen die Vorurteile und Stereotype in den Köp-fen. Sie halten sich hartnäckig bei Entscheidungsträgernund leider auch bei Entscheidungsträgerinnen. Das machtIhr Antrag, meine Herren und Damen von der CDU/CSU,ganz besonders deutlich. Ihr zentraler Vorschlag, explizitmehr Frauenarbeitsplätze im Telebereich zu schaffen,zeigt das Rollenverständnis, das Sie nach wie vor pflegen:Die Frau soll Heimarbeit leisten und so wiederum Fami-lien- und Erwerbsarbeit allein schultern. Das entsprichtnicht unseren Vorstellungen.Bei vielen herrscht immer noch die irrige Annahmevor, Gleichstellung sei eine kostspielige Angelegenheitund nicht finanzierbar. Dabei ist es im Interesse der Wirt-schaft, die Qualifikation und das Leistungspotenzial derFrauen besser zu nutzen. Alles andere ist skandalöse Ver-
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Christel Humme11591
schwendung von Ressourcen, eine Verschwendung vonWissen, Bildung und Erfahrung.
Das erkennen immer mehr Betriebe. Wenn Sie, FrauStörr-Ritter, an den fünf Dialogforen teilgenommen hät-ten – Sie hätten diese Möglichkeit gehabt –, hätten Sie si-cherlich auch erfahren, welche Möglichkeiten gerade inden Betrieben und den Unternehmen, die Sie immer sogern unterstützen, gegeben sind. Ich möchte Ihnen nur einBeispiel nennen, und das stammt aus einem mittelständi-schen Unternehmen, nicht aus einem großen Konzern.Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Schwäbi-schen hat einen Betriebskindergarten errichtet, Kosten:140 000 DM pro Jahr. Auf die Frage aus einem anderenUnternehmen „Wie könnt ihr euch das nur leisten?“ folgtedie Gegenfrage: Wie hoch ist euer Krankenstand? – DerKollege: Ganz normal, er liegt bei 5 bis 6 Prozent. – Daskönnen wir uns nicht leisten, so der schwäbische Mittel-ständler. Der Krankenstand seines Unternehmens liegt beinur 2 bis 3 Prozent. Jeder Prozentpunkt Krankenstand we-niger bedeutet für das Unternehmen Einsparungen vonmehreren hunderttausend Mark.Sie sehen, meine Herren und Damen von derCDU/CSU und der F.D.P.: Es geht.
Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauenführen nicht zwangsläufig, wie Sie beschreiben, in denRuin, sondern erhöhen im Gegenteil den Profit, womitauch Ihre These widerlegt ist. Wir finden, es ist etwas An-ständiges, Frau Störr-Ritter, Gewinn zu machen, und dasauch mit den Frauen. Denn Frauen sind nicht unbedingtein Verlustfaktor, wie Sie unterstellen.
Frau Lenke, Sie haben darauf verwiesen, dass Sie ge-rade für die kleinen und mittelständischen UnternehmenVerständnis wecken wollen. Auch Ihnen hätte ich geraten,an diesen Dialogforen teilzunehmen; denn dort wurdedeutlich, dass gerade die kleinen und mittelständischenUnternehmen hervorragende, kreative Lösungen zurGleichstellung von Frauen und Männern entwickelt ha-ben und mit Erfolg praktizieren. Das gilt für Traditions-unternehmen genauso wie für Unternehmen im Bereichder New Economy.Frau Störr-Ritter, wir freuen uns natürlich genauso wieSie, dass es viele gute Beispiele unter den Unternehmengibt, die wir selbstverständlich unterstützen wollen. Den-noch müssen wir sagen, dass die Zahl der Betriebe in derBundesrepublik, die ihren Blick auf die Gleichstellungrichten, angesichts der Gesamtzahl von 2 Millionen Be-trieben bedauerlicherweise noch zu gering ist.
Darüber täuscht Ihre positive Darstellung nicht hinweg.
Darum werden wir noch etwas nachhelfen.
– Das werde ich Ihnen jetzt erklären. Sie hätten im letztenJahr eine Eigenschaft mehr pflegen müssen, nämlich dasZuhören. Das wäre nicht schlecht gewesen.
– Das „nachhelfen“ erkläre ich Ihnen jetzt, Frau Lenke,ganz persönlich, wenn Sie so wollen.Wir werden das mit unserem Gleichstellungsgesetz fürdie Privatwirtschaft tun.
– Hören Sie doch einmal zu! – Unser Gesetz wird die Un-ternehmen verpflichten, Maßnahmen zur Chancengleich-heit zu verwirklichen. Aber jedes Unternehmen sollzunächst selbst entscheiden können – das finde ich ganzwichtig –, welche Maßnahmen geeignet sind. Das ist gutso; denn jeder Betrieb kennt seine Voraussetzungen ambesten und kann so individuell reagieren.Deshalb sieht unser Gesetz zwei Stufen vor.
Nun möchte die Kol-
legin Lenke Sie etwas fragen.
Ja, wenn es sein muss.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, Sie haben eben
wörtlich gesagt, dass dieses Gleichstellungsgesetz für je-
des Unternehmen gelte. Ich möchte gerne nachfragen, ob
das auch in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist. Ich habe
nämlich beim Ministerium angefragt. Zu diesem Zeit-
punkt stand die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter, ab der das Gleichstellungsgesetz für die Privat-
wirtschaft gelten soll, noch nicht fest. Ich bedanke mich
herzlich dafür, dass Sie hier gesagt haben: jedes Unter-
nehmen.
Es war mehr eine
Kurzintervention. Aber das ist in Ordnung. – Frau Kolle-
gin, Sie haben das Wort.
Selbstverständlich würdenwir uns freuen, wenn jedes Unternehmen unser Ziel derGleichstellung verwirklichen würde. Das ist gar keineFrage.
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Christel Humme11592
Zurück zu dem Gesetz, das wir verabschieden wollen.In der ersten Stufe werden wir Mindeststandards festle-gen. Diesen Punkt hat die Frau Staatssekretärin bereits er-wähnt. Es ist dann die Aufgabe der Betriebs- und Tarif-partner, diese Mindeststandards zu erfüllen.Allerdings sind die Maßnahmen nicht beliebig, son-dern müssen überprüfbar sein. Sie müssen Kernbereicheder betrieblichen Gleichstellung erreichen. Dazu gehörenunter anderem die Verankerung des „gender mainstrea-ming“ als unternehmerisches Leitbild, die betrieblicheUmsetzung des Lohngleichheitsgebots, die Erhöhung desFrauenanteils in Führungspositionen, die Einführung fa-miliengerechter Arbeitszeiten sowie die Qualifizierungder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während der Unter-brechung der Erwerbsarbeit. Die Unternehmen erhalteneine angemessene Frist, die ihnen die Erfüllung der Min-deststandards ermöglicht.
Führen die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einemüberprüfbaren Ergebnis, greifen die gesetzlichen Vor-schriften. Unser Gesetz setzt also in der ersten Stufe ganzund gar auf Freiwilligkeit. In der zweiten Stufe werdenbei Nichterfüllung Sanktionen greifen.
Wir werden uns im Rahmen der politischen Debattenoch Gedanken darüber machen müssen, wie diese Sank-tionen aussehen könnten. Ganz nach dem Vorbild derUSA könnten die Unternehmen, die sich der Gleichstel-lung verweigern, von der öffentlichen Auftragsvergabeausgeschlossen werden. In den USAwird eine solche Po-litik äußerst erfolgreich betrieben, und das schon seit Jahr-zehnten.
Im Übrigen, Frau Lenke: Deutsche Unternehmen, diein den USA tätig sind, erfüllen die dortigen strengengleichstellungsrechtlichen Auflagen widerspruchslos.Das geht dann plötzlich.
Das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft istdas Herzstück unserer Frauen- und Familienpolitik. Fürdie Durchsetzung von Gleichstellung werden wir weiteregesetzliche Regelwerke nutzen. Das gilt für die anste-hende Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes ge-nauso wie für die Überprüfung der Einführung eines Ver-bandsklagerechts.Die Schweiz hat das Verbandsklagerecht mit Erfolgeingeführt. Dort kommt es in der Regel überhaupt nichtmehr zu Klagen; denn aus Furcht vor der Klage vermei-den die Arbeitgeber Diskriminierung schon im Vorhinein.Das Verbandsklagerecht hat also eine große präventiveWirkung.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, mit unserem Gleich-stellungsgesetz für die Privatwirtschaft machen wir genaudas, was die Bevölkerung von uns erwartet; denn dieMehrheit der Deutschen begrüßt eine aktive Gleichstel-lungspolitik, besonders zur Herbeiführung gleicher Auf-stiegschancen und gleicher Bezahlung für Frauen undMänner. Auch das ist das Ergebnis der anfangs schon er-wähnten Umfrage. Diese Erwartung der Bevölkerung er-füllen wir natürlich gern. Dafür haben wir die ersten16 Monate seit der Verabschiedung des Programms „Frauund Beruf“ hervorragend genutzt.Ich betone noch einmal: Wir haben diese 16 Monatebesser genutzt als Sie, meine Herren und Damen von derCDU/CSU und F.D.P., die 16 Jahre Ihrer Regierungsver-antwortung. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzu-stimmen; denn, Frau Bläss, ich bin sicher, dass die nächs-ten 24 Monate so genutzt werden, dass wir hinterhergemeinsam sagen können: Beim Thema Frau und Berufist nicht nur ein Aufbruch gemacht, da ist endlich einDurchbruch geschafft.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin
Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Liebe Frau Humme, Sie sa-gen, wir hätten nicht wahrgenommen; Frau KolleginStörr-Ritter hätte nicht wahrgenommen, die CDU hättenicht wahrgenommen. Wir nehmen wahr, dass die FrauStaatssekretärin ganz einsam und verlassen auf der Re-gierungsbank sitzt.
Das ist eine Aussage, die wir festigen können. Ist Frau-enarbeitslosigkeit, Frauenförderung kein Thema mehr füruns? Es scheint ja so zu sein. Dann wundere ich mich al-lerdings, dass Sie Anträge stellen.
Wenn man über Anträge spricht, dann muss auch die Re-gierung vertreten sein; denn sie muss die Anträge umset-zen.
Ich mahne eine bessere Besetzung der Regierungsbankan und danke Ihnen, Frau Staatssekretärin, dass Sie dasind.Frauenarbeitslosigkeit und Frauenförderung ist im-mer noch ein Thema in Deutschland und in Europa. Wiralle wissen um die Probleme. Aber die Realität zeigt, dasssich nicht viel geändert hat. Sowohl in der EU als auch inder Bundesrepublik ist die Arbeitslosenquote bei denFrauen höher als die entsprechende Quote der Männer.In der Lebensplanung von Frauen nimmt die Erwerbs-tätigkeit einen wesentlichen Platz ein. Veränderte Ge-sellschaftsstrukturen tragen dazu bei. Aber trotz hoher
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Christel Humme11593
Motivation und ausgezeichneter Qualifikation der Frauenist ihre Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt nochnicht erreicht. Wir haben keine Gleichstellung der Ge-schlechter. 1999 verdienten die Frauen in den alten Bun-desländern im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihremännlichen Kollegen; in den neuen Ländern waren es10 Prozent. Ich denke, das ist aussagekräftig.Obwohl Frauenbeauftragte und Frauenförderung invielen Betrieben und auch bei öffentlichen Dienstleisternzum festen Bestandteil gehören, sind lediglich 3 Prozentder Führungspositionen in der Wirtschaft mit Frauen be-setzt. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder anUnternehmen und Betriebe appelliert, Frauen in die Chef-etagen zu lassen.
Jetzt fassen wir uns einmal an die eigene Nase, FrauKollegin: Wie sieht das hier im Parlament, in der Politikaus? Wir haben drei hohe Staatsämter. Die alte Bundesre-gierung hat es zumindest geschafft, eine Position mit ei-ner Frau zu besetzen. Sie haben keine davon mit einerFrau besetzt.
Ich setze noch eins drauf. Ich weiß, dass Ihnen daswehtut, gerade Ihnen, werte Kolleginnen von der SPDund den Grünen.
– Wenn es Ihnen nicht wehtäte, würden Sie jetzt nicht rea-gieren. – Selbst in der Partei haben wir eine Frau an derSpitze. Davon sind Sie noch weit entfernt. Ich weiß, dassIhnen das wehtut und dass Sie das nicht gerne hören. Aberich sage Ihnen: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran undwählen auch Sie Frauen in hohe Parteiämter
und Staatsämter; denn nur wenn mehr Frauen verantwor-tungsvollere Positionen einnehmen und dabei das gleicheGehalt wie die männlichen Kollegen bekommen, wirdsich das neue Frauenbild in den Köpfen leichter verwirk-lichen lassen. Doch davon sind wir noch weit entfernt.Weibliche Führungskräfte bleiben bei den meisten Unter-nehmen, in Wissenschaft, in Forschung, in den Parteienund in der Politik weiterhin die Ausnahme.Eine der Ursachen dafür ist sicherlich die starke Kon-zentration der Frauen auf traditionelle Frauenberufe. DerStrukturwandel innerhalb der Gesellschaft hin zu einer In-formationsgesellschaft erfordert den Erwerb neuerSchlüsselqualifikationen. Leider befindet sich momentannur ein geringer Teil von Frauen in fachspezifischen Aus-bildungen und Berufen der Informations-, Medien- undTechnologiebranche. Daher ist hier eine gezielte Frauen-förderung nötig.Die Zahl der erwerbstätigen Frauen, die ein Unterneh-men gründen und sich selbstständig machen, ist ebenfallssehr gering. Lediglich 6 Prozent wagen diesen Schritt.Warum tun sich Frauen so schwer? Wir haben einigeBegründungen gehört, aber ich meine, das Hauptproblemist und bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.Oft scheitern die Erwerbstätigkeit und der berufliche Auf-stieg von Frauen an der Nichtvereinbarkeit von Familieund Beruf.
Job und Familie müssen zusammenpassen.
– Ich sage Ihnen gleich, was wir gemacht haben. Daraufkönnen Sie aufbauen.
Für 77 Prozent der Frauen ist die Vereinbarkeit von Fa-milienleben und Beruf das Allerwichtigste. Wer je einenHaushalt organisiert hat, weiß, welchen Spagat man dabeileisten muss.
Berufstätigkeit und Elternschaft miteinander zu vereinba-ren darf in einer modernen Gesellschaft nicht das aus-schließliche Problem von Frauen sein. Hier ist echte Part-nerschaft gefragt, Partnerschaft in der Familie undPartnerschaft in der Arbeitswelt.Moderne Arbeitszeitmodelle, die Platz für ein Lebenmit Kindern in einer partnerschaftlichen Aufgabenteilunglassen, müssen entwickelt werden. Kindererziehung darfsich nicht nachteilig auf das Erwerbsleben auswirken. Esgilt, familienfreundliche Unternehmensstrukturen zuschaffen. Familien müssen eine deutliche Unterstützungvonseiten der Unternehmer erhalten.Die bestehende Förderung von Teilzeitarbeit auch fürFach- und Führungskräfte muss ausgebaut werden. MeineDamen und Herren der Koalition, setzen Sie die gute Ar-beit der alten Regierung fort, dann sind Sie auf dem rich-tigen Wege.
Politik muss angemessene Rahmenbedingungen zurbesseren Vereinbarkeit schaffen, insbesondere im Bereichder Kindererziehung. Gefragt ist hier ein bedarfsgerech-tes Angebot. Aufgrund unterschiedlicher persönlicherWünsche, verschiedener Familienphasen und sich än-dernder Lebenssituationen muss das bestehende Betreu-ungsangebot flexibel ausgebaut und weiterentwickeltwerden.
Liebe Frau Staatssekretärin, Sie stehen hier im Wort.Lassen Sie uns gemeinsam in Zusammenarbeit mit Län-dern und Kommunen für eine Weiterentwicklung des Be-treuungsangebots sorgen. Maßnahmen für Krippen- undHortplätze, Tagespflege und Schulbetreuung dürfen nicht– wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen – auf derStelle treten oder dem Rotstift zum Opfer fallen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Ingrid Fischbach11594
Neue eindrucksvolle Ideen sind gefragt. Nehmen Siedas Beispiel Saarland. Hier wird die Finanzierung im Kin-dergartenbereich neu überdacht, und zwar zugunsten derFamilien. Das ist die richtige Politik. Es ist eine Politik fürFamilien, für Frauen. Davon können Sie noch lernen, dabin ich sicher.
Denn Ihre augenblickliche Politik belastet Familien undFrauen und entlastet sie nicht. Frauen sind in Ihrer Politiksowieso die großen Verliererinnen.
– Ihnen wird das Lachen noch vergehen.Ich habe hier im letzten Jahr zu den 630-Mark-Jobs ge-redet. Jetzt bleiben wir einmal bei der aktuellen Renten-politik. Hier haben Sie sich als Frauenförderer auf dieFahne geschrieben, dass Sie etwas für die Frauen tun.Kommen deshalb die eigenständige Alterssicherung unddie Rente in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor? Haben Sieletztes Jahr schon gewusst, dass die Frauen wieder auf derStrecke bleiben?
Wo war denn die Frau Ministerin bei der Beratung derRentenreform? Wenn das das Ergebnis Ihrer Frauenpo-litik ist, dann muss ich sagen: Ausnahmsweise schließeich mich dem „Stern“ an, Frau Ministerin: Note: mangel-haft!
Im Januar haben Sie im Ausschuss noch großmütig aufdie Rentenkonsensgespräche verwiesen und gesagt, esgebe eine große Übereinstimmung über die verstärkte An-erkennung von Kindererziehungszeiten. Frau Schewe-Gerigk, Sie haben das gerade noch einmal deutlich ge-macht. Allerdings steht jetzt im fünften Entwurf – ob esder fünfte Entwurf oder schon der sechste ist, ich bin mirnicht mehr sicher – von Riester, dass nur Teilzeitbeschäf-tigte einen sozialen Ausgleich erhalten. Die Kindererzie-hungsleistungen von Vollerwerbstätigen werden nichtbesser anerkannt.
Ist das gerechte Frauenpolitik?Sie bewerten Kindererziehung unterschiedlich, näm-lich in Abhängigkeit von Kinderzahl, von Erwerbstätig-keit und von dem damit verbundenen Verdienst.Ich möchte folgenden Punkt in Erinnerung rufen,meine Damen und Herren der Koalition: Sie schreibensich die Anrechnung der Kindererziehungszeiten aufIhre Fahne. Es war die alte Bundesregierung ausCDU/CSU und F.D.P., die es möglich gemacht hat, dassKindererziehungszeiten überhaupt angerechnet werden.Es war die alte Bundesregierung, die die additive Anre-chenbarkeit ermöglicht hat. Es war die alte Bundesregie-rung, die den entsprechenden Betrag auf 100 Prozent desDurchschnittlohns angehoben hat. Das waren nicht Sie.
Wo bleibt bei Ihnen überhaupt die Mutter mit einemKind, die nicht erwerbstätig ist? Die kommt bei Ihnenüberhaupt nicht vor. Das ist für mich reine ideologischeFrauenpolitik und nichts anderes.
Bei der Anerkennung von Kindererziehungszeitensollten kindererziehungsbedingte Nachteile, unabhängigvon der Erwerbstätigkeit, in stärkerem Maße als bisherausgeglichen werden.Die Frauen, die Kinder vor 1992 geboren haben, kom-men bei Ihnen überhaupt nicht vor. Auf diesen Punkt geheich nun nicht näher ein.
Auch bei dem Ausgleichsfaktor sind die Frauen stärkerbetroffen als die Männer. Maßstab Ihrer Berechnungen istder „Eckrentner“ mit 45 Versicherungsjahren. Sie selberwissen, dass Frauen viel weniger Versicherungsjahre ha-ben. Die tatsächliche Rente einer Frau läge in Zukunftalso deutlich unter 61 Prozent. Ist das Ihre Antwort auf dieVermeidung von Altersarmut? Ist das Ihre Antwort aufeine eigenständige Alterssicherung der Frau? Wir sagendazu: nein.
Lassen Sie Ihren großen Sprüchen auch Taten folgen.Lassen Sie die Frauen nicht wieder im Regen stehen! Las-sen Sie Frauen zu Gewinnerinnen werden. Wir helfen Ih-nen dabei. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Jetzt hat die Kollegin
Andrea Nahles, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wenn ich mir die Redebeiträgeder CDU/CSU-Fraktion vor Augen führe, dann muss ichfeststellen, liebe Frau Fischbach, dass eine Frau an derSpitze einer Partei leider noch nicht zu einer guten Gleich-stellungs- und Frauenpolitik führt.
Wir Frauen in der SPD machen mit Gerhard Schröder lie-ber konkrete Gesetze zur Gleichstellung der Frau, als unsnur in allgemeinen Appellen zu ergehen.
Das möchte ich an einem konkreten Beispiel deut-lich machen: Wenn ich mir die Ausführungen Ihrer Partei-vorsitzenden Frau Merkel – sie war doch einmal
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Ingrid Fischbach11595
Frauenministerin – zu diesem Thema ansehe, dann ist daaußer allgemeinen Appellen nichts zu finden. Ich darf siezitieren: „Wir wollen auch Vätern Mut machen, sich stär-ker in der Familienarbeit und in der Erziehung zu enga-gieren.“ Wo war Ihr Mut, als es darum ging, hier die Re-form des Bundeserziehungsgeldes zu verabschieden? Dahaben Sie versagt und haben abgelehnt.
Bei allgemeinen Appellen sind Sie also stark. Wenn esaber konkret wird, dann kneifen Sie, meine Damen undHerren von der CDU/CSU.Kommen wir zu der Situation in den Ländern und se-hen wir uns einmal an, was Sie machen, wenn Sie an dieMacht kommen. In Hessen hatten wir beispielsweise einsehr gutes Modell von Grundschulen mit festen Öff-nungszeiten. Das haben die Kollegen von der CDU inHessen durch ein billiges Betreuungsangebot ersetzt,
das vielen Frauen nicht einmal ermöglicht, auch nur eineHalbtagsstelle anzunehmen. Da kann ich als Rheinland-Pfälzerin mit Stolz auf die volle Halbtagsschule in Rhein-land-Pfalz verweisen. Dort sind Sozialdemokraten in Re-gierungsverantwortung. Das negative Beispiel haben wirin Hessen.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Annette
Widmann-Mauz? – Bitte sehr, Frau Kollegin, Sie haben
das Wort.
Frau Kolle-
gin Nahles, stimmen Sie mir zu und ist es richtig, dass das
Land Rheinland-Pfalz, das Sie gerade erwähnt haben, das
Landeserziehungsgeld für Mütter im dritten Erziehungs-
jahr nach der Regierungsübernahme der Sozialdemokra-
ten abgeschafft hat? Stimmen Sie mir außerdem zu und ist
es richtig, dass das Land Baden-Württemberg, das von der
CDU regiert wird, das Landeserziehungsgeld nach wie
vor bezahlt und die Einkommensgrenzen angehoben hat?
Ich stimme Ihnen nicht zu,
und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir die durch
diese Kürzungen freigewordenen Mittel in eine aktive
Frauenförderpolitik umgeleitet haben.
Ich kann Ihnen auch ein Beispiel nennen. Wir haben in
Rheinland-Pfalz ein Programm aufgelegt, das es jungen
Müttern, die Sozialhilfeempfängerinnen sind, durch ver-
schiedene Modellvorhaben ermöglicht, wieder erwerbstä-
tig zu sein, indem wir ihnen einen Zuschlag auf das Kin-
dergeld zahlen. Hier tun wir konkret etwas für Frauen.
Dorthin sind die Mittel in Rheinland-Pfalz geflossen. Ge-
nauso ist es uns durch die betreute volle Halbtagsschule,
wie ich es schon ausgeführt habe, gelungen, die Start-
chancen zu verbessern.
Frau Lenke möchte
eine Zwischenfrage stellen, Frau Kollegin.
Nein, ich glaube nicht, dass
dies noch etwas zur allgemeinen Erhellung beiträgt. Des-
wegen lehne ich es ab.
Der zentrale Punkt beim Programm „Frau und Beruf“
der Sozialdemokraten ist, dass wir von vornherein Frau-
enpolitik als Querschnittsaufgabe betreiben. Ich bin im
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung. Als wir das
JUMP-Programm aufgelegt haben, war es für uns von An-
fang an selbstverständlich, dass wir die jungen Frauen
gemäß ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit in dieses För-
derprogramm mit integrieren. Wir haben 38 Prozent junge
Frauen, die unter 25 Jahre alt und arbeitslos sind. Es ist
uns sogar gelungen, 43 Prozent junge Frauen in dieses
Programm zu integrieren und ihnen auf diesem Wege ei-
nen Start ins Erwerbsleben zu verschaffen. Daran können
Sie ganz konkret sehen, was wir tun.
Zum Zweiten wird auch das, liebe Frau Bläss, in die
SGB-III-Reform Einzug halten. Wir werden auch dafür
sorgen, dass die Arbeitsförderung von Frauen gemäß
ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit ins Arbeitsförde-
rungsgesetz aufgenommen wird. Das können Sie von uns
erwarten. Auf diesem Auge sind wir nicht blind, wie es die
alte Regierung gewesen ist.
Ich möchte noch als Letztes hinzufügen: Trotz aller
Punkte, die Sie hier genannt haben – ich bin besonders
über die Frauen in Ihrer Fraktion enttäuscht –, schaffen
Sie es nicht, über allgemeine Willenserklärungen hinaus-
zukommen und mit uns zusammen wirklich konkrete
Schritte zu unternehmen. Das ist für die Frauen sehr be-
dauerlich.
Aber nehmen Sie zur Kenntnis: Wir werden uns nicht
abhalten lassen. Wir werden die Erwerbsbeteiligung von
Frauen, die zurzeit in Westdeutschland bei 61 Prozent und
in Ostdeutschland bei 73 Prozent liegt, konsequent för-
dern. Unser Ziel ist es, dass sich am Ende unserer Regie-
rung dieser Anteil von Frauen an der Erwerbstätigkeit
deutlich gesteigert haben wird. Daran können Sie uns
messen. Wir werden dann Bilanz ziehen. Darauf freue ich
mich schon.
Vielen Dank.
Nun hat die KolleginDr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Andrea Nahles11596
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit ist natürlich vor
allem auch eine Frage der richtigen Wirtschaftspolitik. Ich
finde es schon sehr bedauerlich, dass der Bundeswirt-
schaftsminister bei dieser Debatte nicht anwesend ist.
Dies zeigt die gesamte Ignoranz und das Desinteresse der
Bundesregierung an der Frauenpolitik.
Frau Nahles, das Einzige, was ich von Ihnen an Kon-
kretem zur Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit gehört
habe, sind neue Leitlinien, gesetzliche Regelungen und
Zwangsquoten.
Aber mit noch mehr Regulierung und vor allem noch
mehr Bürokratie werden Sie die Beschäftigung von
Frauen nicht fördern, sondern im Gegenteil: Sie werden
sie behindern.
Wir haben doch parteiübergreifend alle ein Ziel, näm-
lich wirkliche Chancengleichheit für Frauen auf dem Ar-
beitsmarkt herzustellen. Aber die Frage ist doch, wie und
mit welchen Mitteln wir das erreichen wollen. Darin
unterscheiden wir uns völlig. Ihre Ansätze mit Zwangs-
quoten und Regulierung sind einfach nicht mehr zeit-
gemäß.
Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass wir uns ge-
rade jetzt in einem enormen Wandel befinden: von der al-
ten Industriegesellschaft zur modernen Wissens- und In-
formationsgesellschaft.
Was heißt das denn? Das heißt, dass sich nicht nur un-
sere Wirtschaft enorm und immer schneller verändert,
sondern auch die Arbeitswelt, die Arbeitszeit, die Arbeits-
organisation und damit natürlich auch unsere gesell-
schaftlichen Strukturen und – was entscheidend ist – un-
sere gesellschaftlichen Leitbilder.
Frau Kollegin, ich
darf Sie eben unterbrechen. Frau Schwaetzer, ich finde es
ein bisschen unfair, wenn man der Kollegin Rednerin den
Rücken zukehrt, um sich mit Kolleginnen und Kollegen
– zumal aus der eigenen Fraktion; wie soll ich denn das
verstehen? – zu unterhalten.
FrauSchwaetzer, ich nehme es Ihnen nicht übel, weil ich jaweiß, dass Sie zugehört haben.In der alten Industriegesellschaft war der typische,klassische Arbeitnehmer männlich, vollzeitbeschäftigt,hatte einen Achtstundentag und eine Vierzigstundenwo-che bei durchschnittlich 45 Jahren Erwerbsarbeit – meistauch noch in der gleichen Firma – bis zur Rente und anseiner Seite waren Frau und Familie. Diese Rollenvertei-lung war früher vorgegeben. Natürlich hat sich hier in denletzten 50 Jahren vieles geändert – das möchte ich einmalpositiv hervorheben –, aber immer noch nicht genug.Wie sieht es denn heute aus? Auf dem Weg in die In-formationsgesellschaft wird es entscheidend darauf an-kommen, flexibel zu sein. Die Zukunft der Arbeitsweltliegt in flexiblen Arbeitsverhältnissen: Projektarbeit, Teil-zeitarbeit, verschiedene Formen der Telearbeit. Es wirdmehr Formen der Bildung, Ausbildung und Weiterbildunggeben, Phasen der Selbstständigkeit und wieder Phasender Erwerbsarbeit.Dieser fundamentale Wandel, diese neue Dynamik bie-ten gerade jetzt entscheidende Chancen für uns Frauen,substanziell etwas zu verändern. Wir haben die großeChance, alte Strukturen wirklich aufzubrechen und wirk-liche Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu errei-chen. Aber dazu brauchen wir in allererster Linie positiveRahmenbedingungen. Wir brauchen nicht mehr die star-ren Strukturen von gestern, sondern wir brauchen wenigerRegulierung, mehr Dynamik und mehr Flexibilität.
Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil. Sieversuchen gerade jetzt, unsere Arbeitsmärkte in das starreKorsett der alten Industriegesellschaft der 70er-Jahrezurückzupressen.
Man denke an die schlimmen Neuregelungen bei den 630-Mark-Jobs, beim Kündigungsschutz, beim Gesetz zurBekämpfung der Scheinselbstständigkeit – die Beispielesind ja vorhin schon mehrfach genannt worden. Es kommtjetzt noch schlimmer, mit dem Gesetz zur Teilzeitarbeitund den befristeten Arbeitsverträgen. Damit würgen Siedie dynamische Entwicklung der Informationswirtschaftab und verhindern neue Chancen gerade für uns Frauen.
Wo entstehen denn die neuen Arbeitsplätze, Herr Kol-lege?
Sie entstehen doch nicht mehr vorrangig im produzieren-den Gewerbe und in der Industrie, sondern im Dienstleis-tungsbereich – hier vor allem im Bereich der neuen Me-dien und der modernen Informationstechnologien.Schätzungen zufolge könnten hier in den nächsten Jahrenrund 500 000 neue Arbeitsplätze entstehen.Das heißt doch für uns Frauen: Die Chancen sind jetztda, die Karten werden nun neu gemischt. Wir wollen hiernicht noch in zehn Jahren stehen und über die spezifischenProbleme von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sprechen.Wir wollen nicht, dass Frauen in der Internetwirtschaftimmer wieder nur die schlecht bezahlten Jobs abkriegen,sondern wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen
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und wirkliche Chancengleichheit auf dem Weg in die Wis-sens- und Informationsgesellschaft.
Aber gerade im Bereich der neuen Technologien müs-sen wir Frauen noch aufholen; das ist die Wahrheit. In denneuen Medienberufen haben wir nur einen Frauenanteilvon 25 Prozent.Von allen Internetnutzern in Deutschlandsind nur ein Drittel Frauen – damit liegen wir in Europaunter dem Schnitt. Deshalb ist es extrem wichtig, heutevor allem den Zugang von jungen Frauen und Mädchenzu den neuen Technologien zu fördern. Wir müssen ihnenChancen bieten und ihr Interesse wecken – und das mussin der Schule anfangen.Ich unterstütze die Initiative „Frauen ans Netz“ aus-drücklich – das ist natürlich eine gute Sache –, aber sie al-leine reicht noch nicht aus.Das Wichtigste ist doch, dass Sie den Frauen nach dieserguten Ausbildung auch eine Berufsperspektive geben,dass gerade in den neuen Technologien Arbeitsplätze ent-stehen. Hier höre ich von Ihnen auch wieder nur: EU,quantifizierbare Ziele, neue Aktionspläne, Programme,Sofortprogramme. Aber das ändert doch nicht wirklich et-was an den Strukturen.
Wir müssen dazu kommen, dass wir unsere Strukturengerade jetzt ändern.
Wir brauchen eine moderne Wirtschaftspolitik, damitneue Arbeitsplätze in den Zukunftsbranchen entstehen,gerade für uns Frauen.Vielen Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Krogmann, eswäre für mich ganz interessant gewesen, von Ihnen zu er-fahren, welche Strukturen wir denn brauchen und wie einemoderne Unternehmenspolitik aussehen soll.
Ich möchte hier die verschiedenen Positionen gegen-überstellen, ohne noch einmal auf alles einzugehen. FrauKollegin Fischbach hat gesagt, wir müssten Teilzeitarbeitfördern und man müsse fortführen, was die alte Bundes-regierung begonnen hat. Wir legen einen Gesetzentwurfvor, der einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit bein-haltet, sofern dem keine betrieblichen Gründe entgegen-stehen. Dazu wird von Ihrer Seite gesagt, damit würdenwir wieder neue Strukturen schaffen, die das Wirtschafts-wachstum behindern.
Ganz im Gegenteil, meine liebe Kolleginnen und Kol-legen: Das behindert nicht das Wirtschaftswachstum.Jene, die Sie uns immer als die so genannten großen Wirt-schaftsfreunde vorstellen, nämlich meine Nachbarn, dieNiederländer, haben einen Rechtsanspruch auf Teilzeitar-beit für Männer und Frauen, und zwar einen generellen.Wir gehen die Aufgabe an, wirklich familienfreundli-che Strukturen in Betrieben zu ermöglichen. Mit demElternzeitgesetz haben wir den ersten Schritt gemacht,weil wir es für richtig halten, dass sich junge Eltern fürihre Kinder Zeit nehmen und dass es eine Chance gibt,Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können.Wir machen in der Arbeitsmarktpolitik den zweitenSchritt, indem wir sagen: Wir wollen überall da, wo esder Betrieb ermöglicht, einen Anspruch der Menschenauf Teilzeitarbeit verankern. Dies ist auch deshalb not-wendig, weil jeder weiß, dass Arbeitszeitpolitik einInstrument der Beschäftigungsförderung, aber auch einInstrument moderner Unternehmenspolitik ist.
Das Denken, dass der teilzeitbeschäftigte Vater nur et-was lethargisch und zu faul zum Arbeiten ist, haben zwarviele Unternehmensleitungen noch in ihrem Kopf, aberdas ist nicht gerade das, was man unter „just in time“ ver-steht, wenn es um die Unternehmensführung geht. Washeute von den Kollegen und Kolleginnen der beiden Ko-alitionsfraktionen vorgestellt worden ist, sollte uns alsozumindest Anlass geben, einmal darüber nachzudenken.Ich bin davon überzeugt, dass uns starre Gesetze nichtshelfen. Wir können vieles beschließen, aber damit habenwir noch nicht die Unternehmenspolitik verändert. Wennwir aber jetzt den vorgeschlagenen Weg gehen, legen wires in die Verantwortung der Sozialpartner, dafür zu sor-gen, dass das, was wir im Grundgesetz gemeinsam verab-schiedet haben, umgesetzt wird, nämlich dass Männerund Frauen in diesem Land gleichberechtigt sind. Es istdaher auch Aufgabe des Staates, bestehende Ungleichhei-ten abzubauen. Dies ist ein Weg, der auf Verantwortungsetzt, der darauf setzt – wie hier gesagt wurde –, dass jedeBranche, vielleicht auch jeder Betrieb anders ist.Lassen Sie uns doch diesen Weg gehen! Wir brauchenuns hier ja nicht zu erzählen, dass neue Arbeitsplätze ge-schaffen werden müssen. Das wissen wir doch. Wir habeneine Unternehmensteuerreform gemacht, die in diesemLande erst einmal wieder ein positives Investitionsklimaerzeugt.
– Das mag an Baden-Württemberg vorbeigehen – daskann ich nicht so ganz beurteilen –, aber wir versuchenwirklich, mit einer vernünftigen Arbeitszeitpolitik, mit ei-nem vernünftigen Beschäftigungsförderungsgesetz alldas zu ermöglichen, was wir an Flexibilität brauchen.Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Flexibilität bedeu-tet nicht Schutzlosigkeit. Schutzlosigkeit der Arbeitneh-
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Dr. Martina Krogmann11598
merinnen und der Arbeitnehmer wird es mit uns nichtgeben.
Deshalb wird die Frage der Frauenbeschäftigung sehreng damit zusammenhängen, inwieweit es gelingt, Be-schäftigung zu organisieren. Jetzt ein kurzes Wort zurKollegin Fischbach: Frau Kollegin Fischbach, ich kannIhnen hier nicht alles erklären, was wir in der Frage derRentenreform diskutiert haben;
Frau Kollegin Schwaetzer wird mir Recht geben. Es istzwar etwas kompliziert, ich will dennoch versuchen, es ineiner Minute zu erläutern: Mit dem vorliegenden Refe-rentenentwurf des Arbeitsministers wird für die Frauentatsächlich ein enormer Ausbau der eigenständigen An-wartschaften gewährleistet.
Es ist einfach unrichtig – Sie sollten es nachlesen, wennSie mir nicht glauben –, dass nur Teilzeit beschäftigteFrauen gefördert werden. Durch eine Veränderung derRente nach Mindesteinkommen schaffen wir es mit die-sem Referentenentwurf zum ersten Mal, dass auch die An-wartschaften der unterdurchschnittlich bezahlten, Vollzeitbeschäftigten Frauen aufgewertet werden, und zwar in derErziehungszeit bis zum zehnten Lebensjahr des jüngstenKindes.
Es ist nicht nur so, dass Frauen Teilzeit arbeiten, wennsie Kinder erziehen, sondern es ist eine Tatsache, dassFrauen unterhalb ihrer Qualifikation eingesetzt sind undunterdurchschnittlich verdienen, weil sie Kinder habenund Familienarbeit leisten. Das ist doch der Punkt.
Damit, liebe Frau Kollegin, machen wir jetzt Schluss. Wirwerten das auf.Wir berücksichtigen mit diesem Entwurf auch Folgen-des: Es gibt viele Frauen, die nicht erwerbstätig sein kön-nen, weil sie ein schwerst pflegebedürftiges Kind haben.Für diese Frauen wollen wir die Anwartschaft, die sich aufder Einzahlung in die Pflegeversicherung gründet, biszum 18. Lebensjahr des Kindes aufwerten, damit diejeni-gen, die diese Aufgabe wahrnehmen, nicht im Alter dafürbestraft werden, dass sie sich Zeit genommen haben undsich positiv zu einem pflegebedürftigen, behindertenKind bekannt haben. Wir wollen versuchen, das mit derRentenreform etwas auszugleichen.
Frau Kollegin, den-
ken Sie an Ihre Redezeit!
Ich könnte Ihnen hier
noch einige andere Veränderungen aufzählen, die alle ei-
nes anerkennen: Es sind vor allem die Frauen, die die Fa-
milienarbeit und die gesellschaftlich notwendige Kinder-
erziehung leisten und sie sind es eben auch, die Kinder in
die Welt setzen. Das ist einfach so. Wir versuchen, mit un-
seren Gesetzen zur Vereinbarkeit von Kindererziehung
und Beruf, zur Unterstützung der Arbeitsmarktpolitik und
mit der Rentenreform dafür zu sorgen, dass die Frauen,
die alles miteinander vereinbaren wollen, nicht noch be-
straft werden.
Vielen Dank.
Ich gebe Frau Kolle-
gin Fischbach das Wort zu einer Kurzintervention. Sie
müssen mir zugeben, dass ich eine Zwischenfrage nicht
mehr zulassen konnte. Ich wusste nicht, wo ich einhaken
sollte.
Insofern bitte ich um Nachsicht. Frau Kollegin Schmidt
darf darauf dann selbstverständlich auch antworten.
Frau Kollegin, ich
kann mich kürzer fassen. Sie haben sich so in Rage gere-
det, Sie waren ja gar nicht mehr zu unterbrechen. Ich finde
das gut, weil ich insofern mit meiner Äußerung wahr-
scheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen habe.
Sie haben auf meine Frage, wo die nicht erwerbstätige
Frau mit einem Kind in Ihrem Rentenkonzept bleibt, nicht
geantwortet. Ich sage ganz deutlich: Sie gewichten hier
unterschiedlich. Was Sie bei der Teilzeitarbeit machen, ist
ja positiv zu bewerten, aber Sie vergessen einen Teil der
Frauen. Wenn wir von „Wahlmöglichkeiten“ sprechen,
heißt das für mich, dass ich als Frau die Entscheidung sel-
ber treffen möchte, wie ich mein Kind erziehe, das heißt,
ob ich zu Hause bleibe oder erwerbstätig bin.
Und es heißt für mich auch, dass ich dann für die Kinder-
erziehung den gleichen sozialen Ausgleich bekomme wie
die anderen Frauen. Darauf sind Sie nicht eingegangen.
Darauf kann nun die
Frau Kollegin Schmidt eingehen. Bitte sehr.
Frau KolleginFischbach, bei dem von Ihnen angesprochenen Problemmuss man die Frage stellen: Wofür kann die Solidarge-meinschaft der Beitragszahlerinnen und Beitragszahleraufkommen? Wir haben in der Frage, was die Gesellschafttun muss, eine ganze Menge geregelt. Wir haben nämlichdie Anrechnung der Kindererziehungszeiten, die ja richti-gerweise schon 1992 in einem Umfang von drei Jahrenbeschlossen worden war, zu eigenständigen Beitragsleis-tungen gemacht. Das heißt: In diesem Jahr zahlt der Staat22 Milliarden DM in die Rentenkasse, und zwar etwas
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Ulla Schmidt
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über 800 DM pro Kind und Monat für einen Zeitraum voninsgesamt drei Jahren, damit eigenständige Beitragsleis-tungen, die grundgesetzlich geschützt sind, gezahlt wer-den. Damit ist zum ersten Mal Kindererziehung eine Ren-ten begründende Maßnahme.
– Weil sie eigene Beitragsleistungen haben.
– Nein, Herr Kollege, das war vorher nicht. Kindererzie-hungszeiten galten nicht als eigene Beitragszeiten. Das istdas Erste.Das Zweite. Beitragsleistungen von Frauen und Män-nern, die nach dem dritten Lebensjahr ihres Kindes Teil-zeit arbeiten oder unterdurchschnittlich verdienen, wertenwir um 50 Prozent, maximal bis zum Durchschnittsein-kommen, auf. Das gilt für Frauen, die ein Kind haben, bises zehn Jahre alt ist. Bei Frauen, die mindestens zwei Kin-der unter zehn Jahren haben, nehmen wir auch eine ent-sprechende Höherbewertung vor. Wir gehen davon aus,dass die jungen Frauen heute, wenn sie nur ein Kind ha-ben, das mindestens drei Jahre alt ist, in der Regel zumin-dest teilzeitbeschäftigt sind und sein wollen. Dann kom-men sie in den Genuss der Höherbewertung.Wenn sich eine Frau mit einem Kind entscheidet, zuHause zu bleiben,
dann kann – bei aller Frauenfreundlichkeit – nicht mehrdie Solidargemeinschaft dafür aufkommen. Das geht nurdann, wenn Beiträge gezahlt werden. Das ist unser Stand-punkt von Solidarität. Sie können nicht auf der einen Seiteimmer davon reden, dass wir die Rentenversicherung inOrdnung bringen müssen, und auf der anderen Seite nurVorschläge machen, die die Ausgaben steigern. Im Übri-gen, Frau Kollegin Fischbach, hat von den Herren aus Ih-rer Fraktion, die in der Kommission sitzen, wo wir da-rüber gesprochen haben, bisher niemand diesen Vorschlaggemacht. Vielleicht sollten Sie das in Ihrer Fraktion ein-mal klären.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufDrucksache 14/2746, und zwar zunächst zu dem Antragder Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zuneuen Initiativen zur Frauenbeschäftigung. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1195 anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Gegenstimmenund Stimmenthaltungen ist so beschlossen.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS mitdem Titel „Gleichstellung von Frauen und Männern imErwerbsleben“ auf Drucksache 14/1529 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der PDS angenom-men.Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss, den Antrag der CDU/CSU mit demTitel „Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit inDeutschland“ auf Drucksache 14/1549 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Was macht dieF.D.P.? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die F.D.P. hatsich mit denen zusammengetan, die für den Antrag stim-men wollten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe dseiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch dasEuropäische Parlament zu den besonderen Auswirkungender Frauenarbeitslosigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Werfolgt dieser Beschlussempfehlung? – Ich glaube, es kannsich keiner gegen eine Empfehlung aussprechen, etwaszur Kenntnis zu nehmen. Dann haben wir das zur Kennt-nis genommen.Ich danke den kämpfenden Damen für die interessanteDebatte.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen
– zu dem Antrag der Abgeordneten GeorgBrunnhuber, Dirk Fischer , Dr.-Ing.Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUTransrapidprojekt zügig realisieren– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. WinfriedWolf, Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derPDSGesetzliche Verpflichtung zum Bau derTransrapidstrecke Berlin – Hamburg aufhe-ben– zu dem Antrag der Abgeordneten WolfgangBörnsen , Rudolf Seiters, DirkFischer , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUAusbau und Modernisierung der Transra-pid-Versuchsanlage Emsland und Fortset-zung der Planfeststellungsverfahren für dieMagnetschwebebahn-ReferenzstreckeHamburg–Berlin– Drucksachen 14/2359, 14/2524, 14/3183,14/4135 –Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Mertens
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Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeFischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! DerTransrapid ist eine hochmoderne und umweltfreundlicheTechnologie. Er ist sprichwörtlich deutsche Wertarbeit.
Die Bundesregierung ist leider dabei, diese hoffnungs-volle Technologie zu zerstören.
Sie gefährdet dadurch den HochtechnologiestandortDeutschland mit unabsehbaren Folgen für unsere Indus-trie und unsere Wirtschaft.
Nach dem völlig inakzeptablen Bauverzicht auf derStrecke Hamburg–Berlin ist es daher jetzt umso wichti-ger, die Magnetschwebebahntechnologie für unser Landzu sichern. Um es unmissverständlich zu sagen: Innova-tive Politik erfordert auch die Bereitschaft zur Umset-zung, und das heißt: zur Anwendung.
Daher unsere klare Forderung, die Versuchsanlage imEmsland als Referenz- und Demonstrationsstrecke zumodernisieren und auszubauen und die Option für dieTransrapidstrecke Hamburg–Berlin aufrechtzuerhalten.Nach unserer Überzeugung ist die Strecke Hamburg–Ber-lin unverändert wirtschaftlich, konstruktions- und sicher-heitstechnisch möglich, und es war eben ein schlimmerFehler, dieses Projekt, in das viel Geld investiert wordenist, zu zerstören.
Es ist für uns ganz klar, dass eine maximale Kosten-obergrenze bei 6,1 Milliarden DM – „und keine Markmehr“, wie es immer hieß – nicht hätte eingezogen wer-den dürfen. Die Preisentwicklung und die Kostensteige-rung durch Planungsverbesserungen, auch ökologischerArt – insbesondere auch, um für die Bevölkerung Pla-nungsverbesserungen zu realisieren – hätten wie bei sämt-lichen anderen Infrastrukturprojekten in unserem Landeberücksichtigt werden müssen. Wenn Sie zu gleichen Be-dingungen eine Rad/Schiene-Strecke – nehmen Sie dasganz prominente Projekt Köln–Frankfurt –
oder eine Autobahn bauen wollten und diese Messlatte an-legten, wenn also die Rahmenbedingungen lauten, es darfvon der ersten Kostenfestsetzung bis zur Realisierungkeine inflationserzeugte Kostensteigerung geben und Pla-nungsverbesserungen müssen im Projekt aufgefangenwerden, dann gäbe es in unserem Lande überhaupt keineinziges Infrastrukturprojekt mehr. Das sind völlig irrealeBedingungen, die Sie hier angewandt haben, nur um dieseAnwendungsstrecke zu zerstören. Das ist ein schlimmerFehler, den wir kritisieren.
Der Bauverzicht hat neue Impulse für den Arbeits-markt im Keim erstickt. Tausende neuer Arbeitsplätze imHochtechnologiesektor werden leichtfertig ins Auslandverschenkt, bereits vorhandene in Deutschland verant-wortungslos vernichtet.Die Absage an die Magnetschwebebahn schadet Ham-burg und auch dem Aufbau Ost. Es gibt eben nicht den er-wünschten Schub an Zukunftstechnologie für die RegionBerlin-Brandenburg und den norddeutschen Raum, eineRegion, in der wir dringend solche Technologieschübeund Struktureffekte benötigten. Hier entsteht eben nichtdie Entwicklungsdynamik, wie sie in anderen Regionen,auch in Skandinavien, zum Beispiel am Großen Belt, amÖresund, durch sehr teure aufwendige Großprojekte derInfrastruktur zu verzeichnen ist.Auch umweltpolitisch war dies eine haarsträubendeFehlentscheidung. Einem ökologischen Spitzenproduktwird der Durchbruch versagt, obwohl geringe Lärmemis-sion, ein hohes Maß an Energiesparsamkeit, ein sehr ge-ringes Maß an Landverbrauch und andere Vorteile unbe-stritten für diese Technologie und ihre Anwendunggesprochen hätten.Die Bundesregierung hätte das Planfeststellungsver-fahren auf der Strecke Hamburg–Berlin erfolgreich ab-schließen müssen.Wenn das geschehen wäre, dann wäre der Transrapid-Ver-kehrstechnik die künftige Anwendung gesichert worden.Aber die abrupte Beendigung der Planfeststellungsver-fahren durch vorschnelle Rücknahme der Anträge, undzwar kurz vor deren Abschluss, also kurz bevor man dierechtskräftigen Beschlüsse hätte entgegennehmen kön-nen, hat mehrere Jahre Planungsarbeit zerstört und hatdazu geführt, dass Gelder des Industriekonsortiums undder Steuerzahler in einer Größenordnung von 350 Milli-onen DM weggeworfen wurden, ohne den dadurch er-zielten Effekt zu sichern. Wenn man nicht so übereilt ge-handelt hätte, dann hätte man die Option des Baurechts fürbis zu zehn Jahre aufrechterhalten können. Es istschlimm, wie hier mit dem Geld leichtfertig umgegangenworden ist.
Mehdorns Ankündigung, ein ICE-Hochgeschwindig-keitsverkehr zwischen Hamburg und Berlin, der die Rei-sezeit auf 90 Minuten verkürzen sollte, sei auf einer für350 Millionen DM ertüchtigten Strecke in nur anderthalbJahren möglich, war nur ein Dumpingangebot, um dasTransrapidprojekt Hamburg–Berlin kaputtzumachen.
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Vizepräsidentin Anke Fuchs11601
Hinterher wurden alle – völlig unrealistischen – Ankündi-gungen peu à peu wieder zurückgenommen.
Es sind viele Kollegen hier anwesend, die seine damali-gen Worte noch im Ohr haben: Ich will diese Technologiein meinem System nicht haben; in Deutschland und in Eu-ropa ist das Rad-/Schienen-Netz zu eng, als dass dort einesolche Technologie hineinpassen würde; am Ende ver-kaufen alle ihre Patente ins Ausland, dann gibt es fürmeine Bestellungen ausländische Auftragnehmer – soMehdorn im Ausschuss.Was mutet uns dieser Herr zu, wenn er jetzt eine Ver-einbarung unterschreibt, in der es heißt: „In einer Grund-satzvereinbarung zum Transrapid“ wird „festgestellt, dassdeutsche Magnetschwebetechnik und insbesondere ihreRealisierung in Deutschland von herausragender Bedeu-tung für den Industriestandort Deutschland ist“ – so Meh-dorn, vorher und nachher. Dieser Mann hat in punctoTransrapid bei mir und meinen Kollegen in der Fraktionjegliche Glaubwürdigkeit verloren.
Herr Mehdorn hat die von mir gerade aufgeführten Ar-gumente in der Ausschusssitzung vom 26. Januar 2000nur benutzt, um den Transrapid sterben zu lassen. SeineZusagen sind inzwischen wie Seifenblasen geplatzt. Soenthielt eine Antwort der Bundesregierung auf eineKleine Anfrage vom 14.April keine Angaben zu den Kos-ten und zum Realisierungszeitraum. Mehdorn sprichtheute von einer Realisierung nicht vor 2005. Die unver-meidbare Folge ist im Vergleich zu dem Nahverkehrszeit-maß und -zeittakt des Transrapid eine 40 bis 50 Minutenlängere Fahrzeit auf viele Jahre hinaus.Damit der ICE zwischen Hamburg und Berlin mit mehrals 250 Kilometern in der Stunde fahren kann – das hatuns Mehdorn damals als seine Zielvorstellung angekün-digt –, sind Investitionen von mindestens 11 Milliar-den DM in eine Neubaustrecke notwendig.
Eisenbahn-Bundesamt und Bundesregierung haben ge-sagt: Mehdorn bekommt die für diese Geschwindigkeitnotwendige Ausnahmegenehmigung nicht. Die Bahnplant jetzt eine Ausbaustrecke, auf der eine Strecken-höchstgeschwindigkeit von nur noch 230 km/h möglichist. Es gibt in ganz Deutschland keine Ausbaustrecke, aufder 230 Kilometer in der Stunde gefahren werden können.Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h.Mehr als 50 beschrankte Bahnübergänge müssen durchBrücken und Unterführungen ersetzt werden. Die Instal-lation einer hochgeschwindigkeitstauglichen Signaltech-nik ist erforderlich. Trotz Ausbau muss der ICE alle Bahn-höfe durchfahren, das heißt, Bahnsteige müssen gesichertund das Tempo gedrosselt werden. Die Unglücke vonEschede und Brühl sollten uns Warnung genug sein.Hochgeschwindigkeitsfahrten durch Ortschaften sind einzusätzliches Sicherheitsrisiko und bedeuten zudem Lärm-belästigung und beträchtlichen Mehrverkehr auf derStrecke. Ein ICE ist bereits bei Tempo 200 so laut wie derTransrapid bei Tempo 400. Das heißt also, ein abseits derOrtschaften geführter Transrapid hätte für die Bevölke-rung eine wesentliche Entlastung gebracht.Die Bundesregierung baut potemkinsche Dörfer auf,bei der ICE-Strecke Hamburg–Berlin genauso wie beimMetrorapid in Nordrhein-Westfalen. Vor der Wahl dortwurde versprochen: Die Strecke zwischen Köln und Dort-mund wird geplant. Man tat so, als sei sie nahezu im Bau.Nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen sagt dienordrhein-westfälische Landesregierung: Wir zahlennicht; der Bund kann ja machen, was er will!Das heißt, die Leute werden an der Nase herumgeführtund das Land will keine investiven Mittel zur Verfügungstellen.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Ich will, Frau
Präsidentin, am Ende sagen: Die Modernisierung im Ems-
land bietet immerhin die Möglichkeit, den exportträchti-
gen Transrapid als Hightechprodukt aus Deutschland ei-
ner interessierten Weltöffentlichkeit vorzuführen und den
eigenen Standort zu präsentieren. 28 Millionen DM netto
als maximale Aufwendung pro Jahr bis 2002 sind viel zu
wenig.
Wir brauchen eine Weiterentwicklung und keine bloße
Vorhaltung auf heutigem Niveau.
Die Teststrecke ist von enormer Wichtigkeit.
Herr Kollege, kom-
men Sie bitte zum Schluss. Sie haben Ihre Zeit weit
überzogen.
Es könnte pas-sieren, Frau Präsidentin, dass der chinesische Premier-minister einmal mit dem Transrapid fährt und entschei-det, ihn in Schanghai bauen zu lassen. Wenn am Endeherauskommt, dass die Chinesen uns in der Realisierungin den Schatten stellen und blamieren, weil sie den Mutzur Anwendung haben, dann wird sich diese Bundes-regierung – auch international – endgültig öffentlich lä-cherlich gemacht haben.
Wir sind nicht überzeugt, dass diese Bundesregierungdie Anwendung des Transrapids in unserem Land zu-stande bringt. Es wird nur nach dem Prinzip Hoffnung die
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Dirk Fischer
11602
Fantasie der Menschen bewegt. In Wirklichkeit geschiehtbis zur nächsten Bundestagswahl überhaupt nichts.
Ich begrüße alle un-
sere Besucherinnen und Besucher herzlich, vor allen Din-
gen diejenigen, die tief und fest schlafen.
Nun hat der Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Debatteheute Vormittag über die Bekämpfung von Fremden-feindlichkeit und Rechtsextremismus hat unser KollegeWesterwelle berechtigterweise sein Befremden darüberausgedrückt, mit welchem Zeitaufwand und zu welchenTageszeiten manche Themen von uns behandelt werden.Ich wundere mich darüber – meine Verwunderungschließt daran direkt an –, dass wir die Debatte über dievon der Realität überholten Anträge der CDU/CSU-Frak-tion und der PDS heute zu dieser Tageszeit führen. Ich binauch darüber erstaunt, dass die CDU/CSU ihr Recht zurAufsetzung eines Tagesordnungspunktes dafür genutzthat, dieses ausgelutschte Thema – Entschuldigung, wennich diesen Begriff benutze – und kein aktuelleres, keinwichtigeres Thema mit uns heute zu debattieren.
Selbst wenn die CDU/CSU-Fraktion meinte, dass we-gen der aktuellen Entwicklung des Transrapidprojektes inChina eine weitere Transrapiddebatte sinnvoll wäre, dannhätte sie, um der Bedeutung gerecht zu werden, nicht ihreveralteten Anträge als Aufhänger für diese Debatte neh-men sollen.Ich will noch einmal den Sachstand darstellen, derdeutlich macht, warum wir guten Gewissens die Anträgeder CDU/CSU-Fraktion und auch den der PDS-Fraktionim federführenden Ausschuss ablehnen konnten undmussten. Ich gehe auf das Datum 25. April 1997 zurück.Da wurde die Eckpunktevereinbarung zwischen demIndustriekonsortium, der Bahn AG und dem Bund überdie finanzielle Abhängigkeit der Realisierung des Projek-tes von der Entwicklung der Investitionssumme beschlos-sen.Vergessen Sie bitte nicht: Für den Bund hat damals IhrVerkehrsminister, Herr Wissmann, unterschrieben. Er hatden Ausgang mit dieser Eckpunktevereinbarung offen ge-halten. Er war es, der die Möglichkeit zur Unterzeichnungder Finanzierungsvereinbarung 1998 nicht wahrge-nommen hat, weil er wegen der finanziellen Entwicklungdieses Vorhabens kalte Füße bekommen hatte. Was ihnleitete, war die Unwägbarkeit, mit der BetriebsführungGewinn und damit einen ordentlichen Werbeeffekt für dieTechnologie zu erzielen.So ist es dann dazu gekommen, dass am 5. Februar die-ses Jahres bei einem Spitzentreffen der Partner der obengenannten Vereinbarung die Feststellung getroffen wurde,dass weder auf der Basis des Eckpunktepapieres nochnach Prüfung alternativer Szenarien das Public-private-Partnership-Modell für die Transrapidstrecke Ham-burg–Berlin realisierbar sei.Die logische Folge ist die Einstellung des Planfest-stellungsverfahrens durch die PlanfeststellungsbehördeEBAauf Antrag der Bahn AG. Im Februar 2000 wurde be-schlossen, dass die Strecke Hamburg–Berlin nicht zubauen ist, dass aber wegen der anwendungsreif ent-wickelten, herausragenden innovativen Magnetschwebe-bahntechnologie eine andere Anwendungsstrecke inDeutschland zu suchen sei. Deshalb sollte die Versuchs-anlage in Lathen befristet erhalten werden: erst bis zumEnde der EXPO und danach zur Sicherung des Know-hows bis zur Entscheidung über eine Alternativstreckeoder bis zur Auslotung der Exportchancen nach Chinaoder in die USA.Ebenfalls am 28. Februar trifft sich die Bundesregie-rung mit den Ministerpräsidenten der Länder und beredet,dass bis Ende März dieses Jahres Vorschläge für Alter-nativstrecken von den Ländern eingereicht werden sol-len. Fünf Projekte, die ich jetzt nicht benennen will, lie-gen für eine Machbarkeitsstudie auf dem Tisch. Dieabschließende Vereinbarung soll spätestens Mitte 2002fallen. Es sind konkrete Verfahrensschritte zwischen derBundesregierung, dem Industriekonsortium und der BahnAG beschlossen worden, die ich jetzt auch nicht im Ein-zelnen aufzählen möchte.
Wichtig ist – um Sie zu widerlegen, Herr Fischer –,dass am 23. August dieses Jahres der Beschluss über einTechnologiesicherungsprogramm für die Magnetschwe-bebahntechnologie in Deutschland gefasst wurde, mit denKomponenten des Erhaltes und der Ertüchtigung der Ver-suchsanlage im Emsland für den Zeitraum vom 1. Okto-ber dieses Jahres bis zum 30. Juni 2002 und der Erweite-rung des Entwicklungszieles für den Transrapid in Bezugauf die Eignung für ein Schnellbahnsystem im öffentli-chen Verkehr. Träger des Programms sind der Bund, diebeteiligten Industrieunternehmen und die DBAG. Die Fi-nanzsumme, die für die Ertüchtigung und den Erhalt derTransrapidstrecke im Emsland in diesem Technologiesi-cherungsprogramm vereinbart wurde, ist nicht nur eineAlibisumme, sondern sie ist auch nach Abschätzung derNotwendigkeiten mit der Industrie zustande gekommen.Sie können hier nicht sagen, dass diese 28 Millionen DMzu wenig für die Aufgaben, die zu leisten sind, wären.Wir haben allerdings auch als Bundestag eine Verant-wortung, wenn die Zeitspanne bis 2002 für den Anteil, fürden die Bundesregierung die Verantwortung übernommenhat, wirksam werden soll; denn diese Beschlüsse sindnatürlich haushaltsrelevant. Ich bin gespannt, ob wir dieTransrapidbefürworter der Opposition auf unserer Seitehaben werden.
Nach der Entscheidung gegen die TransrapidstreckeHamburg–Berlin hat unser Kanzler, Gerhard Schröder,
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Dirk Fischer
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gesagt, dass er und die Bundesregierung alle Bemühun-gen um einen Export des Transrapid unterstützen wol-len.
Dies ist nicht nur als Trostpflaster dahingesagt worden;denn wir erleben in diesen Tagen, dass eine Entscheidungüber die Erstanwendung in Schanghai unmittelbar bevor-steht. Ich persönlich habe den Eindruck, dass durch eineEntscheidung für den Bau in China – erst einmal auf einerZubringerstrecke für den Flughafen Pudong,mit der Op-tion auf Erweiterung für die Fernstrecken – die Frage derAnwendung des Transrapid einen neuen Drive bekom-men wird, und zwar in Deutschland und auch in Bezug aufdie Verhandlungen in den USA, die Minister Klimmt aufseiner Reise vom 8. bis 12. Oktober dort führen wird. Wirwünschen ihm viel Erfolg bei diesen Verhandlungen.
Ich glaube, dass ich mit diesem Überblick über den ak-tuellen Sachstand deutlich machen konnte, warum wir inder SPD-Fraktion die inhaltlich überholten Anträge abge-lehnt haben und der Beschlussempfehlung des federfüh-renden Ausschusses zustimmen werden.Danke.
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Michael Goldmann, F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-sen Sie mich in Antwort zu der Rede von Ihnen, Herr Kol-lege Weis, sagen: Da unterscheiden wir uns. Ich halte dasüberhaupt nicht für ein ausgelutschtes Thema, sondern ichhalte das für ein außerordentlich wichtiges Zukunfts-thema, ein Technologiethema.
Herr Kollege, Sie müssen sich da schon ein bisschen sys-tematischer vorbereiten. Wir reden nicht nur über An-träge, sondern auch über eine Große Anfrage der F.D.P.Das müsste man Ihnen eigentlich auch gesagt oder auf-geschrieben haben.
Ich denke, dass sich aus der Antwort der Bundesregie-rung Diskussionsnotwendigkeiten ergeben. Ich bin schonein bisschen erstaunt, wie Sie damit umgehen. Es ist ja in-teressant, wie Sie Ihre ganze Redezeit auf eine Personfixieren und dass anscheinend Ihrer Meinung nach alleanderen nichts dazu zu sagen haben.
Herr Kollege Weis, es ist ja auch nicht ganz uninteressant,mit welcher Macht sich die Regierung und die Regie-rungsvertreter jetzt in dieses Thema einbringen, obwohldas Haus ja breit besetzt ist – fünf Staatssekretäre und einMinister. Ich finde es gut, dass der Minister nach Amerikafährt und dort für den Transrapid kämpft. Ich fände esnoch besser, wenn wir ihm vielleicht auch aus dieserRunde das eine oder andere Argument mit auf den Weggeben könnten.
Das Thema ist also nicht ausgelutscht, sondern vielmehrhochaktuell. Das Thema ist auch nicht abgearbeitet. Auchdas wollen wir sehr deutlich festhalten.
– Die neuen Erkenntnisse sind durchaus in der Antwortauf die Große Anfrage nachzulesen. Bis zu dem Zeit-punkt, an dem wir die Große Anfrage gestellt hatten, wareben nicht klar, wie es mit der Versuchsanlage in Lathenweitergeht. Es war nicht klar, welche Koordinationen eszwischen der Referenzstrecke und einer Anwendungs-strecke geben sollte. Ich finde es schon höchst spaßig,dass Sie das fragen. Sie haben doch alle Anstrengungenunternommen, um den Transrapid zu beerdigen.
Sie haben doch bis jetzt noch nicht verstanden, welcheökologischen Chancen der Transrapid bietet.
Ich finde es höchst interessant, wie sich die Waage an-gesichts der aktuellen Diskussion um Mineralölpreise und-besteuerung zugunsten des Transrapid verändert. Daswird eine hochspannende Diskussion werden, die wir hierzu führen haben.
Es ist deswegen gut, dass das Thema hier heute behandeltwird.Ich glaube, es ist völlig klar, dass die F.D.P. immer fürden Transrapid war. Wir möchten, dass er endlich schwebtund die Transrapid-Technologie wirklich zu einer Er-folgsstory in Deutschland wird. Ich gebe Herrn FischerRecht, denn auch ich halte es nach wie vor für eine Fehl-entscheidung, die Planung für die TransrapidstreckeHamburg–Berlin einzustellen. Der Transrapid ist in be-sonderer Weise geeignet, Großraumvernetzung sicherzu stellen. Für eine Anwendung in diesen Bereichen ist erin höchstem Maße qualifiziert.Ich finde es auch gut, Herr Kollege Weis – das habenSie ja auch angesprochen –, dass jetzt auf der Transrapid-Versuchsstrecke im Emsland zukünftige Möglichkeitender Anwendung, zum Beispiel intelligente Anwendung inregionaleren Verkehren, erprobt werden. Nur mit28 Millionen DM ist das mit der derzeitigen Strecke, so
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Reinhard Weis
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wie sie dort besteht, überhaupt nicht machbar. Sie müss-ten aus der Antwort der Bundesregierung auf unsereGroße Anfrage Ableitungen herstellen. Sie müssten sichdafür engagieren, dass die Strecke im Emsland besserwird. Ich war ja nun dabei, als die chinesischen Vertreterdort herumfuhren. Wenn ein Chinese hinterher keineMiene verzieht, aber sagt, er habe Kopfschmerzen, dannweiß ich ziemlich genau, was er sagen wollte.
Die Strecke ist im Moment in keinem verkaufsfähigenZustand. Das muss man ganz klar sagen.
Die Technologie, die dort erprobt wird, muss sich durchden schlechten Zustand der Strecke unter Wert verkaufen.Das müssen und wollen wir doch auch gemeinsam än-dern, wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf un-sere Große Anfrage richtig verstanden habe.Ich habe mich gefreut, als ich die Antworten las, es gibtnun nämlich für zwei Jahre Klarheit für Anwendungen inLathen und intensive Bemühungen, eine Strecke inDeutschland zu finden, wo diese Technologie zur Anwen-dung kommt. Oder sind die Antworten, die dort stehen,alle gelogen? Sind wir uns da einig?
Wir tun jetzt alles, damit die Situation in Lathen besserwird und dort vernünftige Erprobungen stattfinden kön-nen. Parallel tun wir alles, damit eine Anwendung inDeutschland möglich wird. Oder ist das alles dummesZeug, wenn dort niedergeschrieben steht, dass man diesefünf Strecken erproben, untersuchen und für diese fünfStrecken Machbarkeitsstudien erstellen will? Wollen Siewirklich, dass das gemacht wird? Wollen Sie wirklich,dass es zu einer Anwendung in Deutschland kommt?Dann müssen Sie das auch ausführen, was in guten Wor-ten in der Antwort geschrieben steht.
Dann müssen Sie zum Beispiel deutlich machen, was dasheißt: Ressourcen bringen, um im Rahmen eines Techno-logiesicherungsprogramms die Weichen zu stellen, damites zur Anwendung in Deutschland kommt.
Dafür ist sicherlich viel mehr nötig als nur Geld bereit-stellen. Vielmehr müssen alle Beteiligten intensiv auf eineAnwendung hin arbeiten. Insofern ist die Große Anfrage,die wir gestellt haben, und die Antworten, die wir bekom-men haben, ein Beitrag dazu, dass der Transrapid – ichsage das einmal so – wieder richtig ins Leben kommenkann.Wir waren in Sorge – das waren Sie doch auch, lassenSie uns doch nicht die Gemeinsamkeiten zerre-den –, dass Arbeitsplätze in Kassel verloren gehen oderdass die Ingenieure die Versuchsanlage in Lathen verlas-sen könnten, weil sie nicht wussten, wie es mit dieserTechnologie weitergehen sollte. Lassen Sie uns doch dieGemeinsamkeiten herausstellen. Lassen Sie uns alles tun,um eine vernünftige zukunftsfähige Versuchsanlage ge-meinsam auf den Weg zu bringen, auf der wir das erpro-ben können, was den Transrapid noch intelligenter, nochbesser und noch ökologischer macht. Ich bin hundertpro-zentig dafür, dass wir Begegnungsverkehre erprobenund dass wir Nahverkehre erproben.
– Nein, dafür ist das Geld eben nicht da. Schauen Sie inden Haushalt hinein!
– Natürlich, er ist im Fernstreckenbereich erprobt. HerrHasenfratz, was soll das? Fragen Sie mich oder fragen Siein den Raum? Dann erbitte ich auch, dass Sie meiner Ant-wort zuhören. Er ist in dem Bereich anwendungsreif, indem er bis jetzt erprobt worden ist. Er ist als Nahver-kehrsmittel nicht in dem Maße erprobt, das wissen Siedoch auch. Wenn Sie Strecken aufzeigen, die Nahver-kehrscharakter haben, müssen Sie auch zur Erprobungvon Nahverkehrsnotwendigkeiten Ja sagen. Das ist zwin-gend, das ergibt sich. Dafür müssen Sie die Weichen stel-len.
– Vielleicht bin ich sogar ein Stück naiv. Ich glaube Ihnenvon den Sozialdemokraten, dass Sie eine vernünftige Ver-suchsanlage und dass Sie eine Anwendung in Deutsch-land wollen. Ich hoffe, dass Ihr Minister nicht nur hilft denTransrapid nach Amerika und nach China zu verkaufen,sondern dass wir diese Technologie, die für unser Landbesonders wichtig ist, auch hier zur Anwendung bringen.Ich vertraue nach wie vor darauf, dass Sie die Grünen, diein dieser Frage eine andere Position haben, dazu bewegen,endlich eine gute Technologie in Deutschland zur An-wendung zu bringen. Wir könnten schon viel weiter sein.
Noch haben wir Vorsprung gegenüber den Japanern.Die Japaner schauen nach wie vor neidisch zu uns herü-ber. In einer Technologie tun sie das noch und das ist dieseTechnologie.
Deswegen bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns dieGemeinsamkeit untermauern! Erproben jetzt, anwendenspäter – lassen Sie uns diesen doppelten Schritt gemein-sam tun, damit dies endlich zur Anwendung in Deutsch-land kommt.Herzlichen Dank.
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Hans-Michael Goldmann11605
Jetzt hat das Wort dieKollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/DieGrünen.
Kollegen! Ich begrüße Sie zu unserer monatlichen Trans-rapidstunde. Ich freue mich auch auf den nächsten Antrag,den wir bald bekommen werden, damit wir uns über die-ses Thema weiter regelmäßig austauschen und uns dieneuen Erkenntnisse gegenseitig an den Kopf werfen kön-nen.
Als Zweites begrüße ich uns wieder zu einer F.D.P.-Stunde,
in der unsere maximale Steuersenkungspartei maximaleSubventionen anfordert. Das finde ich immer wieder eineerfreuliche Diskussion, die die Widersprüche des Lebensso richtig real zeigt.
Als Drittes kommen wir zur Sache. Herr Fischer, Sieschlagen mit Ihrem Antrag wieder einmal Schlachten vongestern, die Sie schon sehr oft geschlagen haben.
Sie beide fordern immer wieder, dass wir mit einer plan-wirtschaftlichen Methode die Bahn, die unter Ihrer Re-gierung privatisiert worden ist, nach einer Regierungs-pfeife tanzen lassen, was so nicht funktioniert.
Denn das Planfeststellungsverfahren ist auf Antrag derBahn AG eingestellt worden. Sie sollten endlich zurKenntnis nehmen, dass unter Rot-Grün die Bahn ein pri-vatisiertes Unternehmen ist, das auf eigene Verantwor-tung wirtschaftlich agiert und entscheiden muss, wie vieles in die Schiene und wie viel es in einen Transrapid in-vestieren will und wie es ihn betreiben kann.
– Nein, danke, ich nehme keine weiteren Anregungen an.Ich freue mich, wenn wir das Thema in einem Monat neuaufrufen. Ich meine, Herr Fischer, dazu sollten Sie nocheinen neuen Antrag stellen, der Ihnen sicherlich einfällt.Mit der Politik der Regierung, die das ZukunftspaketSchiene auf den Weg gebracht hat, die mit den Investiti-onsmitteln für die Bahn an die Investitionsmittel für dasAuto angeschlossen hat, sodass wir auf diesem Gebietdeutlich aufholen, die sich auf das Bestandsnetz konzen-triert, die die LKW-Maut einführt und die Ökosteuer ein-geführt hat, haben wir ein richtungweisendes Paket für dieStärkung der Schiene bekommen. Es ist, glaube ich, sehrviel wichtiger, dass wir die Konkurrenz zwischen Trans-rapid und Schiene – denn das ist die eigentliche Konkur-renz, um die es in unserem Lande geht –
eindeutig zugunsten der Schiene entschieden haben. Esgeht nicht um die Konkurrenz Transrapid/Auto. Das istvielleicht Ihr Problem, das können Sie mit dem nächstenAntrag zur Diskussion stellen.
Insofern geht es darum, dass sich in einer gemeinsamenEntscheidung die Industrie, die Bahn und die Bundesre-gierung gegen die Referenzstrecke ausgesprochen haben.Sie haben das deswegen getan – jetzt hören Sie genauzu –, weil damals von Ihnen die Investitionskosten unddie Betriebskosten viel zu niedrig kalkuliert wurden undweil die Zahl der Fahrgäste utopisch hoch geschätztwurde. Es hätten Beschäftigungsprojekte in Berlin undHamburg gegründet werden müssen, die täglich nichts an-deres getan hätten, als zwischen Hamburg und Berlin hin-und herzufahren.
Es waren völlig absurde Zahlen, die Sie präsentiert haben.
Der Transrapid ist nicht – in diesem Punkt gebe ich Ih-nen Recht – an der zugrunde liegenden Technologie ge-scheitert,
sondern daran, dass Sie die falsche Strecke unter falschkalkulierten Konditionen bauen wollten. So kann mannicht verfahren.
Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, muss ein solches Pro-jekt seriös durchkalkulieren, wenn er es erfolgreich aufden Weg bringen will. Sonst besteht die Gefahr, dass derSteuerzahler hinterhersubventioniert, ohne dass irgend-wann ein Ende in Sicht ist. Dafür steht unsere Politik ein-deutig nicht.
Es ist ein ganz wesentlicher Schritt nach vorne, dassdie Bundesregierung nun die Strecke zwischen Hamburgund Berlin völlig unbürokratisch ausbauen will – das ha-ben Sie über Jahre verhindert –, damit man schneller vonHamburg nach Berlin und umgekehrt fahren kann. Damitwird zu sehr günstigen Bedingungen die Fahrtzeitverkürzt. Das Gerücht, dass der Ausbau der Strecke
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Hamburg–Berlin 10 Milliarden DM kosten würde, müs-sen Sie uns sozusagen einmal aufdröseln.
Mit Kosten von 1,2 bis 1,5 Milliarden DM schaffen wires, dass die Fahrzeit enorm verkürzt wird, sodass manzum Beispiel auch zum Bundestag schneller fahren kann.Ein nächster Punkt. Der Transrapid hätte bei der Bahnein jährliches Defizit von 125 Millionen DM verursacht.
Unsere Bemühungen, die Bahn bei der Sanierung zu un-terstützen, nutzen dem ganzen Land und sind viel wichti-ger, als eine Spielzeugstrecke zu betreiben, wodurch dasDefizit der Bahn noch weiter anwachsen würde.
Ich bleibe also bei unserer Kritik.Wenn es den Unternehmen gelingt, Aufträge aus demAusland an Land zu ziehen, dann begrüßen wir dies undunterstützen sie darin auch. Niemand spricht dagegen.Herr Weis hat sich zu diesem Punkt schon eindeutiggeäußert. Das ist also kein Problem. Es geht aber nicht,dass der Steuerzahler ständig weiter für ein Projekt zurKasse gebeten wird, das in den letzten acht Jahren nichtbewiesen hat, dass es in der Form lebensfähig ist, in derSie es konzipiert hatten. Das sollten Sie endlich einsehen.
Ich bin überrascht,
dass die Redezeit nicht ausgeschöpft wird. Das liegt wohl
daran, dass schon bekannte Argumente zu diesem Thema
ausgetauscht werden.
Als Nächster spricht der Kollege Dr. Winfried Wolf,
PDS-Fraktion.
Werte Frau Präsidentin!Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben beim ThemaTransrapid, wie es die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohligschon gesagt hat, immer wieder alte Schlachten von vor-gestern. Das wird auch durch den Schlingerkurs deutlich,den die SPD und die Grünen steuern.Wir hatten in den Jahren 1998/99 eine Wackelpartie. Indiesen Jahren hieß es, die Strecke werde doch gebaut. Da-mals wurde gesagt, dass eingleisig gebaut wird, um denKostenrahmen einzuhalten. Aber seit Anfang 2000 habenwir die lobenswerte Situation, dass die Transrapidverbin-dung Berlin–Hamburg nicht gebaut werden soll. Dafür istder Koalition und auch Herrn Mehdorn Respekt zu zollen.Dennoch läuft die Förderung des Transrapidsweiter.Eigentlich müsste die CDU/CSU und auch die F.D.P. demBeifall klatschen. Allein im Haushalt 2001 sollen nocheinmal 87 Millionen DM für den Transrapid ausgegebenwerden.
Wie Sie wissen, Herr Goldmann: 20Millionen DM für dieVersuchsanlage im Emsland, 50 Millionen DM für dieWeiterentwicklung und 10 Millionen DM für die Bepla-nung, wie es so schön heißt.Das bedeutet aber unserer Ansicht nach, dass manschlechtes Geld noch einmal schlechtem Geld hinterher-wirft. Wenn man sich anschaut, dass sich SPD und Grünerühmen, im Rahmen des Solardächerprogramms 33 Mil-lionen DM auszugeben, und behaupten, dass das wirkenwürde, dann muss ich sagen: Mehr als doppelt so viel wirdfür die Technik Transrapid weiter ausgegeben.
Herr Goldmann, es geht nicht um die Frage: Technik-feindlichkeit – ja oder nein? Es geht auch nicht darum,dass wir alten Ressentiments frönen würden. Es gehtvielmehr darum, dass der Transrapid seit 20 Jahren ent-wickelt wird und über 3 Milliarden DM ausgegeben wur-den. Es geht auch darum, dass im Emsland jämmerlicheResultate erzielt wurden und dass selbst die Industrie, dieder F.D.P. so nahe steht, vom Transrapid Abstand nimmt.Gestern hat laut „Financial Times Deutschland“ Adtranz,der Fahrzeugbauer des Transrapids, erklärt, dass sie wahr-scheinlich nach Übernahme durch Bombardier ganz ausdiesem Projekt aussteigen werden.Jetzt heißt es im CDU-Antrag, dass die Strecke imEmsland endlich zweigleisig gebaut werden soll, „um sopraxisgerecht wie möglich sowohl den Gegenverkehr alsauch den Halt des Transrapid zu demonstrieren.“ Nach ei-nem Vierteljahrhundert will man den Transrapid endlichpraxisgerecht konzipieren. Während uns bisher immergesagt wurde, man bräuchte keinen Gegenverkehr, das seikein Problem, man habe alles im Simulator, heißt es jetzt,dass man unbedingt Gegenverkehr – es heißt richtig: Be-gegnungsverkehr – braucht, um dies demonstrieren zukönnen.
Jetzt sprießen die Konkretisierungen aus dem Boden:Schanghai. Ich hätte nicht gedacht, dass der alte Satz vonKurt Georg Kiesinger, den er 1969 im Bundestag gesagthat: „Ich sage nur: China, China, China“, so aktualisiertwerden könnte. Sie haben richtig berichtet, Herr Goldmann,dass der chinesische Ministerpräsident
– ich habe es gehört – nach der Fahrt im Emsland – wieSie sagten – keine Miene verzogen und gesagt hat, erhabe Kopfschmerzen. Warum aber gibt man ihm
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Franziska Eichstädt-Bohlig11607
kein Aspirin, statt ihm neues Geld für den Transrapidhinterherzuwerfen?
Konkrete Projekte sprießen auch aus dem Boden, wenngesagt wird, man müsse jetzt Metrorapid machen, alsoeine Turbostraßenbahn bauen. Ein Projekt, von dem eshieß, es müsse im Fernbereich angewandt werden – da ha-ben Sie Recht –, es solle 500 Kilometer pro Stunde fah-ren, jetzt bei Entfernungen von 30, 40 oder 50 Kilo-metern einzusetzen, ist einfach völliger Blödsinn.
Ich erlebe es auch in meinem Bundesland Baden-Würt-temberg. Jetzt wird darüber diskutiert, Tübingen undStuttgart mit dem Metrorapid zu verbinden. Es gibt eineBahnstrecke. Man könnte eine kürzere bauen. Aber nein,jetzt soll es plötzlich einen Metrorapid geben. Selbst dieGrünen werden da weich. Der Landtagskandidat Palmerhat gemeint, er müsse sich das Projekt konkret anschauen;er würde es gerne begrüßen.Wir, die PDS, haben in unserem Antrag nochmals insBewusstsein gerufen, dass es ein Magnetschwebebahn-bedarfsgesetz gibt. Das ist sehr kurz und präzise.
– Ja, da habe ich Recht. – Darin steht – ich zitiere –:Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnet-schwebebahnbedarfsstrecke von Berlin nach Ham-burg über Schwerin. Die Feststellung des Bedarfs istfür die Planfeststellung nach § 2 des Magnetschwe-bebahnplanungsgesetzes verbindlich.Also, es besteht Bedarf und zweitens ist die Feststel-lung verbindlich. – Beifall und Nicken bei den Parteiender alten Koalition. Das heißt aber doch: Wenn man dasGesetz nicht aufhebt, dann bleibt es bei dieser gesetzli-chen Verbindlichkeit. Deswegen sagen wir: Auf ein kur-zes, knackiges Gesetz bedarf es eines kurzen Antrages,der quadratisch, praktisch, gut ist.
Meiner Meinung nach lässt derjenige, der unserem An-trag nicht zustimmt und es bei der gesetzlichen Verpflich-tung belässt, die Strecke Hamburg–Berlin zu bauen, ent-sprechende Hintertürchen offen; er rechnet damit, dassFolgekosten in Form von Schadenersatzansprüchen aufdie Steuerzahler zukommen können. Dem wollen wir ei-nen Riegel vorschieben.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tauchte eben dieFrage auf, ob die Argumente zu dem Thema eigentlichnicht alle ausgetauscht seien, sodass man deswegen dieRedezeit nicht voll beanspruchen müsse. Ich will Ihnenein aktuelles Beispiel – ich habe es mitgebracht – dafürnennen, weshalb eine Diskussion darüber in Deutschlanddringend notwendig ist. Ich habe die Vereinbarung zurweiteren Behandlung der deutschen Magnetschwebe-bahntechnik dabei. Dabei handelt es sich um eine Grund-satzvereinbarung zwischen Bahn AG, Daimler-Chrysler,Siemens und Thyssen. Sie haben festgestellt, dass diedeutsche Magnetschwebebahntechnik, insbesondere ihreRealisierung in Deutschland, Herr Kollege Weis, vonherausragender Bedeutung für den IndustriestandortDeutschland ist. Diese Vereinbarung ist am 23. Au-gust 2000 unterzeichnet worden.
Jetzt haben wir Ende September. Frau Eichstädt-Bohlig hat hier vor zehn Minuten erklärt, der eigentlicheGegensatz sei die Konkurrenz zwischen Schiene undTransrapid. Ich frage mich, was bei Ihnen eigentlich gilt.Bei Ihnen weiß die Rechte nicht, was die Linke tut. Des-wegen kommen wir bei dem Thema auch nicht voran.
Ich kann mir auch sehr gut erklären, weshalb sich dieBundesregierung zu diesem Thema bislang überhauptnoch nicht geäußert hat; denn wenn sie dies täte, müsstesie den Widerspruch, der dort besteht, aufklären.Herr Kollege Weis – ich schätze Sie persönlich; daswill ich Ihnen ausdrücklich attestieren –, es ist sehr nett,dass Sie auf die Exportmöglichkeiten verweisen und sa-gen, der Bundeskanzler – zum Thema Bundeskanzler undTransrapid sage ich gleich noch einen Satz – werde dies-bezüglich kräftig verhandeln.Wenn Sie es mit dem Export ernst meinen, müssen Sie al-les daransetzen, dass wir eine Versuchsstrecke erhalten,die geeignet ist, den Transrapid exportfähig zu machen.Genau das tun Sie eben nicht.
Der Kollege Goldmann hat eben ganz richtig gesagt:Mit der Summe, die Sie vorgesehen haben, können Siezwar den Betrieb am Laufen halten, Sie sind aber nicht inder Lage, zusätzliche Versuche zu fahren, damit derTransrapid exportfähig wird. Das ist ein Widerspruch.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit etwas zumHerrn Bundeskanzler sagen. Ich habe ihn acht Jahre langals Ministerpräsident in Niedersachsen erlebt. Ich erin-nere mich sehr genau – das ist vielleicht bezeichnend fürsein Verhältnis zum Transrapid; jetzt werde ich vielleichteinigen von Ihnen in der Argumentation entgegenkom-men –, dass er sich erst im Vorfeld der Landtagswahl 1998und der Bundestagswahl 1998, also nach acht JahrenAmtszeit als Ministerpräsident, das erste Mal den Trans-rapid angesehen hat. Das ist sein Interesse an der neuenVerkehrstechnologie. Was hat er damals gesagt? Er sagte:Das ist eine faszinierende Technik, ich bin beeindruckt.Wie jetzt in seiner Regierung mit dem Transrapid in der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Dr. Winfried Wolf11608
Praxis umgegangen wird, erleben wir bis zum heutigenTag. Deswegen muss das Ganze hier erörtert werden.
Ich sehe den Parlamentarischen StaatssekretärScheffler auf der Regierungsbank. Ich erinnere mich anseine Antwort auf die Anfrage der Kollegin Voßhoff vomvergangenen Jahr, in der er auf die Arbeitsplatzeffekte derkonkreten Strecke Hamburg–Berlin hingewiesen hat.Ich freue mich auch, dass der Kollege Robbe hier ist,weil ich seine Einstellung zum Transrapid kenne. Deswe-gen habe ich auch die Hoffnung noch nicht völlig aufge-geben, dass es irgendwann wieder Bewegung im Regie-rungslager geben wird. Dazu müsste es eigentlich jetztschon kommen.Was wollen Sie den Menschen, die an der Erprobungs-strecke im Emsland leben, sagen? Worauf sollen sie sicheinstellen? Sie haben jetzt eine Summe bereitgestellt,die – ich will das ausdrücklich anerkennen – mehr als garnichts ist, die aber so angesetzt ist, dass daraus keine wirk-lichen Zukunftschancen abgeleitet werden können. Des-wegen behaupte ich noch einmal – wir werden darüberhäufig diskutieren müssen –, dass Ihre Politik bezüglichder modernen Verkehrstechnologie des Transrapids vollerWidersprüche und scheinheilig ist.
Das ist für den Wirtschafts- und Arbeitsplatzstandort Bun-desrepublik Deutschland verheerend.
Die Anlage in Lathen – das wissen Sie, Frau Mertens,ganz genau – muss nicht nur gesichert, sondern fortent-wickelt werden. Sie muss in der Lage sein, das, was amComputer simuliert wird, auch in der Praxis zu beweisen.Eine scheintote, gerade am Leben erhaltene Versuchs-strecke nützt im Grunde genommen niemandem so rich-tig.
Im Übrigen geht von diesem Verhalten auch das Signalan die anderen Industrieländer – wir scheinen es bei mo-dernen Technologien so zu handhaben; ich denke bei-spielsweise an Ihre Ausstiegsvereinbarung zur Nutzungder Kernenergie –, die möglicherweise importieren wol-len, aus, dass wir es mit dieser modernen Verkehrstechniknicht ganz so ernst meinen; denn sonst würden wir andereSchwerpunkte setzen.Ich will gern noch einmal unterstreichen, was geradevom Kollegen Goldmann gesagt worden ist. Entschei-dend ist eigentlich nicht, welche Summen Sie jetzt kon-kret zur Verfügung stellen. Entscheidend ist – das mussvom Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen ge-klärt werden –, dass wir den Transrapid tatsächlich wol-len. Dieses Signal muss von Ihrer Politik ausgehen unddas fehlt.
Die Äußerungen der Bundesregierung sind bis in dieletzte Zeit hinein sehr unverbindlich. Am 13. Juni 2000wurde gesagt, die Mittel für die Weiterentwicklung derMagnetschwebetechnik und ihre Anwendung in Deutsch-land – nicht für die Aufrechterhaltung der Versuchsstrecke –sind eingeplant. Am 27. Juni 2000 hieß es, es werde mitder Industrie und der Bahn verhandelt. Am 4. Juli 2000hieß es, die Finanzierung bis Oktober 2000 sei gesichert.Das ist das Ende der EXPO, auf der wir diese Technik alsein beispielhaftes deutsches Projekt vorstellen. Jetzt,Ende August 2000, heißt es, der Weiterbetrieb der Anlage– der für das, was offenkundig auch Sie wollen, nicht aus-reicht – sei bis zum 30. Juni 2002 gesichert.
Ich sage ausdrücklich: Das alles sind Weicheiformulie-rungen.
Sie lassen erkennen, dass die Bremser im Regierungsla-ger offenkundig die Hebel in der Hand halten. Die Brem-ser wissen ganz genau, dass eine andere Referenzstreckenicht unter zehn Jahren zu verwirklichen ist; man müssteeher zwölf oder fünfzehn Jahre einplanen.Deswegen überrascht mich sehr, was zu diesem Themaim Moment in Nordrhein-Westfalen zum Besten gegebenwird. In langen Interviews erklärt der dortige Wirtschafts-und Verkehrsminister, was er alles vorhabe. Wenn manaber nachfragt, wie das konkret umgesetzt werden sollund ob dafür irgendwo ein kleiner Haushaltstitel zur Ver-fügung gestellt wird, dann ist darüber nichts zu erfahren.Sie nehmen die Menschen auf den Arm und machen ihnenetwas vor, weil Sie sich nicht trauen, das zu sagen, was Siewirklich denken, nämlich dass Sie die neue Technik nichteinsetzen wollen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Magnet-schwebetechnik auf dem Weltmarkt eine reale Chancehat. Wichtig aber ist, dass wir uns als Deutsche klar posi-tionieren. Auch die Bundesregierung sollte sich überLippenbekenntnisse hinaus grundsätzlich klar positionie-ren, wie sie das in der Vereinbarung mit der DeutschenBahn AG getan hat. Alle anderen Studien sind ver-schwendete Zeit und sind verschwendetes Geld. Deswe-gen fordere ich Sie auf: Springen Sie über Ihren Schatten!Wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann stimmen Sie un-serem Antrag zu.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin wurde gesagt,dies sei die letzte Schlacht oder die Schlacht von gestern,die wir hier schlagen würden. Ich kann Ihnen von der Re-gierungskoalition versprechen: Wir werden über diesesThema Monat für Monat diskutieren,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Dr. Hermann Kues11609
damit Sie einmal die Wahrheit sagen müssen. Mit IhrenArgumenten, die sie hier vorbringen, drücken Sie sich lei-der Gottes um die Wahrheit herum.Die Grünen wollten den Transrapid wirklich nie; dasmuss man fairerweise sagen. Aber ich muss bekennen,dass ich nicht mehr weiß, was die SPD wirklich will. Sieerklären, Sie unterstützen den Export des Transrapidsnach China. Glaubt in diesem Raum irgendjemand, dassdie Chinesen den Transrapid bauen, wenn sie von unsnicht mindestens einen Zuschuss in der Höhe bekommen,den wir in Deutschland gebraucht hätten? 6 oder 7, 8 oder10 Milliarden DM! Wir geben das Geld nach China unddie Arbeitsplätze sind auch dort. Das kann doch niemandbegreifen. Kann das die Politik von Rot-Grün sein? Ichhabe echte Zweifel, ob das der Sinn dessen ist, was Siehier vortragen.
Es wird hier der Eindruck erweckt, als wäre dieStrecke Hamburg–Berlin so schlecht und so falsch be-rechnet worden, dass man jetzt froh ist, dass sie aufgege-ben wird. Sie tun so, als gäbe es „Geheimstrecken“ inNordrhein-Westfalen, wo schon jetzt Millionen Passa-giere am Fahrbahnrand stehen und nur darauf warten, bissie mitfahren dürfen. Sie alle, die Sie hier sitzen, wissendoch genau, dass in ganz Deutschland alle Strecken genauuntersucht wurden. Man ist zum Ergebnis gekommen,dass auf der Strecke zwischen Hamburg und Berlin diemeisten Fahrgäste wirtschaftlich befördert werden kön-nen:
Zwischen Düsseldorf und Köln kostet die Strecke 14 Mil-liarden DM, zwischen Hamburg und Berlin hätten wir siefür etwa 6,5 Milliarden DM bekommen. Sie waren bereit,6,1 Milliarden DM zu zahlen. Wegen 400 Millionen DMhaben Sie diese Strecke sterben lassen.
Im gleichen Zeitraum haben Sie permanent genehmigt:Der Bau der normalen Schienenstrecke zwischen Kölnund Frankfurt wurde mit 5 Milliarden DM beschlossen,wurde auf 7 Milliarden DM erhöht, kostete 9 MilliardenDM und liegt nun bei 11 Milliarden DM.
Hätten Sie im Haushalt 2000 bei der modernen TechnikTransrapid für 400 Millionen DM mehr Mut gehabt, dannhätten wir diese Transrapidstrecke zwischen Hamburgund Berlin.
Wir von der CDU/CSU haben noch immer die Hoff-nung, dass wenigstens die Kolleginnen und Kollegen inder SPD so fair sind, das anzuerkennen, was der Transra-pid wirklich bewirken kann: Er ist das umweltfreund-lichste Transportmittel, das auf der Welt technisch derzeitmöglich wäre. Er fährt doppelt so schnell, braucht dieHälfte Energie und ist halb so laut wie jeder ICE. Manmüsste die Grünen, die den Transrapid nicht wollen, ge-radezu bremsen; denn er ist gerade das, was sie uns immerwieder vorschlagen: ein umweltfreundliches Verkehrs-mittel. Hier hätten Sie eins und Sie greifen nicht zu. Es istunverantwortlich, was Sie hier für eine Politik betreiben.
Deshalb werden wir als Unionsfraktion nicht locker-lassen. Wir werden darauf bestehen, dass das Planfest-stellungsverfahren für die Strecke zwischen Hamburg undBerlin weitergeführt wird; denn wenn Sie das nicht wol-len, dann werden wir in zehn Jahren immer noch bei derDiskussion sein. Es gibt in Deutschland keine Strecke, dieschneller als die Strecke Hamburg–Berlin gebaut werdenkann. Wir stehen zu dieser Strecke. Wir fordern Sie auf:Handeln Sie!Wir erwarten auf jeden Fall von der Regierung – dieheute leider zu diesem Thema noch nicht einmal gespro-chen hat, auch das muss man einmal festhalten: wie we-nig wichtig es den Damen und Herren der Regierung ist –,dass sie hier Farbe bekennt.
Wenn Sie wirklich den Transrapid wollen, dann führenSie das Planfeststellungsverfahren weiter. Machen Siedazu einen Haushaltsansatz, damit wir im nächsten Jahrmit dem Bau der Strecke Hamburg–Berlin beginnen kön-nen. Das ist die einzige Möglichkeit, damit der Transrapidin Deutschland noch in diesem Jahrzehnt gebaut wird.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen! Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen auf Drucksache 14/4135 zu dem Antrag derFraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Transrapid-Pro-jekt zügig realisieren“. Der Ausschuss empfiehlt unterNr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-sache 14/2359 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen derCDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen wor-den.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss, den Antrag der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/2524 mit dem Titel: „Gesetzliche Verpflichtungzum Bau der Transrapid-Strecke Berlin–Hamburg aufhe-ben“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
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Georg Brunnhuber11610
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-gen die Stimmen der PDS angenommen worden.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/3183 mit dem Titel „Aus-bau und Modernisierung der TransrapidversuchsanlageEmsland und Fortsetzung der Planfeststellungsverfahrenfür die Magnetschwebebahn – Referenzstrecke Ham-burg–Berlin“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.Damit sind wir am Ende der Abstimmungen.Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zur Fortgeltungdes Ladenschlussgesetzes nach den Sanktionengegen eine thüringische Friseurin– Der Kollege Koppelin möchte
zur Geschäftsordnung sprechen.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir fragen nach der Haltung
der Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde. Ich sehe
kein Mitglied der Bundesregierung im Parlament. Ich be-
antrage, dass die Sitzung so lange unterbrochen wird, bis
Mitglieder der entsprechenden Ressorts anwesend sind
und sich zu diesem Punkt äußern.
Möchte noch je-
mand zur Geschäftsordnung reden? –
Das ist nicht der Fall.
Dann lasse ich jetzt abstimmen.
– Es ist vonseiten der F.D.P. beantragt worden, ein Mit-
glied der Bundesregierung herbeizuzitieren. Es gibt keine
weiteren Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Über
den Antrag muss ich jetzt abstimmen lassen. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist abgelehnt.
– Wir sind uns hier oben alle einig. Sie haben gesehen,
dass ich extra noch einmal nachgefragt habe.
Wir beginnen jetzt also mit der Aktuellen Stunde. Als
erste Rednerin rufe ich die Abgeordnete Gudrun Kopp
auf.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Herren und Damen! Ich möchte vorweg nocheinmal meinen persönlichen Unmut darüber zum Aus-druck bringen, dass wir über einen wichtigen Fall, näm-lich über die Kriminalisierung einer Person, die heute hieranwesend ist, sprechen müssen. Das Thema Laden-schluss – das beweist die leere Regierungsbank – interes-siert die Regierung offensichtlich überhaupt nicht.
Ich begrüße an dieser Stelle ganz besonders die betrof-fene Person, wegen derer wir heute diese Aktuelle Stundebeantragt haben: Frau Ilka Brückner, eine mutige Friseu-rin aus dem thüringischen Suhl.
Sie hat – das sage ich mit Bewusstsein – illegale Mond-scheingeister geweckt. Wie das, werden Sie fragen, weilviele den Vorgang wahrscheinlich überhaupt nicht mitbe-kommen haben.Frau Brückner hat um Mitternacht Personen die Haarefrisiert, und zwar für einen guten Zweck. Sie ist dafür we-gen angeblichen Verstoßes gegen das Ladenschlussgesetzzu einer Geldbuße verdonnert worden. Sie weigerte sich,sie zu zahlen, weil sie nach wie vor davon ausgeht, das eseine Spendenaktion gewesen ist. Sie ist nach langem Hinund Her doch tatsächlich inhaftiert worden und hat zweiTage lang im Gefängnis gesessen.
Dieser Vorgang beinhaltet eine Kriminalisierung FrauBrückners. Es zeigt aber auch in eklatanter Weise, wiediese Regierung mit Gesetzen wie dem Ladenschlussge-setz umgeht, an das sie selber längst nicht mehr glaubt
und das längst abgeschafft sein könnte. Dass sie darannicht mehr glaubt, möchte ich an zwei Beispielen belegen;denn das Gesetz wird scheibchenweise aufgelöst.Man bedenke, dass der Bundeskanzler erst vor kurzemim Zusammenhang mit dem Rentenkompromiss jede Be-wegung und jedes Zugeständnis in Richtung Liberalisie-rung des Ladenschlussgesetzes zugunsten des Stillstandesaufgegeben hat. Man bedenke ebenso, dass unser Bun-deswirtschaftsminister laut dpa kürzlich zum Thema La-denschluss gesagt hat – Zitat –:Beim Ladenschluss wird es wie beim Rabattgesetzkommen, das binnen der nächsten 12 Monate wegsein wird. Es gibt Zeitabläufe, innerhalb derer soetwas selbstverständlich wird. Dann werden die
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer11611
Gewerkschaften sagen, die Zustände hätten sich ebengeändert, deswegen werde man nicht mehr in denKrieg ziehen.Das heißt also – darin steckt eine große Brisanz –, einGesetz, an das hochrangige Regierungsvertreter selbstnicht mehr glauben, das sie vielmehr für ihre jeweiligenpolitisch-taktischen Spielchen instrumentalisieren, haltensie aufrecht und lassen es zu, dass, wie gesagt, in Thürin-gen eine rechtschaffene Mittelständlerin ins Gefängnisgesteckt wird. Das ist unglaublich und auch nicht mehrlustig.
Es ist eine Schande für das Rechtsverständnis, das wirBürgern auf diese Weise vermitteln. Es wirft ebenfalls einLicht der Verhöhnung auf alle Politiker, die hier Verant-wortung tragen.
Ich richte in diesem Zusammenhang drei Appelle anverschiedene Gruppierungen, die ich nenne. Den erstenAppell richte ich an den Bundesrat, der morgen über einemögliche Liberalisierung entscheiden wird. Ich bitte denBundesrat, Eigenständigkeit zu beweisen und sich nichtvon Herrn Bundeskanzler Schröder einlullen zu lassen,sondern zu sagen: Jawohl, wir wollen wenigstens die Li-beralisierung voranbringen, wenn auch noch nicht die Ab-schaffung des Gesetzes.Mein zweiter Appell – man scheint hier ja nur mit Ak-tionen Bewusstsein schaffen zu können – richtet sich andie Buchhändler, in der Nacht von Freitag, den 13. Okto-ber 2000, auf Samstag, den 14. Oktober 2000, eine so ge-nannte Mitternachtsparty zum Auftakt des Verkaufes desHarry-Potter-Buches zu feiern. Das ist ein Bestseller, einfantastisches Kinderbuch, das dann erstmals in Deutsch-land vorgestellt werden wird. Dies soll übrigens im Rah-men von legalen Gesetzen geschehen. Damit sind Aufla-gen verbunden, die eingehalten werden. Ich bitte dieBuchhändler, hier mitzuhelfen, uns Modernisierung zulehren und die Liberalisierung auf diesem Gebiet inSchwung zu bringen.
Zum Dritten bitte ich die Öffentlichkeit, Protest-Mailsan die Bundestagsfraktion der F.D.P. oder an mich zu rich-ten, die wir dann an den Bundeskanzler weitergeben. Da-mit wollen wir gegen Stillstand und gegen die Kriminali-sierung von Menschen in unserem Land wegen einerwirklichen Nichtigkeit vorgehen.Ich möchte hinzufügen: Ich finde es bemerkenswert,dass alle Liberalisierungsbestrebungen – bis hin zur Ab-schaffung des Gesetzes, was die F.D.P.-Bundestagsfrak-tion seit langem will – in erster Linie aus den neuenBundesländern kommen.
Frau Kollegin,
ich darf Sie auf das Ende Ihrer Redezeit hinweisen.
Ich komme zum Schluss.
Wir sagen noch einmal herzlichen Dank an Frau
Brückner. Auch das ist für uns hier in Berlin ein Zeichen
von Modernisierung, von Aufgeschlossenheit. Sie aus den
neuen Bundesländern machen uns Mut, auf diesem Weg
weiter voranzugehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gilges.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Da-men und Herren von der F.D.P., ich gestehe, dass ich hiermeinen Zorn unterdrücken muss;
denn es ist in diesem Hause ein einmaliger Vorgang – ichbin seit 20 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages –,dass Sie uns eine Rechtsbrecherin hier auf der Tribünepräsentieren.
– Eindeutig. – Das Oberlandesgericht Thüringen hat einrechtskräftiges Urteil gefällt. Diese Dame ist eine Rechts-brecherin.
Wollen Sie uns demnächst alle Rechtsbrecherinnen in derBundesrepublik Deutschland hier auf die Tribüne setzen?
– Ich verstehe ja, dass Sie als F.D.P. mittlerweile Schwie-rigkeiten mit Recht und Ordnung in unserem Land haben.
Aber solange es Gesetze gibt – unabhängig davon, wieich persönlich zu diesen Gesetzen stehe und ob ich die Ge-setze für richtig oder falsch halte –, habe ich diese Gesetzezu achten. Jeder Arbeitnehmer und jeder Arbeitgeber hatsie zu achten. Keiner darf sich das persönliche Recht he-rausnehmen, das Gesetz so zu interpretieren, wie es ihmgefällt oder er es sich wünscht. Dazu kann auch kein so-zialer Aspekt herangezogen werden.Jeder, der die Straßenverkehrsordnung nicht beachtet,wird mit einem Bußgeld bestraft, tagtäglich. Das gilt auchfür das Ladenschlussgesetz.
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Gudrun Kopp11612
– Das wird auch manch einer, der zu schnell gefahren istund das Bußgeld nicht bezahlt.
Ich beteilige mich hier nicht an Richterschelte; die So-zialdemokraten werden sich auch nicht an Richterscheltebeteiligen. Es kann nicht von einer Kriminalisierung ge-sprochen werden, Frau Kollegin. Wenn ein Richter dasGesetz durchsetzt,
handelt er nach Recht und Ordnung. Das, was wir hier be-schlossen haben, setzt er durch.Man kann über die Frage des Ladenschlusses lange dis-kutieren, aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall wollenSie die Bevölkerung zum Rechtsbruch auffordern. Werdies in diesem Hause tut, handelt gegen Recht und Ord-nung.
Deshalb sage ich zum Schluss – es ist schon ärgerlichgenug, dass wir diese Debatte überhaupt führen –:
Für uns gibt es keinen Handlungsbedarf. Es gibt insbe-sondere keinen Handlungsbedarf in Bezug auf ein Gesetz,wenn ein Rechtsbruch vorliegt. Das gilt für Arbeitgeberund Arbeitnehmer, für Bürgerinnen und Bürger. DerRechtsbruch kann nicht Grundlage von Gesetzesänderun-gen sein.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Grund.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich mich aufdiese Aktuelle Stunde vorbereitet habe, bekam ich ob desThemas manch unfreundlichen Kommentar zu hören:Habt ihr im Deutschen Bundestag keine anderen Themen,als dass ihr euch eine ganze Stunde mit Mondscheinfri-sieren beschäftigen müsst?
Oder etwa: Die gute Frau macht Werbung in eigener Sa-che und ihr helft noch kräftig mit dabei.
Wie dem auch sei: Die Fraktion der F.D.P. hat diese Ak-tuelle Stunde beantragt, um von der Bundesregierung zuhören, was sie zur Fortgeltung des Ladenschlussgesetzesnach den Sanktionen gegen eine thüringische Friseurin zusagen hat. Der Stoff zu dieser Aktuellen Stunde hat esin sich, und er ist ausgesprochen haarig und kopflastig.Aus dem Stoff könnte man einen Wirtschaftskrimi schrei-ben, einen Justizskandal entwickeln, er könnte einer Ope-rette zur Vorlage dienen – wie „Figaros Hochzeit“ – oderdem, was er eigentlich ist: einer Provinzposse. Die F.D.P.hat sich entschlossen, daraus ein Epos zu machen, einHeldenepos.
„Eine Heldin unserer Zeit“ – man spürt förmlich denZeitgeist vorüberwehen. Und als gelernter Mitteldeut-scher und Thüringer erinnert man sich an das Buch „EinHeld unserer Zeit“ des russischen Schriftstellers MichailLermontow, welches wir pflichtgemäß in der Schule zulesen hatten. Bei Lermontow ging es um eine gesell-schaftskritische Betrachtung über eine dekadente Gesell-schaft, die sich selbst zugrunde richtet.Der verehrte Kollege Koppelin von der F.D.P. mit ei-ner westdeutschen oder norddeutschen Sozialisation magdies nicht bedacht haben, als er aus einer Mondscheinfri-seurin eine „Heldin unserer Zeit“ gemacht hat. Er wirdauch nicht an die echten Helden gedacht haben, die ausdem real existierenden Sozialismus bekannt und erinner-lich sind und tatsächlich auch mit Verdienstorden behängtwurden: die Helden der Arbeit, die Helden der Landes-verteidigung, die Helden der Erntekampagne und die Hel-den der Landstraße.Eine heldenhafte Mondscheinfriseurin ist nicht erin-nerlich. Und es wurde auch niemand für einen Gesetzes-verstoß mit einem Orden behängt. Genau darum geht es,nämlich um einen Verstoß gegen das Ladenschlussgesetz.Es ist gegen das Ladenschlussgesetz verstoßen worden;gegen ein zugegebenermaßen antiquiertes, überholtes,ungeliebtes und restriktives Gesetz,
welches nicht mehr in diese Zeit passen will, das aber gül-tig ist, einzuhalten ist und bei dem Verstöße gegen es mitStrafe belegt sind.Auf den Gesetzesverstoß hin haben Ämter und Ge-richte das getan, wofür sie da sind – und wofür die dorttätigen Personen auch bezahlt werden – die Einhaltungvon Gesetzen zu überwachen bzw. Verstöße dagegen zuahnden.
Unverhältnismäßig, kleinkariert, herzlos und bürokra-tisch nennen das manche. Doch welcher Bußgeldbescheidwegen Falschparkens wäre für den Betroffenen nicht un-verhältnismäßig, nicht kleinkariert, nicht unverständlichund nicht bürokratisch?Wir begehen in diesen Tagen den zehnten Jahrestag derdeutschen Einheit und damit auch zehn Jahre rechtsstaat-licher Ordnung in den neuen Bundesländern. Es war nichtvon Anfang an selbstverständlich zu erwarten, dass dieMenschen in den neuen Ländern so schnell die Regularienrechtsstaatlicher Ordnung akzeptieren und verinnerlichen
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Konrad Gilges11613
würden. Man sollte daher heute jemanden für einen Ge-setzesverstoß, und sei es gegen das Ladenschlussgesetz,nicht loben.An diesem Thema wird deutlich: Nicht alles, was ausden alten Bundesländern auf die neuen Bundesländerübertragen wurde, weil es sich im Westen lange Zeit gutbewährt hatte, war per se geeignet, unbesehen auf dieneuen Bundesländer übertragen zu werden. Wie beim La-denschlussgesetz war auch mancher Ladenhüter dabei.
Übrigens stand das Thema Änderung des Laden-schlussgesetzes in diesem Sommer nur für kurze Zeit aufder politischen Tagesordnung. Dann wurde es vonGerhard Schröder schnell weggeräumt. Dies geschah imZuge der Verständigung – besser: des Kuhhandels – zwi-schen Teilen der Gewerkschaften und Gerhard Schröder.Und dieser Kuhhandel lautet: Ihr stört mich nicht bei mei-nen Rentenkürzungen und ich lasse euch euerLadenschlussgesetz. Damit wird es auf absehbare Zeit– Sie werden es morgen erleben, Frau Kollegin Kopp,auch im Bundesrat – keine Veränderung des gültigenLadenschlussgesetzes geben.Daher ist das geltende Ladenschlussgesetz anzuwen-den. Auch ein vermeintlich edles, soziales Motiv ist keineBegründung für einen Gesetzesverstoß. Wer Gutes tunwill, sollte dies innerhalb unserer Rechtsordnung tun.
Und dass sich die Einhaltung des Ladenschlussgeset-zes und Mondscheinfrisieren gegenseitig nicht aus-schließen, beweist ein Blick in den Kalender: So ging am17. Januar 2000 in Suhl die Sonne um 16.15 Uhr unter undder Mond auf –
also beste Zeit für Mondscheinfriseure bei dann hoffent-lich auch Mondscheintarifen.
Das Wort hat dieAbgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Kollegen! So ganz habe ich nicht verstanden, ob dieF.D.P. eine Aktuelle Stunde zum Ladenschluss oder zuSanktionen gegen eine thüringische Friseurin beantragthat. Ich glaube, sie weiß es selber nicht so ganz. Ich je-denfalls habe überhaupt keine Lust, hier im Bundestag da-rüber zu diskutieren, ob in Suhl in diesem Fall die Ver-hältnismäßigkeit der Mittel gewahrt worden ist oder nicht.Das soll vor Ort diskutiert werden; das gehört nicht in denBundestag.
Vielleicht ist es das Problem der F.D.P., dass sie die Dis-kussion in Thüringen nicht führen kann. Aber dann soll siesich um mehr Wählerstimmen bemühen.
Ich möchte hier lieber etwas zum Ladenschluss sagen.Angesichts der Diskussion, die in diesem Sommer auchvon den Wirtschaftsministern der Länder eröffnet wordenist, ist es mir wichtig – das gilt gerade im Hinblick aufOstdeutschland –, dass wir die Diskussion nicht nur ein-dimensional führen und uns darauf beschränken, die An-sprüche von Großunternehmen gegen die Ansprüche vonGewerkschaften abzuwägen, sondern dass wir auch diestädtebauliche Dimension und die Probleme der Innen-städte in die Debatte einführen. Dies ist dem DeutschenStädtetag und dem Gemeindebund ebenfalls sehr wichtig.Von daher werde ich die wenigen Minuten Redezeitnutzen, um dafür zu werben, dass wir uns engagiert überdas Thema City-Privilegien im Ladenschluss auseinandersetzen. Das heißt, wir sollten nicht über eine weitereflächendeckende Freigabe von Ladenöffnungszeitenstreiten, sondern sehr genau überlegen, was wir tun kön-nen, um die Innenstädte zu stärken und ihnen gerade amAbend und am Samstag mehr Besucherströme zuzu-führen. Ich sehe nämlich die große Gefahr einer flächen-deckenden Freigabe darin, dass der Einzelhandel auf dergrünen Wiese, also an den nicht integrierten Standorten,weiter gestärkt wird und dass die Konkurrenz im Einzel-handel insgesamt zu weiterem Dumping führen wird. Wirmüssen schon ernst nehmen, dass der Einzelhandel untereiner sehr harten Konkurrenzsituation leidet, die insbe-sondere den kleinen Unternehmen enorm zu schaffenmacht.
– Das können wir noch genau diskutieren. Das sind dieKernbereiche nach Flächennutzungsplan. Das erforderli-che rechtliche Instrumentarium gibt es. Falls Sie sich imStädtebaurecht nicht auskennen, kann ich Ihnen gerneNachhilfeunterricht geben.Ich würde es begrüßen, wenn wir eine solche Diskus-sion führten, und ich freue mich, dass gerade heute derDeutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Ge-meindebund die von mir erhobene Forderung in einer ge-meinsamen Erklärung in die Öffentlichkeit gebracht undden Bundesrat aufgefordert haben, längere Ladenöff-nungszeiten nur auf die Geschäfte in den Innenstädten zubeschränken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel-und Großbetriebe unterstützt diese Forderung ebenfalls.Indem wir dieser Forderung nachkommen, werden wirbeiden Beteiligten an der heutigen AuseinandersetzungRecht tun: Einerseits werden wir die Ausweitung der La-denöffnungszeiten auf bestimmte Standorte begrenzen, andenen es sinnvoll und wichtig ist, und andererseits werdenwir die Konkurrenz in diesem Bereich etwas strukturie-ren. Dies täte unseren Städten wirklich gut.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Manfred Grund11614
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur der KollegeMöllemann, nein, die ganze F.D.P.-Fraktion ist für Über-raschungen gut. Erstens ruft sie in diesem Hause erstmalszu außerparlamentarischen Aktionen auf und zweitensempfinde zumindest ich es als überraschend, dass Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, den Einsatz für diethüringische Mondscheinfriseurin offensichtlich dazu ge-nutzt haben, Ihre Vorliebe für ein Leben nach dem Mond-kalender zu entdecken. Ich darf Ihnen sagen, was er Ihnenfür heute empfiehlt. Im Mondkalender steht für heute,dass Sie auf Ihre Blase und Ihre Nieren achten müssen
und sich nicht ins Gras oder auf Steine setzen sollen.
Zu spät, kann ich nur sagen. Weder Gras noch Steine. –Mit dieser Aktuellen Stunde haben Sie sich kräftig in dieNesseln gesetzt.
Jetzt zum Ernst der Sache. Die Aktion von FrauBrückner hat, wie ich finde – ich denke, meine Fraktionunterstützt das –, einen zutiefst menschlichen und an-rührenden Hintergrund. Dieses soziale Engagement ver-dient unsere Anerkennung.
Vielleicht ist die Methode ein bisschen versponnen; dazukann man stehen, wie man will. Ein Geschäft jedenfallswar es nicht.
Die Reaktionen der Behörden stehen dazu in der Tat inüberhaupt keinem Verhältnis und sind völlig unakzepta-bel.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., diesnun zu missbrauchen, um Ihr Lieblingsthema Laden-schlussgesetz wieder aus dem Hut zu zaubern, finde ichwirklich mehr als peinlich.
Da wir das Thema nun aber auf dem Tisch haben, möchteich einige Argumente anführen, warum wir von der PDSder Auffassung sind – diesmal sogar in Übereinstimmungmit der Regierung –, dass es hinsichtlich des Laden-schlusses keinen Handlungsbedarf gibt.Natürlich wäre es angenehm – das wissen wir aufgrundder Form unserer Arbeit alle –, rund um die Uhr einkau-fen zu können.
Auch ich stelle fest, dass die Konsummeilen in dengroßen Städten zunehmend an Attraktivität für Freizeit-und Familienvergnügen gewinnen. Das will ich auch nie-mandem verwehren. Aber ich frage Sie: Geht es Ihnendenn wirklich um Verbraucherinnen und Verbraucher?Die haben in der Woche 80 Stunden Zeit, ihren Bedarf zudecken. Mehr Geld wollen Sie ihnen ja auch nicht geben,wenn Sie die Ladenschlusszeiten aufheben. Ich glaube, esgeht Ihnen in der Tat um etwas ganz anderes,
nämlich um die Fortführung von Deregulierung.
Mir und der PDS geht es um die Menschen, die in die-sem Bereich arbeiten. Alle Veränderungen bei den La-denöffnungszeiten – das hat auch die letzte Veränderunggezeigt – gehen zulasten der in diesem Bereich arbeiten-den Menschen, insbesondere zulasten der Frauen.
Ihre Bedingungen verschlechtern sich massiv. Die Ar-beitsplätze werden aufgelöst, aus Vollzeit- werden Teil-zeitjobs.Wir kennen ja die Argumente; wir haben sie hier schonvielfach ausgetauscht. Die Konkurrenz der kleinen Unter-nehmen gegenüber der grünen Wiese nähme unerträglichzu. Das Familienleben spielte sich dort dann nur noch hin-ter dem Ladentisch ab. Es gäbe einen enormen Verlust ansozialen Beziehungen; das wissen Sie ganz genau. – Ichdenke, es gibt eine Reihe guter Gründe zu sagen: Die Aus-weitung der Ladenöffnungszeiten ist völlig überflüssig.Und die Regelung der Öffnungszeiten allein den Kom-munen zu überlassen, halten wir auch für völlig daneben.
Nun noch ein Wort an die F.D.P.: Wenn Sie diese Ak-tuelle Stunde als Zeichen dafür nehmen, dass Sie zukünf-tig unterstützen, dass Dienstleistungen nach dem Mond-kalender erbracht werden, dann können wir ja auf einigesgefasst sein. Zeiten für Restaurantbesuche werden dannausgependelt,
Wäsche wird bei abnehmendem Mond gewaschen, weilman so Waschpulver sparen kann. Wann Fliesen verlegtwerden, bestimmen zukünftig Tarotkarten, und die Inhaltevon parlamentarischen Initiativen werden mit der Wün-schelrute gesucht.
Ich habe den Eindruck, damit haben Sie heute bereits be-gonnen.Noch ein letzter Tipp ganz speziell an Sie: Stiertage imzunehmenden Mond sind gut für Bankgeschäfte, Kauf-verträge und Geldanlagen.
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Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich denke auch, dass dieseAktuelle Stunde eigentlich nur peinlich,
absurd und des Parlamentes nicht würdig ist.
Das müssen Sie als F.D.P. einfach begreifen. Wir wollenmit Ihnen nicht über esoterische Mondscheinsperenzchenreden. Wir wollen mit Ihnen genauso wenig über denWerbegag einer Unternehmerin oder darüber reden, werhier eigentlich wen instrumentalisiert. Die Frage ist doch,ob die F.D.P. die Unternehmerin instrumentalisiert, damitsie uns hier eine Ladenschlussdiskussion aufzwängenkann, oder ob die Unternehmerin möglicherweise dieF.D.P. instrumentalisiert; denn sie hat ihre Werbung bun-desweit so hervorragend organisiert, dass auch diese Ak-tuelle Stunde de facto nichts weiter ist als eine Werbever-anstaltung für ihre Dienstleistung. Das muss man schlichtund einfach feststellen.
Der Zweck heiligt auch nicht die Mittel. Ihrer absurdenLogik können wir wirklich nicht folgen.
Wenn jemand spendet, muss er nicht gegen Gesetze ver-stoßen. Dass es hier im Haus einige gibt, die mit Spendengewisse Probleme haben, wissen wir. Aber darüber soll-ten wir besser an anderer Stelle diskutieren. Das müssenwir nicht in einen Zusammenhang bringen.
Wenn jemand ein Bußgeld nicht bezahlt und derRechtsstaat daraufhin seine Mittel einsetzt, dann ist diesüberhaupt keine Diskussion in diesem Parlament wert;denn dies ist nichts weiter als die Ausübung dessen, wasdie Gerichte machen müssen.Sie behaupten nun, das Ladenschlussgesetz sei nichtmehr zeitgemäß.
Ich frage: Wie sieht es denn bei den Geschwindigkeits-überschreitungen aus, die schon mehrfach erwähnt wur-den? Schaffen wir etwa die Straßenverkehrsordnung ab,weil sie nicht mehr zeitgemäß ist? Denken wir an andereBereiche. Bedauerlicherweise sind die Kirchen meistensleer.
Die Leute gehen nicht mehr regelmäßig in den Gottes-dienst. Ist es deshalb nicht mehr zeitgemäß zu glauben?Viel zu viele Ehen, behaupte ich, werden geschieden. Istes deshalb nicht mehr zeitgemäß, Ehe und Familie unterden Schutz des Gesetzes zu stellen? Nach Ihrer Logikwäre das nicht mehr zeitgemäß. Dieser Logik wollen wirnicht folgen. Über sie können wir nicht diskutieren.
Das, was im Moment nicht zeitgemäß ist, ist der Popu-lismus, den Sie mit dem Thema des Ladenschlusses be-treiben. Das ist peinlich und dem Diskussionsniveau indiesem Parlament nicht angemessen.
Ich möchte Ihnen auch sagen – ich habe noch zwei Mi-nuten Redezeit –, worüber wir gerne reden wollen. Dashängt schon ein bisschen mit der Ernsthaftigkeit der Dis-kussion über den Ladenschluss zusammen, weil es hierabsolut unterschiedliche, aber durchaus berechtigte Inte-ressen gibt, die gegeneinander stehen. Es gibt auf der ei-nen Seite die kleinen Unternehmer, die mehr Umsatz inden Innenstädten haben wollen. Es gibt auf der anderenSeite die großen Konzerne, die ihren Gewinn optimierenwollen. Es gibt auch noch die Verbraucher, von denen lautUmfragen mehr als die Hälfte keine verlängerten Laden-schlusszeiten braucht.
Es stellt sich des Weiteren die Frage, warum denn ei-gentlich die geltende Regelung der Ladenöffnungszeitenbei weitem nicht ausgeschöpft wird. Es stellt sich auch dieFrage, warum uns reihenweise die Untergliederungen unddie Regionalverbände – nicht zuletzt die kleinen und mit-telständischen Einzelhändler aus Berlin, einer Großstadt,der ich Weltstadtcharakter und damit ein Recht auf Libe-ralisierung zugestehe – trotz entsprechender Beschlüsseder Bundesverbände in Briefen inständig darum bitten,ihre Interessen hier entsprechend zu vertreten.
Schauen wir uns auch einmal die Interessen der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel an.Wie sollen die denn angesichts ständig wechselnder Ar-beitszeiten ihre Kinder betreuen? Auch darüber müssenwir uns Gedanken machen. Wie sollen die noch genügendgemeinsame Freizeit haben, sodass sie miteinander Akti-vitäten entfalten und miteinander reden können,
ein Ehrenamt ausüben können und in Vereinen und Ver-bänden aktiv werden können? Alle diese Dinge müssengeklärt werden. Wir wollen, verehrte Frau Kopp, mit alldiesen Betroffenen in Ruhe reden, um zu zeigen, dass wirihre Wünsche und Forderungen ernst nehmen.
– Nein, Sie reden nicht seit zehn Jahren darüber. – Wirnehmen die Betroffenheiten ernst. Wir werden uns in aller
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Ruhe damit auseinander setzen; denn wenn das Laden-schlussgesetz geändert wird, soll es vernünftig geändertwerden, sodass es den unterschiedlichen Interessen derBetroffenen auch tatsächlich entspricht, und zwar auf län-gere Zeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ThemaMondscheinhaarschneiden halte ich in der Tat für ein biss-chen abstrus und nicht wert, hier debattiert zu werden.Nachdem die F.D.P. das Bußgeld übernommen hat, soll-ten Sie von der F.D.P., um das Thema in der Diskussionzu halten, vielleicht darüber nachdenken, ob Sie in derF.D.P.-Geschäftsstelle das „Nachthaarschneideasyl“ ga-rantieren. Damit kommen dann auch Sie einmal in dieZeitung.Ich sage Ihnen deutlich – darin besteht mein Vorwurfan Sie –: Sie haben dem Thema Ladenschluss durch dieseDiskussion nicht geholfen; vielmehr haben Sie es lächer-lich gemacht und ihm geschadet,
weil Sie es den Koalitionsfraktionen erlauben, sich hinterbösartigen Behauptungen zu verstecken, ohne etwas zumThema zu sagen. Das ist leider das Ergebnis.Ich möchte den Versuch unternehmen, dieses Themaanzugehen. Ich halte gerade die letzte Machtentscheidungdes Kanzlers für falsch.
Der Kanzler hat im Wahlkampf entschieden: Innovation,mehr Flexibilität, Vorbereitung auf die Zukunft. BeimThema Ladenschluss ist er als mutiger Tiger gesprungen,aber als Bettvorleger gelandet. Unter dem Bettvorlegerhat er den Ladenschluss erst einmal weggekehrt. Ichfinde, das ist falsch, vor allem deswegen, weil diese Ent-scheidung in Hinterzimmern getroffen worden ist. Es gabVerabredungen mit Gewerkschaften und keiner weiß sogenau, was da verhandelt worden ist.
Das Thema ist erst einmal vom Tisch. Ich halte das fürfalsch, weil ich finde, dass wir darüber reden müssen. Wirkönnen darüber heute offener reden als vor etwa vier Jah-ren, als wir die Entscheidung getroffen haben, zu einerFlexibilisierung zu kommen. Ich erinnere mich an unsereAnhörung im Ausschuss. Es war eine der interessantesten,weil es mindestens 30 oder 35 Verbände gab, die zwar alleeine unterschiedliche Meinung hatten, aber keiner in derLage war zu sagen, warum der Ladenschluss ausgerech-net bei 18.30 Uhr statt bei 19 Uhr oder bei 18 Uhr liegensoll, warum der optimale Effekt hinsichtlich der Gewinn-erzielung und der Einkaufsmöglichkeiten der Verbrauchergerade bei dieser Uhrzeit liegt.
Die Grenzziehung ist sehr schwierig. Deswegen binich persönlich für eine Entwicklung hin zu ein bisschenmehr Öffnung und zu mehr Flexibilität bei den Öffnungs-zeiten in der Woche. Wir sollten über den Samstag ruhignoch einmal in aller Breite diskutieren und wir solltenvielleicht auch darüber nachdenken, wie man Arbeitneh-merrechte sichern kann. Gleichzeitig müssen wir uns da-rüber Gedanken machen, wie wir dafür sorgen können,dass wir den Sonntag wirklich wieder zum Sonntag ma-chen.
Auch das muss ein Ziel dieser Debatte sein.In der Realität gibt es heute überall Entwicklungen, diedie Ladenschlussgesetzgebung durchbrechen. Das fängtdamit an, dass ganze Branchen – Feuerwehr usw. – auchnach dem Ladenschluss arbeiten müssen, weil das uner-lässlich ist. Diese Entwicklung findet auch in anderen Be-reichen statt. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Dort gibtes, um den Bedarf nach Gütern, die man nach der Laden-schlusszeit erwerben möchte, zu befriedigen, ein ganzesSystem von Kiosken – wir nennen sie im Ruhrgebiet Bu-den –, wo man alles kaufen kann. Das ist die Realität. Siealle kennen es, dass man schnell zu Fuß zur Tankstellegeht, um dort etwas zu kaufen, was man vergessen hat.Das heißt, die Entwicklung in der Realität ist längst wei-ter. Gerade eine Politik, die sich vorgenommen hat, Inno-vationen vorzunehmen, muss da ein Stückchen weiterge-hen.Offensichtlich scheuen dieser Bundeskanzler und dieseBundesregierung an allen Stellen, wo es ein bisscheneckig und kantig wird, die Auseinandersetzung, die Dis-kussion der Frage, was passieren muss.
Es wäre schön, wenn die Bundesregierung selber in die-ser Debatte einmal ihre Position zum Ladenschluss deut-lich darstellen würde. Im letzten Jahr wurde gesagt: Wirwarten den Bericht ab.
–Auch Frau Mascher ist entschwunden. Na gut, ich wertedas einmal als Zeichen dafür, dass es sich um Themenhandelt, bei denen der Regierung wirklich der Mut fehlt. –Ich bin dafür, hier eine Debatte zu führen, in der wir in derSache weiterkommen. Es ist schade, dass die Bundesre-gierung in dieser Aktuellen Stunde gar nichts sagt undihren Hinterzimmerbeschluss, den Schröder mit den Ge-werkschaften gefasst hat, nicht öffentlich erläutert, damitwir wissen, wie ihre Position aussieht. Das würde uns si-cherlich viel helfen, doch dazu kommt es nicht. Aber die
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Dr. Margrit Wetzel11617
Zeit schreitet voran und wir werden sachlich miteinanderdarüber reden, wie wir das Problem lösen.Ein Letztes. Ich glaube, dass es ganz egal ist, ob wir sa-gen: Die Geschäfte können bis 20 Uhr, bis 22 Uhr oder bis24 Uhr geöffnet sein. Die Realität hat uns überholt – da-rauf habe ich hingewiesen – und, ganz egal, was wir be-schließen, die weitere Entwicklung wird vor Ort ent-schieden. Vor Ort wird entschieden, wie lange und inwelchen Bereichen die Läden geöffnet sind. Die Men-schen in den Städten wissen das. Wir müssen das Problemlösen, wie die Öffnungszeiten in Großstädten und auf demLande, in den Zentren und den Außenbereichen geregeltwerden. Es erfordert ein bisschen Mut und Realitätssinn,diese Fragen anzugehen. Doch daran fehlt es der Bundes-regierung.Ich sage es zum Schluss noch einmal: Es ist schade,dass Sie von der F.D.P. dieses eigentlich wichtige Themamit dem Mondscheinhaarschneiden ein bisschen insLächerliche gezogen haben.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Kolb.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Meckelburg,wir haben das Thema nicht mit dem Mondscheinhaar-schneiden ins Lächerliche gezogen. Vielmehr zeigt daswieder einmal sehr deutlich, dass es einen Unterschiedausmacht, ob man nur in Sonntagsreden das Hohelied aufden Mittelstand singt oder ob man sich auch konkret inNotsituationen um kleine Handwerksunternehmen vor Ortkümmert.
Genau das tun wir hier und das lassen wir uns von nie-mandem verbieten.
– Das will ich Ihnen gerade erklären.Herr Kollege Gilges, was Sie gesagt haben, war voll-kommen daneben.
Ich will Ihnen den Fall noch einmal schildern. Diese mu-tige Frau – ich muss das hier sagen – ist in Handschellenaus ihrem Geschäft geführt worden, weil sie sich gewei-gert hat, einen Offenbarungseid zu leisten, der ihr ab-verlangt wurde. Das ist der Kern der Dinge.
Dafür ist sie zwei Tage in den Knast gegangen.
Hier werden, Herr Gilges, Ihre alten Feindbilder wiederwach. Wenn das Gleiche einem Arbeitnehmer passiertwäre, wären Sie auf die Barrikaden gegangen. Aber wennes eine Unternehmerin ist, dann haben Sie nichts dagegen.
Hier ging es aber eben nicht um Profitgier, sondern umeine gute Sache. Das ist ein wesentlicher Unterschied.Wenn es Sie beruhigt, Herr Kollege Gilges:
Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung dieEinstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit bean-tragt.
Dann aber hat ein Richter durch eine absolut unverhält-nismäßige Entscheidung dazu beigetragen, dass das ge-schehen ist, was ich geschildert habe, nämlich dass dieUnternehmerin in Handschellen aus ihrem Unternehmenherausgeführt wurde. Es muss uns allen doch ein Anlie-gen sein, dass so etwas nicht passiert.
– Davon habe ich sicherlich schon gehört. Ich habe aberauch schon etwas vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeitgehört.Ich will es allen Vertretern der anderen Fraktionen hierim Hause deutlich sagen: Das hätte nicht passierenmüssen, wenn Sie vor wenigen Wochen unserem Gesetz-entwurf zugestimmt hätten, das Ladenschlussgesetz weit-gehend zu liberalisieren. Dann nämlich hätte diese Frauauch bei Mondschein Haare schneiden können, ohne mitder Keule des Gesetzes bedroht zu werden.
Herr Gilges, hören Sie einmal zu, hier können Sie etwaslernen.
Das zeigt auch den ganzen Widersinn Ihrer Politik. Sieglauben, gegen eine sich wandelnde Umwelt, gegen sichverändernde wirtschaftliche Bedingungen ein Gesetz auf-rechterhalten zu müssen, das niemand mehr will:
das der Einzelhandel nicht mehr will, das die Verbrauchernicht wollen und das die Mehrheit des Bundesrates nichtmehr will. Nur Sie halten krampfhaft an diesem Gesetzfest.
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Wolfgang Meckelburg11618
Dann lassen Sie uns das Gesetz doch ändern!
– Aber sicher!
– Nein, wir wollen das nicht. Sie wollen das vielleicht.
– Herr Gilges, ich weiß ja nicht, auf welchem Stern Sie le-ben. Ich habe aber sehr wohl mitbekommen, dass in denletzten zwei oder drei Jahren ein dramatischer Be-wusstseinswandel bei allen Betroffenen stattgefundenhat. Auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhan-dels, der sich noch vor drei Jahren entschieden gegen eineÄnderung des Ladenschlussgesetzes ausgesprochen hat,ist plötzlich dafür. Das kommt nicht von ungefähr, son-dern hat Gründe. Warum ist das so? Zur gleichen Zeit, alsFrau Brückner bei Mondschein Haare geschnitten hat, ha-ben sich Hunderttausende in Deutschland vor ihren Com-puter gesetzt und ihre Kreditkarte belastet, um Shampoo,Bier oder was oder auch immer zu bestellen.
Von der Bundesregierung – die Frau Staatssekretärinist Gott sei Dank wieder da – hört man weiter nichts, alsdass der Bundeskanzler auf allen Kanälen nach einerKiste Bier schicken lässt. Da kann man nur hoffen, dassder Getränkeladen schon geschlossen ist. Aber wahr-scheinlich wird das unserem Bundeskanzler, GerhardSchröder, auch nichts ausmachen, weil er dann seinenFahrer an die Tankstelle schickt, um ein Six-Pack zuholen.
Nur, das sind doch keine Rahmenbedingungen für einegesunde Entwicklung der Wirtschaft und insbesonderedes Mittelstandes in unserem Lande. Deswegen, liebeKolleginnen und Kollegen, müssen Sie verstehen, dassich mich hier ein bisschen ereifere. Ich bin selbst vonHaus aus Unternehmer. Daher finde ich es unerträglich,wie hier gegen eine wirklich mutige, entschlossene undein Stück weit auch unbeugsame Unternehmerin aus Thü-ringen vorgegangen worden ist. Ist denn das etwasSchlechtes?
Ich hätte mir gewünscht, dass von der Landesregierung inThüringen heute jemand hier gewesen wäre
und erklärt hätte, wie es dazu kommen konnte. Dem Jus-tizminister des Landes würde ich nahe legen, die offen-sichtlich vorhandenen Kapazitäten auf andere Dinge zukonzentrieren – vielleicht auf die Bekämpfung desExtremismus oder auf die Aufklärung von Affären, die esinnerhalb der Landesregierung gegeben hat.
Das wäre sicherlich auch eine lohnenswerte Aufgabe.
Aber bitte nicht mit dem Vorschlaghammer und in Formeines Rundumschlags gegen eine unbescholtene Unter-nehmerin vorgehen! Ich wünsche niemandem, dass er daserlebt, aber ich glaube, es wäre für den einen oder ande-ren einmal heilsam, zwei Tage und zwei Nächte im Knastzu verbringen. Dann würde er über die Sache vielleichtanders denken.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmalhabe ich geschmunzelt, manchmal habe ich gestaunt undin mich hineingehört. Dass das Thema Ladenschluss einesolche Facette hat, war mir neu. Aber wir haben ja schonsehr viele Diskussionen in diesem Hohen Hause erlebt.Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns seit vielenJahren. Es ist kein einfaches Thema, sondern ein unge-mein schwieriges Thema, weil im Zusammenhang mitdem Ladenschluss Regelungen getroffen werden, die fürmanche gut und für manche schlecht sind, die die Inte-ressen des Einzelhandels wie die der Verbraucher und derArbeitnehmer berühren, aber auch die der Kommunen.Weil dieses Thema so vielschichtig ist, ist es auch soschwierig zu entscheiden.Konfliktreich war dieses Thema schon immer. Icherinnere mich noch sehr gut an das Jahr 1996, als die da-malige Regierungskoalition eine Änderung des Laden-schlussgesetzes beschlossen hat. Es gab ewig lange Dis-kussionen. Es gab, Herr Gilges, ein vehementes Nein ausIhrer Fraktion.
Es gab seitens der F.D.P. die Forderung nach einer nochstärkeren Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes. Esgab die Haltung des Einzelhandels, der überhaupt nichtsverändern wollte. Es gab unterschiedliche Auffassungenbezüglich der Regelung in Innenstädten und ländlichenBereichen. Es gab auch die Diskussion, ob man die La-denschlusszeit um eine Stunde verlängern sollte. Ich habedamals gesagt, wir könnten vielleicht mit fünf Minutenanfangen. Wir haben das Gesetz dann geändert. Zumin-dest hat das heute in gewissen Bereichen zu einer Beru-higung beigetragen. Es wurde gerungen und argumentiertund bis zur heutigen Stunde ist dieses Thema emotionalbelastet. Die grundsätzliche Frage, ob man den Laden-schluss vollkommen liberalisieren und freigeben soll,wird uns mit Sicherheit noch eine ganze Weile beschäftigen.
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Dr. Heinrich L. Kolb11619
Es liegt ja ein Antrag vonseiten der F.D.P. auf vollkom-mene Freigabe vor.
– Mein Abstimmungsverhalten gebe ich jetzt noch nichtpreis. Darüber sprechen wir dann später im Ausschuss.Ich stimme Ihnen aber dahin gehend zu, dass all diesäußerst schwierig ist.Auf der einen Seite erleben wir zum Beispiel imEinzelhandel eine starke Konzentration. Diese stimmtmich nicht froh; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.Ich hätte gerne noch das kleine Geschäft an der Ecke, beidem man unterschiedliche Waren bei kompetenter Be-dienung kaufen kann und nicht nur ein Standardsortiment,wie es heute in vielen Städten tatsächlich angeboten wird.Ich sehe aber auf der anderen Seite auch ganz klar, dasswir durch E-Commerce, modernen Handel usw. in dieLage versetzt werden, über Zeiträume hinweg ein-zukaufen, die wir uns früher noch gar nicht vorstellenkonnten.
– Das weniger. Ich gehe normalerweise, sehr verehrterHerr Koppelin, morgens oder abends zum Friseur, aller-dings nicht zu so später Stunde. Da bin ich zu müde undkann das Werk nicht so gut begutachten. Deswegen legeich Wert darauf, etwas früher zu gehen.Die Union erkennt deshalb durchaus an, dass Hand-lungsbedarf besteht und wir darüber diskutieren müssen.An der Stelle möchte ich aber klarstellen, dass wir zu dem,was die F.D.P. hier vorhat, nämlich die Regelungen denLändern zu übertragen, vehement Nein sagen.
– Was Herr Kollege Meckelburg schon für die Union ge-sagt hat, möchte auch ich noch einmal betonen: Der Sonn-tag ist mir und uns heilig. Ich glaube, dass wir für denSonntag eine bundeseinheitliche Regelung brauchen. Dasist wichtig und dafür wird sich die Union vehement ein-setzen.
Mich wundert allerdings, dass die Bundesregierung aufder einen Seite gerne die Ladenschlusszeiten ändernmöchte – Herr Müller hat dies ja angedeutet –, auf der an-deren Seite aber Angst hat, dass die Gewerkschaftengegen eine Neuregelung ihre Basis mobilisieren könnten.Die Bundesregierung hat auch Angst, dass dann ihreRentenpläne möglicherweise nicht mehr von den Ge-werkschaften unterstützt würden.
Um die Gewerkschaften zu besänftigen, sagt der HerrSchröder: Ladenschluss ist derzeit kein Thema.Schade, sage ich. Vielleicht wiederum ein wenig Tak-tik; denn der nordrhein-westfälische WirtschaftsministerSchwanhold hat ja bewusst einen Vorstoß unternommen.
– Ja, er selbst auch. – Der Bundesrat hat ebenfalls signa-lisiert, dass dieses Thema nicht abschließend einseitig be-sprochen worden ist, sondern durchaus noch offen ist.Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 15. September, dassin Kreisen der SPD-Landesregierungen bestätigt wordensei, alle Ministerpräsidenten hätten eingesehen, dass einKonsens mit den Gewerkschaften zur Rentenreform jetztVorrang habe und die Liberalisierung des Laden-schlussgesetzes warten müsse. – Ich glaube, so geht esnicht. Die Menschen hier im Hause, aber auch draußen,der Mittelstand, der Einzelhandel, die großen Geschäfte,die Verbraucher haben ein Recht darauf, zu erfahren, wasdie Bundesregierung zu diesem Thema sagt. Sie wollennicht Opfer taktischer Spielchen werden, sondern siewollen eine berechenbare Politik, die sich am Gemein-wohl orientiert. Wir fordern Sie auf, einen Gesetzentwurfdazu einzubringen.
Diese Regelung soll ausgewogen sein, Herr Gilges. Eswäre an der Zeit, dass Sie noch einmal darüber nachden-ken.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias, CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich daserste Mal von dieser haarsträubenden Geschichte hörte,habe ich an einen gelungenen Werbegag des Zentralver-bandes des deutschen Friseurhandwerks im Vorfeld derjetzt in Berlin beginnenden Friseurweltmeisterschaft„Hair World“ gedacht. Aber eine solche Geschichte kannman offensichtlich nicht erfinden,
die schreibt das Leben selbst.Nach dem, was Frau Brückner widerfahren ist, outeauch ich mich als Täter, mehr noch: als Serientäter. Ichhabe an den vergangenen Wochenenden ebenfalls Haarefür wohltätige Zwecke geschnitten und den Betrag einerKita zur Verfügung gestellt, die aidskranke und HIV-in-fizierte Kinder betreut. Das habe ich in den Vorjahrenauch schon so gemacht.
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Brigitte Baumeister11620
– Wir kommen gleich zu den Kunden. Lieber Herr Gilges,die damalige Arbeitssenatorin Christine Bergmann hatsich ebenfalls schon in meine Obhut begeben.
Da ich dies bereits in den Vorjahren so gehandhabt habe,bin ich wohl als Wiederholungstäter einzustufen, gemein-sam mit dem Obermeister der Friseurinnung Berlin, HansBuschmann, und mit weiteren über 100 Innungskollegin-nen und -kollegen.Auch heute habe ich wieder zum Tatwerkzeug, zurSchere, gegriffen, und zwar gemeinsam mit Ilka Brückner,noch dazu im Bundestag. Mit vielen Friseurinnen undFriseuren ging es mir um drei Dinge: Kollegialität mit IlkaBrückner zu beweisen,
gesellschaftliches Engagement zu zeigen und gegen un-sinnige Gesetze zu demonstrieren.
Um ein solches unsinniges Gesetz handelt es sich beimso genannten Ladenschlussgesetz. Deshalb unterstützeich die vom Land Berlin ausgehende Bundesratsinitiative,die morgen auf der Tagesordnung des Bundesrates steht.Ein Kernpunkt dabei ist, dass Ladenöffnungszeiten jetztmontags bis freitags bis 22 Uhr möglich sein sollen.Damit erhalten Geschäfte erstmals die Möglichkeit, ihreÖffnungszeiten montags bis freitags weitgehend dem tat-sächlichen Bedarf der Kunden anzupassen. Dabei ist klar,dass nur, wenn Kundenströme und Umsatzentwicklung eserlauben, also in den seltensten Fällen, Geschäfte volle16 Stunden am Tag geöffnet sein werden. Kein Händler istverpflichtet, sein Geschäft den ganzen Tag offen zu hal-ten. Es soll lediglich erreicht werden, dass die Öff-nungszeiten variabler und flexibler gehandhabt werdenkönnen, als es gegenwärtig der Fall ist.
Eine weitere Änderung betrifft die Ladenöffnungs-zeiten an Samstagen. Die Ladenöffnung wird bis 20 Uhrgestattet sein.
Damit erhalten die Einzelhändler erstmals die Möglich-keit, ihre Öffnungszeiten auch an Samstagen dem tatsäch-lichen Bedarf der Kunden anzunähern. Auch hier gilt:Niemand ist verpflichtet, sein Geschäft während des gan-zen Tages offen zu halten. Aber gerade für die Samstagehaben viele Geschäftsinhaber eine Verlängerung der La-denöffnungszeit gefordert, um den Wünschen der Ver-braucher besser gerecht werden zu können.Die Aktuelle Stunde hat sich aus den Sanktionen gegenFrau Brückner ergeben. Ich habe in dieser Angelegenheitan den Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringengeschrieben und ihn gebeten, sich ein Beispiel an BerlinsLandesvater Eberhard Diepgen zu nehmen. Der RegierendeBürgermeister hat im Rahmen ähnlicher Aktionen bei mirschon Haare für einen guten Zweck gelassen.
Auch heute waren eine ganze Reihe von Kollegen bei mir– beispielsweise Kollege Koppelin, Angela Merkel undPeter Weiß – und haben Haare für einen guten Zweck ge-lassen.
Ich rufe Dr. Vogel aus dem Bundestag zu: Lassen Siein Ihrem Bundesland keine Haarspaltereien zu! BeweisenSie Köpfchen! Vor allem: Lassen Sie Frau BrücknerGerechtigkeit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßig-keit widerfahren!
Es gibt Gott sei Dank auch Engagement nach Laden-schluss.
Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähig-
keit Deutschlands 1999 und Stellungnahme
der Bundesregierung
– Drucksache 14/2957 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Catenhusen.
W
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Mitdisku-tantinnen und Mitdiskutanten, soweit sie schon im Saalanwesend sind! Den Bericht zur technologischen Leis-tungsfähigkeit Deutschlands, den wir heute beraten, legtdie Bundesregierung schon im zweiten Jahr dem Parla-ment direkt zur Beratung vor. Schon nach dieser kurzenZeit hat der Bericht einen festen Platz in der parlamenta-rischen Beratung gewonnen. Er füllt einen wichtigenRaum zwischen einer rein ökonomischen und einer nurauf technologische Sicht begrenzten Betrachtung der Po-sition Deutschlands in der Welt aus. Im Rückblick auf un-sere Debatte zum letztjährigen Bericht im Januar freue ichmich über die große überparteiliche Akzeptanz und Reso-nanz, die der Bericht schon damals gefunden hat.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Siegfried Helias11621
Wir waren und sind uns hoffentlich darüber einig – zu-mindest im Grundsatz –, dass Investitionen in Bildungund Forschung die entscheidenden Triebkräfte für wirt-schaftliches Wachstum und für neue Arbeitsplätze sind.Das ist auch die zentrale Botschaft des heute zu beraten-den Berichts. Er zeigt: Länder, die vermehrt in Forschungund Entwicklung investieren, legen damit den Grundsteinfür ein höheres Wirtschaftswachstum. Andere Länder, diein ihren F-und-E-Anstrengungen eher zögerlich sind,finden sich dagegen am unteren Ende der Wachs-tumshierarchie wieder. Beispielsweise Finnland hatdiesen Zusammenhang erkannt; denn sowohl bei der In-tensität der Anstrengungen im F-und-E-Bereich als auchbeim Wirtschaftswachstum liegt Finnland heute in Europaan der Spitze.Ein so hohes Wirtschaftswachstum hatten wir inDeutschland in den 90er-Jahren – zumindest bis 1998 –nicht zu verzeichnen. Ein Grund dafür ist auch, dass beiuns in den 90er-Jahren die Aufwendungen für Forschungund Entwicklung von knapp 3 Prozent auf 2,3 Prozent desBruttosozialproduktes zurückgegangen waren. Verant-wortlich dafür war vor allem der Rückgang der Innova-tionsanstrengungen der Wirtschaft. Aber auch die alteBundesregierung hat mit ihrer Kürzung der Ausgaben fürBildung und Forschung um 700 Millionen DM ihrenBeitrag zu dieser falschen Entwicklung geleistet.Wir haben diese falsche, verfehlte Politik korrigiert.Bereits mit unseren beiden ersten Bundeshaushalten 1999und 2000 haben wir gezeigt, dass Bildung und Forschungin Deutschland wieder Priorität haben. Vor knapp zweiWochen hat Bundesministerin Bulmahn an dieser Stelleunseren Bundeshaushalt für das kommende Jahrvorgestellt. Mit 15,37 Milliarden DM stellen wir so vielGeld für Bildung und Forschung bereit wie nie zuvor inder Geschichte Deutschlands. Dabei habe ich eine mög-liche Verwendung von Zinserlösen infolge der Versteige-rung der UMTS-Lizenzen noch nicht berücksichtigt.Wir haben damit die Trendwende geschafft. Aber esgibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit angesichts derTatsache, dass auch andere wichtige europäische undaußereuropäische Länder dabei sind, ihre Anstrengungenim Bereich Bildung und Forschung deutlich zu ver-stärken.Wenn wir unter den OECD-Ländern auch längerfristigwieder einen vorderen Platz belegen wollen, müssen wirdiese Trendwende im Bereich Forschung und Entwick-lung fortsetzen. Es ist gut, dass die Wirtschaft mittlerweilemitzieht. Der Stifterverband für die Deutsche Wis-senschaft meldet, dass die F-und-E-Aufwendungen derWirtschaft Ende der 90er-Jahre wieder kräftig zugelegthaben. Das ist eine erfreuliche Botschaft.Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeitunterstreicht übrigens auch, dass die zum 1. Januar nächs-ten Jahres in Kraft tretende Steuerreform mit ihren finan-ziellen Entlastungen für die Unternehmen gerade auchden finanziellen Spielraum der Wirtschaft für Forschungund Entwicklung weiter erhöhen wird.
Das trifft übrigens auch für die Personengesellschaftenzu.
– Herr Rachel, es wäre nicht nur schön, sondern es istschön. Lesen Sie es im Bericht nach.Der Bericht lobt dieses Konzept ausdrücklich – ich zi-tiere – „als entscheidenden Schritt in die richtige Rich-tung“. Es ist jetzt Sache der Wirtschaft, den zusätzlichgewonnenen Spielraum in den nächsten Jahren ent-schlossen zu nutzen.Meine Damen und Herren, Deutschland ist Technolo-gieführer in Europa bei Patenten, Innovationen und Welt-marktanteilen an forschungsintensiven Gütern. Bei alldiesen wichtigen Indikatoren sind wir in Europa ganzvorne dabei.Doch das Gutachten warnt auch. Wir stehen jetzt amScheideweg; denn die gleichen Indikatoren, die Deutsch-land heute eine Spitzenposition bescheinigen, zeigen,dass sich die internationalen Gewichte auf Zukunfts-feldern und Zukunftsmärkten in den 90er-Jahren ver-schoben haben, und zwar weg von Deutschland hin zueinigen kleineren europäischen Ländern, hin zu den USAund in Richtung Asien.Lassen Sie mich an zwei Beispielen verdeutlichen, wiedie Bundesregierung auf diese Entwicklung, auch er-mutigt durch die Aussagen dieses Berichts, reagierenwird. Es geht zum einen um die Beschleunigung und dasenergische In-Angriff-Nehmen von strukturellen Refor-men, die das deutsche Innovationssystem insgesamt leis-tungsfähiger machen. Es geht um strukturelle Reformen,die zu mehr Effizienz und Flexibilität an unserenHochschulen und Forschungseinrichtungen führen. Ichnenne die Stichworte Dienstrechtsreform, Programm-steuerung, Budgetierung. Wir wollen damit die Kreativi-tätspotenziale in den Forschungseinrichtungen undHochschulen stärken. Wir wollen etwa auch die Interna-tionalisierung unseres Hochschul- und Forschungssys-tems vorantreiben.Hinzu kommt natürlich, dass wir im Bereich Innova-tion, im Bereich Wissens- und Technologietransfer neueAnstrengungen unternehmen müssen. Die Wissensba-siertheit von Erfindungen hat deutlich zugenommen. Esist gut, dass in deutschen Patentschriften heute rund sechsMal so viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zitiertwerden wie noch vor 20 Jahren. Aber wir müssen dieZusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaftweiter verbessern.In wenigen Wochen wird das Bundesministerium fürBildung und Forschung zusammen mit der OECD hier inBerlin eine internationale Konferenz zu Fragen des Wis-sens- und Technologietransfers organisieren, die weltweit„best practice“ in der Zusammenarbeit zwischen Wis-senschaft und Wirtschaft herausarbeiten wird.Auch der Kanzler selbst wird sich dieser Frage in dennächsten Wochen und Monaten annehmen. Mitte Novem-ber wird er mit ausgewählten Experten aus Wissenschaftund Wirtschaft zusammentreffen, um Ansatzpunkte zur
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Parl. StaatssekretärWolf-Michael Catenhusen11622
Verbesserung des Wissens- und Technologietransfers inDeutschland zu diskutieren.
Auch in seiner Aufgeschlossenheit für dieses wichtige,zukunftsweisende Thema für Deutschland hebt sich derjetzige Bundeskanzler wohltuend von seinem Vorgängerab.Herr Rachel, Sie machen immer sehr nette Zwischen-rufe. Aber darauf kann ich Ihnen nur antworten: Ich freuemich sehr, dass unser Bundeskanzler nie Probleme damithatte, zu verstehen, was eine Datenautobahn ist.Die Umsetzung von Forschungsergebnissen in neueProdukte und Dienstleistungen können wir durch mehrAnreize für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerdeutlich steigern. Ich denke, es ist vor allem wichtig, dassder Bericht eine anhaltend steigende Dynamik bei Un-ternehmensneugründungen aus dem Bereich Wissen-schaft und Forschung feststellt. Es ist wichtig, dassDeutschland heute der größte europäische Markt für Un-ternehmensfinanzierungen in der Gründungsphase ist.Mit Programmen wie Exist geben wir Hochschulabsol-venten und -absolventinnen die notwendige Unterstüt-zung für erfolgreiche Unternehmensgründungen.Als letztes Beispiel: Sie wissen, dass wir gerade ener-gische Anstrengungen unternehmen, um aus der Biotech-nologie die Potenziale für neue Innovationsdynamik nichtnur im Pharmabereich zu gewinnen. Ich denke, gerade un-sere Pharmaindustrie braucht eine neue, starke Technolo-giebasis am Standort Deutschland. Auf diesem Gebiet hatdie Vorgängerregierung sehr viel versäumt. Wir sorgenmit kräftigen Zuwachsraten dafür, dass wir unsere Stel-lung in der Welt, nämlich Nummer zwei hinter den Verei-nigten Staaten, auf diesem Zukunftsfeld endlich wieder-gewinnen.
Eine letzte Bemerkung: In einigen Zweigen der IuK-Technologien hinkt Deutschland hinterher. Ein Grunddafür ist der akute IT-Fachkräftemangel. Mit der Green-Card-Initiative haben wir versucht, diesem Mangel zubegegnen.
Das bedeutet aber auch, dass wir fortlaufende Anstren-gungen unternehmen müssen, um die technologische Ba-sis und die wissenschaftliche Infrastruktur im Bereich derInformations- und Kommunikationstechnik stärker aufdie Zukunft vorzubereiten.Meine Damen und Herren, der Bericht führt Stärkenund Schwächen des deutschen Innovationssystems deut-lich vor Augen. Er enthält wertvolle Empfehlungen, wieWege eines erfolgreichen Innovationsmanagements inDeutschland gegangen werden können. Die rot-grüneBundesregierung fühlt sich durch den Bericht durchausdarin bestätigt, auf dem richtigen Wege zu sein.Danke schön.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Axel Fischer.Axel E. Fischer (CDU/CSU): FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland ist in Europa Technologieführer, dochum diese Position zu halten, muss es sich stärkeranstrengen.Dieses Fazit zog die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“am 18. Januar dieses Jahres anlässlich der Pressekonfe-renz der Bundesforschungsministerin zur technologischenLeistungsfähigkeit Deutschlands. Mit anderen Worten,Herr Catenhusen: Die Vorgängerregierung hat ein gut be-stelltes Feld überlassen.
Nichts anderes ergibt sich aus diesem Technologiebericht.
Die Analyse ist hervorragend und das Lob berechtigt.Was fehlt, sind die richtigen Schlussfolgerungen der Bun-desregierung. Wie immer, wenn es zu konkreten Umset-zungen kommt, hält sich das Bundesforschungsministe-rium zurück. Frau Bulmahn müsste man fragen: Wielange wollen Sie sich eigentlich darauf beschränken, vie-les anzukündigen und wenig durchzusetzen?
Sie werden als Ankündigungsministerin in die Ge-schichte eingehen. Bei der Umsetzung herrscht jedoch– wie immer – ein bulmahnsches Bildungs- und For-schungsvakuum. Erst vor kurzem, bei den Beratungen desHaushaltsplans 2001, wurden wir enttäuscht. Die Investi-tionen in Bildung und Forschung gingen gegenüber 1998um 500 Millionen DM zurück. Damit sichern Sie nichtden Technologiestandort Deutschland; Sie senden ne-gative Signale aus, insbesondere in Richtung Wirtschaft,auf deren Investitionen wir bei der technologischen Ent-wicklung Deutschlands angewiesen sind.Wie sieht der Technologiebericht aus? Die Analyse istpunktgenau, die Zielbeschreibung der Bundesregierungjedoch nur vage. Heute wäre eigentlich der Anlass, demVorgänger Jürgen Rüttgers für die glänzende Arbeit zudanken.
Ich beziehe mich auf das Projekt „Schulen ans Netz“, da-rauf, dass allein zwischen 1995 und 1997 56 Ausbil-dungsberufe modernisiert und 23 neue geschaffen wur-den, auf die Einführung des Meister-BAföG und des
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Wettbewerbs Bio-Regio und auf die Verabschiedung desIuKD-Gesetzes.
– So ist es.Man darf aber auch die Wirtschaft nicht vergessen. Sieist ihrer Verantwortung nachgekommen und hat einen er-heblichen Anteil an der technologischen Spitzenstellungunseres Landes. Unternehmen haben den Anspruch, dassihnen seitens der Politik die notwendigen Freiräume ge-lassen werden. Nur wenn sie in die Lage versetzt werden,in Forschung und Entwicklung zu investieren, kann dieSicherung unserer technologischen Zukunft gelingen.Daher ist es ein Irrweg, dass die Bundesregierungdurch die Steuerreform die Kapitalgesellschaften bereits2001 entlastet, die Personengesellschaften jedoch, die90 Prozent der Unternehmen ausmachen, erst 2005.
Dies trifft insbesondere den Mittelstand, der auf dem Ge-biet von Forschung und Entwicklung einen Nachholbe-darf hat. Es ist zu befürchten, dass auf dem Technologie-sektor die Kluft zwischen Großbetrieben und mittel-ständischen Unternehmen breiter wird.Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bun-desregierung stellt zu Recht fest, dass die BundesrepublikDeutschland ihren Spitzenplatz nur durch technologi-schen Vorsprung und Spezialisierung halten kann.Warum setzen Sie diese Erkenntnisse nicht in die Tat um,Herr Fell?
In den Vorbemerkungen zum Technologiebericht wehtder Geist der 60er-Jahre. Das Ziel, das Abitur für mög-lichst viele einzuführen, führt nicht zwangsläufig zur Aus-weitung der Bildungsgesellschaft. Eine allgemeine Ab-senkung des Niveaus schafft keine Spitzenposition. Jeder,der dazu befähigt ist, soll das Abitur machen können. Einesoziale Auswahl aufgrund eines finanzschwachen Eltern-hauses darf es nicht geben.
Das heißt aber nicht, dass die Zahl der Abiturienten un-endlich gesteigert werden soll. Unser Bildungssystembraucht beides: den Studenten und den Lehrling.Dank der rot-grünen Politik in den Ländern werden dieHauptschule und ihr Abschluss jedoch infrage gestellt.Auf der Strecke bleiben diejenigen, die in dem verschul-ten Ausbildungssystem nicht mithalten können, für dieaber auch keine Alternative geschaffen wurde. Nicht allejungen Menschen sind der modernen Leistungsgesell-schaft gewachsen. Auch um sie müssen wir uns kümmern.Die Stellungnahme der Bundesregierung macht deut-lich: Sie will die Fragen des 21. Jahrhunderts mit Bil-dungsansätzen der Vergangenheit lösen. Das Pflänzchender 68er-Generation ist längst verblüht. Wir brauchenLösungen, die in der heutigen modernen Technologie-und Kommunikationsgesellschaft Bestand haben. Waswir heute brauchen, ist eine Qualifizierungsoffensive fürDeutschland. Ein Spitzenplatz für die Bundesrepublik istnur mit einer Förderung von Eliten und Spitzen zu errei-chen.
Auch dies wird im Technologiebericht hervorgehoben,ohne dass die Bundesregierung die nötigen Konsequen-zen daraus ziehen will.Rot-Grün setzt weiter auf das Massenstudium, obwohldie positiven Effekte ausgeblieben sind. Der Anteil derHochschulabsolventen eines Jahrgangs hat sich in denletzten 20 Jahren kaum verändert. Das Abitur bedeutetnicht zwangsläufig den Hochschulabschluss. Von diesemGedanken sollte sich Rot-Grün verabschieden.Besorgnis erregend ist auch die Zahl der Studienab-brüche. Fast 40 Prozent der Studienanfänger beenden ihrStudium nicht. Vor allem Fachbereiche, deren Abschlüssewir für die technologischen Entwicklung in Deutschlanddringend brauchen, sind betroffen: Elektrotechnik mit50 Prozent, Physik mit 50 Prozent, Informatik mit 60 Pro-zent und Mathematik mit 70 Prozent.
Das ist verschleudertes Humankapital. Die Schüler müs-sen für die Hochschulen besser vorbereitet werden.
In den Bundesländern gibt es hinsichtlich des Abitursgroße Unterschiede; auch das muss man hier einmal sa-gen.Die Bundesregierung behauptet, sie fühle sich durchdie Analysen und Handlungsempfehlungen bestätigt.
Es ist kühn, von Bestätigen zu sprechen, wenn die Faktenetwas anderes aussagen. Einige Beispiele: Sie stellen diePatentanmeldungen in den Vordergrund und sehen darineine positive Leistungsbilanz der Bundesregierung. Diejetzige Bundesregierung hat die Patentanmeldungen je-doch erschwert, indem sie die Gebühren um ein Drittelangehoben hat. Dass sich seit 1993 die Zahl der Patentan-meldungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungenmehr als verdoppelt hat, ist kein Verdienst Ihrer Koalition.Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Höhe der Aufwen-dungen für Forschung und Entwicklung. Gerade in die-sem Bereich ist der internationale Markt in Bewegung ge-raten. Der Technologiebericht stellt fest, dass die Hälfteder Investitionen ausländischer Tochterunternehmen ausden USA stammt, dass sich diese aber zunehmend inRichtung Asien und Südamerika orientieren. Die Lösungist die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen. Dasstellt die Bundesregierung fest. Aber was will sie tun? DerBericht betont, dass Wettbewerbspolitik Innovationspoli-tik sei. Je offener und liberaler der Markt, desto besser dieNutzungspotenziale und Chancen. Bestes Beispiel ist derTelekommunikationsmarkt. Frau Bulmahn war es, die
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als eine der SPD-Bundestagsabgeordneten 1994 gegendie Privatisierung der Post gestimmt hat. Nun schöpfenSie dank der innovativen Politik unserer Regierung denRahm ab, kassieren das Geld ein und geben es entspre-chend wieder aus.Es stellt sich die Frage, welche Schritte die Bundesre-gierung ergreifen will, um den Wettbewerb zu erleichtern.
Im Technologiebericht gibt es auch dazu wieder einmalkeine Antwort. Der Bericht hebt hervor, dass für die tech-nologische Entwicklung Deutschlands den Hochschuleneine Schlüsselrolle zukommt. Folgende Reformansätzewerden genannt: stärkerer Wettbewerb der Hochschulenuntereinander, Anreize für Studenten zu effizienterem undpraxisorientiertem Studium, Anpassung der Studiengängean international übliche Standards, flexiblere Studi-engänge mit verschiedenen Spezialisierungsgraden.Hierzu gab es kein Wort von Frau Bulmahn. Ich schließedaraus, dass sie diese Punkte nicht umsetzen und damitauch einer der zentralen Forderungen des Technologiebe-richts nicht folgen will.Dabei gibt es Handlungsbedarf, zum Beispiel bei derStudiendauer. Laut Zahlenwerk aus dem BMWF wird dieStudienzeit innerhalb der EU nur noch von Griechenlandund Österreich übertroffen. Man kann heftig darüberstreiten, ob die Einführung von Studiengebühren fürLangzeitstudenten in Baden-Württemberg der richtigeWeg war. Fakt ist aber, dass seit Einführung der Studien-gebühren die Zahl der Studenten, die 14 Semester und län-ger studiert haben, um über 40 Prozent zurückgegangenist. Frau Bulmahn ist zwar gegen Studiengebühren. Dochsie erscheint als einsame Ruferin in der Wüste. Noch nichteinmal die niedersächsische Landesregierung folgt ihr,obwohl sie dort SPD-Vorsitzende ist.Nicht nur in Forschung und Lehre haben CDU/CSUAkzente gesetzt. Gleiches gilt für die berufliche Bildung.Wir waren es, die das Meister-BAföG auf den Weg ge-bracht haben.
Dies war eine weitreichende Entscheidung. Meine Frak-tion hat im vergangenen Jahr einen Antrag zur Verbesse-rung des Meister-BAföGs im Bundestag eingebracht. DieKoalition lehnt den Antrag ab, sagt aber eigene Maß-nahmen zu. Darauf, Herr Catenhusen, warten wir nochheute.Sie wissen, dass zusätzliche Qualifikationen auch bes-sere Berufschancen und einen positiven Effekt für unsereVolkswirtschaft mit sich bringen. Sie sind jedoch nicht be-reit, unser Modell des Meister-BAföGs fortzuentwickeln.Konsequenz: Die Haushaltsmittel für das Meister-BAföGsind von ursprünglich 167 Millionen DM auf nunmehr70 Millionen DM gesunken. Das ist die Qualifikations-förderung von Rot-Grün!
Das muss man sich einmal genau vornehmen.
Es ist dringend Handlungsbedarf geboten. Daher hatdie CDU die Stiftung Bildungstest vorgeschlagen, umdie Weiterbildungsangebote zu überprüfen. Dabei soll esnicht bleiben. Vielmehr sollen alle Bildungsangebote und-einrichtungen auf Qualität überprüft werden.
Wenn wir die Bildung in Deutschland voranbringen wol-len, müssen wir die Stärken und Schwächen vorbehaltlosaufklären. Dafür brauchen wir eine unabhängige Einrich-tung, die Stiftung Bildungstest.
Frau Bulmahn, Sie haben den CDU-Vorschlag trotzigals „olle Kamelle“ bezeichnet und angekündigt, Weiter-bildungsangebote durch die Stiftung Warentest überprü-fen zu lassen.
Dieser Vorschlag war weder fantasievoll noch ausrei-chend. Es hat keinen Sinn, zwischen Waschmitteln undWindeln Weiterbildungsangebote zu überprüfen.
Herr Kollege,
denken Sie daran, dass Ihre Redezeit abläuft.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Ich
komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Damit müssen
sich Spezialisten beschäftigen, die etwas von der Materie
verstehen.
Der Technologiebericht enthält zahlreiche Ansätze, de-
ren Umsetzung die technologische Leistungsfähigkeit
Deutschlands stärken könnte. Die Koalition sollte ihn als
Richtschnur dafür nehmen, die eigene Politik zu überprü-
fen. Das ist dringend notwendig. Sie können sich darauf
verlassen: Meine Fraktion wird Sie sehr genau beobach-
ten und dabei kritisch begleiten.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber HerrKollege Fischer, ich glaube, Sie haben einen anderen Be-richt gelesen als den, der heute als Grundlage für die De-batte dient.
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Axel E. Fischer
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Zumindest will ich Sie auf die Seite 1 dieses Berichtesdeutlich hinweisen. Dort steht eine etwas andere Bewer-tung.
– Nein, auf der Seite 1 stehen sehr deutlich die Kernsätze.Dort heißt es beispielsweise: Auf einer Rangliste derWachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes lag Deutsch-land in den 90er-Jahren an 16. Stelle unter den 20 größtenIndustrienationen.
Es steht dort aber auch, wie es überhaupt dazu kommenkonnte. Der Bericht gibt eine eindeutige Antwort, denn:Die Investitionen in die Zukunft ... ließen in denNeunzigerjahren zu wünschen übrig.Weiter heißt es im Bericht:In der Rangliste der Länder mit den höchsten Zu-kunftsinvestitionen ist Deutschland zurückgefallen.Ich denke, das spricht für sich. Deutlicher kann dasVersagen der kohlschen Technologiepolitik nicht doku-mentiert werden.
Aber ganz anders sieht es bei den momentanen Ver-hältnissen aus.
– Lesen Sie es doch in diesem Bericht nach, HerrFriedrich. Dort können Sie es wirklich erfahren.
– Ich zitiere nur die entscheidenden Phasen des Berichtes,die zusammenfassend alles darstellen. Lesen Sie doch aufSeite 1 mit:In der kurzfristigen Perspektive zeigt sich für die Zu-kunft ein tendenziell positives Bild. Die Zahl der An-meldungen von weltmarktrelevanten Patenten steigtsteil an, die Zahl der innovativen Unternehmennimmt zu, die Produktivität der Wirtschaft steigt, derUmsatz mit neuen Produkten wächst und die Exportein FuE-intensive Wirtschaftszweige nehmen kräftigzu.Welch besseres Lob kann es für die Kehrtwende dieserBundesregierung im Technologiebereich geben?
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Unionund der F.D.P., diese Zahlen zu Ihrer Regierungszeit aufdem Tisch gehabt hätten, hätten Sie das als großes Glückfür dieses Land bezeichnet. Ich möchte sogar sagen, Siehätten vor Freude auf den Tischen getanzt.Lassen Sie mich weiter aus dem Bericht zitieren. Vorallem mit Blick auf den Umweltschutz betonen die Gut-achter, dass Deutschland gerade in den Bereichen, in de-nen es seine spezifischen Stärken ausspielen kann, einenPlatz an der Spitze, eine Technologieführerschaft anstre-ben sollte. Wie wahr! Das haben Bündnis 90/Die Grünenimmer gesagt.Aber, ich erinnere mich an den Anfang dieses Jahres,als ein Herr Rühe gesagt hat: zehn Jahre Innovationspauseim Umweltschutz. Wie verträgt sich das mit den Aussagendieses Berichtes, nach denen gerade im Umweltschutz In-novationen besonders wichtig sind, um die Technologie-führerschaft nicht nur zu halten, sondern auch auszu-bauen?Ich zitiere weiter:Die Gesetzgebung ist eine der wichtigsten Triebfe-dern für Umweltinnovationen. Eine Stimulierung derInnovationsaktivität im Umweltbereich bringt dop-pelte Früchte – zum einen für die Umwelt und zumanderen für die technologische Leistungsfähigkeit.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kommennicht aus der Ölkrise heraus, indem wir den Erdölver-brauch subventionieren wollen,
indem wir – wie von Ihnen gefordert – Steuersenkungenvornehmen und das Erdöl billiger machen. Dann fließendie Milliarden weiterhin in die Hände der OPEC.
Herr Möllemann soll bei den Scheichs gute Freundehaben. Vielleicht setzt er sich deswegen so sehr für denBau neuer Autobahnen ein. Nein, wir werden die globaleÖlkrise nur dann meistern, wenn wir ganz auf Energie-spartechnologien und erneuerbare Energien setzen unddas heißt: Stärkung des Technologiestandortes Deutsch-land.
Weder aus den Reihen der CDU/CSU noch der F.D.P. sindmir in diesem Zusammenhang entsprechende Vorschlägezu Ohren gekommen.
Auch hier muss wieder gesagt werden: Der Regie-rungswechsel vor zwei Jahren kam keine Sekunde zufrüh. Wir haben mittlerweile das Erneuerbare-Energien-Gesetz eingeführt und die Mittel im Marktanreizpro-gramm für erneuerbare Energien verzehnfacht. Wir habendas 100 000-Dächer-Programm und das Programm fürbiogene Treibstoffe ins Leben gerufen. Wenn die Bauerndemnächst mit Pflanzenöl-Traktoren fahren, dann zeigensie der OPEC die rot-grüne Karte.
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Die CDU/CSU will hingegen den Diesel über eineGasölverbilligung für Traktoren weiterhin subventionie-ren. Würden wir diesem Unsinn nachkommen, blieben dieBauern weiterhin vom Erdöl der OPEC abhängig, das im-mer teurer wird. Dann ginge auch die gerade errungenetechnologische Führerschaft bei Traktormotoren mit mo-dernster Direkteinspritztechnologie in Deutschland verlo-ren.All denjenigen unter Ihnen, die das Kapital ausDeutschland zur OPEC transferieren wollen, sei Folgen-des aus dem Gutachten noch einmal ans Herz legt:Gerade wegen der starken externen Effekte im Be-reich umweltorientierter Innovationspolitik darf diePolitik es nicht vernachlässigen, auch eine entspre-chende Akzeptanz für die politischen Instrumente zubefördern. Die über die individuellen Effekte hinaus-gehenden Verbesserungen müssen im Wesentlichenpolitisch vermittelt werden.Genau das tun wir, meine Damen und Herren von derUnion. Ich möchte zum Schluss meiner Rede feststellen,dass Sie mit populistischen Ökosteuerkampagnen auchden Technologiestandort in Deutschland gefährden.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Herr Fell, es ist immer einfach, alles hochzu-loben, wenn man von den neuen regenerativen Energienredet. Aber den Standort Deutschland kann man nichteinfach gesundreden. Da machen Sie es sich ein bisschenleicht. Dann versuchen Sie auch noch, die Ökosteuer sohinzustellen, als führe dies zu einer Standortverbesserung.
– Ich bezweifele, dass Sie das ganze Konzept verinner-licht haben.
Meine Damen und Herren, Deutschlands technologi-scher Schwerpunkt liegt bei der höherwertigen Technik.Trotz jüngster Erfolge hinken wir aber bei den Spitzen-technologien hinterher. Das ist eine der Kernaussagen desBerichts, der uns heute vorliegt.Unser Forschungs-, Innovations- und Technologiepo-tenzial ist beachtlich, aber – das sagt sogar die Bundesre-gierung in ihrer Stellungnahme zum Bericht – „deutscheUnternehmen haben in den vergangenen Jahren an Bodenverloren. Andere Länder holen auf.“ Daran – da stimmeich der Opposition zu – ist nichts herumzudeuteln. LassenSie es mich in einem Bild beschreiben: Unser Zug fährtzwar vorwärts, aber auf den Nebengleisen sind andereZüge offensichtlich deutlich schneller und überholen uns.Herr Catenhusen, das ist leider immer noch so. Es hatsich also in den zwei Jahren Rot-Grün ausgesprochen we-nig verändert. Man kann versuchen, das mit Zahlenschönzureden,
aber an einer Verbesserung dieser Entwicklung, die füruns wirklich bedenklich ist, sollten wir alle zusammen ar-beiten und nicht versuchen, uns gegenseitig die Schuldzuzuschieben.
Die Voraussetzungen, die der Standort Deutschland mitseinen unterschiedlichen Industriezweigen, einer breit ge-fächerten Forschungslandschaft und einem wissensorien-tierten Bildungssystem bietet, sind gut, aber sie könntendeutlich besser sein.Wie erst gestern – das treibt mich sehr um, HerrFischer – die „Berliner Zeitung“ meldete, nimmt die Zahlder Hochschulabsolventen in den naturwissenschaftli-chen Fächern, im Maschinenbau und in Informatik ab.Das passiert in der Zeit Ihrer Zuständigkeit, HerrCatenhusen.
In Chemie machten 1999 13,5 Prozent weniger Stu-denten ihren Abschluss als 1998, in Physik 13 Prozent undin der Informatik haben wir einen Rückgang von 3,5 Pro-zent.
– Die Anmeldezahlen sind nicht besser geworden, HerrCatenhusen. Das ist doch die Relation. Da nützt es nichts,auf die alte Regierung zu verweisen.
Eine der Kernaufgaben ist in diesem Zusammenhangeine echte Hochschulstrukturreform. „Zügig vorantrei-ben“ sagt der Bericht zu Recht. Der Weg in den Wettbe-werb ist nicht nur – das bitte ich der Frau Ministerin deut-lich zu übermitteln – über Globalhaushalte zu erreichen.Wir brauchen auch die autonome, auf Personal- und Ta-rifautonomie ausgerichtete Hochschule. Hier war Ihr HerrRüttgers zu zögerlich, meine Damen und Herren von derCDU,
aber Sie sind es nicht weniger, Herr Catenhusen. IhreHochschuldienstrechtsreform ist dafür ein gutes Beispiel.Es sind gute Ansätze da, aber angesichts der Herausfor-derungen müssten wir wesentlich radikaler sein und vielschneller reformieren. Ich stimme in diesem Punkt Pro-fessor Landfried zu, der sagt, wir haben bisher nur die„Kragenregion“ erreicht, nämlich den Oberbau. Wir müs-sen aber zu tief greifenden Strukturreformen kommen.Der Bericht fordert eine Verkürzung der Berufsausbil-dungszeiten, die Flexibilisierung von Berufsbildern undeine Verstärkung der Berufsschulausbildung. Das sind al-les Sachen, die die F.D.P. angegangen hat, und wir werdenmit großem Interesse beobachten, wie sich das bei Ihnenin der Gesetzgebung niederschlägt.
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Meine Damen und Herren, die Förderung von kleine-ren und mittleren Unternehmen und die Schaffung vonAnreizen für Forschungs- und Entwicklungsaktivitätenhängen entscheidend von der weiteren Liberalisierungund Deregulierung der Wirtschaft ab. Das sagt dieserBericht sehr deutlich. Sie waren immer dagegen, HerrCatenhusen.
Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen zur Tele-kommunikation. Bei Post und Banken haben Sie ein Feld,auf dem Sie beweisen können, dass Sie genau wie die alteRegierung etwas vorantreiben wollen.Sorgen machen uns nach wie vor die KMUs. Geradefür sie brauchen wir Anreize und Wettbewerbe. Ichmöchte einmal ganz bescheiden auf Bio-Regio hinweisen,Herr Catenhusen. Das war eine gute Sache der alten Re-gierung. Ich bin sehr froh, dass Sie mit Inno-Regio jetztetwas Ähnliches weitermachen.
Es wäre manchmal ganz gut, wenn man über die Vorgän-ger auch einmal etwas Gutes sagen würde.
– Herr Tauss, wollen Sie mit mir darüber streiten, ob Bio-Regio etwas Gutes ist?Meine Damen und Herren, dieser Bericht ist ein Leit-faden für sinnvolle Forschungs- und Technologiepolitik.Er setzt genau auf die Prinzipien, die auch wir vertretenund die Sie in unseren Anträgen immer ablehnen. Ich habeden Eindruck, dass Frau Bulmahn etwas in diesen Berichthineingeschrieben hat, was sie sonst im Kabinett nichtso richtig vermitteln kann. Ich wünsche Ihnen, HerrCatenhusen und Frau Bulmahn, dass es einmal im Kabi-nett Gehör findet. Machen Sie den Bericht zur Pflichtlek-türe. Dann kommen wir vielleicht alle gemeinsam voran.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hatte sehrehrgeizige Ziele in den Bereichen Forschung und Tech-nologie. Sicher, einige Einschätzungen im Bericht und ge-genwärtige Entwicklungen sind Folgen der waigelschenSparpolitik. Ich nenne als Beispiel die Überrundung beiden Umwelttechnologien.
– Klatschen Sie nicht zu früh.Aber auch die neue Regierung hat sich hinsichtlich derDurchsetzungsgeschwindigkeit ihrer Ziele, Weltspitzen-positionen auf verschiedenen Technologiefeldern zu er-reichen, zum Beispiel auf dem Spitzentechnologiesektoroder bei der FuE-Intensität, offenbar verschätzt. Außer-dem setzt Rot-Grün die Verwaltung des Mangels im Tech-nologiebereich eigentlich fort, auch wenn dies auf denersten Blick nicht so aussieht. Ich nenne hier nur die vir-tuelle Forschungsmilliarde, die indirekten Einsparungenim Haushalt für Bildung und Forschung 2001, den Rück-gang der Mittel für die Energieforschung und eine vielfa-che Deckungsfähigkeit von Technologieförderungstitelnim Wirtschaftshaushalt.Doch es gibt auch neue Weichenstellungen, zum Bei-spiel die Aufteilung der Kompetenzen in die Haushaltedes BMWi und des BMBF, eine strengere Ausrichtung derForschungsfelder, die Prioritätensetzung in der Forschungauf IuK- sowie Bio- und Gentechnologien oder die An-sätze der Strukturreformen bei den Großforschungsein-richtungen, Blaue-Liste-Instituten und Hochschulen. Lei-der vermitteln diese Wege weniger den Eindruck einerzukunftsweisenden FuT-Politik, als dass sie den schalenGeschmack hinterlassen, dass für Forschung und Ent-wicklung die letzten Reserven mobilisiert werden, um denForderungen der Wirtschaft buchstabengetreu nachzu-kommen.Statt zum Beispiel die Einnahmen aus einer neuen Ver-mögensteuer in Aus- und Weiterbildung zu investieren,setzen Sie auf Synergieeffekte aus dem Zusammenpres-sen vorhandener Forschungskapazitäten und auf schlankeForschung. Dies führte zu einer Verengung der Prioritätenauf wenige Technologiefelder, zur Vernachlässigung an-derer Forschungsbereiche, zum Beispiel einer umweltori-entierten Gesundheitsforschung und zum kläglichenDahindümpeln der Finanzierung der geistes- und sozial-wissenschaftlichen Forschung.
Eine Ausweitung der Technikfolgenabschätzung und derGutachtertätigkeit trotz umstrittener und hoch geförderterBio-, Gen- und IuK-Technologien sowie der Weltraum-forschung fällt unter den Tisch.Im Gegensatz zu Absichtserklärungen lässt sich dieBundesregierung von der Wirtschaft den Weg einer markt-orientierten Forschung zulasten einer gemeinwohlorien-tierten Forschung diktieren. Diese Entwicklung erwecktden Anschein, als ob staatliche Forschungsanstalten inForschungsunternehmen verwandelt werden.Die PDS ist gegen eine noch umfangreichere Subven-tionierung der Industrie durch FuE-Förderung ausSteuergeldern. Steuergelder für die Forschung solltenüberwiegend in gemeinwohlorientierte Forschungsein-richtungen zum Beispiel für die Förderung der menschli-chen Gesundheit oder auch die Zukunftsorientierung derGesellschaft auf Grundlage einer breiten sozialwissen-schaftlichen Forschung fließen.Dazu gehören auch die Einführung einer Mitbestim-mung Dritter bei der Initiierung, bei Tests oder bei Dia-gnoseansätzen im Bereich von Bio- und Gentechnolo-gien, eine umfassendere, finanzielle Verantwortung derIndustrie bei der Weltraumforschung oder die Ausweitungder Technikfolgenabschätzung bei der Erforschung neuerTechnologien. Dafür wird die Fraktion der PDS weiterhinstreiten.
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Ulrike Flach11628
Jetzt hat der
Kollege Tauss das Wort.
Nicht so laut. – Sehr verehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Be-richt ist von einer Übergangsphase aus der Stagnation derPolitik der 90er-Jahre, insbesondere der Forschungspoli-tik und dem Politikfeld, über das wir heute reden, hin zueiner Aufbruchstimmung, die wir in diesem Lande er-reicht haben und die Sie nicht leugnen können, gekenn-zeichnet. Herr Kollege Fischer, wenn Sie gestern Abendbei Helmholtz gewesen wären, hätten Sie etwas von die-ser Aufbruchstimmung mitbekommen. Ich glaube aber,Sie haben gestern mehr ins Dessert geschaut.
Ich will zu zwei Punkten Stellung nehmen. HerrFischer, Sie haben uns empfohlen, wir sollten die Posi-tion, die Sie uns hinterlassen haben, halten und habenauch noch einen Dank an Herrn Rüttgers ausgesprochen.Sie sollten den Bericht wirklich lesen. Darin ist nicht da-von die Rede, die Position zu halten, man hat uns vielmehrins Stammbuch geschrieben, es seien tief greifende struk-turelle Reformen notwendig, um nicht weiter an Boden zuverlieren. Das ist der Boden, den Sie verloren haben undden wieder zu bereiten wir versucht haben.
– So ein Quatsch? Das Problem ist, Herr Fischer, dass Siesich auch die Zahlen nicht angucken. In Ihrer Regie-rungszeit sind die Ausgaben für Bildung und For-schung auf 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu-rückgegangen. Dieser Stand wurde zum Teil schon vonSchwellenländern erreicht. In der OECD betrugder durchschnittliche Anteil am Bruttoinlandsprodukt12,5 Prozent. Hier holen wir im Moment auf.Ich hätte also die herzliche Bitte, nicht Zahlen in denRaum zu stellen, von denen die Menschen auf den Tribü-nen annehmen müssen, dass sie richtig seien. Jede Zahl,die Sie hier vorgetragen haben, ist falsch und das ist dasÄrgerliche an Ihrer Politik.
Hier sitzen Haushälter – auch bei Ihnen sitzen Menschen,die rechnen und denken können –, die die richtigen Zah-len kennen. Sie stellen einfach so in den Raum, wir wür-den 500 Millionen DM weniger für Bildung und For-schung ausgeben. Gucken Sie sich bitte die Zahlen an:Allein beim BAföG mobilisieren wir 1 Milliarde DMmehr. Das sind nicht 500 Millionen DM weniger, sondernin einem einzigen Feld 1 000 Millionen DM mehr.Dann reden Sie über Kürzungen im Forschungshaus-halt. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass wir auf un-terschiedlichen Veranstaltungen sind. Natürlich hoffenwir – auch das richte ich an die Haushälter aller Fraktio-nen –, dass wir die Zahlen noch verbessern können. Aberallein in diesem Haushaltsentwurf haben wir den Etat fürBildung und Forschung um knapp 6 Prozent erhöht,während Sie bei Herrn Waigel immer mit glühenden Oh-ren herauskamen, weil er Sie abgewatscht hat. Sie habennicht mehr, sondern weniger bekommen. Das war der Er-folg Ihrer Arbeit.
Hören Sie also bitte auf, uns aufgrund falscher ZahlenVorwürfe zu machen.Der Bericht benennt auch weitere Probleme, die Sieuns hinterlassen haben. Wir sind stark
in den klassischen Bereichen; das ist gut so. Wir sind starkim Maschinenbau, wir sind stark im Automobilbau. Dassind die Bereiche, die auch den Schwerpunkt unseres Ex-portes ausmachen. Dagegen haben wir große Defizite beiden IuK-Technologien. Auch dies ist im Bericht enthaltenund es gehörte zur Ehrlichkeit, Kollege Fischer, dass Siedeutlich machen, dass Deutschland in diesen zukunfts-trächtigen Spitzentechnologien nicht nur Boden verlorenhat, sondern einfach keine Rolle spielte. Das müssen wirjetzt mühsam aufarbeiten.Wir haben aber, Frau Kollegin Flach, in einem Bereichdie Spitzenstellung gehabt, nämlich in der Umwelttech-nologie.Diesen Bereich wollen wir weiter ausbauen. Hierbestehen natürlich auch Zusammenhänge mit hohen Ener-giepreisen. Hohe Energiepreise werden in der Tat dazuführen, dass wir einen Schub hin zu verbrauchsärmerenAutos, hin zum Dreiliterauto haben. Sie haben die „dreiLiter“ immer auf den Hubraum bezogen. Nein, wir mei-nen den Verbrauch. Heute redet Herr Piëch schon vomEinliterauto. Das ist moderne Technologie. Damit könnenwir auf die Märkte gehen, das können wir exportieren.Wir betreiben also die richtige Politik.
– Fragen Sie doch einfach noch ein bisschen dazwischen.Ich habe eine begrenzte Redezeit. Die Regierung hat soüberzeugend vorgetragen, dass mir dadurch ein paar Mi-nuten geklaut worden sind.Es sind strukturelle Reformen unseres Bildungs- undAusbildungssystems, der Steuer- und Wirtschaftspolitik,bei der Bewältigung des Strukturwandels in wissens- undforschungsintensiven Sektoren angemahnt worden.
– Wir haben das angepackt. Das ist nicht angekündigt,sondern angepackt worden.Wichtig sind unsere Forschungseinrichtungen. DerBericht bestätigt durchaus die Effektivität und Leistungs-fähigkeit unserer Forschungseinrichtungen. Insbesondere
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in den neuen Bundesländern – auch das ist eine wichtigeAussage dieses Berichts – wurde aufgeholt. In einzelnenUnternehmen in den neuen Bundesländern übertreffen dieAufwendungen für Innovationen, bezogen auf den Um-satz, die der Unternehmen in den alten Bundesländern.Das ist ein toller Erfolg, zu dem Inno-Regio beigetragenhatte. Auf diesem richtigen Weg werden wir in den neuenBundesländern weitergehen.
Die Folgen sind schon klar, Kollege Fischer. Zahlenkönnen Sie hier manipulieren, aber Sie können sie nichtwegdiskutieren. Bei Ihnen gab es einen Anstieg des An-teils der FuE-intensiven Güter an den Gesamtexporten um8 Prozent. Bei uns beträgt deren Anteil 50 Prozent. Das istsicherlich durch den Dollarkurs ein bisschen erleichtertworden; grundsätzlich zeigt dies aber auch hier die Ten-denzwende.
– Fragen Sie doch einfach, wenn Sie etwas wissen wollen;Sie können nur lernen.
Schrittmacher sind bei uns – ich wiederhole es – Auto-mobilbau, Maschinenbau und Pharmaindustrie, währendmoderne Industrien ein Problem hatten. Die schnelle Um-setzung neuer Ideen in marktfähige Produkte – auch diesbestätigt der Bericht – ist kein so großes Problem, wie esimmer dargestellt wird. Die schnelle Umsetzung neuerIdeen in marktfähige Produkte ist auf den Weg gebracht.Auch dies haben wir immer gefordert. Wir sollten wir auf-hören, darüber zu jammern, dass dies nicht stattfindet. Esfindet zwischenzeitlich statt. Ich glaube, auch das ist einwichtiger Erfolg.
Herr Kollege
Tauss, Sie sehen, ich war hinsichtlich der Einhaltung Ih-
rer Redezeit schon großzügig.
Frau Präsidentin, ich sehe, Sie
leuchten, zumindest hier vorn. Ich bitte um Entschuldi-
gung.
Ich wünsche Ihnen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dass Sie sich den Bericht einfach nochmals
gründlich ansehen, dass Sie sich ansehen, was wir auf den
Weg gebracht haben. Dann werden Sie diese Regierung
loben und aufhören, sie mit falschen Zahlen zu be-
schimpfen. Das sind der Wunsch und die Bitte, die wir an
Sie heute Abend richten wollten.
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2957 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Neumann , Dr. Norbert Lammert, Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Verbesserung der Rahmenbedingungen für den
deutschen Film
– Drucksache 14/3375 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist eine Aussprache von einer Dreivier-
telstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeord-
neten Bernd Neumann das Wort.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Wir können inDeutschland auf eine erfolgreiche Filmtradition zu-rückblicken. Das Berliner Filmmuseum im Filmhaus amPotsdamer Platz, das vorgestern eröffnet wurde, doku-mentiert dies eindrucksvoll.Der deutsche Film hat im 20. Jahrhundert einmal Welt-geltung besessen. Das wird einem wieder bewusst, wennman durch die Ausstellung im neuen Filmmuseum wan-dert. In den 20er-Jahren war Deutschland neben den Ver-einigten Staaten die wichtigste Filmnation. Deshalb ist diePräsentation im Filmmuseum in ihrem ersten Teil ziem-lich eindrucksvoll. Am Schluss, bei der Darstellung desdeutschen Nachkriegsfilms, fällt das Niveau der Schauallerdings ziemlich ab. Und damit sind wir beim Kern desProblems.Der Marktanteil deutscher Filme in unseren Kinos,der seit Jahren immer nur zwischen 9 und 17 Prozent liegt,ist unbefriedigend. Deshalb gibt es das Klagelied über diekritische Situation des deutschen Films nunmehr seitJahrzehnten. Immer wieder, wenn die Zahl der Besucherdeutscher Filme sinkt, immer, wenn wieder einmal keindeutscher Film bei den Festspielen in Cannes oder Vene-dig gezeigt wird, stellen die deutschen Publizisten diebohrende Frage: Warum können es die Amerikaner, undwarum können es die Deutschen nicht? Die Antwortenwiederholen sich wie die Anlässe: der zu kleine Markt,das Sprachenproblem, die angeblich kargen Budgets, dieregionale Filmförderung usw. usf.Das alles ist sicherlich bedenkenswert und auch in Tei-len zutreffend. Vor allem steht fest, dass man zumindestdie Marktgröße und das Sprachenproblem kaum ändern
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Jörg Tauss11630
kann; da hilft alles Lamentieren nicht. Die Höhe der öf-fentlichen Fördermittel von jährlich 350 Millionen DM– dazu kommen noch etwa 20 Millionen DM aus denMedia-Programmen der EU –, von denen die Länder220 Millionen DM, die Filmförderungsanstalt aufgrundvon Abgaben der Film- und Fernsehwirtschaft 99 Milli-onen DM und der Bund allerdings nur 30,6Millionen DMtragen, halte ich für beträchtlich, aber auch nötig.Man muss wissen: Ohne diese Filmförderung, die vonder EU genehmigt ist und auch in anderen europäischenLändern praktiziert wird, gäbe es den deutschen Filmpraktisch nicht. Auf keinen Fall könnte der Marktanteil,der sich inzwischen erfreulicherweise bei etwa 15 Prozentstabilisiert hat, auch nur annähernd gehalten werden.Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass der Etat für diekulturelle Filmförderung im Bundeshaushalt 2000 um2,5 Millionen DM erhöht wurde. Umso weniger versteheich die Schlagzeile aus dem „Tagesspiegel“ im Frühjahrdieses Jahres „Michael Naumann: Filmförderung mussreduziert werden“.Natürlich muss man immer wieder über die Strukturender Filmförderung nachdenken. Noch mehr Wirtschaft-lichkeit und Risikobereitschaft und weniger Gießkannen-prinzip sind die Themen. Aber Filmförderung als solcheund auch in etwa in der jetzigen Größenordnung ist zurErhaltung des deutschen Kinofilms unverzichtbar.Mit einem muss man sich wohl abfinden: Der deutscheFilm erfüllt im Hinblick auf den Marktanteil in den Kinoseher eine Nischenfunktion.
Aber diese ist unverzichtbar für unsere Kultur, für unsereKünstler, für unsere Filmwirtschaft. Der Film – hiermitmeine ich insbesondere den Kinofilm – ist für uns einwichtiges Kulturgut, aber auch ein bemerkenswertesWirtschaftsgut. Deutschland braucht eine wettbewerbs-fähige Filmwirtschaft, um Filmproduktionsstandort zubleiben.Primär sind natürlich die Kulturschaffenden und dieFilmwirtschaft selbst für den Film verantwortlich. Wir,die Politiker, der Staat, können und sollten nur Einflussauf die Rahmenbedingungen nehmen. Das ist derGrund, weshalb die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag zurVerbesserung der Rahmenbedingungen für den deutschenFilm in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Wirhaben durch diesen Antrag nach langer Zeit hier im Bun-destag wieder eine Debatte über die Lage des deutschenFilms.Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass man dievielfältigen Äußerungen unseres Staatsministers für Kul-tur und Medien nicht unbedingt auf die Goldwaage legensollte.
Dies trifft auch auf seine jüngste Äußerung zu, das vonihm angeregte Bündnis für den Film sei „mehr als ein un-verbindliches Forum für den Austausch von Positionen“.So sei man bei den Themen Filmförderung, Filmexportund Rechteauswertung bereits gut vorangekommen.Unbestritten war die Aktion Bündnis für den Filmeine gute Idee. Das haben wir auch immer gesagt. Deshalbhabe ich für die CDU/CSU-Fraktion an den beiden Ta-gungen des Bündnisses für den Film im April und Okto-ber 1999 teilgenommen. Durch diese Aktion und ver-schiedene öffentliche Erklärungen von Herrn Naumannsind bei den Beteiligten aus der Filmwirtschaft beträcht-liche Erwartungen geweckt worden. Allerdings konkrete,verwertbare Ergebnisse lassen in fast allen Punkten aufsich warten, obwohl inzwischen wieder ein ganzes Jahrvergangen ist.Ich hatte bereits darauf hingewiesen, Herr Naumann,dass die Mittel des Bundes für kulturelle Filmförderungleicht erhöht wurden und damit Verbesserungen in Berei-chen wie Drehbuchförderung, Absatz- und Kopienförde-rung erfreulicherweise möglich waren. Doch dazu hätte esnicht eines Bündnisses für den Film bedurft. Das konnteder BKM ohnehin allein veranlassen. Viel wichtiger sinddagegen grundsätzliche und strukturelle Fragen.In einem Interview von „Pro-Media“ vom Februar die-ses Jahres kündigten Sie, Herr Naumann, für April ein er-neutes Treffen des Bündnisses für den Film mit der Aus-sage an:Das Hauptanliegen– die Verbesserung der Produzentenrechte –wird gelöst werden, so oder so!Bis heute gab es kein Treffen und eine Lösung des Pro-blems ist nicht in Sicht. Im selben Interview versprachenSie, also im Februar dieses Jahres, dass die negativen Aus-wirkungen für die deutsche Filmwirtschaft infolge einerNeuregelung für die steuerliche Erfassung von Risiko-fonds – das ist § 2 b des Einkommensteuergesetzes – be-seitigt werden. Von einem speziellen Medienerlass wardie Rede. Heute muss man feststellen: Das Ergebnis istgleich Null. Der Finanzminister hat Sie nicht erhört.Eine wichtige Frage der zwei Bündnisrunden war derFilmexport.Dazu Michael Naumann im selben Interview– wie gesagt: Februar dieses Jahres –:Konkrete Vorschläge werden voraussichtlich bisEnde März vorgelegt werden.Bis heute gibt es keinen ausgereiften, konkreten und kon-sensfähigen Vorschlag – mit dem Ergebnis, dass die zu-ständige Export-Union unter dem Damoklesschwert derUngewissheit arbeiten muss. Aus diesen Gründen ist esverständlich, dass in den Gremien, die den deutschen Filmbetreffen, Aussagen wie „Das Bündnis für den Filmlahmt. Es tritt auf der Stelle“ die Runde machen.Ich sage nicht, dass der Staatsminister persönlich oderdie Bundesregierung an all dem Schuld haben.
Viele der im Bündnis für den Film besprochenen Pro-bleme können nur durch die Filmwirtschaft selbst undnicht durch den Staat gelöst werden. Gerade deshalb sollte
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Bernd Neumann
11631
die Lehre daraus sein: den Mund nicht so voll nehmen;weniger Sprüche, mehr Seriosität; vor allem auf diePunkte konzentrieren, die die Bundesregierung tatsäch-lich in eigener Verantwortung regeln kann. Davon gibt eseine Menge!
Auf zwei wichtige Punkte, in denen die Bundesregie-rung im Rahmen ihres eigenen VerantwortungsbereichsPositionen für den Film beziehen könnte, in denen sie al-lerdings das Gegenteil tut, möchte ich noch eingehen.
Der von der Bundesregierung zur Diskussion gestellteGesetzentwurf zur Novellierung des Urheberrechtskonterkariert alle hehren Absichten des Bündnisses fürden Film. Er ist ein Schlag ins Gesicht der deutschenFilmwirtschaft, weil er in keiner Weise der besonderen Si-tuation der Filmherstellung und der FilmauswertungRechnung trägt.Mit § 39 – Ausübung von Urheberpersönlichkeits-rechten – wird die Fertigstellung eines Filmwerkes defacto unmöglich, da verschiedene Urheber und Künstlerbetroffen sind, also Autoren, Regisseure und Produzen-ten, deren Urheberpersönlichkeitsrechten im EinzelnenGenüge getan werden müsste, um ein Filmwerk über-haupt fertig stellen zu können. Der Filmhersteller würdezukünftig also für jede Übertragung eines Nutzungsrech-tes die gemeinsame Zustimmung aller Miturheber benöti-gen.
Bekannte Finanzierungsmodalitäten – sprich: Verwer-tungskette – fielen aus. Der Entwurf begünstigt einseitigdie Interessen der Urheber und übersieht, dass auch dieProduktionswirtschaft im Verhältnis zu bestimmten Aus-wertern schutzbedürftig ist. Dies ist nicht berücksichtigtworden, ebenso wie die Vermarktbarkeit der Produktionim Ausland und der Aufbau eines Zweitverwertungs-marktes.Der Bundesverband Deutscher Fernsehproduzentenstellt mit Recht fest:Diese Gesetzesvorschläge würden zu einer Verlage-rung von Produktionen ins Ausland und zu einer Aus-dünnung der Kulturlandschaft in der BundesrepublikDeutschland führen. Von einer Stärkung der Urhe-berseite, wie der Gesetzentwurf es will, könne dannkeine Rede mehr sein. Folge werde eine kulturelleVerarmung im Bereich des deutschen Films sein.Das Engagement im Bündnis für den Film und auch Ihrpersönliches Engagement, Herr Naumann, das insbeson-dere die Stärkung der Film- und Fernsehproduzenten vor-sah, würden, falls man diese Novellierungsvorschläge sorealisiert, völlig konterkariert. Die Ausweitung des Zweit-verwertungsmarktes von Filmen, an dem wir die Produ-zenten verstärkt beteiligen wollen, würde durch solcheRegelungen blockiert. Deshalb erwarten wir von Ihnen,Herr Staatsminister, dass Sie sich bei der Erarbeitung ei-nes endgültigen Gesetzentwurfes der Bundesregierungzum wirklichen Anwalt des deutschen Films machen unddie vorgeschlagenen Regelungen verhindern.
Im Übrigen bitte ich Sie, in dieser Debatte Ihre Position indieser Frage zu markieren.Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Regelungen zumSchutz des geistigen Eigentums auf europäischer und in-ternationaler Ebene über die Nutzung in digitalen Netzensind nötig, um zum Beispiel Internetpiraterie zu vermei-den. Diese müssen jedoch die Interessen der Urheber wiedie der verwertenden Filmindustrie gleichermaßen be-rücksichtigen; sie dürfen nicht ausschließlich im Interesseder Urheber sein.Ich möchte einen zweiten wichtigen Punkt aus demVerantwortungsbereich der Bundesregierung nennen. Dievon Ihnen, Herr Naumann, seit langem gegebene Zusage,bei § 2b Einkommensteuergesetz für eine Auslegungzu sorgen, die der besonderen Rolle der Film- und Fern-sehwirtschaft in Deutschland Rechnung trägt, ist nicht er-füllt. Die vom Finanzministerium veröffentlichten Ausle-gungsbestimmungen sind unpraktikabel und, so sagen esdie Leute aus der Branche, in hohem Maße bürokratisch.Die Folge ist, dass weiterhin mehr als drei Viertel des pri-vaten Kapitals, also etwa 2 bis 3 Milliarden DM, inUS-Produktionen investiert werden und nicht, wie wir unsdas wünschten, in Filmfonds, die deutsche Produktionenfinanzieren.Kürzlich sagte Herr Schlauch in einer Verwaltungs-ratssitzung der FFA, dass eine Sonderregelung für Film-und Fernsehfonds, zum Beispiel in der Form eines Me-dienerlasses, aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei.Das mag sein. Umso richtiger ist es, dass meine Fraktioninsgesamt nach wie vor die völlige Abschaffung von § 2bEinkommensteuergesetz fordert, um zu verhindern, dassInvestitionen zunehmend ins Ausland fließen und wir da-durch Arbeitsplätze gerade in der Filmwirtschaft verlie-ren.
Sie, verehrter Herr Naumann, sollten uns als so genannterFilmminister dabei unterstützen.Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Punkte an-sprechen, die im Gegensatz zu den eben zitierten nichtdem unmittelbaren Einfluss der Bundesregierung und derPolitik unterliegen, die aber für den deutschen Film undseine Beteiligten wichtig sind. Eine strukturelle Verbesse-rung der Außenvertretung des deutschen Films, so wie sieder Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 2. Ja-nuar 1998 anlässlich der Verabschiedung des FFG gefor-dert hat, ist nach wie vor unerlässlich und muss möglichstim Konsens mit allen Beteiligten alsbald vollzogen wer-den. Dabei sollte die Export-Union als solche nicht mehrinfrage gestellt werden. Der bereits eingeleitete Reform-prozess sollte mit dem Ziel zügig fortgesetzt werden, au-diovisuelle Produkte deutschen Ursprungs im Auslandbesser zu bewerben und deren Vermarktungsmöglichkei-ten ebenfalls zu verbessern. Für diese Aufgabe – das istfür uns ein Essential – muss die Wirtschaft, nicht derStaat, die Hauptverantwortung tragen. Der Staat kann
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Bernd Neumann
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diese Aufgabe bestenfalls auf repräsentativer Ebene be-gleiten.Ein weiterer wichtiger Punkt ist für die CDU/CSU dieStärkung der Rechte von unabhängigen Film- und Fern-sehproduzenten. Dazu gehört der Ausbau des Zweitver-wertungsmarktes; darauf habe ich bereits in Verbindungmit dem Urheberrecht hingewiesen. Hier müssen entspre-chende Regelungen im Urheberrecht erfolgen, und nicht,wie vorgesehen, solche, die den Vorgang behindern.Darüber hinaus muss die Fernsehbindung der vonARD/ZDF bzw. den privaten Fernsehveranstaltern für dieProjektförderung zur Verfügung gestellten Mittel entfal-len. Diese Fernsehbindung beeinträchtigt die Produzen-ten. Immer, wenn sie einen Antrag auf Projektförderungstellen, müssen sie den Nachweis erbringen, dass dasFernsehen dabei mitmacht. Das heißt, dass die Förderungnur dann gewährt wird, wenn Fernsehverträge vorliegen.Dies beeinträchtigt insbesondere junge und unabhängigeProduzenten bei der Finanzierung der Filme in hohemMaße und verbürokratisiert das Verfahren.Diejenigen, die vom Kulturgut Film profitieren, kön-nen auch eine angemessene Leistung zur Förderung ein-bringen. Für die Kino- und Video-Programmanbieter istdies gesetzlich geregelt. Die öffentlich-rechtlichen undprivaten Fernsehanstalten zahlen aufgrund eines Abkom-mens nur je 11Millionen DM pro Jahr zur Filmförderung,und das bei 12 Milliarden DM Gebühreneinnahmen zumBeispiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch dieprivaten Fernsehanbieter brüsten sich ja mit ihren riesigenMilliardeneinnahmen. Wenn dies so ist, dann sollte esselbstverständlich sein, bei der Vergabe dieser relativgeringen Summe – wie gesagt, je 11 Millionen DM proJahr – nicht noch auf einer Fernsehbindung der Projektezu bestehen. Man kann erwarten, dass die Fernsehanstal-ten Filmförderung um der Filmförderung willen betreibenund nicht noch bei dieser geringen Summe davon profi-tieren wollen.
Wie man hört, soll in diese Frage Bewegung gekommensein.Bei der konkreten Diskussion zur Nivellierung desFFG werden wir uns im Übrigen entscheiden müssen, obwir eine Neuregelung des Rechterückfalls vornehmen– zurzeit sind im Filmförderungsgesetz sieben Jahre vor-gesehen – oder anderen Alternativen den Vorzug geben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Neumann, Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.
Ich komme
zum Schluss.
Unser Antrag soll und wird sicherlich – einmal abge-
sehen von der Kritik hinsichtlich der Konkretisierung Ih-
res Wollens und Ihrer Vorschläge – keine großen sachli-
chen Kontroversen auslösen; ich nehme an, dass wir uns
in den meisten Zielrichtungen einig sind. Der Antrag dient
vielmehr ausschließlich dem Ziel, die Verbesserung der
Rahmenbedingungen für den deutschen Film voran-
zutreiben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat die Kollegin Gisela Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Lieber Kollege Neumann, lieberKollege Lammert, wir haben uns im deutschen Bundestagdas letzte Mal vor zweieinhalb Jahren mit dem Film be-fasst; das war bei der Verabschiedung der dritten Novellezum Filmfördergesetz. Es ist also längst fällig, dass wiruns hier im Parlament einmal wieder mit dem deutschenFilm, mit dem Film an sich befassen.
Nur – das wissen Sie auch –, diese Debatte kommt ganzeinfach zu früh, um konkrete Ergebnisse, die Sie ja ange-mahnt haben, von uns zu fordern. Sie fordern die Bun-desregierung auf, einen Bericht über die Lage des deut-schen Films sowie Verbesserungsvorschläge vorzulegen.Die Bundesregierung selber hat einen solchen Bericht an-gekündigt. Auch unsere Fraktion erwartet ihn mit Span-nung. Dass er noch nicht vorliegt – das möchte ich hier be-tonen –, ist nicht der Untätigkeit der Verantwortlichengeschuldet. Wir alle wissen: Durch StaatsministerNaumann ist in diesen Bereich wieder Bewegung gekom-men.
Er hat es erreicht, dass sich erstmals alle Film- und Fern-sehschaffenden an einen Tisch gesetzt haben.Mit seinem Bündnis für den Film hat der Staatsmi-nister Autoren, Regisseure, Schauspieler, Produzenten,die Filmwirtschaft, öffentlich-rechtliche und privateFernsehanstalten sowie den Länderfilmausschuss zusam-mengebracht.
Natürlich waren auch Sie, Herr Neumann, mit dabei.Hier sollen Strategien zur Förderung des deutschen Filmsim In- und Ausland entwickelt werden. Der Themenkata-log reicht von der Stärkung der kulturellen Filmförderungüber die Koordinierung der Förderung von Bund und Län-dern, die Stärkung der Rechte der freien Produzenten ge-genüber dem Fernsehen – Sie haben das alles ja auch schonaufgezählt –, die Verbesserung der Außenvertretung desdeutschen Films bis hin zur europäischen Filmförderpoli-tik. Das sind alles Themen, Kollege Neumann, die Sie indem vorliegenden Antrag erwähnt haben.Allen war von Anfang an klar, dass es sehr schwierigwerden wird, die unterschiedlichen Interessen zusam-menzubringen. Sehen wir uns doch einmal an, wie es
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Bernd Neumann
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aussieht. Die Gespräche brauchen mehr Zeit, als uns liebist. Fakt aber ist: Das Bündnis für den Film ist keine ein-malige Veranstaltung. Es handelt sich um einen kontinu-ierlichen Prozess, der viel Beharrlichkeit und viel Gedulderfordert. Ganz besonders wichtig ist es, dass alle Betei-ligten endlich in den Diskussionsprozess eingebundenwerden.
Hierin liegt nach meinem Dafürhalten die größte Schwie-rigkeit – das wissen wir –, aber auch die größte Chance,das Bündnis zum Erfolg zu führen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetztzunächst die Ergebnisse der im Rahmen des Bündnissesgebildeten Arbeitsgruppen abwarten, bevor wir von derBundesregierung weitere Verbesserungsvorschläge er-warten können. Das ist eigentlich logisch.
Anfang November – der Termin steht ja schon fest – fin-det das nächste Treffen statt. Dann werden wir sicherlichauch wieder mit dabei sein.Dass der deutsche Film einmal andere Zeiten kannte,ist mir bei der Eröffnung des Filmmuseums noch einmaldeutlich geworden. In den 20er-Jahren war Berlin dasWeltzentrum der Filmschaffenden und Hollywood hatvon den besten Talenten profitiert. Ich denke an ErnstLubitsch, Fritz Lang, Billy Wilder, um nur ein paar Na-men zu nennen. Natürlich wissen wir alle, dass wir dieseZeiten nicht zurückholen können.
Sie geben uns aber doch eine Ahnung davon, dass für dendeutschen Film noch mehr möglich ist. Ich rate allerdingszu einem gesunden Realismus, wenn wir die Ziele derFilmförderung neu abstecken wollen.Wie kein anderes Medium prägt der Film in seinerganzen Vielfalt gesellschaftliche Lebensstile und Wert-haltungen. Auch deshalb sollten wir unsere Anstrengun-gen für den Ausbau der europäischen Filmförderungverstärken. Dazu besteht demnächst Gelegenheit: Am23. November kommt der Kulturministerrat zusammen,um über das Nachfolgeprogramm von Media II zu ent-scheiden. Bis dahin sollte klar sein, dass von deutscherSeite einer Erhöhung der bisher veranschlagten Mittelvon 350 Millionen Euro zugestimmt wird. Ich könnte mir400Millionen Euro ganz gut vorstellen. Das würde vor al-len Dingen dazu führen, dass die sich immer noch sper-renden Briten und insbesondere die Niederländer mitzie-hen würden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir zurückzum deutschen Film. Herr Neumann ist darauf ja auchschon eingegangen. Wir hatten in den ersten sechs Mona-ten dieses Jahres immerhin vier Filme, die über 1 MillionZuschauer sahen. Ich nenne nur „Anatomie“, „Erkan undStefan“, um nicht alle aufzuführen. Über die Inhalte soll-ten wir hier besser nicht sprechen, aber ich halte das zu-mindest für sehr erfreulich. Hierzu gehören auch solcheFilme, an die ich sehr gerne erinnere, wie zum Beispiel„Buena Vista Social Club“ und „Sonnenallee“.
Das hat uns etwas weitergebracht, da wir so die Zu-schauerzahlen ein wenig anheben konnten. Das ist natür-lich nicht ausreichend. Darin sind wir uns einig.Ich gebe dem deutschen Film gute Chancen. Wir habengute Produzenten, gute Regisseure, Schauspielerinnenund Schauspieler. Am Stoff hapert es mitunter. Ich weiß,wovon ich spreche. Als Mitglied der Vergabekommissionder Filmförderanstalt stapeln sich bei mir die Drehbücher.Wenn ich sie lese, kann ich Ihnen als Ergebnis nur mittei-len, dass nicht alle vergnügungssteuerpflichtig sind. Wirmüssen Wege finden, um kreative Potenziale bei denDrehbuchautoren zu erschließen. Wir brauchen einfachbessere Stoffe. Wir haben in Deutschland ein Filmförde-rungssystem auf Bundes- und Landesebene, um das unsviele andere Länder beneiden. Sicherlich ist die Filmför-derung nicht so gut, als dass sie nicht noch verbessertwerden könnte. Das gilt schon allein deshalb, weil wir dasGesetz spätestens dann, wenn es abgelaufen ist, im Jahr2003, sowieso wieder neu beraten und diskutieren müs-sen.Ein ganz zentraler Punkt – darin sind sich alle Betei-ligten einig – ist die Stärkung der freien Film- undFernsehproduzenten gegenüber den Fernsehsendern;Sie haben es angesprochen. Auch im Bündnis für denFilm werden exakt die Maßnahmen diskutiert, die Sie indiesem Zusammenhang in Ihrem Antrag ansprechen. Ichnenne die Stichworte noch einmal: Lockerung und Weg-fall der Mittelbindung für Leistungen der öffentlich-recht-lichen und privaten Fernsehsender, Aufbau eines Zweit-verwertungsmarktes für die Produzenten. Das erforderteine entsprechende Anpassung des Urheberrechts.Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang dieVerwertungsrechte bzw. Fristverkürzungen. Auch darinsind wir uns einig. Die Verwertungsrechte müssen deut-lich früher – zurzeit sind es sieben Jahre – an die Produ-zenten zurückfallen. Nur so können sie einen Rechtestockaufbauen und nur so kann eine mit Eigenkapital ausge-stattete mittelständische Filmwirtschaft entstehen. Im Ge-spräch sind fünf Jahre. Besser wären aus meiner Sicht dreiJahre. Auf jeden Fall brauchen wir hier eine Flexibilisie-rung.In der letzten Sitzung des Bündnisses in Hof hat mansich darauf verständigt, dass zunächst einmal die Produ-zenten mit den Fernsehanstalten sprechen sollten. Das istinzwischen geschehen. Ich bin gespannt, zu welchen Er-gebnissen wir diesbezüglich bei dem Treffen Anfang No-vember kommen werden. Sollte es zu keiner einvernehm-lichen Lösung zwischen Filmwirtschaft und Sendernkommen, werden wir zusammen mit der Bundesregie-rung, wie angekündigt, prüfen, ob ein Vorschlag für einegesetzliche Änderung vorgelegt werden soll.
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Gisela Schröter11634
Zu den Rahmenbedingungen des deutschen Filmsgehören natürlich die urheberrechtlichen Regelungen.Wir hatten gestern dazu eine interessante Expertenan-hörung. Zurzeit ist es erst einmal ein Professorenentwurf,also kein Gesetzentwurf der Bundesregierung. Es wurdeuns allen deutlich, wie viel Klärungsbedarf noch besteht.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Die SPD-Fraktion ist für eine angemessene Vergütung der kreativenLeistungen. Das Urheberrecht muss aber nach unsererÜberzeugung auch den ganz spezifischen Gegebenheitender Produktion von Filmen Rechnung tragen.
Das betrifft vor allem die Verwertungsrechte am Film.Hier sind wir uns doch, denke ich, einig. Sie müssen sogestaltet werden, dass sie die Einwerbung von privat fi-nanziertem Risikokapital ermöglichen. Nach meinemDafürhalten müssen die filmischen Belange auf jeden Fallnoch stärker berücksichtigt werden. Sie können sichersein, dass wir bei der Gesetzesdiskussion sehr aufmerk-sam sein und unsere Vorschläge einbringen werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig,dass wir privates Kapital für die Film- und Fernsehpro-duktion brauchen. Jetzt komme ich auf Ihre Forderungnach Streichung des § 2b Einkommensteuergesetz.
Dazu sage ich Ihnen mit aller Deutlichkeit: Das macht un-sere Fraktion nicht mit.
Wir müssen allerdings sicherstellen, dass die Bildung vonMedien- und Filmfonds nicht behindert wird.
Das ist der Punkt: Im Kern geht es bei Ihnen um die Frage,wann ein Fonds – das müssen wir gemeinsam klären – alsAbschreibungsmodell zu werten ist und wann nicht. Esgibt Bemühungen um einen Erlass. Die Spitzenverbändeder Filmwirtschaft wurden im Rahmen einer Verbandsan-hörung mit eingebunden. So viel lässt sich sagen: Es gibteinen Entwurf, der den Interessen der Filmwirtschaftweitgehend Rechnung trägt. Er befindet sich allerdingsnoch in der Abstimmung mit den Ländern. Ich meine,Ende Oktober wird der Medienerlass vorliegen.Die Debatten zur Filmförderung sind im Bundestagimmer mit großem Einvernehmen geführt worden. Wirbegegnen uns ja nicht nur hier, sondern fraktionsüber-greifend auch außerhalb dieses Hauses in diversen Gre-mien der Filmförderung. Lieber Kollege Neumann, Siewerden mir bestätigen, dass wir dabei in aller Regel kon-struktiv und ergebnisorientiert arbeiten und uns auch un-terstützen.Ich wünsche mir, dass die Beratungen im Ausschusszum vorliegenden Antrag von dem gleichen Geist geprägtsein werden. Möglicherweise kann man sich einigen. Ichbin sicher: Der deutsche Film kann davon nur profitieren.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Joachim Otto von der F.D.P.-Fraktion.
Dankeschön, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Schröter, Siesprachen eben von neuen Zielen in der Filmförderung.Mir geht es, ehrlich gesagt, eher um die neuen Instru-mente. In den Zielen sind wir uns doch alle einig. AlleGutmenschen dieser Republik wollen den deutschen undden europäischen Film fördern. Mich befällt aber ange-sichts der bisher erzielten Ergebnisse eine wachsendeSkepsis hinsichtlich der Wirksamkeit und der Sinnhaftig-keit der bisherigen Instrumente der kulturellen undwirtschaftlichen Filmförderung.Ich konstatiere eine schon deprimierende Bilanz. JedesJahr wenden Bund und Länder rund 350 Millionen DMfür die Filmförderung auf – Tendenz steigend. Es gibtweitere Förderprogramme, auf der europäischen Ebenebeispielsweise Media Plus. Dennoch ist festzuhalten – andiesem Punkt kommt niemand vorbei –: Es gibt nochkeine messbaren Erfolge. Der Anteil deutscher Filme inden Kinos dümpelt bei rund 14 Prozent – Tendenz jeden-falls nicht steigend, eher sinkend.
– Nein, Frau Kollegin. Als Vorbereitung auf die heutigeRede habe ich mir die entsprechenden Zahlen der letztenJahre herausgesucht. Ich muss eindeutig feststellen: Ten-denz in keiner Weise steigend. Trotz des viel beschwore-nen Bündnisses für den Film gibt es Strukturprobleme.Ich darf an dieser Stelle einmal einen Kundigen zitie-ren – er ist jedenfalls kompetenter als ich –, der schonlange in diesem Bereich arbeitet, nämlich den früherenChef der Filmförderung NRW und den künftigen Berli-nale-Chef Dieter Kosslick. Er sagt:Die deutsche Filmförderung ist eine komplett kon-servative Schnarchabteilung, weil jeder Angst hat,etwas zu verlieren, wenn er etwas verändert. Ich kannnur sagen: Wenn nichts verändert wird, verlieren wiralles.
Ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe. Aber ich mussschon fragen: Gehört Dieter Kosslick nicht selbst zu die-ser Schnarchabteilung?
Kosslick spricht in diesem Zitat den Förderungs-wirrwarr öffentlicher Institutionen an. Es ist tatsächlich
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Gisela Schröter11635
skurril: Es gibt in Deutschland beispielsweise Fördermit-tel aus Schleswig-Holstein, wenn dort nur ein Teil einesFilmes gedreht wird. Es gibt Fördermittel aus Bayern,wenn dort der Cut erfolgt. Es gibt Fördermittel ausThüringen, wenn dort das Drehbuch geschrieben wurde.Es entsteht der fatale Eindruck, dass sich manche deut-schen Regisseure und Produzenten sehr gut in der Film-förderung auskennen und sich mehr um die Erschließungöffentlicher Fördertöpfe als um das Produzieren markt-fähiger Filme kümmern.Es gibt erfolgreiche deutsche Produzenten und Regis-seure – und natürlich auch Schauspieler –, die internatio-nal anerkannt sind. Aber leider zieht es immer mehr vonihnen nach Hollywood. Die erfolgreichsten „deutschen“Filme der letzten Monate sind die Hollywood-Produktio-nen „Der Sturm“ von Wolfgang Petersen und „Der Pa-triot“ von Roland Emmerich.Ich konnte mich vor einigen Monaten mit einigen Ver-tretern der deutschen Filmkolonie in Hollywood unter-halten, übrigens, Herr Naumann, in der von Ihnen geför-derten – das begrüße ich sehr – Villa Aurora. EinheitlicherTenor aller dort Anwesenden war, die finanzielle Film-förderung durch öffentliche Institutionen schade demdeutschen Film mehr, als sie ihm nütze. Es sei das süßeGift der Subvention, das den Blick auf die Vermarktbar-keit trübe.
– Ich komme noch dazu, Herr Tauss. – Der Ratschlag lau-tet: Geht mittelfristig heraus aus der finanziellen Filmför-derung! Setzt auf privates Geld und eigene Verantwor-tung!Ähnlich sieht das auch der Staatsminister MichaelNaumann. Dem „Spiegel“ erklärt er jüngst auf die Frage„Wird der deutsche Film sich je ohne Fördergelder rech-nen?“:Warum nicht? Es gibt in Europa ein deutschsprachi-ges Einzugsgebiet von mehr als 90 Millionen Men-schen– übrigens gibt es auch Übersetzungsmöglichkeiten, lie-ber Herr Naumann –
und es sollte möglich sein, dieses Publikum zu ge-winnen. Diesen Kampf sollte man nicht verloren ge-ben.
Jawohl, er hat Recht: Diesen Kampf sollte man nicht ver-loren geben. An dieser Stelle kämpfen wir mit Ihnen. Wirverstehen aber nicht so recht, warum Sie trotz dieser rich-tigen Erkenntnis ständig in die entgegengesetzte Richtungmarschieren und in Ihrem eigenen Etat – auch in diesemJahr wieder – die Mittel für die kulturelle Filmförderungerhöhen wollen.Was wir in jedem Fall brauchen – darauf hat der Kol-lege Neumann zu Recht hingewiesen –, ist mehr privatesRisikokapital.
Liebe Frau Kollegin Schröter, ich weiß nicht, was Ihrepersönliche Meinung dazu ist. Sie haben uns gesagt, in Ih-rer Fraktion sei das nicht durchsetzbar. Ich bitte Sie da-rum – auch das ist ein Bündnis für den deutschen Film –,die sozialistischen Neidkomplexe in Ihrer Fraktion zubekämpfen
und dafür zu sorgen, dass § 2b Einkommensteuergesetzjedenfalls in diesem Bereich verändert wird, sodass wie-der mehr deutsches Risikokapital in diesen Bereich gehenkann.Die Redezeit erlaubt es mir leider nicht, zu der Vielzahlvon Vorschlägen in dem CDU-Antrag im Einzelnen Stel-lung zu nehmen. Wir werden uns als F.D.P.-Fraktion sehreifrig und konstruktiv – wie es unsere Art ist – an der Be-ratung in den Ausschüssen beteiligen. Ich möchte hier ab-schließend nur die Richtung aufzeigen.Die Richtung lautet: Weniger Subventionen, mittelfris-tig heraus aus den Subventionen, stattdessen effektivere,marktwirtschaftlichere Rahmenbedingungen für dendeutschen Film.
Herr Dr. Naumann, wir versichern Ihnen: Wir Libera-len geben mit Ihnen zusammen den Kampf um den deut-schen und europäischen Film nicht verloren, ganz im Ge-genteil. Aber wir appellieren auch an einige Film-schaffende in Deutschland und in Europa – ich sage be-wusst: einige –, Abstand davon zu nehmen, sich auf öf-fentlich-rechtlichen Sänften zum Erfolg tragen zu lassen.
Ich weiß, dass Ihre Meinung auch in diese Richtungzielt. In diesem Bemühen unterstützen wir Sie, fordernSie aber auch auf: Setzen Sie ein Zeichen und machen Sieder deutschen Filmindustrie klar, dass sie sich nicht aufDauer auf Subventionen verlassen kann. Wir werden unsgemeinsam mit Ihnen dafür einsetzen – das ist unserBündnis für Film –, effektivere, marktwirtschaftlichereRahmenbedingungen für den deutschen Film zu schaffen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Grietje
Bettin.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder darüberärgern soll, dass der deutsche Film in regelmäßigen Ab-ständen Gegenstand parlamentarischer Debatten ist. Ei-nerseits freue ich mich darüber, weil der deutsche Film fürmich eine sehr große Bedeutung hat. Andererseits ärgereich mich darüber, weil die Debatten beweisen, dass esbeim deutschen Film immer noch einiges gibt, das im Ar-gen liegt.
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Hans-Joachim Otto
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Wie alle an dem Thema Interessierten weiß ich, dassnicht alle Probleme von heute auf morgen behoben wer-den können. Möglich ist nur eine Politik der kleinenSchritte, und diese hat die Bundesregierung mit ihrem Be-auftragten für Kultur und Medien bislang erfolgreich be-trieben.
So hat sie bei der kulturellen Filmförderung nicht nureine Erhöhung der Fördersumme insgesamt durchgesetzt,sondern durch die nachhaltige Verbesserung der Dreh-buchförderung und der Stoffentwicklung auch genau anden wundesten und unzureichendsten Punkten des Film-schaffens in Deutschland angesetzt.Schwieriger ist das mit den ehrgeizigen Zielen, die mitdem Bündnis für den Film erreicht werden sollen. Es istviel Kritik dahin gehend geäußert worden, dass das Bünd-nis nichts bewirken würde. Das ist so nicht richtig.
Das kontroverseste Thema bei den Bündnistreffen wardie Stärkung der unabhängigen Produzenten, wie es indem vorliegenden Antrag zu Recht gefordert wird. Auchwenn noch kein Durchbruch erzielt wurde, hat das Bünd-nis für den Film weiteren Druck auf die Verhandlungs-partner Fernsehsender und Produzenten ausgeübt, der zuden aktuellen Verhandlungen um fairere und ausgewoge-nere Regelungen beigetragen hat. Der Ausgang dieserVerhandlungen wird zeigen, ob und wie der Bundestagmit einer Novellierung des Filmförderungsgesetzes dieStärkung unabhängiger Produzenten vorantreiben muss.Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird, dakeine der Fraktionen bei diesem Thema ideologischeScheuklappen trägt, sondern alle pragmatisch an der Sa-che orientiert sind. Das zeigt auch der vorliegende Antragder CDU/CSU-Fraktion.Eine Novellierung des Filmförderungsgesetzes wirdvor allem Instrumente entwickeln müssen, durch die diewenigen noch verbliebenen unabhängigen Produzentengestärkt werden können. Wenn wir das nicht schaffen,werden darunter die inhaltliche und kulturelle Vielfalt ge-nauso wie der wirtschaftliche Wettbewerb leiden. EineNeuregelung des Rechterückfalls an die Produzenten zu-gunsten von ihnen – da stimme ich mit dem Antrag derCDU/CSU überein –, wird unumgänglich sein, wenn dieFernsehsender und Produzenten das nicht untereinanderbewältigen.Ich hoffe allerdings, dass es in diesem Fall nicht beivollmundigen Ankündigungen vonseiten der Politikbleibt, wie es bei den letzten Novellierungen der Fall war,sondern alle Parteien zusammen mit Bündnis 90/Die Grü-nen wirkliche Verbesserungen für die Produzenten imFFG festschreiben.Darüber hinaus brauchen wir als Parlament den Mut,jetzt über eine grundsätzliche Reform der Bundesfilmför-derung nachzudenken. Wir müssen abwägen, ob sich dieFilmförderung nicht vorrangig und schwerpunktmäßigum die Nachwuchsförderung und die Unterstützung vonjungen Autoren, Regisseuren und Produzenten bemühenmuss. Die bereits Erfolgreichen und Etablierten – das seheich zu meiner Freude immer öfter – sind zwar nicht im-mer, aber immer öfter in der Lage, ihre Filme weitgehenddurch privates Kapital zu finanzieren.Deutsche Fernsehfilme und vor allem Serien verkaufensich relativ erfolgreich im Ausland. Bei den deutschen Ki-nofilmen ist das leider, von wenigen Ausnahmen abgese-hen, noch nicht der Fall. Sie lassen sich noch nicht einmalan unsere europäischen Nachbarländer verkaufen.Daher spielt nicht nur die Förderung europäischer Ko-operationen wie der Deutsch-Französischen Filmakade-mie, sondern auch die Auslandsvertretung des deutschenFilms eine bedeutende Rolle, die die jetzige Export-Unionallerdings weder organisatorisch noch finanziell ausfüllenkann. Die Auslandsvertretung des Films neu zu organisie-ren und mit ausreichenden Mitteln auszustatten wird eineder nächsten großen Aufgaben von Filmwirtschaft undPolitik sein.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass am Diens-tag der vergangenen Woche hier in Berlin das erste um-fassende Filmmuseum in Deutschland eingeweiht wor-den ist, möchte ich an dieser Stelle als wichtigeskulturelles Ereignis würdigen. Die Filmgeschichte hatalso ihren archivarischen Ort gefunden, die Großen habenPlatz genommen. Dem gegenwärtigen deutschen Film-schaffen müssen wir allerdings mit sorgfältigen politi-schen Entscheidungen endlich den angemessenen Platzeinräumen.Mit dem Antrag der CDU/CSU wird erfreulicherweisenach langer Zeit wieder eine parlamentarische Debattezur intensiven Beschäftigung mit den Rahmenbedingun-gen des deutschen Films angeregt. Das wird von meinerFraktion ausdrücklich begrüßt.Dass die Rahmenbedingungen des Films dringend derVerbesserung bedürfen, steht für mich – nach Rückspra-che mit verschiedenen im Film engagierten Akteuren undVerbänden – außer Zweifel. Einem großen Teil der im An-trag vorgebrachten Forderungen und Vorschläge kann ichzustimmen. Die Bundesregierung sollte noch in diesemHerbst einen Bericht über die Lage des deutschen Filmsmit konkreten Maßnahmevorschlägen vorlegen.Ich möchte ausdrücklich würdigen, dass sich die Bun-desregierung im Bereich der Filmförderung durchaus en-gagiert und versucht, neben der wirtschaftlichen auch derkulturellen Filmförderung einen angemessenen Platzeinzuräumen.Die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für denFilm halten wir für außerordentlich wichtig. Es muss ein
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Grietje Bettin11637
Konsens zwischen den verschiedenen Interessengruppenzur dauerhaften Stärkung des Films in Deutschland undEuropa ermöglicht werden. Die Verhandlungen solltenunbedingt fortgesetzt werden. Zugleich ist die Bundesre-gierung in der Pflicht, ihre Ankündigungen einzulösen.Beispielhaft nenne ich: Aufstockung der Mittel für diekulturelle Filmförderung in den nächsten Jahren, Förde-rung der Programmkinos, Verbesserung der Präsentationder deutschen Filmkultur und -wirtschaft im Ausland so-wie die Stärkung der Rechte der unabhängigen Film- undFernsehproduzenten.
„Der Film ist ein wichtiges Kultur- und Wirtschafts-gut“, heißt es im Antrag. Dem kann ich nur zustimmen.Wir finden es bemerkenswert und richtig, dass die Kulturhierbei an erster Stelle genannt wird; denn der Film istzweifellos weit mehr als ein Wirtschaftsfaktor, was seinevolkswirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeu-tung keineswegs in Abrede stellt.Als eine der wenigen Wachstumsbranchen verdient dieFilmwirtschaft auch die besondere Aufmerksamkeit undUnterstützung durch die Politik. Wenn die Rahmenbedin-gungen für den deutschen Film diskutiert werden, müssenaber sowohl die wirtschaftlichen als auch die kulturellenAspekte bedacht werden. Dabei müssen dann die Belangealler kulturellen Akteure im Blick sein. Hier finden wirden vorliegenden Antrag unbedingt ergänzungsbedürftig.Die Rechte der unabhängigen Film- und Fernsehpro-duzenten zu stärken, das halten wir für notwendig, aberunserer Auffassung nach sollte es zugleich um die Siche-rung der Rechte aller Urheber gehen, also aller an derProduktion von Filmen schöpferisch Beteiligten, wie Re-gisseuren und Regisseurinnen, Buchautoren und Buchau-torinnen und ausübenden Künstlern und Künstlerinnen,nicht nur um die Rechte der Produzenten. Wenn es uns umQualität des deutschen Films geht, müssen wir alle betei-ligten Urheber stärken und fördern.Die im Antrag benannten Regelungen zum Schutz desgeistigen Eigentums finden unsere Zustimmung. Für pro-blematisch halten wir allerdings den Vorschlag, eine ver-stärkte Beteiligung privaten Kapitals – Frau Schröter hatdas auch schon gesagt – durch Streichung von § 2b Ein-kommensteuergesetz zu erreichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Auch wenn wir der Forde-
rung in dieser Globalität nicht zustimmen können, sind
wir daran interessiert, dass spezifische Lösungen für den
Filmbereich schnell gefunden werden.
Ein Satz sei mir noch erlaubt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber kein Thomas-
Mann-Satz, bitte!
Aus Sicht der PDS sind
viele Forderungen im Antrag zu unterstützen, aber mit der
Stärkung der Rechte der Filmproduzenten muss es zu-
gleich um die Sicherung der Urheberrechte aller Beteilig-
ten gehen. Zur Gesamtheit der Rahmenbedingungen
gehören auch die besonderen Probleme, die im Eini-
gungsprozess bei der Frage des Urheberrechts in den
neuen Bundesländern entstanden sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fink, Sie
bringen mich jetzt wirklich in eine schwierige Situation.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich erkläre hier ausdrück-
lich die Bereitschaft der Fraktion der PDS, an einem frak-
tionsübergreifenden, sachdienlichen Antrag mitzuwirken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich muss der Klarheit
halber als Literaturwissenschaftlerin feststellen: Ich habe
nichts gegen den Autoren Thomas Mann, sondern habe
das nur auf die Länge des Satzes bezogen. Das wissen
alle, glaube ich.
Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Dr. Michael
Naumann.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Herr Abgeordneter Neumann, dieser Antrag ist zweifellosder merkwürdigste Abspann zu einem sehr lange dauern-den, 16-jährigen Film, den ich je gelesen habe. Was Sie inWirklichkeit hier vorgelegt haben, womit ich cum granosalis übereinstimme, ist die Reparaturanleitung zu dervergangenen Filmförderungspolitik Ihrer Legislaturperi-oden.
– Das kommt ja, wenn Sie mir die Minuten geben.Sie verlangen von dieser Regierung im Grunde ge-nommen, dieses von Ihnen, Herr Otto, als Förderungs-wirrwarr bezeichnete Labyrinth der Filmförderungsmaß-nahmen mit all den inhärenten Ungerechtigkeiten undAbsurditäten innerhalb von zwei Jahren zu verändern.
Diese legislativen Veränderungen, Herr Neumann, mö-gen in der Vergangenheit in der Tat sehr klandestin– heimlich vor allem im Kanzleramt, unter Mitsprache der
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Grietje Bettin11638
privaten Fernsehanstalten auch bei der Filmförderungsge-setzgebung, wie Sie und ich ganz genau wissen – stattge-funden haben. Dass Veränderungen jetzt öffentlich statt-finden, im Bündnis für den Film, wird von der gesamtenFilmindustrie ausgesprochen begrüßt und sollte nun nichtzu einer Art Ankündigungspolitik umdefiniert werden.Denn wir beide wollen, wie alle im Haus, in der Tat pro-zessuale Veränderungen, aber auch legislative Verände-rungen für eine Wirtschaft bewerkstelligen, die vielleichtnicht finanziell, wohl aber, mit wenigen Ausnahmen,ästhetisch, aber vor allem hinsichtlich der Akzeptanzdurch das deutsche Publikum zwar nicht am Boden liegt,aber doch weiterhin vor sich hin darbt.Ich will angesichts der kurzen Redezeit, die ich habe,eigentlich nur wenige Punkte schnell ansprechen.Erstens. Sie haben Kosslick zitiert, zu Recht. Was sichin der Filmförderung entwickelt hat, ist in der Tat eine Artweiches Prokrustesbett: Wer einmal darin liegt, kommt danicht mehr heraus, aber liegt bequem.
Dies ist nicht richtig, dies wollen wir nicht, und dies will,wie man sieht, auch der Markt nicht. Der Markt wirdunter anderem von den Produzenten neu definiert, die andie Börse gegangen sind und sich damit eigentlich vondiesem 350-Millionen-Mark-Topf verabschieden, der inganz Deutschland zur Verfügung steht.
Diese Fördermittel stehen in einem höchst komplexenSystem zur Verfügung, von dem vor allem die öffentlich-rechtlichen und die privaten Fernsehanstalten profitieren.
Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das das richtigeSystem ist. Wir wollen das ändern. Zweitens. Vor allemSie, Herr Neumann, fragen, wo denn nun die Veränderun-gen bezüglich der von mir angekündigten Maßnahmensind. Ich habe diese Maßnahmen doch nicht nur angekün-digt, ich will sie im Gespräch mit den Partnern der Film-industrie erreichen. Sie also fragen, wo denn die an-gekündigten Verbesserungen der Situation der Produ-zenten sind. Die Produzenten sind offenkundig nichtdumm; sie sind an den Markt gegangen und verabschie-den sich damit tendenziell von diesem System.
– Ich erhöhe die Mittel im kulturellen Bereich. Wollen Siedas nicht?
Ich stelle fest: Die F.D.P. kritisiert die Erhöhung der För-dergelder im kulturellen Bereich, die vor allem Kinder-und Dokumentationsfilmen zugute kommt. Das kann ichmir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie das wollen. HerrOtto, ich weiß, Sie sind kinderlieb.
Drittens. Es ist in den Gesprächen mit den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und den Produzenten – auchdurch meine Vermittlung – inzwischen so, dass sich diesehr starre Haltung der Fernsehanstalten aufzulösen be-ginnt. Das heißt, die sehr differenzierten Rechterückfall-regelungen im Filmförderungsgesetz, aber auch in derPraxis werden zur Disposition gestellt, wenn auch nicht indem Maße, in dem Sie und ich uns das eigentlich vorstel-len und wie sich das vor allen Dingen die Produzentenwünschen.Schließlich schnell zu den Medienfonds. Die Medien-fonds, die auch in Ihrer Zeit – das darf ich doch sagen –existierten, haben dazu geführt, dass einem Ondit zufolge20 Prozent aller Hollywoodfilme, die dann wieder inden mit Steuergeldern subventionierten deutschen Marktzurückströmen, mit ebenfalls aus deutschen Steuergel-dern subsidierten Medienfonds aus Deutschland finan-ziert worden sind. 20 Prozent aller Hollywoodfilme sindmit steuerbegünstigten deutschen Geldern produziertworden, drängen auf den Markt zurück und erzielen hierungefähr 85 Prozent des Filmumsatzes. Hier ist irgendet-was nicht in Ordnung.
Wissen Sie, wie dieses Geld in Hollywood heißt? „StupidMoney!“ Aber: Who is stupid? Wenn ich das einmal syn-chronisieren darf: Wer ist hier dumm?Wenn der Finanzminister hier einige Bedenken hat,dann werden auch Sie sie teilen müssen – und teilen wol-len. Mit anderen Worten: Der § 2b des Einkommensteu-ergesetzes wird nicht in dem Sinne gestrichen, dass jetztkeine Medienfonds mehr aufgelegt werden. Aber es mussganz klar und deutlich werden, dass bei den Fonds eineeindeutige Gewinnerzielungsabsicht vorliegt. Dazu mussman sagen: Viele der Filme, die in Hollywood produziertwerden, werden in der Tat nicht mit einer Gewinner-zielungsabsicht produziert. Schätzungsweise die Hälftedieser Filme erscheint überhaupt niemals auf einer ameri-kanischen Leinwand. Warum sollen wir diese Studioar-beiten von Hollywood finanzieren, selbst wenn dort Leutewie Emmerich und Petersen arbeiten?Schließlich noch ein Punkt: Die deutschen Filmkünst-ler, die jetzt in den USA sitzen und die wohlfeilen Rat-schläge geben, wie wir hier Tabula rasa machen sollen,sitzen – ich möchte es einmal so formulieren – auf einemteuren Ross und sagen damit indirekt: Ich habe mit „DasBoot“ nichts mehr zu tun. Aber das war eine subventio-nierte Fernsehproduktion. Leute wie Emmerich sagen:Ich habe eigentlich mit meiner Ausbildung in Stuttgartnichts mehr zu tun. Aber das war steuersubventionierteFilmförderungspolitik. – Also: Gänzlich den Ratschlägendieser erfolgreichen Regisseure zu folgen wäre sicherlichnicht allein selig wachend.
Aber ich hätte sie gerne hier in Deutschland, damit siemit deutschen Geldern deutsche Filme für die gesamteWelt produzieren. Warum das nicht klappen soll, ist mirimmer noch nicht klar. Damit kommen wir auf die von Ih-
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Staatsminister Dr. Michael Naumann11639
nen zu Recht kritisierte Form der Filmförderung zurück.Sie ist in dieser Situation – im Übrigen auch angesichtsder Tatsache, dass viele Produzenten an den Markt ge-hen – nicht mehr komplett vermittelbar. Die Frage stelltsich uns allen: Warum sollen wir mit Steuergeldern Fir-men subsidieren, die in diesen Tagen mit enormen Ge-winnen an die Börse gegangen sind?
Das ist eine legitime Frage. Ich beantworte sie zur Hälfte.Wir subventionieren die gesamte deutsche Industrie mitunendlich vielen Maßnahmen. Aber es müssen – ganzklar – neue und präzisere Regeln aufgestellt werden, werin welchem Umfang gefördert wird.Dies alles sind Themen, die Sie nicht in einer Wocheund auch nicht in einem Jahr lösen können. Wir lösen siegemeinsam im Gespräch mit Ihnen – im Bündnis für denFilm, aber auch in unserem Kulturausschuss. Ich glaube,die Gemeinsamkeit unserer politischen Arbeit in dieserAngelegenheit ist ganz klar: Wir wollen Regelungen vor-legen, von denen man nicht nach 16 Jahren, auch nichtnach drei oder fünf Jahren sagen muss: Vom Winde ver-weht.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3375 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses
– zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 1998 – Vorlage der Haushalts-
rechnung und Vermögensrechnung des Bun-
des –
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-
nungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
1999 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
– Drucksachen 14/737, 14/1667, 14/3869 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Siegrun Klemmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat die Kollegin Siegrun Klemmer.
Sehr verehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Parla-mentsdebatte über die Entlastung der Bundesregierungfür das vorvergangene Jahr entzieht sich den üblichen in-terfraktionellen Beißreflexen jedes Jahr erneut auf ei-gentümliche Weise: Stets herrscht Einigkeit darüber, dieEntlastung zu erteilen, und die mahnenden Ratschläge inder Beschlussvorlage, die das Parlament zur Erhöhungder Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung seiner Exe-kutive mit auf den Weg gibt, sind manchmal über Jahrehinweg identisch.Daraus ziehen manche den Schluss, bei der ab-schließenden Behandlung einer Jahresrechnung im Ple-num handele es sich um eine nachrangige Parlamentsrou-tine. Dem muss ich entgegenhalten: Die Beschlussvorlagezur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr1998 und zu den Bemerkungen des Bundesrechnungsho-fes 1999 ist das Ergebnis monatelanger intensiver Bera-tungen im Rechnungsprüfungsausschuss, wo keineswegsimmer ausgemacht war, dass seine Mitglieder der Regie-rung jede überplanmäßige Ausgabe, jede fehlende Aus-schreibung und jede übertarifliche Eingruppierung wür-den durchgehen lassen.Manchmal herrschte indes – dem Gerücht von der be-sonderen Persönlichkeitsstruktur eines Rechnungsprüferszum Trotz – eine erfrischende Unübersichtlichkeit imAusschuss. Immer dann, wenn knackige Verstöße gegendas Haushaltsrecht und brüllend komische Arabeskendicht nebeneinander lagen, resultierten daraus entspre-chende Fragen: Wie bitte ist der Diensthund zu behandeln,den ein Zuwendungsempfänger entgegen den Richtlinienaus Bundesmitteln angeschafft hat?Für die Mühe, den Mitgliedern des Rechnungsprü-fungsausschusses den Weg durch Probleme wie diesesund einen Berg von Berichten und Beschlussvorlagen zubahnen, habe ich dem Sekretariat des Rechnungsprü-fungsausschusses herzlich zu danken.
Aber auch ohne die ständige, manchmal insistierendeZuarbeit, die kompetente, unbestechliche Prüfung und lö-sungsorientierte Beratung durch den Bundesrechnungs-hof wäre ein wirksames Controlling des Bundeshaus-halts durch ein Gremium des Parlaments nicht möglich.Mein Eindruck ist, dass diese Arbeit durch Privatisie-rungen, Überschuldung und nicht zuletzt durch die erstenSchritte zur Loslösung von der starren Kameralistik nichtnur immer komplexer, sondern auch schwerer vermittel-bar wird. Anregungen des Bundesrechnungshofes zur ef-fizienteren Mittelverwendung laufen Gefahr, als Spiel-wiese von Krämerseelen abgetan zu werden. Höchstensinteressiert das abschließende Testat, und das schallt seitJahren am Tage der Vorlage des Bundesrechnungshofsbe-richtes so durchs Land: Politik und Verwaltung ver-schwenden Steuergelder in Höhe von X Milliarden. Dannist das Urteil schnell bei der Hand: In der Privatwirtschaftwäre das nicht passiert.
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Staatsminister Dr. Michael Naumann11640
Wir sollten uns hüten, den Kritikern der Staatsquotebei ihrer Delegitimierung der Staatsaufgaben zu schnellauf den Leim zu gehen. Es gibt keine Naturgesetzlichkeit,nach der der Staat seinen Aufgaben ineffizient und nur un-ter erheblicher Mittelverdunstung nachkommt.
Der hier zur Entlastung anstehende Haushalt 1998 eig-net sich für einen interfraktionellen Schlagabtausch be-sonders wenig, da seine Aufstellung und Bewirtschaftungin den ersten Monaten noch in die Verantwortung derKohl-Regierung fiel, die Bewirtschaftung im letztenQuartal und der Jahresabschluss aber bereits von derneuen Bundesregierung geleistet wurden.Der Bundesrechnungshof hat festgestellt, das die Jah-resrechnung des Bundes und seiner Sondervermögen ord-nungsgemäß war. Fehler in der Belegführung und bei derAnwendung des Haushaltsrechts wurden vom Rech-nungshof selbst als Einzelfälle charakterisiert.Die Ausgaben betrugen 456,9 Milliarden DM und la-gen damit in Höhe von 100 Millionen DM geringfügigüber dem Soll-Ansatz. Die Unterdeckung, gleichbedeu-tend mit der Neuverschuldung, belief sich auf 56,6 Milli-arden DM. Für das Jahr 1998 wurden mit 11,4 Milliar-denDM erhebliche Ausgabereste gebildet, die gemäß § 19und § 45 der Bundeshaushaltsordnung eine zusätzlicheBelastung für den Haushalt darstellen. Ende 1998 beliefsich der Ausgaberest auf 13,7 Milliarden DM. Als Folgeder Flexibilisierung werden diese Ausgabereste auch inden kommenden Jahren vermutlich weiter ansteigen.Die Neuverschuldung blieb mit 56,6 Milliarden DMum 0,7 Milliarden DM unter der Summe der Investitions-ausgaben. Damit wurde die Kreditobergrenze des Art. 115Grundgesetz auch im Vollzug eingehalten.Am Ende des Jahres 1998 verfügte das BMF über eineRestkreditermächtigung von 10,2 Milliarden DM. DerenBildung und Inanspruchnahme ist bis heute haushalts-rechtlich umstritten. Dies gab die Behandlung dieses As-pekts im Rechnungsprüfungsausschuss deutlich wieder.§ 18 Bundeshaushaltsführung regelt, dass Krediter-mächtigungen bis zum Ende des folgenden Haushalts-jahres in Anspruch genommen werden dürfen. Die daraufaufbauende Position des Rechnungshofes lautet, die Pra-xis des Finanzministeriums, bei der Kreditbewirtschaf-tung innerhalb eines Haushaltsjahres zuerst immer dieRestkreditermächtigung und erst danach die Krediter-mächtigung des laufenden Jahres in Anspruch zu nehmen,ermögliche einen in der Höhe nicht begrenzten Aufbauder Restkreditermächtigung über mehrere Jahre hinweg.Zwar sei mit dem Haushaltsgesetz 1999 die Inan-spruchnahme von Restkreditermächtigungen in Höhevon 0,5 Prozent der Gesamtausgaben begrenzt worden,die Möglichkeit des Haushaltsausschusses, die darüberhinausgehende Restkreditermächtigung ohne erneuteParlamentsbeteiligung oder Nachtragshaushalt freizuge-ben, sei jedoch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit demGeist der Bundeshaushaltsordnung nicht unproblema-tisch.Daher sei zu thematisieren, ob nicht auch eine Rege-lung einzuziehen sei, die das BMF verpflichte, Restkredit-ermächtigungen gegenüber der laufenden Kreditermäch-tigung nur nachrangig in Anspruch zu nehmen. Das BMFhielt dagegen, mit der Neuregelung im Haushaltsgesetz1999 sei eine substanzielle und ausreichende Begrenzungder Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen er-folgt.Die Gesamtverschuldung des Bundes einschließlichseiner Sondervermögen betrug zum 31. Dezember 19981,454 Milliarden DM. Auch für 1998 war die übermäßigeBindung von Einnahmen durch den Schuldendienst cha-rakteristisch. Mit 56,6 Milliarden DM lag die Nettoneu-verschuldung unter der Vorgängerregierung deutlich überder des heutigen Konsolidierungshaushalts.
Der Schuldenstand hatte sich 1998 gegenüber den letztenzehn Vorjahren etwa verdreifacht und betrug Ende 1998fast 1,5 Billionen DM.Der Rechnungshof merkt an, die Einbeziehung desWertverlustes bei der Ermittlung der Höhe der Investitio-nen hätte diese unter die Neuverschuldung gedrückt unddamit einen verfassungswidrigen Haushalt ergeben,
es sei denn, das Parlament hätte eine Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt. Gleichzeitigsei zu überlegen, ob mittelfristig nicht auch der Veräuße-rungserlös aus Bundeseigentum, das im Jahr der An-schaffung als Investition die Höhe der Kreditobergrenzemitbestimmt, im Veräußerungsjahr die Kreditobergrenzein gleicher Höhe mindere.In formaler Hinsicht ist diese Argumentation beste-chend. Die Unterdeckung des Bundeshaushalts und dieder meisten Länder hat jedoch Größenordnungen ange-nommen, die, will man nicht massiv Ausgaben kürzen,diese Haushalte bei strenger Auslegung des Investitions-begriffs und der Saldierung von Abschreibungen und Ver-äußerungserlösen geradewegs in die Verfassungswidrig-keit führen würden. Die sinkenden Neuverschuldungenin der Finanzplanung werden den darin liegenden Spreng-stoff jedoch zumindest für den Bund tendenziell ent-schärfen.
Mit der Euro-Einführung wurden die Mitgliedstaatender Währungsunion verpflichtet, die Maastricht-Krite-rien zur Verschuldungsbegrenzung auch weiterhin einzu-halten. Verstöße werden mit einem Sanktionskatalog derEU geahndet. Da bei der Ermittlung der Kennzahlen dieöffentlichen Haushalte aller Gebietskörperschaften zu-grunde gelegt werden, der Bund jedoch im Rahmen desFöderalismus über keine Eingriffsrechte in die Haushalteder unteren Gebietskörperschaften verfügt, bedarf es– will der Bund keine Sanktionen zu tragen haben, für dieer nicht verantwortlich ist – einer innerstaatlichen Diffe-renzierung des Sanktionssystems durch einen nationalen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Siegrun Klemmer11641
Stabilitätspakt. Dies verlangen auch die EU-Vorgaben; fürDeutschland steht das allerdings noch aus.
Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Bundesre-gierung gebeten, die Verhandlungen mit den Ländern zueiner innerstaatlichen Regelung eines Stabilitätspakts zü-gig voranzutreiben. Dem hat die Bundesregierung ent-gegnet, aufgrund der positiven Entwicklungen der Kenn-zahlen und der fehlenden Sanktionsbefürchtungen seikeine akute Regelungsnotwendigkeit erkennbar. Es seihingegen angezeigt, diese Frage im Zusammenhang mitder anstehenden Regelung des bundesstaatlichen Finanz-ausgleichs zu verhandeln.
Da langfristig nicht zwingend davon auszugehen ist,dass die Kennzahlen des Maastricht-Kriteriums unverän-dert günstig bleiben, eine Verhandlungslösung mit denLändern zu einem späteren Zeitpunkt und eventuell imAngesicht einer akuten Sanktionsandrohung sehr viel un-wahrscheinlicher ist als heute, haben wir im Rechnungs-prüfungsausschuss verabredet, dieses Thema nicht auf-grund der momentanen Wachstumsaussichten aus demBlickfeld zu verlieren. Zusätzlich haben wir das BMFaufgefordert, die Verhandlungen mit den Ländern voran-zutreiben, um möglichst parallel zur Umsetzung der Vor-gaben durch das Bundesverfassungsgericht zum bundes-staatlichen Finanzausgleich eine abschließende Regelungzu erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung einerschlagkräftigen Kontrollinstanz für die öffentlichen Fi-nanzen wird sicherlich zunehmen. Ich bitte Sie daherrecht herzlich, die Arbeit der Rechnungsprüfer und deskorrespondierenden Ausschusses weiterhin mit Interesseund Wohlwollen zu begleiten.
Bitte folgen Sie der Beschlussempfehlung des Haushalts-ausschusses und erteilen Sie der Bundesregierung für dasJahr 1998 die Entlastung.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich die Aussprache fortsetze, be-
grüße ich auf der Tribüne den Vizepräsidenten des Bun-
desrechnungshofes, Herrn Dr. Engels, ganz herzlich.
Ich freue mich – und denke, dabei im Namen aller anwe-
senden Kolleginnen und Kollegen zu sprechen –, dass Sie
an unseren Beratungen teilnehmen.
Der erste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der
Kollege Josef Hollerith.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Auf der Tagesordnung stehen dieBemerkungen des Bundesrechnungshofes für das Jahr1999 und der Antrag des Bundesministeriums der Finan-zen auf Drucksache 14/737, die Regierung für das Haus-haltsjahr 1998 zu entlasten.Ich schließe mich ausdrücklich der Empfehlung derverehrten Kollegin Klemmer an, diese Entlastung durchdas Parlament zu erteilen. Ich nutze sehr gerne die heutigeGelegenheit, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterndes Bundesrechnungshofes für ihre hervorragend qualifi-zierte, engagierte und für uns sehr effiziente Arbeit herz-lich zu danken.
Ich richte meinen Dank namentlich an die Frau Präsi-dentin von Wedel und Herrn Vizepräsidenten Dr. Engels,die schwierige Aufgaben zu bewältigen haben. Ich erin-nere an den Umzug des Rechnungshofes von Frankfurtnach Bonn mit der schwierigen Aufgabe, weiter qualifi-ziertes Personal zu rekrutieren. Ich erinnere an den erfolg-reichen Aufbau der Prüfungsämter und ich erinnere an diefachlich effiziente Schwerpunktbildung in Fachgebieten,die die Prüfungstätigkeit wesentlich effizienter gestalten.Dafür sage ich ganz ausdrücklich herzlichen Dank von-seiten des Parlamentes, insbesondere der Mitglieder desRechnungsprüfungsausschusses.Ich danke ebenso herzlich den Kolleginnen und Kolle-gen, die Mitglied im Ausschuss sind. Wir haben ein her-vorragendes Arbeitsklima. Der Rechnungsprüfungsaus-schuss ist – ich erinnere daran – der einzige Ausschuss imDeutschen Bundestag, in dem nicht für jede Fraktion einBerichterstatter für ein Thema bestellt ist, sondern wo einBerichterstatter für alle Fraktionen die Controlling-Funk-tion wahrnimmt. Ich möchte in besonderer Weise der Vor-sitzenden, Uta Titze-Stecher, für ihre menschlich undfachlich herausragende und in der Sache zielführendeVorsitzendentätigkeit danken.
Es gehört auch zu einem Parlament, dass es öffentlich ge-sagt werden kann, wenn über die Fraktionen hinweg gutzusammengearbeitet wird. Es tut auch gut, über den Ta-gesstreit hinaus Umstände zu nennen, die konstruktiv zueinem erfolgreichen Controlling der Regierung beitragen.Ich möchte ausdrücklich auch den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern des Ausschusssekretariats danken, be-sonders der Ausschusssekretärin, Frau Dr. Pendzich vonWinter.
Gemeinhin wird gesagt, wer für die Arbeit bezahlt wird,hat sie auch gut zu machen. Das stimmt. Aber wenn, wiebei Frau Dr. Pendzich von Winter der Fall, diese Arbeitüberdurchschnittlich, tatkräftig und fachlich hervorra-gend erledigt wird, dann verdient das nach meiner Mei-nung eine besondere Nennung und einen besonderenDank vonseiten derer, die davon profitieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben imRechnungsprüfungsausschuss sehr intensiv gearbeitetund werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterndes Rechnungshofes sehr gut beraten. Daher erspare ich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Siegrun Klemmer11642
mir an dieser Stelle eine detaillierte Aufzählung der ein-zelnen Prüfungsthemen. Vielmehr möchte ich die Gele-genheit nutzen, eine politische Bewertung der Haus-haltsführung der alten Bundesregierung von CDU/CSUund F.D.P. in ihrem letzten Jahr vorzunehmen und sie mitden Haushaltszahlen zu vergleichen, die die neue, vonSPD und Grünen gestützte Regierung vorlegt.Die Eckwerte: Die Gesamtausgaben lagen 1998 mit456,9 Milliarden DM gegenüber 1993 mit 457,5 Milliar-den DM niedriger. Diese Verringerung der Ausgabenstellte also einen Kurs der Konsolidierung dar. Die Netto-kreditaufnahme war 1998 mit 56,4 Milliarden DM um7,3Milliarden DM niedriger als 1997. Die gesamten Ren-tenausgaben des Bundes beliefen sich 1998 auf 100 Mil-liarden DM; das waren 22 Prozent der Gesamtausgaben.Die investiven Ausgaben des Bundes betrugen 57,1 Mil-liarden DM. Die Investitionsquote lag damit bei 12,5 Pro-zent.Vergleichen wir diese Eckwerte des letzten Haushaltsder alten Bundesregierung mit denen im rot-grünen Haus-haltsentwurf 2001, so stellen wir fest: Die Gesamtausga-ben werden um 22 Milliarden DM höher als 1998 liegenund am Ende der Finanzplanung im Jahr 2004 um 46Mil-liarden DM oder um 10 Prozent über dem Niveau von1998. Das ist keine Konsolidierung, auch wenn es von derrot-grünen Seite als solche bezeichnet wird. Es ist das Ge-genteil von Konsolidierung.
Die vom Bundesrechnungshof zu Recht beklagte Ver-schlechterung der Haushaltsstruktur wird durch die rot-grüne Haushaltspolitik vorangetrieben. Die Ausgabenwerden deutlich zugunsten des Konsums und zulastender Investitionen ausgeweitet.
Die Gesamtausgaben steigen 2001 gegenüber 1998 um21,8 Milliarden DM, in der Finanzplanung 2004 gegen-über 1998 um 45,6 Milliarden DM.
Die konsumtiven Ausgaben steigen 2001 gegenüber 1998um 24,3 Milliarden DM, die investiven Ausgaben sinkendagegen um 2,5 Milliarden DM. Das ist Gift für die Kon-junktur und für die Arbeitsplätze. Vergleichen wir dieJahre 2004 und 1998, so sind es bei den konsumtiven Aus-gaben plus 50,7 Milliarden DM und bei den investivenAusgaben minus 5,0 Milliarden DM.Die gesamten Rentenausgaben des Bundes explodie-ren von 100 Milliarden DM im Jahr 1998 über 137 Milli-arden DM im Jahr 2001 auf 156 Milliarden DM im Jahr2004. Der Anteil der Rentenausgaben an den Gesamtaus-gaben, der 1998 bei 21,9 Prozent lag, wird 2001 auf28,6 Prozent steigen und 2004 die 30-Prozent-Markeübersteigen. Sowohl die Größenordnung als auch dieDynamik des Anstiegs machen deutlich, dass hier einSprengsatz für den Bundeshaushalt liegt.
– Ich nehme eine politische Bewertung vor. Das ist dieAufgabe eines Parlaments. Wir brauchen hier nicht dieAufgaben des Rechnungshofes und des Rechnungsprü-fungsausschusses nachzuvollziehen. Hier im Parlamenthaben wir die Aufgabe, politisch zu diskutieren und diepolitischen Unterschiede in der Einschätzung herauszuar-beiten.
Stiefmütterlich behandelt wird von Rot-Grün der Mit-telstand, und zwar sowohl in der Steuer- als auch in derHaushaltspolitik. Während wir im Jahr 1998 zur Förde-rung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlererUnternehmen noch 1,34 Milliarden DM im Haushalt an-setzten, streicht Rot-Grün diese Mittel auf lediglich noch508 Millionen DM drastisch zusammen. Das ist ein Mi-nus von 62 Prozent.Für die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der re-gionalen Wirtschaftsstruktur “ hat die frühereKoalition im Jahr 1998 insgesamt 3,45 Milliarden DMaufgewendet. Für 2001 sind es lediglich noch 1,99 Milli-arden DM. Das ist ein Minus von 42 Prozent.Diese Liste verfehlter Politik von Rot-Grün lässt sichbeliebig fortsetzen. Ich wollte an diesen wenigen Bei-spielen deutlich machen, dass der Grundansatz der neuenHaushaltsführung von Rot-Grün falsch ist, nämlich diekonsumtiven Ausgaben aufzublähen und gleichzeitig dieinvestiven Ausgaben zu kürzen, mit der Folge, dass not-wendige, existenziell wichtige Infrastrukturvorhaben wieetwa die A 94 oder andere Autobahnen nicht vorankom-men oder zu langsam vorankommen, mit dem Ergebnis,dass notwendige Infrastrukturinvestitionen in Eisen-bahnen, in die Beseitigung von Langsamstrecken, in denAusbau von Zweigleisigkeit, um die Kapazität derSchiene zu erhöhen, nicht stattfinden oder nur zeitlich we-sentlich verschoben stattfinden können.
Die Folge ist, dass wir im europäischen Standortwettbe-werb zunehmend Probleme bekommen, weil diese inves-tiven Ausgaben unterbleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünschemir, dass die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün ausdiesen fachlichen und sachlichen Erkenntnissen in derlaufenden Haushaltsberatung, die jetzt ansteht – wir be-ginnen mit der parlamentarischen Beratung des Bundes-haushaltes für das Jahr 2001 in diesen Wochen –, mehrsind als Abnicker des Regierungsentwurfes, dass sie ihreparlamentarischen Rechte und Pflichten annehmen
und diesen Haushalt verändern, dass sie neue Schwer-punkte zugunsten von Investionen und Arbeitsplätzensetzen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Josef Hollerith11643
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Oswald
Metzger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mich hatschon gewundert, dass der Kollege Hollerith am Anfang– fünf Minuten – zu Recht Loblieder sang für den Rech-nungshof und die Arbeit im Ausschuss. Dass er aber amSchluss einen Knüppel aus der Tasche holt, ist hier über-haupt nicht angebracht. Sie sitzen im Glashaus, KollegeHollerith,
und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Eine derHauptbemerkungen des Rechnungshofes zum Jahr 1998– von dem reden wir – war beispielsweise, dass Sie imJahr 1998, wenn Sie nicht 19,8 Milliarden DM Privati-sierungserlöse im Haushalt als Ist-Ergebnis vereinnahmthätten, im Abschluss einen verfassungswidrigen Haushaltgehabt hätten.
Diese Bemerkung ist berechtigt, und insofern möchteich auch davon die Frage nach dem Investitionsbegriffableiten. Wenn wir in unserer Gesellschaft dauerhaftglauben, die Investitionen seien der Gradmesser für dieVerschuldungsobergrenze nach dem Grundgesetz, dannlügen wir uns alle in die Tasche. Wir haben den Werte-verzehr, den Substanzverlust nicht eingerechnet. KollegeHollerith, Sie haben gerade am Schluss die Bahn AG ge-nannt. Heute Mittag hatten wir, die grüne Fraktions- undParteispitze, ein Gespräch mit dem Bahnvorstand. Ich sel-ber war dabei. Der Bahnchef selber sagt: Seit zehn Jahrenwird in der Netzinfrastruktur nichts mehr gemacht.Wir sind zurzeit dabei, eine Bahnoffensive zu starten,im Haushaltsausschuss auch die entsprechenden Be-schlüsse zu fassen und im Etat des Jahres 2001 die Inves-titionen ganz gewaltig zu erhöhen. Da wird praktisch einStück weit Nachholbedarf abgetragen aus der Zeit, in derSie Privatisierungserlöse gebraucht haben, um überhauptnach dem Buchstaben des Grundgesetzes halbwegs ver-fassungsgemäß zu bleiben.Stichwort Konsolidierung: Kollege Hollerith, Siewissen ganz genau, dass nach wie vor der strategische An-griff der Opposition daran zerschellt. So solide wie wir inden letzten anderthalb Jahren, also spätestens seit EichelFinanzminister ist,
agieren, und zwar auch im Bereich der Ausgabenpolitik,waren Sie einfach, zumindest seit der Wiedervereinigung,nicht. Sie können vielleicht für sich in Anspruch nehmen,während der Zeit Stoltenbergs – um mal korrekt zu sein,drei Jahre lang – Konsolidierung gemacht zu haben, abernicht die letzten zehn Jahre. Das muss wahr bleiben.
Ein weiterer Gesichtspunkt: Sie haben darauf hinge-wiesen, dass das Ausgabevolumen gestiegen ist, und ha-ben die Nominalwerte des Jahres 1998 verglichen mit denFolgejahren 1999, 2000 und 2001. Da unterschlagen Sieschlicht und einfach ein paar Fakten, die aber wichtigsind.Schattenhaushalte wie die Postunterstützungskasse,die 1998 noch separat waren, haben wir bereits 1999 un-ter Lafontaine als Finanzminister im Bundeshaushalt of-fen etatisiert, was zu entsprechenden Zinsausgaben undzum Anstieg der Verschuldung geführt hat. Wir haben dieZuschüsse an die Rentenversicherung erhöht, was einemBeschluss des gesamten Parlaments entsprach: Kinderer-ziehungszeiten sollten fairer berücksichtigt werden. Wirhaben die Mehrwertsteuererhöhung von 1998 – ich hatteetatisiert, die SPD als große Oppositionspartei zuge-stimmt – 1999 erstmals ein komplettes Jahr lang aber indie Rentenkasse fließen lassen – so wird es auch in denFolgejahren sein –, um die Beiträge zur Rentenversiche-rung nicht auf 21 Prozent ansteigen zu lassen. Wir habenauch das Aufkommen aus der ersten Stufe der Ökosteuer1999 und 2000 in die Rentenversicherung fließen lassen.Wenn man den Haushalt um diese Effekte bereinigt undberücksichtigt, dass der Entwurf des Jahres 2001 im Ver-gleich zu dem des laufenden Jahres überhaupt nicht auf-wächst, sondern stabil bleibt, dann muss man feststellen,dass die Ausgaben – über drei bzw. vier Jahre gerechnet –um etwa 4,5 Prozent wachsen. Wenn das expansive Haus-haltspolitik sein soll, dann frage ich Sie, wie Sie das er-klären wollen.Wir haben das vor allem nicht durch einen Anstieg derNettoneuverschuldung erreicht, sondern durch ihre Stabi-lisierung und Rückführung. 1998 lag die Nettoneuver-schuldung des Bundes bei 56,4 Milliarden DM. In denzwei Monaten nach der Bundestagswahl, also im Jahr1998, konnten wir zwar – bei Gott – noch nicht viel um-switchen. In diesem Jahr waren Sie noch überwiegend fürden Etat verantwortlich. Aber bereits 1999 betrug die Net-tokreditaufnahme nur noch rund 51 Milliarden DM. Indiesem Jahr wird sie bei 49,5MilliardenDM liegen. Diesesinkende Tendenz werden wir fortsetzen. Im nächstenJahr soll die Nettoneuverschuldung unter 45 Milliar-den DM liegen. Das ist die Absicht der Koalitionsfraktio-nen. Insgesamt entspricht das einer Senkung der Netto-neuverschuldung um 11 Milliarden DM.Vor allem – das ist noch viel wichtiger – haben wirnicht wie Sie 19,8 Milliarden DM an Einnahmen aus demVerkauf von Tafelsilber, also aus Privatisierungen, ein-gestellt; wir hoffen vielmehr, dass mit den 3,5 Milliar-den DM, die wir aufgrund der günstigen Entwicklung derKonjunktur und der Steuereinnahmen etatisiert haben, diefrüher eingestellten Privatisierungseinnahmen dieses Jahrdurch reguläre Einnahmen ersetzt werden können unddass der Privatisierungserlös in die Tilgung fließt. Auchim nächsten Jahr wollen wir versuchen, die Privatisie-rungseinnahmen durch konjunkturbedingte Steuermehr-einnahmen möglichst auf Null zu fahren. Damit hättenwir einem Prinzip zum Durchbruch verholfen, das lautet:Wenn der Bund Eigentum verkauft und gleichzeitig neueSchulden macht, dann muss er die Erlöse aus der Eigen-tumsveräußerung zur Schuldentilgung nutzen. Das ist
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011644
die einzige sinnvolle und zulässige Verwendung von Pri-vatisierungseinnahmen.
Diese Solidität wollen wir in den Folgejahren auf jedenFall beibehalten.
Insofern, Kollege Hollerith, verehrte Damen und Her-ren von der Opposition, müssen Sie sich warm anziehen,wenn Sie den Konsolidierungskurs dieser Koalition ernst-haft angreifen wollen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Kol-
lege Jürgen Koppelin für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe recht herzlich
zu danken, einmal unserer Vorsitzenden, der Kollegin
Titze-Stecher, die den Rechnungsprüfungsausschuss her-
vorragend und sehr fair leitet, aber natürlich auch allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für den Rech-
nungsprüfungsausschuss und – ich denke, das kann man
an dieser Stelle auch sagen – für den Haushaltsausschuss
arbeiten, und natürlich den Angehörigen des Bundesrech-
nungshofes, auch wenn wir mit diesen nicht immer einer
Meinung sind und von deren Empfehlungen abweichende
Entscheidungen treffen. Aber ich glaube, dass deren Zu-
arbeit unglaublich nützlich für unsere Arbeit ist.
Mein Kollege Kinkel hatte nach der Rede der Kollegin
Klemmer gesagt: Ihr umarmt euch im Rechnungsprü-
fungsausschuss scheinbar ständig, weil alles so einheit-
lich zu sein scheint. So ist es zwar nicht. Aber man darf an
dieser Stelle sagen, dass es dort eine ausgesprochen faire
und sachliche Zusammenarbeit gibt. Insofern bedauere
ich Ihren Ton, Herr Kollege Hollerith, ein bisschen. Ich
könnte jetzt natürlich auch etwas über die Steuerreform
sagen und darstellen, wie schwer das Jahr 1998 gewesen
ist,
und könnte alles noch einmal herunterbeten, was wir in
– ich weiß nicht, wie vielen – Haushaltsdebatten schon
besprochen haben. Unsere Aufgabe ist es doch in erster
Linie zu prüfen: Wie arbeitet die Regierung, gemessen an
den Vorgaben? Gibt sie das Geld vernünftig aus?
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch sagen, dass es
mich ein bisschen ärgert – man sieht es auch an der jetzi-
gen Besetzung; ich werfe es ja keinem vor; wir werden
das auch in den morgigen Berichten der Medien wieder-
finden –, wenn der Bund der Steuerzahler sein Büchlein
herausgibt und seitenlang Verfehlungen ausbreitet. Dabei
leisten wir vielleicht eine viel bessere und härtere Arbeit
als dieser Bund.
In unserem dicken Buch lässt sich alles Mögliche finden.
Das ist zum Teil erbarmungslos. Mein Wunsch ist daher,
dass die Bundesregierung, egal, wer sie gerade stellt,
schneller zuliefert, wenn wir unsere Wünsche äußern, und
dass sich die Zeiträume verkürzen, in denen wir beraten
und eine Sache zum Abschluss bringen. Insofern möchte
ich der Kollegin Klemmer ausdrücklich für ihre Rede
danken, weil sie die Stimmung im Rechnungsprüfungs-
ausschuss genau wiedergegeben hat.
Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht gut gewesen,
wenn Sie schon anwesend gewesen wären und die gute
Rede der Kollegin Klemmer hätten hören können. Die Re-
gierungsbank war allerdings noch leer, als die Kollegin
ihre Rede hielt. Bei meiner Rede kommen Sie gleich mit
zwei Staatssekretären. Dafür habe ich Verständnis.
Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Oswald Metzger [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sich selbst erhöht,
wird erniedrigt werden! – Dietmar Schütz [Ol-
denburg] [SPD]: Ehre, wem Ehre gebührt!)
Lassen Sie mich abschließend zwei Dinge sagen, über
die man sich freuen kann. Lieber Oswald Metzger, so
schlecht kann die Haushaltspolitik der alten Koalition
nicht gewesen sein, wenn – ich habe es bereits bei ande-
rer Gelegenheit gesagt – noch immer derselbe beamtete
Staatssekretär für die Bundesregierung den Haushalt auf-
stellt, der schon damals für Herrn Waigel tätig war. So
schlimm kann das alles also nicht gewesen sein.
Das ist die eine Freude, die ich mitzuteilen habe.
Die andere Freude – über sie zu sprechen kann ich mir
wirklich nicht verkneifen – sieht folgendermaßen aus: Mit
welcher Vehemenz hat unser Kollege Diller früher im
Haushaltsausschuss die Bundesregierung angegriffen!
Jetzt muss der gleiche Kollege hier die Bundesregierung
vertreten und die Entlastung der alten Regierung beantra-
gen. Das zu sehen ist auch für mich ein Vergnügen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Zustimmung zur Entlastung derRegierung für ein Haushaltsjahr ist fast schon ein Ritual.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Oswald Metzger11645
Während der Haushalt 1998 schon längst Geschichte ist,müssen wir seine Folgen noch heute tragen.
Da der Bundesrechnungshof keine wesentlichen Abwei-chungen hinsichtlich der kassenmäßigen Ergebnisse fest-gestellt hat, stimmt die PDS-Fraktion einer Entlastung zu.
Trotzdem lesen sich die Bemerkungen des Rechnungsho-fes – dafür möchte ich mich bei seiner Präsidentin undihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht herzlich be-danken – wie ein Krimi.
Abgesehen davon gilt die Verletzung des Haushalts-rechts auch nach dem Regierungswechsel noch immer alsKavaliersdelikt und bleibt ungeahndet.
– Oh doch, gerne. – Es ist schon erstaunlich, wie großzü-gig in einigen Bereichen mit Steuergeldern umgegangenwird. Hierzu möchte ich nur kurz einige Beispiele nennen.Erstens. Nicht zum ersten Mal wurde festgestellt, dassdas Finanzministerium seiner Fachaufsicht gegenüberden Oberfinanzdirektionen nicht nachgekommen ist. Sobeauftragte das Ministerium eine Zoll- und Verbrauch-steuerabteilung einer Oberfinanzdirektion mit der Errich-tung von fünf Gebäuden. Die Oberfinanzdirektion vergabinsgesamt Bauaufträge in Höhe von 23 Millionen DMohne Ausschreibung.Zweitens. Obwohl bereits 1996 den Rentenversiche-rungsträgern die gesetzliche Aufgabe der Prüfung aufdie Richtigkeit der Beitragszahlungen der Arbeitge-ber übertragen wurde, sind, bedingt durch unzurei-chende Prüfungen, Beitragsansprüche verjährt. Der fi-nanzielle Schaden für den gesamten Bereich derRentenversicherung wird allein für das Jahr 1996 aufcirca 85 Millionen DM geschätzt. Damit wäre ich wiederbeim Thema Betriebsprüfer, Stichwort „leere Rentenkas-sen“.Drittens. Der Umgang mit Geldern im Bundesminis-terium der Verteidigung ist eigentlich schon kriminell.
Ich nenne zur Illustration ein Beispiel: Die Ersatzteilbe-stände des abgelösten Waffensystems F-104 Starfightersollten verwertet werden. Durch vermeidbare Zeitverzö-gerungen, mangelhafte Bestandsführungen sowie Fehlerund Versäumnisse bei der Umsetzung der vertraglichenVereinbarungen mit der Verwertungsfirma wurde für diebeiden letzten Lose der überschüssigen Ersatzteilbeständemit einem ursprünglichen Beschaffungswert von rund1,3 Milliarden DM nicht einmal der vereinbarte Garantie-erlös von 5 Millionen DM erzielt. Falls das natürlich eineForm des heimlichen Widerstandes gegen Rüstungsex-porte sein sollte, würde ich meine Kritik zurücknehmen.
Fazit: Die Prüfung der Haushaltsrechnung 1998 machterneut deutlich, dass durch die Verschwendung öffentli-cher Gelder und auch durch Misswirtschaft von Bundes-behörden dem Staat jährlich Milliarden DM verloren ge-hen. Daran hat sich bis heute trotz des Regierungs-wechsels – das zeigen jüngste Prüfberichte – nichts grund-legend geändert.
Herr Finanzminister, warum nutzen Sie nicht erst einmaldiese Reserven, anstatt Ausgabenkürzungen vorzuneh-men? Dabei würden wir Sie gern unterstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem An-trag des Bundesministeriums der Finanzen zur Entlastungder Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1998 und zuden Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1999,Drucksachen 14/737, 14/1667 und 14/3869. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Gudrun Kopp, Dr. HermannOtto Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.Für eine mutige Reform des Internationalen-Währungsfonds
– Drucksache 14/3861 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UrsulaLötzer, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSReform der internationalen Finanzarchitektur– Drucksache 14/4069 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Heidemarie Ehlert11646
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat die Kollegin Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr ge-
ehrte Herren und Damen! Um es vorweg zu sagen: Der In-
ternationale Währungsfonds und die Weltbank sind zwei
– so empfinden wir es – wirklich unverzichtbare Institu-
tionen, die, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, dringend
reformiert werden müssen. Sie haben das verfolgt: Die
Jahrestagung, die gerade zu Ende gegangen ist, wurde
wiederum von großen Protesten begleitet. Insbesondere
wurde bemängelt, dass den ärmeren und ärmsten Län-
dern dieser Welt zu wenig Beachtung geschenkt werde.
Ich finde es bemerkenswert, dass sich Herr Köhler – er hat
das sehr glaubwürdig dargestellt – insbesondere diesem
Problem widmen will.
Wir hoffen, dass es in diesem Bereich eine umfassende
Reform hin zu mehr Effizienz geben wird.
Im Zusammenhang mit der Jahrestagung ist anzumer-
ken, dass uns auch jetzt noch kein schlüssiges Konzept
der Bundesregierung darüber vorliegt, wie sie sich denn
eine solche Modernisierung, ein Reformwerk von IWF
und Weltbank, vorstellt. Vielleicht hören wir das aber
gleich.
Wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, haben Ihnen des-
halb ein Acht-Punkte-Papier vorgelegt, in dem Sie acht
mutige Reformschritte zur Modernisierung, zur Refor-
mierung und zur Effizienzsteigerung des IWF finden. Ich
spreche dazu nur kurz einige Schlüsselbegriffe an.
Wir brauchen funktionierende Finanzmärkte. Das ist
wichtig, und zwar zur Krisenprävention und zum
Krisenmanagement. Zur Krisenprävention sind alle Re-
formschritte zu begrüßen, die zu mehr Transparenz der
Kapitalmärkte und damit zu einer präziseren Bewertung
der Risiken durch die Kapitalgeber beitragen.
Hier sind zunächst die nationalen Regierungen und auch
der IWF gefordert. Das wird eine große Aufgabe sein. Der
IWF muss sich nach unseren Vorstellungen verstärkt als
Krisenmanager einbringen.
Das setzt natürlich voraus, dass sich der IWF als univer-
selle Institution der Zahlungsbilanz-, Währungs- und
Geldpolitik darauf konzentriert. Aktuelle Kompetenz-
überschreitungen von IWF und Weltbank – wir kennen
das zur Genüge – sind im Rahmen dieses Reformwerkes
dringend zu beseitigen.
Bundesbank und F.D.P. sind sich beispielsweise völlig
einig – wir lasen kürzlich auch in der Presse, dass die Bun-
desbank dazu Stellung genommen hat – in der Forderung
nach verstärktem Engagement des IWF insbesondere für
kurzfristige Zahlungsbilanzhilfen und Zinsstaffelun-
gen.
In einem Punkt – der ist uns ganz besonders wichtig –
besteht kein Konsens. Man muss sich vor Augen führen,
dass die Bundesbank eine Reserveposition des IWF im
Umfang von circa 16 Milliarden DM hält. Dies sind öf-
fentliche Mittel; daher halten wir von der F.D.P.-Fraktion
es einfach für natürlich, den Mitwirkungsanspruch des
Deutschen Bundestages zu reklamieren.
Wir fordern also mehr Offenheit und rechtzeitige Infor-
mationen, wenn grundlegende Veränderungen im IWF
anstehen.
Ich glaube und hoffe, dass hier ein Konsens herzustellen
ist.
Ich hoffe, dass im Rahmen dieser Debatte über unseren
Antrag eine fruchtbare Diskussion erfolgen wird und dass
dies im Sinne aller – der ärmeren Länder, der Schwellen-
länder und auch der reichen Länder – sein wird. Ich hoffe
auf eine sehr effiziente Reform des IWF zum Nutzen aller.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Im Antrag der F.D.P.-Frak-tion gibt es zumindest zwei richtige Sätze, auf die ich kurzeingehen möchte. Über den Rest würde ich gerne denMantel des Schweigens decken, aber ich muss im Laufeder Rede noch auf einen anderen Satz zurückkommen.Der erste Satz, Frau Kollegin Kopp, in Ihrem Antrag, denich unterstreiche, lautet:Die Berufung Horst Köhlers an die Spitze desInternationalen Währungsfonds ist ein großerErfolg für deutsche Bewerbungen um Spitzenpostenbei internationalen Organisationen.
Das ist völlig richtig. Das ist ein großer Erfolg, nicht nurfür eine deutsche Bewerbung, sondern auch ein großerErfolg für die Bundesregierung. Die Bundesregierunghat nämlich durchgesetzt, dass erstmalig ein Deutscher ander Spitze einer internationalen Organisation steht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Vizepräsidentin Petra Bläss11647
– Wissen Sie, was Profis im Fußball auszeichnet, HerrHirche? Wenn die einen Ball verloren haben, setzen sienach und machen daraus ein Tor. Das sind Profis.
– Soll ich das dem Herrn Köhler gegenüber zitieren, HerrDautzenberg, dass Sie seine Ernennung als Eigentor be-zeichnet haben? Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.Der zweite Satz aus dem F.D.P.-Antrag lautet:Oberstes Ziel der Bundesregierung muss es sein, sta-bile und nachhaltig funktionierende Finanzmärkteals Motor für Wachstum und Beschäftigung zu si-chern.Das ist richtig. Warum ist dieser Satz richtig? Weil Sie ihnaus unserem Entschließungsantrag „Frieden braucht Ent-wicklung“ vom 17. Mai 2000 abgeschrieben haben. Dasist fast ein wörtliches Zitat.
Der Satz ist auch deshalb richtig, weil er eben beschreibt,dass die internationale Sicherung stabiler und nachhaltigfunktionierender Finanzmärkte zentrale Bedeutung hat,damit diese tatsächlich als Motor für Wachstum undBeschäftigung dienen können. Deswegen ist er richtig. Erwar auch schon richtig, als wir ihn in unseren Antrag he-reingeschrieben haben. Aus dieser Erkenntnis definierensich auch die Ziele für den IWF.Erstens. Der IWF muss seine Rolle als zentrale inter-nationale Institution auf dem Gebiet der Wirtschafts- undWährungspolitik bewahren.
Das heißt – da müssen Sie jetzt gut zuhören, weil Sie dasoffensichtlich nicht wollen –, der IWF muss für alle seineMitgliedsländer bei allen makroökonomischen Proble-men tätig werden können. In diesem Zusammenhangüberrascht Ihr Antrag doch, denn Sie fordern ja im Grundeden Ausstieg aus der langfristigen, zinssubventioniertenKreditfinanzierung. Ähnliches fordert ja auch die PDS,indem sie sich für die Abschaffung der Strukturanpas-sungsprogramme einsetzt. Damit fordern Sie gemeinsam– eine merkwürdige Koalition – den Rückzug des IWFaus der Armutsbekämpfung. Das werden wir nicht mitma-chen.
Es ist schon eine merkwürdige Allianz zwischen PDS,F.D.P. und auch den Republikanern in Amerika, die demMeltzer-Vorschlag folgen, der darauf abzielt, dass diefreien Kräfte des Marktes auch für die Entwicklungsfi-nanzierung gelten sollen.
Es befremdet mich ganz besonders, dass die PDS dieseAuffassung vertritt. Bei der F.D.P. kann man das ja nochnachvollziehen. Wir lehnen die Forderungen des Meltzer-Reports nach Ausstieg aus der Armutsbekämpfungdurch den IWF ab.
Nach unserer Auffassung muss der IWF auch in denärmsten Ländern mit seinen wirtschaftspolitischen Emp-fehlungen präsent sein. Mit dieser Meinung befinden wiruns in völliger Übereinstimmung mit der amerikanischenRegierung. Der IWF ist ja so eine Art Feuerversicherungauf Gegenseitigkeit. Ihre Vorschläge laufen aber daraufhinaus, dass letztlich die Feuerwehr, wenn irgendwo et-was brennt, nur noch in den Ländern zum Löschen kommtund löschen darf, die vorher als die schönsten und bestenbestimmt wurden. So kann es nicht gehen.Zweitens. Der Schwerpunkt der Aufgaben des IWFsoll in Zukunft bei der Krisenvorbeugung liegen. Dasind wir ja, wie ich denke, einer Meinung. Das heißt, mehrPrävention statt Intervention. Dazu braucht der IWF einedeutlich verbesserte Daten- und Informationsbasis. Daranmuss gearbeitet werden und daran wird auch gearbeitet.Er muss sich in seiner Analyse- und Beratungstätigkeit imHinblick auf Krisenprävention vermehrt auch dem Ge-sichtspunkt ökonomischer und finanzieller Anfälligkeitwidmen.
Das heißt, er muss sich auch diesen hochspekulativenFonds, den so genannten Hedge Funds und den Offshore-zentren widmen. Dazu braucht er auch die Umsetzung in-ternational vereinbarter Transparenz- und Aufsichtsstan-dards in den Industrie- und Schwellenländern. DieBundesregierung hat entsprechende Initiativen im Rah-men der G 20 ergriffen. Das begrüßen wir sehr.
Drittens. Der IWF muss in der Lage sein, sowohl kurz-als auch mittelfristige Kredite zur Überwindung vorüb-ergehender Finanzierungsprobleme zur Verfügung zustellen. Das ist besonders für die Ostblockländer, die sogenannten Transformationsländer, und deren makroöko-nomische Stabilität wichtig. Dabei muss der IWF diemarktwirtschaftlichen Kräfte stärken und Anreize für dieUmsetzung Krisen vorbeugender Maßnahmen setzen. DiePreisstruktur muss stimmen, denn sie muss zu einem effi-zienten Einsatz der IWF-Mittel beitragen. Das heißt, un-angemessen lange Inanspruchnahmen von IWF-Mittelnoder auch ein unangemessen schwieriger Zugang zu IWF-Mitteln muss verhindert werden.Viertens. Bei der Bewältigung von Krisen soll die Hilfedurch den IWF von dem Grundsatz der Einbeziehung desPrivatsektors ausgehen. Eine Politik großer öffentlicherKrisenpakete, wie sie in der Vergangenheit betriebenwurde, darf in Zukunft nicht mehr Richtschnur sein. Dennes kann nicht sein, dass bei Finanzkrisen privates Geld,das durch Spekulation verloren gegangen ist, letztlichdurch IWF-Mittel ersetzt wird. IWF-Mittel sind Steuer-mittel, also Gelder der Steuerzahler, und es kann nichtsein, dass der Steuerzahler den Spekulanten Sicherheitengibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Bernd Scheelen11648
Fünftens. Ein stabiler wirtschaftlicher Rahmen ist einezentrale Voraussetzung für ein dauerhaftes Wachstumauch in den ärmsten Mitgliedsländern. Deshalb muss derIWF auch dort engagiert bleiben, und zwar als Berater undals Finanzier. Dabei spielt das im Herbst letzten Jahresaufgelegte Programm zur Armutsreduzierung und Wachs-tumsförderung eine wichtige Rolle. Wer wie F.D.P., PDSund die amerikanischen Republikaner – ich habe es ge-rade schon erwähnt – daraus aussteigen will, ist nationalund international dialogunfähig. Das hat die Jahrestagungin Prag auch eindrucksvoll gezeigt.Sechstens. Bei der Armutsbekämpfung muss das un-terschiedliche Mandat von IWF und Weltbank respek-tiert werden und eine klare Aufgabenteilung sicherge-stellt sein.
Während der IWF für die Formulierung der makroökono-mischen und der damit verbundenen strukturellen Re-formpolitik zuständig ist, liegt die Zuständigkeit der Welt-bank bei Fragen der Entwicklung, insbesondere bei derStrategie zur Armutsbekämpfung. Dort, wo sich Ausga-ben überschneiden, muss eine Zusammenarbeit klar gere-gelt sein.
Fortschritte in diese Richtung sind gemacht, so die begin-nende stärkere Betonung der Krisenvorbeugung. Es gibtneue Formen der Kreditausgestaltung, es gibt eine Inten-sivierung der Kontakte des IWF zu den Finanzmärktenund es gibt die Einrichtung eines unabhängigen Eva-luierungsbüros, das die Arbeit des IWF noch transparen-ter macht.Meine Damen und Herren, Horst Köhler hat vorgesternseine Vision über die zukünftige Rolle des IWF vorge-stellt. Danach soll der IWF erstens eher Partner als Erzie-her der Mitgliedsländer sein.
Er soll zweitens eine stärkere Fokussierung auf seinemonetäre Rolle vornehmen und unter Beibehaltung seinereigenen Rolle bei der Armutsbekämpfung eine klare Ab-grenzung zur Weltbank vornehmen.
Drittens wird der IWF seine Krisenvorbeugungsfunk-tion in den Mittelpunkt stellen.Viertens. Der IWF wird sich – auch schon wegen sei-ner begrenzten Finanzmittel – auf seine katalytische Rollebei Krisenlösungen zurückbesinnen.Wir stellen als SPD-Fraktion mit Zufriedenheit fest,dass die Bundesregierung und mit ihr die Mitgliedsländerdes IWF dafür eine breite Zustimmung gegeben haben.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Leo Dautzenberg.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag der Fraktionder F.D.P. „Für eine mutige Reform des InternationalenWährungsfonds “ und dem Antrag der Fraktion derPDS „Reform der internationalen Finanzarchitektur“liegen uns zwei Anträge vor, die auch vor dem Hinter-grund der aktuellen Diskussion auf der Jahrestagung vonIWF und Weltbank in Prag zu sehen sind.Mit der Berufung von Horst Köhler zum Exekutivdi-rektor des IWF vor einigen Monaten wurde die Reformdes IWF bereits eingeleitet. Mit seiner hervorragendenRede zur offiziellen Eröffnung der Weltwährungskonfe-renz in dieser Woche in Prag dürfte auch dem Letzten klargeworden sein, dass der IWF mit ihm einen ausgezeich-neten Generaldirektor bekommen hat.
Vielen hier im Hause ist das laienhafte und unprofessio-nelle Schauspiel dieser Bundesregierung mit anderen Per-sonen vor der Berufung von Horst Köhler vielleicht nochin Erinnerung.
Die gesamten aktuellen Diskussionen zum IWF, zurWeltbank und zur internationalen Finanzarchitektur ha-ben einen Vorlauf, der auch in beiden vorliegenden An-trägen zum Ausdruck kommt, nämlich den so genanntenMeltzer-Bericht. Das ist der Bericht einer Sonderkom-mission unter Wirtschaftsprofessor Allan Meltzer, dievom US-amerikanischen Kongress eingesetzt wurde.Herr Scheelen, von Herrn Köhler sind wesentlicheSchwerpunkte aufgenommen worden, die nicht im Ge-gensatz dazu stehen. Sie haben auch betont, dass es aufeine klare Aufgabenteilung beider Institute ankomme.Nach diesen Empfehlungen solle sich der IWF aus derlangfristigen Entwicklungs- und Strukturanpassungsfi-nanzierung zurückziehen
und diese Bereiche im Interesse einer vernünftigen Ar-beitsteilung ausschließlich der Weltbank und den regio-nalen Entwicklungsbanken überlassen.
Der IWF solle sich konzentrieren auf die Absicherungglobaler makroökonomischer Stabilität durch Beratungund Bereitstellung kurzfristiger Liquiditätshilfen für inFinanzkrisen geratene Länder.IWF-Chef Köhler hatte kurz nach seinem Amtsantritterklärt, wesentliche Elemente der Meltzer-Vorschlägeübernehmen zu wollen, darunter insbesondere die Kon-zentration auf die Vermeidung von Finanzkrisen unterNutzung kurzfristiger Kredite und – das habe ich schonbetont – der Ausstieg aus der langfristigen Entwicklungs-finanzierung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Bernd Scheelen11649
Auch der private Sektor muss stärker eingebundenwerden. Er darf sich nicht mehr darauf verlassen können,dass bei risikoreichen Kreditgewährungen der IWF zuguter Letzt einspringt und eine so genannte Bail-out-Rolleübernimmt.
Dies ist auch die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion.Mein Kollege Hedrich hatte seinerzeit zu Recht die Ent-wicklungshilfeministerin Frau Wieczorek-Zeul dafür kri-tisiert, dass sie mit der Analyse der Reformbedürftigkeitund -bereitschaft vor Monaten voll daneben lag. Mittler-weile wird der vorgeschlagene Weg auch von FrauWieczorek-Zeul – so das Kommuniqué des Entwick-lungsausschusses von Prag – nicht mehr infrage gestellt.In der Vergangenheit haben sich vor allem die Verei-nigten Staaten von Amerika beim IWF aufgrund seinerguten Finanzlage als Reservekasse für Entwicklungshil-feprojekte bedient. Daraus ist die Vermischung der Auf-gaben beider Institute entstanden. Das heißt, auch auf-grund dieser Sachlage sind die Aufgabenstellungen vonIWF und Weltbank vermischt worden. Die Bretton-Woods-Institutionen wurden 1944/1945 mit einer klarenAufgabenabgrenzung gegründet. Sie müssen zu ihrenKernaufgaben zurückfinden und in ihrer gemeinsamen er-gänzenden Aufgabenstellung die Bekämpfung der Armutals Hauptziel haben.
In seiner Rede in Prag betonte Köhler zudem, dassviele Industrieländer noch nicht erkannt hätten, dass auchsie einen Beitrag zu globalen Strukturveränderungen leis-ten müssten. Dazu gehöre auch der bessere Zugang derEntwicklungs- und Transformationsländer zu den indus-triellen Absatzmärkten.Hier liegt auch der Schlüssel fürden Kampf gegen die Armut. Positiv zu bewerten ist, dassdie USA 70 Ländern und die EU-Staaten 48 Ländern ihreMärkte öffneten. Es muss aber noch mehr getan werden.Zitat Köhler:Wohlfahrtsgewinne von mehr als 100Milliarden US-Dollar im Jahr stünden in Aussicht, wenn die Han-delsbarrieren weltweit um 50 Prozent gesenkt wür-den.
Dies ist deutlich mehr als der Gesamtschuldenab-bau, der im Rahmen der Schuldeninitiative für die36 ärmsten, hoch verschuldeten Entwicklungsländerwährend der beiden nächsten Jahre vorgesehen ist.Alle würden gewinnen, wenn man die Kräfte bündeleund energisch Reformen angehe. Dann werde man esvielleicht auch schaffen, bis zum Jahr 2015 die Hälfteder Menschen, die jetzt noch in Armut lebten, aus ih-rer schlimmen Not zu befreien.
Eine weitere Schwerpunktaufgabe ist die Überwa-chung und Einhaltung international vereinbarter Verhal-tensregeln insbesondere im Geld- und Kreditsektor.Im Antrag der PDS sind einige Punkte enthalten, diesowohl mit unserer Auffassung als auch mit dem F.D.P.-Antrag in Einklang stehen. Doch im Forderungs- und Be-gründungsteil sind Vorstellungen und Punkte enthalten –wie Kapitalsteuer und -kontrolle, Verbot bestimmter De-rivatgeschäfte, die altbekannte Tobinsteuer, Transakti-onsteuer und damit ein gesellschaftspolitisch grund-sätzlich anders ausgerichteter Ansatz –, die die Chance füreine ernsthafte politische Auseinandersetzung gegen Nulltendieren lassen. Sie führen mit diesen Vorschlägen ausder sozialistischen Steinzeit Ihren Antrag selbst ad absur-dum.
Der F.D.P.-Antrag beinhaltet in fast allen Punkten auchdie Auffassung der CDU/CSU-Fraktion. Klärungsbedürf-tig ist jedoch die Ausgestaltung der formellen Beteiligungdes Parlaments in Ziffer 8 des Antrages. Der Anteilseig-ner Bundesbank stimmt im Benehmen mit der Bundesre-gierung in den IWF-Gremien ab. Die Unabhängigkeit derBundesbank darf in keiner Weise tangiert werden, auchwenn ihr eigener Präsident Welteke sie durch politischwertende Aussagen in letzter Zeit selbst ins Gerede ge-bracht hat.
Wenn unter dem Petitum „Für mehr Transparenz undAufklärungsarbeit“ die parlamentarische Befassung ge-wünscht ist, dann wäre nach unserer Auffassung eine stär-kere Beteiligung auf Initiative der Bundesbank als An-teilseignerin sinnvoll. Vergleichbare Initiativen haben wirgemeinsam zu den Baseler Vereinbarungen ergriffen.Meine Damen und Herren, in Prag wurden die De-monstrationen zur IWF- und Weltbanktagung leider vongewaltbereiten Chaoten überschattet. Die Konferenzwurde aus meiner Sicht exzellent und professionell vor-bereitet und durchgeführt. Viele Demonstranten und ei-nige Organisationen verlangten die Abschaffung von IWFund Weltbank. Unserer Auffassung nach benötigen wirdringender denn je sowohl den IWF als auch die Weltbankin neuen Strukturen,
und zwar den IWF mit den Kernaufgaben Wachstumsför-derung, makroökonomische Stabilität, stabile globaleFinanzmärkte mit dem entsprechenden Instrumenta-rium, wirtschaftspolitische Überwachung auch für dieOffshore-Gebiete und stärkere Einbindung des Privatsek-tors in die Verhinderung und Lösung von Währungs- undFinanzkrisen, die Weltbank für langfristig angelegteStrukturanpassung und Entwicklungshilfe in den einzel-nen Ländern. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dieseReformanstrengungen aufzugreifen und engagiert zu un-terstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin istdie Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
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Leo Dautzenberg11650
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Dautzenberg, Sie können sicher sein, dasswir uns gemeinsam mit der Bundesregierung aktiv darumbemühen werden, den Prozess, der sich gerade im letztenJahr sehr positiv entwickelt hat, in Ihrem Sinne zu gestal-ten.Wir haben – auch das muss man sehen – in der inter-nationalen Staatengemeinschaft funktionierende globaleInstitutionen, die wir auch in der Zukunft brauchen wer-den. Wir erleben rasante Veränderungen in der Weltwirt-schaft. Wir haben einen dramatischen Anstieg beim inter-nationalen Handel und bei den grenzüberschreitendenDienstleistungen sowie eine starke Liberalisierung der Fi-nanzmärkte zu verzeichnen. Man darf auch nicht verges-sen, dass es eine wachsende Ungleichheit zwischen, aberauch innerhalb von Staaten und Kontinenten gibt.Es ist bedrückend, wenn man weiß und – vor allem inden Berichten der beiden großen Kirchen – liest, dass3 Milliarden Menschen von weniger als 2 US-Dollar amTag leben, dass davon 1,2 Milliarden in absoluter Armutleben müssen und weniger als 1 Dollar pro Tag zum Über-leben haben. IWF und Weltbank müssen sich daran mes-sen lassen, ob sie mit ihren Programmen dazu beitragen,diese Armut zu verringern.
Ich erwarte von der Weltbank, dass sie ihren Anteil zurBekämpfung der Armut und zur Überwindung derSchuldenkrise leistet. Wir erwarten vom Währungs-fonds, dass er zur Stabilisierung des internationalenFinanzsystems beiträgt. Wir erwarten von beiden Institu-tionen, dass sie die Entschuldung der ärmsten Entwick-lungsländer schneller realisieren, und zwar für mehr Län-der, als zunächst vorgesehen;
denn jeder Dollar, der in den Schuldendienst fließt, ist an-gesichts der enormen Herausforderungen, vor denen dieseLänder stehen, ein Dollar zu viel.Wir erwarten von den Finanzinstitutionen nicht, dass siealle Probleme der Entwicklungsländer lösen. Diese Län-der stehen – das muss man ganz klar sagen – auch selbstin der Verantwortung. Aber wir können und wir müssenauch mehr tun. Ich denke zum Beispiel an einen besserenMarktzugang, zumindest für die ärmsten Entwicklungs-länder, in die EU. Die Mehreinnahmen könnten, wennman die Entwicklungsländer insgesamt betrachtet, jähr-lich bis zu 100Milliarden US-Dollar betragen.Wir denkenauch an höhere Mittel für die Entwicklungszusammenar-beit. Denn der weltweite Rückgang der öffentlichen Ent-wicklungsgelder ist politisch ein unverantwortbarerTrend, der sich so nicht fortsetzen darf.Doch zurück zu den internationalen Finanzinstitutio-nen! Wenn sie sich nicht wandeln, verlieren sie ihre Ak-zeptanz sowohl in den Industrie- als auch in den Ent-wicklungsländern. Der neue IWF-Chef, Herr Köhler, hatdas erkannt. Er hat in Prag von der Notwendigkeit ge-sprochen, den Fonds zu reformieren. Die nächsten Jahrewerden zeigen, ob in der Praxis eine Neuausrichtung derProgramme des Fonds erfolgt. Denn darauf kommt esletztendlich an.
Die Kernfragen der Reform wurden in Prag sehr in-tensiv diskutiert. Der IWF muss besser in der Lage sein,krisenpräventiv zu arbeiten. Er muss rechtzeitig, vor demAusbrechen einer Finanzkrise, Alarm schlagen und nichterst dann, wenn es bereits zu spät ist, wie wir es in Süd-ostasien und ebenso in Lateinamerika, zum Beispiel inBrasilien, erlebt haben.
Damit müssen seine Fähigkeiten, die Finanzströme zuüberwachen und entsprechende Daten zeitnah zu veröf-fentlichen, gestärkt werden.Wir müssen auch zu einer klaren Abgrenzung derAufgaben von IWF und Weltbank kommen. Diese In-stitutionen haben eine unterschiedliche institutionelle Kul-tur. Sie haben unterschiedliche Schwächen und Stärken.Dies ist in Prag als Problem benannt worden. Eine Lösungdieses Problems ist auf dem Weg. Genau daran muss manarbeiten.Der IWF darf sich auch nicht aus den ärmsten Ländernzurückziehen. Dies scheint bei aller Kritik an den Struk-turanpassungsprogrammen der Vergangenheit nicht dasZiel dieser Länder zu sein. Die Armutsbekämpfung solltejedoch in erster Linie die Aufgabe der Weltbank sein. DerIWF sollte auf eine entsprechende makroökonomischeStabilisierung hinarbeiten. Die detaillierten Konditionenfür Kredite des IWF sind in der Vergangenheit häufig ge-scheitert. Als Konsequenz sollten die Bedingungen des-wegen auf einige Kernbereiche beschränkt werden. DerIWF muss zudem im Rahmen der Programme zurBekämpfung der Armut die sozialen und ökologischenAuswirkungen von vornherein berücksichtigen.Ich möchte auch noch den Privatsektor ansprechen.Der Privatsektor muss im Fall von Finanzkrisen stärkerbeteiligt werden. Mit Recht ist der Währungsfonds in derVergangenheit wegen seiner immer größeren Rettungsak-tionen kritisiert worden. Dabei wurden eher die Privat-banken und die Investoren, nicht aber die betroffenenMenschen in diesen Ländern gerettet. Wir haben uns vongrüner Seite immer dafür ausgesprochen, die privaten Ak-teure stärker in die Krisenbewältigung einzubeziehen.Denn wer hohe Renditen erzielen will, soll auch entspre-chende Risiken tragen.
Unser Ziel ist es, die Kapitalflüsse in Schwellen- undEntwicklungsländern auf eine solidere Basis zu stellen.Dies ist auch im Interesse dieser Länder. Die Asienkrisehat ja gezeigt, dass gerade kurzfristig angelegtes Kapitalschnell abgezogen wird – mit zum Teil katastrophalen
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Konsequenzen für die Entwicklung der betroffenen Län-der. Deswegen muss die Einbeziehung des Privatsektorsin die Kosten der Krise zur Regel werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange wir in diesenFragen international keine wirklichen Fortschritte ma-chen, werden die Proteste gegen IWF und Weltbank wei-tergehen. Die Staaten haben es selbst in der Hand, auf ent-schiedene Reformen der Bretton-Woods-Institutionen zudrängen. Wir leisten von deutscher Seite – ich denke, mankann auch sagen: von europäischer Seite – unseren Bei-trag. Im März des nächsten Jahres werden drei Aus-schüsse eine Anhörung veranstalten, zu der wir den Welt-bankchef, Herrn Köhler und viele andere einladenwerden. Ich denke, dies wird ein guter deutscher Beitragsein, um diese Entwicklung, die auf einem guten Weg ist,positiv zu begleiten.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Ursula Lötzer für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Nach 50 Jahren IWF und Weltbank hat das
obere Fünftel der Weltbevölkerung 74-mal mehr Vermö-
gen als das untere. In der Geburtsstunde dieser beiden
Zwillinge betrug das Verhältnis 10:1. Jens Ziegler, Son-
derberichterstatter der UNO, fordert zu Recht eine radi-
kale Änderung der Politik des IWF. Das Hungerproblem,
so Ziegler, sei ausschließlich ein Verteilungsproblem. Im
Unterschied zu früheren Zeiten sei Hunger heute ein von
Menschen gemachter Völkermord, ein globalisierter
Raubtierkapitalismus der Weißen.
Die geforderte Wende blieb in Prag aus. Mit der Ver-
kündung von Appellen zu mehr Solidarität, mit Aufforde-
rungen an die Industrieländer, ihre Zusagen gegenüber
den Entwicklungsländern und zur Öffnung der Märkte
einzuhalten, ist es nicht getan.
Weder vom IWF noch von den Industrieländern werden
die notwendigen Schritte unternommen. Oder wird die
Bundesregierung aufgrund des Appells von Herrn Köhler
die Mittel im Bundeshaushalt jetzt vielleicht im entspre-
chenden Umfang erhöhen?
Herr Köhler kündigt in seiner Rede an, dass die Zinsen
für die Kredite mit langer Laufzeit steigen sollen – eine
merkwürdige Vorstellung von Entschuldung der Ärmsten,
sie für Kredite mehr zahlen zu lassen, sodass sie noch tie-
fer in die Schuldenfalle geraten.
Deshalb treten wir in unserem Antrag für die Abschaffung
der Strukturanpassungsprogramme sowie für dringend
benötigte Schritte zur Entschuldung ein. Wir fordern das,
weil der IWF mit den Strukturanpassungsprogrammen die
Entwicklungsländer noch weiter in die Armut getrieben
hat, statt einen Beitrag zur Bekämpfung der Armut zu leis-
ten.
Auch in Bezug auf die Krisenbekämpfung läuft Prag
ins Leere. Von den Aktivitäten im Gefolge der Asienkrise
ist nur noch wenig übrig geblieben. Die Finanzakteure
sind nach kurzen Einbrüchen ihrer Gewinne weitergezo-
gen und haben ihren Jahresüberschuss jetzt wieder gestei-
gert. Die Aktivitäten der Regierungen erlahmen inzwi-
schen fast im Gleichklang mit dieser Entwicklung.
Es gibt keine verbindliche Regelung für die Beteili-
gung der privaten Kreditgeber.Man trifft sich mit ihnen
und will von Fall zu Fall entscheiden, so Köhler in Prag.
Darüber hinaus kündigt er lediglich an, dass der IWF nicht
mehr im starken Umfang selbst in Krisen intervenieren
wird. Ohne eine Regelung für die Einbindung privater
Kreditgeber kann das aber den Dominoeffekt von Krisen
noch intensivieren.
Noch nicht einmal zur Tobinsteuer können Sie sich
aufraffen, obwohl diese längst nicht mehr ausreichen
würde.
Wollen Sie wirklich erst darauf warten, bis sich diese Ver-
säumnisse in der nächsten Krise rächen, wie es viele jetzt
kommentieren?
Sosehr die Bundesregierung auch beim Haushalt spart,
so gering sind ihre Aktivitäten zur Eindämmung der Steu-
erflucht und zur Verhinderung der Erpressungsmöglich-
keit durch die international agierenden Finanzinstitute
und Konzerne, zum Beispiel durch die Abschaffung der
Offshore-Zentren oder zumindest durch Sanktionen ge-
genüber denjenigen, die mit ihnen Geschäfte tätigen.
Auch die Demokratisierung bleibt aus. Herr Köhler
feiert in Prag den IWF als kooperativ. Doch Kooperation
setzt Gleichberechtigung voraus und von der kann man im
IWF wahrlich nicht reden.
Das setzt eine Neuverteilung der Stimmrechte voraus.
Herr Wolfensohn sieht in Prag ohne Politikwende den
Weltfrieden bedroht. Doch Konsequenzen fehlen von ihm
wie von Ihnen, der Bundesregierung.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist Kollegin Adelheid Tröscher für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin froh, dass ich hier als Entwicklungspolitikerin redenkann. Ich sehe nur ein paar auf unserer Seite, sonst aber
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Christine Scheel11652
keine. – Hier kommt noch einer. Da haben Sie aber Glückgehabt, Herr Weiß, dass Sie noch gekommen sind, sonstwären die Schwarzen hier ganz schwarz geworden.Die Anträge der Oppositionsparteien greifen meinesErachtens viel zu kurz. Unsere liberalen Kolleginnen undKollegen, die sich lediglich als Apologeten des Meltzer-Reports verstehen, lassen auch bei den Forderungen nachmehr Transparenz und Offenlegung der Vorhaben undProjekte von IWF und Weltbank die nötige Aktualität ver-missen.
Selbst die US-Regierung steht nicht hinter dem Meltzer-Report.
Ich hoffe, dass die nächste US-Regierung diese Haltungbeibehält. Deshalb muss ich natürlich auch hoffen, dasseine gewisse Partei nicht gewinnen wird.
Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul,
hat am vergangenen Donnerstag eine Halbzeitbilanz dersehr effizienten rot-grünen Entwicklungspolitik vorge-legt.
In dieser ist klipp und klar nachzulesen, wie die Bundes-regierung die Reformen von IWF, Weltbank und weiterenBretton-Woods-Institutionen einschätzt und unterstützt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Nein, danke. HerrDautzenberg hat lange genug geredet.
– Das, was Sie hier sagen, ist lächerlich.IWF und Weltbank befinden sich in einem rasanten Re-form- und Veränderungsprozess. Wer hätte denn vor zehnJahren gedacht, dass es zu einer Entschuldungsinitiativekommen und es entsprechende Armutsbekämpfungsstra-tegien geben würde
dass die jeweiligen Zivilgesellschaften gerade auch in denso genannten HIPC-Ländern – falls Sie wissen, was dasist – an der Gestaltung dieser Strategieprozesse teilneh-men und beteiligt werden würden? Vor zehn Jahren hättedas niemand von uns gedacht. Deswegen finde ich, dasshier ein guter Weg beschritten worden ist. Die Entschei-dungen auf dem G-7-Gipfel in Köln und in der Folge inOkinawa belegen, dass wir uns in der Unterstützung derReformen in IWF und Weltbank auf einem richtigen Kursbefinden.
Ist die Erkenntnis der Notwendigkeit einer mittelfristi-gen Entschuldungsinitiative des IWF erst einmal gewon-nen, kann man sich anhand konkreter Situationen ein Bildmachen, etwa in Kolumbien. Hier spreche ich als Ent-wicklungspolitikerin. Dort klafft die Schere zwischen lu-krativem, aber illegalem Kokaanbau und mühevollem,wenig Gewinn versprechendem, konventionellem Agrar-anbau immer weiter auseinander. Zudem muss der ko-lumbianische Bauer den Anbau von Nutzpflanzen auf völ-lig verseuchtem Boden bewerkstelligen, der durch dieBesprühung mit Pestiziden, Herbiziden und Fungizidenauf Jahre hinaus vergiftet ist. Diese Ausgangssituation,die sich in den meisten der circa 130 armen Länder derErde auf erschreckende Weise widerspiegelt, wird allzugern von Finanztechnokraten vergessen.Entschuldung kommt den Menschen zugute. Es istnicht alles planbar: Öl-, Flut- und Erdbebenkatastrophenwerfen die Länder in ihren Entschuldungsplänen umJahre zurück. Wer fragt denn nach den ersten schnellenHilfen nach den weiteren Folgen dieser Katastrophen?Auf Jahre hinaus sind solche Länder nicht in der Lage,ihre Schulden zu bezahlen.Wer wie die F.D.P. aufgrund der Bundesbankeinlagevon circa 8 Milliarden Euro Möglichkeiten eines parla-mentarischen Eingriffs in die Entscheidungsfindungspro-zesse des IWF fordert, der muss die eigene Verantwortungschon viel früher erkennen und wahrnehmen, der muss dieumwelttechnische Verwüstung, die katastrophalen Infra-strukturen der ärmsten Länder der Welt verhindern, bevorer sich ziert, die Entschuldungsstrategien zu vereinfachenund Kredite zu gewähren, die sinnvoll in bestehende Pro-gramme zur Armutsbekämpfung integriert werden kön-nen.Überhaupt scheint mir unsere heutige Diskussion überdie IWF-Reform zu kurz gefasst, wenn wir in einemAtemzug mit der Entschuldungskampagne nicht immerwieder die Auswirkungen namenloser Armut wie Kin-derarbeit, Kinderprostitution und Kindersoldaten in Gue-rillakriegen überall auf der Welt beim Namen nennen.
Diese Kinder sollen dann die gut ausgebildeten IT-Fach-leute werden, die ihr Land aus der Misere holen können?Lassen Sie uns doch gemeinsam die Voraussetzungendafür schaffen, dass diese Kinder nicht mehr als Prostitu-ierte, Soldaten oder in 16-Stunden-Schichten im Straßen-bau arbeiten müssen. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar-beiten, dass die jetzt Verantwortlichen in diesen Ländernden Wert einer schulischen Ausbildung unbestreitbar als
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Adelheid Tröscher11653
eine mittel- und langfristig Gewinn bringende Investitionerkennen und diese Ausbildung auf den Weg bringen.Horst Köhler selbst hat diese Problematik in den Mittel-punkt seiner Reformüberlegungen gestellt. Vorgesternsagte er in Prag: „Das Bedrückendste unter den ungelös-ten Problemen ist die Armut, die zur größten Bedrohungfür die politische Stabilität der Welt wird.“ Die Reform-bereitschaft gerade der multinationalen Institutionen wieIWF und Weltbank und die durch deutsche Initiative an-gestoßenen Kooperationsabkommen sprechen dochschon jetzt für sich. IWF-Chef Köhler hat in Prag weiter-hin betont, dass der IWF die Prävention im Zusammen-hang von Finanzkrisen sowie die Armutsbekämpfung anoberste Stelle auf seine Agenda gesetzt hat. Unter Cam-dessus kam das kaum vor.Wenn die einzelnen Staats- und Regierungschefs aufdem Millenniumsgipfel in New York die Verpflichtungausgesprochen haben, bis zum Jahr 2015 den Anteil derarmen Weltbevölkerung zu halbieren, so ergibt sich da-raus, dass dieses hehre Ziel nur – ich betone: nur – mitstarken Mandaten von IWF und Weltbank als multilatera-len Institutionen umzusetzen ist.
Es gilt jedoch inzwischen eine neue Sichtweise, dieden Akzent mehr auf Partnerschaft – auch das wurdeschon gesagt – als auf erzieherische Funktionen setzt. DieChance zur verbesserten Kooperation mit den wirklichMächtigen der Finanzmärkte kann nur so gelingen. Erstdann kann man effizienter gegen die inneren Feinde derEntschuldung, wie Korruption, Geldwäsche, Steuerpa-radiese im Nachbarland, Drogenproblematik und aus-ufernde Megastädte, vorgehen.Wie Sie ebenfalls aus Pressemitteilungen der letztenTage ersehen können, setzt sich die Bundesministeringanz aktuell für die Entlastung bzw. mindestens den Preis-schwankungsausgleich in den ärmsten Ländern der er-weiterten Entschuldungsinitiative ein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich fertig. So
werden die Rohstoffpreisschwankungen, verbunden mit
geringeren Einnahmen aus zum Beispiel Kakao- und Kaf-
feeexporten, wenigstens nicht zu einer zerstörerischen
Bedrohung für die ärmsten Länder. Dazu wird insbeson-
dere der IWF Mittel bereitstellen.
Sie sehen und hören also, dass sozialdemokratische
entwicklungspolitische Ansätze die Neuorientierung der
inneren Strukturen von IWF und Weltbank im besten
Sinne beeinflussen. Die Diskrepanz zwischen Wort und
Tat muss jedoch überwunden werden. Die USA müssen
hier ihrer Verpflichtung nachkommen. Wir brauchen bald
vorzeigbare Ergebnisse. Die Entschuldungsinitiative ist
flexibel genug gestaltet, um den einzelnen Ländern ge-
recht zu werden. Armutsbekämpfung bedeutet Wirt-
schaftswachstum. Dazu gehören unsere umweltpoliti-
schen, bildungspolitischen und sozialpolitischen Ziele.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla-
gen auf Drucksachen 14/3861 und 14/4069 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung zu der Vorlage auf Drucksache 14/4069
soll abweichend von der Tagesordnung ebenfalls beim Fi-
nanzausschuss liegen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern
und Trägern der Sozialhilfe
– Drucksache 14/3765 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/4163 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Brigitte Lange für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beschließen wir– hoffentlich gemeinsam – ein Gesetz, auf das die Arbeits-und Sozialämter in den Kommunen warten, damit sie end-lich ihre Modellvorhaben starten können, für die sie sichin großer Zahl angemeldet haben.
Beschäftigungsförderung als kommunale Aufgabe be-ginnt langsam ihren Schrecken zu verlieren, obwohl dieKommunen noch immer die Folgelasten der Beschäfti-gungsmisere tragen, die sich über Jahre aufgebaut hat.Ihre Abwehrhaltung besonders in den letzten Jahren, cha-rakterisiert mit dem Begriff „Kommunalisierung der Ar-beitslosigkeit“, war verständlich; denn die Beschäfti-gungspolitik der vorherigen Bundesregierung versprachkeine Besserung. Sie vermied dringend notwendige
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Adelheid Tröscher11654
Reformen, besonders bei der Steuerpolitik und bei den so-zialen Sicherungssystemen.
Die Kaufkraft sank, die Sozialversicherungsbeiträge stie-gen und die Zahl der Arbeitslosen nahm zu, insbesonderedie der Langzeitarbeitslosen, die den Kommunen dannauf die Tasche fallen.Von 1992 bis 1998 hatte sich die Zahl derjenigen, dieein Jahr und länger arbeitslos waren, verdoppelt. Es istuns gelungen, den Trend zu brechen. 1999 ging die Zahlder Arbeitslosen um 100 000 zurück. Das ist nicht nur– das ist klar – ein Ergebnis unserer Beschäftigungspoli-tik. Aber die Bundesregierung hat mit den Reformen dieRahmenbedingungen gesetzt und die sind gut und begin-nen zu greifen.
Dazu gehört unsere aktive Arbeitsmarktpolitik. ImJahre 2000 werden durchschnittlich rund 1,5 MillionenPersonen an Maßnahmen der Arbeitsförderung teilge-nommen haben. Ich meinte, gestern im Ausschuss bei ei-nigen Beiträgen aufseiten der Opposition Überraschungangesichts unserer erfolgreichen Bemühungen heraus-gehört zu haben. Dabei haben wir unsere Programme ei-gentlich nicht verheimlicht.Zu Ihrer Erinnerung seien noch einmal einige wichtigeProgramme stichwortartig genannt: JUMP für jungeLeute, das SGB-III-Vorschaltgesetz insbesondere für Äl-tere und Langzeitarbeitslose und jetzt – das ist neu – dieModellvorhaben, um Beschäftigungschancen von Ge-ringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen auszulotenund zu erproben.Heute beschließen wir einen weiteren Baustein der ak-tiven Arbeitsmarktpolitik. Er soll dazu beitragen, Lang-zeitarbeitslose, die Sozial- oder Arbeitslosenhilfe oderauch beide Leistungen ergänzend beziehen, schneller, ef-fizienter und möglichst dauerhaft in den regulären Ar-beitsmarkt einzugliedern. Dazu sollen die vielfältigen po-sitiven Erfahrungen aus der bisher mehr freiwilligenZusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeitsämtern ge-nutzt werden.Die neue Regelung, die Zusammenarbeit, die bereitsbisher im BSHG und im SGB III als Auftrag formuliertwar, nun verbindlich zu machen, kommt aus der Praxis,wird von den Ländern positiv gewertet und findet die Zu-stimmung der kommunalen Spitzenverbände. Das Glei-che gilt für die im Gesetz verankerten Modellvorhaben.Mit diesen, vom Bund finanziell geförderten Modellensollen neue Wege der Integration in den regulären Ar-beitsmarkt erprobt werden, die schnell, wirksam und un-bürokratisch für die Betroffenen gestaltet werden.In einem Kooperationsvertrag vereinbaren Arbeits-und Sozialämter aus den regionalen Möglichkeiten he-raus, wer die schwerpunktmäßige Betreuung übernimmt.Dazu gehören zum Beispiel Beratung, Vermittlung, Erar-beitung von Eingliederungsplänen, Vorbereitung und Or-ganisation von Eingliederungsmaßnahmen, Auszahlungvon Leistungen, also Arbeitslosenhilfe und Hilfe zum Le-bensunterhalt. Dieser gebündelte Service für Arbeitslose,Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfebezieher zusammenkann entweder vom Sozialamt oder vom Arbeitsamt oderauch an einer Stelle gemeinsam oder von einer gemein-sam beauftragten Stelle wahrgenommen werden.In den Modellvorhaben sollen nicht nur die tatsächli-chen und rechtlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeitausgeschöpft werden, sondern die in das Gesetz aufge-nommene Experimentierklausel ermöglicht darüber hi-naus – Herr Weiß, das sage ich noch einmal, weil Sie ges-tern gemeint haben, das sei nur ein bisschenOrganisation –, dass man gemeinsam Zugriff auf die In-strumentenkästen aus beiden Gesetzen hat, um auf die je-weilige Person und Situation bezogen maßgeschneiderteEingliederungsschritte zu kombinieren.Auch auf das Modell begrenzte datenschutzrechtlicheÄnderungen und die geregelte Möglichkeit, von Verfah-rensvorschriften abzuweichen, erleichtern das Vorhaben.Unabdingbar ist für uns, dass den Arbeitslosen durchdie Einbeziehung in das Modell keine rechtlichen und fi-nanziellen Nachteile entstehen. Mit unserem Änderungs-antrag haben wir diese Feststellung aus der Begründungheraus- und direkt in das Gesetz aufgenommen. DieCDU/CSU-Anträge würden diesen Grundsatz aufhebenund deshalb lehnen wir sie ab. An dieser Stelle sage ichnoch einmal: Was wir gestern aufgenommen haben, dieAnlaufstelle, gehört natürlich in beide Gesetze; das warein Fehler von mir.Modellvorhaben, liebe Kolleginnen und Kollegen, ma-chen nur Sinn, wenn sie wissenschaftlich begleitet undausgewertet werden. Das ist vorgesehen. Mit unseremÄnderungsantrag beziehen wir aber auch Modelle ein, dienicht mehr finanziell gefördert werden können. Deswe-gen erhoffen wir uns eine breitere Bewertungsgrundlage.Aus der bundesweiten Bewertung werden wir Auf-schluss darüber bekommen, ob und welche gesetzgeberi-schen Konsequenzen zu ziehen sind. Erst dann – das sageich hier zur rechten Seite hin – können wir gesichert fest-stellen, wie man mit beiden Systemen umgehen kann, obund welche Änderungen überhaupt nötig sind.Ich denke, dass es an dieser Stelle angebracht ist, denKommunen für ihre Kooperationsbereitschaft zu danken.Wir brauchen sie, sonst geht es gar nicht.
Den Arbeits- und Sozialämtern wünsche ich viel Erfolgund den auf diese Weise geförderten Arbeitslosen den er-hofften Arbeitsplatz.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Brigitte Lange11655
Frau Präsi-
dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Kollegin Lange, ich verstehe ja, dass Reden von
Vertretern der Regierungsfraktionen mit der Belobigung
eigenen Tuns beginnen müssen.
Aber wenn ich an das mittlerweile sehr differenzierte und
sehr wirkungsvolle Instrumentarium der Hilfen zur Arbeit
in unserem Bundessozialhilfegesetz denke, stelle ich fest,
dass bis zum heutigen Tag dieses Instrumentarium dasje-
nige ist, das zu Zeiten unserer Regierungsverantwortung
beschlossen worden ist.
Nur ist und bleibt es bis zum heutigen Tag dabei, dass
für Langzeitarbeitslose – das sind Menschen, die in der
Sozialhilfe und/oder in der Arbeitslosenhilfe sind – unter-
schiedliche Systeme unseres Sozialstaates zuständig sind.
Dazu gehören unterschiedliche Verwaltungsstrukturen,
unterschiedliche Kostenträgerschaften und unterschiedli-
che Hilfesysteme, was die Leistungen und was die Maß-
nahmen anbelangt.
Nun haben die Koalitionsfraktionen einen Gesetzent-
wurf vorgelegt, der den anspruchsvollen Titel „Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe“ trägt.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob sich organisatorisch
etwas ändern kann, sondern, ob sich für den Hilfeemp-
fänger etwas ändert. Diese Frage muss man mit Nein be-
antworten.
Verehrte Frau Kollegin Lange, Sie haben die Instru-
mentarien angesprochen. Die Instrumentarien konnten für
die beiden Arten von Hilfeempfängern schon bisher ge-
meinsam angewendet werden, wenn sich zum Beispiel
Arbeits- und Sozialamt darauf verständigt haben, sich
durch eine beiderseits verantwortete Arbeitsförderungs-
gesellschaft um beide Personenkreise speziell zu küm-
mern.
Die Modellversuche sehen nunmehr vor, dass es in ei-
nem Landkreis das Modell Arbeitsamt geben kann, wo-
nach das Arbeitsamt auch für die arbeitsfähigen Sozial-
hilfeempfänger zuständig ist. Im nächsten Landkreis kann
es das Modell Sozialamt geben, wodurch das Sozialamt
auch für die arbeitslosen Hilfebezieher zuständig ist. Als
dritte Variante gibt es die Möglichkeit, dass eine beauf-
tragte Stelle sowohl für Bezieher von Arbeitslosenhilfe als
auch für Sozialhilfeempfänger zuständig ist. An der Aus-
gestaltung der Hilfeangebote ändert sich aber nichts.
Die Kernfrage, die sich uns politisch stellt, ist: Gibt es
für langzeitarbeitslose Menschen durch ein neues Gesetz
mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und mehr Chancen
für eine Rückkehr in die Arbeit?
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Ja, bitte
schön.
Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Herr Kollege Weiß,
ich habe zwei kurze Fragen. Erstens: Sind Sie noch als
Kommunalpolitiker tätig? Zweitens: Kennen Sie aus
Ihrem praktischen Erfahrungsschatz den Unterschied für
die Betroffenen zwischen freiwilliger Kooperation und
gesetzlich vorgegebener Kooperation?
Zu Ihrerersten Frage. Verehrter Herr Kollege Schuster, ich warmehrere Jahre Fraktionsvorsitzender – –
– Ich beantworte seine Frage; ich muss sie beantwortenund nicht Sie. – Ich war mehrere Jahre Fraktionsvorsit-zender der CDU im Gemeinderat der Stadt Freiburg
und bin mit meiner Wahl in den Deutschen Bundestag ausdem Kommunalparlament ausgeschieden.
Zweitens. Den von Ihnen angesprochenen Unterschiedkenne ich sehr wohl. Ich werde im weiteren Verlauf mei-ner Ausführungen darauf zu sprechen kommen, was Sieals Koalition mit dem Gesetzgebungsvorhaben bewirkenwollen und was wir als CDU/CSU-Fraktion gerne nochzusätzlich in diesem Gesetz geregelt hätten. Dann wirdvielleicht deutlich, was ich meine.Ich befürchte, dass das Gesetz letztlich nur die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter im Arbeitsamt und im Sozial-amt stärker belasten wird, die sich jeweils in die andereGesetzesmaterie werden einarbeiten müssen. Das Gesetzwird aber letztlich nicht zu mehr Beschäftigung für dieMenschen führen, die als Langzeitarbeitslose dringenddarauf warten, dass ihnen ein Weg zurück in die Arbeit ge-wiesen und ihnen geholfen wird.Wir haben bereits seit der Vereinbarung zwischen denkommunalen Spitzenverbänden und den Arbeitsverwal-tungen vom Mai 1998 eine ganze Reihe von erfolgreichenund praktischen Formen der Zusammenarbeit zwischenArbeitsverwaltung und Sozialämtern. Diese intensive Zu-sammenarbeit hat in vielen Städten und Landkreisen her-vorragende Ergebnisse gebracht. Wenn jetzt der Gesetz-geber neue Formen der Zusammenarbeit zwischenArbeitsämtern und Sozialämtern ermöglichen will, sollte
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er nach unserer Auffassung auch den Mut aufbringen,weiter zu gehen, als dies der sich rein auf das Organisato-rische beschränkende Gesetzentwurf der Koalitionsfrak-tionen tut. Das Modellvorhaben soll die Chance eröffnen,tatsächlich etwas an zusätzlichen Erkenntnissen darüberzu gewinnen, wie wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfebesser miteinander verknüpfen und unsere Hilfesystemefür Langzeitarbeitslose verbessern können.Die Koalitionsfraktionen begründen ihren Entwurf da-mit, dass Reibungsverluste, finanzielle Verschiebebahn-höfe und überflüssige Bürokratie vermieden und die Stär-ken beider Träger gebündelt werden sollten. Dann abermüssen Sie auch erlauben, dass die Stärken beider Trägerzur Geltung kommen können.Deswegen haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion im Ausschuss Folgendes beantragt: Erstens. Nichtnur in den Städten und Kreisen der Modellvorhaben, son-dern überall in Deutschland sollen Arbeitsämter und So-zialämter ihre Zusammenarbeit bei der Hilfe für Lang-zeitarbeitslose dadurch intensivieren, dass sie sowohl fürArbeitslosenhilfebezieher als auch für Sozialhilfeempfän-ger gemeinsame Anlaufstellen errichten. Das hat die Ko-alition übernommen.Zweitens. Wenn das Sozialamt in einem Modellgebietauch die Betreuung der Arbeitslosenhilfebezieher über-nimmt, dann sollte es für die Vermittlung beider Perso-nengruppen die gleichen Instrumentarien anwenden kön-nen. So soll das Gesetz dem Sozialamt auch die Chancegeben, zu zeigen, ob es mit seinen Möglichkeiten und In-strumentarien sowohl Sozialhilfeempfänger als auch Ar-beitslosenhilfebezieher besser und schneller wieder inneue Arbeit vermitteln kann. Leider haben Sie das abge-lehnt.Drittens. Oftmals ist für eine Vermittlung in eine Tätig-keit entscheidend, ob die Anreizsysteme, auch die finan-ziellen Anreizsysteme, für Arbeitslose genügend ausge-prägt sind. Im Bereich der Sozialhilfe haben wir dasmittlerweile bis hin zu den Modellversuchen mit einem sogenannten Einstiegsgeld. Wir wollten wenigstens teil-weise auch für Arbeitslosenhilfebezieher solche Anreiz-systeme schaffen. Auch das haben Sie abgelehnt.Frau Lange, es geht eben nicht um das Beschneidenvon Rechten, sondern für uns gehört beides zusammen:Wir wollen die bisherigen Beschränkungen des Sozial-amtes etwas einreißen und auf der anderen Seite die An-reizsysteme nach oben führen. Deswegen muss ich michentschieden dagegen verwahren, dass wir einen Gesetz-entwurf vorgelegt hätten, mit dem etwa die Möglichkei-ten und Rechte von Langzeitarbeitslosen abgebaut wür-den.Erst mit den Änderungsanträgen unserer Fraktionmacht dieses Gesetz überhaupt Sinn; denn dann können inden neuen Modellversuchen auch neue Erkenntnisse ge-wonnen werden. Sie haben dazu erklärt – Sie haben dasauch hier gesagt, Frau Lange –, diese Modellversuchesollten Grundlagen für eine flächendeckende Regelungliefern, auf dieses Endziel gingen wir zu. Aber wozu ma-chen wir Modellversuche, meine Damen und Herren,wenn man nachher in der Auswertung nichts herausfin-det, weil man gar nichts ausprobieren konnte, außer dassbestimmte Verwaltungen organisatorisch zusammenge-legt worden sind?
Modelle müssen Erkenntnisse liefern können und wirwollen den besten Weg finden, wie arbeitsfähige Sozial-hilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosenhilfe wie-der in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermitteltwerden können. Wir wollen Modellversuche, in denendoppelte Arbeit, doppelte Bürokratie und doppelte Zu-ständigkeiten abgebaut und vermieden werden. Wir wol-len mehr Hilfe, mehr Beratung, mehr Effizienz, mehr er-folgreiche Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in denersten Arbeitsmarkt.
Wir wollen Modelle, aus denen man wirklich etwas fürdie Zukunft lernen kann. Der große Unterschied, der andiesem zugegebenermaßen kleinen Gesetzeswerk deut-lich wird, ist der: Sie von der Sozialdemokratie und vonden Grünen wollen Sozialpolitik immer nur verwalten.
– So ist es doch! Wir wollen Sozialpolitik gestalten. Dasist der Unterschied.
Um Sozialpolitik auch mit zukunftsfähigen Modellen zugestalten, bedarf es mehr Mut und mehr Grips, als die Ko-alition hier aufbringen will.Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin
Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle wis-senschaftlichen Institute bestätigen uns die günstigenGlobalprognosen für den Arbeitsmarkt. Aber das verrin-gert nur scheinbar den Handlungsdruck für eine aktive Ar-beitsmarktpolitik. Wir werden auch in Zukunft mit denProblemen der Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert sein.So bedauerlich es auch ist: Insbesondere in den neuenBundesländern werden wir uns damit auseinander setzenmüssen.Herr Kollege Weiß, Sie rühmen sich hier mit der Poli-tik Ihrer Regierung in den vergangenen 16 Jahren.
Sie rühmen sich mit dem, was Sie alles gemacht haben,und Sie ignorieren dabei – das muss man jetzt derFairness halber unterstreichen –, dass gerade in Ihrer
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PeterWeiß
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Regierungszeit die Arbeitslosigkeit nicht nur gestiegen,sondern geradezu explodiert ist.
Die zukünftige Arbeitsmarktpolitik wird zum Ziel ha-ben müssen, Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Siewird uns auch Wege aufzeigen müssen, wie wir Langzeit-arbeitslose in den Arbeitsmarkt integrieren können.
Für die Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarktsind auch die individuellen Fähigkeiten der betroffenenPersonen wichtig. Es geht um eine wirkliche Betreuung,um individuelle Eingliederungspläne. Diese Eingliede-rungspläne sollen vor allem regional in den zuständigenArbeitsämtern und auch in den Sozialhilfebehörden ent-wickelt werden, damit auf diese Menschen eingegangenund nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.
Wir wollen die Maßnahmen bündeln; genau das ist derKern unseres Antrags. Es geht darum, auf diese Menscheneinzugehen. Es geht darum, Langzeitarbeitslosigkeit ab-zubauen. Es geht nicht darum, irgendeine Verwaltung auf-zuplustern. – Übrigens verwahre ich mich gegen den Satz,wir wollten hier nur verwalten, auch wenn ich Verwal-tungswissenschaftlerin bin. Auch Verwaltung hat etwasGutes.– Es geht darum, problemadäquate Lösungen zufinden.
Nach diesem Modellvorhaben kommt es zu einer Verän-derung des materiellen Rechts. Durch eine verbesserteZusammenarbeit zwischen den Arbeits- und Sozialämternsollen die beruflichen Eingliederungschancen von Lang-zeitarbeitslosen erhöht werden. Mithilfe einer Experi-mentierklausel möchten wir genau das testen. Wir verein-fachen auch die Verwaltungsverfahren; das ist dringendnotwendig. Wir probieren also nicht nur aus, sondern ver-einfachen auch. Besonders wichtig ist dabei, dass Sozial-hilfeempfänger in Zukunft Zugang zu den Instrumentender aktiven Arbeitsmarktförderung haben. Das ist derKnackpunkt dieses Gesetzentwurfes und den können Sienicht einfach mit Ihrem Verwaltungsargument, das Sie an-geführt haben, wegdiskutieren.
Ein wichtiger Kernpunkt der Modellvorhaben ist alsodie Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Es geht umeine gemeinsame Anlaufstelle. Diese Leistung soll ent-weder vom Arbeitsamt, vom Sozialamt oder von einergemeinsam beauftragten Stelle erfüllt werden. Auf regio-naler Ebene soll entschieden werden, welcher Ort für einegemeinsame Anlaufstelle für Langzeitarbeitslose sinnigund am erfolgreichsten ist. Welche Lösung am besten ist,soll in diesem Experiment erkundet werden. Wir wollentesten, wir wollen ausprobieren, wir wollen neue Wege er-forschen. Wir wollen vor allem nicht stehen bleiben.Zielpersonen dieser Projekte sind Menschen, die ent-weder ergänzende Sozialhilfe bekommen oder volle So-zialhilfe oder Arbeitslosenhilfe erhalten. Entscheidenddabei ist die in der Gesetzgebung vorgegebene Zielrich-tung. Es geht um die Erleichterung der Vermittlung vonArbeitslosen. Das haben wir in dem Änderungsantragnoch einmal unterstrichen. Wir wollen keinerlei Ein-schränkungen von bestehenden materiellen Ansprüchen.Genau das ist nämlich der Unterschied zu Ihrem Gesetz-entwurf, den wir übrigens ablehnen. Wir wollen keineEingriffe in die Zumutbarkeit, sondern wir wollen den Be-troffenen eine Hilfestellung geben.
Ein Kriterium bei der Auswertung der Modellprojektewird sein, ob es uns tatsächlich gelingt, Sozialhilfeemp-fänger durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktför-derung zu integrieren. Die Integration der Arbeitslosenin den ersten Arbeitsmarkt ist eines unserer wichtigstenpolitischen Ziele.Der heutige Antrag macht wiederum deutlich: Wirschreiben diese Menschen nicht ab. Wir wollen dieseMenschen nicht bestrafen oder stigmatisieren. Wir möch-ten sie vor allem auch nicht in unproduktive Arbeit ab-drängen, sondern wir wollen Brücken bauen für Men-schen, die von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind,damit sie ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufneh-men können. Das vorliegende Modellvorhaben ist hierfürein sehr, sehr wichtiger Baustein. Deshalb verdient esnicht nur unsere, sondern vor allem auch Ihre Unter-stützung.
Nun hat das Wort der
Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Angesichts der nach wie vorhohen Arbeitslosigkeit in unserem Lande begrüßen wirnatürlich jeden Schritt, der erwarten lässt, dass mehr Men-schen wieder dauerhaft in Arbeit gebracht werden.
Deswegen werden wir – das möchte ich gleich vorab sa-gen – dem vorliegenden Entwurf auch zustimmen. Eineverbesserte Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsämternund den Trägern der Sozialhilfe kann vermutlich dazu bei-tragen, die Arbeitslosenzahlen zu senken.Ich füge aber gleich hinzu: Organisatorische Maßnah-men allein werden wahrscheinlich nicht ausreichen.Deswegen stelle ich hier fest, dass sich die F.D.P.-Bundestagsfraktion noch erheblich mehr vorstellen kann,was gerade auch im strukturellen und materiellen
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Ekin Deligöz11658
Bereich getan werden kann, um die Zahl der arbeitslosenSozialhilfeempfänger zu verringern.
Ich nenne hier beispielhaft die Möglichkeiten derArbeitnehmerüberlassungen. In unseren europäischenNachbarländern arbeiten die Arbeitsämter sehr erfolg-reich mit Zeitarbeitsfirmen zusammen und erzielen dabeigute Fortschritte. Ich nenne auch die Chancen, die sich fürArbeitnehmer aus befristeten Arbeitsverhältnissen erge-ben können. Herr Riester möchte in Zukunft diese Formder Beschäftigung erschweren, die gerade für Wiederein-steiger interessant ist. Das konterkariert natürlich dieBemühungen des Gesetzentwurfs, über den wir hier de-battieren.Ich möchte hier auch ein Problem ansprechen, das nachmeiner Ansicht nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass esin vielen Fällen Schwierigkeiten gibt, Menschen aus derArbeitslosigkeit oder aus der Sozialhilfe herauszubekom-men und in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist– darauf habe ich bereits im Ausschuss hingewiesen – dasProblem des Lohnabstands.Wenn Sozialhilfe unter demStrich mehr bringt als Arbeit, dann wird es schwer wer-den, Sozialhilfeempfänger zur Arbeitsaufnahme zu bewe-gen. Wenn ein verheirateter Facharbeiter mit zwei Kin-dern in den meisten Branchen kaum noch das verdienenkann, was sein Nachbar – ebenfalls verheiratet, zwei Kin-der – an Sozialhilfe monatlich bezieht, dann haben wir eseindeutig mit einem Fehlanreiz in unserem Sozialsystemzu tun.Ich möchte damit keinesfalls sagen – um nicht falschverstanden zu werden –, dass sich alle Sozialhilfeemp-fänger aus diesen Gründen nur schwer dazu aufraffenkönnen, sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Ich weiß hiersehr wohl zu differenzieren. Ich weiß, dass es für die Auf-nahme von Arbeit auch andere als nur monetäre Gründegibt. Aber wir müssen doch feststellen – dazu rufe ich auf;das wissen Sie auch aus Gesprächen mit Wählern ausIhren Wahlkreisen –, dass viele Menschen ganz nüchternund ökonomisch abwägen, angesichts der momentanenSachlage morgens lieber ein bisschen länger schlafen unddann möglicherweise am Nachmittag beim Nachbarn,zum Beispiel beim viel zitierten Facharbeiter, das Badfliesen, der aufgrund der Höhe seines Einkommens mög-licherweise auf Schwarzarbeiter angewiesen ist. Damitmöchte ich sagen, dass wir nicht darum herumkommenwerden, die verkrusteten Strukturen im Arbeits- und So-zialversicherungsrecht aufzubrechen und auch an dasLohnabstandsgebot heranzugehen.
Wir müssen mutige Reformen in den Sozialversiche-rungen durchführen, um die Beitragssätze zu senken. Esmüssen auch in Zukunft noch weitere Schritte unternom-men werden, um die Steuern zu senken. Wir brauchen ei-nen neuen Ansatz – ich möchte sagen: einen Paradigmen-wechsel – hinsichtlich der Bedingungen für das Angebotvon Arbeit.
Damit meine ich, wir müssen auch unsere Sichtweise imArbeitsrecht verändern. Wir müssen weg von der Sichtder Risiken für die Beschäftigten hin zur Sicht der Chan-cen für die Arbeitsuchenden. Deswegen haben wir Ihnenvorgeschlagen – das werden wir in Kürze noch einmaltun –: erstens ein Aufbrechen des Tarifkartells durch dieMöglichkeit, diejenigen die Tarifverträge aushandeln zulassen, die am meisten davon verstehen, nämlich die Be-schäftigten in den Betrieben;
zweitens die Erhöhung der Flexibilisierung durch dieMöglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen; drittensdie Schaffung eines Kündigungsschutzes, mit dem dieRealität vor deutschen Arbeitsgerichten zur Kenntnis ge-nommen wird und mit dem eine Lösung geschaffen wird,die auf Abfindung statt auf Bestandsschutz setzt.
Wie gesagt, den vorliegenden Gesetzentwurf wertenwir nur als einen ersten zaghaften Schritt, der aber im-merhin in die richtige Richtung geht. Wenn nun auch dieRahmenbedingungen des materiellen Rechts verändertwerden, kann er auch seine Wirkung entfalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Kollege, Ihnen ist heute Morgen in Abwesenheit
zu Ihrem runden Geburtstag gratuliert worden. Da Sie nun
da sind, wiederhole ich das: Herzlichen Glückwunsch!
Frau Präsidentin, ich be-danke mich herzlich.Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Kollegin Lange, ich möchte mich nachdrücklichIhren Wünschen anschließen, dass alle Arbeitslosen einenArbeitsplatz bekommen. Angesichts der Rede des Kolle-gen Kolb möchte ich hinzufügen: einen existenzsichern-den Arbeitsplatz.
Ich sage das im Hinblick auf Ihre Forderung nach Einhal-tung des Lohnabstandgebots, die immer in eine bestimmteRichtung zielt.Für mich ist der vorgelegte Entwurf ambivalent. Ichweiß nicht so recht, worin seine Zielstellung besteht: Ei-nerseits geht es um Zusammenarbeit, andererseits umModellversuche. In Art. 1 Ziffer 1 wird die Zusammen-arbeit festgeschrieben. Die Arbeitsämter sollen Koopera-tionsvereinbarungen abschließen, was schon im BSHGfestgelegt ist. In Art. 1 Ziffer 2 werden Modellversuchevorgeschlagen, die zur Verbesserung der Zusammenarbeitführen sollen. Wollen wir also Zusammenarbeit oder
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Dr. Heinrich L. Kolb11659
Verbesserung der Zusammenarbeit? Zusammenarbeit istimmer gut. Das gilt übrigens auch für die Politik. Viel-leicht gibt es auch bei den Parteien einmal Modellversu-che, um unsere Zusammenarbeit zu verbessern. Ich haltedas manchmal für notwendig.
Am Ende wird sich zeigen, was die Modellversuche wertwaren; deshalb kann man das nicht vorwegnehmen.Nachdrücklich will ich feststellen, dass wir in dem Ent-wurf durchaus Positives entdeckt haben. Das gilt insbe-sondere für die Tatsache, dass die Sozialhilfeempfängernun in die Arbeitsförderungsmaßnahmen eingegliedertwerden können. Das ist eine alte Forderung der Arbeits-losenbewegung, die durchaus richtig ist.
Um dieser Forderung nachzukommen, bedurfte es aller-dings keines Gesetzes; man hätte diesen Tatbestand auchim SGB III einordnen können. Ich will ebenfalls Ihrennachgereichten Änderungsantrag positiv hervorheben. Daist zumindest verbal anerkannt, dass für die Arbeitslosenim Rahmen der Modellversuche, so ist zu lesen, keinerechtlichen und finanziellen Nachteile entstehen sollen.Das ist nicht mehr als recht und billig.Der Rest ist fragwürdig bzw. nicht akzeptabel oderaber führt zu einem Paradigmenwechsel. Arbeitsämtersollen die Aufgaben von Sozialämtern und Sozialämterdie von Arbeitsämtern übernehmen. Beide sind überlastet.Ich will es einmal zugespitzt sagen: Die Arbeitsämterkönnen null vermitteln. Wenn sie null vermitteln können,dann können auch die Sozialämter nur null vermitteln.Daran ist nicht viel Neues; es führt zu nichts.
Ich sage deutlich: Daneben besteht die Gefahr – dieBetroffenenverbände sehen das –, dass hiermit etwas auf-gebaut wird, was der Diskussion über die Zusammenle-gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – eine Ten-denz dazu besteht und daher sind entsprechende Befür-chtungen vorhanden – sehr nahe kommt. Wir können demGesetzentwurf deswegen nicht zustimmen. Ein weitererGrund, warum wir ihm nicht zustimmen können, bestehtin der Ausdehnung der Aufgaben auf dritte Einrichtungen,für die es keine Regelungen gibt und für die hinsichtlichder Kontrolle – es muss auch eine Kontrolle des Daten-schutzes geben – durch andere Stellen kein Zugriff vor-handen ist. Trotz der positiven Aspekte können wir demGesetzentwurf aus den genannten Gründen nicht zustim-men.
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
G
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! In der Koalitionsver-einbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünenvom 20. Oktober 1998 heißt es:Um die Vermittlung in Arbeit zu erleichtern und umüberflüssige Bürokratie abzubauen, soll die Zusam-menarbeit zwischen Sozialämtern und Arbeitsämternnachhaltig verbessert werden.Diese Aussage ist für die Koalitionsfraktionen nicht nurein Lippenbekenntnis. Wir setzen mit dem vorliegendenGesetzentwurf diese Forderung aus dem Koalitionsver-trag Stück für Stück um – übrigens wie vieles andere, daswir im Koalitionsvertrag festgehalten haben.
Es gehört sich, dies hier festzustellen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es uns ge-lingen, die Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und So-zialämtern nachhaltig zu verbessern, überflüssige Büro-kratie in den Ämtern abzubauen sowie die Vermittlungvon Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt zu erleich-tern. Wir wissen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe gehörenzwar zu zwei verschiedenen, historisch gewachsenen Leis-tungssystemen; dennoch überlappen sie sich in einerHauptzielrichtung: Beides sind staatliche Fürsorgeleis-tungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Einzel-nen. Diese Überschneidungen wollen wir uns zunutzemachen und Synergieeffekte aus dem Zusammenwirkenbeider Leistungssysteme erzielen.Nehmen Sie als Beispiel Arbeitslosenhilfeempfänger,die ergänzend Sozialhilfe bekommen; Ende 1989 warendas 285 000 Personen. Unser Ziel ist es, dieser Gruppevon Menschen, die vom Schicksal der Arbeitslosigkeit ge-beutelt sind, zumindest ein wenig den Umgang mit denBehörden zu erleichtern. Wir wollen deshalb unter ande-rem ausprobieren, ob es den Menschen Vorteile bringt,wenn die Antragstellung für Leistungen der Arbeitslosen-und Sozialhilfe unter einem Dach erfolgt.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll diese Zu-sammenarbeit für alle Arbeits- und Sozialämter in derBundesrepublik verpflichtend werden. Es ist schon gesagtworden: An manchen Orten funktioniert das, da arbeitenArbeits- und Sozialämter schon von sich aus zusammen.Wir schreiben es jetzt aber vor. Dies soll in Form von Ko-operationsvereinbarungen geschehen, in denen sich dieörtlichen Arbeitsämter zur Zusammenarbeit mit den zu-ständigen Sozialhilfeträgern verpflichten.Darüber hinaus – das ist schon gesagt worden – fördertdie Bundesregierung Modellvorhaben, für die wir in dennächsten Jahren jeweils bis zu 30 Millionen DM im Jahrzur Verfügung stellen. Im Rahmen des geltendenRechts – das ist ganz wichtig, Herr Weiß – sind jedochwirklich innovativen Modellversuchen zur Verbesserungder Zusammenarbeit enge Grenzen gesetzt. Deshalb ent-hält der vorliegende Gesetzentwurf gesetzliche Experi-mentierklauseln, die das Spektrum der in Betracht kom-menden Lösungsansätze deutlich erweitern.Jetzt will ich sagen, warum es geht: Ziel der Experi-mentierklauseln ist ein Öffnen der Instrumentenkästenvon SGB III, also der Arbeitsförderung, und dem Bun-dessozialhilfegesetz für das jeweils andere Leistungssys-tem. Wir möchten ausprobieren, ob es sinnvoll ist, wenn
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Dr. Klaus Grehn11660
Arbeitslosenhilfebezieher an Maßnahmen der „Hilfe zurArbeit“ nach dem BSHG teilnehmen. Ebenso interessie-ren uns Erfahrungen, die Sozialhilfebezieher machen,wenn sie in Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung in-tegriert werden. Die Experimentierklauseln sollen auchdie Übertragung von Aufgaben der Arbeitsämter und So-zialhilfeträger – etwa die Leistungsgewährung – auf diejeweils andere Behörde oder eine dafür gemeinsam gebil-dete Stelle möglich machen. Weiterhin schaffen die Ex-perimentierklauseln die Voraussetzung für den im Rah-men vieler Modellvorhaben erforderlichen Austausch derDaten von Leistungsbeziehern. Wir erhoffen uns aus denModellvorhaben auch Erkenntnisse darüber, wie sich dasVerhältnis der Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe zukünftig ausgestalten wird.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
G
Nein, bitte nicht.
Mittelfristig muss geprüft werden, ob zur Verbesserung
der Integration der arbeitslosen Bezieher von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe in Arbeitsverhältnisse beide Leis-
tungen inhaltlich einander angenähert oder zusammenge-
führt werden sollen.
Konkrete Entscheidungen über eine bessere Verzahnung
oder eine Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe sind jedoch erst am Ende eines umfassenden
Diskussionsprozesses möglich, in dem alle konzeptionel-
len, politischen und finanzverfassungsrechtlichen Fra-
gestellung hinreichend Berücksichtigung finden müssen.
Wichtiger Bestandteil dieses Diskussionsprozesses wer-
den zweifellos die Modellvorhaben und die Erfahrungen
mit den Experimentierklauseln sein.
Ich sage es ganz offen: Wir betreten mit einigen Mög-
lichkeiten, die die Experimentierklauseln bieten, Neu-
land. Wir betreten dieses Neuland aber ganz bewusst und
mit einer fest umrissenen Zielvorstellung.
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass der vor-
liegende Gesetzentwurf schon im Vorfeld die Zustim-
mung der von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz
eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Arbeitslosen-
hilfe/Sozialhilfe“ erhalten hat. Ich erwähne das auch des-
halb, weil in dieser Arbeitsgruppe sowohl Vertreter der
A- als auch der B-Länder sitzen.
Ich sage ausdrücklich an die Adresse von Herrn Weiß:
Es hilft nicht, dass Ihr Fraktionsvorsitzender hier in glo-
balen Aussprachen immer ankündigt, man müsse drin-
gend etwas tun, Sie sich dann aber verweigern und dage-
gen stimmen, wenn diese Koalition etwas tut.
Ich halte das für ein falsches politisches Verhalten.
Ich bin daher zuversichtlich, dass wir sowohl über den
heute zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurf als auch
über die in einigen Jahren auf uns zukommende Rich-
tungsentscheidung einen parteiübergreifenden Konsens
zustande bringen werden. Diese Bundesregierung ist an-
getreten, um den Reformstau in diesem Lande aufzulösen.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
G
Nein.
Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in diese
Richtung. Darum bitte ich Sie auch herzlich um Zustim-
mung zu diesem Entwurf.
Schönen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachtenGesetzentwurf zur Verbesserung der Zusammenarbeitvon Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe, Drucksa-chen 14/3765 und 14/4163. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf bei mehrerenGegenstimmen in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen derFraktionen von CDU/CSU und PDS ist der Gesetzentwurfangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-punkt 5 auf:11. Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangBosbach, Erwin Marschewski ,Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUGleichbehandlung im öffentlichen Dienst –Tarifergebnis auf Beamte übertragen– Drucksache 14/3772 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
FinanzausschussVerteidigungsausschussHaushaltsausschussZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. MaxStadler, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg vanEssen, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Anpassung von Dienst- und Versorgungs-
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Dr. Klaus Grehn11661
– Drucksache 14/4134 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
FinanzausschussVerteidigungsausschussHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Meinrad Belle, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen! Meine Herren! Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeitund Berechenbarkeit sind die wichtigsten Grundlagenund Voraussetzungen für eine gute Politik. Das, meineDamen und Herren, war der Ratschlag eines alten, erfah-renen und angesehenen Bürgermeisters, als ich vor über30 Jahren in die Politik eingestiegen bin.Diese Grundsätze verlassen Sie offensichtlich mit Ih-rer Beamtenpolitik. Damit verspielen Sie Ansehen undVertrauen in der Beamtenschaft und bei den Versorgungs-empfängern.
Meine Fraktion hat daher einen Gesetzentwurf zur Besol-dungsanpassung vorbereitet. Wir haben uns aber heutezunächst für die Beratung unseres Entschließungsantragsentschieden, der ja offensichtlich auch Wirkung bei Ihnengezeigt hat; denn die Bundesregierung hat, von diesemEntschließungsantrag getrieben, gestern sozusagen dieKatze aus dem Sack gelassen und das Hinausschieben derErhöhung der Beamten- und Versorgungsbezüge auf den1. Januar 2001 beschlossen. Dieser Beschluss wird auchnicht durch die Sonderzahlung für die unteren Gehalts-gruppen besser.Mit der geplanten tatsächlichen Nullrunde für das Jahr2000 verstößt die Bundesregierung in eklatanter Weisegegen die Fürsorgepflicht für Beamte und Versorgungs-empfänger. Sie bestraft die Beamten dafür, dass sie keinStreikrecht besitzen, und verletzt ihre Verpflichtung nach§ 14 Bundesbesoldungsgesetz,die Besoldung ... entsprechend der Entwicklung derallgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Ver-hältnisse ... regelmäßiganzupassen.
Ich will dies gerne begründen: Das Dienstrechtsre-formgesetz aus der letzten Legislaturperiode bringt, bezo-gen auf das Jahr 2008, Einsparungen für Bund, Länderund Gemeinden in Höhe von 22,8 Milliarden DM. Ab2008 werden sich dann jährliche Einsparungen in Höhevon 3,8 Milliarden DM ergeben. Diese Einsparungen, zudenen wir uns auch heute noch bekennen, schlagen ganzkonkret als Kürzungsmaßnahmen beim Monatsgehaltfast jedes Beamten durch. Gleichzeitig kürzt das Versor-gungsreformgesetz kurzfristig, durch strukturelle Einzel-maßnahmen, die Versorgungsausgaben um jährlich 5Mil-liarden DM und führt über die Versorgungsrücklage zueiner dauerhaften Kürzung der Bezüge der aktiven Beam-ten und der Versorgungsempfänger um 3 Prozent.
Ich habe vorhin gesagt: Dazu bekennen wir uns. Wo gibtes sonst noch durchgängig Gehalts- und Rentenkürzun-gen? Auch die Fachleute Ihrer Regierungskoalition be-tonten – Herr Kollege, Sie waren damals noch nicht da-bei – bei ihren Reden ganz besonders, dass im Hinblickauf diese Einsparmaßnahmen für Sonderopfer der Be-amten kein Raum mehr gegeben sei, insbesondere nichtfür die Verschiebung der Besoldungsanpassungen.Nach Ihrer Regierungsübernahme haben Sie unsereRentenreform mit dem demographischen Faktor zurück-genommen. Die Versorgungsrechtsreform blieb aberpraktisch unverändert. Insbesondere die dauerhafte Kür-zung der Gehälter und Pensionen um 3 Prozent bleibt vollwirksam.Ich fasse zusammen: Erstens. Die Dienst- und Versor-gungsbezüge sind dauerhaft gekürzt. Zweitens. Die Be-amten und Versorgungsempfänger werden von Ihrer sogenannten Ökosteuer zur Finanzierung der Rentenversi-cherungsbeiträge voll getroffen. Ohne jegliche Entlastungmüssen höhere Heizkosten, Benzin- und Stromkosten ge-tragen werden. Drittens. Zusätzlich sollen sie nun dafürnoch mit einer Nullrunde für das Jahr 2000 „belohnt“ wer-den. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Die Beamtenschaft besteht nicht nur aus den besserverdienenden Regierungsdirektoren und Ministerialräten.Nur 17,5 Prozent aller Beschäftigten gehören dem höhe-ren Dienst an, knapp 35 Prozent dem gehobenen Dienstund knapp 48 Prozent dem einfachen und mittlerenDienst. Die Sonderzahlung in den unteren Gehaltsklassenbietet zwar – das will ich anerkennen – teilweise einenAusgleich, sie bringt aber Nivellierungen und straft alleSonntagsreden von Leistungsförderung und Leistungsan-reizen Lügen. Insbesondere die 1,3 Millionen Versor-gungsempfänger, die ja auch zur Hälfte aus dem einfa-chen und mittleren Dienst kommen, werden nun von derNullrunde voll und eiskalt erwischt.
Hier gilt immer noch der alte Spruch: Der Beamte er-hält zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.
Gerade weil die Versorgungsrechtsreform 1998 bei denPensionären unverändert wirkt, ist dieses Sonderopfer derNullrunde 2000 eine große Ungerechtigkeit.
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtesstieg das Durchschnittseinkommen der unselbstständigBeschäftigten von 1970 bis 1999 um 248 Prozent. DasDurchschnittseinkommen der Beamten stieg im gleichenZeitraum lediglich um 218 Prozent. Dieser Unterschiedergibt einen effektiven Rückstand der Beamten und
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Vizepräsidentin Anke Fuchs11662
Versorgungsempfänger bei der Einkommensentwick-lung von 14 Prozent. Das ist ein zusätzlicher Grund, ge-gen jedes weitere Sonderopfer vorzugehen. Mit Ihrer Be-soldungspolitik zerstören Sie auch alle Motivations- undLeistungsanreize, die wir damals gemeinsam mit demDienstrechtsreformgesetz eingeführt haben.Ich appelliere daher heute an Sie: Folgen Sie Ihrem Ge-fühl und Ihrem Verstand und stimmen Sie unserem Ent-schließungsantrag zu! Kehren Sie zu einer gemeinsamengerechten und verlässlichen Besoldungs- und Versor-gungspolitik zurück!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Es ist guter Brauch und entspricht derlangjährigen Tradition und den langjährigen Forderungender SPD, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst derHöhe nach auch für die Beamten zu übernehmen. Das tunwir, aber nicht deshalb, weil Sie, Herr Belle, oder weil dieCDU das gefordert hat. Vielmehr haben wir uns aus eige-ner Einsicht massiv dafür eingesetzt,
dass die Beamten gleichgestellt werden. Wir werden dieTarifabschlüsse exakt übernehmen, also eine Erhöhungvon 2 Prozent im ersten Zug und von 2,4 Prozent im zwei-ten Zug vornehmen,
abzüglich 0,2 Prozentpunkte Versorgungsrücklage, dieunter Ihrem Innenminister Kanther, der inzwischen bei Ih-nen in Ungnade gefallen ist, beschlossen worden ist.
Ich habe nichts dagegen – ich trage das ja mit –, dass er inUngnade gefallen ist. Er hat mir immer gesagt, dass wirdie Geldwäsche und die organisierte Kriminalitätbekämpfen müssen. Wenn ich aber bedenke, dass er sichselbst der Geldwäsche schuldig gemacht und sich imDunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat,während wir im Ausschuss ein halbes Jahr lang gemein-sam über die Bekämpfung der organisierten Kriminalitätund der Geldwäsche geredet haben, dann muss ich sagen,dass das ein Problem ist.
– Ich bin nur auf Ihren Zuruf eingegangen.Es war angesichts Ihrer Hinterlassenschaft der horren-den Schulden nicht ganz einfach, dieses Ergebnis zu er-reichen. Unsere Fraktion und insbesondere die Innenpoli-tiker haben mit dem Finanzminister verhandelt. Wir sindstolz, dieses Ergebnis erreicht zu haben, was angesichtsder schwierigen Situation nicht einfach war. Wir habenlange gebraucht, dieses Ergebnis zu erreichen.Allerdings wird die Übernahme der Tarifabschlüssezeitlich hinausgeschoben. In diesem Punkt haben SieRecht, Herr Belle. Der Angleichungstermin ist jeweilsder 1. Januar. Aber wichtig und entscheidend ist – ich habegestern Abend von vielen Beamtenorganisationen ein Lobdafür bekommen –: Es hat keine Absenkung des Niveausgegeben, die sich in den nächsten Jahren negativ auswir-ken könnte.
– Herr Marschewski, Sie waren selbst dabei, als sich dieBeamten des BGS lobend über unsere Entscheidung ge-äußert haben.
Natürlich spielt der Sparzwang eine große Rolle. Siehaben uns eine gigantische Schuldenlast hinterlassen, dienoch unseren Enkeln zu schaffen machen wird. Sie hättenes fast geschafft, die künftigen Generationen und unserenStaat handlungsunfähig zu machen. Aber zum Glück hatder Wähler Sie an der Vollendung dieses Chaos gehindert,indem er Sie abgewählt hat.
Die Übernahme des Tarifergebnisses lässt die aktivenund die Ruhestandsbeamten trotz schwieriger Haushalts-bedingungen an der allgemeinen Einkommensentwick-lung teilhaben. Herr Belle, Sie haben die Verlässlichkeitund die Nullrunden angesprochen. Dazu will ich Ihnen sa-gen: Was die Beamten jetzt bekommen, ist deutlich mehrals das, was sie während Ihrer Regierungszeit bekommenhaben. Sie haben viele Jahre lang nicht einmal eine Er-höhung auf dem Niveau der Inflationsrate vorgenommen.Als Sie die Regierung gestellt haben, hatten die BeamtenJahr für Jahr immer weniger im Portemonnaie.
Ich will Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen vor-halten. In den Jahren 1989, 1993, 1994, 1996 und 1997haben die Angehörigen des öffentlichen Dienstes, alsoauch die Beamten, jedes Jahr netto weniger im Portemon-naie gehabt. Da Sie die Glaubwürdigkeit angesprochenhaben, muss ich Ihnen sagen: Es ist völlig unglaubwürdig,wenn die damals für dieses Chaos Verantwortlichen heuteKrokodilstränen weinen und beklagen, dass die jetzigeRegierung zu wenig für die armen Beamten tue.
Wir hatten im letzten Jahr eine Erhöhung von 3,1 Prozentbei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent. Ich kann michnicht erinnern, dass Sie jemals Vergleichbares auf dieBeine gestellt haben.
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Meinrad Belle11663
Die zeitliche Verschiebung – das habe ich deutlich ge-sagt – erfüllt auch mich nicht mit Freude. Aber ich sageIhnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P.: Sie sind diejenigen, die eigentlich an die-ser Stelle beschämt schweigen müssten. Ich kann es Ihnennicht ersparen, Sie mit einigen Fakten und Taten aus derZeit Ihrer Regierung zu konfrontieren. Ich will in diesemZusammenhang nur einmal die Verschiebung in den letz-ten Jahren aufführen. 1991 gab es eine Verschiebung umzwei Monate, 1993 um vier Monate, 1994 um drei Mo-nate, 1995 um vier Monate,
1997 um zwei Monate und bei den B-Gruppen um sechsMonate. Das kann ich verstehen, weil es diesen Gruppennicht ganz so schlecht geht.Ich will noch zur Anhebung der Bemessungsgrenzenin Ostdeutschland Stellung nehmen. Dies ist sicherlicheine für die Menschen in Ostdeutschland nur schwer er-trägliche Schlechterstellung. Aber auch hier muss ich Ih-nen sagen, dass wir das nicht verursacht haben. Diese Un-gleichbehandlung haben wir doch von Ihnen geerbt. Siehaben fast ein Jahrzehnt Zeit gehabt, diese Ungleichheitzu beseitigen. Aber Sie haben es nicht getan. Wir habendas Problem in Angriff genommen. Wir steigern die An-gleichung in drei Stufen zumindest auf 90 Prozent. Dashätte ich mir von Ihnen gewünscht. Sie wissen genau, dasseine sofortige Anhebung unheimlich viel Geld gekostethätte, insbesondere für die Länder, nämlich circa 5 Milli-arden DM; 4,7 Milliarden DM sind es ganz genau. Das,meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P.,wissen Sie genau.Deshalb ist die Forderung, die Sie hier heute erheben,mehr als scheinheilig. Sie sollten sich mit einem kräftigen„mea culpa!“ an die Brust klopfen. Herr Marschewski, Siesind Lateiner und alter Messdiener; da wissen Sie, wasdas heißt. Sie sollten in sich gehen und uns nicht kritisie-ren.Wir haben – das will ich hier öffentlich sagen – einenengagierten, leistungsstarken öffentlichen Dienst. Der öf-fentliche Dienst ist nicht, wie man es gelegentlich in derPresse liest, eine Ansammlung von Faulpelzen der Na-tion, die in der öffentlichen Hängematte liegen. Dergrößte Teil der öffentlich Bediensteten will sich einbrin-gen, ist leistungsfähig und leistungsbereit. Deswegen binich froh, dass wir dieses Ergebnis erreicht haben. Die SPDlässt den öffentlichen Dienst, lässt die Beamten – wie dieübrigen Arbeitnehmer auch – nicht im Regen stehen. Da-ran können Sie sich ein Beispiel nehmen.
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon eine miss-liche Situation, wenn man – wie soeben der verehrte Kol-lege Kemper – hier am Rednerpult etwas vertreten muss,hinter dem man selbst nicht richtig stehen kann, weil esim Widerspruch zu dem steht, was man früher in diesemHohen Hause vertreten hat.
Dabei, meine Damen und Herren, ist die Situation dochrelativ einfach: Die Tarifverhandlungen für die Arbeiterund Angestellten des öffentlichen Dienstes haben ein ak-zeptables Ergebnis erbracht. Die Tarifvertragsparteien ha-ben Vernunft gezeigt. Jetzt sind wir am Zug, die alteRichtschnur, die wir in diesem Haus immer gemeinsamvertreten haben, zu verwirklichen: Die Beamten dürfennicht besser, aber sie dürfen auch nicht schlechter gestelltwerden als ihre angestellten Kollegen.
Von dieser simplen Erkenntnis ausgehend, legt Ihnendie F.D.P.-Bundestagsfraktion heute einen entsprechen-den Gesetzentwurf mit folgender Zielsetzung vor: Wirwollen die vollständige und zeitgleiche Übertragung desTarifergebnisses vom 19. Juni auf die Beamten und Ver-sorgungsempfänger.
Dies bedeutet im Einzelnen: erstens Einmalzahlung inHöhe von 400 DM für die Monate April bis Juli 2000 füralle Beamten und Versorgungsempfänger; zweitens li-neare Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge um2 Prozent ab 1. August 2000 – darin besteht der Unter-schied zu Ihnen – und um weitere 2,4 Prozent ab 1. Sep-tember 2001; drittens weiterer Aufbau der Versorgungs-rücklage durch Zuführung von jeweils 0,2 Prozent derAnpassungsbeträge zur notwendigen Finanzierung künf-tiger Versorgungsausgaben; viertens Erhöhung des Fami-lienzuschlags als Folgerung aus der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 undfünftens lineare Anhebung der Dienst- und Versorgungs-bezüge in den neuen Bundesländern in drei Stufen bis auf90 Prozent des Westniveaus bis zum Jahr 2002.All das haben die Tarifvertragsparteien so vereinbart.Ich sehe überhaupt nicht ein, aus welchem Grund diesnicht auch sofort für die Beamtinnen und Beamten und dieVersorgungsempfänger gelten sollte.
Sie sollten daher, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Regierungsfraktionen, die Besoldungs- und Versor-gungsanpassung nicht auf den Beginn des nächsten Jah-res verschieben. Da nützt alles Kramen im Archiv über-haupt nichts; denn wir verlangen von Ihnen nicht mehrund nicht weniger, als dass Sie jetzt genau das machen,was Sie in der Zeit, als Sie in der Opposition waren, im-mer gefordert und für den Fall der Regierungsübernahmeversprochen haben. Nicht mehr und nicht weniger sollenSie jetzt einlösen.
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Meinrad Belle11664
Das bedeutet ganz konkret, dass Sie in diesem Fall denGesetzentwurf der F.D.P. übernehmen sollten.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Die KollegenMeinrad Belle und gerade eben Max Stadler haben Oppo-sitionsreden gehalten. Man könnte sagen: Das ist ja auchihr Job. Sie stellen die Opposition in diesem Hause dar.Trotzdem möchte ich daran erinnern, dass auch eine Op-position Verantwortung für das Gesamtwesen Bundesre-publik Deutschland übernehmen sollte.
Wir können uns noch daran erinnern, wie es damals inder Opposition war. So lange ist das noch nicht her.
Als wir in der Opposition waren, war unser Ansatz immer:Eine gute Opposition regiert immer mit. Ihr Ansatz ist al-lerdings ein anderer. Eine Opposition sollte sich immer alseine Regierung im Wartestand verstehen. Was Sie hier ge-macht haben, war Populismus pur.Der Kollege Kemper hat darauf hingewiesen, was wirvon Ihnen übernommen haben. Ich möchte das kurz inErinnerung rufen: Gestern vor genau zwei Jahren ist diealte Bundesregierung abgewählt worden. Bei diesenzwei Fraktionen haben wir es ja nicht mit Unbekannten zutun. Einer der Gründe für die Abwahl der alten Bun-desregierung war, dass Sie vollmundig Versprechungenabgegeben haben, die Sie nachher nicht gehalten haben.Stattdessen kam es zu ständigen Abgabenerhöhungen undeiner ruinösen Staatsverschuldung.
Diese Staatsverschuldung – das ist bekannt – hat jedenBeamten und jede Beamtin mitgetroffen.
Insofern haben Sie keinerlei Veranlassung, dieseRegierung zu kritisieren. Wir haben von Anfang an klarauf eine strikte Konsolidierung des Haushalts und einesozial ausgewogene Politik gesetzt. Das steht bei uns imVordergrund.
Lassen Sie mich als Schwaben eines sagen: Wir achtenmit Argusaugen darauf, dass die Konsolidierungserfolgedieser Regierung nicht geschmälert werden. Bei uns wirdnichts „verveschberd“, wie man das bei uns so schön sagt.Gleichwohl ist klar, dass die Erhöhung der Bezüge vonBeamten und Pensionären angestanden hat. Ich finde, dieEckpunkte, auf die sich unsere beiden Fraktionen geeinigtund die wir jetzt durchgesetzt haben, können sich durch-aus sehen lassen.Ich möchte insbesondere auf einen Aspekt hinweisen,nämlich die Tatsache, dass die unteren Besoldungsgrup-pen, also A 1 bis A 9, zusätzlich zu der Erhöhung derBezüge ab dem 1. Januar 2001 für die Monate Septemberbis Dezember dieses Jahres eine Einmalzahlung von je-weils 100 DM, insgesamt also 400 DM, bekommen. Dasist etwas, was sich angesichts der Probleme, die wir gegen-wärtig im Haushalt zu beklagen haben, sehen lassen kann.Herr Kollege Kemper hat auf einen Akzenthingewiesen, der uns sehr wichtig ist: Wir werden dieAngleichung der Bezüge für die Beamten in den neu-en Ländern beschleunigen. Ab dem 1. August 2000 er-höht sich der Bemessungssatz auf 87 Prozent. Am 1. Ja-nuar 2001 beträgt er 88,5 Prozent, am 1. Januar 2002schließlich 90 Prozent. Damit haben wir etwas geschafft,was im Grunde kaum möglich ist, nämlich die Quadraturdes Kreises: einerseits das berechtigte Interesse derBeamten an einer Erhöhung ihrer Bezüge zu befriedigenund andererseits den Konsolidierungskurs einzuhalten.Zudem gelingt es, sicherzustellen, dass die Pensionen derBeamten in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt nichtstärker angehoben werden als die gesetzlichen Renten vo-raussichtlich angepasst werden.
Ich glaube, dass wir hier auch in der sozialen Symmetriebei der Anpassung der Alterssicherungssysteme eine guteLösung erreicht haben.Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede in Erin-nerung rufen: Von den beiden Fraktionen, die jetzt sospendabel auftreten möchten, haben wir 1,5 Billionen DMSchulden geerbt.
– Lieber Eckart von Klaeden, unser Zukunftsprogrammfür die nächsten vier Jahren ist mit dem Ziel, den Schul-denberg um 150 Milliarden DM zu senken, zugegebener-maßen sehr ehrgeizig.Ich appelliere an die Opposition: Geben Sie Ihren Popu-lismus auf. Helfen Sie uns dabei, das zu tun, was für dieseRepublik notwendig ist.
– Darüber können wir gerne reden. Das ist aber ein ande-res Thema. Stellen Sie doch einen entsprechenden Antrag.Wir lassen uns von der Opposition nicht von unseremKurs abbringen und appellieren an die Öffentlichkeit, dasManöver der CDU/CSU und der F.D.P. zu durchschauen.
Wir haben gesehen, was Sie während Ihrer Regierungszeitgemacht haben. Unsere Überschrift heißt: solide Haus-haltspolitik ohne soziale Kälte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Dr. Max Stadler11665
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für IhreAufmerksamkeit.
Jetzt hat die Kollegin
Petra Pau, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es kommt nicht oft vor, dass ich mit
Mitgliedern der bayerischen Landesregierung einer Mei-
nung bin. Heute Vormittag haben wir an einem Beispiel
gezeigt, wie es anders sein kann. Als ich aber gestern eine
Agenturmeldung zu den Ergebnissen Ihrer Beratungen
las, kam ich nicht umhin, erst einmal dem bayerischen Fi-
nanzminister, Kurt Falthauser, CSU, zuzustimmen.
– Entschuldigung, Faltlhauser. Ich werde das noch lernen,
wenn wir demnächst öfter übereinstimmen.
Er meinte – ich darf zitieren –, dass das Trostpfläster-
chen dieser Regelung, die Einmalzahlung für Gering-
verdiener, nichts für die Masse der Beamten ändere und
dass Beamte für die Bundesregierung offensichtlich
Staatsdiener zweiter Klasse sind.
Herr Kollege Özdemir, da nutzt es überhaupt nichts,
auf die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hinzuweisen.
Wir sollten die derzeitige Bundesregierung beim Wort,
bei ihrem Programm und bei ihrem Eintreten für soziale
Gerechtigkeit vor genau zwei Jahren nehmen; Sie haben
zu Recht an den Wahltag erinnert.
Da wird es dann ganz schwierig, wenn wir einer
Gruppe, nämlich den Beamten, besonders verantwor-
tungsvolle und manchmal auch gefahrvolle Arbeit – völ-
lig zu Recht – abverlangen, – ich komme gerade wie auch
Kollegen Ihrer Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion von
einer Veranstaltung mit Kriminalbeamten –, ihnen aber
auch sagen: Dafür, dass ihr gefahrvolle Arbeit leistet, dass
wir von euch erwarten, dass ihr jederzeit auch die ho-
heitlichen Aufgaben des Staates gegenüber den Bürgerin-
nen und Bürgern wahrnehmt, dürft ihr am Ende des Mo-
nats aber auch noch etwas abliefern und nicht etwa eine
Anerkennung bekommen, indem einfach die Ergebnisse
der Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes auf
euch übertragen werden.
Ich finde, dass in den Vorschlägen der F.D.P. ein Lö-
sungsweg aufgezeigt ist. Darüber sollte man ordentlich
reden, auch in Anerkennung der Leistung der Betroffenen.
Ein weiterer Punkt, der auch nicht berücksichtigt wird,
ist folgender: Es fehlt nicht nur – wie wir aus meiner Sicht
völlig zu Recht kritisiert haben – der Fahrplan für die An-
passung der Vergütung der Angestellten, sondern Sie
gehen gegenüber den Beamten im Ostteil des Landes nun
auch doppelt ungerecht vor.
Nicht nur der Fahrplan ist nicht absehbar, sondern für sie
werden sich diese Kürzung und diese Verschiebung der
Angleichung bis zu ihrer Pensionierung auswirken. Das
heißt, sie werden, wenn sie ihre Pension empfangen, noch
daran erinnert, welche Tarifabschlüsse im Jahr 2002
durch Sie nicht übertragen wurden. Es hat keinen Sinn,
hier an Ehrlichkeit, an Moral und was weiß ich zu appel-
lieren oder die Geschichte anzuführen, sondern wir soll-
ten uns mit unseren Wahlversprechen, aber auch mit un-
seren konkreten Politikkonzepten, mit denen wir in den
Wahlkampf gezogen sind, beim Wort nehmen und nach
Lösungen suchen.
Jetzt hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper das Wort.
F
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es ist schon interessant, hier zu-
zuhören. Wenn ich mich beispielsweise daran erinnere,
dass es im Jahr 1989 einen Tarifabschluss von 1,4 Prozent
bei einer Inflationsrate von 2,9 Prozent gab, dann frage
ich die Kolleginnen und Kollegen von F.D.P., CDU und
CSU: Wo war denn damals Ihr Aufschrei? Letztendlich ist
es doch wichtig, was die Beamtinnen und Beamten und
die Angestellten im öffentlichen Dienst in der Tasche ha-
ben. Damals hatten sie weniger in der Tasche, aber Sie ha-
ben keinen Aufschrei getan.
Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren: Bei-
spielsweise gab es im Jahre 1993
einen Tarifabschluss, der bei 3 Prozent lag, die Inflations-
rate lag aber bei 3,7 Prozent. Merkwürdigerweise ist die
Beamtenbesoldung auch noch erst einige Monate später
erhöht worden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wo war
denn damals Ihr Aufschrei? Vor allen Dingen: Wo war
Ihre Gesetzesvorlage, dem so nicht zu folgen? Ich kann es
nicht feststellen.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
F
Ja, aber nur, weil es der Kollege
Belle ist.
Der Kollege Belle hat
jetzt das Wort. Bitte sehr.
Lieber Herr KollegeKörper, ich wollte Sie heute Abend eigentlich nicht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Cem Özdemir11666
ärgern, aber nach diesem Einstieg muss ich Sie doch fra-gen, was Sie heute Abend zu Ihrer Aussage in diesem Ho-hen Hause am 16. Januar 1998 bei der Diskussion überdie Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform sagen.Ich darf Sie zitieren:Die Tarifergebnisse im öffentlichen Dienst müssenkünftig wieder inhalts- und zeitgleich auf den Beam-tenbereich übertragen werden.
Wie beurteilen Sie diese Aussage heute Abend in Ihremneuen Amt?F
Herr Kollege Belle, wenn Sie es
mir nachsehen, will ich noch einen Satz vorweg loswer-
den. Ich beziehe mich auf das Jahr 1996.
Damals hatten wir eine Inflationsrate von 1,3 Prozent. Sie
haben den Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine ein-
malige Zahlung von 300 DM zugestanden und somit auch
den Basiseffekt erheblich reduziert.
Sie sind meilenweit davon entfernt gewesen, das Tarifer-
gebnis zu übertragen. Das war die Wirklichkeit Ihrer Po-
litik.
Lieber Herr Kollege Belle, ich will jetzt auf Ihre Frage
eingehen. Wir haben uns – vielleicht im Gegensatz zu
Ihnen – in der Oppositionsrolle konstruktiv verhalten,
beispielsweise indem wir der Versorgungsrücklage zu-
gestimmt haben. Sie wissen das. Hier gab es keinen poli-
tischen Streit. Man hätte aufgrund so mancher politischer
Effekthascherei im Grunde auch anders entscheiden kön-
nen. Aber wir haben das, was wir in der Opposition
gemacht haben, fortgesetzt, und zwar unter dem Aspekt
der Glaubwürdigkeit. Ich finde, das ist gut so.
Dann will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben
beispielsweise im Jahre 1999 einen Tarifabschluss von
3,1 Prozent bei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent erzielt.
Wenn Ihr Innenminister das als Tarifergebnis nach Hause
gebracht hätte, dann hätten Sie ihm meilenweit einen
roten Teppich ausgerollt. Da bin ich ganz sicher. Man
kann Otto Schily für diese gute Verhandlung und dieses
Tarifergebnis nur dankbar sein.
Das Entscheidende ist, was die Menschen in den
Taschen haben. Das Jahr 1999 war in dieser Hinsicht ganz
entscheidend. Jetzt stehen wir vor der Frage: Was machen
wir in den nachfolgenden Jahren? Wir machen einen
Vorschlag, in dem wir die Jahre 1999 bis 2002 zusam-
menfassen und insgesamt eine Erhöhung von über
7,5 Prozent haben. Ich bin der Auffassung: Auf die Zeit
verteilt ist dies für die Beamtinnen und Beamten sowie die
Versorgungsempfänger ein stolzes Ergebnis. Das sollten
Sie einmal einräumen.
Sie wissen ganz genau: Es wäre vieles viel leichter zu
beschließen, wenn sich der Haushalt nicht in einem solch
schlechten Zustand befinden würde,
den Sie – das kann ich Ihnen leider nicht ersparen – zu ver-
antworten haben.
Sie können nicht so tun, als ob man bestimmte Bereiche
aus der Konsolidierungspolitik herausnehmen kann.
Lieber Herr Stadler, mit dem jetzt vorliegenden Ergeb-
nis haben wir nämlich von den Prozentzahlen her exakt
die Übernahme des Tarifergebnisses von 2 und 2,4 Pro-
zent zum 1. Januar 2001 und zum 1. Januar 2002 mit einer
vier- bis fünfmonatigen Verschiebung. Das ist richtig.
Aber eine Verschiebung ist für die Beamtinnen und
Beamten allemal besser, als den Basiseffekt zu senken,
der dann in die Zukunft hineinwirkt.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Stadler?
F
Wir Innenpolitiker reden immer
gern miteinander, also ja.
Herr Dr. Stadler, bitte.
Herr Kollege Körper, wür-den Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, dass auch zudem Zeitpunkt, in dem Sie hier in diesem Hohen Hausedie vollständige und zeitgleiche Übernahme des Tarifer-gebnisses auf die Beamtenschaft gefordert haben, dieHaushaltslage ohnehin schon schwierig war und Sie diesnicht davon abgehalten hat, damals die Forderung zu ver-treten, von der Sie jetzt selber abrücken?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Meinrad Belle11667
F
Ich habe Ihnen gesagt, dass wir
mit diesem Prozentergebnis die Übernahme des Tarifer-
gebnisses erreicht haben. Ich habe das mit dem Basisef-
fekt erklärt. Lieber Kollege Stadler, in Anbetracht dieses
schwierigen Haushaltes war dies ein großartiger Erfolg.
Dieses Ergebnis entspricht auch der Leistungsbereitschaft
und der Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten. Dafür
kann man nur dankbar sein.
Wie leichtfertig einige mit diesen Themen umgehen,
wird daraus ersichtlich, wie im Vorfeld dieser Tarifver-
handlungen eine Angleichung Ost-West auf einen
Schlag gefordert worden ist, ohne letztendlich zu wissen
und zu erkennen, wie dies die öffentlichen Haushalte be-
lasten würde. Das hätte für Länder und Bund auf einen
Schlag eine Mehrbelastung von 9 Milliarden DM ge-
bracht, wobei der Bund den wesentlich geringeren Teil zu
tragen gehabt hätte. Aber, ich glaube, Herr Kollege Belle,
darin stimmen Sie mir zu: Es ist unseriös, so etwas ein-
fach in den Raum zu stellen, ohne die Belastungen für den
Haushalt aufzuzeigen. Ich denke, das muss man auch im-
mer wieder sehen.
Es war ein sehr guter Zeitpunkt, zu dem wir das Eck-
punktepapier vorgelegt haben. Ich will gar nicht ver-
hehlen: Es war für uns wichtig, wie sich die Renten zu-
künftig entwickeln werden. Wir können natürlich die
Rentenentwicklung nicht getrennt von der Versorgungs-
entwicklung sehen. Deswegen ist der Zeitpunkt günstig.
Herr Kollege Belle, Sie sagen, wir wären von Ihrem
Entschließungsantrag vorangetrieben worden – das klingt
ja immer ein bisschen nach Jagdgesellschaft. Ich denke,
wenn sich die Jagdgesellschaft so in Grenzen hält, dann
regieren wir noch lange weiter.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage
auf Drucksache 14/3772 zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Finanz-
ausschuss, den Haushaltsausschuss und den Verteidi-
gungsausschuss zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/4134 soll ebenfalls an diese Ausschüsse
überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge?
– Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Dehnel, Günter Nooke, Michael Stübgen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Uranerzbergbau-Schäden beseitigen
– Drucksache 14/3373 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Dehnel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren Kollegen! Zu den erfolgreichs-ten Kapiteln des Aufbaus Ost nach der Wiedervereinigungunseres deutschen Vaterlandes zähle ich die Sanierung derUranerzbergbau-Schäden in den betroffenen RegionenSachsens und Thüringens. Ich glaube, dass dieses Themamorgen in der Debatte zu den zehn Jahren deutsche Ein-heit wahrscheinlich keine Erwähnung findet. Bei der jet-zigen Regierungskoalition wundert mich das nicht; dennvon dieser hat sich auch zwei Jahre nach Regierungsan-tritt noch kein Minister vor Ort die Sanierungsaufgabenund -erfolge angeschaut.Ganz anders die Regierungsvertreter der damaligen Re-gierungsmannschaft unter Bundeskanzler Kohl.
– Richtig, das ist einen Beifall wert. – Ich erinnere michnoch genau: Im Frühjahr 1991 waren wir als CDU-Abge-ordnete zum ersten Mal von Bundeskanzler Dr. HelmutKohl eingeladen. Wir traten in den NATO-Saal im Bun-deskanzleramt ein und waren überrascht, dass wir als ganzjunge, neue Abgeordnete überhaupt in das Kanzleramteingeladen worden sind. Dann konnten wir all unsere Pro-bleme, die wir in den neuen Bundesländern hatten, vor-tragen.
Ich habe damals diese Wismut-Sanierung ange-sprochen. Unmittelbar hinterher wurde sie zur Chefsacheerklärt – und nicht nur erklärt: Es wurde eine Tatsache da-raus.
Schon im Sommer 1991 war BundesumweltministerTöpfer in den Uranerzbergbau-Gebieten in Schlema imErzgebirge. Er hat sich dort ein Bild von den Schäden ge-macht. Bereits im Herbst standen umfangreiche Mittel fürdie Sanierung bereit.Dieses Unternehmen, die Wismut GmbH, hatte alsSowjetische Aktiengesellschaft von 1945 bis 1953 undvon 1954 bis 1991 als Sowjetisch-Deutsche Aktienge-sellschaft Wismut 1,5 Milliarden Tonnen Erz und Gesteingefördert, um aus 200MillionenTonnen Erz 231 000Ton-nen Uran, das so genannte Yellow Cake, zu gewinnen.Dieses wurde vor allem für die sowjetische Atomrüstunggebraucht. 1954 waren bei der Wismut 120 000 Bergleutebeschäftigt, 1989 noch 42 000, denn zum Glückhatte die Abrüstungspolitik auch in der DDR ihrenNiederschlag gefunden. Dies ist aber nur der klaren Hal-tung der damaligen Bundesregierung hinsichtlich des
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011668
Doppelnullbeschlusses zuzurechnen. Ich glaube, wir soll-ten uns wirklich daran erinnern.
Auch bei uns in der ehemaligen DDR, hinter Mauerund Stacheldraht, haben wir das so empfunden, denn auchin unserer Heimat standen SS-20-Raketen. Wir wussten,dass uns genau dieser Doppelnullbeschluss letzten Endesdie Abrüstung gebracht hat.
Nach dem Stopp des Uranerzbergbaus bestand die Auf-gabe, an den vier Wismut-Standorten Aue und Königsteinin Sachsen sowie Ronneburg und Seeligenstädt in Thürin-gen fast 3 700 Hektar Betriebsgelände, davon 50 ProzentHalden, zu sanieren und 1 400 Kilometer horizontaleGrubenbaue zu verwahren. Bildlich gesehen ist das eineStrecke wie die von Berlin nach Paris. Es war einegewaltige Herausforderung, vor der das nunmehrigeBundesunternehmen Wismut GmbH und ihr Auftragge-ber, die Bundesregierung, 1991 standen.Trotz erheblicher Reduzierung der Arbeitskräfte voncirca 44 000 auf gegenwärtig 3 150 gehört die Wismutnach wie vor zu den größten Arbeitgebern der Bergbaure-gion, die zusätzlich an fast 1 000 Fremdfirmen Aufträgevergibt. Für die Sanierungskonzepte waren rund 3 000Genehmigungsanträge bei den zuständigen Behördeneingebracht worden. Auch diese wurden zügig bearbeitet.Allen diesen Mitarbeitern sollten wir heute aus diesemHause einmal für die hervorragende Arbeit und die Er-gebnisse, die bereits erbracht wurden, ein herzlichesDankeschön sagen.
Das sichtbarste Zeichen dieser Heilung von Wunden inder Umwelt und der Wunden in den Seelen von Menschenist das Wiedererstehen des Kurbades Schlema, welchesförmlich in den Abraumhalden versunken war. Dieser Ortwar vor und unmittelbar nach der Wende ein Symbol fürden Verfall und hatte den Namen „Tal des Todes“ in denentsprechenden Medien. Heute schreiben sie anders.Heute schreiben sie: „Die Wismut-Wunden werdengeschlossen“, „Größtes Geheimnis der DDR nun eineExpo-Attraktion – Kleine Schwester mit grüner Zukunft“,„Wismut GmbH sanierte Haldenkomplex zwischen Al-beroda und Schlema – circa vier Jahre Bauzeit“ und „AusSchlema wird ein weltweites Expo-Projekt“.
Das ist doch eine ganz andere Entwicklung. Wir sind inunserer Region auch froh, dass diese Negativ-Bericht-erstattung endlich aufgehört hat.Heute kann man von der so genannten Herzoghöhe,nach dem ehemaligen Bundespräsidenten benannt, odervom „Biedenkopfblick“
hinunter auf eine Kurlandschaft schauen, über die selbstdie Curies, die bei uns das Radium für ihre Versuche ge-holt haben, staunen würden.Meine Damen und Herren, dieses von Einheimischenund Besuchern oft als „Wunder der Einheit“ bezeichneteErscheinungsbild der Sanierung wurde durch das Bereit-stellen von 13Milliarden DM aus Haushaltsmitteln der al-ten Bundesregierung über eine Laufzeit von circa15 Jahren ermöglicht. Wohlweislich hatte die CDU/CSU-Fraktion dies 1998 noch in ein Gesetz zur Absicherungeinbringen lassen. Damit waren natürlich auch keinegroßen Kürzungen mehr möglich.Ich bin der heutigen Bundesregierung durchausdankbar, dass sie nur geringe Kürzungen bei diesemSanierungsauftrag vorsieht. Ich würde mich freuen, wenndas weiterhin so bliebe, auch wenn sich Minister Müllerund Minister Trittin bei bestimmten Terminen vor Ort im-mer wieder haben entschuldigen lassen. Auch beiEmpfängen waren sie nicht da. Sie haben uns zwar einge-laden, aber sind nie vor Ort erschienen.Zur Erinnerung muss man natürlich auch sagen, dassFrau Merkel als damalige Bundesumweltministerinmehrfach vor Ort war und dort mit Sachkunde geglänztund keine Show abgezogen hat, wie das jetzt der Bun-deskanzler bei seiner Reise durch die neuen Bundesländervorgemacht hat. Es war damals ganz anders, damals warSachkunde gefragt und keine Show.
– Das war auch Chefsache, und zwar echte Chefsache.Es war richtig, die bisher getätigten Sanierungen sozügig und konsequent anzupacken und mit hoher Prioritätdurchzuführen. Ein Großteil der Aufgaben ist schon be-wältigt. Dies kann man aber leider nicht von den Schädendes Uranerz-Abbaus sagen, die so genannte Altstandortesind. Diese befanden sich 1991 nicht im Eigentum desBundes. Das geht aus einem Abkommen zwischen derDDR und der Sowjetunion von 1962 sowie dem Wismut-gesetz von 1991 hervor, welches rein rechtlich nur aufdiesem basieren konnte.Demnach sind – auch nach gerichtlichen Entscheidun-gen – die Kommunen und Länder für die Sanierung ver-antwortlich. Da aber die damalige DDR mit Sanierungnichts im Sinn hatte und der Bergbau als Raubbau be-trieben wurde, sind jetzt die Regionen und Kommuneneinfach überfordert. Davon ist besonders Johanngeor-genstadt betroffen. Diese Stadt im Erzgebirge ist vondiesen Hinterlassenschaften stark belastet; dort stieg dieAnzahl der Bewohner von circa 8 000 im Jahre 1946 aufsage und schreibe 40 000 im Jahre 1953, von denen diemeisten Flüchtlinge aus Sudetendeutschland und Schle-sien waren, die Arbeit und Wohnung suchten. Viele wur-den auch zugewiesen und auch zum Bergbau verpflichtet,ohne je diesen Beruf erlernt zu haben. Das Gute war: Siehatten dadurch auch Wohnung und Brot. Die Wismut hatsomit nicht nur Schlechtes gemacht.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Wolfgang Dehnel11669
Die Altstadt wurde bis auf wenige Häuser und dieKirche – wegen der Proteste vom 17. Juni 1953 – zuguns-ten des Bergbaus zwangsgeräumt und abgerissen, Woh-nungsbauten im so genannten Sibirienstil sind entstandenund das urbane Umfeld wurde zerstört. Heute hat Johann-georgenstadt wieder seine Einwohnerzahl wie vor50 Jahren. Das hinterließ bzw. hinterlässt sehr tiefeSpuren. Die so genannten Sibirienbauten stehen leer undsind – ähnlich den verlassenen Standorten des Kohleab-baus in Nordrhein-Westfalen – verkommen. In Nord-rhein-Westfalen gab es aber gewaltige Strukturhilfen. Daswünschen wir uns natürlich jetzt auch für Johanngeor-genstadt. Die Bürger von Johanngeorgenstadt, die Verant-wortungsträger in Kommune und Land und auch die Man-datsträger in Bund und Land haben bisher viel getan, umdiese Last zu schultern. Erste Erfolge sind schon zu sehen:Die Sanierung des Bahnhofs, der Straßen und der Häuserkommt voran.Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchtenun bewirken, dass sich Bund und Länder sozusagengemeinsam in das Rettungsfahrzeug begeben. Sie sollengemeinsam bei der Sanierung der Altstandorte der Uran-bergbau-Gebiete in den benachteiligten Regionen einenGroßteil der unverschuldeten Lasten des schweren Ruck-sackes der Vergangenheit tragen und erleichtern helfen.Erste Gespräche hat es ja schon zwischen der Bun-desregierung – wo ist deren Vertreter jetzt hin? –
Er sitzt im Augen-
blick bei der SPD-Fraktion. Er hört aber ganz genau zu.
– und der sächsi-
schen Landesregierung gegeben. Dies sollte auch weiter-
hin über Parteigrenzen hinweg möglich sein. Ich fordere
auch die rot-grünen Koalitionsfraktionen auf: Machen Sie
bei unserem Antrag mit, unterstützen Sie uns, ich lade Sie
im Namen meiner Fraktion dazu ein.
Leider ist bei der Behandlung dieses Themas – wenn
ich es richtig sehe – Staatsminister Schwanitz wieder ein-
mal nicht da. Die Problematik betrifft auch die Region,
aus der er kommt.
Es ist offensichtlich: Bei Wirtschaftsdebatten ist er
nicht da und auch bei dieser Debatte nicht. Dafür ist aber
Staatssekretär Mosdorf anwesend. Ich bin überzeugt da-
von, dass er, wenn er spricht, irgendwelche Maßnahme-
mittel ankündigen wird. Wenn das so ist, hat unser Antrag
etwas bewirkt und ich glaube, dann sind die Bürger in
meiner Heimat und ich sehr zufrieden.
Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Werner Labsch, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und liebe Kollegen! Die Sanierung der Bergbau-folgeschäden in den Uranerzbergbauregionen sowie inden mittel- und ostdeutschen Braunkohlerevieren warnach der Wende erstens aus bergrechtlichen Gründenzwingend erforderlich, zweitens aus ökologischen Grün-den notwendig und drittens aus arbeitsmarktpolitischenGründen wegen des Niedergangs der Industrie in diesenRegionen hilfreich. Diese Sanierung ist auch weiterhin er-forderlich. So weit die Vorgeschichte dazu.
– Der Politik insgesamt und der IG BCE ist hohe Aner-kennung geschuldet, nicht aber in erster Linie Herrn Kohl.
Sie haben doch diese Mega-Arbeitsbeschaffungsmaß-nahme in Ostdeutschland eingeleitet.Nun zu Ihrem Antrag: Ich erlaube mir, die Frage zustellen, was Sie mit diesem Antrag eigentlich erreichenwollen. Herr Dehnel hat übrigens auch nichts dazu beige-tragen, dass ich es begriffen hätte.
Dass die Sanierung der großflächig radioaktiv ver-seuchten Wismut-Altlasten eine der großen ökologi-schen Herausforderungen für Deutschland war, das wis-sen wir hier alle. Das müssen Sie uns nicht noch einmalsagen. Dass sich die Sanierungstätigkeit jetzt bereits fastzehn Jahre hinzieht und dabei große ökologische Erfolgezu verzeichnen sind, das wissen wir auch alle. Dass dazueine Menge Geld notwendig war, wissen wir auch alle.
– Ich sprach von „wir“, nicht nur von mir.Ich unterstelle vor allen Dingen Ihnen, Herr Dehnel– die anderen Kollegen sind davon gar nicht so betrof-fen –, dass Sie mit Ihrem Antrag bei den Menschen in derRegion, um die es geht, den Eindruck erwecken wollen,dass Sie die rot-grüne Koalition vor sich her treiben müs-sen, damit wir begreifen, was dort noch zu tun sei. Wirwissen das aber.
Als Robin Hood waren Sie hier zu schwach, Herr Dehnel,aber als Fensterredner haben Sie eine gute Figur abgege-ben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Wolfgang Dehnel11670
Meine Damen und Herren, Sie wissen genau wie wir,dass nach den erarbeiteten Sanierungskonzepten, die lau-fend fortgeschrieben werden, gearbeitet wird und dassdies bereits zu erheblichen Erfolgen geführt hat.
In Kenntnis des bisherigen Sanierungsfortschritts so-wie der Tatsache, dass die Sanierung noch nicht beendetsein kann, hat sich das BMWi mit Nachsorge- und Lang-zeitaspekten der Sanierung und mit der Zukunft des Un-ternehmens Wismut GmbH befasst. Nachsorge- undLangzeitaufgaben beinhalten sowohl die Wasserbehand-lung, die Pflege und Bewirtschaftung von saniertenFlächen, die Umweltüberwachung und die bergmänni-sche Nachsorge als auch Regelungen zur Abfederung vonsozialen Lasten, Arbeitsplatzgarantien und die Bewertungdes Vermögens.Die bisher vom Bund zuletzt im April dieses Jahres ge-führten zwei Gespräche mit den Freistaaten Sachsen undThüringen fanden im Hinblick auf eine mögliche vertrag-liche Regelung statt und werden Ende des Jahres fortge-führt.
Ein vom Bund in Auftrag gegebenes Gutachten ist denLändern Thüringen und Sachsen am 21.August zugestelltworden. Eine Stellungnahme dieser Länder liegt bis heutenoch nicht vor. Ich stelle das nur fest und will das gar nichtbewerten.Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Wis-mut GmbH als Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber fürdiese Region – die Firma hat derzeit noch etwa 3 000Mit-arbeiter – sieht der Bund für das Jahr 2010 die Übertra-gung der Wismut GmbH an die Länder vor. Hier liegt dieZukunft der Wismut GmbH und der Menschen in der Re-gion – dazu hätten Sie einmal etwas sagen sollen –, undzwar gerade wegen der Erfolge, wegen des angearbeite-ten und erworbenen Know-hows.
– Genau das. Das habe ich vermisst; dazu haben Sie über-haupt kein Wort gesagt.
Aus diesem Grunde verdienen die Wismut-Consultingund die Menschen größte Aufmerksamkeit. Die werdensie von uns auch erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil ausdiesem Know-how und der Erfahrenheit dieser Menschennunmehr Kapital und Arbeit erwachsen können.Sie wissen, dass vor allen Dingen in den mittel- undosteuropäischen Staaten die EU bereits Mittel für ersteAufgaben zur Verfügung gestellt hat, in Bulgarien übereine PHARE-Förderung und in Polen und Tschechien mitder Inaussichtstellung von Aufträgen. Hier wird das Un-ternehmen Wismut-Consult sein konzentriertes Wissenund seine Erfahrung einbringen und damit wird für dieRegion das ermöglicht, wofür jahrelang schließlich auchGeld ausgegeben wurde.
– Ich weiß ja gar nicht, wo ich zustimmen soll.
Deutschland war weltweit in der Bergbautechnik und-technologie Marktführer und hat jetzt die Chance, diesauch in der Bergbausanierung zu sein.Erlauben Sie noch ein paar Bemerkungen zum Son-derfall Johanngeorgenstadt.
Herr Kollege, Sie ha-
ben die Redezeit überschritten.
Einen kleinen Moment noch.
Dieser Ort ist einer der am schwersten betroffenen. Sie
haben Recht, Herr Dehnel.
Mir sind aber verschiedene politische Initiativen bekannt.
Unter anderem gibt es noch einen Antrag Ihrer Fraktion
zur Beteiligung des Bundes an der schnellen Sanierung.
Jedoch nicht die Kostenbeteiligung des Bundes ist hier die
entscheidende Frage. Fakt ist – das haben Sie vergessen
zu sagen –, dass die laufenden Genehmigungsverfahren
für diese Sanierungsmaßnahmen frühestens Ende 2001
einen Beginn der Maßnahmen zulassen werden. Also kön-
nen wir darüber weiter reden.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Um Gottes willen, zu IhremAntrag, zu dieser Fensterrede: Nein! Herr Dehnel, auchSie haben nichts dazu zu melden. Das, was Sie uns gesagthaben, wissen wir alle seit Jahren.
– Sie haben keinen Antrag gestellt.
Die Bürgermeister der Orte um Johanngeorgenstadthaben ein Grobkonzept erarbeitet. Hätten Sie das
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Werner Labsch11671
vorgestellt, dann hätten wir vielleicht darüber abstimmenkönnen.
– Dem Antrag ist überhaupt nicht zuzustimmen. Das istheiße Luft.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zum Bergbaukonzern Wis-
mut ist eine Menge gesagt worden. Ich habe nicht allzu
viel Zeit; deswegen will ich die ganzen Daten nicht
wiederholen.
Nur so viel: Der Bergbaukonzern schürfte Uran zur
Lieferung an die Sowjetunion und war zu DDR-Zeiten
das größte Unternehmen Sachsens. Nach der Wiederver-
einigung wurde der Uranbergbau eingestellt. Die Sowjet-
union übertrug ihren Anteil an der Wismut auf die Bun-
desrepublik Deutschland, die sich damit verpflichtete, für
die Sanierung der schwer geschädigten Umwelt nunmehr
allein zuständig aufzukommen. Für Altlasten, die seit
1963 entstanden sind, besteht deshalb auch eine Sanie-
rungsverpflichtung der Wismut GmbH als Unternehmen
des Bundes.
Jetzt ist das Problem aber, Herr Labsch: Offen ist, wer
für die Sanierung der Altlasten gerade steht, die vor 1963
entstanden sind, für die so genannten Wismut-Altstand-
orte. Um deren Sanierung geht es nämlich im vorlie-
genden Antrag. Deswegen ist es vollkommen berechtigt,
dass man darüber spricht.
Wie wir wissen, gibt es eine klare föderale Aufgaben-
teilung zwischen dem Bund und den Ländern. Der
grundsätzliche Befund ist deshalb klar: Trotz der berech-
tigten Interessen der Erzgebirgsregion – betroffen ist vor
allem die Gegend um Johanngeorgenstadt – handelt es
sich eindeutig um eine Aufgabe des Landes Sachsen.
Trotz dieser grundsätzlichen Feststellung steht die F.D.P.
der Überlegung, dass sich der Bund an der Beseitigung
der durch den Uranerzbergbau verursachten Entwick-
lungsnachteile der dortigen Region beteiligen soll, aufge-
schlossen gegenüber, und zwar deswegen, weil Land und
Kommune mit den finanziellen Lasten, die für die Sanie-
rung notwendig sind, überfordert wären.
Dabei darf natürlich – darauf ist völlig zu Recht hinge-
wiesen worden – nicht vergessen werden, dass das bei der
Sanierung gewonnene Know-how ein Gewinn bringender
Exportartikel ist, von dem die Region auch weiterhin
profitiert. Uranerzbergbau wurde und wird in vielen Län-
dern der Welt betrieben. Insbesondere in Osteuropa und in
den GUS-Staaten wurden gleiche oder ähnliche Techno-
logien angewandt wie im östlichen Teil Deutschlands, mit
vergleichbaren Auswirkungen auf die Umwelt.
Die Tochterfirma Wismut-Consult hat deswegen im
Auftrag der EU-Kommission und privater Investoren in
den letzten Jahren eine Reihe von Projekten bearbeitet,
bei denen es um die Ausarbeitung von Sanierungslösun-
gen für Uranerzbergbaustandorte in diesen Ländern sowie
um den Transfer von Know-how ging.
Maßgeblich für ein Engagement des Bundes sollte al-
lerdings die besondere Bedeutung einer Sanierung der
Altlasten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
sein. Der Grundsatz, dass die Erfüllung regionaler Aufga-
ben in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört, muss
trotzdem nicht aufgegeben werden. Es wäre beispiels-
weise überlegenswert, die Geschäftsanteile an der Wis-
mut GmbH auf Sachsen und gegebenenfalls auf weitere
Länder zu übertragen. Als Gegenleistung für eine solche
Verantwortungsübernahme durch die Länder müsste dann
jedoch auch eine angemessene Beteiligung des Bundes an
der Sanierung der Wismut-Altstandorte in ausreichender
finanzieller Dimension gewährleistet sein.
Dabei sollten wir – zuständig ist ja der Umweltminister;
er ist federführend – vor allen Dingen auch darauf achten,
dass das hohe Niveau der ökologischen Sanierungsziele
unbedingt aufrechterhalten wird.
Ich finde es bemerkenswert, dass kein Vertreter der
Bundesregierung zu diesem Tagesordnungspunkt redet.
– Wenn die Bundesregierung handeln würde, dann müsste
sie in der Tat hier nichts erklären.
Wie gesagt, ich finde es bemerkenswert, dass die Bun-
desregierung zu diesem Tagesordnungspunkt keine Stel-
lung bezieht. Ich fordere Sie auf, dem Bundestag Ihre
Überlegungen zu diesem Sachverhalt darzulegen und uns
auch mitzuteilen, ob es Schätzungen über die mit einer Sa-
nierung verbundenen Kosten gibt. Wir sollten alle mitei-
nander ein Gespräch führen und zu einer Unterstützung
der Region rund um Johanngeorgenstadt kommen.
Das Wort hat nun die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Guten Abend, meine Damen undHerren! Auch in Deutschland kann man die Folgenvon Uranerzbergbau – es sind auch die Folgen des
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Werner Labsch11672
Betreibens von Atomkraftwerken – besichtigen, nämlichanhand der Hinterlassenschaft von 40 Jahren Uranberg-bau in der Nähe von Gera. Es ist eine verwüstete, ver-strahlte und zerstörte Landschaft mit 240 Meter tiefenLöchern und mit 100 Meter hohen Abraumhalden.
Nicht anders sieht es – auch das muss man in Erinne-rung rufen – übrigens überall dort aus, wo auch heutenoch Uran abgebaut wird, um deutsche Atomkraftwerkezu betreiben. Dabei ist nicht nur die regionaleUmweltzerstörung vor Ort problematisch; vielmehr ist esauch problematisch, dass große Mengen strahlenden Ma-terials an die Erdoberfläche geholt werden und dort imAbraum liegen gelassen werden. In den Halden befindensich alle möglichen Schwermetalle, Gifte und strahlendeStoffe wie Nickel, Arsen, Sulfide, Sulfate und auch Ra-don.
– Herr Kollege, wenn alles saniert wäre, dann müssten wirhier nicht mehr darüber sprechen.
Es gibt nach wie vor eine Gefährdung vor Ort – des-wegen ist die Sanierung notwendig –, und zwar nicht nurfür denjenigen, der sich auf den Halden aufhält; vielmehrbesteht nach wie vor die Möglichkeit, dass kontaminier-ter Schwebestaub durch Winde in die Umgebung gewehtwird und dass dadurch die Felder mit Schwermetallen ra-dioaktiv belastet werden.
Deswegen ist eine Sanierung – völlig richtig – absolutnotwendig.
Die Sanierung ist in vollem Gange. Sie wurde unter an-derem von der alten Bundesregierung in Gang gesetzt.Zurzeit sind 19 Prozent der Flächen der Wismut GmbHsaniert. Allerdings ist die Sanierung des Untertagebausschon wesentlich vorangeschritten. Von den 13 Milliar-den DM, die dafür bereitgestellt wurden, sind mittlerweile6,6 Milliarden DM abgeflossen. Es sind also in der Tat er-hebliche Fortschritte zu verzeichnen. Man muss auch sa-gen, dass die Umweltbelastung und die Belastung derMenschen in dieser Region aufgrund dieser Fortschritteeindeutig zurückgegangen ist.
– Warten Sie ab, ich komme schon dazu.Offen ist aber noch die Frage, wie mit den Altstandor-ten umgegangen werden muss, die überwiegend bereitsvor 1962 stillgelegt wurden. Die Zuständigkeit liegt beiden Ländern und bei den Kommunen. Dadurch, dass dieFlächen bis heute nicht saniert worden sind, sind großeProbleme in der Regionalentwicklung entstanden; dennaus den unsanierten Uranhalden kann man keine Ge-werbe-, Naherholungs- oder Naturschutzgebiete machen.
Der Bund wird seinen Anteil zur Sanierung beitragen.Wir stehen zu unserer Verantwortung in dieser Frage. Zur-zeit finden zwar Gespräche mit den Ländern statt, aller-dings ohne Ergebnis, weil die Länder Sachsen undThüringen teilweise eine unterschiedliche Position ein-nehmen.
Ihr Antrag ist aber absolut scheinheilig. Ich möchte Siean dieser Stelle daran erinnern, dass die von Ihnen getra-gene frühere Bundesregierung die Frage der Sanierungs-pflicht der Wismut-Altstandorte – es geht um die Rolle,die die Bundesregierung dabei gespielt hat – kategorischverneint hat. Der Bund wollte dafür keinen einzigen Pfen-nig in die Hand nehmen.
Mit dem von Ihnen eingebrachten Antrag handeln Sienach dem guten alten Adenauer-Prinzip: Was kümmertmich mein Geschwätz von gestern.
Im Gegensatz zu Ihnen hat die Bundesregierung dasProblem begriffen. Jetzt laufen die Gespräche. Ich denke,wir werden sehr bald eine Lösung finden, durch die ge-meinsam mit den Ländern Sachsen und Thüringen dieSanierung der Altstandorte in Angriff genommen wird.
Anstatt hier so scheinheilige Anträge zu stellen – inder Regierungsverantwortung haben Sie nichts dafür ge-tan! –, sollten Sie sich als glühende Verfechter der Atom-kraft für die Schäden verantwortlich fühlen, die beim Ab-bau von Uran entstehen, das man benötigt, um inDeutschland Atomkraftwerke zu betreiben.
In anderen Ländern, in denen man meistens weniger ver-antwortlich als in Deutschland vorgeht, wird aufgrund derTatsache, dass wir Atomkraftwerke betreiben, Uran abge-baut, mit all den Konsequenzen, die das für die Menschenin diesen Ländern hat.
Sie weinen hier Krokodilstränen über den Uranerz-bergbau in der ehemaligen DDR,
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Michaele Hustedt11673
um dessen Zustand Sie sich zu Ihrer Regierungszeit nichtgekümmert haben. Wie gesagt, das nenne ich scheinhei-lig.Die Bundesregierung wird sich zusammen mit denLändern Sachsen und Thüringen – davon bin ich über-zeugt – auch um dieses Problem verantwortungsbewusstkümmern. Sie sollten lieber die Verantwortung für die-jenigen Schäden übernehmen, die in anderen Länderndurch das Betreiben von deutschen AKWs entstehen.Danke.
Jetzt hat der Kollege
Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Namens der PDS-Fraktion möchte
ich den Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion
zu diesem Antrag aufrichtig gratulieren. Wir unterstützen
ihn vorbehaltlos.
Sie wissen genau, warum: Vor vier Jahren und drei Mo-
naten haben wir einen gleichartigen Antrag eingebracht.
Damals haben Sie von einer Behandlung nichts wissen
wollen.
Damals wäre es ein Leichtes gewesen, mit den CDU-re-
gierten Ländern Thüringen und Sachsen eine Einigung zu
erzielen. Was Sie jetzt machen, ist Augenwischerei und
Scheinheiligkeit. Das glaubt Ihnen kein Wähler in Ihrer
Region.
Die von Ihnen damals getragene Regierung trägt die
Verantwortung dafür, dass die Wismut bis heute bei der
Sanierung kontaminierte Flächen von teilweise wenigen
Quadratkilometern ausklammern muss, weil sie 1962 den
Kommunen übereignet worden waren. Das ist keine Sa-
nierung. Sanieren können Sie nur großflächig und im
Ganzen; sonst sind zukünftige Katastrophen program-
miert.
Bei den hier in Rede stehenden, den Kommunen 1962
rückübertragenen und bis heute unsanierten Gebieten
handelt es sich insgesamt um eine Größenordnung von
etwa 1 400 Quadratkilometern. Schätzungen über den Be-
darf an finanziellen Mitteln für die Sanierung schwanken
zwischen 750 Millionen und 2 Milliarden DM. Die Kom-
munen als Eigentümer sind damit natürlich völlig über-
fordert. Allein in Thüringen haben die Kommunen nächs-
tes Jahr 215 Millionen DM weniger in den Kassen als
noch in diesem Jahr. Da der Bund sich nicht für zuständig
hält, passiert seit zehn Jahren so gut wie nichts, acht Jahre
davon unter der politischen Verantwortung des Antrag-
stellers, der CDU/CSU.
Leider wird jede weitere Verzögerung aber nicht nur
teuer, was schon schlimm genug wäre. Sie führt gleich-
zeitig, wie schon in den vergangenen Jahren, in den be-
troffenen Gegenden zu einem weiteren Abbau Ost.
Natürlich siedeln sich da keine Firmen an. Vorhandene
Firmen verschwinden. Die Bevölkerung zieht weg. Die
Sanierung könnte diesen katastrophalen Prozess mit ei-
nem Schlag umkehren. Man würde eine größere Zahl von
zusätzlichen Arbeitsplätzen schaffen und die Gebiete für
Unternehmen und Bevölkerung wieder attraktiv machen.
Nach Lage der Dinge sollte man eigentlich opti-
mistisch sein, dass jetzt von der Regierung die richtige
Richtung eingeschlagen wird. Immerhin haben SPD und
Grüne in vergangenen Oppositionszeiten immer gefor-
dert, was die CDU/CSU als Regierungspartei stets ver-
hindert,
aber nun plötzlich eingeklagt hat: nämlich den Sanie-
rungsauftrag der Wismut GmbH auf die den Kommunen
zurückgegebenen Flächen auszuweiten. Leider ist es je-
doch im Bundestag nicht nur in dieser Frage, sondern
recht oft üblich, das, was man als Opposition fordert, in
der Regierungsverantwortung schnellstens zu vergessen.
So werden ja auch die allgemeinen Mittel für die Wismut-
Sanierung von der Regierung Jahr für Jahr gekürzt, ob-
wohl die SPD als Oppositionspartei zu Recht ständig die
Erhöhung dieser Mittel gefordert hat.
Deshalb appelliere ich an Sie: Handeln Sie heute. Fin-
den Sie eine Finanzierungsregelung für die Sanierung der
alten Wismut-Flächen in Sachsen und Thüringen. Werten
Sie damit die mit 13 Milliarden DM finanzierte Wismut-
Sanierung zu einer tatsächlichen Rekultivierung der gan-
zen Region auf. Warten Sie nicht, bis Schäden eingetreten
sind, die später überhaupt nicht mehr repariert werden
können.
Machen Sie es nicht wie bei den Rentenregelungen für
ostdeutsche Bergleute, auch für diejenigen der Wismut.
Viele von ihnen sind heute stark benachteiligt, weil der
Bundestag den Ausschluss solcher Benachteiligungen
nicht ernst genug genommen hat. Ich erwähne das in die-
sem Zusammenhang nur, weil ich die Hoffnung nicht auf-
geben werde, dass auch in diesem Punkt noch eine
nachträgliche Gerechtigkeit erreicht werden kann.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich komme zum Schluss,Frau Präsidentin. – Für die Sanierung der alten Wismut-Flächen gilt immer noch, was schon 1990 galt: Zum
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Michaele Hustedt11674
sofortigen Handeln in dieser Sache gibt es keine vernünf-tige und verantwortbare Alternative. Die CDU/CSU hat esnun endlich begriffen. Jetzt hoffen wir auf die Koalition.
– Ich war, behaupte ich, mehr bei der Wismut als Sie, HerrKollege Dehnel. Ich würde Ihnen raten: Kommen Sie ein-mal in meine Region, dann sehen Sie, was Sie verbrochenhaben. Die Schäden sollten Sie einmal reparieren!Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Jelena Hoffmann.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zur Beseitigung der Uranerz-
bergbau-Schäden gelesen habe, war mein erster Gedanke:
Eigentlich haben wir es nicht nötig, uns von der Opposi-
tion belehren zu lassen.
Oder sind Sie, Herr Dehnel, erst jetzt aufgewacht? Warum
haben Sie Ihre Forderungen nicht an Ihre damalige Re-
gierung gestellt?
Da haben Sie ein Stückchen von der Entwicklung in
Ihrem eigenen Wahlkreis verschlafen und verpasst.
Zuerst kann ich unsere Einigkeit darin feststellen, dass
es einen Sanierungsbedarf der Altstandorte des Uran-
bergbaus gibt. Das sind die Flächen, die vor 1962 stillge-
legt worden sind und nicht vom Wismut-Vertrag 1991 er-
fasst sind. Hier besteht natürlich Handlungsbedarf.
Darüber brauchen wir auch nicht zu streiten.
Zweitens dürfte auch klar sein, dass die Wismut GmbH
in Chemnitz am besten geeignet ist, solche Aufgaben zu
übernehmen. Durch die langjährige Erfahrung besitzt sie
heute ein hervorragendes Know-how auf Weltniveau und
ist darüber hinaus eine wichtige Stütze der Region. Das
wissen Sie auch.
Aufträge im Wert von über 250 Millionen DM werden je-
des Jahr von der Wismut GmbH vergeben. Diese bleiben
zum größten Teil in der Region. Damit ist die Wismut
auch ein ganz wichtiger Pfeiler auf dem Arbeitsmarkt.
Mein Kollege Labsch hat schon darauf hingewiesen, dass
über 3 000 Mitarbeiter bei der Wismut unter Vertrag sind.
Dazu kommen über 300 Azubis. Gerade in diesem Jahr
sind noch 100 neue Azubis eingestellt worden.
Über die Problemlage und den Handlungsbedarf sind
wir uns also einig.
Die Streitfrage ist allein, wer das alles finanzieren soll.
Die Länder sagen, gutachterlich bestätigt: Dafür ist ganz
klar der Bund zuständig. – Der Bund sagt, auch gutach-
terlich bestätigt: Das ist ganz klar Sache der Länder.
Was haben Sie, meine lieben Kollegen von der Opposi-
tion, in Ihren langen Regierungsjahren zur Lösung dieser
Frage beigetragen?
Sie haben das Problem meiner Meinung nach schlicht und
einfach ausgesessen und sich mit einem der größten In-
vestitionsrisiken der Region abgefunden.
Zahlreiche Petitionen und Schreiben an die damalige
Regierung haben Sie nicht bewogen, sich einmal mit dem
Problem der Menschen, die dort arbeiten, leben und woh-
nen bleiben wollen, auseinander zu setzen.
Unsere Bundesregierung hat dagegen diese Frage aufge-
griffen. Wir führen bereits Gespräche mit den Ländern. Es
ist gut, dass Sie endlich über diese Fragen diskutieren
wollen, aber wir handeln doch schon, meine Damen und
Herren.
Sie wissen doch, dass die eigentlichen Probleme ganz
woanders liegen. Ich wundere mich, dass ausgerechnet
Sie von der CDU Ihre Finger in diese Wunde legen.
Der überwiegende Teil der Altstandorte liegt in Sachsen,
einige auch in Thüringen.
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Ja.
Frau KolleginHoffmann, ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchungs-kommission eines Dresdner Institutes mehrere Jahre vor
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Gerhard Jüttemann11675
Ort gearbeitet hat, um die Altlasten an diesen Altstandor-ten zu untersuchen, und erst jetzt im Frühjahr einen Be-richt vorgelegt hat, auf dessen Basis ich diesen Antrag er-arbeitet habe, den ich Ihnen gemeinsam mit meinerFraktion vorgelegt habe, damit endlich etwas getan wer-den kann? Vorher wäre das gar nicht möglich gewesen, dadie Schäden nicht wissenschaftlich belegt waren.
Ja, das ist mir
bekannt. Ich habe mich sogar mit den Resultaten dieses
Berichtes auseinander gesetzt. Die Frage ist, warum das
jetzt erst passiert. Über die Gebiete in Ronneburg haben
wir schon vor vier bis fünf Jahren diskutiert; dort ist die
eine Seite des Baches Sanierungsgebiet, die andere Seite
des Baches aber nicht, da diese Fläche vor 1962 stillgelegt
wurde.
Jetzt möchte ich fortfahren: Schlema und Johannge-
orgenstadt sind zwei Orte in Sachsen, die nicht weit
auseinander liegen. Schlema, von der Wismut saniert, ist
wieder zu einem schönem Kur- und Badeort geworden.
Dagegen ist aber der Sonderfall Johanngeorgenstadt nach
wie vor ungelöst. Hier gerät die Regierung in Sachsen,
wie ich meine, zu Recht unter Druck, denn das Ver-
ständnis der ansässigen Bevölkerung dafür, dass bis jetzt
nichts gemacht worden ist, Investoren die Region verlas-
sen und junge Menschen weggehen, ist doch sehr strapa-
ziert. Unsere Regierung war bereit, Johanngeorgenstadt
aus den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern he-
rauszunehmen und als Sonderfall zu betrachten. Sachsen
hat das aber abgelehnt.
Noch mehr: Die letzte Runde der Bund-Länder-Ver-
handlungen hat Sachsen abgesagt. Wissen Sie, warum? –
Weil der Freistaat Sachsen seine Hausaufgaben nicht er-
ledigt hatte. Es wurden bis jetzt keine vollständige Auf-
listung der Sanierungsgebiete auf den Tisch gelegt und
noch nicht die anfallenden Kosten ermittelt.
– Ich habe heute mit Sachsen telefoniert.
Ich kann ja verstehen, dass die CDU-Regierung in Sach-
sen den finanziellen Bedarf genau abschätzen muss, aber
damit beschäftigt sie sich jetzt nach Ansicht der Bevölke-
rung in diesem Gebiete schon zu lange. Ich vermute fast,
Ihren Parteifreunden in Sachsen, die nicht auf bequemen
Oppositionsbänken wie Sie hier sitzen, brennt die ganze
Sache nicht so recht unter den Nägeln, sonst würden sie
doch jetzt handeln.
Liebe Kollegen von der Opposition, ich kann Ihnen nur
empfehlen: Verschwenden Sie Ihre Energie nicht damit,
unnötige Anträge zu schreiben. Machen Sie besser bei
Ihren Parteileuten in Sachsen und vielleicht auch in
Thüringen Druck, damit wir in der Sache endlich voran-
kommen!
Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/3373 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. –Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die
BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur 22. Änderung derRichtlinie 76/769/EWG zur Angleichung derRechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit-gliedstaaten für Beschränkungen des Inver-kehrsbringens und der Verwendung gewisser
88/378/EWG zur Angleichung der Rechtsvor-schriften der Mitgliedstaaten über die Sicher-heit von Spielzeug– Drucksachen 14/2747 Nr. 2.32, 14/3710 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen Wieczorek
Dr. Paul LaufsWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterSoweit ich weiß, wurden alle Reden zu Protokoll ge-geben.1) Ich eröffne die Aussprache und schließe sie, dakeiner reden möchte, wieder.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit aufDrucksache 14/3710. Der Ausschuss empfiehlt die An-nahme einer Entschließung. Wer stimmt für die Aus-schussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen?– Bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ist dieBeschlussempfehlung angenommen worden.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 a bis 13 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MonikaBalt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDSAnerkennung von rentenrechtlichen Zeitenvon Selbstständigen und deren mithelfenden
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Wolfgang Dehnel11676
1) Anlage 2Familienangehörigen in Land- und Forstwirt-schaft und im Handwerk der DDR– Drucksache 14/4038 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MonikaBalt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDSAnerkennung der Rentenversicherungszeitenvon Blinden- und Sonderpflegegeldempfänge-rinnen und Sonderpflegegeldempfängern derDDR– Drucksache 14/4041 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen Länderc) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 70 zur Petition
– Drucksache 14/1563 –Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDSvor. Es ist eine Aussprache von einer halben Stunde ver-einbart worden. Soweit ich weiß, wurden die Reden zuProtokoll gegeben.2) Sprechen möchte jetzt noch die Ver-treterin der PDS. Ich bitte zu beachten, dass ein Vertreterdes zuständigen Bundesministeriums zu dieser Ausspra-che anwesend ist.Ich erteile der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion,das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Mit der Übernahme der Re-gierungsverantwortung erklärte der Bundeskanzler denAufbau Ost zur Chefsache. Hunderttausende Rentnerin-nen und Rentner in den neuen Bundesländern verbandendamit die Hoffnung, dass Überführungslücken in der ge-setzlichen Rentenversicherung nun endlich geschlossenwürden. Wir meinen, zehn Jahre nach der deutschen Ein-heit ist das auch höchste Zeit.
Was ist der aktuelle Stand? Ein hartnäckiger Irrtumzum Beispiel ist, dass alle Ansprüche und Anwart-schaften aus DDR-Zeiten in das Rentenrecht der BRDüberführt wurden. „Überführung“ bedeutet eben nicht,dass alle in der DDR rechtmäßig erworbenen Renten- undVersorgungsansprüche anerkannt wurden und sich jetztim Rentenrecht der BRD wiederfinden. „Überführung“bedeutet vielmehr, dass die in der DDR erworbenen An-sprüche und Anwartschaften auf eine Rente oder eine Ver-sorgung beseitigt und durch Ansprüche und Anwartschaf-ten nach dem SGB VI ersetzt wurden.
Abgesehen vom befristeten Weitergelten des DDR-Ren-tenrechts bis zum 31. Dezember 1996 für den Fall, dassdie DDR-Rente im Vergleich zur SGB-VI-Rente die güns-tigere Leistung war, hat das Rentenrecht der DDR nurnoch bis zum 31. Dezember 1991 gegolten. Mit Wirkungvom 1. Januar 1992 trat das SGB VI in Kraft. DasDDR-Recht wurde somit durch das SGBVI ersetzt. Über-führt im Sinne von übernommen oder beibehalten wurdennur solche DDR-Ansprüche und -Anwartschaften, dieauch in der BRD existierten. Dagegen wurden alleDDR-Ansprüche und -Anwartschaften nicht berücksich-tigt, die es in der BRD für gleiche oder für vergleichbareSachverhalte nicht gab.Wenn wir von Überführungslücken reden, sind wir unsder Tatsache bewusst, dass es sich aus DDR-Sicht und erstrecht aus Sicht der Betroffenen tatsächlich um Lückenhandelt, weil rechtmäßig in der DDR erworbene An-sprüche abgeschafft worden sind und sich im BRD-Rechtnicht mehr wiederfinden.
Aus BRD-Sicht sind das jedoch keine Lücken. Hierherrscht bis zum Bundessozialgericht der Gedanke, dassdie BRD über ein modernes und bewährtes Rentenrechtverfügt, das seit dem 1. Januar 1992 auch im OstenDeutschlands gilt und dort zum Segen für die Rentnerin-nen und Rentner das DDR-Recht abgelöst hat. Aber er-klären Sie mir einmal, wie eine Rentnerin oder ein Rent-ner in der DDR Ansprüche erwerben konnte, die heutenach BRD-Rentenrecht Bestand hätten.
– Ich finde das gar nicht lächerlich, weil ziemlich vieleMenschen in unserem Land betroffen sind.
Unsere Anträge behandeln Überführungslücken, diefür die Betroffenen außerordentliche Härten bedeuten.Das sind vor allem Rentenansprüche für Blinde und Son-derpflegegeldempfänger, die nach DDR-Recht trotz Be-rufstätigkeit nicht beitragspflichtig waren, aber als versi-cherungspflichtig galten. Dabei wurden die Betriebs-anteile regelmäßig abgeführt. Darunter fallen freiwilligeBeiträge zur Sozialversicherung, die ab 1. Januar 1962in Höhe von 3 bis 12 Mark geleistet wurden, sowieVersicherungszeiten mithelfender Familienangehöriger– meistens waren es die Ehefrauen – von Landwirten,Handwerkern und anderen Gewerbetreibenden.Wir wissen, dass der betroffene Personenkreis nochviel größer ist. So gilt beispielsweise Gleiches für diePersonen, die Blinde und Menschen mit Behinderungen
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Vizepräsidentin Anke Fuchs11677
2) Anlage 3gepflegt haben. Um zu verdeutlichen, über was wir hierreden, möchte ich aus zwei Briefen zitieren. Eine Frau ausRostock schreibt mir:In meiner Rentenangelegenheit fühle ich mich unge-recht behandelt. Die Arbeit bei meinem Vater in derLandwirtschaft von 1960 bis 1968 wird nicht aner-kannt. Meine Mutter starb 1960. ... Ich habe meinenBeruf aufgegeben, um meinem Vater zu helfen.Heute bekomme ich eine Rente von 429 DM.
– Herr Kollege, hören Sie zu: 429 DM. –Ich kann nicht verstehen, dass das Gesetz bei mirkeine Anwendung findet. Ich habe von 1960 bis 1996freiwillige Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.Umbeim Bundessozialgericht zu klagen, fehlt mir dasGeld. Was soll ich tun?Das sind Schicksale von Betroffenen.
In Bezug auf die Bezieher von Blinden- und Sonder-pflegegeld schreibt eine Frau aus Berlin:So muss ein blinder Physiotherapeut, der in Kurein-richtungen im Schichtbetrieb gearbeitet hat, mit einerRente um die 1 000 Mark leben. Aber leider spielendiese Menschen verachtenden Zustände keine Rollein der gegenwärtigen Diskussion um die Rentenre-form.Nur die PDS-Fraktion im Bundestag hat einen Antrag ge-stellt, in dem sie fordert, diese Zeiten der Berufstätigkeitin das Sozialgesetzbuch VI aufzunehmen.
Eigentlich müsste Ihnen doch an dieser Stelle das Wortvon der sozialen Gerechtigkeit im Halse stecken bleiben,wenn Sie so gravierende Ungerechtigkeiten nicht endlichbeseitigen.Danke.
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird unter Tagesordnungspunkt13 a und 13 b die Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 14/4038 und 14/4041 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dadas Haus damit einverstanden ist, sind die Überweisungenso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt13 c. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion derPDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Werstimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4039? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag istmit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDSabgelehnt.Wer stimmt für Sammelübersicht 70 in der Ausschuss-fassung auf Drucksache 14/1563? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Sammelübersicht 70 ist mit den Stim-men des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDSangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UrsulaLötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSSicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtli-cher Standards und Förderung arbeitsmarktpo-litischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz– Drucksache 14/4036 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungDie vorgesehenen Reden der Kollegen Klaus Wiesehügel,Hartmut Schauerte, Ekin Deligöz, Dr. Heinrich L. Kolb,Ursula Lötzer und des Parlamentarischen StaatssekretärsSiegmar Mosdorf werden zu Protokoll genommen.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/4036 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-führung abweichend von der Tagesordnung beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. – DasHaus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigen-heimzulagengesetzes und anderer Gesetze– Drucksache 14/4130 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussZP 7 Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer , EduardOswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagen-gesetzes– Drucksache 14/4131 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschussfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsaus-schussAuch die Reden hierzu werden zu Protokoll genom-men, und zwar die Reden der Kollegen Horst Schild,
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Monika Balt11678
1) Anlage 4Dr. Michael Meister, Frau Eichstädt-Bohlig, MichaelGoldmann und Christine Ostrowski sowie WolfgangSpanier.2)Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 14/4130 und 14/4131 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.Ich möchte mich bei den Parlamentarischen Geschäfts-führerinnen und Geschäftsführern, sowie bei denjenigen,die ihre Rede zu Protokoll gegeben haben, auch imNamen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes-tagsverwaltung für die zügige Beratung heute Abend – esgab ja ursprünglich eine andere Perspektive – herzlich be-danken.Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta-ges ein auf morgen, Freitag, den 29. September 2000, um9 Uhr.Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.Die Sitzung ist geschlossen.