Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters
11679
(C)(A)
Berichtigung
120. Sitzung, Seite 11510 (D) Dritter Absatz; Am Anfang des Absatzes ist
„Gila Altmann, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit“ einzufügen.
2) Anlage 5
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11681
(C)
(D)
(A)
(B)
Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 28.09.2000
Gila DIE GRÜNEN
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 28.09.2000
DIE GRÜNEN
Behrendt, Wolfgang SPD 28.09.2000*
Bindig, Rudolf SPD 28.09.2000*
Bohl, Friedrich CDU/CSU 28.09.2000
Brinkmann (Detmold), SPD 28.09.2000
Rainer
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 28.09.2000*
Klaus
Claus, Roland PDS 28.09.2000
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 28.09.2000
Herta
Eich, Ludwig SPD 28.09.2000
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 28.09.2000
DIE GRÜNEN
Elser, Marga SPD 28.09.2000
Fischer (Homburg), SPD 28.09.2000
Lothar
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 28.09.2000
Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 28.09.2000
Haack (Extertal), SPD 28.09.2000*
Karl-Hermann
Heise, Manfred CDU/CSU 28.09.2000
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 28.09.2000
DIE GRÜNEN
Dr. Hornhues, CDU/CSU 28.09.2000*
Karl-Heinz
Hornung, Siegfried CDU/CSU 28.09.2000*
Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 28.09.2000
Jäger, Renate SPD 28.09.2000*
Kasparick, Ulrich SPD 28.09.2000
Kolbe, Manfred CDU/CSU 28.09.2000
Kors, Eva-Maria CDU/CSU 28.09.2000
Dr. Küster, Uwe SPD 28.09.2000
Lambrecht, Christine SPD 28.09.2000
Lietz, Ursula CDU/CSU 28.09.2000
Lintner, Eduard CDU/CSU 28.09.2000*
Lörcher, Christa SPD 28.09.2000*
Dr. Lucyga, Christine SPD 28.09.2000*
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 28.09.2000*
Erich
Müller (Berlin), PDS 28.09.2000
Manfred
Neumann (Gotha), SPD 28.09.2000
Gerhard
Parr, Detlef F.D.P. 28.09.2000
Philipp, Beatrix CDU/CSU 28.09.2000
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 28.09.2000
Dr. Rössel, Uwe-Jens PDS 28.09.2000
Rupprecht, Marlene SPD 28.09.2000
Schemken, Heinz CDU/CSU 28.09.2000
Schily, Otto SPD 28.09.2000
Schloten, Dieter SPD 28.09.2000*
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 28.09.2000*
Hans Peter
Schmude, Michael von CDU/CSU 28.09.2000*
Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 28.09.2000
DIE GRÜNEN
Steiger, Wolfgang CDU/CSU 28.09.2000
Stetten, Dr. Wolfgang CDU/CSU 28.09.2000
Freiherr von,
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 28.09.2000*
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 28.09.2000
Dr. Wieczorek, Norbert SPD 28.09.2000
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 28.09.2000*
Zierer, Benno CDU/CSU 28.09.2000*
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vor-
schlag für eine Richtlinie des Europäischen Par-
laments und des Rates zur 22. Änderung der
Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit-
gliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehr-
bringens und der Verwendung gewisser gefährli-
cher Stoffe und Zubereitungen (Phthalate) sowie
zur Änderung der Richtlinie 88/378/EWG zur
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mit-
gliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug
(Tagesordnungspunkt 6)
Jürgen Wieczorek (Böhlen) (SPD):Chemiepolitische
Themen sind im Allgemeinen sehr trocken und deshalb
wenig geeignet, große Aufmerksamkeit hervorzurufen.
Dabei entspricht diese Tatsache nicht der hohen Bedeu-
tung, welche die Chemiepolitik eigentlich hat, und zwar
besonders durch die möglichen schädlichen Auswirkun-
gen, die chemische Stoffe auf die Umwelt und insbeson-
dere auch auf die Gesundheit von Menschen haben kön-
nen. Das anstehende Thema sollte aber wohl die
Aufmerksamkeit aller Kolleginnen und Kollegen wecken,
geht es doch hier um den Gesundheitsschutz von Babys
und Kleinkindern.
Gegenstand unserer Beratung ist ein EU-Richtlinien-
vorschlag, der das Verbot von Phthalaten in Babyspielzeug
aus PVC beinhaltet. Es ist unbedingt notwendig, dass wir
mit unserer Entschließung dazu beitragen, diesen EU-Vor-
schlag möglichst zu erweitern und damit zu verbessern,
um die Kinder wirklich zu schützen.
Phthalate, diese chemischen Verbindungen, werden
nicht jedem bekannt sein und ich will deshalb eine kurze
Erklärung geben. Es handelt sich dabei um so genannte
„Weichmacher“, die man PVC hinzusetzen muss, um aus
diesem an sich starren und spröden Material einen biegsa-
men, geschmeidigen Stoff zu machen. Um PVC diese Ei-
genschaften zu verleihen, sind in der Regel höhere Bei-
mengungen von Weichmachern vonnöten. Das geht bis zu
einem Anteil von 40 Prozent. Wir finden Phthalate in zahl-
reichen PVC-Produkten, wie zum Beispiel in Fußboden-
belag, und eben auch in Baby- und Kinderspielzeug aus
Plastik, angefangen vom Beißring über Rasseln bis hin zur
beliebten Quietschente. Phthalate – und an dieser Stelle
muss ich um Ihre besondere Aufmerksamkeit bitten – sind
alles andere als harmlose Substanzen! Tierversuche haben
ergeben, dass Phthalate Krebs- und Nierenschäden verur-
sachen und wiederholter oder andauernder Hautkontakt
Dermatitis hervorrufen kann. Gesicherte Untersuchungen
zur Wirkung am Menschen fehlen zwar bislang, jedoch
werden Phthalate von Toxikologen als „gesundheitlich be-
denklich“ eingestuft. Ich darf ja wohl davon ausgehen,
dass sie mein Entsetzen teilen bei der Vorstellung, dass Ba-
bys stundenlang auf phthalathaltigen Beißringen oder
eben auch auf Quietschtieren herumkauen und dabei die-
ses Zeug freigesetzt werden kann!
Wie sieht es nun mit der Gesetzeslage aus? In vielen eu-
ropäischen Ländern wurden in den letzten Jahren Verbote
ausgesprochen. In Deutschland gilt seit März 2000 eine
Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums. Damit
wurde die Bedarfsgegenständeverordnung dahin gehend
verändert, dass die Verwendung von Phthalat-Weichma-
chern in allen – ich betone hier ausdrücklich: in allen –
Spielzeug- und Babyartikeln für Säuglinge und Kleinkin-
der unter drei Jahren verboten ist. Übrigens verzichten die
deutschen Hersteller schon seit längerer Zeit bei der Pro-
duktion von Babyartikeln im Rahmen einer Selbstver-
pflichtung auf PVC und damit auf diese Weichmacher.
Aber, wir wissen alle, es befinden sich nicht nur Produkte
heimischer Hersteller auf dem deutschen Markt.
Der EU-Richtlinienvorschlag, über den wir heute bera-
ten, zielt darauf ab, harmonisierte Bestimmungen zum Ge-
sundheitsschutz hinsichtlich der Weichmacher in Baby-
und Spielzeugartikeln einzuführen. Grundsätzlich ist die-
ses Anliegen zu begrüßen. Aber wir wollen bei einem so
sensiblen Thema – und der Organismus von Kleinkindern
ist zweifellos ganz besonders sensibel – keine Harmoni-
sierung, wenn dies eine substanzielle Verschlechterung
der geltenden deutschen Rechtsvorschriften bedeutet.
Wir müssen uns diesen Richtlinienvorschlag also ge-
nauer ansehen. Die Richtlinie beinhaltet das Verbot von
sechs namentlich genannten Phthalaten in Baby- und
Spielzeugartikeln, die ganz oder teilweise aus Weich-PVC
bestehen und die dazu bestimmt sind, von Kindern in den
Mund genommen zu werden, wie also zum Beispiel der
Beißring. Ferner enthält die Richtlinie die Einführung von
Warnhinweisen bei phthalathaltigen Baby- und Spiel-
zeugartikeln, die ganz oder teilweise aus Weich-PVC be-
stehen und die von Kindern bis zu drei Jahren entgegen ih-
rer Bestimmung, aber vorhersehbar in den Mund
genommen werden können. Das hat man sich dann so vor-
zustellen, dass auf dem Quietschentchen, welches – anders
als der Beißring – ja nicht direkt dazu bestimmt ist, in den
Mund genommen zu werden, der Warnhinweis „Nicht im
Mund behalten“ erscheinen soll. Die Spielzeugver-
packung soll ferner mit einem ausführlicheren Warnhin-
weis versehen werden. In diesen Babyartikeln also, die
nicht ausdrücklich dazu vorgesehen sind, von Babys in
den Mund genommen zu werden, dürfte nach dem Vor-
schlag für die EU-Richtlinie eine beliebig hohe Menge an
Phthalaten enthalten sein.
Wie sehr wir das Harmonisierungsstreben in der EU
auch begrüßen, für umso unbefriedigender halten wir die-
sen Richtlinienvorschlag. In unserer Entschließung for-
dern wir die Bundesregierung deshalb auf, sich auf EU-
Ebene für eine Nachbesserung einzusetzen. Ich möchte
hier nur am Rande erwähnen, dass wir beileibe nicht die
einzigen sind, die bei der EU Einwände gegen diesen Vor-
schlag erheben. Zahlreiche Länder fordern Veränderungen
dieses Richtlinienvorschlags, in dessen Vorfeld die inter-
nationale Spielzeugindustrie offensichtlich gute Lobbyar-
beit geleistet hat. In Brüssel wird derzeit um eine gemein-
same Position gerungen.
In der Entschließung geht es uns um zwei Punkte: Ers-
tens. Phthalathaltiges Spielzeug darf grundsätzlich nicht in
die Reichweite von Kindern unter drei Jahren kommen,
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weil immer die Gefahr besteht, dass das Spielzeug in den
Mund genommen wird. Es ist Kleinkindern egal, ob ein
Spielzeug dafür vorgesehen ist, in den Mund genommen
zu werden, oder ob es nur dazu verlockt. Diese Unter-
scheidung ist absurd. Niemand wird bestreiten, dass die
wenigsten Kinder unter drei Jahren in der Lage sind den
Warnhinweis zu lesen und sich danach zu richten. Auch
ein Appell an die Verantwortung der Eltern hat seine Gren-
zen. So weiß doch jeder, dass es immer wieder Momente
gibt, in denen Kinder kurz unbeaufsichtigt sind. Und viel-
leicht gibt es ja sogar Eltern, denen solche Warnhinweise
egal sind? Haben wir als Gesetzgeber dann nicht eine di-
rekte Verantwortung gegenüber diesen Kindern, deren El-
tern sich nicht genügend um ihre Gesundheit sorgen? Es
ist deshalb einfach notwendig, phthalathaltige Babyspiel-
zeuge, unabhängig von ihrer vorgesehenen Verwendung,
erst gar nicht zuzulassen!
Zweitens. Die Regelungen im Richtlinienvorschlag be-
ziehen sich nur auf sechs namentlich genannte Phthalate:
Wir fordern eine Ausweitung auf alle Phthalate! Denn es
ist nicht ausreichend erwiesen, dass es sich bei den übri-
gen Phthalaten um unbedenkliche Substanzen handelt.
Und solange keine anderen Ergebnisse, die zweifelsfrei
die Unbedenklichkeit belegen, vorliegen, sind wir einem
strikten Vorsorgeprinzip verpflichtet und dürfen kein Ri-
siko eingehen. Deshalb kann ich auch der Argumentation
der CDU, und hier namentlich der des Kollegen Dr. Laufs
im Umweltausschuss, nichts abgewinnen. Natürlich kann
man auch bei neuen Ersatzstoffen eine Schädlichkeit nicht
zu 100 Prozent ausschließen, aber für „Neue Stoffe“ gibt
es schon viel strengere Zulassungskriterien und sollten
auch hier Verdachtsmomente aufkommen, wären wir dann
ebenso zum Handeln verpflichtet. Die deutsche Spielzeug-
industrie müssen wir schon gar nicht schützen. Im Gegen-
teil, es wird in ihrem Interesse liegen, wenn sich die Her-
steller anderer Länder auf deren Level begeben müssen.
Sollte der Richtlinienvorschlag in unveränderter Form
die europäischen Gremien passieren, so hieße das für das
deutsche Recht, dass wir eine Anpassung vornehmen
müssten, mit der wir hinter die Verordnung des BMG
zurückfallen würden: Phthalathaltiges Babyspielzeug wä-
re dann wieder im Handel erhältlich. Es geht um Spielzeug
für unsere Kleinsten: Das darf auf keinen Fall bedeuten,
dass man mit der Gesundheit von Babys spielt. Deshalb
bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie unserer Entschließung
zu!
Vielen Dank.
Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Die vorliegende Ent-
schließung zielt darauf, einen Richtlinienvorschlag des
Europäischen Parlaments und des Rates zum vorbeugen-
den gesundheitlichen Verbraucherschutz zu verschärfen.
Ihre Forderung ist, die Verwendung aller Vertreter einer
bestimmten chemischen Stoffklasse – der Phthalate – in al-
len Baby- und Spielzeugartikeln generell zu verbieten.
Der Richtlinienvorschlag selbst beschränkt das Verbot auf
sechs näher aufgeführte Stoffe – so genannte Weichma-
cher – und auf bestimmte Konzentrationen in bestimmten
Babyartikeln. Diesen Richtlinienvorschlag begrüßen wir
und machen ihn uns zu Eigen.
Die Union lässt sich von niemandem übertreffen wenn
es darum geht, unsere Kinder vor Gefahren zu schützen.
Selbstverständlich wollen wir gefährliche Stoffe in Ge-
brauchsgegenständen verbieten, wenn sie ein wirkliches
Gesundheitsrisiko darstellen. Warum tun wir uns trotzdem
–wie der europäische Gesetzgeber – schwer, generelle un-
differenzierte Verbote zu befürworten? Wir nehmen dabei
auch zur Kenntnis, dass die deutsche Spielzeugindustrie
bereits auf die Verwendung von Phthalaten verzichtet.
Phthalate werden als Weichmacher von Kunststoffen,
insbesondere von PVC, sowie als Emulgatoren, Additive
und Entschäumer eingesetzt. Man findet sie in Teppich-
böden, Textilien, Fußbodenbelägen, Betonzusatzstoffen,
Folien, Klebstoffen, Lacken, Beschichtungen, auch in Me-
dizinprodukten und als Hilfsstoffe in Kosmetika, Parfums,
Sprays und Nagellacken. Sie werden seit vielen Jahrzehn-
ten in großen Mengen produziert, in Deutschland sind es
mehrere hunderttausend Tonnen, weltweit einige Milli-
onen Tonnen pro Jahr. Sie sind praktisch allgegenwärtig.
Man schätzt, dass der Mensch pro Kilogramm Körperge-
wicht täglich Phthalate in der Größenordnung von einem
bis zehn Mikrogramm aufnimmt. Die Hauptquellen sind
Nahrungsmittel aus Weich-PVC-Verpackungen und Haus-
staub, an den sich aus besonderen Innenraumausstattun-
gen ausgegaste phthalathaltige Partikel angelagert haben.
Seit einigen Jahrzehnten sind Phthalate auch in Weich-
spielzeugen und Babyartikeln aus PVC enthalten. Beson-
dere Aufmerksamkeit verdienen phthalathaltige Babyarti-
kel, die – wie zum Beispiel Beißringe – dazu bestimmt
sind, längere Zeit in den Mund genommen zu werden. Ei-
ne Arbeitsgruppe der EU hat untersucht, welche Mengen
an Phthalaten bei täglichem sechsstündigen Kauen und
Lutschen aufgenommen werden können. Die Untersu-
chungen ergaben eine enorme Spannweite der Aufnahme-
mengen, die im unteren Bereich vernachlässigbar klein
sind, im oberen Bereich jedoch über den empfohlenen Do-
sisrichtwerten liegen können.
Anders ist der Umgang von Kindern mit gewöhnlichem
Spielzeug zu bewerten. Die Freisetzung von Phthalaten
aus Spielzeug wird nicht wesentlich anders verlaufen als
die aus anderen Gegenständen. Wenn wir meinen, von un-
seren Kindern phthalathaltiges Spielzeug fern halten zu
müssen, müssen wir ihnen dann zum Beispiel nicht eben-
so verbieten, auf Teppichböden herumzutollen? Dies führt
uns zur entscheidenden Frage: Welche Gefahren gehen
von Phthalaten aus? Sind sie so schwerwiegend, dass wir
weiterreichende Schutzmaßnahmen brauchen?
Die Phthalate bilden eine umfangreiche Stoffgruppe, in
der die so genannten langkettigen Phthalate mit hohem
Molekulargewicht kaum wasserlöslich und flüchtig sind
und deshalb dermal praktisch nicht resorbiert werden.
Über die am häufigsten verwendeten Phthalate, deren Sei-
tenketten kurz bis mittellang sind, gibt es zahlreiche toxi-
kologische Untersuchungen.
In hohen Einzeldosen sind diese Stoffe ausgesprochen
schwach toxisch. Sie sind auch nicht persistent, sondern in
der Umwelt normal biologisch abbaubar. Inkorporierte
Phthalate akkumulieren sich nicht in Organen. Ihre Meta-
boliten sind vollständig ausscheidbar. Studien über die
mittel- bis langfristigen Wirkungen hoher täglicher Dosen
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haben im Tierversuch endokrine Störungen im Bereich
der Fortpflanzung und Entwicklung ergeben. Ein Fall von
Zyklus- und Ovulationsstörungen ist nach hoher berufli-
cher Langzeitexposition auch beim Menschen berichtet
worden. Andere Publikationen stellen fest, dass Erfahrun-
gen zu chronischen Wirkungen beim Menschen nach in-
halativer, oraler oder dermaler Exposition nicht vorliegen.
Die im Versuch mit Ratten und Mäusen beobachteten
Leberschäden sowie Begünstigung des Tumorwachstums
lassen sich wegen spezifischer physiologischer Unter-
schiede wohl kaum auf den Menschen übertragen. Die
bisher festgestellten gesundheitsschädlichen Wirkungen
bei Mensch und Tier traten erst bei Dosen auf, die viel-
tausendfach über normalen täglichen Expositionen lie-
gen. Weitere Forschungsarbeiten sind insbesondere zur
Kanzerogenität und zu endokrinen Veränderungen erfor-
derlich. Dabei ist es schwierig, die Wirkungen von
Phthalaten von den Wirkungen anderer Substanzen und
Einflussfaktoren abzugrenzen, weil diese unspezifisch
sind.
Gesundheitsschäden und Entwicklungsstörungen an
Kindern, die auf die Benutzung von Weich-PVC-Produk-
ten zurückzuführen wären, sind bisher nicht berichtet wor-
den. Gleichwohl ist vorsorglicher Gesundheitsschutz an-
gezeigt. Im Tierversuch hat sich gezeigt, dass Jungtiere
empfindlicher auf Phthalateinwirkungen ansprechen als
ausgewachsene Tiere. Vorsorglich nehmen wir dies auch
für Kleinkinder an. Bei den Maßnahmen zum vorbeugen-
den Gesundheitsschutz geht der europäische Gesetzgeber
differenzierend und abwägend vor. Er spricht Verbote aus,
wo es angezeigt erscheint. Er setzt im Übrigen Grenzen
abhängig vom Stoff, seiner Konzentration und der Migra-
tionsgeschwindigkeit beim Ausgasen und Auslaugen. Die-
ses Vorgehen ist der Sache angemessen.
Das Thema ist in vielen aufgeregten Presseberichten
behandelt worden. Für eine Politik, die darauf mit einer
möglichst einfachen und eindrucksvollen Medienbot-
schaft reagieren will, sind schwierige Unterscheidungen
und Abwägungen unerwünscht und lästig. Wir sehen das
politische Verhetzungspotenzial. Wir sehen auch, dass ver-
unsicherte Eltern ein allgemeines Verbot begrüßen wer-
den, wobei sich aber gleich das nächste Problem auftut.
Werden die Ersatzstoffe unbedenklicher sein? Bei Citraten
und Adipaten sind Zweifel angezeigt.
Die CDU/CSU hat in den Ausschussberatungen Ände-
rungsanträge gestellt, die teilweise angenommen, teilwei-
se zurückgewiesen wurden. Wir halten aus grundsätzli-
chen Überlegungen ein undifferenziertes Verbot aller
Phthalate angesichts der vorliegenden toxikologischen Er-
kenntnisse und angesichts der großen Bedeutung dieser
Stoffgruppe im alltäglichen Leben für nicht angemessen.
Wir werden uns der Stimme enthalten.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wer kennt sie nicht, die „Sesamstraße“? Wenn Ihre Kin-
der oder Enkel ebenso begeisterte Zuschauer dieser Kin-
dersendung sind, wie ich es einst war, dann kennen sie
eines der wichtigsten Requisiten der Sesamstraßenbe-
wohner Ernie und Bert: nämlich Ernies quietschegelbe
Badeente – längst ein Kult, nicht nur bei Kindern.
Doch wer hätte damals gedacht, was wir heute wissen?
Dass diese Badeenten, dass Baby-Beißringe, dass das
ganze Panoptikum der PVC-Spielzeugindustrie der Ge-
sundheit unserer Kinder schaden könnte?
Wir haben gehört, wo das Problem liegt: Um die Ver-
sprödung von Kunststoffen zu verhindern, werden heute
in großem Umfang Weichmacher eingesetzt. Das gilt
besonders auch für PVC-Spielzeuge und die mengen-
mäßig größte Gruppe der Weichmacher: die so genannten
Phthalsäureester, kurz Phthalate.
Und wir wissen von vielen Vertretern dieser Phthalate
ganz sicher, dass sie im Kinderzimmer absolut nichts zu
suchen haben, weil sie gesundheitsschädlich sind. Einmal
in Spielzeug eingesetzt, lösen diese Weichmacher sich im
Speichel und werden vom Körper aufgenommen. Weitrei-
chende Schäden wie eine Schädigung des Hormonsystems
und Tumorbildung sind mögliche Folgen.
Deshalb haben die Koalitionsfraktionen eine Be-
schlussempfehlung eingebracht, der sich F.D.P und PDS
anschlossen. Darin beauftragt der Umweltausschuss die
Bundesregierung, die Verwendung dieser Weichmacher in
Spielzeugen aller Art zu verbieten – gleichgültig, ob in
Spielzeug für Babys oder Kleinkinder, gleichgültig, ob sie
zum Nuckeln gedacht sind oder nicht.
Eine geplante Änderung der EU-Richtlinien über die
Sicherheit von Spielzeug und über gefährliche Stoffe sieht
zurzeit nur ein Verbot von Weichmachern in Babyspiel-
zeug vor, das „bestimmungsgemäß“ in den Mund genom-
men wird.
Diese Regelung ist absolut Kinderzimmer untauglich.
Wer kann denn Spielzeug für Babys von dem für Klein-
kinder trennen, wenn in Familien nun einmal alle zusam-
men leben? Und wer kann nicht „bestimmungsgemäßes“
Nuckeln von Babys an Kleinkinderspielzeug verhindern?
Die Beschlussempfehlung des Umweltausschusses will
die deutsche Delegation daher darin unterstützen, die weit
schärfere deutsche Bedarfsgegenständeverordnung in
Brüssel europaweit durchzusetzen. Auch andere EU-Staa-
ten haben an einem strengen Verbot ein Interesse und da
sind wir im hiesigen Recht schon sehr weit.
Schließlich hat unsere grüne Gesundheitsministerin
nach Phthalatfunden in Babyspielzeug durch Greenpeace
bereits im Frühjahr die Bedarfsgegenständeverordnung
verschärft.
Diese Gesundheitsgefahr in deutschen Kinderzimmern
muss gebannt werden. Auch bei anderen als den in der EU-
Richtlinie genannten sechs Phthalaten besteht ein Gefah-
renverdacht. Umso bedauerlicher, das sich die Fraktion der
CDU/CSU im Umweltausschuss dieser Beschlussemp-
fehlung nicht anschließen wollte. Und das nur, weil die Ri-
sikobewertung anderer Phthalate noch nicht abgeschlos-
sen ist.
Dabei lautet der erste Grundsatz der Risikovorsorge:
„Verantwortliche Umweltpolitik beschränkt sich nicht auf
die Abwehr von Gefahren für Mensch und Umwelt, son-
dern handelt vorsorgend bereits im Vorfeld der Gefahren-
abwehr ... Deshalb müssen auch solche Schadensmög-
lichkeiten in Betracht gezogen werden, die sich nur
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(C)
(D)
(A)
(B)
deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzei-
tigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge
weder bejaht noch verneint werden können und daher in-
soweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenver-
dacht oder ein ‘Besorgnispotenzial’ besteht.“
Wer es gemerkt hat, meine Damen und Herren von der
Union, dies war ein Zitat. Und zwar nicht die Präambel ei-
nes grünen Chemieprogramms, sondern aus den „Leitlini-
en Umweltvorsorge“ durch Vermeidung und stufenweise
Verminderung von Schadstoffen, herausgegeben im De-
zember 1986 von der damals unionsgeführten Bundesre-
gierung.
Warum also so zaghaft? Wenn Sie sich auch nicht erin-
nern können, wie sehr Ihre letzte Umweltministerin für ei-
ne Ökosteuer war, so sollten Sie diese Blackouts doch
nicht zur Gewohnheit werden lassen.
Ulrike Flach (F.D.P.): Es liegt eine Beschlussempfeh-
lung des Umweltausschusses vom 17. Mai diesen Jahres
vor, der die Bundesregierung auffordert, auf eine Reihe
von Nachbesserungen bezüglich der Verwendung von che-
mischen Weichmachern in Babyspielzeug zu drängen.
Kernpunkt der notwendigen Verbesserungen ist eine
Ausdehnung des Verwendungsverbotes von den sechs
Phtalaten auf alle Weichmacher in Babyspielzeug für Kin-
der bis zu einem Alter von 36 Monaten. Die F.D.P.-Frak-
tion unterstützt diesen Entschließungsantrag und hat dem-
entsprechend in den Beratungen des Umweltausschusses
auch dafür gestimmt, weil das Restrisiko einer Verwen-
dung dieser chemischen Stoffe in Kinderspielzeug nicht
unerheblich ist.
Weichmacher, die sich aus verschluckten PVC-Teilen
herauslösen, haben beim Menschen zu lebensgefährlichen
Verletzungen von Magen und Darm geführt. Im Tierver-
such schädigten Phtalate Leber, Nieren und Fortpflan-
zungsorgane. Klar wird hieraus: Ein generelles Verbot die-
ser Stoffe ist zur Gewährleistung der gesundheitlichen
Sicherheit von Babyspielzeug unverzichtbar. Auch SPD
und Grüne haben dem Entschließungsantrag des Umwelt-
ausschusses zu gestimmt.
Lediglich die CDU/CSU-Fraktion hat sich im Aus-
schuss der Stimme enthalten mit der Begründung, ein ge-
nerelles Verbot von Weichmachern in Babyspielzeug für
Kinder bis 36 Monate reiche zu weit, vielmehr müsse es
darum gehen, das Verwendungsverbot über die sechs im
Richtlinienvorschlag genannten Stoffe auf alle „gesund-
heitlich nicht unbedenklichen“ Weichmacher auszudeh-
nen. Das ist unklug, denn es ist Opposition um der Oppo-
sition willen. Wir von der F.D.P. verschließen uns nicht
sinnvollen sachpolitischen Lösungen. Insofern ist das
Ausschussergebnis auch ein Sieg der politischen Vernunft
über die parteipolitisch gefärbte Haarspalterei.
Auch die rot-grüne Bundesregierung hat im Rahmen
ihrer Möglichkeiten – so möchte man auf den ersten Blick
meinen – gehandelt: Das in dieser Angelegenheit feder-
führende Bundesgesundheitsministerium hat den Inhalt
der Beschlussempfehlung des Umweltausschusses in die
heute stattfindende Binnenmarktratsitzung der Europä-
ischen Union eingebracht. Die Bundesregierung unter-
stützt die Ausschussempfehlung eines generellen Verbots
aller Weichmacher also vorbehaltlos. Wir werden die
Bundesregierung – ob sie es nun will oder nicht – daran
messen, inwieweit sie in der Lage ist, die Ausschussemp-
fehlung, die in diesem Haus auf einem breiten parteipoli-
tischen Konsens beruht, auf europäischer Ebene durchzu-
setzen.
Ausreden, die Konsensfindung mit Brüssel sei schwie-
rig aufgrund der widerstrebenden europäischen Interes-
senlage, werden wir als F.D.Pnicht gelten lassen; denn Al-
leingänge einzelner Länder zur Verschärfung des Verbots
von schädlichen Inhaltsstoffen zur Erhöhung der Produkt-
und damit auch der Konsumentensicherheit sind von der
Europäischen Union ausdrücklich erlaubt. In Österreich
sind chemische Weichmacher in Kinderspielzeug zum
Beispiel seit 1998 generell verboten.
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf: Haben
Sie notfalls den Mut zu einem Alleingang! Geben Sie sich
nicht zufrieden mit dem völlig unzureichenden Richtlini-
envorschlag der EU!
Laut der deutschen Bedarfgegenständeverordnung sind
bestimmte Phtalate zwar in Lebensmittelfrischhaltefolie
verboten, nicht aber in Kinderspielzeug. Das ist grotesk.
Deshalb meine Forderung an Sie: Setzen Sie sich nach-
haltig für eine Verbesserung des Verbotes von Phtalaten in
Baby- und Kinderspielzeug ein und handeln Sie! Die Ge-
sundheit unserer Kinder gehört nicht auf die lange Bank
geschoben.
Eva Bulling-Schröter (PDS): Das EU-Umwelt- und
Gesundheitsrecht ist nicht selten Impulsgeber für die deut-
sche Umweltpolitik. In Sachen Phthalate, den Weichma-
chern in PVC, droht aber eine Verschlechterung des
Status quo. Mit der deutschen Bedarfsgegenständeverord-
nung geht unsere Gesetzgebung über den Richtlinienvor-
schlag der EU-Kommission hinaus.
Die PDS ist sich hier mit der Koalition und der F.D.P.
einig: Babyartikel und Spielzeug für Kleinkinder, die in
den Mund genommen werden könnten, dürfen diese ge-
fährlichen Stoffe nicht enthalten. Der Kommissionsvor-
schlag arbeitet dagegen teilweise mit Warnhinweisen, die
an die Artikel anzubringen seien – eine merkwürdige Vor-
stellung, unsere Jüngsten können nicht lesen und ihre El-
tern das In-den-Mund-Nehmen kaum verhindern. Die
Kleinen nuckeln halt überall herum.
Also ist es konsequent, wenn sich die Bundesregierung
für eine Änderung des Richtlinienvorschlages energisch
einsetzt. Denn wird er erst mal rechtswirksam – und wir
unterstützen hier grundsätzlich eine europäische Rege-
lung –, wird die schärfere deutsche Gesetzgebung aus
wettbewerbsrechtlichen Gründen unter Druck geraten.
Wir kennen das ja. Allerdings bin ich übrigens der Mei-
nung, dass in diesem Fall sogar unsere Regelung Bestand
haben würde, weil sie gravierende Gesundheitsgefähr-
dungen verhindern soll.
Die Bedenken der CDU/CSU können wir nur zum Teil
nachvollziehen. Es gäbe da kurzkettige und langkettige
Phthalate, die einen wären mehr, die anderen weniger
schädlich. Nur die wenigsten wären aber näher untersucht
– sagt die CDU/CSU selber.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11685
(C)
(D)
(A)
(B)
Dann überzeugt es mich auch nicht, wenn das Verwen-
dungsverbot nur auf die „gesundheitlich nicht unbedenk-
lichen Phthalate“ ausgedehnt werden soll. Eine solche
Formulierung lässt Interpretationsspielraum zu. Firmen
werden bei Auflagen den Nachweis von den Behörden for-
dern, dass bestimmte, von ihnen eingesetzte Stoffe nicht
unbedenklich seien.
Doch umgekehrt wird doch ein Schuh draus. Viele
Phthalate sind gesundheitsschädigend. Und bei vielen an-
deren wird die Gesundheitsschädlichkeit vermutet. Der
konsequent dem Vorsorgeansatz entsprechende Schritt ist
deshalb sicherlich die Beschlussempfehlung des Umwelt-
ausschusses: das Verbot dieser Stoffgruppe in Babyarti-
keln und Kinderspielzeug, die in den Mund genommen
werden können.
Der Hinweis von Herrn Laufs, dass auch nicht alle
möglichen Ersatzstoffe für Phthalate als PVC-Weichma-
cher genau untersucht wären, ist sicherlich ein Hilfsargu-
ment. Dennoch, es hat einen bedenkenswerten Aspekt:
Die Chlorchemie hat die buntesten Prospekte und die wil-
desten Arbeitsgemeinschaften – ich denke da beispiels-
weise an „PVC und Umwelt“. Aber an der Tatsache, dass
PVC bei der Herstellung, in der Verwendung und bei der
Entsorgung nach wie vor höchst problematisch ist, wird
sich vorbeigemogelt.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung derAnträge:
– Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten
von Selbstständigen und deren mithelfenden
Familienangehörigen in Land- und Forstwirt-
schaft und im Handwerk der DDR,
– Anerkennung der Rentenversicherungszeiten
von Blinden und Sonderpflegeempfängerin-
nen und Sonderpflegeempfängern der DDR
– Sammelübersicht 70 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 13 a bis c)
Angelika Krüger-Leißner (SPD): In einer Wochen-
rückschau wird man diese Woche wahrscheinlich als Ren-
tenwoche bezeichnen. Mit der Vorstellung des Entwurfes
für ein Altersvermögensaufbaugesetz durch Minister
Riester haben wir den Einstieg in eine mutige Rentenre-
form gemacht, die für die kommenden Generationen eine
verlässliche Perspektive geben wird. Wenige Tage vor dem
zehnten Jahrestag der deutschen Einheit ist mir als Bran-
denburgerin auch sehr wichtig, daran zu erinnern, dass
dies eine Rentenreform ist, die gleichberechtigt für uns al-
le in Deutschland, in Ost und West, gelten wird.
Allzu schnell sollten wir aber auch nicht vergessen,
dass vor wenig mehr als zehn Jahren diese gemeinsame
Perspektive außerhalb jeder Reichweite oder gar Vorstel-
lung schien. Die Rentnerinnen und Rentner im damals ge-
teilten Deutschland hatten gegenüber den Jüngeren einen
Vorteil: Sie konnten sich gegenseitig besuchen. Ausreise-
anträge mussten die Rentnerinnen und Rentner bei uns in
der DDR nicht stellen; ihnen war die Ausreise problemlos
möglich. Sicher nicht aus Menschenfreundlichkeit. So
sehr wir uns über dieses kleine Stück Freiheit für Eltern
oder Großeltern freuten, so sehr spürten wir auch die staat-
liche Absicht dahinter. Die dauerhafte Ausreise eines
Rentners oder einer Rentnerin war der DDR wohl will-
kommen, beide kosteten ja nur Geld. Manche haben daher
ihre Ausreisefreiheit auch als unausgesprochene Auffor-
derung zum Gehen empfunden. Daran sollten wir heute
auch denken, vor allem diejenigen, die sich heute so sehr
um die Rentner der ehemaligen DDR kümmern wollen.
Die Überleitung der DDR-Renten in bundesdeutsches
Recht war eine riesige Aufgabe. Mit dem Rentenüberlei-
tungsgesetz wurde für alle Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland ein einheitliches materielles Rentenversiche-
rungsrecht geschaffen. Sicher gab es hier und dort unter-
schiedliche Ansichten bei Einzelfragen und unterschiedli-
che Verfahren. Aber dennoch möchte ich für die rot-grüne
Koalition feststellen: Im Großen und Ganzen sehen wir im
Rentenversicherungsrecht keine großen Überführungs-
lücken, die es für die Bürgerinnen und Bürger der neuen
Länder zu schließen gilt. Viele soziale und wirtschaftliche
Fragen und Probleme sind bei der deutschen Einheit nur
ungenügend behandelt worden; aber für die Renten gilt
dies ganz sicher nicht. Ich möchte bei dieser Gelegenheit
daran erinnern, dass der durchschnittliche Rentenbetrag
bei Männern im Osten 1 811 DM beträgt, bei Männern im
Westen 1 797; bei Frauen sind es im Osten 1114, im Wes-
ten 941 DM. Wenn es denn ein Problem der Gleichbe-
rechtigung bei den Renten gibt, dann wohl kaum zwischen
Ost und West als eher zwischen Frauen und Männern.
In einem Punkt hat die alte Bundesregierung aber bei
der Überleitung der Renten sehr schlampig gearbeitet: im
Bereich der Anerkennung der zahlreichen Zusatz- und
Sonderversorgungssysteme der DDR. Die SPD-Fraktion
hat damals sehr deutlich vor einer Vermengung von Straf-
recht und Rentenrecht gewarnt; auch wenn der moralische
Hintergrund wohl verständlich war. Unsere Skepsis wur-
de schließlich durch das Bundesverfassungsgericht be-
stätigt. Wir bzw. die rot-grüne Bundesregierung müssen
jetzt eine der Entscheidung des Verfassungsgerichts
gemäße Lösung finden, was nicht einfach und – das nur
nebenbei – auch teuer ist. Wir sind froh, dass die rot-grü-
ne Bundesregierung hier gründlich arbeitet, und das dau-
ert eben seine Zeit. Aber Schnellschüsse helfen hier kaum
weiter.
Die PDS erweckt immer wieder den Eindruck, als gä-
be es beim Rentenrecht für die Ostdeutschen noch große
Überführungslücken, wie zum Beispiel bei der Anerken-
nung der rentenrechtlichen Zeiten von Selbstständigen in
der Land- und Forstwirtschaft und im Handwerk, wie dies
in dem heute zur Debatte stehenden Antrag wiederum auf-
taucht.
Nur ganz so einfach ist es eben nicht: Selbstständige in
der DDR waren von 1951 bis 1968 von der Versiche-
rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung be-
freit, konnten aber freiwillig Beiträge leisten. Allerdings,
nur die wenigsten haben das getan. Während einige, wie
zum Beispiel die Ärzte durchaus verschiedene Sparformen
zur Alterssicherung fanden, hat dies ein großer Teil der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011686
(C)
(D)
(A)
(B)
Handwerker nicht getan. Für das eigene Einkommen, den
eigenen Betrieb wurde jede Mark aktuell gebraucht, leider
kam die Altersvorsorge dabei oft zu kurz; übrigens auch
bei vielen Selbstständigen im Westen, die sich von der Ver-
sicherungspflicht befreien ließen und bis heute, nun in Ost
und West, befreien lassen.
Was kurzfristig verständlich ist, zahlt sich jedoch lang-
fristig nicht aus; auch wenn man die knappe Kasse vieler
Handwerker dabei sieht. Die eigene Altersvorsorge – und
eben auch den eigenen Beitrag dafür – sollte niemand in
der Jugend vergessen.
Die PDS fordert nun, diese beitragsfreien Zeiten bei der
Rentenberechnung für ehemalige DDR-Bürger zu berück-
sichtigen. Das würde kein Handwerker oder Selbstständi-
ger im Westen, der von der Versicherungspflicht befreit
wurde, verstehen; übrigens auch kein Selbstständiger, der
heute in den neuen Ländern von der Versicherungspflicht
befreit ist. All diese Leute erhalten für die Zeit ihrer Ver-
sicherungsfreiheit keine Rentenleistungen. Es gilt nämlich
das grundsätzliche Prinzip der Lohn- und Beitragsbezo-
genheit der Rente; das heißt, Rente kann es grundsätzlich
nur für die Zeiten geben, für die auch Beiträge geleistet
wurden.
Würden wir dem PDS-Antrag folgen, so würde dieses
Prinzip für eine Gruppe ehemaliger DDR-Bürger nicht
gelten, zulasten all der anderen Selbstständigen, die künf-
tig in Rente gehen werden oder bis heute im Westen in
Rente gegangen sind. Würden wir das für alle gleichbe-
rechtigt anwenden, so wäre das Grundprinzip der bei-
tragsbezogenen Rente jedoch aufgehoben, und das möch-
te eigentlich niemand hier im Hause, abgesehen davon,
dass dies überhaupt nicht finanzierbar wäre. Die SED-
Übergangsregierung unter Modrow hat diese beitragsfrei-
en Zeiten schnell noch anerkannt, so dass diese Regelung
im Sinne der PDS bis Ende 1991 – dem Zeitpunkt der
Überführung in das westliche Rentenrecht – in den neuen
Ländern gültig war. Im Sinne des Eigentumschutzes wur-
de dies auch übergangsweise für Rentenzugänge bis De-
zember 1996 anerkannt. Seit 1. Januar 1997 gilt aber ein
einheitliches Recht mit dem Prinzip der beitragsbezoge-
nen Rente in Ost und West. Von der Überführungslücke
kann also nicht die Rede sein.
Auch bei der Frage der Anerkennung von Rentenversi-
cherungszeiten der Bezieher von Blinden- und Sonder-
pflegegeld kann man keineswegs von einer Über-
führungslücke sprechen. Die Bezieher von Blinden- und
Sonderpflegegeld, die zum Beispiel Tätigkeiten als Tele-
fonisten, Masseure, Bademeister, Fußpfleger oder
Schreibkräfte ausgeübt haben, waren von der persönli-
chen Beitragspflicht befreit, allerdings waren sie grund-
sätzlich sozial- bzw. rentenversichert. Die Zeiten des Be-
zugs einer Invalidenrente gehen im bestimmten Umfang in
die Berechnung der späteren Altersrente ein, und – soweit
Beiträge für die freiwillige Zusatzrentenversicherung ab
einem monatlichen Arbeitsentgelt von 600 DM geleistet
wurden, sogar als Beitragszeiten. Würden dem PDS-An-
trag nach alle Beschäftigungszeiten der Bezieher von Blin-
den- und Sonderpflegegeld als vollwertige Beitragszeiten
in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt, so wür-
de dies eine umfassende Aktion der Nachversicherung und
Nachentrichtung von Beiträgen auslösen, die praktisch
und auch rechtlich nicht durchführbar wäre.
Dennoch möchten auch wir in diesem Fall die Bundes-
regierung bitten, bei dieser Frage eine sachgerechte Lö-
sung für diesen nicht allzu großen Personenkreis zu erar-
beiten und dies bei den Beratungen im Ausschuss mit den
Fraktionen zu diskutieren. Warten wir in dieser Frage al-
so die Ausschussberatungen ab.
Rentenrecht ist keine leichte Sache, nicht zuletzt wenn
es um solche Detailfragen, wie in den vorgelegten Anträ-
gen geht. Allzu leicht kann man da auch ungenau werden,
Unsicherheit verbreiten oder bei der Suche nach ver-
meintlich gerechten neuen Lösungen neue Ungerechtig-
keiten hervorrufen. Um so wichtiger ist es, dass die Ren-
tenpolitik klare Linien hat, inhaltlich und rechtlich fundiert
und solide erarbeitet ist. Im diesem Sinne hat die rot-grü-
ne Bundesregierung einen wichtigen und guten Vorschlag
für die Rentenreform in dieser Woche unterbreitet. Hier ist
unser aller Engagement für eine sichere Rente in den neu-
en und alten gefragt. Der Blick und die Arbeit sollte in die
Zukunft gehen – wenn möglich in einem Konsens, der die-
sem Thema und der Aufgabe angemessen ist.
Claudia Nolte (CDU/CSU): Und wieder eine Debatte
zu rentenrechtlichen Fragen aufgrund der Überführung
des DDR-Rentensystems in das SGB VI.
Ich weiß nicht, wie oft diese Thematik uns schon be-
schäftigt hat. Auf jeden Fall schon sehr oft. Und eigentlich
ist es ja auch nicht verwunderlich. Die Alterssicherung hat
eine hohe Bedeutung für die betroffenen Menschen und es
ist ein großer Personenkreis, die dieses Thema ganz kon-
kret betrifft. Nicht wenige Menschen in der ehemaligen
DDR stehen mit geringen Renten bzw. mit geringen Ren-
tenanwartschaften da, sodass berechtigte Sorgen vorhan-
den sind. Und dieses Problem wird sich in den nächsten
Jahren noch verschärfen, wenn diejenigen in Rente kom-
men, die heute schon Langzeitarbeitslose sind. Das ändert
allerdings nichts daran, dass die überwiegende Zahl der
Rentner in einem erheblichen Maß davon profitiert haben,
dass das DDR-Rentensystem in das bundesdeutsche Recht
überführt wurde. Erstmals erfuhren Renten ohne die Be-
liebigkeit von Parteitagsbeschlüssen eine Dynamisierung.
Wir hätten sicherlich auch nicht diese vielen Probleme bei
der Rentenüberführung gehabt, wenn das ehemalige
DDR-Rentensystem gerechter und transparenter gewesen
wäre. So waren viele Rechtssachverhalte nicht eindeutig
und bis heute schwer nachvollziehbar, sodass berechtigte
Erwartungen und Wünsche an uns in der Politik herange-
tragen werden, hier weitere Veränderungen vorzunehmen.
Ich erinnere beispielsweise, dass noch Anfragen seitens
der Beschäftigten der Reichsbahn in der ehemaligen DDR
vorliegen, wozu wir ja auch entsprechende Anträge im
Bundestag eingebracht haben. Ein ähnlicher Sachverhalt
trifft auf die Postler zu und die ehemaligen Beschäftigten
des Gesundheitswesens der DDR. Ebenso gibt es die Ur-
teile des Bundesverfassungsgerichtes, die uns ebenfalls
dazu zwingen, eine Novelle des Ausgleichs- und Anwart-
schaftüberleitungsgesetzes, AAÜG, vorzunehmen. Ich
hoffe, dass wir hier bald mit einem entsprechenden Ge-
setzentwurf von der Bundesregierung rechnen können.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11687
(C)
(D)
(A)
(B)
In dieser Debatte geht es um zwei Anträge der PDS und
der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses. Gera-
de beim Letztgenannten handelt es sich um eine Thema-
tik, die uns schon häufig beschäftigt hat. Nämlich mit dem
ganzen Komplex der zu DDR-Zeiten freiwillig Versicher-
ten, die in der Regel mit einem Monatsbeitrag von 3 Mark
sich eine rentenrechtliche Anerkennung erwarteten.
Auch diesmal fällt die Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses aus wie einige Male vorher, auch wenn
es für die Betroffenen, die ja meistens Frauen sind, die An-
gehörige gepflegt haben, unbefriedigend ist, denn es wird
empfohlen, an der bestehenden Situation keine Verände-
rung vorzunehmen. Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass
mit 3 Mark freiwilligen Versicherungsbeitrag, die auch zu
DDR-Zeiten nur eine unwesentliche Auswirkung auf die
Rente gehabt hätten, da in den meisten Fällen eine Min-
destrente erworben wurde, keine Anwartschaften nach
dem SGB VI erwartet werden konnte. Würden diese Bei-
tragszahlungen nach dem SGB VI anerkannt und aufge-
wertet, würden sie demgegenüber einen viel höheren und
damit nicht gerechtfertigten Betrag ausmachen. Zudem
würde die jetzt schon schwierige Finanzsituation der Ren-
tenkasse enorm belastet.
Ähnliches stellt sich meines Erachtens auch bei der
Personengruppe dar, die die PDS in ihren Anträgen an-
spricht: den Selbstständigen und den helfenden Familien-
angehörigen in Land- und Forstwirtschaft und im Hand-
werk wie auch die Blinden- und Sondergeldempfänger.
Ihnen wird eine Rente nach SGB VI zuteil, das heißt,
die anrechenbaren Teile wurden wie bei jedem anderen
Rentner auch überführt, zum Beispiel die damalige Inva-
lidenrente. Es ist, denke ich, nicht durchsetzbar, neue
Sondertatbestände zu schaffen, um hier einzelnen Perso-
nengruppen entgegenzukommen, wodurch aber neue Un-
gleichheiten aufgebaut würden.
Nun sind die Anträge auch recht sparsam, was die kon-
krete Fallsituation und deren Beschreibung anbelangt, wie
viel Petitionen das beträfe und welche Beträge das aus-
machen würde und woraus sich hier Anspruchsberechti-
gung ableiten ließe. Hier müssen mehr Fakten auf den
Tisch. Wenn man bedenkt, dass wir schon bei den vorher-
gehenden Änderungen des RÜG und AAÜG soweit es
ging alle Petitionen mit beraten und bedacht haben, bin ich
skeptisch, inwieweit sich aus den hier aufgeführten Fall-
gruppen Handlungsnotwendigkeit ergibt.
Ich halte es auch nicht für leistbar, die Rentenbiografie
der DDR nach einem nachgezeichneten Wahrscheinlich-
keitsverlauf zu berechnen, wie diese Rentenbiografie aus-
gesehen hätte, wenn der oder die Betroffene in der Bun-
desrepublik Deutschland gelebt hätte. Ich glaube, dann
hätten noch ganz andere Berufsgruppen das Recht zu for-
dern, ein Äquivalent an Rentenbiografie nachzuzeichnen
und entsprechende Rentenbeträge zu erhalten, wie ihre
Berufskollegen vergleichsweise im Westen.
Weil es hier um sensible Fragen geht, denke ich, ist es
unsere Aufgabe im Ausschuss, diese noch mal zu beraten
mit den dazu notwendigen Sachinformationen und ein
Punkt nach dem anderen abzuschließen.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sehr geehrte Damen und Herren, sie wollen in
Ihrem Antrag die Beschäftigungszeiten der Bezieher von
Blinden- und Sonderpflegegeld in der ehemaligen DDR
durch die Nachversicherung als vollwertige Beitragszeiten
in der gesetzlichen Pflegeversicherung anerkennen.
Zur Sachlage möchte ich ein paar Worte voraus-
schicken: Hier handelt es sich um eine besondere Sachla-
ge, denn die Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld
galten – anders als Personen mit vergleichbaren Ein-
schränkungen oder Behinderungen in den alten Bundes-
ländern – automatisch als invalide. Deshalb waren be-
schäftigte Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld
nach dem Sozialversicherungsrecht der DDR – unabhän-
gig von der Höhe ihres Einkommens – ab 1. September
1972 bis Ende 1991 von der persönlichen Beitragszahlung
zur Sozialpflichtversicherung bzw. zur Rentenversiche-
rung befreit, obwohl sie wie andere beschäftigte Bezieher
einer Invalidenrente sozialversichert waren. Für die Be-
rechnung der späteren Altersrente oder einer Hinterblie-
benenrente waren diese Bezugszeiten den Zeiten einer
versicherungspflichtigen Tätigkeit aber gleichgestellt.
Nach dem SGB VI gehen die Zeiten des Bezugs einer
Invalidenrente oder einer Rente wegen verminderter Er-
werbsunfähigkeit bei der Berechnung der späteren Alters-
rente in bestimmtem Umfang als Anrechnungszeit und, so-
weit Beiträge zur FZR für das Arbeitsentgelt über 600
Mark/Monat gezahlt worden sind, als Beitragszeiten ein.
Wegen der eingeschränkten Beitragsmöglichkeiten für das
Arbeitsentgelt bis zu 600 Mark/Monat hängt der Renten-
ertrag für diesen Personenkreis überwiegend von der in-
dividuellen Beitragsleistung vor September 1972 ab.
Ich denke, in Anbetracht dieser Sachlage muss einge-
hend geprüft werden, wie eine Benachteiligung der Blin-
den- und Sonderpflegegeldempfänger verhindert werden
kann. Neben dieser Sachlage besitzt der Staat eine Ver-
antwortung gegenüber denen, die körperlich benachteiligt
sind. Das gilt auch für Korrekturen im Rentenversiche-
rungsrecht. Allerdings ist es in rechtlicher Hinsicht nicht
möglich, dies, wie in dem Antrag gefordert, auf dem We-
ge der Nachversicherung durch eine Ergänzung des § 233a
SGB VI zu lösen. Denn dieses Verfahren würde voraus-
setzen, dass eine Nachzahlung von Beiträgen durch einen
früheren Arbeitgeber möglich ist. Das ist jedoch in recht-
licher Hinsicht nicht möglich.
Die Bundesregierung prüft deshalb alle sich ergeben-
den Möglichkeiten, eine sachgerechte Lösung zu finden.
Aufgrund der rechtlichen Nichthaltbarkeit des Antrags bit-
te ich darum, diesen Antrag abzulehnen.
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Die vorliegenden
Anträge der PDS sind gut gemeint, sie zeigen aber wieder
einmal, dass es nicht so einfach möglich ist, das Renten-
recht der ehemaligen DDR in systematischer Weise in das
jetzt geltende Recht zu überführen.
In der Tat gab es in der DDR mithelfende Familienan-
gehörige vor allem in Handwerks- und kleinen Gewerbe-
betrieben und in der Land- und Forstwirtschaft. In den Jah-
ren zwischen 1951 und 1968 war keine Beitragszahlung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011688
(C)
(D)
(A)
(B)
dieser Personen zur Sozialversicherung möglich und not-
wendig, da sie über die Selbstständigen gesetzlich mitver-
sichert waren und einen Rentenanspruch erwarben. Inva-
lidenrentner der DDR, die gleichzeitig Blinden- und
Sonderpflegegelder erhielten, waren nach DDR-Recht
während einer Berufstätigkeit pflichtversichert. Von der
eigenen Beitragszahlung zur Sozialversicherung waren sie
jedoch befreit. Sie wurden bei der Rentenberechnung wie
Pflichtversicherte behandelt.
Die PDS-Fraktion beantragt im ersten Fall, für diesen
Zeitraum eine rentenrechtliche Regelung herbeizuführen
und im zweiten Fall die Entgelte dieser Personen bei der
Berechnung der Rente nach dem SGB VI rentenwirksam
werden zu lassen. Beide Anträge sind abzulehnen. Denn
hier werden die einschlägigen Vorschriften des DDR-
Rechts mit dem Recht der Rentenversicherung, Sozialge-
setzbuch VI, vermischt. Nach DDR-Recht haben sich die
genannten Vergünstigungen bei der Berechnung der Ren-
te kaum positiv ausgewirkt, da in der ehemaligen DDR ei-
ne Einheitsrente gezahlt wurde.
Im Rahmen der Rentenberechnung nach SGB VI kön-
nen sich dagegen erhebliche Auswirkungen ergeben. Es
könnte nicht nur zu einer unverhältnismäßigen Besser-
stellung der Betroffenen führen, die sie in der DDR nicht
gehabt hätten. Dies könnte zu einer nicht unerheblichen
Mehrbelastung der gesetzlichen Rentenversicherung
führen. Darüber hinaus wurden von der früheren Bundes-
regierung alle rentenrechtlichen Regelungen in der ehe-
maligen DDR im Bereich der Selbstständigen und deren
mithelfenden Familienangehörigen in Land- und Forst-
wirtschaft und im Handwerk überprüft. In den Fällen, in
denen es notwendig erschien, wurden diese bereits in das
SGB VI übernommen.
Die F.D.P. ist im Übrigen damit einverstanden, dass der
Petitionsausschuss die entsprechenden Eingaben nicht be-
fürwortet hat. Selbst wenn die PDS in den nächsten Wo-
chen und Monaten noch für jede Berufsgruppe, die in der
DDR einem Sonderrecht unterlag, Anträge einbringt, wird
die F.D.P. immer wieder die inzwischen auch vom Bun-
desverfassungsgericht bestätigten Prinzipien als Messlat-
te an diese Anträge anlegen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratung des Antrages: Sicherung tariflicher,
arbeits- und sozialrechtlicher Standards und
Förderung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzun-
gen durch ein Vergabegesetz (Tagesordnungs-
punkt 22)
Klaus Wiesehügel (SPD): Der Ausgangspunkt des
heute vorliegenden Antrages ist offenbar die bevorstehen-
de europarechtliche Liberalisierung des öffentlichen Per-
sonennahverkehrs, die zu einem Wettbewerb um öffentli-
che Aufträge führen wird. Ich möchte den Kolleginnen
und Kollegen von der PDS gleich zu Beginn sagen: Sie
verknüpfen hier zwei Themenkreise, die nur teilweise zu-
sammen hängen – das Vergaberecht und die Arbeitsbedin-
gungen bei Verkehrsunternehmen. Aber in der Konse-
quenz wird auch hier der Wettbewerb in starkem Maße
über den Preis ausgetragen werden. Und es besteht für
mich kein Zweifel, dass dieser Wettbewerb die bereits jetzt
schon zu beobachtende Flucht aus den Tarifverträgen be-
schleunigen und den Druck auf die Gewerkschaften er-
höhen wird. Diese traurigen Konsequenzen bei der Verga-
be öffentlicher Aufträge sind allerdings in der Tat nicht
neu. In anderen Bereichen, zum Beispiel in der Bauwirt-
schaft, sind sie seit langem zu beobachten. Man kann sich
des Eindrucks kaum wehren, dass sich die öffentliche
Hand selbst den wenigen Regeln, die für sie noch beste-
hen, zum Beispiel der Verdingungsordnung für Bauleis-
tungen, entzieht, insbesondere durch die Vergabe an Ge-
neralunternehmer.
Nun ist seit dem 1. Juli 2000 in § 97 Abs. 4 des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgesehen, dass
bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit einem
Wert oberhalb der europarechtlichen Schwellenwerte ar-
beitsrechtliche, soziale und ökologische Standards, insbe-
sondere also auch die Tariftreue, nur noch berücksichtigt
werden können, wenn diese Standards in Gesetzen des
Bundes und/oder der Länder als Vergabekriterien gefor-
dert werden. In einigen Ländern ist dies in zum Teil unzu-
reichender Form geschehen, aber es kommt gerade durch
die Bundesländer Bewegung in dieses Problem.
Ich möchte kurz auf die heute vorgelegten Forderungen
eingehen und sage offen, dass hier nicht alle Ansätze in-
akzeptabel sind. Das Bundeswirtschaftsministerium erar-
beitet zur Zeit ein Gesetz zur Bekämpfung illegaler Prak-
tiken im öffentlichen Auftragswesen. Darin muss zum
einen von den Auftragnehmern öffentlicher Aufträge die
Abgabe einer Tariftreuerklärung verlangt werden. Zudem
muss dringend die Kontrolle verstärkt und vereinfacht
werden. Hierzu gehören auch die Einführung eines Zen-
tralregisters für unzuverlässige Unternehmen sowie ent-
sprechende Sanktionen. Diese Konkretisierungen fehlen
in Ihrem Antrag.
Auch was den zweiten Punkt ihrer Forderungen anbe-
langt, so muss ich klarstellen, dass Bundesministerin
Bergmann mit ihren Planungen über die Position der PDS
hinausgeht. Sie hat am 8. September 2000 die Eckpunkte
für ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft vor-
gelegt. Danach sollen private Unternehmen verpflichtet
werden, Maßnahmen zur Gleichstellung zu ergreifen.
Wenn ein solches Gesetz, das zur Zeit noch geprüft wird,
umgesetzt werden sollte, kommen mehr Frauen in den Ge-
nuss einer solchen Förderung als durch das von Ihnen ge-
forderte Gesetz zur Vergabe öffentlicher Aufträge.
Was die Forderung anbelangt, den Ausschreibungsge-
winner zur Übernahme von Personal des bisherigen Leis-
tungserbringers zu verpflichten, so verweise ich darauf,
dass hierzu eine umfangreiche Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichtes
vorliegt. Hier ist die Bundesregierung rechtspolitisch nicht
mehr völlig frei, ohne die anderen Mitgliedstaaten der EU
die Regeln über den Betriebsübergang durch nationale Ge-
setze zu verändern. Wir sollten daher zumindest die wei-
tere Entwicklung dieser Rechtsprechung abwarten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2000 11689
(C)
(D)
(A)
(B)
Und ebenso sollten wir die Stellungnahme des Ver-
kehrsministeriums zum EU-Verordnungsentwurf zur Ver-
gabe von Aufträgen/Verträgen beim Öffentlichen Perso-
nennahverkehr abwarten, wo sicher auch Teile der von
Ihnen aufgestellten Forderungen geregelt werden.
Aber noch einmal zum Kern Ihrer Forderung: Sie dür-
fen sicher sein, dass die Bundesregierung in absehbarer
Zeit ein Gesetz zur Bekämpfung illegaler Praktiken im öf-
fentlichen Auftragswesen vorlegen wird, und können da-
von ausgehen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung über Ihre Forderungen hinausgehen wird. Insoweit
erübrigt sich der heutige Antrag.
Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das Vergaberecht
ist eine wichtige Rechtsmaterie, die einen Wirtschaftsteil
besonderen Regeln unterwirft, der in seinen Größenord-
nungen nicht zu unterschätzen ist. Alles in allem unterlie-
gen den Konsequenzen dieses Rechts rund 400 Milliarden
DM; das sind mehr als 10 Prozent des Bruttosozialpro-
dukts in Deutschland. Die Grundsatzfrage, die im vorlie-
genden Antrag angesprochen wird, ist nicht neu: Sollen
systemfremde, das heißt vergabefremde, Elemente in das
Vergaberecht eingeführt werden? Dies ist eine ordnungs-
politische Frage. Darf die Vergabe öffentlicher Aufträge
ausschließlich nach wirtschaftlichen Kriterien erfolgen
oder soll sie mit so genannten vergabefremden Aspekten
befrachtet werden?
Wir sagen mit aller Deutlichkeit wie schon bei der
Verabschiedung des Vergaberechtsänderungsgesetzes
(VgRÄG) vor zwei Jahren: Ordnungspolitisch ist es ge-
boten, vernünftig und richtig, jeden vergabefremden
Aspekt grundsätzlich auszuschließen. Zum Schutz des
Mittelstands wurde damals lediglich ein Vorrang für mit-
telständische Lösungen und für Einzellos- und Fachlos-
vergabe aufgenommen. Bei Verstoß der vergebenden
Behörde gegen diesen Vorrang hat der unterlegene Mittel-
ständler seither die Möglichkeit, den Verstoß gegen den
Vorrang für mittelständische Vergabe gerichtlich prüfen zu
lassen.
Im Streit mit dem Bundesrat wurde 1998 der Kompro-
miss zugelassen, dass vergabefremde Kriterien durch Bun-
des- oder Landesgesetz möglich sind; hierauf zielt der
vorliegende Antrag ab. Als Wirtschafts- und Ordnungspo-
litiker bleibe ich aber bei der Grundüberzeugung: So we-
nig vergabefremde Kriterien wie möglich. Alles andere
kann nicht im Interesse einer vernünftigen Wirtschaftspo-
litik liegen. Es bestünde die Gefahr einer nach oben offe-
nen Richtwertskala. Sollen alle gesellschafts- und sozial-
politischen Begehrlichkeiten künftig bei der Vergabe
berücksichtigt werden? Die Bevorzugung von Ausbil-
dungsbetrieben, der Ausschluss von Unternehmen, die in
Verbindung mit der Scientology-Sekte stehen, eine bevor-
zugte Auftragsvergabe an Justizvollzugsanstalten, Um-
weltschutz, die Förderung nachwachsender Rohstoffe, die
Berücksichtigung umweltfreundlicher Produktionsabläu-
fe, Berücksichtigung Unternehmer bestimmter Regionen?
Eine nicht enden wollende Liste von Wünschen und Be-
gehrlichkeiten würde sich auftun. Das wäre das größte
Sparprogramm, das man beschließen kann. Es kommt
dann nämlich keine einzige öffentliche Auftragsvergabe
mehr zustande. Die Berücksichtigung vergabefremder
Aspekte verteuert zudem die öffentlichen Aufträge. Pro-
bleme müssen auf dem Feld gelöst werden, auf dem sie
entstehen, und mit Mitteln, die ihnen adäquat sind. Das
Vergaberecht ist dazu nicht der richtige Ort.
Die PDS will ein Vergabegesetz, um vergabefremde
Aspekte in die öffentliche Vergabepraxis einzuführen. Wie
soll dieser „Widerspruch in sich“ denn nach Ansicht der
Kollegen heißen? BundesVergabeGesetz zur Einführung
vergabefremder Wünsche bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge? Vergabeverhinderungsgesetz wäre der ange-
messene Name!
Die PDS begründet ihren Antrag zuallererst (Punkt 1
Seite 3 der Drucksache) damit, dem Land Berlin in einem
Rechtsstreit mit dem Bundeskartellamt einen „verlässli-
chen Rechtsrahmen“ zu gewährleisten. Der BGH hat in
seinem Beschluss vom 18. Januar 2000 in der hier ange-
sprochenen Rechtssache die Praxis des Berliner Senats be-
anstandet, die Aufträge für Straßenbauarbeiten von einer
so genannten Tariftreueerklärung abhängig zu machen.
Laut Kartellsenat des BGH ist das Berliner Vergabegesetz
nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der BGH hat daher
die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Sieht
man einmal von einer rechtlichen Bewertung ab, ob ein zu
schaffendes Bundesvergabegesetz zur Einführung verga-
befremder Aspekte bei der öffentlichen Auftragsvergabe,
das wir überdies ordnungspolitisch nicht wollen, dem
Land Berlin in einem anhängigen Rechtsstreit helfen
könnte: Ist es rechtspolitisch etwa sinnvoll, in dieses lau-
fende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ein-
zugreifen? Warum heute dem Land Berlin helfen? Morgen
vielleicht durch ein neues Bundesgesetz einem anderen
Land, das möglicherweise grundgesetzwidrige Landesge-
setze retten will?
Betrachtet man den Rechtsstreit konkret in der Sache
selbst, muss man überdies zu folgendem Schluss kommen:
Auch ein dem Vergabegesetz Berlin entsprechendes Bun-
desgesetz würde sich an Art. 9 Abs. 3 GG messen lassen
müssen. Soweit im Antrag der PDS-Fraktion auf ein vom
DGB in Auftrag gegebenes Gutachten von Professor
Däubler verwiesen wird, dürften wir darin übereinstim-
men, dass durch ein derartiges Gutachten eine „rechtliche
Klärung“ der vom BGH beanstandeten verfassungsrecht-
lichen Fragen in keiner Weise herbeigeführt wird. Damit
bleibt es dabei, dass vor einer Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts über die Zulässigkeit einer gesetzli-
chen Verpflichtung gegenüber öffentlichen Auftraggebern,
die Abgabe einer Tariftreueerklärung zur Voraussetzung
zu machen, sowohl entsprechendes Landes- als auch Bun-
desgesetz möglicherweise verfassungswidrig wären. Das
Hauptbegründungsargument der Kollegen der PDS ist da-
mit nichtig.
Lassen Sie mich abschließend ein paar Worte zu Euro-
pa verlieren. Alle Bemühungen der europäischen Ebene
im Rahmen ihrer Vergabe-Richtlinien-Praxis haben zu
Recht folgenden Kerngedanken: die Bemühung der EU
und ihrer Mitgliedstaaten um einen diskriminierungsfrei-
en Wettbewerb und um mehr Wirtschaftlichkeit bei der
Vergabe öffentlicher Aufträge. Alle anderen Vorschriften
dienen allein dem Zweck, eine Vergabe nach Fachkunde,
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Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Bewerber zu
verwirklichen. Nicht nur, dass nach Ansicht des BGH das
hier angesprochene Exempel des Berliner Vergaberechts
möglicherweise gegen höherrangiges europäisches Recht
verstößt und es das Verfahren wahrscheinlich auch dem
EuGH noch zur Entscheidung vorlegen will: Die Ein-
führung eines deutschen Sonderrechts für vergabefrem-
de Entscheidungskriterien würde ein Wettbewerbsgefäl-
le zu anderen EU-Ländern schaffen und widerspricht der
Grundintention öffentlicher Vergabepraxis: Wirtschaft-
lichkeit, Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässig-
keit.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Viele
der im Entschließungsantrag der PDS enthaltenen Forde-
rungen begrüßen wir ausdrücklich – auch wenn sie nicht
besonders originell sind. Schließlich sind sie längst ein
Anliegen dieser Bundesregierung.
Wir teilen die Absicht, bei der Vergabe öffentlicher Auf-
träge die Einhaltung von bestehenden Tarifverträgen zum
Maßstab zu machen, und das heißt auch: Bei einem Ver-
stoß dagegen sind wirksame Sanktionen zu ergreifen –
zum Beispiel der Ausschluss bei der Vergabe von Liefer-,
Bau- und Dienstleistungen für einen bestimmten Zeit-
raum.
Auch wir wollen Anreize dafür schaffen, dass Auftrag-
nehmer soziale – und ergänzt werden muss: auch ökologi-
sche! – Kriterien erfüllen. Wie das zu leisten ist, ist jedoch
eine andere Frage. Denn dabei stellen sich wegen dem EU-
Recht und der BGH-Rechtsprechung praktische Rechts-
fragen. Es geht nicht zuletzt um Verfassungsrechtsaspek-
te – vor allem die negative Koalitionsfreiheit –, die ein
sorgfältiges Verfahren notwendig machen. Der PDS-An-
trag ist ein Hinweis auf Handlungsbedarf, aber bietet aus
unserer Sicht keine handhabbaren Vorschläge, zumal die
Problemkreise Einkauf von Waren und Dienstleistungen
und die Organisation des Nahverkehrs unglücklich mitei-
nander vermengt werden. Natürlich gibt es hier Über-
schneidungen, aber das Vergaberecht, an dem die Koaliti-
on gerade arbeitet, ist nicht der Platz, um den öffentlichen
Personennahverkehr zu regulieren. Der Platz hierfür ist im
Personenbeförderungsgesetz sowie in einem Verord-
nungsentwurf der EU, dessen Beratungen demnächst im
Ministerrat beginnen.
Noch einige Ausführungen zu den einzelnen Sachver-
halten: Innerhalb der Bundesregierung wird ein Gesetz-
entwurf abgestimmt, der bei der Vergabe bestimmter Lie-
fer-, Bau- und Dienstleistungen von Unternehmen unter
anderem die Erklärung verlangt, dass ein Bewerber oder
Anbieter keinen Verstoß gegen ihn bindende Tarifverträ-
ge begeht. Wird eine solche Erklärung nicht oder wahr-
heitswidrig abgegeben, ist das Unternehmen grundsätzlich
vom Vergabeverfahren und für einen bestimmten Zeit-
raum auch von weiteren Beschaffungsaufträgen auszu-
schließen. Damit wird im staatlichen Einkaufsbereich über
die arbeitsrechtlichen Vorschriften hinaus dafür gesorgt,
dass geltendes Tarifrecht eingehalten wird. Angesichts der
im PDS-Antrag zitierten Vorlage des BGH an das Bun-
desverfassungsgericht zum Berliner Vergabegesetz ist
noch nicht abschließend zu entscheiden, ob darüber hinaus
auch Erklärungen verlangt werden können, die auch nicht
tarifgebundene Bewerber verpflichten, den üblichen Ta-
riflohn zu bezahlen. Die im Antrag zitierte, bejahende Po-
sition aus dem Däubler-Gutachten für den DGB wird lei-
der nicht von allen Verfassungsrechtlern geteilt. Hier gilt
es also, eine weitere Klärung herbeizuführen und Wün-
schenswertes mit dem rechtlich Machbaren zu verbinden.
Ein weiterer Punkt: Die Bundesregierung – namentlich
die Bundesministerin Bulmahn – hat einen Entwurf zur
Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Män-
nern in der Privatwirtschaft bis zum Jahresende in Aus-
sicht gestellt. Er sollte auch aus unserer Sicht Bonuspunk-
te für Maßnahmen der Frauenförderung enthalten, die bei
der Vergabe von Aufträgen berücksichtigt werden. Glei-
ches gilt im Übrigen für die Ausbildungsförderung. Es fin-
den darüber hinaus noch Gespräche mit der Wirtschaft da-
rüber statt, welche Maßnahmen, unter Umständen auch
gesetzgeberische, dem Ziel der Chancengleichheit am bes-
ten gerecht werden.
Noch ein bedenklicher Punkt im PDS-Antrag darf nicht
unerwähnt bleiben: Bei der Vergabe von Dienstleistungs-
konzessionen gelten zu Recht andere Maßstäbe als beim
öffentlichen Einkauf. Gerade weil das wirtschaftliche Ri-
siko für die Erbringung der Dienstleistung bei den Unter-
nehmen verbleibt, geht das europäische Vergaberecht da-
von aus, dass es sich in diesen Fällen nicht um einen
vergaberechtlich relevanten Vorgang handelt. Ob der na-
tionale Gesetzgeber deshalb noch eine eigene Regelungs-
hoheit hat, wäre noch zu klären.
Ganz problematisch ist die vierte Forderung der PDS.
Der Zuschlag in einem Ausschreibungsverfahren über
Leistungen und Dienstleistungen für ein bestimmtes Un-
ternehmen führt nicht dazu, dass andere Unternehmen in
dieser Branche keine weiteren Aufträge mehr erhalten.
Denn sie können natürlich grundsätzlich an neuen Aus-
schreibungen teilnehmen, also weitere wirtschaftliche Ak-
tivitäten betreiben, die nicht dem Vergaberecht unterlie-
gen. Schon deshalb besteht kein wirtschaftspolitisches
Bedürfnis für die Forderung nach einer Übernahme des
Personals des bisherigen Leistungserbringers – von der ar-
beitsrechtlichen Problematik ganz zu schweigen.
Das Ganze ist also wesentlich komplexer, als der PDS-
Antrag unterstellt. Aber wir arbeiten daran, um zu prakti-
kablen Lösungen zu kommen. Die Bundesregierung ist da-
bei, zum Verordnungsentwurf der EU-Kommission über
„Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vergabe ge-
meinwirtschaftlicher Verträge für den Personenverkehr“
eine Stellungnahme zu erarbeiten – unter Einbindung aller
Beteiligten. Dabei spielt die Frage der konkreten Ausge-
staltung des Ausschreibungsverfahrens eine wichtige Rol-
le. Wegen der Besonderheiten des öffentlichen Personen-
nahverkehrs streben wir speziell darauf zugeschnittene
Lösungen an, die weit über die im PDS-Antrag formulier-
ten Kriterien hinausreichen. Sie sollen zugleich einem
übergeordneten Ziel dienen, das wir eigentlich alle teilen
müssten – nämlich einer Qualitätsverbesserung der Ver-
kehrsdienstleistungen.
In der Summe lässt sich feststellen: Der heute vorlie-
gende Antrag hat ein berechtigtes Anliegen, nämlich die
Tariftreue. Er ist zwar gut gemeint, aber nicht gut durch-
dacht. Und deshalb lehnen wir ihn ab.
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Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Ein nicht unbedeuten-
der Politiker, nämlich der Alt-Bundeskanzler Helmut
Schmidt in seiner Abschiedsrede vor dem Deutschen Bun-
destag 1986, sagte einmal: „Idealismus in der Politik darf
nicht zur ideologischen Schönfärberei und Romantik ver-
kommen.“ Der Antrag der PDS-Bundestagsfraktion, eine
Aufzählung ideologisch-verträumter Ziele und Vorstel-
lungen zeigt, dass Sie – 10 Jahre nach der friedlichen Re-
volution in der DDR – immer noch nicht in der Bundesre-
publik Deutschland angekommen sind. Nur ein Träumer
kann meinen, die von Ihnen gemachten Vorschläge seien
mit den Grundstrukturen unserer sozialen Marktwirtschaft
vereinbar.
Nur ein Beispiel, das genügt: In Ihrem Vergabegesetz
wollen Sie eine Verpflichtung der Gewinner von Aus-
schreibungen zur Übernahme des Personals des bisherigen
Leistungserbringers bei unveränderten Arbeitsbedingun-
gen festschreiben. Damit setzten Sie ein, wenn nicht das
Grundprinzip der Marktwirtschaft außer Kraft: den Wett-
bewerb.
Denn welcher Unternehmer kann sich künftig noch um
öffentliche Aufträge bemühen, wenn er im Falle seiner
Beauftragung fürchten muss, die Arbeitnehmer seines
Konkurrenten, der bisher den Auftrag hatte, einstellen zu
müssen?
Die Konsequenz gerade für kleine mittelständische Un-
ternehmer wäre, von der Vergabe öffentlicher Aufträge
faktisch ausgeschlossen zu sein. Ein kleines Unternehmen
kann es sich nämlich nicht leisten, Abfindungen zu zahlen
oder teure Kündigungsprozesse zu führen, noch weniger
mit einem Überhang an Arbeitskräften am Markt bestehen.
Ich fürchte, eine solche Ausweitung des Betriebsüber-
gangs – § 613a BGB – würde den Arbeitsmarkt in
Deutschland weiter strangulieren. Wir brauchen aber ge-
rade das Gegenteil: mehr flexible Strukturen am Arbeits-
markt. Wir Freien Demokraten werden in den nächsten
Wochen mit einem Gesetzentwurf zu den befristeten Ar-
beitsverhältnissen, Anträgen zum Tarifrecht und zu einem
modernen Kündigungsschutz, der die Interessen beider
Vertragsparteien besser berücksichtigt, unsere Vorschläge
vorlegen. Dabei steht bei unseren Überlegungen im Vor-
dergrund: Wie reformieren wir unser Arbeits- und Tarif-
recht, dass der konjunkturelle Aufschwung auch endlich
zu einem spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit führt?
An einer Tatsache kommt nämlich niemand in diesem
Parlament vorbei: Schon das heutige Arbeits- und Tarif-
recht errichtet eine schützende Mauer um den Arbeits-
platzinhaber. Diese Mauer ist für einen Arbeitssuchenden
zu schwer zu überwinden, sie schadet damit den Arbeits-
suchenden, die ihre Arbeitsleistung, ihre Phantasie nicht
einbringen dürfen. Wir sollten nicht vergessen: Bei 3,7
Millionen Arbeitslosen haben wir immer noch Massenar-
beitslosigkeit in Deutschland. Und dann kommen Sie, die
Kollegen von der PDS, und haben keine besseren Vor-
schläge, als diese Mauer für die Arbeitssuchenden noch
unüberwindbarer und undurchdringbarer zu machen.
Das ist nicht nur eine falsche, das ist gerade für die ar-
beitssuchenden Menschen in Deutschland eine schlechte
Politik.
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ursula Lötzer (PDS): Seit langem fordert die IG BAU
ein Vergabegesetz gegen die Schmutzkonkurrenz in der
Bauwirtschaft. Erst letzte Woche erklärten die Betriebsrä-
te tariftreuer Betriebe in Thüringen, Vertreter und Vertre-
terinnen von 4 500 Beschäftigten, gegenüber der Thürin-
ger Landesregierung: Wir akzeptieren nicht länger, dass
Billiganbieter den Markt beherrschen und dazu noch Un-
terstützung durch die öffentliche Hand erhalten. Wir for-
dern von der Thüringer Landesregierung Maßnahmen, die
Lohndumping am Bau unterbinden und fairen Wettbewerb
unter den Bewerbern ermöglichen. – Kollege Wiesehügel
kann diese Situation sicherlich noch sehr viel besser be-
schreiben.
Seit Anfang des Jahres hat die ÖTV in mehreren Akti-
onstagen die Auseinandersetzung um ein Vergabegesetz
forciert. Erst gestern forderten in Frankfurt 5 000 Be-
schäftigte, die ÖTV und ein Vertreter des Verbands der
Verkehrsunternehmen die Verkehrsminister auf, sich für
ein Vergabegesetz einzusetzen.
Anlässlich eines Aktionstages „5 vor 12“ beschrieb ein
Gewerkschaftssekretär die Situation so: die ÖTV wisse
schließlich, was in Köln passiere, wo auf Billiganbieter
gesetzt werde. Die privaten Omnibusunternehmen können
nur überleben, wenn die Fahrer Überstunden kloppen.
Teilweise sitzen die Fahrer 220 und mehr Stunden am
Steuer, weil sie nur so 2 800 DM netto nach Hause brin-
gen.
Ein anderer Gewerkschaftssekretär mahnte, übermü-
dete, unfreundliche und schlecht ausgebildete Busfahrer,
die dafür mit einem Hungerlohn nach Hause gehen, wür-
den mit uralten stinkenden Fahrzeugen von Haltestelle zu
Haltestelle hetzen, wenn es nicht gelinge, der Liberalisie-
rung im Rahmen der EU-Verordnung Schranken zu setzen.
Dies ist eine Gefahr nicht nur für die Beschäftigten und ih-
re Familien, sondern auch für die Umwelt und die Ge-
sundheit der Fahrgäste, eine Gefahr auch für die Versor-
gung mit öffentlichem Nahverkehr in Stadt und Land.
Diese Situation ist bereits ein Stück weit Realität, weil
es längst keine homogenen Bedingungen im Nahverkehr
mehr gibt. Seit Beginn der 90er-Jahre verschärft sich der
Trend, Kostensenkungen auf dem Rücken der Beschäftig-
ten durchzusetzen. Schon jetzt konkurrieren Betriebe mit
dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes mit Betrieben
mit dem Tarifvertrag für die privaten Anbieter, mit Betrie-
ben mit Haustarifen und mit Billigstanbietern ohne Tarif-
bindung. Mit zunehmendem Wettbewerb und ohne Regu-
lation wird der Verbandsflucht weiter Tor und Tür
geöffnet.
Tarifautonomie ist ein Grundbestandteil unserer sozia-
len Demokratie, den es zu schützen gilt. Nur im Rahmen
der Tarifverhandlungen haben Beschäftigte Koalitions-
rechte, das Recht, über Mindeststandards ihrer Arbeitsbe-
dingungen mitzuentscheiden – ein Recht, das im Rahmen
sozialstaatlicher Verantwortung erneuert werden muss. Es
darf nicht dem grenzenlosen Wettbewerb geopfert werden.
Tarifverträge ermöglichen dauerhafte Arbeitsbeziehun-
gen, weil Unternehmen nicht ständig am Markt nach bil-
ligeren Arbeitskräften suchen müssen, um die nächste
Ausschreibung zu gewinnen. Nur dann investieren sie
auch in Ausbildung. Nur dann ist Qualität von Dienstleis-
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tungen und ihre Weiterentwicklung gewährleistet. Tarif-
autonomie gibt Planungssicherheit, auch für die Unter-
nehmen. Sie dient der Sicherung des fairen Wettbewerbs
und stellt gleiche Bedingungen her. Wettbewerb wird dann
über die Qualität der Dienstleistungen geführt – ein Wett-
bewerb, von dem dann auch die Benutzerinnen und Be-
nutzer profitieren.
Wer diese Werte anerkennt, darf nicht länger zusehen,
wie ihnen der Boden entzogen wird. Kanzler Schröder er-
klärte in seiner Rede vor der Jahrestagung des Verbandes
Deutscher Verkehrsunternehmen im Mai, die öffentliche
Daseinsvorsorge sei ein wesentliches Korrektiv der
Marktgesetze, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit
im Interesse der Allgemeinheit durchzusetzen. Warum gibt
es dann noch immer kein Vergabegesetz? Verkehrsminis-
ter Klimmt erklärte gestern, er wolle sich für geltende
Qualitäts- und Sozialstandards im öffentlichen Dienst ein-
setzen. Dies gelte insbesondere für die Sicherheit der Fahr-
zeuge und die Qualifikation von Mitarbeitern. Von der
Anerkennung der Forderung nach einem Vergabegesetz
war da nichts zu hören. Die Empfehlung einer Abtei-
lungsleiterkonferenz, aus dem Antrag der Landesregie-
rung Nordrhein-Westfalen einen Prüfauftrag zu machen,
wird der Situation ebenso wenig gerecht.
In einer Auseinandersetzung im Wirtschaftsausschuss
begründete Staatssekretär Mosdorf die Zurückhaltung der
Regierung mit dem Abwarten des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts. Erst danach werde die Regierung tätig
werden. Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird daraus
nichts werden. Bis dahin sind die Bedingungen längst so
weit fortgeschritten, dass ein Vergabegesetz nicht mehr
helfen kann. Die Liberalisierung des öffentlichen Nahver-
kehrs im Rahmen der EU stellt die Regierung nicht zurück,
bis diese Frage entschieden ist. Professorin Rust und Pro-
fessor Däubler haben in einem Rechtsgutachten bestätigt,
dass die Aufnahme von Tariftreueerklärungen sowie das
Eingehen auf sozialpolitische Belange, zum Beispiel die
Bevorzugung von Anbietern, die besonders Frauen- und
Ausbildungsplätze anbieten, nicht gegen die negative Ko-
alitionsfreiheit verstoßen.
Die Regierung sollte sich nicht länger ihrer sozialpoli-
tischen Verantwortung durch das Schielen auf das Bun-
desverfassungsgericht entziehen. Viele von der SPD haben
mit der Unterschrift unter die Berliner Erklärung zugesagt,
sich für die in unserem Antrag dargestellten Positionen
einzusetzen. Ich behalte mir vor, über diesen Antrag na-
mentlich abzustimmen zu lassen, wenn es bis dahin keinen
Regierungsentwurf gibt.
Noch eines zum Schluss: Heute morgen wurde über den
gemeinsamen Kampf gegen Rechtsextremismus disku-
tiert. Die gegenwärtige Vergabepraxis leistet Rassismus
Vorschub, weil Ausländer und Ausländerinnen für den
drohenden Arbeitsplatzverlust durch Lohndumping und
den Verlust sozialer Sicherheit verantwortlich gemacht
werden. Ein Vergabegesetz wäre auch ein guter und drin-
gend notwendiger Beitrag Ihrer Regierung zur Bekämp-
fung von Rassismus in der Mitte der Gesellschaft.
Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Erstens. Verga-
berecht, das sind die Vorschriften, die dem Staat, seinen
Behörden und Institutionen eine bestimmte Vorgehens-
weise beim Einkauf von Gütern und Leistungen vor-
schreiben. Einkauf bedeutet dabei jede Inanspruchnahme
einer Leistung am Markt gegen Entgelt. Darunter fallen
die Regeln darüber, wie eine Gemeinde vorzugehen hat,
wenn sie zum Bau eines neuen Rathauses den Bauunter-
nehmer oder zum Bau eines Müllkraftwerkes den Liefe-
ranten sucht. Erfasst sind auch die Vorschriften, die die
Bundesregierung beim Erwerb der Versorgungsgüter für
die Bundeswehr einzuhalten hat. Unter dieses Vergabe-
recht fallen schließlich die Regelungen, die die öffentliche
Versorgungswirtschaft bei ihren Einkäufen zu beachten
hat. Insgesamt sind von diesem Rechtsrahmen für die Vor-
gehensweise beim Einkauf circa 13 Prozent des Bruttoin-
landsproduktes betroffen. Mehr braucht nicht gesagt zu
werden, um die Bedeutung dieser Regeln für unsere Wirt-
schaft und um den Einfluss der Regeln auf die Perfor-
mance der deutschen Wirtschaft klarzumachen.
Zweitens. Der Erwerb der für die Existenz und die Auf-
gabenerfüllung notwendigen Ressourcen – Waren, Dienst-
leistungen und Bauten – gegen Geld, das vom Steuer- oder
Gebührenzahler zwangsweise erhoben wird, hat nach un-
serer Finanzverfassung „wirtschaftlich“ zu erfolgen.
Primärziel aller Einkaufsregeln für öffentliche Auftragge-
ber ist daher und muss es auch bleiben, wirtschaftlich und
sparsam einzukaufen. In einer Zeit, in der die zur Verfü-
gung stehenden Haushaltsmittel knapp bemessen sind und
daher optimal eingesetzt werden müssen, hat dieses
Primärziel zusätzliche Bedeutung. In Zeiten, in denen wir
zu Recht, wie ich denke, von den öffentlichen Unterneh-
men die besten Angebote für unsere Bürger zu angemes-
senen Preisen verlangen, kann es gar keinen Zweifel ge-
ben, dass die Wirtschaftlichkeit des Einkaufs die zentrale
Leitlinie auch für das Vergaberecht sein muss.
Drittens. Ein zweiter wesentlicher Aspekt kommt hin-
zu: Seit der Vollendung des EG-Binnenmarktes kann sich
die Vergabe nicht mehr nur auf die deutsche Unterneh-
merschaft beziehen. Seit der von uns allen gewollten und
von allen Seiten als für die deutsche Wirtschaft insgesamt
als positiv bewerteten Öffnung der nationalen Märkte zum
großen EG-Binnenmarkt müssen die vom Staat zu verge-
benden Aufträge diskriminierungsfrei auch allen Unter-
nehmen unserer EG-Partner zugänglich sein. Die früher
weithin gegeneinander abgeschotteten und den nationalen
Anbietern vorenthaltenen Märkte wurden mit der Binnen-
marktrichtlinie geöffnet. Europaoffener Wettbewerb und
Vergabe nach rationalen Kriterien sind die Instrumente,
mit denen nicht diskriminierende Vergabe überall in der
EG durchgesetzt wird. Dies muss mit dem Ja zur europä-
ischen Integration ohne Wenn und Aber akzeptiert werden.
Viertens. Wirtschaftlicher Umgang mit dem Geld des
Steuer-, Gebühren und Entgeltzahlers und Marktöffnung
im EG-Binnenmarkt: Wer diese beiden Basisziele akzep-
tiert, hat Mühe, mit dem Vergaberecht weitere Ziele zu
verbinden. Wer europäischen Wettbewerb will, muss auch
akzeptieren, dass die Unternehmen in Wettbewerb treten
und ihre jeweils eigenen Vorteile im Wettbewerb einset-
zen. Wer will, dass der Staat auch nur annähernd ebenso
effektiv und wirtschaftlich arbeitet wie private Unterneh-
men, muss im Wettbewerb alle Unternehmen zulassen,
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die – wie es in § 98 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrän-
kungen heißt – fachkundig, leistungsfähig und zuverlässi-
ge Unternehmen sind.
Fünftens. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen, die
nötig sind, um den Boden für alles Weitere zu legen, ge-
statten Sie mir einige kurze Bemerkungen zu den einzel-
nen Forderungen des PDS-Antrags. Sie werden daraus so-
fort entnehmen, dass der Antrag aus meiner Sicht in
großen Teilen überflüssig ist oder aber mit den eben dar-
gestellten Grundsätzen kollidiert.
Wir arbeiten seit längerem an einem Gesetzentwurf, der
insbesondere die Zuverlässigkeit der zu öffentlichen Auf-
trägen zuzulassenden Unternehmen konkretisiert. Zu die-
sem Zweck soll von Unternehmen unter anderem die
Erklärung verlangt werden, dass sie als Bewerber oder An-
bieter keinen Verstoß gegen sie verpflichtende Tarifver-
träge begehen. Wird eine solche Erklärung nicht oder
wahrheitswidrig abgegeben, ist das Unternehmen grund-
sätzlich vom Vergabeverfahren und für einen bestimmten
Zeitraum auch für weitere Beschaffungen als unzuverläs-
sig auszuschließen. Damit wird über die arbeitsrechtli-
chen Vorschriften hinaus im staatlichen Einkaufsbereich
dafür gesorgt, dass geltendes Tarifrecht eingehalten wird.
Angesichts der im Antrag zitierten Vorlage des BGH an
das Bundesverfassungsgericht zum Berliner Vergabege-
setz kann aus meiner Sicht darüber nicht hinausgegangen
werden. Alle Bieter und Bewerber zu verpflichten, den je-
weils am Sitz der ausschreibenden Stelle geltenden Tarif-
lohn zugrunde zu legen, ist zumindest derzeit nicht mög-
lich und auch nicht sinnvoll.
Die Bundesregierung prüft sehr genau die Möglichkei-
ten für Maßnahmen zur Durchsetzung der Gleichstellung
von Frauen und Männern in der Wirtschaft. Dabei könnte
unter Effizienzgesichtspunkten eine Beschränkung auf
Unternehmen, die sich als öffentliche Auftragnehmer be-
werben, zu eng sein. Wir sprechen mit der Wirtschaft da-
rüber, welche Maßnahmen, unter Umständen auch ge-
setzgeberische, unserem Ziel der Chancengleichheit am
besten gerecht werden.
Und nun zum öffentlichen Personennahverkehr: Wir
sind dabei, zum Verordnungsentwurf der Kommission
über Maßnahmen im Zusammenhang mit gemeinwirt-
schaftlichen Anforderungen und der Vergabe gemeinwirt-
schaftlicher Verträge für den Personenverkehr eine Stel-
lungnahme der Bundesregierung unter Einbindung aller
Beteiligten abzustimmen. Dabei spielt die Frage nach der
konkreten Ausgestaltung des Ausschreibungsverfahrens
eine wichtige Rolle. Wegen der Besonderheiten des Struk-
turwandels im öffentlichen Personennahverkehr werden
dabei Lösungen angestrebt, die zu einer Qualitätsverbes-
serung der Verkehrsleistungen beitragen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Eigenheimzulagengesetzes und
anderer Gesetze; – Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Eigenheimzulagengesetzes (Zu-
satztagesordnungspunkte 6 und 7)
Horst Schild (SPD): Das 1996 in Kraft getretene
Eigenheimzulagengesetz ist nach weitgehend überein-
stimmender Meinung in diesem Haus sicherlich ein er-
folgreiches Gesetz geworden.Auf Initiative der Sozialde-
mokraten wurde in das Eigenheimzulagengesetz die so
genannte Öko-Komponente für den Einbau von Solaran-
lagen, Wärmepumpen und für Niedrigenergiehäuser auf-
genommen. Diese Förderung wurde mit Hinweis auf die
zu erwartende neue Wärmeschutzverordnung bis zum 31.
Dezember 2000 befristet.
Da die Neufassung dieser Verordnung nun doch nicht
mehr in diesem Jahr kommt, wollen die Koalitionsfrak-
tionen mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf die er-
folgreiche Öko-Komponente der Eigenheimzulage um
zwei Jahre verlängern. Dadurch erreichen wir für Bauher-
ren und Hauskäufer Planungssicherheit bis Ende 2002.
Das wird ihnen die Entscheidung erleichtern, Energie spa-
rende Anlagen einzubauen oder Niedrigenergiehäuser zu
kaufen.
Diese ökologische Zusatzförderung hat wirksame An-
reize für Investitionen in die Reduzierung des Energiebe-
darfs geschaffen. Die Zahl der Fälle, in denen die Voraus-
setzungen für die Zusatzförderung erfüllt wurden, hat seit
der Einführung des Gesetzes stark zugenommen. Allein
vom Jahr 1997 auf das Jahr 1998 hat sich die Zahl der ge-
währten Ökö-Zulagen etwa verdoppelt und zwar auf circa
21 000 Fälle von Einbau Energie sparender Anlagen und
46 000 Fälle von Erwerb eines Niedrigenergiehauses. Für
1999 zeichnet sich ein weiterer Anstieg ab. Das Fördervo-
lumen lag 1998 bei über 22 Millionen DM.
Dadurch werden Wohneigentümer, die sich innovati-
onsfreundlich verhalten, in besonderer Weise entlastet: Im
Einzelnen werden für Anlagen zur Energieeinsparung acht
Jahre lang 2 Prozent der Herstellungskosten, jedoch ma-
ximal 500 DM im Jahr erstattet. Das begünstigt vor allem
den Einbau von Solaranlagen, Wärmepumpen und Anla-
gen zur Wärmerückgewinnung. Zusätzlich werden Woh-
nungen in so genannten Niedrigenergiehäusern mit jähr-
lich 400 DM acht Jahre lang gefördert.
Wenn wir über die Öko-Zulagen sprechen, geht es nicht
nur um die finanziellen Aspekte der Entlastung, sondern
auch um die umweltfreundliche und energieeinsparende
Wirkung dieser Technik. Gesunde Umweltbedingungen
und die langfristige Nutzbarkeit unserer Rohstoffressour-
cen liegen uns besonders am Herzen. Daher denken wir
immer wieder darüber nach, wie innovative Hausbautech-
nik zum dauerhaften Standard erhoben werden kann.
Zunächst geht es darum, mit einer neuen Energieein-
sparverordnung Investitionen im Interesse höherer Ener-
gieeffizienz voranzubringen. Das senkt den Energiebe-
darf. Die Bauherren werden es nicht bereuen: Denn
während der langen Lebensdauer ihrer Immobilie werden
sich die Energiekosten verteuern und damit wird sich der
Nutzen von Energiesparinvestitionen früher oder später
rechnen.
Die geplante neue Energieeinsparverordnung soll die
Anforderungen an einen Neubau gegenüber der derzeit
geltenden Wärmeschutz- und Heizungsanlagenverord-
nung im Mittel um 30 Prozent verschärfen. Neben der Iso-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 121. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 200011694
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lierung der Außenwände sollen künftig auch heizungs-, ra-
umlufttechnische und Warmwasser bereitende Anlagen in
die Planung einbezogen werden.
Die Zulagenförderung müsste dann an die Rahmenbe-
dingungen dieser neuen Verordnung angepasst werden,
das heißt, eine Zulage wäre dann an das Unterschreiten der
Werte dieser neuen Energieeinsparverordnung zu binden.
Für die Altbauten muss künftig geprüft werden, ob der
Einbau von Energieeinsparanlagen immer noch die Ge-
währung einer speziellen Öko-Zulage rechtfertigt, wenn
diese Anlagen inzwischen zunehmend zum Standard ge-
worden sind. Diese Frage wird sich aber erst nach In-
krafttreten der Energieeinsparverordnung stellen.
Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass wir nach
Ablauf der verlängerten Frist die Erfolgsstory der Öko-Zu-
lagen fortsetzen können und dass wir den verstärkten Ein-
satz von Energiespartechnik rechtzeitig angeschoben ha-
ben. Diese Technik einzuführen, ist in Zeiten steigender
Energiepreise zwar ohnehin ratsam, mit dem vorliegenden
Gesetz wollen wir aber den noch unentschlossenen Haus-
eignern auf die Sprünge helfen.
Ich danke Ihnen.
Wolfgang Spanier (SPD): Zu später Stunde diskutie-
ren wir ein Gesetz zur Änderung des Eigenheimzulagen-
gesetzes. Die Zusatzförderung für den Einbau bestimmter
Energie sparender Anlagen und die Zusatzförderung von
Niedrigenergiehäusern laufen, nachdem sie bereits 1998
einmal um zwei Jahre verlängert worden sind, zum 31. De-
zember 2001 aus. Allein vom Zeitablauf ist es deshalb ge-
boten, dass wir rechtzeitig entscheiden, ob diese Zusatz-
förderung fortgesetzt wird.
In der Sache stimmen die Anträge von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU überein. Ich gehe davon
aus, dass auch die anderen Fraktionen des Deutschen Bun-
destages zustimmen werden. Die Verlängerung der Zu-
satzförderung um zwei Jahre ist energiepolitisch sinnvoll.
Wir wollen weiterhin den Einbau zum Beispiel von Wär-
mepumpen, Solar- oder Wärmerückgewinnungsanlagen
fördern. Wir wollen weiterhin die Zusatzförderung für
Niedrigenergiehäuser fortsetzen.
Diese Ökokomponente im Eigenheimzulagengesetz ist
ein Beitrag zu einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik. Bis
2005 wollen wir die CO2-Emmissionen um 25 Prozentvermindern. Wir wissen, dass wir gerade im Gebäudebe-
reich noch große Möglichkeiten haben, um die CO2-Min-derung wirksam nach vorne zu bringen.
Die Fortführung der Ökozulage beim selbstgenutzten
Wohneigentum ist im Zusammenhang mit der konsequen-
ten Klimaschutzpolitik dieser Bundesregierung und der
Koalitionsfraktionen zu sehen. Wir werden dies noch ver-
stärken durch ein Modernisierungsprogramm für den
Wohnungsbestand, das die Koalitionsfraktionen im Rah-
men der Haushaltsberatungen einbringen werden. Dazu
gehört auch eine neue Energieeinsparverordnung. Um es
gleich deutlich zu sagen: Die Verlängerung der Zusatzför-
derung im Eigenheimzulagengesetz bedeutet nicht, dass
die Energieeinsparverordnung auf die lange Bank gescho-
ben wird. Die Vorbereitungen laufen seit längerem, die
Abstimmung zwischen den zuständigen Ministerien er-
folgt. Notwendig ist auch eine sorgfältige Abstimmung mit
den Ländern und natürlich muss diese Verordnung an die
EU-Kommission weitergeleitet werden. Wir wissen alle,
dass wir uns da auf mindestens sechs Monate Wartezeit
einstellen müssen. Das heißt, von der Schlussfassung bis
zur Realisierung vergeht mindestens ein Jahr. Ich hoffe,
dass es möglichst noch in diesem Jahr einen Kabinettsbe-
schluss zur Energieeinsparverordnung gibt und dann
selbstverständlich auch der Bundestag informativ befasst
wird.
Wir sehen die Öko-Zulage aber auch im Zusammen-
hang mit der Energiepolitik dieser Bundesregierung und
der Koalitionsfraktionen. Wir setzen konsequent auf effi-
ziente Energieerzeugung und Energieeinsparung.
Die Verdreifachung des Ölpreises hat uns allen noch
einmal deutlich gemacht, dass wir uns stärker vom Öl un-
abhängig machen müssen. Energieeinsparung und die ver-
stärkte Nutzung regenerativer Energien sind die wichtigs-
ten Instrumente, um Ressourcen zu schonen und den
Energieverbrauch zu senken.
Dazu haben wir eine Fülle von Initiativen zur Förde-
rung der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-
Kopplung, zur Förderung nachwachsender Rohstoffe für
Biodiesel, zur Förderung von Bioenergie insgesamt auf
den Weg gebracht. Mit dem 100 000-Dächer-Programm
machen wir den Weg frei für eine deutlich stärkere Nut-
zung der Solarenergie.
In der Klimaschutzpolitik und nachhaltigen Energiepo-
litik haben wir große Fortschritte erreicht. Die Öko-Zula-
ge im Eigenheimzulagengesetz ist ein Baustein dieser Po-
litik. Deshalb bitte ich Sie alle um Unterstützung.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Es ist ein gutes
Zeichen für die deutschen Häuslebauer und für die deut-
sche Bauwirtschaft, dass sich zwischenzeitlich eine breite
Mehrheit im Deutschen Bundestag für die Forderung der
Unionsfraktion abzeichnet, die besonderen Ökokompo-
nenten im Eigenheimzulagengesetz über das Jahr 2000 hi-
naus zu verlängern. Dies hatte die Unionsfraktion bereits
im Frühjahr angeregt, nun scheint auch die Koalition von
dieser Notwendigkeit überzeugt, wie der eiligst einge-
brachte Koalitionsantrag unterstreicht.
Es ist in der Sache richtig und begrüßenswert, dass auch
noch im kommenden Jahr Bauherren, die Wohneigentum
erwerben, für den Einbau von Wärmepumpenanlagen, So-
laranlagen oder Anlagen zur Wärmerückgewinnung zu-
sätzlich 500 DM pro Jahr und für die Bauausführung im
Niedrigenergiehausstandard 400 DM pro Jahr erhalten
sollen. Die Bundesregierung hat sich nun auch gerade zu
dem von der Regierung Kohl gesetzten Ziel bekannt, die
CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zu mindern.Auch vor diesem Hintergrund wäre das Auslaufen dieser
Zusatzförderung ein völlig verkehrtes Signal, das sich die
Politik nicht leisten darf. Die Verlängerung der Zusatzför-
derung kann die Vielzahl der gegen die deutsche Bauwirt-
schaft gerichteten Entscheidungen nicht aufwiegen, sie
gibt aber im Segment des Eigenheimbaus den Bauherren
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zumindest im Sinne einer verstetigten Förderung Pla-
nungssicherheit. Dies ist zu begrüßen.
An dieser Stelle muss aber auch daran erinnert werden,
dass wir diese Zusatzförderung im Eigenheimzulagen-
gesetz bereits zum zweiten Mal verlängern. Diese Not-
wendigkeit rührt daher, dass der Deutsche Bundestag fest
davon ausging, dass spätestens zum 31. Dezember 1999
die Novelle der Energieeinsparverordnung verabschiedet
ist. Damit wäre nach unseren Vorstellungen beispielswei-
se das Niedrigenergiehaus Standard für den Neubau und
aus diesem Grunde nicht mehr förderungsfähig. Die Not-
wendigkeit der Verlängerung der Öko-Komponenten be-
steht also, weil es der Bundesbauminister bis heute nicht
geschafft hat, eine spruchreife Energieeinsparverordnung
zu erlassen. Bei jetzigem Verfahrensstand und angesichts
der bevorstehenden Abstimmungen im Bundesrat und auf
europäischer Ebene muss man kein Pessimist sein, um da-
von auszugehen, dass diese Verordnung nicht vor dem
1. Januar 2002 kommen wird.
Dieser Sachstand ist ein Armutszeugnis für die rot-grü-
ne Bundesregierung, die sich im Bereich der Reduzierung
von CO2-Emissionen als reine Ankündigungsregierungpräsentiert, ohne eigene Konzepte zu entwickeln und um-
zusetzen. Es fehlt dieser Politik an der Fähigkeit, Innova-
tionen freizusetzen und Anreize zur Energieeinsparung zu
schaffen. Denn über die Ziele einer Energieeinsparver-
ordnung, etwa die Entwicklung eines Energiepasses zur
Abbildung des Gesamtenergieverbrauchs von Gebäuden,
die Zusammenfassung von Wärmeschutz- und Heizungs-
anlagenverordnung oder die Einführung des Niedrigener-
giehausstandards als Qualitätsmaßstab energieschonender
Bauweise, besteht seit einigen Jahren Einigkeit. Mit einem
integrierten Ansatz soll die Möglichkeit für eine optimale
energetische Planung und Ausführung verbessert werden.
Unter unionsgeführten Regierungen wurden im Be-
reich der Ordnungspolitik die Standards mit dem Stand der
Technik maßvoll aber zielgerichtet weiterentwickelt. Dies
gab der Industrie und allen Hausbesitzern qualitative Vor-
gaben und Planungssicherheit. Heute überrollt der Stand
der Technik längst den Verordnungsgeber, dem es nicht
mehr gelingt, umweltschonende Qualitätsstandards zeit-
nahe zu setzen.
Die Senkung des Energiebedarfs im Baubereich ist ein
zentrales umweltpolitisches Anliegen. Angesichts der ex-
plosionsartig steigenden Mietnebenkosten ist die Pleite
bei der Energieeinsparverordnung aber auch das baupoli-
tische Einfallstor in der aktuellen Ökosteuer-Debatte.
Wenn die Bundesregierung angesichts der Kosten für
Heizöl, Gas und Strom zum Energiesparen aufruft, ist sie
noch viel drängender in Erklärungsnot, warum sie die ei-
genen Hausaufgaben immer noch nicht erfüllt hat und sich
stattdessen als Antreiber der Erhöhung der zweiten Miete
präsentiert.
So wichtig und richtig die Verlängerung der Öko-Kom-
ponenten sind, sie können die schweren Defizite der Bun-
desregierung nicht kaschieren.
Mit der raschen Umsetzung der Energieeinsparverord-
nung werden die ordnungspolitischen Rahmen gesetzt.
Das ist wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend. Hinzu
kommen müssen auch steuerliche Anreize und Regelun-
gen im Mietrecht, die insbesondere auf die Mobilisierung
des CO2-Einsparpotenzials im Gebäudebestand hinwir-ken. Wenn das CO2-Sparziel erreicht werden soll, müssenzusätzlich zum Ersatz abgehender Gebäude durch Neubau
pro Jahr etwa 800 000 Altbauwohnungen energetisch sa-
niert werden. Dieser Aufgabe müsste sich die rot-grüne
Bundesregierung endlich stellen. Die ordnungspolitischen
Rahmenbedingungen müssen also flankiert werden, ei-
nerseits durch die bewährten zinsverbilligten Darlehen,
andererseits benötigen wir aber auch konkrete Anreizpro-
gramme, ohne die es nicht gelingen wird, die wärmetech-
nische Sanierung im Bestand entscheidend zu forcieren.
Hinsichtlich des zweiten Teil des Koalitionsantrags
sind wir gerne bereit, Veränderungen im Wohngeldbe-
reich, die auf Vereinfachungen des Verfahrens hinwirken,
zu prüfen. Allerdings haben wir gerade beim Wohngeld
sehr schlechte Erfahrungen mit der Regierungskoalition
machen müssen. Es sei hier nur daran erinnert, dass die
Bundesregierung bei der Novelle des Wohngelds beab-
sichtigte, Länder und Kommunen mit 1 Milliarde DM
mehr zu belasten, was nur durch die Union im Bundesrat
verhindert werden konnte. Diese schlechten Erfahrungen
veranlassen uns, die Folgen der von Ihnen hier vorge-
schlagenen Änderungen, auch im Hinblick auf eventuelle
Mehreinnahmen, sehr genau zu hinterfragen.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wir beraten heute über die Verlängerung der
ökologischen Zusatzförderung in der Eigenheimförde-
rung. Die Regierungsfraktionen sind sich einig: Die Öko-
boni in der Eigenheimzulage für Energiespartechniken
und Niedrigenergiehausstandard sollen bis zum In-Kraft-
Treten der Energieeinsparverordnung gewährt werden,
längstens jedoch zwei Jahre. Das heißt nicht, dass die
Energieeinsparverordnung erst in zwei Jahren in Kraft tre-
ten soll. Wir sind sehr zuversichtlich, dass die Energie-
einsparverordnung in Kürze im Kabinett beraten werden
kann.
Die Einführung der „Ökozulagen“, für die sich damals
auch meine Fraktion sehr stark eingesetzt hat, hat sich als
großer Erfolg erwiesen. Die Anzahl der förderungsfähigen
Neubauten und Energie sparenden Anlagen ist ständig ge-
stiegen. Das Gesamtfördervolumen für den 1998er Bau-
jahrgang lag bei jährlich gut 22 Millionen DM, Tendenz
steigend.
Es hat sich als richtig erwiesen, nicht nur im Rahmen
von Sonderprogrammen, sondern auch in der Regelförde-
rung Anreize für innovative Energietechniken und
Energie sparende Bauweisen zu geben. Wir sollten darü-
ber nachdenken, ob wir solche Instrumente nicht verstärkt
nutzen sollten. Wir alle wissen, der Niedrigenergiehaus-
standard ist nicht das Ende der technischen Entwicklung
im Wohnungsbau. Die Passivhaustechnik ist marktgän-
gig, auch wenn sie sich noch nicht durchgesetzt hat. Wir
sollten also in einem nächsten Schritt gemeinsam darüber
nachdenken, ob wir den Niedrigenergiehausbonus nach
In-Kraft-Treten der Energieeinsparverordnung nicht als
Passivhausbonus weiterführen können, eventuell in zeitli-
chen Schritten.
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Die aktuelle Diskussion um Energiepreise zeigt uns:
Wir müssen noch sehr viel mehr tun, um unsere Abhän-
gigkeit von fossilen Energieträgern zu mindern und inno-
vativen, ökologischen Bauweisen zum Durchbruch zu ver-
helfen. Jede Mark, die in Energiespartechnik statt in
Energiekonsum investiert wird, lohnt sich – für den Geld-
beutel des Bauherren, für die Umwelt und das Klima und
für das Handwerk und die Bauwirtschaft.
Ich denke auch – das habe ich hier schon mehrfach ge-
sagt –, dass wir über eine regionale Differenzierung der Ei-
genheimförderung und über eine stärkere Förderung von
Bestandsinvestitionen nachdenken müssen. Denn die der-
zeitige Förderung stärkt die Städte nicht.
Sie wirkt eher als Anreiz zur Zersiedelung. Wir alle
wollen die Städte als Wohnort für Familien und als attrak-
tive Gewerbestandorte erhalten. Deshalb sollten wir auch
den Mut haben, dies durch Anreize in der Eigenheimför-
derung zu begünstigen. Zu diesen Diskussionen möchte
ich Sie alle einladen.
Hans-Michael Goldmann (F.D.P.): „Tue Gutes und
rede darüber“! Es ist schon merkwürdig, wenn die Koali-
tionsfraktionen scheinbar Gutes tun wollen und die
ökologischen Komponenten bei der Eigenheimförderung
um zwei weitere Jahre verlängern wollen, dies aber in
aller Stille und nun zu nächtlicher Stunde durchmogeln
wollen. Warum tut das rot-grüne Lager das? Warum hal-
ten Sie sich so merkwürdig still, wo es doch um den Vor-
teil der Bürger geht und um das Wohl der Umwelt? Natür-
lich ist die Frage eine rhetorische Frage und wir alle
wissen die Antwort. Dieses begünstigende Gesetz doku-
mentiert Ihre wohnungspolitischen Defizite. Sie haben in
den zwei Jahren Ihrer Regierungszeit die versprochene
Energieeinsparverordnung nicht zustande bekommen.
Jetzt müssen Sie wohl oder übel die gewünschten höheren
Standards im Neubau auch weiterhin fördern.
Als wir in der vergangenen Sitzungswoche über den
Haushalt des Verkehrs- und Bauministers sprachen, habe
ich Ihnen unter anderem wohnungspolitische Wurstelei
und einen Mangel an Visionen und großen Würfen vorge-
worfen. Der heute eingebrachte Gesetzesentwurf ist ein
schneller Beleg dafür, dass mein Vorwurf zutrifft. Sie
schaffen es nicht, die großen Räder zu drehen. Die Folge
ist das wohnungspolitische Stückwerk, das hier zu be-
sichtigen ist.
Immerhin haben Sie Humor. Als Problemstellung für
Ihren Gesetzesentwurf gestehen Sie ein, dass Sie die ge-
wünschte Energieeinsparverordnung nicht zustande brin-
gen. Ich zitiere: „Da mit dem In-Kraft-Treten ... nicht mehr
in diesem Jahr zu rechnen ist“. Ist denn im nächsten Jahr
mit dem In-Kraft-Treten zu rechnen? Wenn Sie jetzt Ja
schreien, dann frage ich mich, warum Sie dann die Öko-
Förderung bis zum 31. Dezember 2002 verlängern wol-
len?
Das bisherige Fördersystem ist darauf angelegt, dass
der Staat umfangreiche Normen und Standards setzt, um
im Ergebnis die gewünschten Energieeinsparziele zu er-
reichen. Über diese Ziele hinausgehende politische Wün-
sche müssen mit staatlicher Förderung bezahlt werden. Ihr
Gesetzesentwurf ist insofern logisch und konsequent. In-
nerhalb der bestehenden Fördersystematik kann man
kaum etwas dagegen einwenden. Sie müssen sich aller-
dings darüber im Klaren sein, dass die unbekannt hohe
Quote der Mitnahmeeffekte steigt; denn heute wird kaum
ein Eigenheim ohne den geförderten Niedrigenergiehaus-
Standard fertig gestellt.
Die F.D.P. will sich allerdings grundsätzlich in der be-
stehenden Öko-Bürokratie verabschieden, um in neuer
Manier verbesserte ökologische Effekte zu erzielen. Wir
werden uns dafür aussprechen, die auf industrieller Ebene
bereits praktizierte Idee des Handels mit C02-Zertifikatenauf den Bereich des Wohnungsmarktes herunterzubre-
chen. So profitiert jeder Mieter und jeder Eigentümer von
Investitionen und eigenem sparsamen Verhalten. Das ist
effizienter, als das bestehende bürokratische, schwerfälli-
ge Geflecht von Normen und Vorschriften weiter zu ent-
wickeln. Es ist ja ganz offenbar, dass die – ausbleibende –
Energieeinsparverordnung nicht nur wegen ihrer man-
gelnden politischen Gestaltungskraft nicht vorankommt,
sondern auch wegen der inzwischen unüberschaubaren
Einzelinteressen der am Bau Beteiligten.
Lassen Sie uns also gemeinsam neue Wege gehen und
ein C02-Check-Modell anstelle einer Energieeinsparver-ordnung entwickeln. Dafür könnten wir zwei Jahre brau-
chen, exakt die Zeit, um die Sie die Öko-Förderung im Ei-
genheimbau nun verlängern wollen. Zu diesem Angebot
stehen wir.
Christine Ostrowski (PDS): Es ist wieder spannend
wie im Krimi:
Erstens. Vor zwei Tagen tauchte, noch ohne Drucksa-
chennummer, plötzlich ein Gesetzentwurf der Koalitions-
fraktionen auf, der unbedingt in dieser Woche – ohne Ein-
haltung von Fristen und ohne Debatte – durchgewunken
werden sollte.
Zweitens. Dieser Entwurf ist ein Artikelgesetz; neben
der Änderung des Eigenheimzulagengesetzes geht es auch
um das Wohngeldgesetz und hier speziell um die Präzi-
sierung des Einkommensbegriffs.
Konkret: Zum wohngeldrechtlichen Einkommen
zählen künftig auch der steuerfreie Betrag von Abfindun-
gen nach betriebsbedingten Kündigungen, steuerfreie
Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, Leistun-
gen des Staates an Alleinerziehende nach dem Unterhalts-
vorschussgesetz und freiwillige Unterhaltszahlungen, was
im Prinzip heißt, dass sich das anrechenbare Einkommen
für die Betroffenen erhöht – und infolgedessen ihr Wohn-
geld vermindert. Das war SPD und Grünen offenbar pein-
lich – zu Recht –, denn im Titel des Gesetzentwurfs taucht
der Begriff „Änderung des Wohngeldgesetzes“ nicht auf.
Und die Koalition wünschte ursprünglich keine Debatte.
Nun wird doch noch debattiert, spät am Abend, was of-
fenbar dem CDU-Gesetzentwurf geschuldet ist.
Drittens. Zur Sache: Im Eigenheimzulagengesetz soll
die Zusatzförderung für den Einbau Energie sparender An-
lagen um zwei weitere Jahre verlängert werden. Dass da-
mit Mindereinnahmen von 23 Millionen DM 2001 und je
46 Millionen DM in 2002 und 2003 verbunden sind,
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scheint wurscht, obwohl SPD und Grüne ansonsten keine
Gelegenheit auslassen, den Sparkurs zu beschwören. Dass
eine Gegenfinanzierung fehlt, scheint auch egal. Gnade
Gott, die PDS bringt eine Maßnahme ein, die mit Ausga-
ben verbunden ist, gar ohne Gegenfinanzierung – da könn-
ten wir aber von rot-grüner Seite was erleben!
Interessant wird es aber bei der Begründung: „Da mit
dem In-Kraft-Treten der geplanten Energiesparverord-
nung ... nicht mehr in diesem Jahr zu rechnen ist ...“. Soll-
te die Energiesparverordnung nicht schon 2000 in Kraft
treten?
Und sagte nicht Frau Eichstädt-Bohlig schon in der De-
batte am 8. September 1999, also vor über einem Jahr: „In
Kürze werden wir im Ausschuss gemeinsam den Entwurf
der Energiesparverordnung diskutieren, die ... so schnell
wie möglich in Kraft treten soll?“
Selbstredend haben wir nichts im Ausschuss gemein-
sam diskutiert, obwohl heftig und mehrmals angemahnt.
Durch die Hintertür wird nun klar: Die Regierung kommt
mit ihrer Energiesparverordnung dieses, nächstes und
wahrscheinlich auch übernächstes Jahr nicht aus dem
Knick!
Vielleicht ist ja auch was Gutes an der Verschiebung der
Energiesparverordnung. Denn es rieselt einem kalt den
Rücken runter, wenn man die kürzlich veröffentlichte Stu-
die des DIW zu den bisherigen Wirkungen der Wärme-
schutz- und der Heizungsanlagenverordnung liest.
Diese Wirkung ist nämlich – sage und schreibe – gleich
null. Mitte der Neunzigerjahre mit großen Worten und
gutem Willen zu Einsparpotenzialen und Senkung des
CO2-Ausstoßes eingeführt – eine Verminderung des Ener-gieverbrauchs um circa 30 Prozent je Quadratmeter Wohn-
fläche war prognostiziert –, wurde mit beiden Verordnun-
gen nichts, aber auch gar nichts erreicht. Gerade deshalb
ist es notwendig, erst gründlich zu analysieren, warum die
bisherigen Verordnungen wirkungslos blieben, ehe man
sich in die nächste Verordnung stürzt,denn alle energie-
senkenden Maßnahmen – vergessen Sie das nicht – sollen
die Mieterinnen und Mieter künftig über die 11-prozenti-
ge Modernisierungsumlage ein Leben lang teuer bezahlen.
In Ostdeutschland beobachtet man, dass durch Sanie-
rung der Gebäude die bei den kommunalen Energiever-
sorgern abgenommene Energiemenge zwar sinkt. Die Fix-
kosten der Versorgungsbetriebe sinken jedoch nicht oder
nicht im gleichem Verhältnis. Ergebnis: Der spezifische
Preis pro Energieeinheit steigt. Wenn diese Mehrkosten im
Gegenzug nicht durch niedrigere Energiekosten kompen-
siert werden, wird zwar unter Umständen ein ökologi-
sches Problem gelöst, doch ein soziales hervorgerufen und
außerdem die ökologische Idee diskreditiert. Warum Ener-
gie sparen, wenn man dafür bestraft wird, wenn es sich im
wahrsten Sinne des Wortes nicht lohnt.
In der Hoffnung, dass die Verzögerung der Energie-
sparverordnung eine Lösung der genannten Probleme
bringen soll, nehmen wir die Änderung des Eigenheimzu-
lagengesetzes zur Kenntnis.
Was die tendenzielle Verschlechterung durch Anrech-
nung „weiteren Einkommens“ bei Wohngeldbeziehern
anbelangt, haben Sie unsere Zustimmung nicht. Man kann
nicht mit Trara das Wohngeld erhöhen und durch die Hin-
tertür heimlich wieder kürzen. Dazu passt im Übrigen,
dass trotz gepriesener durchschnittlicher Erhöhung von
rund 80 DM pro Empfänger im Westen die Gesamtausga-
ben des Bundes laut Haushaltsentwurf 2001 auf dem Ni-
veau von 1999 verharren.
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Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin