Protokoll:
14115

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 115

  • date_rangeDatum: 7. Juli 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:26 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Absetzung der Geschäftsordnungsdebatte von der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 A Abweichung von den Richtlinien für die Fra- gestunde, für die Aktuelle Stunde sowie der Vereinbarung über die Befragung der Bundes- regierung in der Sitzungswoche ab 11. Sep- tember 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 A Tagesordnungspunkt 20: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Bundeserziehungsgeldge- setzes (Drucksachen 14/3553, 14/3808, 14/3809) 10941 B – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungs- geldgesetzes (Drucksachen 14/3118, 14/3808, 14/3809) 10941 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geförderten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis zu 14 Jahren – zu dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung für Frauen und Männer – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Erziehungszeit statt Erzie- hungsurlaub (Drucksachen 14/2758, 14/2759, 14/3192, 14/3808) . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10942 A Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10944 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10944 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10947 A Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 A Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10951 A Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10952 B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . 10952 C Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10954 B Christel Hanewinckel SPD . . . . . . . . . . . . 10954 D Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10955 B Renate Diemers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10956 B Tagesordnungspunkt 22: a) Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Rainer Funke, Jörg van Essen, weiteren Plenarprotokoll 14/115 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 115. Sitzung Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 I n h a l t : Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Ge- setzbuchs (Wohnrecht hinterbliebener Haushaltsangehöriger) (Drucksachen 14/326, 14/2347, 14/3779) 10959 A b) Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Christina Schenk, Sabine Jünger, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion PDS einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übernahme der gemeinsamen Woh- nung nach Todesfall derMieterin/des Mieters oder der Mitmieterin/des Mitmieters (Änderung des Bürgerli- chen Gesetzbuchs) (Drucksachen 14/308, 14/3780) . . . . . 10959 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weite- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebens-partnerschaf- ten (Lebenspartnerschaftsgesetz) (Drucksache 14/3751) . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Alfred Harten- bach, Margot von Renesse, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans- Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Einbeziehung von eingetragenen Lebenspartnerschaften in die Hinter- bliebenenversorgung (Drucksache 14/3792) . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 C Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10959 D Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10961 B Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 10963 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10964 A Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10966 A Wolfgang Dehnel CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10966 B Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10966 C Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10968 C Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10969 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10971 C Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10971 D Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10972 A Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10973 C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 10974 B Zusatztagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Reform des Zi- vilprozesses (Zivilprozessreformgesetz) (Drucksache 14/3750) . . . . . . . . . . . . . . . . 10975 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10975 C Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10977 B Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10977 C Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10978 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10981 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10982 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10983 D Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10985 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10986 A Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10987 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10988 D Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10990 B Dr. Ulrich Goll, Minister (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10991 A Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . 10992 A Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10993 A Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10996 A Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10996 B Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister (Brandenburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10996 D Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10997 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000II Zusatztagesordnungspunkt 16: Aktuelle Stunde betr. Regelmäßige Kon- takte im Vorfeld von Zeugenverneh- mungen im 1. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern und dem Zeugen Dr. Kohl . . . . . . . . . . . 10998 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10998 C Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10999 D Frank Hofmann (Volkach) SPD . . . . . . . . . . . 11001 B Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11002 C Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11003 D Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11004 C Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11006 A Dr. Rainer Wend SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11007 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11008 B Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11009 B Dr. Peter Danckert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11010 D Friedhelm Julius Beucher SPD . . . . . . . . . . . 11012 B Tagesordnungspunkt 23: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern (Grundstücks- rechtsänderungsgesetz) (Drucksachen 14/3508, 14/3824) . . . . 11013 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Andrea Voßhoff und der Fraktion CDU/CSU: Entschädigungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei Ein- ziehung von beweglichen Sachen re- geln (Drucksachen 14/1003, 14/3824) . . . . 11013 D Zusatztagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er- gänzung vermögensrechtlicher und an- derer Vorschriften (Vermögensrechts- ergänzungsgesetz) (Drucksachen 14/1932, 14/3802, 14/3803) 11014 A Tagesordnungspunkt 24: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung der Arbeitslosigkeit Schwerbe- hinderter (Drucksachen 14/3372, 14/3799) . . . . 11014 D – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zurBekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- derter (Drucksachen 14/3645, 14/3799) . . . . 11014 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- nung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bun- desregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst (Drucksachen 14/2415, 14/3799) . . . . 11014 D Silvia Schmidt (Eisleben) SPD . . . . . . . . . . . 11015 A Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11016 A Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11018 A Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11019 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11019 C Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . . . . . . 11020 C Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Charta der Grundrechte derEuropäischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Die Rechte der Bürger stärken – Für eine bürgernahe Charta der Grund- rechte der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 III – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion F.D.P.: Verbind- lichkeit der Europäischen Grund- rechtecharta und Beitritt der Euro- päischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion PDS: Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechtecharta (Drucksachen 14/3387, 14/3368, 14/3322 14/3513, 14/3800) . . . . . . . . . 11022 B Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . . . 11022 C Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11025 A Peter Altmaier CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 11025 B Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11027 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 11028 C Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . . . . 11030 A Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen) . . . . . . 11030 D Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11032 A Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Erika Simm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände- rung des Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 14/3763) . . . . . . . . . . . . . . . . 11033 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11033 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11035 A Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Ina Lenke (F.D.P.) zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeserzie- hungsgeldgesetzes (Drucksache 14/3808) (Tagesordnungspunkt 20 a) . . . . . . . . . . . . . . . 11036 A Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Heinz Wiese (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (114. Sitzung, Tagesordnungspunkt 7 a) 11036 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbe- hinderter (Tagesordnungspunkt 24 a) . . . . . . 11037 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Aktuellen Stunde: Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugenvernehmungen im 1. Untersuchungs- ausschuss des Deutschen Bundestages zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern und dem Zeugen Dr. Kohl (Zusatztagesord- nungspunkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11038 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern (Grundstücksrechtsänderungsgesetz) (Tages- ordnungspunkt 23 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11039 B Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 11039 B Andrea Voßhoff CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11040 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11041 D Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11042 C Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11043 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 11043 C Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Er- gänzung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften (Vermögensrechtsergänzungsge- setz) (Zusatztagesordnungspunkt 15) . . . . . . 11044 C Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11044 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 11045 B Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11046 B Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . 11047 C Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 B Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 D Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . . 11049 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000IV Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zu den Anträgen: – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Die Rechte der Bürger stärken – Für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Eu- ropäischen Union – Verbindlichkeit der Europäischen Grund- rechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechts- konvention – Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechtecharta (Tagesordnungspunkt 25) . . . . . . . . . . . . . 11050 C Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11050 D Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines fünften Gesetzes zur Än- derung des Strafvollzugsgesetzes (Tagesord- nungspunkt 26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11051 C Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11051 C Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11053 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11054 C Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11055 A Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11055 C Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 11056 A Anlage 10 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11057 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 V Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 Vizepräsidentin Anke Fuchs 11033 (C) (D) (A) (B) 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11035 (C) (D) (A) (B) Adler, Brigitte SPD 07.07.2000* Baumann, Günter CDU/CSU 07.07.2000 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 07.07.2000* Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 07.07.2000 Bohl, Friedrich CDU/CSU 07.07.2000 Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 07.07.2000Wolfgang Brunnhuber, Georg CDU/CSU 07.07.2000 Büttner (Ingolstadt), SPD 07.07.2000Hans Bulmahn, Edelgard SPD 07.07.2000 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 07.07.2000Peter Harry Catenhusen, SPD 07.07.2000Wolf-Michael Flach, Ulrike F.D.P. 07.07.2000 Formanski, Norbert SPD 07.07.2000 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 07.07.2000 Prof. Frick, Gisela F.D.P. 07.07.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 07.07.2000 Friedrich (Altenburg), SPD 07.07.2000Peter Gebhardt, Fred PDS 07.07.2000 Girisch, Georg CDU/CSU 07.07.2000 Goldmann, F.D.P. 07.07.2000Hans-Michael Götz, Peter CDU/CSU 07.07.2000 Griese, Kerstin SPD 07.07.2000 Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/ 07.07.2000*DIE GRÜNEN Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 07.07.2000DIE GRÜNEN Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 07.07.2000 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 07.07.2000 Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 90/ 07.07.2000Angelika DIE GRÜNEN Lambrecht, Christine SPD 07.07.2000 Lennartz, Klaus SPD 07.07.2000 Lippmann, Heidi PDS 07.07.2000 Moosbauer, Christoph SPD 07.07.2000* Müller (Berlin), PDS 07.07.2000Manfred Niebel, Dirk F.D.P. 07.07.2000 Oesinghaus, Günter SPD 07.07.2000 Raidel, Hans CDU/CSU 07.07.2000* Rauen, Peter CDU/CSU 07.07.2000 Romer, Franz CDU/CSU 07.07.2000 Scharping, Rudolf SPD 07.07.2000 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 07.07.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 07.07.2000Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 07.07.2000 Schuhmann (Delitzsch), SPD 07.07.2000Richard Schumann, Ilse SPD 07.07.2000 Schur, Gustav-Adolf PDS 07.07.2000 Schwalbe, Clemens CDU/CSU 07.07.2000 Sehn, Marita F.D.P. 07.07.2000 Dr. Solms, Hermann F.D.P. 07.07.2000Otto Sothmann, Bärbel CDU/CSU 07.07.2000 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 07.07.2000 Steen, Antje-Marie SPD 07.07.2000 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 07.07.2000* Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 07.07.2000 Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 07.07.2000 Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 07.07.2000DIE GRÜNEN Prof. Weisskirchen SPD 07.07.2000*(Wiesloch), Gert Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 07.07.2000* Wohlleben, Verena SPD 07.07.2000 Zapf, Uta SPD 07.07.2000* * für die Teilnahme an der 9. Jahrestagung der ParlamentarischenVersammlung der OSZE entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Ina Lenke (F.D.P.) zur Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände- rung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (Druck- sache 14/3808) (Tagesordnungspunkt 20 a) Die Fraktion der F.D.P. stimmt diesem Entschlie- ßungsantrag zu. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Heinz Wiese (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Ver- antwortung und Zukunft“ (Drucksachen 14/3206 und 14/3459) (114. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 7 a) 1. Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erin- nerung, Verantwortung und Zukunft“ kommt der Deut- sche Bundestag seiner von der deutschen Geschichte auf- gegebenen Verantwortung nach, eines der furchtbarsten Kapitel unserer jüngsten Vergangenheit – die Entrech- tung, Verschleppung, Misshandlung und Ausbeutung von Sklaven- und Zwangsarbeitern – aufzuarbeiten. Wir bitten die Opfer um Vergebung. Mit diesem Gesetz übernehmen wir erneut und weltweit sichtbar die Verant- wortung für die Geschichte. Damit knüpfen wir an das Entschädigungs- und Versöhnungswerk an, das von Konrad Adenauer begonnen wurde. Insbesondere jene, die – hoch betagt und vielfach gebrechlich – bis heute noch nicht von den umfangreichen Wiedergutmachungs- und Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland erreicht wurden und als Opfer der Zwangs- arbeit unsäglich gelitten haben, erwarten zu Recht ein Zei- chen der Wiedergutmachung und Versöhnung. 2. Einen Schlussstrich unter das dunkelste Kapitel un- serer Geschichte, die Verbrechen der Nazi-Tyrannei, kann und darf es nicht geben. Von der sich daraus ergebenden besonderen historischen Verantwortung unseres Landes können wir uns weder durch Worte noch durch Geld lö- sen. Aber dies kann nicht bedeuten, dass wir Jahr für Jahr in neue Entschädigungsdebatten eintreten und dadurch zwangsläufig in vielen Ländern der Welt und bei vielen Menschen Hoffnungen erwecken, die nicht erfüllt werden können. Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts wollen die Bun- desrepublik Deutschland und deutsche Unternehmen mit der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ die bisherigen umfangreichen Wiedergutma- chungsregelungen ergänzen und ein Zeichen ihrer mora- lischen Verantwortung für diese Geschehnisse setzen. Ab- schließend kann dies nur in finanzieller Hinsicht sein. 3. Weil wir den Blick nach vorne richten müssen, ist der noch zu etablierende Zukunftsfonds von überragen- der Bedeutung. Ausgestattet mit einem Vermögen von 700 Millionen DM muss er jetzt mit Leben erfüllt werden. Insbesondere mit Projekten, von denen vor allem junge Menschen profitieren sollen. Weil der Zukunftsfonds auf Dauer angelegt ist, kann und wird er in den kommenden Jahren für ein friedliches Miteinander der Menschen von besonderer Bedeutung sein. 4. Wer Zukunft gestalten will, darf sie nicht mit dem belasten, was bereits seit langem abgeschlossen ist. Dies gilt insbesondere für die Frage der Reparationen. Spätestens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier- Vertrages vom 12. September 1990 können derartige For- derungen aus völkerrechtlichen Gründen nicht mehr ge- gen die Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekräftigt, dass sich auch durch dieses Gesetz die Frage der Repara- tionen nicht neu stellt. 5. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Stiftung noch in diesem Jahr mit einem Anteil in Höhe von 5 Milliar- den DM auszustatten. Die Stiftungsunternehmen haben für die Unternehmen der deutschen Wirtschaft erklärt, dass sie sich in der Verpflichtung sehen, dass auch der von der Stiftungsinitiative zugesagte Anteil in Höhe von 5 Milliarden DM umgehend gezahlt wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt allen Unter- nehmen, die sich bislang bereit erklärt haben, ihren Anteil in das Fondsvermögen einzuzahlen. Dieser Dank gebührt insbesondere den Gründungsunternehmen der Stiftungsi- nitiative der Deutschen Wirtschaft und denjenigen Fir- men, die sich am Stiftungsvermögen beteiligen, obwohl sie erst nach 1945 gegründet wurden und deshalb nie in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt wa- ren. Wir sehen es als unbedingt erforderlich an, dass insbe- sondere diejenigen Unternehmen, die oder deren Rechts- vorgänger Sklaven- oder Zwangsarbeiter eingesetzt ha- ben, unverzüglich ihren Beitrag zur Finanzierung leisten. 6. Für uns ist von besonderer Bedeutung, dass mög- lichst rasch mit der Auszahlung der Stiftungsmittel an die jeweiligen Partnerorganisationen und von dort mit der Auszahlung der Leistungen an die heute betagten und vielfach kranken oder gebrechlichen Opfer begonnen werden kann. Voraussetzung hierfür ist neben der not- wendigen Mittelbereitstellung die rechtskräftige Abwei- sung aller vor den US-Gerichten anhängigen Klagen. Wir bitten die Kläger und ihre Rechtsvertreter, dafür Sorge zu tragen, dass möglichst rasch mit der Auszahlung der Stif- tungsmittel an die Opfer begonnen werden kann. Wir gehen dabei davon aus, dass durch dieses Gesetz und die damit verbundenen Abkommen und Erklärungen ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen insbesondere in den USA bewirkt wird. 7. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun- desregierung, das noch zu bildende Kuratorium und den Stiftungsvorstand auf, durch geeignete Maßnahmen si- cherzustellen, dass die Stiftungsmittel die Leistungsbe- rechtigten nach Maßgabe des Gesetzes auch tatsächlich in voller Höhe erreichen. Wir fordern die Bundesregierung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011036 (C) (D) (A) (B) auf, den Deutschen Bundestag jährlich über die Arbeit der Stiftung, die Verteilung der Stiftungsmittel sowie über die Initiativen und Projekte des „Zukunftsfonds“ zu unter- richten. 8. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht es als un- abdingbar an, dass nach diesem Gesetz Leistungsberech- tigte unabhängig von ihrem Wohnsitz sowie unter Berücksichtigung der gesetzlichen Gestaltungsmöglich- keiten die Chance auf gleiche Leistungen erhalten. Wir sind besorgt über eine mögliche Unterfinanzierung des Plafonds für Personenschäden der in diesem Gesetz be- zeichneten sechsten Partnerorganisation (IOM), die jene Opfer zu betreuen hat, die nicht in Ländern wohnen, für die eine andere Partnerorganisation zuständig ist. Ob und inwieweit diese Sorge berechtigt ist, kann aber erst nach dem Eingang der Anträge von allen Opfern abschließend beurteilt werden. 9. Wir bitten die Unternehmen der deutschen Wirt- schaft, die unter dem NS-Regime Sklaven- und Zwangs- arbeiter beschäftigt haben, bzw. ihre Rechtsnachfolger so- wie die Länder und Kommunen, zur geeigneten Umset- zung von § 18 des Gesetzes (Auskunftsersuchen) die notwendigen Auskünfte und Unterlagen zum Nachweis der Leistungsberechtigung der Opfer so rasch wie mög- lich zu erteilen bzw. herauszugeben. Sofern erforderlich, sollten sie die Vernetzung der Archive verbessern, um da- mit den Opfern und Partnerorganisationen den Nachweis der Leistungsberechtigung zu erleichtern. Kopien der an- geforderten und benötigten Unterlagen sollten ebenso wie Angaben über bereits an ehemalige Zwangsarbeiter ge- zahlte Leistungen an die nach diesem Gesetz bezeichne- ten Partnerorganisationen weitergegeben werden. Wir bitten die Bundesregierung, durch zusätzliche or- ganisatorische, finanzielle oder personelle Maßnahmen die Leistungsfähigkeit des Archivs des Internationalen Suchdienstes in Arolsen zu erhöhen, um den einzelnen Opfern und den Partnerorganisationen den Nachweis der Leistungsberechtigung zu erleichtern. 10. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in der Er- richtung des Zukunftsfonds innerhalb der Stiftung eine besondere Chance, der Verantwortung von Staat, Gesell- schaft und Privatwirtschaft gerecht zu werden. Hierdurch wird auch den kommenden Generationen die Möglichkeit eröffnet, die Erinnerung an das NS-Unrecht weiter wach zu halten und der Ausbreitung von extremistischem und rassistischem Gedankengut sowie von totalitären Syste- men aller Art entgegenzuwirken. Wir sehen es deshalb als notwendig an, Schwerpunkte auf Projekte zu legen, die dem Jugendaustausch, der Ver- söhnung und Völkerverständigung, der Achtung von Menschenrechten und für die Pflege der Beziehungen zu überlebenden Opfern dienen. Dabei ist auch die Arbeit von und mit Zeitzeugen von Bedeutung. Darüber hinaus können in einer Übergangszeit auch Projekte im Interesse der Opfer und ihrer Hinterbliebenen gefördert werden. Die Mittel des Zukunftsfonds sind zusätzliche Auf- wendungen des Bundes und der deutschen Wirtschaft. Sie dürfen keinesfalls Finanzierungsersatz von bisher durch die öffentliche Hand geförderten Maßnahmen sein. Das Kuratorium wird gebeten zu prüfen, inwieweit ein eigener Beirat für die Konzeption des Zukunftsfonds berufen wer- den sollte. 11. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit ge- zwungen haben, oder mit deren Nachfolgestaaten Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden deutschen Opfer von diesen Staaten eine – der deutschen Regelung entsprechende – Entschädigung in Form einer humanitären Geste erhalten. 12. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundes- minister a. D. Dr. Otto Graf Lambsdorff für seine her- vorragende Arbeit als Beauftragter der Bundesregierung auf diesem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet. Sie bittet ihn darum, seine Kenntnisse und Erfahrungen auch weiterhin der zu gründenden Stiftung zur Verfügung zu stellen. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur na- mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter (Tagesordnungspunkt 24 a) Erstmals legt eine Bundesregierung ein Gesetz zur Bekämpfung der unakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten vor – dies ist schon ein Wert an sich. Es enthält positive Ansätze, ist aber dennoch kein Reformgesetz, das den Erfordernissen entspricht, die sich aus der besonders schwierigen Situation für Menschen mit Behinderungen daraus ergibt, dass sie ihre Existenz aufgrund der Arbeitsmarktsituation nur selten durch ei- gene Erwerbstätigkeit sichern und sich so am Leben der Gesellschaft beteiligen können. Meine Stimmenthaltung zu dem von der Bundesregie- rung vorgelegten Gesetz begründe ich daher wie folgt: Erstens. 37,9 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber beschäftigen gegenwärtig überhaupt keinen einzigen Arbeitnehmer und zahlen stattdessen pro nicht besetzten Arbeitsplatz jeden Monat 200 DM als Aus- gleichsabgabe, die als Betriebsausgabe steuerlich geltend gemacht werden kann. Die nahezu doppelt so hohe Ar- beitslosenrate von Schwerbehinderten steht im Gegensatz zu Geist und Buchstaben des Diskriminierungsverbots von Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Zweitens. Das Gesetz soll dazu beitragen, dieser Aus- grenzung von Menschen mit Behinderungen in einem Kernbereich der Gesellschaft entgegenzuwirken. Dieser Ansatz ist zu begrüßen. Doch in der Umsetzung zeigen sich erhebliche Mängel und Unklarheiten. Bereits die Zielstellung bleibt hinter dem verkündeten Anspruch zurück. Im Text des Gesetzes – Art. 1 – geht es darum, „die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten“ zum Oktober Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11037 (C) (D) (A) (B) 2002 um mindestens 25 Prozent zu verringern. In der Be- gründung zum Gesetzentwurf wird dagegen als Ziel for- muliert, „etwa 50 000 arbeitslose Schwerbehinderte kurz- fristig möglichst dauerhaft auf den allgemeinen Arbeitsmarkt einzugliedern“. Wir brauchen mindestens 50 000 voll- wertige Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, aber keine potemkinschen Dörfer. Es ist allgemein be- kannt, dass viele Betroffene über Berufsunfähigkeit und Frühverrentung aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen werden. Drittens. Eine Neuordnung des Systems von Beschäf- tigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist in der Tag not- wendig. Aber die Absenkung der Beschäftigungspflicht- quote von 6 auf 5 Prozent ist das falsche Signal an die Arbeitgeber – selbst wenn sie nur zeitlich befristet und für den Fall der Nichterreichung der von der Regierung definierten Ziele angewendet werden soll. Jetzt heißt es, 5 Prozent seien eine „realistische“ Quote. Und wenn die Besserung nicht eintritt – denn die Regierung kann ja die Einstellung von Schwerbehinderten nicht erzwingen – heißt es dann, dass eben die 5 Prozent unrealistisch wa- ren? Wird man dann den Arbeitgebern über 4 Prozent „an- bieten“, weil dies dann eben „leider realistischer“ ist als eine Pflichtquote von 6 Prozent? Die Absenkung der Pflichtquote ist auch im öffentli- chen Dienst ein völlig falsches Signal, da somit seine in Teilbereichen vorhandene Vorbildwirkung ohne Not ge- schwächt wird. Denn nur bei den Arbeitgebern des Bun- des wird die Pflichtquote von 6 Prozent übertroffen. In den Behörden der Länder und erst recht in vielen Kom- munen besteht erheblicher Nachholbedarf. Gerade im Be- reich des öffentlichen Dienstes sollte die Pflichtquote eher noch angehoben werden. Eine im Gesetz vorgesehene Staffelung der Aus- gleichsabgabe ist im Ansatz richtig, aber viel zu niedrig in der Ausgestaltung. Sie bleibt eine milde Abgabe und ist auch mit der jetzigen Staffelung keine wirkliche Sanktion für die Arbeitgeber, die sich vor ihrer Pflicht drücken. Da- her hatte die PDS – ausgehend von den in der Anhörung zum Gesetz von Gewerkschaften und Behindertenverbän- den unterbreiteten Forderungen – in einem Änderungsan- trag vorgeschlagen, sie dort einsetzen, wo die Regierung aufhört, nämlich bei mindestens 500 DM, und sie dann mit 750 und 1 000 DM weiter zu staffeln. Aufgrund der im Gesetz vorgesehenen Kleinbetrieberegelung würden die kleinen und mittleren Unternehmen nicht erheblich mehr belastet als bisher. Viertens. Ich begrüße, dass die Regierung in ihrem Ge- setzentwurf erstmals eine langjährige Forderung der Be- hindertenverbände aufgreift und einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschreibt. Damit könnten neue Möglichkeiten geschaffen werden, eine stärkere Beteili- gung von Behinderten an Erwerbstätigkeit zu sichern. Zu- gleich deuten sich im Gesetzentwurf Einschränkungen an, zum Beispiel wird der Anspruch auf Übernahme von Kos- ten auf die – wörtlich – „notwendige Arbeitsassistenz“ be- zogen. Wer definiert hier für wen, was notwendig ist? Die PDS hatte daher vorgeschlagen, dass die notwendige Ar- beitsassistenz bedarfsdeckend sein sollte. Damit perso- nale Arbeitsassistenz auf einem hohen Niveau greifen kann, wurden in einem Änderungsantrag der PDS konkret fassbare Kriterien vorgeschlagen, die das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen sichern sollen. Auch dieser Vorschlag fand keine Berücksichtigung. Fünftens. Mit ihrem Gesetz verpassen Koalition und Bundesregierung die Chance zu weitergehenden Reform- schritten. So wurde es versäumt, von dem inzwischen an- tiquierten Behindertenbegriff abzugehen und ein moder- nes Verständnis dieses Begriffs einzuführen. Noch immer werden durch die Grenzziehung „anerkannter Grad der Behinderung von 50 Prozent“ viele Betroffene unterhalb der Schwerbehinderung ausgeschlossen. Versäumt wurde auch eine konsequentere Ausweitung von Mitbestim- mungsrechten, so positiv die vorgesehenen Integrations- vereinbarungen auch sein mögen, sofern sie denn greifen. Integrationsvereinbarungen können ein Fortschritt sein, solange sich Arbeitgeber daran halten. Denn wenn sie es nicht tun, hat dieses Verhalten für sie keine Folgen. Hinzu kommt die Anbindung der betrieblichen Integrationspla- nung an die Existenz von Schwerbehindertenvertretungen oder – falls solche nicht bestehen – von Betriebsräten. Praktisch bedeutet dies, dass es in Ostdeutschland im Be- reich der privaten Wirtschaft nur sehr punktuell zu be- trieblichen Integrationsplanungen kommen wird. Das Gesetz stärkt die Chancengleichheit für Frauen und Männer mit Behinderungen nur unzureichend. Des- halb habe ich mich bei der Abstimmung enthalten. Anlage 5 Zu Protokoll gegeben Rede zurAktuellen Stunde: Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugenvernehmungen im 1. Unter- suchungsausschuss des Deutschen Bundestages zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern und dem Zeugen Dr. Kohl (Zusatztagesord- nungspunkt 16) Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU): Mit dem gegen- wärtigen Theaterdonner im Untersuchungsausschuss und nun auch im Plenum des Deutschen Bundestags versucht die SPD, von ihrem eigenen Dilemma abzulenken. Unter großem Bohai wird ein Nebenkriegsschauplatz eröffnet, weil man beim eigentlichen Untersuchungsthema nicht vorankommt, weil der so überaus erfolgreichen Regie- rung Kohl eine Käuflichkeit von Regierungsentscheidun- gen nicht nachgewiesen werden kann, weil es sie auch gar nicht gab. Die Empörung der Sozialdemokraten ist umso mehr eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, als der Obmann unserer Fraktion im Untersuchungsausschuss niemals ei- nen Zweifel daran gelassen hat, dass er mit Herrn Dr. Kohl in Kontakt steht. Er hat selbstverständlich auch den Obmann der SPD darüber informiert. Zum anderen standen die sozialdemokratischen Mitglieder des Aus- schusses, selbst ständig im Kontakt mit dem Zeugen Dr. Peter Struck und ich möchte nicht wissen, welches Drehbuch hierbei abgesprochen wurde. Überhaupt täuschen die Sozialdemokraten sich und die Öffentlichkeit darüber, was ein Untersuchungsausschuss überhaupt zu leisten vermag. Gewiss sind Untersu- chungsausschüsse im Grundgesetz besonders erwähnt Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011038 (C) (D) (A) (B) und mit besonderen Rechten ausgestattet. Gleichwohl bleiben sie Untergliederungen des Deutschen Bundesta- ges und sind – nach wie vor – Mittel der politischen Aus- einandersetzung. Untersuchungsausschüsse haben die Aufgabe, Sach- verhalte im Streit der politischen Parteien aufzuklären. Sie üben dadurch parlamentarische Kontrolle aus. Das Verfahren im Untersuchungsausschuss ist aber ein politi- sches Verfahren, das in der Auseinandersetzung mit den politischen Argumenten der Gegenseite seinen Sinn fin- det. Es wird durch die Interessen der Fraktionen geprägt, bei denen die Mitglieder des Ausschusses als Politiker, nicht aber als Richter auftreten. Deshalb haben die Mit- glieder auch keine richterliche Funktion und keine rich- terliche Unabhängigkeit. Deshalb sind auch die Kontakte meiner Kollegen mit unserem Altbundeskanzler Dr. Kohl nicht zu beanstan- den, zumal sie erwiesenermaßen nicht unlauteren Abspra- chen über Zeugenaussagen gedient haben. Würde man die Maßstäbe der Befangenheit eines Richters an die Mitglieder des Untersuchungsausschusses anlegen, hätte der Vorsitzende des Ausschusses, unser Kollege Neumann, schon nach den ersten Sitzungen sei- nen Hut nehmen müssen. Kein Vorsitzender Richter hätte mit einem so wichtigen Zeugen wie dem Herrn Schreiber im stillen Kämmerlein über dessen Kenntnisse telefonie- ren dürfen, ohne sofort von seinem Amt entbunden wor- den zu sein. Nein, wir sind mit dem Untersuchungsausschuss im Verfahren der politischen Auseinandersetzung, was ge- rade auch die Aktuelle Stunde heute beweist. Es geht um die großen Erfolge von 16 Jahren der Regierung Kohl, welche die Sozialdemokraten kleinreden, ja tilgen wollen. Wer selbst keine Erfolge nachweisen kann, kann sie bei einem anderen nicht ertragen, schon gar nicht beim poli- tischen Gegner. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern (Grundstücksrechtsänderungs- gesetz) (Tagesordnungspunkt 23 a) Hans-Joachim Hacker (SPD): Mit dem vorliegen- den Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungsgesetzes nimmt der Gesetzgeber heute Klarstellungen vor, die für die Betroffenen von erheblicher Bedeutung sind. Die Re- gelungen stehen in der Kontinuität der Gesetzgebung seit der deutschen Einheit. Die Koalitionsfraktionen beweisen mit diesem Gesetzentwurf, dass sie alles Erforderliche tun, um in den neuen Ländern Rechtsklarheit und Rechts- frieden auf dem Gebiet der Vermögensfragen zu schaffen. Ich kann die Opposition daher nur auffordern, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich kann nur auf einige Aspekte des Gesetzentwurfes eingehen. Ich meine jedoch, dass gerade die von mir an- gesprochenen Themen von außerordentlicher Bedeutung sind. Ausgangspunkt für das Gesetzgebungsverfahren war die Umsetzung des vom Bundesverfassungsgericht erteil- ten Auftrages, für den Zeitraum vom 22. Juli 1992 bis zum 31. Dezember 1994 dem Grundstückseigentümer bei Fremdnutzung einen Nutzungsentgeltanspruch zu ver- schaffen. Diesen Auftrag erfüllen wir mit diesem Gesetz und haben, einer guten Tradition des Deutschen Bundes- tages folgend, nach der Anhörung vom Montag dieser Woche noch einige Präzisierungen vorgenommen, die be- reits in den Ausschusssitzungen ausführlich erörtert wor- den sind. Es geht hierbei zum einen um die Frage, unter welchen Umständen der Grundstückseigentümer auch für die Zeit vom 1. Januar 1995 bis zum 31. März 1995 einen Nutzungsentgeltanspruch erwirbt. Zum anderen geht es darum, welcher Stichtag bei der Bemessung des zugrunde zu legenden Grundstückswertes herangezogen wird. Die Bestimmung des Entgeltes nach dem Bodenwert und dem Restwert eines überlassenen Gebäudes zum 22. Juli 1992 ist sachgerecht und verhindert Streit zwischen den Part- nern. So sehr ich für vereinfachende Regelungen bin, muss doch auch an dieser Stelle nochmals nachdrücklich der PDS-Vorschlag zurückgewiesen werden, der eine Pauschalierung des Entgeltes für alle betroffenen Rechts- verhältnisse vorsah. Dieser Vorschlag ist lebensfremd und vernachlässigt völlig marktwirtschaftliche Überlegungen. Denn wie kann man allen Ernstes den Nutzungsentgelt- anspruch für ein Grundstück in Berlin-Mitte mit dem An- spruch für ein Grundstück in einem strukturschwachen Landkreis in den neuen Ländern vergleichen? Die Regelung zu Artikel 233 § 2 a EGBGB bezüglich des Nutzungsentgeltanspruches ist verbunden worden mit der Klärung weiterer Fragen. Uns kam es darauf an, klar- zustellen, dass die von den Nationalsozialisten verfolgten und enteigneten Gewerkschaften, so wie das Vermögens- gesetz es vorsieht, in ihre früheren Rechte eingesetzt wer- den. Die ausdrückliche Regelung, wonach die gewerk- schaftlichen Nachfolgeorganisationen ihre Ansprüche unmittelbar oder mittelbar auf gewerkschaftliche Immo- bilienverwaltungsgesellschaften abtreten können, führt zu einer Gleichbehandlung mit anderen verfolgten Grup- pen aus der Zeit von 1933 bis 1945. Wer diese Gleichstel- lung will, der muss auch die Kraft aufbringen, den ge- werkschaftlichen Organisationen im Investitionsvorrang- verfahren die Rechte eines Beteiligten einzuräumen. Diese Verfahrensweise, die in der Praxis schon so ge- handhabt wird, muss eine konkrete Rechtsgrundlage be- kommen. Damit es klar ist: Wir schaffen hier keine neuen Restitutionsansprüche, diese ergeben sich bereits aus der geltenden Fassung des § 1 Absatz 6 Vermögensgesetz. Daher ist es für mich völlig unverständlich, dass die Op- position an dieser Stelle blockiert. CDU/CSU, F.D.P. und PDS wollen mit ihren Forderungen die gewerkschaft- lichen Rückerstattungsrechte, die sich im Übrigen aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ableiten, beschneiden. Völlig abwegig ist es, die Rückerstattungsansprüche der NS-Verfolgten, zu deren Rechtsgrundlagen ich bereits Ausführungen gemacht habe, mit den Restitutionsan- sprüchen der DDR-Geschädigten gleichzusetzen. Unver- ständlich ist für mich, dass sich die PDS dieser Argu- mentation anschließt, tritt sie doch sonst nach ihrem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11039 (C) (D) (A) (B) Selbstverständnis als antifaschistische Partei auf, die demzufolge auch die Vermögensinteressen der Naziopfer vertreten müsste. Hier hat wohl wieder ihre taktische Überlegung gesiegt, aktuellen Forderungen von Interes- sengruppen nachzugehen, ohne die rechtlichen Grund- lagen zu berücksichtigen. Eine weitere wichtige rechtliche Klarstellung im Ge- setzentwurf ist darin zu sehen, dass die Frage der Erlan- gung von Gebäudeeigentum durch LPG geregelt wird. Im bisherigen Gesetzestext gab es hier Unebenheiten. Klar ist nun, dass diese Betriebe selbstständiges Eigentum nur an von ihnen errichteten Gebäuden erlangt haben. Mit dieser Regelung greifen wir im Übrigen die damalige Rechts- lage in der DDR auf. Insbesondere nach einem Gespräch mit Herrn Parla- mentarischen Staatssekretär Dr. Thalheim möchte ich auf folgenden Punkt hinweisen: Die Klarstellung zur Begrün- dung von Gebäudeeigentum für LPG kann nicht dazu führen, dass werthaltige bauliche Investitionen und von den LPG bei Rechtsträgerwechsel am Grundstück ge- zahlte Ablösebeträge für den Zeitwert der baulichen In- vestition in der Zukunft bei Veräußerungen der Grund- stücke unberücksichtigt bleiben. Der Rechtsanspruch für die Auskehrung entsprechender Forderungsbeträge ergibt sich meines Erachtens zweifelsfrei aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 812 ff. BGB sowie den Regelungen des § 7 Abs. 2 Vermögensgesetz. Dies ist jedenfalls die In- tention, die für mich maßgeblich ist. Dringend notwendig ist auch die im Gesetzentwurf enthaltene Klarstellung im EGBGB bezüglich des Über- gangs volkseigener Forderungen Grundpfandrechte und Verbindlichkeiten auf Kreditinstitute in der neuen Rechts- form. Sie sehen, wir haben einen in sich schlüssigen Gesetz- entwurf vorgelegt. Ich bitte sie um Zustimmung in der zweiten und dritten Lesung. Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Mit der vorliegenden Initiative stellen die Regierungsfraktionen heute ein Ge- setz zur Abstimmung, das den ebenso unscheinbaren wie komplizierten Namen „Grundstücksrechtsänderungsge- setz“ trägt. In erster Linie soll es – so die Regierungsfrak- tionen – einen Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfas- sungsgerichtes umsetzen. Er sieht deshalb auch vor, dass Grundstückseigentümer in den neuen Ländern einen ge- setzlichen Anspruch auf Zahlung von Nutzungsentgelten durch den jeweiligen zum Besitz des Grundstücks Be- rechtigten auch für den Zeitraum von Juli 1992 bis 31. März 1995 erhalten sollen. Diesen Handlungsauftrag hat man dann genutzt, im Huckepackverfahren gleich noch einige andere Änderun- gen und Ergänzungen im Vermögensgesetz, in der Grund- buchbereinigung und in den Übergangsvorschriften des EGBGB vorzunehmen. In der Begründung heißt es dazu unter anderem – ich zitiere auszugsweise – „Bei der Be- wältigung der mit dem Immobilienrecht der neuen Länder im Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten haben sich in der rechtlichen Praxis verschiedene Bedürfnisse für größtenteils technische Änderungen ... herausgebildet“. Soweit so gut und nicht zu beanstanden. Soweit sich der Entwurf also mit diesen Vorgaben be- fasst, haben wir auch schon in der Ausschussberatung un- sere Zustimmung signalisiert und deutlich gemacht, dass wir die rechtstechnischen und durch die Rechtsprechung notwendig gewordenen Klarstellungen mittragen. Eine Einschränkung müssen wir hierbei in Auswertung der An- hörung am Montag allerdings noch machen und darauf habe ich bereits in der Ausschusssitzung hingewiesen. So- wohl bei der rechtstechnischen Umsetzung als auch bei der endgültigen Festlegung der Höhe des mit dieser Ini- tiative neu zu schaffenden gesetzlichen Anspruchs des Grundstückseigentümers auf Zahlung eines Nutzungsent- gelts im Rahmen des sachenrechtlichen Moratoriums für die Zeit von 1992 bis 1994 bzw. 1995 hat die Anhörung überdeutlich gezeigt, dass hier noch rechtstechnische Mängel bestehen. Auch wenn wir den Regelungsansatz über den redu- zierten Erbbauzins als rechtssystematisch richtig ansehen und Sie nach der Anhörung noch Korrekturen vorgenom- men haben, sind diese für uns nicht ausreichend. Zur ab- schließenden Klärung der am Montag deutlich geworde- nen Bedenken zur Frage der Auswirkungen auf bereits ab- geschlossene Bereinigungsfälle, zu Fragen der klaren und vor Fehlinterpretationen geschützten Formulierungen hätten wir uns ein zeitlich solideres Beratungsverfahren gewünscht. Der frühere Bundespräsident Herzog hat ein- mal von einem Ruck gesprochen, der durch die Gesell- schaft gehen soll. Von einem Hauruck hat er nichts gesagt. Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio- nen, an Ihre Art und Weise Gesetze durchzupauken, sind wir ja bereits gewöhnt. Bei dieser so komplexen Materie eine von uns beantragte Anhörung so kurzfristig anzube- raumen und ohne Vorlage der Anhörungsprotokolle be- reits zwei Tage danach abschließend zu beraten, lässt für uns nur den Schluss zu, ein Gesetz durchpauken zu wol- len, komme, was da wolle. Im Interesse der Betroffenen werden wir daher dazu unsere Hand nicht reichen. Ihre Argumentation, der Gesetzgebungsauftrag hätte bereits zum 30. Juni dieses Jahres umgesetzt sein müssen, ändert daran auch nichts. Ich kann dem nur entgegnen: Warum haben wir uns dann nicht früher in diesem Hohen Hause damit beschäftigt? Zu den inhaltlichen Kritikpunkten, weshalb wir dem Entwurf nicht zustimmen, zählt Ihre beabsichtigte Privi- legierung der Gewerkschaften. Der sehr geschätzte Kol- lege Wolfgang von Stetten hat daher dieser Initiative dann auch sehr schnell den wahren Namen gegeben. Er nennt es schlicht ein „Gewerkschaftsvermögensvermehrungs- gesetz“. Ja, meine Damen und Herren, diese Bezeichnung müssen Sie sich angesichts des Inhaltes schon gefallen lassen. Und wenn Sie uns diese verbale Bewertung als op- positionelle Polemik vorwerfen sollten, dann darf ich doch an dieser Stelle an die Anhörung zu diesem Gesetz am vergangenen Montag erinnern. Der nahezu einstim- mige Appell der Sachverständigen in der Anhörung am vergangenen Montag müsste Ihnen doch eigentlich noch im Ohr klingen. Sie begründen Ihre Initiative der politisch gebotenen Gleichstellung der gewerkschaftlichen Nachfolgeorgani- sationen und deren Immobiliengesellschaft BIO mit der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011040 (C) (D) (A) (B) Jewish Claims Conference against Germany GmbH bei der Geltendmachung von Ansprüchen nach dem Vermö- gensgesetz mit dem historischen Ansatz der nationalsozi- alistischen Verfolgung und den daraus resultierenden Re- gelungen im Vermögensgesetz. Weil die BIO nach Ihrer Darstellung ähnlich wie die JCC GmbH ausschließlich zum Zwecke der besseren Durchsetzung von Restituti- onsansprüchen und nicht zu deren Verwertung gegründet worden sei, wollen Sie der BIO die Erleichterungen zu- kommen lassen, die der JCC GmbH vom Gesetzgeber bei der Geltendmachung von abgetretenen Ansprüchen zuge- billigt wurden. Sie sprechen dabei von der Erleichterung der Abwicklung von Ansprüchen. Wovon Sie nicht spre- chen, meine Damen und Herren von der Regierungsfrak- tion, ist, dass die Wirkungen dieser Erleichterungen eine massive Konzentration der Anspruchsdurchsetzung sind, die im Lichte der schwierigen wirtschaftlichen Situation gerade auch der regionalen Wohnungsbaugesellschaften zu einer erheblichen Beeinträchtigung der regionalen In- vestitionstätigkeit führt. Ich denke, die praktischen Erfah- rungen der Vertreter in der Anhörung haben dies über- deutlich gemacht. Sie müssen sich aber auch die Frage gefallen lassen, wieso Sie diesen Freifahrtschein für die gewerkschaftli- che Immobiliengesellschaft nicht auch anderen Restituti- onsberechtigten zukommen lassen wollen. Das mit dieser Regelung in bestimmten – nicht unwahrscheinlichen – Sachverhaltskonstellationen der BIO in konzentrierter Form finanzielle Ansprüche erwachsen, erwähnen Sie nicht. Ist nämlich die BIO künftig Beteiligte am Investiti- onsvorrangsverfahren und erreicht sie es in dieser Funk- tion, dass eine Veräußerung an einen investitionsbereiten Dritten nicht stattfindet, dann kann sie die Mieterlösaus- kehr beanspruchen. Aber auch die Suspendierung von der Beurkundungs- pflicht bei der Übertragung von Ansprüchen auf die BIO ist nicht nachvollziehbar. Sie wissen, dass der Beurkun- dung – als der wichtigsten und strengsten Formvor- schrift – eine außerordentliche Bedeutung zukommt, die im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht durch Ausnahmeregelungen durchbrochen werden sollte. Wenn von diesem Grundsatz einmalig für die JCC eine Ausnahme gemacht wurde, dann ist dies ausschließ- lich in der Verbindung mit dem internationalen Pri- vatrecht zu sehen. Dieser Ausnahmegrund kann jedoch für die BIO nicht gelten. In Ihrer Initiative ist weiter vorgesehen, dass zur Rea- lisierung der Ansprüche nach § 3 VermG eine Bündelung der Anteile zulässig sein soll, die für sich gesehen nicht das gesetzlich vorgeschriebene Quorum erreichen würden und deshalb einzeln auch nicht geltend gemacht werden könnten. Zu Recht hat Herr Staatssekretär Dr. Pick darauf hingewiesen, dass diese Bündelung der Anteile, die die 20-Prozent-Hürde überbrückt, in der Gesetzesformulie- rung nicht allein für die Gewerkschaften gilt, sondern auch für alle Rechtsnachfolger. Gleichwohl dürften fak- tisch die Gewerkschaften Hauptbegünstigte dieser Rege- lung sein. Dies lässt sich sicher noch damit begründen, dass die Gewerkschaften eben auch Kleinanteile an den Unter- nehmen hatten, die zwischenzeitlich heute in der Hand der BIO sind. Aber Sie müssen dann auch die Frage be- antworten, wieso Sie mit dieser Initiative die Tür zur Gel- tendmachung der gebündelten Ansprüche mit In-Kraft- Treten dieses Gesetzes auch gleich wieder zumachen wollen, also einen Stichtag einführen wollen? Miss- brauchsverhinderung und die Vermeidung der Gefahr der Zersplitterung von Unternehmen sind sicher berechtigte Gründe. Die Konsequenz dieser Regelung – ich darf das einmal salopp ausdrücken: Tür auf, Gewerkschaften rein, Tür wieder zu – halte ich im Lichte unserer Verfassung für nicht tragbar. Im Übrigen darf ich an dieser Stelle auf die erheblichen verwaltungstechnischen Umsetzungsprobleme hinweisen, die ja auch in der Anhörung sehr deutlich wurden. Die Sta- tements in der Anhörung waren ja nahezu schon Appelle, die Abwicklung der Restitutionsansprüche dadurch nicht noch zusätzlich und auch noch erheblich zu verkompli- zieren. Jede Investitionsbremse, die jetzt noch zusätzlich in das Vermögensgesetz Einzug halten soll, erschwert den Fortgang der Abwicklung vermögensrechtlicher An- sprüche. Dem können wir nicht zustimmen. Lassen Sie mich abschließend noch auf unseren Antrag auf Drucksache 14/1003 eingehen, in dem wir Sie auffor- dern, die Entschädigungspflicht nach dem Vermögensge- setz bei der Einziehung von beweglichen Sachen zu re- geln. An der Drucksachennummer können Sie erkennen, dass dieser Antrag mehr als ein Jahr alt ist. Hin- und her- geschoben wurde die Umsetzung unserer Initiative: erst als Annex im Vermögensrechtsergänzungsgesetz, das heute gleich im Anschluss beraten wird; dann fand sie sich kurzfristig in diesem Artikelgesetz und seit Mittwoch fin- den sich die Entschädigungsregelungen wieder im Ver- mögensrechtsergänzungsgesetz. Dies zeigt beispielhaft Ihren Umgang mit Gesetzesinitiativen. Zu dem Inhalt unserer Initiative wird gleich noch der Kollege von Stetten einige Ausführungen machen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das Artikelgesetz bringt Änderungen und Korrek- turen für verschiedene andere Gesetze zur Regelung von Vermögensfragen nach der deutschen Vereinigung in der ehemaligen DDR. Wieder mal folgt der Bundestag damit in einigen Bereichen den Vorgaben des Bundesverfas- sungsgerichts. Das betrifft insbesondere den Artikel 233 § 2 a EGBGB. Bis zum 30. Juni 2000 soll eine Regelung geschaffen werden, die Grundstückseigentümern Nutzungsentgelt auch für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis 31. März 1995 zu- gesteht. Bisher war das anders geregelt. Aus gutem Grund, wie der Bundestag bei Erlass des Gesetzes meinte. Das Bundesverfassungsgericht war anderer Meinung und sah darin einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Schutz des Eigentums. Selbstverständlich kommen wir der Ent- scheidung des höchsten deutschen Gerichts nach und ge- ben nunmehr den Grundstückseigentümern auch für diese Zeitspanne einen Anspruch auf Nutzungsentgelt, auch wenn es schwerfällt, weil viele Nutzer nun mit erhebli- chen Nachzahlungen rechnen müssen. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Die Entscheidung des Gerichts ist für das Parlament bindend. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11041 (C) (D) (A) (B) Die Höhe dieses Anspruchs richtet sich nach den Re- gelungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes zu den Erbbauzinsen. Allerdings muss der Anspruch innerhalb von zwei Jahren geltend gemacht werden. Sonst verjährt er. Damit soll möglichst rasch Rechtssicherheit geschaf- fen werden. Die redlichen Nutzer von Grundstücken sol- len bald wissen, was auf sie zukommt und nicht nach wei- teren Jahren plötzlich mit der hohen Nachzahlung kon- frontiert werden. So weit wird die Opposition zustimmen. Anders ist es mit der Änderung des Vermögensgeset- zes in Art. 1 unseres Grundstücksrechtsänderungsgeset- zes. Hierzu hat auch eine besondere Anhörung stattge- funden. Um die Abwicklung ihrer Ansprüche nach dem Ver- mögensgesetz zu erleichtern, soll die Jewish Claims Conference ihre Rechte auf die gleichnamige GmbH ein- fach schriftlich übertragen können. Das ist noch unstrit- tig. Anders ist es mit der entsprechenden Regelung für die gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen. Sie sollen ebenso erleichtert ihre Ansprüche auf die BGAG Immobilien Ost übertragen können. Damit tragen wir ei- nem Anliegen der Gewerkschaften Rechnung. Das ist gerechtfertigt. Denn diese gewerkschaftliche GmbH wurde aus-schließlich, wie auch die Jewish Claims Con- ference GmbH, zur besseren Durchsetzung von Restitu- tionsansprüchen gegründet, nicht zu deren Verwertung durch Verkauf an Dritte und damit nicht zur Gewinn- erzielung. Vor allem aber hat die rechtliche Situation, die es zu re- geln gilt, ihren Ursprung in der NS-Zeit. Sie ist insoweit vergleichbar der der Ansprüche, deren Durchsetzung die Jewish Claims Conference zur Aufgabe hat. Diese Be- sonderheit eines Verfolgungstatbestandes rechtfertigt es, die Gewerkschaften in gewissem Maße zu privilegieren gegenüber anderen Unternehmen. Wichtig ist, dass mit der Regelung kein eigener Rechtsanspruch geschaffen wird, sondern nur eine Beteiligungsmöglichkeit am In- vestitutionsvorrangverfahren. Allerdings gibt es hier eine Einschränkung, dass die Beteiligung am Investitutions- vorrangverfahren nur dann gilt, wenn zurzeit des In- Kraft-Tretens des Gesetzes noch keine endgültige Ver- waltungsentscheidung getroffen wurde. Wenn CDU/CSU und F.D.P. hierin eine unzulässige Bevorzugung der Ge- werkschaften sehen wollen und dahinter gar eine Klien- telbedienung zu entdecken glauben, dann kann ich solche Vorwürfe für die Fraktion der Bündnisgrünen nur ent- schieden zurückweisen. Wir haben keinen Grund einer besonderen Klientelbedienung. Und die Argumente, die Regelung auch auf die gewerkschaftliche GmbH auszu- dehnen, überzeugen. Sie sind ein ausreichender Grund, ei- nen Unterschied zur Regelung für andere Unternehmen zu machen. Wenn Unternehmen, für die entsprechende Voraussetzungen gegeben sind, solche Anliegen an uns herantragen, sind wir gern bereit, diese zu prüfen und viel- leicht geeignete Veränderungen zu ergänzen, wenn die Si- tuation wirklich voll vergleichbar ist. Die Regelungen zur Aufteilung der Rechte an Vermö- gen und insbesondere Grundstücken aus der Hinterlas- senschaft der DDR werden immer komplizierter, unver- ständlicher und auch unübersichtlicher. Das heute zu ver- abschiedende Gesetzeswerk ist ein Beispiel dafür. Die Änderungen sind aber unvermeidbar, wenn es gilt, Ent- scheidungen des Verfassungsgerichts nachzukommen. Sie sind auch notwendig, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen und die gegensätzlichen Interessen besser auszu- gleichen. Die Regelungen sind für viele Menschen häufig von existenzieller Bedeutung. Es geht zum Beispiel um ge- werkschaftliches Wohnungsvermögen. Von der heute zu verabschiedenden Regelung können mehr als 6 000 Woh- nungen betroffen sein. Auch wenn kaum noch jemand durchblickt: Verab- schieden wir das richtige Gesetz noch heute vor der Som- merpause. Viele in der ehemaligen DDR warten darauf, die einen mehr bangend, die anderen mehr hoffend. Rainer Funke (F.D.P.): Dieser Gesetzentwurf ist wahrlich kein Meisterstück und wimmelt von handwerk- lichen Mängeln. Nicht nur, dass die vom Bundesverfas- sungsgericht vorgeschriebenen Fristen vom 30. Juni die- ses Jahres hinsichtlich der Entgeltlösung nicht eingehal- ten werden können, sondern auch die gleichzeitige Umgestaltung dieser notwendigen gesetzlichen Änderung zu einem Artikelgesetz, in dem Wichtiges und Unwichti- ges, formelles und materielles Recht durcheinander gere- gelt werden, ist nicht gelungen. Ich will im Einzelnen nicht auf die Art. 2 bis 7 einge- hen. Mit diesen Regelungen, insbesondere hinsichtlich des Nutzungsentgeltes, ist, glaube ich, eine tragfähige Lö- sung gefunden worden, auch wenn die betreffenden Ver- bände in der Anhörung zum Teil massive Kritik geäußert haben. Ich will aber auch zum Zustandekommen dieses Artikelgesetzes sagen, dass vor zwei Sitzungswochen die- ser Gesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen holter- diepolter eingebracht worden ist. Offensichtlich weil das Bundesjustizministerium nicht in der Lage war, ein Ge- setz rechtzeitig durch Kabinettsbeschluss zu verabschie- den und den Weg ordnungsgemäß über den Bundesrat zu beschreiten. Der Gesetzentwurf sollte schnell durchge- peitscht werden, im Übrigen mit dem inzwischen zurück- genommenen Ansinnen, noch Änderungen zum Vermö- gensrechtsänderungsgesetz vorzunehmen. Auf Interven- tion der Oppositionsparteien hat eine Anhörung stattgefunden, die ergeben hat, dass erhebliche Beden- ken, insbesondere hinsichtlich Art. 1, der gravierenden Bevorzugung der Gewerkschaften, bestehen. Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum den Ge- werkschaften gegenüber anderen gesellschaftlichen Kräf- ten oder auch Bürgern bessere Rechtspositionen hinsicht- lich des Vermögens, was sie unter der Naziherrschaft ver- loren haben, eingeräumt werden sollen. Dies gilt auch für die Frage des § 313 BGB. Mit anderen Worten: Warum sollen entsprechende grundbuchliche Vorgänge für Ge- werkschaften ohne Inanspruchnahme eines Notars beur- kundet werden? Zu Recht haben wir den Formzwang des § 313 BGB für alle grundbuchlichen Vorgänge vorge- geben. Die Rechtstellung aller gesellschaftlichen Kräfte muss gleich sein und deswegen habe ich erhebliche verfas- sungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Bevorzugung einer gesellschaftlichen Gruppierung. Aber offensichtlich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011042 (C) (D) (A) (B) hat im politischen Leben alles seinen Preis. Die Römer ha- ben dafür das Sprichwort: Manus manum lavat. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Die Art und Weise wie Einzelregelungen offener Vermögensfragen in der letzten Woche vor der Sommerpause durch den Bundestag gejagt werden, halte ich, offen gesagt, für unwürdig. So sollten Gesetzgebungsverfahren im Interesse der Solidität unse- rer Arbeit nicht gehandhabt werden. Ich habe zwei Be- merkungen zu dem Entwurf zu machen. Erstens zu Art. 1. Die Probleme, die mit den vorgese- henen Erleichterungen für die gewerkschaftlichen Nach- folgeorganisationen verbundenen sind, sind aus meiner Sicht nicht einfach. Einerseits verstehe ich, dass die Ge- werkschaften ähnlich behandelt werden wollen wie die Jewish Claims Conference. Die Gewerkschaften wurden vom faschistischen Regime verfolgt und ihr Vermögen wurde enteignet. Andererseits stehen dem berechtigte In- teressen der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland und letzten Endes der Mieter gegenüber. Die Leerstände von Wohnungen wegen ungeklärter Vermögensfragen sind schon jetzt sehr hoch. Durch die neuen Regelungen – so der Verband Sächsischer Wohnungsunternehmen – „be- steht die Gefahr, dass sinnvolle Schritte im Rahmen der Stabilisierung von Investitionen blockiert werden“. Mit der Möglichkeit der Bündelung von Ansprüchen wird – so der Verband – „die Vermögenszuordnung zehn Jahre nach der Wende nochmals erheblich beeinträchtigt“. Zweitens zu Art. 4 Nummer 2. Dort ist die Nachzah- lung von Nutzungsentgelten für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum 31. März 1995 geregelt. Ich vertrete dazu folgenden Standpunkt: Der Gesetzgeber kann sich natür- lich nicht über die Entscheidung des Bundesverfassungs- gerichts hinwegsetzen. Die vorgeschlagene Lösung, näm- lich die Begrenzung der Entgelte entsprechend den §§ 51, 43 und 45 Sachenrechtsbereinigungsgesetz, ist zwar nicht die schlechteste. Sie ist juristisch machbar. Aber wirt- schaftlich belastet sie vor allem die ostdeutschen Woh- nungsunternehmen ganz empfindlich. Auf der Anhörung des Rechtsausschusses am letzten Montag wurden ent- sprechende Zahlen genannt. Es wäre auch eine andere Lösung möglich gewesen, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls entsprochen und den Wohnungsunternehmen weniger finanzielle Lasten aufgebürdet hätte; zum Bei- spiel die Festlegung eines angemessenen Pauschalsatzes pro Quadratmeter. Offen bleibt in dem Entwurf, ob eine Beteiligung des Nutzers an den öffentlichen Grundstückslasten in dem fraglichen Zeitraum auf die Höhe des nachzuzahlenden Nutzungsentgelts angerechnet werden kann und ob früher abgeschlossene Verträge zwischen Eigentümer und Nut- zer Vorrang vor den nun zu treffenden gesetzlichen Rege- lungen haben. Die sich aus der Überlappung in der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 1995 ergeben- den Probleme scheinen nach dem letzten Stand einiger- maßen zufriedenstellend gelöst zu sein. Die PDS-Fraktion wird dem Entwurf ihre Zustimmung aus den angeführten Gründen nicht geben. Dr. Eckhart Pick (Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz): Ich freue mich, dass wir das Grundstücksrechtsänderungsgesetz – nach zum Teil recht kontroversen Debatten in den Ausschüssen – heute in zweiter und dritter Lesung beraten und damit hoffentlich zu einem guten Abschluss bringen können. Das Gesetz enthält eine Reihe von Regelungen, von denen auch die Damen und Herren der Opposition nicht in Abrede stel- len, dass sie sinnvoll, ja notwendig sind und denen Sie dankenswerter Weise in den Ausschüssen Ihre Zustim- mung größtenteils nicht verweigert haben; ich denke da zunächst an die Regelungen über ein schlankeres, kos- tensparenderes, aber zugleich bürgerfreundliches Aufge- botsverfahren für nicht beanspruchte Vermögenswerte im Entschädigungs- und Grundbuchbereinigungsgesetz. Gleiches gilt für die Änderungen in der Grundstücksver- kehrsordnung und dem Parteiengesetz der DDR. Hier sind Zuständigkeitsverlagerungen vorgesehen bzw. wer- den wegen der geplanten Umstrukturierung der Bundes- anstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ermög- licht. Nicht umstritten waren auch Änderungen des EGBGB, die einerseits den Übergang von Althypotheken und Alt- forderungen auf die Nachfolgeinstitute der DDR-Kredit- institute und andererseits das Entstehen von selbstständi- gem Gebäudeeigentum landwirtschaftlicher Produktions- genossenschaften betreffen. Beide Bestimmungen sind in der vom Rechtsausschuss durchgeführten Anhörung aus- drücklich als notwendig und richtig begrüßt worden. Ich will daher hier darauf nicht weiter eingehen. Von der Opposition heftig kritisiert wurden dagegen ei- nige Änderungen, die das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen betreffen. Hier scheint es, dass sich die Kollegen insbesondere daran stören, dass Regelungen zu- gunsten der Gewerkschaften aufgenommen wurden. Es geht uns aber nicht darum, dass die Gewerkschaften ge- genüber anderen NS-Verfolgten bevorzugt werden sollen. Es wird vielmehr eine Gleichbehandlung der NS-Verfolg- ten untereinander hergestellt und eine unbillige Rechts- lage bereinigt. Nach geltendem Recht führt die Organisa- tionsstruktur der Gewerkschaften dazu, dass diese nie an Verfahren nach dem Investitionsvorranggesetz beteiligt werden, obwohl in diesen Verfahren ihre Ansprüche auf Restitution ehemals gewerkschaftseigenen Vermögens betroffen sind. Die Gewerkschaften haben nämlich Un- ternehmen gegründet, die abgetretene gewerkschaftliche Ansprüche konzentriert geltend machen. Die Ansprüche bleiben zwar im „Lager“ der Gewerkschaften; die ge- werkschaftlichen Unternehmen haben aber gleichwohl formal kein Beteiligungsrecht. Hier besteht ein Unter- schied zur Conference on Jewish Material Claims against Germany, die Ansprüche für jüdische Verfolgte geltend macht: Ihr ist gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt wor- den, eine GmbH zu gründen, auf die sie ihre Ansprüche abtreten kann, ohne dass dadurch das Recht, am Verfah- ren nach dem Investitionsvorranggesetz beteiligt zu wer- den, verloren geht. Es ist aus meiner Sicht kein Grund er- sichtlich, den ebenfalls in der NS-Zeit verfolgten Ge- werkschaften das gleiche Recht nicht einzuräumen. Auch eine weitere Gesetzesänderung betrifft An- sprüche der NS-Verfolgten. Wurden ihnen Unternehmens- anteile verfolgungsbedingt entzogen, so haben sie nach Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11043 (C) (D) (A) (B) geltendem Recht Anspruch auf Einräumung von Bruch- teilseigentum an den Gegenständen, die früher zu dem Unternehmen gehört hatten. Dies gilt auch dann, wenn ih- nen Anteile am Mutterunternehmen entzogen wurden. Um zu große Eigentumszersplitterungen zu vermeiden, enthielt das geltende Recht eine Grenze. Hatte das Mut- terunternehmen lediglich einen Anteil von bis zu 20 Pro- zent an dem Tochterunternehmen, so besteht der An- spruch auf Einräumung von Bruchteilseigentum nicht. In- zwischen befinden sich aber häufig mehrere Ansprüche, die verschiedene Mutterunternehmen betreffen, in einer Hand. Durch das Grundstücksrechtsänderungsgesetz soll klargestellt werden, dass in diesen Fällen die Anteile der Mutterunternehmen zu addieren sind, da es bei der Kon- zentration auf einen Anspruchsinhaber nicht zu einer Ei- gentumszersplitterung kommen kann. Dies soll aber nur dann gelten, wenn nicht die vermögensrechtlichen An- sprüche durch Abtretungen erlangt werden, die erst nach In-Kaft-Treten dieses Gesetzes, das heißt in Ansehung der Neuregelung, erfolgen. So wird einem möglichen Miss- brauch entgegengewirkt, den es geben könnte, wenn meh- rere Berechtigte sich zunächst zusammenschließen, um das Bruchteilseigentum zu erlangen, und sich anschlie- ßend wieder auseinander setzen. Denn dann käme es ge- nau zu der Eigentumszersplitterung, die gerade verhindert werden soll. Einem Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungs- gerichts folgend verabschieden wir hier auch eine Rege- lung, mit der ein gesetzlicher Entgeltanspruch für Grund- stückseigentümer eingeführt wird. Bisher mussten sie in- folge des sachenrechtlichen Moratoriums die Nutzung ihres Grundstücks unentgeltlich hinnehmen, sofern sie mit dem Nutzer nicht zu einer Einigung gelangen konn- ten. Das Bundesverfassungsgericht hat einen gesetzlichen Nutzungsentgeltanspruch für den Zeitraum vom 22. Juli 1992 – das ist das In-Kraft-Treten des 2. Vermögens- rechtsänderungsgesetzes – bis zum 31. Dezember 1994 für notwendig erachtet. Die vorgeschlagene Regelung geht über diesen, dem Bundesverfassungsgericht allein zur Entscheidung unterbreiteten Zeitraum insofern hi- naus, als sie den Anspruch des Eigentümers auch auf die Zeit bis zum 31. März 1995 erstreckt. Dies ist kritisiert worden, erscheint mir aber im Lichte der bundesverfas- sungsgerichtlichen Entscheidung notwendig: Für die Zeit ab dem 1. Januar 1995 ist der Nutzungsentgeltanspruch des Eigentümers im Interesse beschleunigter Sachen- rechtsbereinigung bewusst auch von seiner eigenen Ini- tiative in der Sachenrechtsbereinigung abhängig; formal sind ihm die entscheidenden Schritte aber nicht vor Ab- lauf des März 1995 möglich gewesen. Deshalb muss der Eigentümer bis zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich in den Genuss des neu geschaffenen Entgeltanspruchs kommen können. Es ist aber auch richtig, die in der Anhörung vor- getragenen Bedenken aufzugreifen: Für diesen weiterge- henden Zeitraum muss ein Nutzungsentgeltanspruch dann versagt werden, wenn der Eigentümer sich einer vom Nut- zer eingeleiteten Sachenrechtsbereinigung verweigert hat. Die Frage, in welcher Höhe ein Nutzungsentgeltan- spruch einzuräumen war, bewegt sich in einem Span- nungsfeld ganz unterschiedlicher Erwartungen und auch wirtschaftlicher Gegebenheiten. Neben dem Interesse der Eigentümer an einer angemessenen Verzinsung des von ihnen zur Verfügung gestellten Grund und Bodens muss die wirtschaftliche Situation der Nutzer berücksichtigt werden. Genossenschaften, Wohnungsbauunternehmen, aber auch der private Nutzer sehen sich unter Umständen erheblichen Nachzahlungen für einen inzwischen weit zurückliegenden Zeitraum ausgesetzt. Insbesondere die Wohnungsunternehmen haben dies in der Anhörung ein- drücklich geschildert. Ich denke, dass mit der Anknüp- fung der Entgelthöhe an den in der Eingangsphase der Sa- chenrechtsbereinigung zu zahlenden Erbbauzins eine ins- gesamt zumutbare und systemgerechte Lösung gefunden wurde. Die vorgeschlagenen, niedrigen Entgeltpauscha- len halte ich nicht für vertretbar, da sie – vom Grund- stückswert abgekoppelt – in wertvolleren Lagen dem Grundstückseigentümer kaum eine marginale Verzinsung seines Bodens ließen. Die gefundene Regelung trägt zu- dem auch dem Interesse der Nutzer am Bestand in der Vergangenheit abgeschlossener Vereinbarungen Rech- nung. Die in den Beratungen erzielten Ergebnisse sind insge- samt ausgewogen und stimmig. Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung zu dem Entwurf. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften (Vermögensrechtser- gänzungsgesetz) (Zusatztagesordnungsunkt 15) Dr. Mathias Schubert (SPD): Das Vermögensrechts- ergänzungsgesetz beinhaltet eine Reihe wichtiger Rege- lungen, die mehr Klarheit und Berechenbarkeit innerhalb des ganzen Problemkreises um Entschädigungen, Natur- schutz und Flächenerwerb bringen werden. Ich gehe auf zwei Themen besonders ein. Auf der ei- nen Seite die Naturschutzflächen: Der Bund stellt hier- für 50 000 Hektar kostenlos zur Verfügung. Weitere 50 000 Hektar können wertgleich bzw. flächengleich mit den Ländern getauscht werden. Dieser Tausch ist deshalb möglich, weil die Länder über mehr als ausreichend ge- eignetes Land verfügen. Allein bei der Übereignung des Preußenwaldes vom Bund auf die Länder handelt es sich um 1 Million Hektar. Wer also behaupten sollte, mit dieser Regelung würde der Bund die Länder übervorteilen, liegt falsch. Ganz im Gegenteil wird der Gesetzentwurf sowohl den Interessen des Naturschutzes als auch denen der Land- und Forst- wirtschaft gerecht. Beide Seiten erhalten damit Klarheit. Der in manchen Fällen jahrelang währende Streit um die Nutzung einzelner Flächen wird beendet werden. Das politische Signal an beide Seiten ist dabei eindeu- tig. Landwirtschaft und Naturschutz haben neben unter- schiedlichen Zielen eben auch gemeinsame, übrigens mehr und mehr gemeinsame. Dies wird mit dem Gesetz- entwurf unterstützt und gefördert. Wer in diesem Zusam- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011044 (C) (D) (A) (B) menhang zum Beispiel einwendet, die Antragsfristen für die Naturschutzverbände seien zu kurz, dem muss be- scheinigt werden, dass er keine Ahnung hat vom Engage- ment und von der Professionalität, mit der Naturschutz- verbände arbeiten. Zum anderen gehe ich kurz ein auf die Regelungen zum Flächenerwerb. Hier heißt die entscheidende politi- sche Botschaft: Der Flächenerwerbsstopp wird beendet. Bekanntermaßen hat die EU-Kommission vor etwa zwei Jahren faktisch einen Verkaufsstopp verhängt, weil die Subventionierungsquoten zu hoch waren. Das hat uns da- mals – übrigens im ganzen Hause – im Blick auf die ost- deutsche Landwirtschaft nicht gerade begeistert. Nun wird im Gesetzentwurf für die potenziellen Käufer eine Abschlagsquote auf den Verkehrswert von 35 Prozent festgelegt. Schon schreit die CDU/CSU-Opposition „Ach und weh“, wir würden die ostdeutsche Landwirtschaft platt machen wollen. Ich erinnere Sie nur an Ihre wieder- holten Versuche in der vergangenen Legislaturperiode, die Bodenreform umzukehren, zum Teil gegen den Willen Ihrer eigenen Regierung. Das wäre die ultimative Enteig- nung der ostdeutschen Landwirte gewesen. Wenn Sie hier also politisch ernst genommen werden wollen, dann han- deln Sie nicht nach der Methode: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, sondern betrachten Sie ganz nüchtern die Situation. Die Verkehrswerte in Ostdeutschland liegen bei 4 000 bis 6 000 DM pro Hektar, im Vergleich in Bayern und Baden- Württemberg bei bis zu 40 000 DM pro Hektar. 6 000 mi- nus 35 Prozent macht circa 4 000 DM pro Hektar, also 10 Prozent vom Südstaatenniveau. Zudem arbeitet die Landwirtschaft im Osten produktiver als im Westen. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Betriebe im Durch- schnitt im Osten fünfeinhalb mal größer sind als im Wes- ten. Wie gut die Landwirtschaft in Ostdeutschland ist, kann jeder aus dem Agrarbericht 1999 herauslesen, zum Beispiel wenn man die Gewinnentwicklung vergleicht: Mecklenburg-Vorpommern plus 26,4 Prozent, Sachsen plus 16,2 Prozent, Niedersachsen plus 0,1 Prozent, Schleswig-Holstein plus 5,2 Prozent usw. Außerdem wer- den die LPG-Nachfolger steuerlich wie verarbeitendes Gewerbe behandelt, ein weiterer Vorteil. Und schließlich: Landwirte können rechnen. Deshalb rechnen die auf die Mark genau vor, dass es für sie in der Regel wirtschaftlich günstiger ist, für 18 Jahre zu pachten statt zu kaufen. Ihre oppositionelle Empörung mag vielleicht für Ihre eigene Ermutigung ganz gut sein, an der Sache selbst geht sie vorbei. Was bleibt, ist Blockade. Und wenn Herr Merz gestern sagte, er werde uns zwingen, dann klingt das nach blanker Ideologie, und die steht in gefährlicher Nähe zur Verantwortungslosigkeit. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Die von der Koalition in dieser letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause durchzupeitschenden Gesetze – so das Grundstücksrechtsänderungsgesetz und das Vermögens- rechtsänderungsgesetz – sind ein Skandal. Durch Heraus- nahme und Wiedereinfügung in die obigen Gesetze ist ein Paragraphen- bzw. Gesetzessalat vorgelegt worden, um die wahren Hintergründe zu verschleiern. Schon bei der Frage des doppelten Durchgriffs bei ehe- maligem jüdischen Vermögen gab es erhebliche recht- liche und verfassungsrechtliche Bedenken, die aber im Hinblick auf das Schicksal dieser Gemeinschaft zurück- gestellt wurden. Die Gleichstellung von Gewerkschaften ist durch nichts gerechtfertigt, auch wenn die Gewerk- schaften Vermögenswerte erheblicher Art verloren haben. Sie aber mit jüdischen Gemeinschaften, persönlichen Schicksalen von Juden gleichzustellen ist eine Verhöh- nung der Toten. So ist dieses Gesetz ein reines „Gewerk- schaftsvermögensvermehrungsgesetz“ und deswegen ab- zulehnen. Das Vermögensrechtsergänzungsgesetz hat das von der EU-Kommission vorgegebene Verbot von vergünstigten Verkäufen an nicht Systemgeschädigte auf den Kopf ge- stellt. Statt die Berechtigten, insbesondere die Alteigentü- mer zu begünstigen, sind alle Kaufwilligen gleichgestellt und somit erneut die Eigentumsrechte der Alteigentümer mit Füßen getreten. Dabei wurde sogar nicht einmal der Rahmen der von der EU vorgegebenen Verbilligungs- möglichkeit ausgeschöpft, sodass die früheren Eigentü- mer ihren Grund und Boden erheblich über dem Preis zurückkaufen müssen, wie es nach den EU-Richtlinien möglich gewesen wäre. Dass dies alles im Vorfeld einer für Herbst zu erwar- tenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der letzten Woche vor der Sommerpause durchgepeitscht wird, ist völlig unverständlich, weil das Bundesverfas- sungsgericht zur Enteignungsproblematik 1945–1949 si- cher das eine oder andere zu sagen hat bzw. sogar gege- benenfalls Regelungen vorschreibt. Richtigerweise wurde die Wohnsitzregelung geändert, da die Festlegung eines willkürlichen Datums aufgehoben wurde und eine Diskriminierung anderer Kaufwilliger darstellte. Nicht zu verantworten ist die ersatzlose Streichung des § 9 des Vermögensgesetzes, der Rechte von Enteigneten, insbesondere nach 1949, erneut in unzuträglicher Weise abschneidet, nur weil die Bundesregierung Sorge hat, dass enorme finanzielle Risiken aufgrund des Urteils des Bun- desverwaltungsgerichts vom 17. September 1998 entstän- den. Hier handelt es sich insbesondere um die Bereitstel- lung von Ersatzgrundstücken wegen Ausschlusses der Restitution aufgrund redlichen Erwerbs, aber auch andere Unmöglichkeitstatbestände der Rückgabe. Genau das soll- te mit den Bestimmungen des § 9 des Vermögensgesetzes möglich sein und war vom Gesetzgeber bei der Verab- schiedung so gewollt. Auch die betroffenen Kommunen, die Ersatzgrund- stücke zur Verfügung stellen sollen, sind dadurch nicht in ihren Rechten oder finanziellen Möglichkeiten geschmä- lert, da sie Ersatz zum Verkehrswert aus dem allgemeinen Wiedervereinigungsfonds erhalten. Hier wird in eigen- tumsähnliche Rechte eingegriffen ohne Entschädigungs- regelung und daher ist Art. 14 des Grundgesetzes verletzt. § 9 des Vermögensgesetzes wurde auch aufgenommen, um zu verhindern, dass die Schere zwischen denen, die ihr komplettes Eigentum zurückbekommen und denen, die nur nach dem mageren Entschädigungsgesetz Geldan- sprüche haben, nicht zu groß wird. Im Hinblick auf Art. 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11045 (C) (D) (A) (B) des Grundgesetzes soll sich der Gesetzgeber bemühen, ei- nen möglichst gerechten Ausgleich zu finden bei tatsäch- licher Unmöglichkeit der Restitution. Dies war ein ausgewogener Kompromiss, den das Bundesverwaltungsgericht bestätigt hat. Das vorliegende Gesetz ist ein schwerer Eingriff in die Rechte von durch kommunistische Gewaltherrscher Enteignete. Es ist auch falsch zu behaupten, dass dadurch notwendige Investitio- nen verzögert oder gefährdet werden. Im Gegenteil: Be- rechtigte werden, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben ist, ein Ersatzgrundstück zu erhalten, dieses viel zügiger in den Kreislauf von Investitionen zurückbringen als die überforderten Gemeinden. Die Gemeinden werden sehr schnell für diese Ersatzgrundstücke in Geld entschädigt, das sie dringend brauchen. Auch so würden finanzielle Mittel in den Kreislauf von Investitionen hineingepumpt, die dringend notwendig sind im gesamten Gebiet der neuen Länder. Die Strei- chung des § 9 des Vermögensgesetzes ist daher nicht nur verfassungswidrig, sie ist auch rechtlich bedenklich im Hinblick auf den Vertrauensschutz der Bürger und wirt- schaftlich absolut unsinnig. Auf Vorschlag der Union wurde eine Lücke in § 10 Abs. 2 des Vermögensgesetzes geschlossen, indem nun auch für bewegliche Sachen, für die kein Erlös bei der Verwertung erzielt wurde, eine – wenn auch beschei- dene – Entschädigung gewährt wird. Als Bemessungs- grundlage wurde der Wert der Sache zum Zeitpunkt der Entziehung im Verhältnis 2:1 auf Deutsche Mark festge- setzt. Hier hätte die Union lieber keine Verminderung durch die Währungsumstellung gehabt und auch gerne die Höchstbeträge erhöht. Entschieden abzulehnen ist die durch Druck der Grü- nen ins Gesetz gekommene kostenlose Abgabe von 50 000 bzw. 100 000 Hektar land- und forstwirtschaftli- cher Fläche aus den zur Verfügung stehenden zu privati- sierenden Flächen. Dies geht wiederum zulasten von Be- rechtigten, vermutlich insbesondere auch von Alteigen- tümern. Man hätte durchaus warten können, wie viel Flächen und was für Flächen nach dem Ende der Repri- vatisierung übrig geblieben wären, um diese dann gege- benenfalls als Naturschutzgebiete auszuweisen. Man kann sicher auch im unbeschränkten Eigentum des Bundes bestehende Flächen, wie Truppenübungs- plätze oder Ähnliches, verwenden, ohne dass in Rechte von berechtigten Alteigentümern, aber auch Neuerwerbs- berechtigten eingegriffen wird. Das Justizministerium, das selbst noch vor ein paar Wochen vor übereilter Verabschiedung des gesamten Ge- setzes gewarnt und auf die Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts hinwiesen hat, wird seine eigenen Be- denken bestätigt sehen und Recht behalten, dass das von ihm selbst eingebrachte, nun von den Koalitionsfraktio- nen durchgepeitschte Gesetz in vielen Punkten keinen Be- stand haben wird. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Die Art und Weise des Gesetzgebungsverfahrens, welches die rot-grüne Bun- desregierung pflegt, spiegelt sich auch in dem heute in zweiter und dritter Lesung zur Verabschiedung stehenden Vermögensrechtsergänzungsgesetz wider. Erst wird ein Gesetzentwurf der Bundesregierung erstellt, der dem Bundestag zugeleitet und dann in einer Anhörung beraten wird. Dann ist über ein halbes Jahr Schweigen im Walde. Plötzlich einigt man sich am Freitagnachmittag in der Bundesregierung noch auf einen völlig neuen Sachver- halt, nämlich auf eine Regelung über die Herausnahme von 100 000 Hektar aus dem Bodenfonds, der zur Befrie- digung von Entschädigungen nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz dienen soll, für den Natur- schutz, worüber das Parlament dann offiziell am Diens- tagmorgen informiert wurde. De facto bestand zeitlich keine Möglichkeit, intensiv über diese neu in die Diskus- sion des Parlamentes eingebrachten schwierigen Fragen zu diskutieren. Dann wird das Gesetz durch den Ausschuss gepeitscht, ohne dass die Regierungsfraktionen mit Ausnahme einer einzigen Wortmeldung zu irgendeinem Paragraphen über- haupt irgendeine Wortäußerung von sich gegeben haben. Das ist eine Herabwürdigung des Parlaments. Aber zum Gesetz selbst: Das Gesetz hat drei Teile. Zu Art. 1: Hier soll Paragraph 9 Vermögensgesetz ge- strichen werden. Dieser eröffnete die Möglichkeit, den Berechtigten, der wegen redlichen Erwerbs des Verfü- gungsberechtigten von der Restitution ausgeschlossen ist, auf seinen Antrag hin statt in Geld durch Übereignung ei- nes Ersatzgrundstückes zu entschädigen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 17. September 1998 entschieden, dass die Gemeinden die Bereitstellung von Ersatzgrundstücken nicht aus Haus- haltsgründen generell verweigern dürfen, denn sie könn- ten vom Bund den vollen Ersatz ihrer Aufwendungen, also den Verkehrswert des Ersatzgrundstückes, verlangen. Die Koalition will diese Vorschrift aufheben. Diese Vorschrift darf aus unserer Sicht nicht gestrichen werden, weil ihre Aufhebung enteignenden Charakter hätte. Das ist in der Anhörung sehr deutlich geworden. Die Koalition greift wieder einmal willkürlich in die Rechte der Bürger ein. Zudem schilt die Bundesregierung das Bundesverwal- tungsgericht, weil sie der Meinung ist, dass die Rechts- auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes an der Ratio des § 9 Vermögensgesetz vorbei gehe. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Für die Auslegung der Gesetze, die der Deutsche Bun- destag beschlossen hat, sind die obersten Gerichte zu- ständig. Und deshalb ist die Ratio, die das Bundesverwal- tungsgericht aus dem Gesetz gelesen hat, nicht zu kriti- sieren. Der Hauptgrund ist, dass der Bund in die nun gegebene Entschädigungspflicht nicht eintreten will. Zu Art. 2: Begrüßen möchte ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung dem Antrag der CDU/CSU-Bundes- tagsfraktion nachgekommen ist und nun eine Entschädi- gungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei der Einzie- hung von beweglichen Sachen regelt. Aus diesem Grunde haben wir auch in der Ausschussberatung dem Art. 2 zu- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011046 (C) (D) (A) (B) gestimmt. Das führte jedoch nicht dazu, dass wir dem ge- samten Gesetz zustimmen können. Die weiteren Regelungsgegenstände, Art. 1, 3 und 4, sind schwerwiegender, denn diese verletzen die Interes- sen der Bürger und ganz besonders die der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern. Zu Art. 3 und 4: In der Anhörung vom 19. Januar die- sen Jahres wurden sehr kritisch die jetzt vorgeschlagenen Regelungen für das Entschädigungs- und Ausgleichsleis- tungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung bewertet. Die EU-Kommission hat mit ihrer Entscheidung vom 20. Januar 1999 Beihilfetatbestände im bisherigen EALG kritisiert, aber nur dort, wo keine Wiedergutmachungs- pflicht besteht. Dies trifft also nicht die so genannten Alt- eigentümer und trifft auch nicht die so genannten „Wie- dereinrichter ohne Restitutionsanspruch“. Im Zuge einer scheinbaren Gleichbehandlung verlangt nun die Bundes- regierung beim Kauf von landwirtschaftlichen Flächen nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsge- setz den Verkehrswert abzüglich einer 35-prozentigen Verbilligung. Sie hat dabei vollkommen ignoriert, dass es für Altei- gentümer und für so genannte „Wiedereinrichter ohne Re- stitutionsanspruch“ bei der bestehenden Regelung bleiben könnte, und hat außerdem ignoriert, dass mit der Agenda 2000 auch die Rahmenregeln für die Förderbedingungen in der Europäischen Union geändert worden sind. Jetzt gelten die Fördersätze 40 Prozent und in benachteiligten Gebieten 50 Prozent – bisher 35 Prozent und in benach- teiligten Gebieten 75 Prozent. Also selbst die Beihilfe rechtlich kritischer Fälle könnte eine Kaufpreisverbilli- gung von 40 bis 50 Prozent erhalten. Da Familienbetriebe in den neuen Ländern eine Eigen- tumsquote von nur circa 15 Prozent haben, wäre es gut, wenn diese Bundesregierung sich darum kümmern wür- de, wenn sie Voraussetzungen schaffen würde, dass die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern mehr Eigen- tum bekommt. Sie nutzen die Möglichkeiten, die die EU-Kommission zulässt, nicht aus, sondern ich muss unterstellen, dass sie nur deshalb einen Verbilligungssatz von 35 Prozent ak- zeptieren, weil sie damit einen hohen Preis für landwirt- schaftliche Nutzflächen verlangen können. Sie wollen, dass die Landwirtschaft aus den neuen Bundesländern zu- sätzlich Geld an die Bundeskasse abgibt. Das können wir nicht mit tragen. Das Verfahren im Ausschuss selbst und speziell die erst am Dienstag vorliegende Einigung der Bundesregierung zum Thema „100 000 ha für den Naturschutz“ ließen keine qualifizierte Beratung im Ausschuss zu. Das ist ein unmöglicher Vorgang, passt aber zu dem, was SPD und Grüne von Parlamentarismus halten. Aus diesem Grunde haben wir uns als CDU/CSU-Bun- destagsfraktion im federführenden Ausschuss nicht wei- ter dazu geäußert. Im Parlament wäre zumindest ein Ge- spräch mit Experten aus den Ländern und Sachverständi- gen nötig gewesen. Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kernstück des Vermögensrechtsergänzungsgesetzes ist das Aus- gleichsleistungsgesetz. Mit seiner Änderung werden wettbewerbsrechtliche Beanstandungen der EU-Kom- mission an der früheren Verkaufspraxis der Treuhand- nachfolgerin BVVG geheilt. Bei der Erarbeitung dieses Änderungsgesetzes blieb zunächst die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen und der Naturschutzverbände außen vor, die Natur- schutzflächen der neuen Bundesländer von der Privatisie- rung auszunehmen. Kurz vor der Wiedervereinigung wurden, sozusagen in letzter Sekunde und auf Initiative einer Gruppe um Pro- fessor Michael Succow, dem heutigen Träger des alterna- tiven Nobelpreises, wertvolle Naturräume der DDR rechtswirksam unter Schutz gestellt: fünf Nationalparke, sechs Biosphärenreservate und 15 Naturparke „neuer Prä- gung“. Eine – wie sich angesichts des Zustandes von Na- tur und Landschaft in Deutschland zeigt – wertvolle Gabe der Ostdeutschen, die Professor Töpfer völlig zu Recht als „Tafelsilber der deutschen Einheit“ bezeichnete. Es war der größte Erfolg des Naturschutzes in Deutschland in diesem Jahrhundert. Jeder, der diese Ge- biete auch nur ein einziges Mal wirklich erleben konnte, schwärmte von der Schönheit dieser Natur, vom Arten- reichtum und von im Westen längst verloren gegangenen Kostbarkeiten. Welche Bedeutung die Sicherung dieser ökologisch kostbaren Flächen des Ostens hat, mögen Ihnen auch ei- nige wenige Zahlen zeigen: In den letzten 25 Jahren wurde im alten Bundesgebiet Natur in der dreifachen Fläche des Saarlandes zerstört. 40 Prozent der in Deutsch- land heimischen Pflanzen sind ausgestorben, verschollen oder gefährdet. Die Situation ist bei einigen Tiergruppen noch dramatischer. Die Bilanzierung der Gefährdungssi- tuation von Biotopen ergibt, dass in Deutschland über zwei Drittel, 69 Prozent, aller vorkommenden Biotopty- pen als gefährdet eingestuft sind. Wer dies alles wirklich verinnerlicht, kann verstehen, warum unsere Fraktion und die Naturschutzverbände mit so großer Leidenschaft und so großem Engagement da- rum gekämpft haben, diese arten- und biotopreichen Ge- biete langfristig zu sichern und sie damit für uns und für nachkommende Generationen als Lebensgrundlagen zu erhalten. Das war durchaus nicht einfach. Denn in für uns völlig unverständlicher Weise gab die alte Bundesregie- rung diese Flächen zur Privatisierung frei und konterka- rierte damit ihre in Sonntagsreden geäußerte Wertschät- zung des „Tafelsilbers“. Dabei geht es uns nicht darum, die Privatisierung von Naturschutzflächen per se zu verteufeln. Es gibt viele po- sitive Beispiele auf der Welt und auch in unserem Land für sehr engagierten privaten Schutz kostbarer Areale – wozu ich letztlich natürlich auch den Erwerb durch Natur- schutzverbände zähle. Leider kommt es jedoch immer wieder dort zu Konflikten, und zwar dort, wo der Erwerb von Naturschutzflächen mit Nutzungsinteressen zusam- menfällt. Es gibt erschreckende Beispiele dafür, wie Na- turschutzauflagen in zum Teil dreister Weise verletzt wer- den. Das Ordnungsrecht kann hier nur wenig helfen – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11047 (C) (D) (A) (B) schließlich können wir nicht hinter jeden Baum eine Ord- nungskraft stellen. Deshalb war und ist es unser Ziel, die ökologisch wertvollsten Flächen in Hände zu geben, die sich mit Leidenschaft und hoher Kompetenz der Siche- rung der Naturschutzflächen verpflichtet wissen. Da die Privatisierung trotz wohlfeiler Worte selbst des damaligen Kanzlers, Helmut Kohl, weitergeführt wurde, war es einer der ersten Amtshandlungen der neuen Bun- desregierung unter Gerhard Schröder, einen Privatisie- rungsstopp zu erlassen, um in Ruhe über vernünftige Lö- sungen des Problems verhandeln zu können und zu retten, was noch zu retten war. Wir haben durch hartnäckiges Verhandeln, besonders vonseiten des Umweltministeriums und der Koalitions- fraktionen und mit großer Unterstützung der Natur- schutzverbände erreicht, dass große Teile des „Tafel- silbers der deutschen Einheit“ gesetzlich abgesichert werden. Die betroffenen Bundesländer waren in diese Verhandlungen involviert. Von ihnen wurden jene Flächen vorgeschlagen, welche unter naturschutzfachli- chen Kriterien unbedingt in ihrer ökologischen Qualität zu sichern sind. Dabei stand die konkrete Festlegung der Flächenku- lisse immer unter dem Druck, die EU-rechtliche Auflage zu erfüllen, dass für den neuen Erwerberkreis genügend Flächen in verschiedenen Losgrößen zur Verfügung ge- stellt werden. Vor diesem Hintergrund wurde in einem für uns – ich verhehle es nicht – durchaus schmerzlichen Kompromiss die jetzige Lösung erzielt: Statt der erfor- derlichen 173 000 Hektar können nur 100 000 der Priva- tisierung entzogen werden, wovon die Hälfte kostenlos an die Länder oder gegebenenfalls an Naturschutzverbände übertragen werden. Dabei handelt es sich keinesfalls, wie gerne unbedacht der Vorwurf erhoben wird, um ein Geschenk der Bundes- regierung oder gar von Minister Trittin. Die Bundesländer und Verbände übernehmen eine große Verantwortung für unser nationales Naturerbe, wofür wir sehr dankbar sein sollten. Nicht zuletzt kommen auf sie auch finanzielle Be- lastungen für den Unterhalt der Flächen zu. Diese Seite wird gerne ausgeblendet. Es wird jetzt darauf ankommen, den tatsächlichen Er- werb der zweiten 50 000 Hektar zu ermöglichen, die lei- der nicht kostenlos abgegeben werden können. Wir ap- pellieren daher an Herrn Minister Eichel, die Durch- führungsbestimmungen zu diesem Gesetz so auszugestalten, dass den Ländern und Verbänden ein rea- listischer Zeitraum verbleibt, um die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für den Erwerb der Flächen zu schaffen. Dass das kurzfristig nicht möglich ist, weiß niemand besser als der Bundesfinanzminister. Sorgen Sie, sehr geehrter Herr Minister Eichel, deshalb bitte dafür, dass das heute zu beschließende Ergebnis, die Sicherung von 100 000 Hektar wertvollster ökologischer Flächen, tatsächlich realisiert wird. Das wäre nicht nur redlich, es wäre auch ein großer Dienst für unsere und kommende Generationen. Rainer Funke (F.D.P.): Der Gesetzentwurf der Bun- desregierung muss abgelehnt werden, wenn es nicht ge- lingt, ihn wenigstens in zwei wesentlichen Punkten zu än- dern, auf die sich der Änderungsantrag meiner Fraktion bezieht. Erstens. Die Ersatzgrundstücksregelung des § 9 Ver- mögensgesetz darf nicht gestrichen werden. Es muss da- bei bleiben, dass derjenige, dessen Grundstück nicht zurückgegeben werden kann, weil es inzwischen einem gutgläubigen Erwerber oder dessen Rechtsnachfolger gehört, einen Rechtsanspruch gegen die Gemeinde auf ein Ersatzgrundstück hat. Das Recht auf ein Ersatzgrundstück ist bereits in der „Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 zur Rege- lung offener Vermögensfragen“ enthalten. Es wurde mit Artikel 41 im Einigungsvertrag Gesetz und Vermögens- gesetz wiederholt und höchstrichterlich als Rechtsan- spruch bestätigt. Nun will die Koalition dieses Recht entschädigungslos streichen und weicht damit für alle sichtbar und zum ers- ten Mal ab vom Einigungsvertrag und der Gemeinsamen Erklärung. Wenn es so leicht ist, sich über den Einigungs- vertrag und die Gemeinsame Erklärung hinwegzusetzen, dann kann ich diejenigen verstehen, die sich auch hin- sichtlich des so genannten Restitutionsverbotes für Bo- denreformflächen nicht an den Einigungsvertrag und die Vereinbarungen von damals gebunden sehen. Zweitens. Mit dem zweiten Teil unseres Änderungsan- trages wollen wir dafür sorgen, dass die Entscheidung der Europäischen Kommission vom Dezember 1998 endlich richtig umgesetzt wird. Dort wurde entschieden, dass aus beihilferechtlichen Gründen die Preise für Bodenreform- flächen, die der Bund nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz an Wiedereinrichter abzuge- ben hat, erhöht werden müssen. Diese Forderung bezieht sich ausdrücklich nicht auf die so genannten Alteigentü- mer, für die der verbilligte Rücklauf Teil des Ausgleichs für entschädigungslose Enteignungen ist. Sie dürfen nicht in die Preiserhöhungen einbezogen werden. Es ist un- glaublich, dass der Gesetzentwurf hier nicht differenziert. Wir können die Fehler des Gesetzes noch heilen. Stim- men Sie dem Antrag meiner Fraktion zu. Sie ersparen sich ein Vermittlungsverfahren. Denn ich kann mir nicht vor- stellen, dass der Bundesrat, in dem die neuen Länder ihre Recht aus dem Einigungsvertrag zu wahren haben, einem Gesetz zustimmt, das in eklatanter Weise das Grundgesetz und den Einigungsvertrag verletzt und die Entscheidun- gen der Europäischen Kommission fehlerhaft nachvoll- zieht. Schließlich würde es auch guter parlamentarischer Sitte entsprechen, den Gesetzesbeschluss zurückzustel- len, bis das Bundesverfassungsgericht über die fünf Ver- fassungsbeschwerden gegen das EALG entschieden hat, über die es im April dieses Jahres bereits mündlich ver- handelt hat. Kersten Naumann (PDS): Leif Miller, Leiter der NABU-Bundesvertretung Berlin, schätzt die Konsequenz des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfs des Vermögensrechtsergänzungsgesetzes wie folgt ein: „Da- mit ist die Hälfte des nationalen Naturerbes in den neuen Bundesländern verloren.“ Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011048 (C) (D) (A) (B) Mit dem Gesetz sollen 50 000 Hektar ostdeutscher Na- turschutzflächen kostenlos an die Länder oder an Natur- schutzverbände abgegeben werden. Die anderen 50 000 Hek- tar werden ihnen mit Halbjahresfrist zum vollen Verkehrs- wert angeboten. Doch weder die Bundesländer noch die Umweltver- bände können innerhalb so kurzer Zeit das erforderliche Geld aufbringen. Oder hat die Bundesregierung vor, zins- lose Kredite zur Verfügung zu stellen? Letztlich werden damit diese 50 000 Hektar höchstwahrscheinlich privati- siert. Diverse Detailregelungen behindern zusätzlich einen Erwerb im Sinne des Naturschutzes. So müssen beispielsweise vom Erwerber die Vermes- sungs- und andere Verwaltungskosten der Übertragung ge- tragen werden. Die von der BVVG festgelegten Verkaufs- lose sind unteilbar, womit ein effizienter Flächenschutz er- schwert und verteuert wird. Für die PDS ist klar: Naturschutzflächen dürfen nicht privatisiert werden. Deshalb fordern wir mit unserem Ent- schließungsantrag, die Zulässigkeit des Verkaufs von Flächen in Schutzgebieten aufzuheben und eine kosten- lose Übertragung dieser Flächen an Naturschutzverbände sowie Träger öffentlicher Verwaltungen zu ermöglichen. Was in England und Holland hervorragend funktioniert, sollte wohl auch für Deutschland möglich sein. Wenn sich schon wieder Graf Lambsdorff und Prinz zu Salm zu Wort melden und unüberhörbar den Widerstand der Alteigentümer anmelden, sollte das selbst die Bundes- regierung hellhörig machen. Trotz anders lautender Mel- dungen aus Brüssel behaupten sie, dass durch die Heraus- nahme von 100 000 Hektar Bodenreformfläche aus der Privatisierung die EU-Kommission ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf rückgängig machen könnte. Wir sind der Auffassung, nicht mehr Alteigentümer oder Neureiche sollen sich – wie mehrfach geschehen – mit dem Tafelsilber der deutschen Einheit schmücken kön- nen, sondern diejenigen sollen es pflegen, für die nachhal- tiger Naturschutz Lebensmaxime ist. Da die Koalition den Antrag der PDS in den Ausschüs- sen abgelehnt hat, sollte sie wenigstens nach Lösungen su- chen, um die Fristen für den Erwerb durch Naturschutz- verbände oder Länder deutlich zu verlängern. Wir wissen, dass dies einige Umweltpolitiker der Grünen und SPD be- antragen wollten, aber von den Finanzpolitikern der Ko- alition daran gehindert wurden. Schon allein daran wird das Vorrangige deutlich: Es geht wieder einmal um das Füllen von Haushaltslöchern auf Kosten der Umwelt. Abschließend möchte ich noch ausdrücklich unterstrei- chen, dass wir den Einwand des Deutschen Bauernverban- des nicht teilen, der behauptet, dass „Umweltverbände ... eine kostengünstige und dauerhafte Bewirtschaftung nicht sicherstellen können“. Ist dem Bauernverband eventuell entgangen, dass auch Landwirte in Umweltverbänden ak- tiv sind? Bei allen Entscheidungen sollte sich auch die Bundes- regierung von dem uralten indianischen Sprichwort leiten lassen: „Wir haben die Erde von unseren Eltern nicht ge- erbt, sondern wir haben sie von unseren Kindern nur ge- liehen.“ Rolf Schwanitz (Staatsminister im Bundeskanzler- amt): Wir ergänzen heute einen zentralen Teil der Rege- lungen, die sich mit den Folgen der Wiedervereinigung be- fassen: Der von Anfang an sehr problematische Bereich der offenen Vermögensfragen wirft weiterhin Fragen auf, mit denen sich der uns heute zur Verabschiedung vorlie- gende Gesetzentwurf befasst: mit der so genannten Er- satzgrundstücksregelung, mit der Entschädigung für be- wegliche Sachen und mit der Privatisierung land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern. Hinter diesen bürokratisch klingenden Stichworten ver- bergen sich Fragen, die für die Betroffenen sehr wichtig, zum Teil sogar existenziell wichtig sind. Nach der bisherigen Rechtslage besteht die Möglich- keit, Alteigentümern, die wegen redlichen Erwerbs von der Restitution ausgeschlossen sind, statt in Geld durch Übereignung eines von den Kommunen zu stellenden Er- satzgrundstücks zu entschädigen. Diese Regelung war in der Praxis leergelaufen, weil die Gemeinden den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen für diesen Zweck keine Grundstücke zur Verfügung stellten, unter anderem weil sie vom Entschädigungsfonds für die Bereitstellung nur die nach dem Entschädigungsgesetz vorgesehene Ent- schädigung erhielten. Überraschend hat das BVerwG zunächst mit dem Urteil vom 17. September 1998 den Kommunen den vollen Er- satz ihrer Aufwendungen, das heißt den Verkehrswert des Ersatzgrundstücks zugebilligt. Dies geht allerdings an der Ratio des § 9 VermG vorbei. Von Anfang an war die Rege- lung nicht gedacht als Surrogat für die ausgeschlossene Restitution, sondern bezog sich wertmäßig auf die Höhe der Entschädigung. Die Rechtsauffassung des BVerwG wirft neue Gleichbehandlungsprobleme auf und würde zudem den Bund mit unüberblickbaren finanziellen Risi- ken in Milliardenhöhe belasten. Zudem würden die redli- chen Erwerber durch Wiederaufgreifen zahlreicher be- reits abgeschlossener Verfahren erneut verunsichert. Des- wegen haben die neuen Länder sich übereinstimmend schon im Frühjahr 1999 für die Streichung ausgespro- chen. Nach bisheriger Rechtslage erhält ein Alteigentümer den Veräußerungserlös, wenn die Restitution einer be- weglichen Sache nicht mehr möglich ist. Ist kein Erlös erzielt worden, bestand kein Entschädigungsanspruch. Demgegenüber hatte das BVerwG am 19. November 1998 entschieden, dass auch für bewegliche Sachen eine Ent- schädigung zu gewähren und dafür der Gesetzgeber eine Bemessungsgrundlage zu schaffen habe. Der im Entwurf vorgesehene neue § 5 a EntschG trägt dieser Entscheidung in differenzierter Weise Rechnung. Ausgangspunkt ist im- mer der Wert der Sache zum Schädigungszeitpunkt in der DDR. Durch Pauschalierungen wird der Verwaltungsvoll- zug vereinfacht. Erhöhte Nachweispflichten sollen einem Missbrauch entgegenwirken. Die Regelung kommt vor allem den Rehabilitierten zugute. Sie ist insgesamt einge- bunden in das System der Wiedergutmachungsleistungen nach dem EALG. Sie ist bereits im Vorfeld mit den neuen Ländern abgestimmt worden. Änderungsbedarf bezüglich der Privatisierung land- und forstwirtschaftlicher Flächen ergab sich durch eine Entscheidung der Europäischen Kommission vom Januar Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11049 (C) (D) (A) (B) 1999. Die Kommission stellte darin fest: Die verbilligte Abgabe von Grundstücken an bestimmte Bewerbergrup- pen sei als Beihilfe anzusehen und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, weil sie teilweise zu hoch ausgefallen sei. Außerdem schließe die für die Erwerbergruppe der Pächter aufgestellte Erwerbsvoraussetzung der Orts- ansässigkeit zum 3. Oktober 1990 andere EU-Bürger vom Flächenerwerb aus. Sie sei deshalb diskriminierend. Die Bundesregierung war aufgefordert, die unzulässi- gen Beihilfen künftig nicht mehr zu gewähren, die in der Vergangenheit zuviel gewährten Beihilfen zurückzufor- dern und die Diskriminierung zu beseitigen. Der Gesetzentwurf sieht daher neben der Rückforde- rung der zuviel gewährten Beihilfen vor, den vergünstig- ten Kaufpreis einheitlich für alle Bewerbergruppen auf ein EU-konformes Niveau anzuheben. Die kritisierte Er- werbsvoraussetzung der Ortsansässigkeit am 3. Oktober 1990 wird gestrichen. Besonders schwierig gestaltete sich die Ausräumung des Vorwurfs der Diskriminierung bei bereits abgeschlos- senen Kaufverträgen. Es ging darum, die Diskriminierung zu beseitigen, ohne alle betroffenen Verträge rückgängig zu machen. Gemeinsam mit der Europäischen Kommis- sion wurde ein Weg gefunden: Es reicht aus, wenn genü- gend Flächen nachgewiesen werden können, die bisher nicht berücksichtigten, nicht ortsansässigen Bewerbern angeboten werden können. Bei der Verteilung der vorhandenen Flächen auf die verschiedenen Interessenentengruppen waren deren wi- derstrebende Interessen zu berücksichtigen und zum Aus- gleich zu bringen. Betroffen sind hier vor allem – die Rei- henfolge stellt keine Wertung dar – Alteigentümer und Pächter, bei den Pächtern solche, die bereits in der DDR auf diesen Flächen Landwirtschaft betrieben haben, ohne Eigentum erwerben zu können, aber auch solche, die neu landwirtschaftliche Betriebe gegründet haben. Hinzu kamen noch die Interessen des Umweltschutzes: Viele Flächen in den neuen Ländern sind unter Umwelt- schutzgesichtspunkten in besonderem Maße wertvoll und schutzwürdig. Sowohl die Koalitionsvereinbarung als auch der Bundesrat in der Stellungnahme im ersten Durchgang und Sachverständige in der Anhörung vom 19. Januar 2000 problematisieren die Behandlung von Naturschutzflächen im Zuge der Privatisierung. Bei der zu findenden Regelung galt es also, einerseits ausreichend Flächen für den Naturschutz bereitzustellen, andererseits aber bestehende Erwerbspositionen nicht un- zulässig zu beeinträchtigen und der Kommission zudem genügend Flächen nachweisen zu können, die bisher nicht berücksichtigten Bewerbern zur Verfügung stehen. Ein besonderes Anliegen des Finanzministers war es noch, dass die Regelung verkraftbar für die öffentlichen Haus- halte sein muss. Der nunmehr gefundene Kompromiss erfüllt diese Be- dingungen; er wird insbesondere den Vorgaben gerecht, welche die Europäische Kommission an eine Ausräu- mung der Diskriminierung gestellt hat: Für den Natur- schutz werden bis zu 100 000 Hektar zur Verfügung ge- stellt. Bis zu 50 000 Hektar erhalten Länder bzw. Natur- schutzverbände oder -stiftungen unentgeltlich; im Einzelnen sind das 20 000 Hektar Totalreservate, bis zu 20 000 Hektar Forstflächen in bestimmten Schutzkatego- rien sowie bis zu 10 000 Hektar kleine Forstflächen. Wei- tere bis zu 50 000 Hektar können wert- und annähernd flächengleich mit landeseigenen Wirtschaftsflächen ge- tauscht werden; bei landwirtschaftlichen Flächen oder kleinen Waldflächen ist auch ein Kauf zum Verkehrswert möglich. Übrigens sprechen auch die kritischen Anmerkungen, die während des Gesetzgebungsverfahrens von praktisch allen Interessengruppen gemacht wurden, dafür, dass ein ausgewogener Kompromiss gefunden wurde: Wenn keine Seite völlig zufrieden mit dem Ergebnis ist, ist zumindest niemand einseitig bevorzugt worden. Man darf deshalb zu Recht hoffen, dass mit dem Ge- setzentwurf ein Schlussstrich unter ein wichtiges Kapitel der deutschen Wiedervereinigungsgeschichte gezogen wird. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zu den Anträgen: – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Die Rechte der Bürger stärken – für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbindlichkeit der Europäischen Grund- rechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechts- konvention – Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechtecharta (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Klaus Grehn (PDS): Es liegen dem Hohen Hause vier Anträge vor, mit denen die Fraktionen des Deutschen Bundestages Einfluss nehmen wollen auf die Ausarbei- tung einer Charta der Grundrechte, die in der Europä- ischen Union gelten sollen. Unser Land hat Verdienste um ein solches Vorhaben, denn vom EU-Gipfel in Köln Ende vergangenen Jahres erging die Aufforderung zur Ausar- beitung eines solchen Regelwerkes an den später berufe- nen Konvent unter der Leitung von Roman Herzog. Wir möchten von dieser Stelle aus dem Alt-Bundespräsiden- ten danken für seine bisherige Arbeit, für die umsichtige und kompetente Leitung des Konvents bei den Beratun- gen, öffentlichen Anhörungen und Fachdiskussionen. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten bei dem Ver- such, überall in der Europäischen Union und für jeder- mann gleichermaßen geltende Grundrechte festzuschrei- ben. Dennoch lassen die Anträge aller Fraktionen ein ho- hes Maß an Übereinstimmung in den Standpunkten erkennen, sieht man einmal davon ab, dass der Antrag der CDU/CSU allzu bescheiden ist und sich gerade der Aner- kennung gleicher sozialer Grundrechte in der Union ver- weigert. Unter anderem wegen dieses entscheidenden Un- terschiedes werden wir diesem Antrag nicht zustimmen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011050 (C) (D) (A) (B) Wir verweisen darauf, dass es jenseits aller juristischen Spitzfindigkeiten auf den politischen Gestaltungswillen der Bundesrepublik Deutschland und all der anderen Mit- gliedsländer und ihrer Regierungen ankommt. Es ist falsch, dass Gesetze und bisherige Praxis den Rahmen vorgeben, in dem etwas Neues sich vollziehen darf. Ge- setze können verändert, neue können beschlossen wer- den, wenn sie das als richtig und notwendig Erkannte ver- hindern. Das ist die alltägliche Praxis in der parlamenta- rischen Demokratie und unser täglich Brot. Und es besteht dringender Handlungsbedarf, die durch die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffene Einheit durch einklag- bare Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen. Denn die Europäische Union muss für ihre Bürgerinnen und Bürger erkennbar werden – damit kann Misstrauen und Desinteresse abgebaut werden, das nicht zuletzt durch die Art und Weise sowie den Inhalt von Entschei- dungen zur Wirtschafts- und Währungsunion gewachsen ist, die über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen wurden. Sie müssen nun ihre Rechte verständlich, schrift- lich fixiert und konkret einklagbar gegenüber EU-Institu- tionen in einem Grundrechtekatalog wiederfinden. Denn schon jetzt greifen Entscheidungen der EU stärker in das Alltagsleben ein, als mancher wahrhaben will. Die Bürger Europas wollen keine EU mit einem „Krieg der Stand- orte“, gnadenloser Konkurrenz zwischen Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmern und europaweitem Sozialab- bau. Soziale Grundrechte und ihre Fixierung entlang der am deutlichsten im PDS-Antrag vorgegebenen Linien sind unverzichtbar. Das Recht auf eine menschenwürdige und einkommenssichernde Erwerbsarbeit, eine soziale Grundsicherung – solange für die Menschen massenhaft keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen – ohne Er- werbsarbeitszwang im Niedriglohnbereich, das Recht auf umfassende Gesundheitsvorsorge und der kostenlose Zu- gang zu Bildung sind notwendig, um aus dem Europa des freien Waren- und Kapitalverkehrs ein soziales Europa zu schaffen. Dazu haben sich im Übrigen alle Fraktionen die- ses Hauses bekannt. Warum wehrt man sich bei der CDU/CSU und F.D.P. gegen die Aufnahme des Rechtes auf Arbeit in die Charta, obwohl es doch selbst in der bayerischen Landesverfassung verankert ist? Nebenbei bemerkt: Bereits 1905 stellte der politisch unverdächtige Schweizer Moralist Hilthy fest, dass das Recht auf Arbeit das ursprünglichste aller Menschenrechte ist. Ein Europa ohne Sozialunion geht an den Bürgern vor- bei. Sie alle kennen den in Umfragen überdeutlich sicht- baren Trend zunehmender Skepsis gegenüber der EU an- gesichts der Gefahren von Sozialdumping, zunehmender Armut und hoher Arbeitslosigkeit. Obwohl soziale Grund- rechte zweifelsfrei ein Standortvorteil für Europa sind, wenden manche sich gegen soziale Grundrechte, weil sie nicht bezahlbar wären und als rein ideelle Zielbestim- mung von Staaten im Grunde ausreichend berücksichtigt wären. Gleichzeitig aber erleben wir, dass die Schere zwi- schen Arm und Reich immer weiter aufgeht und sich re- gionale Ungleichgewichte trotz aller Förderprogramme ausweiten. Dieser Entwicklung müssen wir entgegensteu- ern. Für allzu viele nämlich bedeutet das, dass sie durch ihr Leben am oder unter dem Existenzminimum ihre Grund- und Freiheitsrechte praktisch verlieren. Der Antrag der PDS sieht deshalb vor, dass in Durch- setzung des Sozialstaatsprinzips soziale Grundrechte in der Charta verankert werden und ein politischer Wille der europäischen Regierungen sichtbar wird, der die Grund- lagen schafft, diese Rechte auch durchzusetzen. Wir hof- fen, dass auch mit der zu vermutenden Annahme des An- trages der regierenden Koalition der gegenwärtig zu verzeichnende Trend zur Ausblendung aller wirklichen Fortschritte für die Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich ihrer politischen und sozialen Rechte gestoppt wird. Die Bundesregierung muss ihr durch den Deutschen Bundes- tag verliehenes Mandat tatsächlich anwenden, um ihren Einfluss und ihr Gewicht einzusetzen, die groß und hoff- nungsvoll angekündigte Charta der Grundrechte in ihrer Substanz auch gegen den Widerstand anderer Staaten der EU zu retten. Diese Charta darf nicht zu einem bedeu- tungslosen Anhang, zu einer weiteren bloßen Willenser- klärung verkommen. Sie muss Bestandteil des Vertrages von Amsterdam werden und einklagbare politische und soziale Grundrechte auf der europäischen Ebene schaffen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset- zes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 26) Joachim Stünker (SPD): Mit dem vorliegenden Ge- setzentwurf unterbreiten die Koalitionsfraktionen einen Vorschlag zur Neugestaltung der Gefangenenentlohnung im Strafvollzugsgesetz. Diese Neuregelung ist dringend erforderlich. In seinem Urteil vom 1. Juli 1998 hat das Bundesverfassungsgericht die bisherige Entlohnungspra- xis für verfassungswidrig erklärt, da sie keine angemes- sene Anerkennung für zugewiesene Arbeit im Strafvoll- zug gewährleistet. Die weitere Anwendung der geltenden Regelung ist daher in dem Urteil bis längstens 31. De- zember 2000 beschränkt worden. Sollte bis dahin keine Neuregelung in Kraft getreten sein, entscheiden künftig die zuständigen Gerichte über die Bemessung des Ar- beitsentgelts. Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung be- tont, dass unser Grundgesetz den Gesetzgeber zur Ent- wicklung und Umsetzung eines wirksamen Konzeptes der Resozialisierung im Strafvollzug verpflichtet. Für die Ausgestaltung der Gefangenentlohnung bedeutet dies – ich zitiere –: „Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefange- nen als Pflichtarbeit zugewiesen ist, ist nur dann ein wirk- sames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese ... Anerkennung muss geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regel- mäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.“ Dieses Resozialisierungsgebot, das ja in unserer heuti- gen Gesellschaft leider immer weniger auf Zustimmung zu stoßen scheint, ist eben nicht sozialromantische Spin- nerei, sondern folgt unmittelbar aus Art. 2 Abs. 1 in Ver- bindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und hat damit Verfassungsrang. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11051 (C) (D) (A) (B) Sie alle wissen, die Ausgestaltung des Strafvollzugs und die Situation von Gefangenen ist in unserer Medien- gesellschaft ein schwieriges Thema. Oft wird verkürzt und unsachlich berichtet oder Stimmungsmache betrie- ben. Ich möchte daher an dieser Stelle betonen, wie froh ich darüber bin, dass das Bundesverfassungsgericht im- mer wieder – auch gegen den Zeittrend – die Wertent- scheidungen unserer Verfassung unterstreicht und für ihre Gewährleistung gerade auch im Interesse der Schwachen Sorge trägt. Ich bin der festen Überzeugung, ohne besagte Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts würden wir hier heute in diesem Hohen Hause nicht über das Reso- zialisierungsgebot und einen Gesetzentwurf zur Erhö- hung der Gefangenenentlohnung diskutieren. Die Befürchtung, dass dieses Thema von interessierter Seite für Desinformationszwecke missbraucht wird, ist leider traurige Realität. So bin ich nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung aus meinem Wahlkreis mit der Frage kon- frontiert worden, ob es richtig sei, dass die Bundesregie- rung eine Erhöhung der Bezüge von Strafgefangenen um 40 Prozent plane, wohingegen Tariferhöhungen in ande- ren Bereichen doch nur zwischen 1,5 und 5 Prozent lägen. Einem solchen Umgang mit dem sensiblen Thema sollten wir im Interesse unserer Verfassungsgüter alle gemeinsam entgegentreten. Fakt ist doch, dass die bei In-Kraft-Treten des Straf- vollzugsgesetzes kontinuierlich vorgesehene Steigerung der Gefangenenentlohnung vonseiten des Gesetzgebers eben nicht in die Wege geleitet worden ist. Die in § 200 StVollzG festgeschriebene Höhe der Eckvergütung be- trägt seit 1976 kontinuierlich 5 Prozent der Bezugsgröße des Durchschnittseinkommens aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten. De facto bedeutet das eine Entlohnung von 10 DM für einen sechsstündigen Ar- beitseinsatz. Der Feststellung des Bundesverfassungsge- richts, dass Pflichtarbeit mit solcher Entlohnung kein ge- eignetes Resozialisierungsmittel darstelle, da es an einer angemessenen Anerkennung fehle, die den Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen führe, kann man sich kaum entziehen. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1998 hat es zwischen Bund und Ländern diverse Versuche gegeben, sich gemeinsam auf eine Neuregelung zu verständigen. Dieses ist jedoch letztendlich im Span- nungsfeld zwischen einer den verfassungsrechtlichen An- forderungen genügenden Ausgestaltung des Strafvollzugs und den sich daraus ergebenden erheblichen finanziellen Folgen für die Bundesländer gescheitert. Ich denke, in diesem Hohen Hause stimmen wir alle darin überein: Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, dafür Sorge zu tragen, dass vor Ablauf der Übergangsfrist Ende des Jahres eine Neuregelung zustande kommt. Wir dürfen nicht sehenden Auges eine Rechtszersplitterung hinnehmen, wie sie bei Vergütungsentscheidungen im Er- messen der einzelnen Gerichte droht. Mit unserem heuti- gen Gesetzentwurf legen wir deshalb einen Vorschlag zur Ausgestaltung der Gefangenenentlohnung vor. Im Einzelnen: Der Gesetzentwurf sieht vor, die Höhe der Eckvergütung von 5 Prozent auf 15 Prozent der Be- zugsgröße zu erhöhen. In der Praxis bedeutet dies für voll- beschäftigte Gefangene eine deutliche Erhöhung von der- zeit circa 215 DM monatlich auf circa 660 DM monatlich. Damit wird dem Petitum nach einer angemessenen Ent- lohnung Genüge getan. Der Vorschlag einiger Länder, die Eckvergütung nur auf 7 Prozent der Bezugsgröße zu erhöhen, ist zwar aus Sicht der Finanzsituation der Länder verständlich, verfas- sungsrechtlich aber problematisch. Er wird im Übrigen auch von Justizvollzugspraktikern, wie der Beitrag von Thomas Ullenbruch in der ZRP vom Mai dieses Jahres zeigt, nicht unterstützt. Wichtig ist aber nicht nur die absolute Höhe der künf- tigen Gefangenenentlohnung. Viel entscheidender ist aus meiner Sicht die Möglichkeit der Verwendung, die wir den Gefangenen einräumen. Hier setzt der Gesetzentwurf besondere Maßstäbe. Die Erhöhung der Entlohnung soll insbesondere drei Zwecken dienen: erstens der Wieder- gutmachung gegenüber den Opfern der Straftaten; zwei- tens dem Abbau der oft erheblichen Schuldenlast der Gefangenen während ihrer Inhaftierung; drittens der Möglichkeit zur Ansparung eines deutlich höheren Über- brückungsgeldes. Dieses wird dadurch sichergestellt, dass den Gefange- nen künftig statt eines Anteils von bisher zwei Dritteln nur noch ein Viertel ihrer monatlichen Bezüge im Strafvoll- zug als Hausgeld für Einkaufszwecke zur Verfügung steht. Nominal bedeutet dies aufgrund der Erhöhung der Eckvergütung bei vollbeschäftigten Gefangenen immer noch eine Anhebung um circa 22 DM. Der überwiegende Teil der Erhöhung von über 420 DM steht aber durch diese Ausgestaltung nicht für den Einkauf zur Verfügung, sondern kann für die oben genannten Zwecke eingesetzt werden. Der Entwurf setzt dadurch auch inhaltliche Maßstäbe, indem wir im Einklang mit unseren rechtspolitischen Be- strebungen im Bereich des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts eine Verbesserung der Stellung von Verbrechensopfern ermöglichen, wie sie von Kriminolo- gen und Strafrechtswissenschaftlern seit mehr als 20 Jah- ren mit Nachdruck gefordert wird. So kann künftig aus den erhöhten Gefangenenbezügen vom Täter verstärkt Wiedergutmachung für die Opfer seiner Straftaten geleis- tet werden. Dadurch kann der Gefangene stärker als bis- her angehalten werden, sich im Strafvollzug mit den Fol- gen seiner Tat sowie dem Opfer und dem diesen entstan- denen Schaden auseinander zusetzen. Weiterhin verstärken wir das Resozialisierungselement im Strafvollzug: Heute sind nach Angaben der Bundesar- beitsgemeinschaft Straffälligenhilfe etwa drei Viertel aller Gefangenen erheblich verschuldet. Es ist unbestritten, dass die Bewältigung dieser Schuldenlast während und nach der Haft eine wesentliche Rolle bei der Wiederein- gliederung von Gefangenen spielt. Durch die Neurege- lung verbessern wir die Möglichkeit zum Schuldenabbau und steigern damit auch die Resozialisierungschancen der Betroffenen. Entsprechende Bedeutung kommt auch der verbesser- ten Möglichkeit zur Ansparung des Überbrückungsgel- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011052 (C) (D) (A) (B) des zu. Viele Gefangene benötigen unmittelbar nach der Entlassung, noch bevor staatliche Mittel verfügbar sind, größere Geldbeträge, insbesondere zur Wohnungs- und Arbeitssuche. Die Verfügbarkeit entsprechend hoher Überbrückungsgeldbeträge stärkt die Wiedereingliede- rung und trägt auch dem Gedanken, finanzielle Vorsorge für sich und unterhaltsberechtigte Angehörige zu treffen, Rechnung. Der Gesetzentwurf stellt auch sicher, dass die Vergü- tungserhöhung Gefangenen, die an Maßnahmen der Schul- und Berufsbildung teilnehmen, zugute kommt. Damit stärken wir den Anreiz zur Teilnahme an Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen – auch das ein Beitrag zur Stärkung des Resozialisierungsgedankens im Straf- vollzug. Fazit: Mit unserem Gesetzentwurf legen wir dem Bun- destag ein gelungenes Konzept zur verfassungsgerichtlich geforderten Umgestaltung der Gefangenenentlohnung vor, das die Resozialisierung im Strafvollzug nachhaltig unterstützen wird. Ich hoffe, der Entwurf findet breite Zu- stimmung in diesem Hohen Haus. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):Wir beschäftigen uns heute mit dem Gesetzentwurf der Regierungskoali- tion zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, bei dem es um die Neuregelung der Gefangenenentlohnung geht. Es besteht zwingender Handlungsbedarf, weil die der- zeitige Regelung der Gefangenenentlohnung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Resozia- lisierungsgebot unvereinbar ist. Die Regierungskoalition hat sich Zeit gelassen mit der Erarbeitung und Einbrin- gung des Gesetzentwurfes und es gerade noch geschafft, die erste Lesung zum letztmöglichen Zeitpunkt vor der parlamentarischen Sommerpause auf die Tagesordnung zu setzen. Die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist für eine verfassungskonforme Neuregelung läuft be- kanntlich am 31. Dezember dieses Jahres aus. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil die Höhe des Arbeitsentgelts als einen Faktor angesehen, von dem abhängt, ob die nach Art. 12 Abs. 3 GG zulässige Pflichtarbeit und die Arbeitszuweisung im Strafvollzug als Mittel der verfassungsrechtlich gebotenen Resoziali- sierung geeignet sind. Arbeit im Strafvollzug, die den Ge- fangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, sei nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleis- tete Arbeit eine angemessene Anerkennung finde. Den Gefangenen müsste in einem Mindestmaß bewusst ge- macht werden können, dass Erwerbsarbeit zur Herstel- lung einer Lebensgrundlage sinnvoll ist. Voraussetzung dafür, dass einem Gefangenen die Angemessenheit der Vergütung der Arbeit vor Augen geführt werde, sei jedoch ein transparentes und nachvollziehbares Berechnungs- system. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge- setzgeber bei der Regelung dessen, was angemessen ist, einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt, innerhalb dessen die typischen Bedingungen des Strafvollzugs in Rechnung gestellt werden können. Hiermit hat das Bun- desverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt, dass die zu gewährende Anerkennung der Pflichtarbeit nicht dem tatsächlichen Wert der von den Gefangenen geleisteten Arbeit entsprechen muss, sondern in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auch unterhalb dieses Wertes lie- gen kann. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht ausgespro- chen, dass die Anerkennung der geleisteten Arbeit nicht notwendig finanzieller Art sein muss. Anerkennung sei nicht nur ein monetäres Konzept; vielmehr sei die mo- derne Gesellschaft geradezu darauf angewiesen, dass frei- willig geleistete oder auch zugewiesene Arbeit andere als finanzielle Formen der Anerkennung erfahre. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes besteht grundsätzlich eine Vielzahl verschiedener Mög- lichkeiten, um Gefangenen, denen eine Arbeit oder eine sonstige Beschäftigung zugewiesen oder zugeteilt worden ist oder die zu einer Hilfstätigkeit verpflichtet worden sind, eine angemessene Anerkennung ihrer regelmäßigen Arbeit zu gewähren, nämlich monetäre Konzepte, nicht monetäre Konzepte oder Kombinationsmöglichkeiten aus beiden. Soweit die Ausgangslage aufgrund der Karlsruher Vor- gabe. Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Regierungs- koalition geht über diese Vorgaben des Bundesverfas- sungsgerichts weit hinaus – und ist dennoch kein großer Wurf. Das Bundesjustizministerium hätte sich besser ori- entieren sollen an dem ohne Gegenstimmen beschlosse- nen Vorschlag der Herbstkonferenz der Justizministerin- nen und Justizminister der Länder. Stattdessen will Frau Däubler-Gmelin die Gefangenenentlohnung um ganze 200 Prozent erhöhen. So sieht der Entwurf unter anderem vor, das Arbeitsentgelt von 5 Prozent der Eckvergütung auf 15 Prozent zu verdreifachen. Eine solche Regelung würde nicht nur die Länder- haushalte in kaum zu vertretender Weise belasten, son- dern auch in erheblichem Maße zum Abbau von Arbeits- plätzen führen. Allein den bayerischen Staatshaushalt beispielsweise würde die Verdreifachung der Gefangene- nentlohnung mit Mehrkosten in Höhe von etwa 33,4 Mil- lionen DM belasten. Die Bundesjustizministerin will also die Länder zwin- gen, den Gefangenen weit mehr als das von Verfassungs wegen Gebotene zu bezahlen. Dies ist nicht nur eine ab- solut unnötige Mehrbelastung der Länderhaushalte, son- dern gleichzeitig eine Maßnahme, die sich de facto mit- telfristig nachteilig auf die Arbeitsplatzsituation in den Justizvollzugsanstalten und damit auf die Resozialisie- rungsmöglichkeiten im Vollzug auswirken würde. Eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes in dieser Dimen- sion würde insgesamt zu einer so erheblichen Verteuerung der Arbeitsleistung der Gefangenen führen, dass damit die – schon jetzt angesichts der Öffnung der Grenzen schwierige – Konkurrenzsituation der Justizvollzugsan- stalten gegenüber Billiglohnländern weiter verschärft würde. Die Justizvollzugsanstalten wären gezwungen, das erhöhte Arbeitsentgelt wenigstens zu erheblichen Tei- len selbst zu erwirtschaften. Die Folge: Die Gefangenen- arbeit würde sich deutlich verteuern. Für private Unter- nehmen wäre es aber dann kaum mehr interessant, in den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11053 (C) (D) (A) (B) JVAs eigene Arbeitsbetriebe zu unterhalten; viele dieser Unternehmerbetriebe würden abwandern. Die Justizvoll- zugsanstalten müssten die erhöhten Arbeitskosten auf die Preise umlegen und könnten deshalb weniger Aufträge einholen. Das Ergebnis wäre eine drastische Zunahme der Arbeitslosigkeit in den Justizvollzugsanstalten. Dies liefe nicht nur dem Anliegen des Bundesverfas- sungsgerichts diametral entgegen, die Bedingungen für eine Resozialisierung der Gefangenen zu verbessern, son- dern würde infolge der Zusammenballung beschäfti- gungsloser Strafgefangener auch zu einer erheblichen Ge- fährdung der Sicherheit und Ordnung in den Justizvoll- zugsanstalten führen. Auch in einem weiteren Punkt geht der Gesetzentwurf über das hinaus, was das Bundesverfassungsgericht ver- langt: Während Karlsruhe seine Vorgaben allein auf das Arbeitsentgelt für die zur Arbeit verpflichteten Strafge- fangenen bezieht, will die Bundesjustizministerin auch die Löhne für die auf freiwilliger Basis Beschäftigten, die Untersuchungsgefangenen und die jugendlichen Gefan- genen, einbeziehen. Außerdem hat das Bundesverfas- sungsgericht, wie bereits erwähnt, in seiner Entscheidung ausdrücklich klargestellt, dass die zu gewährende Aner- kennung der Pflichtarbeit nicht notwendig finanzieller Art sein muss. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht jedoch keine Regelung zur immateriellen Vergütung der Gefan- genenarbeit vor. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt deshalb den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf ab und wird in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, der sich an dem einmütigen Beschluss der Justizministe- rinnen und Justizminister der Länder vom Herbst 1999 orientiert. Wir wollen die Erhöhung des Arbeitsentgelts für die zur Arbeit verpflichteten Strafgefangenen auf das von Verfassungs wegen erforderliche Maß beschränken. Das heißt konkret: Wir befürworten eine Steigerung der Löhne der Gefangenen in Höhe von 40 Prozent statt 200 Prozent. Für die Länderhaushalte und damit die Steuerzahler be- deutet das, dass sie jährlich um circa 189 Millionen DM weniger belastet werden als nach den Vorstellungen der Bundesjustizministerin. Die weder zweckmäßige noch verfassungsrechtlich gebotene Einbeziehung von Unter- suchungsgefangenen, Gefangenen in freien Beschäfti- gungsverhältnissen und jugendlichen Strafgefangenen lehnen wir ab. Dafür wollen wir den Vorgaben des Bun- desverfassungsgerichtes entsprechend die Möglichkeit von bis zu sechs zusätzlichen Freistellungstagen vorse- hen, die durch Ableistung von Pflichtarbeit angespart werden können. Der Strafgefangene kann diese dann zur Vorverlegung des Entlassungszeitpunktes oder zur Ge- währung von Urlaub aus der Haft nutzen. Dies dürfte nicht nur im Interesse des Gefangenen sein, sondern ent- lastet auch den Steuerzahler. Außerdem bin ich der Meinung, dass wir uns anlässlich dieser Diskussion um die Änderung des Strafvollzugs auch einmal intensiv mit dem Gedanken beschäftigen sollten, in welchem Umfang eine teilweise Privatisierung des Strafvollzugs bei uns möglich und sinnvoll ist. Die Er- fahrungen in Frankreich und England mit teilprivatisier- ten Haftanstalten sind durchweg gut. In Hessen gibt es ja unter der von CDU und F.D.P. geführten Regierung hierzu erste Ansätze. Ich glaube, dass man damit den Staat ent- lasten, Geld sparen und die Resozialisierung verbessern kann. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mehr als zwanzig Jahre hat es gedauert, bis dem Bundes- verfassungsgericht im Juli 1998 bei der Strafgefangenen- entlohnung der Geduldsfaden gerissen ist. Über zwei Jahrzehnte lang ist eine mit dem Grundgesetz kompatible Entlohnung vor allem am Widerstand der Länder ge- scheitert. Der heutige Gesetzentwurf macht endlich Schluss mit einem verfassungswidrigen und auch menschenunwürdi- gen Zustand in unseren Gefängnissen: Ein Stundenlohn von DM 1,72 stellt keine angemessene Anerkennung der Arbeitsleistung klar. Diese Unterbezahlung – man kann sie auch als Ausbeutung bezeichnen – läuft dem Zweck des Strafvollzuges, die Täter zu resozialisieren, zuwider: Wer die Gefangenen auf ein straffreies Leben in Freiheit vorbereiten will, muss ihnen auch den Sinn einer bezahl- ten Tätigkeit bewusst machen. Wer sie jedoch hinter Git- tern noch zusätzlich desillusioniert, darf sich später über die Folgen nicht wundern: Denn wer im Knast gelernt hat, dass sich Arbeit nicht lohnt, geht später auch in Freiheit lieber klauen. Sinn dieser Lohnerhöhung ist ja nicht, dass dem Ge- fangenen künftig mehr (Haus)-Geld für den Einkauf beim Anstaltskaufmann zur Verfügung steht. Nein, viel wichti- ger ist, dass wir den Gefangenen helfen, ihren Schulden- berg zu tilgen oder ihre Unterhaltsverpflichtungen zu er- füllen. Nach Berechnungen der Bundesarbeitsgemein- schaft für Straffälligenhilfe sind rund drei Viertel aller Gefangenen erheblich verschuldet. Auch viele Opfer von Straftaten gehen deshalb leer aus. Diese Mittel aber dür- fen den Gefangenen nicht vorenthalten werden. Auch das folgt aus dem Resozialisierungsgebot des Grundgesetzes. Wie in den Jahren zuvor protestieren auch jetzt wieder die Länder. Wer jetzt aber die „maßvollen“, weil kosten- sparenden Vorschläge von der Justizministerkonferenz im letzten Herbst begrüßt, sollte sich bitte einmal zurück- erinnern: Der verfassungswidrige Bezugsgrößen-Eckwert von 5 Prozent war bei In-Kraft-Treten des Strafvollzugs- gesetzes 1977 nur als Basiswert für die Anfangszeit des Gesetzes vorgesehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte er eigentlich stufenweise bis 1986 auf 40 Prozent angehoben werden. 7 Prozent sind zu wenig. („tageszei- tung“, 7. Juli 2000) Im Vergleich zum Willen des Gesetzgebers ist also un- ser heutiger Vorschlag durchaus ein maßvoller: Eine Er- höhung des Wertes auf 15 Prozent – also ein Monatslohn von knapp 660 DM – stellt nach Einschätzung von Ex- perten sogar nur die Untergrenze des verfassungsrechtlich Vertretbaren dar. Der frühere Verfassungsrichter Kruis, der selbst an dem Urteil von 1998 mitgewirkt hat, sagt: „Ein zweistelliger Betrag sollte es schon sein.“ Die Eckwerte der Justizminister vom November 1999 halten einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011054 (C) (D) (A) (B) stand. Auch jetzt hat sich der rheinland-pfälzische Justiz- minister Mertin wieder für eine Erhöhung des Bezugs- größenanteils um gerade mal zwei Prozentpunkte ausge- sprochen. So nachvollziehbar angesichts der knappen Länderkassen dieser Vorschlag auch ist: Mit welchen Mit- teln bitte sollen die Gefangenen dann Wiedergutmachung an die Opfer und Unterhalt an ihre ohnehin schon gebeu- telten Familien leisten? Herr Kollege Funke, Sie haben kürzlich den Vorschlag der Koalition als „zu niedrig“ be- zeichnet. In Ordnung. Ich wäre Ihnen aber sehr dankbar, wenn Sie ihre Parteifreunde in den Ländern von dieser Meinung überzeugen könnten. Richtig ist: Karlsruhe hat sich nicht auf eine rein mo- netäre Lösung festgelegt. Und eine solche präsentieren wir Ihnen heute auch nicht. Ich nenne nur die Ausdehnung des Freistellungszeitraumes von 18 auf 24 Tage. Auch Haftzeitverkürzungen („good-time-Konzepte“), wie es die Länder vorschlagen, haben wir geprüft. Aber soll der Entlassungszeitpunkt etwa davon abhängen, ob in der An- stalt zufällig ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht oder aber ob ein Gefangener entschuldigt oder unentschuldigt der Pflichtarbeit ferngeblieben ist? Die verfassungsrecht- lichen Bedenken liegen auf der Hand. Und eine weitere Rüge aus Karlsruhe sollten wir uns alle ersparen. Rainer Funke (F.D.P.): Auch das Änderungsgesetz zum Strafvollzugsgesetz zeigt in eklatanter Weise, wie wenig sorgfältig zurzeit Vorgaben des Bundesverfas- sungsgerichts umgesetzt werden. Das Verfassungsgericht hat angeordnet, dass längstens bis zum 31. Dezember 2000 § 200 Strafvollzugsgesetz zu ändern ist. Offensicht- lich weil das Justizministerium noch keine beschlussreife Vorlage für das Bundeskabinett hat fertigen können, ist wie bei anderen Gesetzesvorschlägen, die wir heute bera- ten haben, der Weg über die Fraktionsanträge gewählt worden. Bei einer solch wichtigen Frage, die die Länder massiv, auch finanziell, betrifft, wäre der ordnungs- gemäße Weg über Kabinett und Zuweisung an Bundesrat der einzig richtige gewesen, damit der Bundestag auch unter Berücksichtigung der Bundesratsinteressen hätte beraten können. Durch den jetzt gewählten Weg wird dem Bundestag nur nachträglich die Möglichkeit gegeben, seine Meinung zu äußern; das ist wenig länderfreundlich. Aber auch in der Sache ist der Gesetzesentwurf nicht ausgereift. Tatsächlich wird nur an der Schraube der Ver- gütung gedreht, statt auch sonstige Strafvollzugsfragen mit zu berücksichtigen. Die Arbeit von Strafgefangenen muss nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts angemessen vergütet werden. Ich halte das auch für richtig, weil Anreize zur Arbeit der Resozialisierung des Strafgefangenen dienen. Er wird ausgebildet, hat auch während der Strafhaft eine sinnvolle Beschäftigung und soll mit seinem Entgelt auch dazu beitragen, später nicht der Sozialhilfe zur Last zu fal- len. Ich teile daher nicht die Auffassung der Länder, dass eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes einseitig zur Belas- tung der Justizhaushalte wird; vielmehr kann dadurch auch eine Entlastung des Sozialetats eintreten. Dieses gilt nicht nur für die unmittelbare Zeit nach der Haftentlas- sung, sondern auch für die Zeit im Rentenalter, da der Strafgefangene durch angemessene Entlohnung in der Strafhaft bei Arbeitsaufnahme auch Rentenansprüche er- wirbt. Die bisher bekannt gewordenen Einlassungen der Lan- desjustizminister zeigen auch zu Recht, dass eine Insel- lösung, die lediglich die Vergütungsregelung betrifft, we- nig hilfreich ist. Auch die Frage, ob mit dem Arbeitsent- gelt eine Auflage verbunden werden kann und muss, ob der Strafgefangene angerichtete Schäden von dem erwor- benen Arbeitsentgelt zu begleichen hat, sollte berücksich- tigt werden. Mit anderen Worten: Wir Freien Demokraten regen eine umfassendere Regelung an. Es wäre daher bes- ser gewesen, dies nicht unter Zeitdruck machen zu müs- sen, wie es jetzt die Bundesregierung offensichtlich tat. Vielmehr sollten wir jetzt die Zeit nutzen, intensiv die Frage der Entlohnung von Strafgefangenen grundsätzlich im Rechtsausschuss zu beraten. Ulla Jelpke (PDS): SPD und Grüne behaupten im vor- liegenden Gesetzentwurf, sie wollten, ich zitiere, „eine Neuregelung der Gefangenenentlohnung schaffen, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist und die den Strafvollzug den Zielen der Schadenswiedergutmachung und der Opferentschädigung näher bringt.“ Ich bestreite das. Außerdem geht es nicht nur um Scha- denswiedergutmachung und Opferentschädigung. Es geht auch um Resozialisierung der Gefangenen. Schon 1977, also vor 23 Jahren, war im damaligen Strafvollzugsgesetz eine Erhöhung der Gefangenenentlohnung bis 1986 auf 40 Prozent vorgesehen. Bei den Beratungen war damals sogar ein Tariflohn oder ein Lohn von 75 Prozent des Ta- rifs überlegt worden. Es ist schlimm, dass 20 Jahre später das Bundesverfas- sungsgericht kommen musste, um mit seinem Urteil vom 1. Juli 1998 wieder etwas Bewegung zu erzwingen. Das Gericht hat ganz richtig die derzeitige Entlohnung der Ge- fangenen als Verstoß gegen das Resozialisierungsgebot und gegen das Grundgesetz kritisiert. Ich finde, das zeigt, wie weit sich die Debatte in letzter Zeit vom Resoziali- sierungsgebot und der Humanisierung des Strafvollzugs weg bewegt hat. Jetzt sollen sich die Gefangenen mit einer Anhebung von 5 Prozent auf 15 Prozent zufrieden geben. Statt durch- schnittlich 200 DM bekommen sie dann vielleicht künftig 600 DM im Monat. Eine solche Anhebung reicht einfach nicht aus. Viele Gefangene sind mittellos, haben aber zugleich beträcht- liche finanzielle Verpflichtungen. Sie sind verpflichtet: zum Schadenausgleich für ihre Taten, zur Leistung von Unterhalt an Familienangehörige und zur Tilgung sonsti- ger Schulden. Etwa drei Viertel aller Gefangenen sind er- heblich verschuldet. Schon 1994 wurde in einer Untersu- chung festgestellt, dass Schulden zwischen 12 000 und 45 000 DM nicht selten sind. Wie soll da mit 600 DM im Monat eine Schadenswie- dergutmachung, ein Opferausgleich und außerdem noch eine Resozialisierung dieser Gefangenen möglich sein? Das geht einfach nicht. Das wissen auch alle. Die CDU/ CSU scheint deshalb das Gebot der Resozialisierung ganz Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11055 (C) (D) (A) (B) aufgeben zu wollen. Sie will einfach nur noch mehr Ge- fängnisse bauen. Eine solche Abkehr vom Resozialisierungsgebot ma- chen wir nicht mit. Wer Inhumanität im Strafvollzug will, hat uns zum Gegner. Bei meinen Besuchen in den JVAs im Mai in Nord- rhein-Westfalen haben alle Anstaltsleiter die tarifliche Entlohnung verlangt. Der stellvertretende Leiter der Jus- tizvollzugsanstalt in Freiburg hält eine Entlohnung von unter 20 Prozent sogar für verfassungswidrig. Auch im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepu- blik bei der Gefangenenentlohnung nur auf Platz neun, also weit hinten. Die PDS hatte deshalb schon 1995 einen Antrag einge- bracht, der die Bezahlung der Gefangenen nach Tariflohn sowie die gesetzliche Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung for- derte. Ich finde, diese Forderung ist weiter richtig. Die Absicht der Justizminister der Länder, den Eckwert nur auf 7 Prozent anzuheben, ist demgegenüber schlicht und einfach ein Skandal. Ich finde, es ist höchste Zeit, in der Diskussion über den Strafvollzug wieder den Gedanken der Resozialisie- rung und der Humanität – auch gegenüber den Gefange- nen – zu stärken. Der Gesetzentwurf der Regierungspar- teien genügt diesem Anspruch in meinen Augen nicht. Dr. Eckhart Pick (Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz): Der Gesetzentwurf, der heute beraten wird, hat eine lange Vorgeschichte: Mit dem Strafvollzugsgesetz aus dem Jahr 1977 wurde die „Ar- beitsbelohnung“ für Gefangene durch einen Anspruch auf Arbeitsentgelt ersetzt. Gefangene sollten grundsätz- lich freien Arbeitnehmern gleichstehen. Das Arbeitsent- gelt sollte ein Mittel zur Resozialisierung der Gefangenen sein. Es sollte ihnen die Früchte ihrer Arbeit unmittelbar vor Augen führen. Strafgefangene bekommen seither für ihre Pflichtarbeit ein Arbeitsentgelt in Höhe von 5 Prozent des Durch- schnittsentgeltes der Arbeitnehmer, die in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Dies sind zur Zeit etwa 220 DM im Monat „bei freier Kost und Logis“. Alle Ver- suche, das Arbeitsentgelt zu erhöhen, sind bisher unter Hinweis auf die zusätzlichen finanziellen Belastungen für die Länder gescheitert. Nimmt man die Zielsetzung des Strafvollzugsgesetzes ernst, muss die Arbeit von Gefangenen eine angemessene Anerkennung finden. Nur so kann auch der gesetzliche Auftrag erfüllt werden, Gefangene dabei zu unterstützen, für Unterhaltsberechtigte zu sorgen und den durch die Straftat verursachten Schaden wiedergutzumachen. Von einem Monatslohn von 220 DM kann ein Gefangener kei- nen Unterhalt leisten, geschweige denn Entschädigung an die Opfer seiner Straftaten leisten. So war es deshalb nicht überraschend, dass das Bun- desverfassungsgericht die derzeitige Regelung über die Gefangenenentlohnung für verfassungswidrig erklärt hat. Sie ist mit dem im Grundgesetz verankerten Resozialisie- rungsgebot nicht vereinbar. Dabei hat das Bundesverfas- sungsgericht die geltend gemachten finanziellen Schwie- rigkeiten der Länder durchaus gesehen und in seine Über- legungen einbezogen. Es hat ausgeführt, dass Arbeit im Strafvollzug, die den Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel sei, wenn die ge- leistete Arbeit „angemessene“ Anerkennung finde. Die Arbeit müsse geeignet sein, den Gefangenen den Wert re- gelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies Leben in Gestalt eines für sie greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, die Gefangenen- entlohnung bis zum Ende diesen Jahres neu zu regeln. Wir müssen nun tätig werden. Das Berufen auf leere Kassen hilft nicht weiter. Denn: Gelingt es nicht, die Gefangenen- entlohnung bis zum 1. Januar 2001 verfassungsgemäß auszugestalten, werden die Gerichte darüber entscheiden, wie das Arbeitsentgelt zu bemessen ist. Es ist davon aus- zugehen, dass die gerichtliche Festsetzung des Arbeits- entgeltes die Länder stärker belasten wird als die im Ent- wurf vorgeschlagene Neuregelung. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf werden die For- derungen des Bundesverfassungsgerichts durch die Er- höhung des Bezugsgrößenanteils von 5 auf 15 Prozent umgesetzt. Wer meint, dies sei zu großzügig bemessen, dem halte ich entgegen, dass wir eine Regelung brauchen, mit der wir verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite sind, eine Regelung also, die die Forderung des Bundes- verfassungsgerichts sicher erfüllt und die konsequent auf das Vollzugsziel der Resozialisierung gerichtet ist. Halbherzige Entscheidungen, die Gefahr laufen, einer sicher zu erwartenden erneuten verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht standzuhalten, werden insbesondere den Ländern schaden. Auch sollten wir die Gefahr ver- meiden, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetz- geber ein weiteres Mal vorschreibt, was er zu tun hat. Die Erhöhung der Gefangenenentlohnung eröffnet mehr Spielraum für die Opferentschädigung, für Unter- haltszahlungen und für die Schuldenregulierung. Dem Gefangenen selbst steht dagegen für den persönlichen Be- darf monatlich nur ein geringfügig größerer Betrag als bislang zur Verfügung. Damit werden die Gefangenen endlich – wenn auch nur ein kleines Stück weit – lernen können, Verantwortung zu übernehmen. Die Bundesre- gierung unterstützt deshalb diesen Koalitionsentwurf nachdrücklich. Durch die Erhöhung der Gefangenenentlohnung wer- den die Länder ohne Zweifel belastet. Ich möchte aber eindringlich davor warnen, zu glauben, es gäbe billigere Möglichkeiten. Der Gesetzentwurf berücksichtigt die Fi- nanzsituation in den Ländern. Obwohl es wünschenswert wäre, die Gefangenen endlich auch in die Kranken- und Rentenversicherung einzubeziehen, wird dies gerade mit Rücksicht auf die schlechte Haushaltslage der Länder nicht vorgeschlagen. Bei allem Verständnis für die Fi- nanznöte der Länder: Eine Erhöhung der Gefangenenent- lohnung in dem Umfang, wie sie der Koalitionsentwurf vorsieht, muss möglich sein. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 200011056 (C) (D) (A) (B) Anlage 10 Amtliche Mitteilung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Finanzausschuss Drucksache 14/3341 Nr. 2.34 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/3341 Nr. 2.45 Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Drucksache 14/2952 Nr. 1.2 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 14/3050 Nr. 2.24 Drucksache 14/3428 Nr. 2.3 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/3428 Nr. 2.21 Drucksache 14/3428 Nr. 2.22 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/2747 Nr. 2.3 Drucksache 14/2747 Nr. 2.4 Drucksache 14/2747 Nr. 2.5 Drucksache 14/2747 Nr. 2.6 Drucksache 14/2747 Nr. 2.7 Drucksache 14/2747 Nr. 2.8 Drucksache 14/2747 Nr. 2.9 Drucksache 14/2747 Nr. 2.10 Drucksache 14/2747 Nr. 2.11 Drucksache 14/2747 Nr. 2.12 Drucksache 14/2747 Nr. 2.13 Drucksache 14/2747 Nr. 2.14 Drucksache 14/2747 Nr. 2.29 Drucksache 14/2952 Nr. 2.11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der West- europäischen Union für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezem- ber 1999 – Drucksachen 14/2657, 14/2947 Nr. 1.2 – – Unterrichtung durch die Delegation der Interparlamentarischen Gruppe der Bundesrepublik Deutschland über die 102. Interparlamentarische Konferenz vom 10. bis 16. Oktober 1999 in Berlin – Drucksachen 14/2856, 14/3048 Nr. 2 – Innenausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Abwick- lung des Fonds fürWiedergutmachungsleistungen an jüdi- sche Verfolgte – Drucksachen 14/2436, 14/2736 Nr. 1 – Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 – Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben – bis zur Höhe von 42 780 TDM – Drucksachen 14/3291, 14/3419 Nr. 3 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung bei Kapitel 09 01 Titel 517 01 – Bewirtschaftung der Grundstücke, Ge- bäude und Räume – – Drucksachen 14/3289, 14/3419 Nr. 2 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 15 10 Titel 712 11 – Baumaßnahmen von mehr als 2 Milli- onen DM im Einzelfall; Neubau eines Labor- und Verwal- tungsgebäudes für das Bundesinstitut fürArzneimittel und Medizinprodukte – Drucksachen 14/3347, 14/3419 Nr. 4 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Über- und außerplanmäßige Ausgabe im ersten Vierteljahr des Haushaltsjahres 1998 – Drucksachen 13/10856, 14/272 Nr. 78 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Über- und außerplanmäßige Ausgaben im zweiten Viertel- jahr des Haushaltsjahres 1998 – Drucksachen 13/11328, 14/69 Nr. 1.26 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Über- und außerplanmäßige Ausgaben im dritten Viertel- jahr des Haushaltsjahres 1998 – Drucksachen 14/55, 14/69 Nr. 1.32 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Über- und außerplanmäßige Ausgaben im vierten Viertel- jahr des Haushaltsjahres 1998 – Drucksachen 14/455, 14/592 Nr. 1 – Ausschuss fürWirtschaft und Technologie – Unterrichtung durch die Regulierungsbehörde für Tele- kommunikation und Post Tätigkeitsbericht 1998/1999 der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post – Bericht nach § 81 Abs. 1 Te- lekommunikationsgesetz und nach § 47 Abs. 1 Postgesetz und Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 81 Abs. 3 Telekommunikationsgesetz und § 44 Postgesetz – Drucksachen 14/2321, 14/2555 Nr. 1.2 – Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches Sozialgesetz- buch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgeset- zes zur Überprüfung der Bedarfssätze der Berufsausbil- dungsbeihilfe – Drucksache 14/2424 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 115. Sitzung. Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000 11057 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Die für heute Morgen angekündigte Geschäftsord-
nungsdebatte entfällt, weil sich inzwischen alle Fraktio-
nen darauf verständigt haben, die von den Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und SPD verlangte Aktuelle
Stunde nach der Beratung des Entwurfs eines Zivilpro-
zessreformgesetzes durchzuführen. Die Aktuelle Stunde
wird somit voraussichtlich kurz nach 13 Uhr aufgerufen.

Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushalts-
woche vom 11. September 2000 keine Regierungsbefra-
gung, keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden
stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
erziehungsgeldgesetzes
– Drucksache 14/3553 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Bundeserziehungsgeldes
– Drucksache 14/3118 –

(Erste Beratung 99. Sitzung)


aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend (13. Ausschuss)

– Drucksache 14/3808 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Maria Eichhorn
Ina Lenke
Irmingard Schewe-Gerigk
Christina Schenk


(8. Ausschuss)

– Drucksache 14/3809 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Siegrun Klemmer
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Dr. Christa Luft

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Christina
Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS
Ausbau eines bedarfsgerechten und öffent-
lich geförderten Betreuungs- und Freizeit-
angebotes für Kinder bis zu 14 Jahren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Christina
Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreu-
ung für Frauen und Männer

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,
Dr. Irmgard Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erziehungszeit statt Erziehungsurlaub
– Drucksachen 14/2758, 14/2759, 14/3192,
14/3808 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Maria Eichhorn
Ina Lenke
Irmingard Schewe-Gerigk
Christina Schenk

Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeserzie-
hungsgeldgesetzes liegen ein Änderungsantrag und ein
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

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115. Sitzung

Berlin, Freitag, den 7. Juli 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-
nisterin Christine Bergmann das Wort.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-

(von Abgeordneten der SPD sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt)

men und Herren! Die Reform von Erziehungsgeld und Er-
ziehungsurlaub ist ein Kernstück unserer Familienpolitik
in dieser Legislaturperiode.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben damit nach jahrelangem familienpolitischen
Stillstand im Lande bewiesen: Wir gestalten Familienpo-
litik. Wir haben im Rahmen der Steuerpolitik finanzielle
Verbesserungen für Familien vorgenommen, wir haben
das Kindergeld erhöht und wir schaffen jetzt bessere Rah-
menbedingungen, damit Familien so leben können, wie
sie es gerne möchten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir nehmen dabei die vielfältigen Bedürfnisse von Fa-
milien sehr ernst. Wir eröffnen Eltern künftig mehr Wahl-
möglichkeiten für ihre individuelle Lebensgestaltung. Mit
der Reform des Erziehungsurlaubs erleichtern wir die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Väter und Müt-
ter in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch die Erhöhung der Einkommensgrenzen wer-
den zukünftig wieder mehr Familien in unserem Land Er-
ziehungsgeld erhalten. Dafür stellen wir jährlich etwa
300 Millionen DM zur Verfügung, und das trotz unseres
strengen Haushaltskonsolidierungskurses, den wir im In-
teresse künftiger Generationen und damit auch im Inte-
resse von Familien umsetzen.

Wenn ich jetzt vonseiten der Opposition Forderungen
höre, das sei alles nicht genug, dann muss ich mich schon
sehr wundern; denn seit 1986 hat es keine Veränderungen
bei den Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld ge-
geben. Sie hätten reichlich Zeit gehabt, die Entwicklung
ein Stück voranzutreiben.

Nach 14 Jahren Stillstand erhöhen wir jetzt die Ein-
kommensgrenzen für den Bezug von Erziehungsgeld ab
dem siebten Monat um rund 10 Prozent für Eltern mit ei-
nem Kind bzw. um rund 12 Prozent für Alleinerziehende
mit einem Kind. Der Kinderzuschlag bei den Einkom-
mensgrenzen wird für jedes weitere Kind im Jahr 2001
um 14 Prozent und in den Jahren 2002 und 2003 um je-
weils weitere 670 DM angehoben. Das kann sich schon
sehen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Reform des Erziehungsgeldgesetzes ist durch ge-
meinsame Anstrengungen der gesamten Bundesregierung
und der Regierungsfraktionen zustande gekommen. Ich
möchte an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen
für ihr Engagement ganz herzlich danken. Ich denke, auch
die Familien in diesem Lande werden das tun.

Wir tragen mit der hier vorgelegten Reform der geleb-
ten Vielfalt von Familien Rechnung. Wir versuchen das
traditionelle Rollendenken, also die traditionelle Aufga-
benverteilung, ein Stück weit zu überwinden.

Wir verabschieden uns jetzt auch von dem wider-
sprüchlichen Begriff „Erziehungsurlaub“.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das hat lange genug gedauert!)


Darüber sind wir uns alle einig. Wir haben ja alle aufge-
fordert, sich an der Debatte zu beteiligen. Bei aller Freude,
die mit Kindererziehung verbunden ist, wissen wir doch,
dass der Begriff „Urlaub“ vielleicht nicht ganz angebracht
ist. Wir werden den Erziehungsurlaub also künftig „El-
ternzeit“ nennen. Einverstanden?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Darauf können wir uns alle hier verständigen. In der Sa-
che lagen unsere Meinungen ja gar nicht weit auseinan-
der; aber Sie wissen doch so gut wie ich, dass manche Be-
griffe anders belegt sind und deshalb nicht zur Verfügung
stehen. Auf den Begriff „Elternzeit“ können wir uns aber
alle verständigen.


(Klaus Holetschek [CDU/CSU]: Familienzeit!)


Damit wird auch klar, worum es hier geht.
Meine Damen und Herren, Familienleben hat sich in

den letzten Jahren sehr gewandelt. Für die durchweg gut
ausgebildeten jungen Frauen ist das berufliche Engage-
ment heute selbstverständlich. Beide, sowohl die jungen
Frauen als auch die jungen Männer, wollen Beruf und Fa-
milie; beides gehört in ihre Lebensplanung hinein. Auch
die jungen Männer wollen, dass Partnerschaft und Fami-
lie gleichwertig neben dem Beruf stehen. Eine innovative
Familienpolitik muss zum Ziel haben, das zu ermögli-
chen. Junge Väter wollen heute mehr Zeit für ihre Kinder
haben. Das ist sehr erfreulich.


(Zuruf von der PDS: Ältere auch!)

– Da machen wir gar keine Abstriche; wir haben keine Al-
tersgrenze eingeführt.

Wir wissen aber auch, dass es noch eine frappierende
Differenz zwischen dem gibt, was uns als Wunsch vorge-
tragen wird und auch in der Freizeit zumindest gelebt
wird, und dem, wie dieses dann tatsächlich gehandhabt
wird, wenn Abstriche von der Erwerbsarbeit hingenom-
men werden sollen. Ich denke aber, dass die jungen Väter
heute erkannt haben, dass ihnen etwas entgeht, wenn sie
nur Wochenendpapas oder Abendpapas sind. Sie wollen
mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und mehr Verant-
wortung für die Erziehung der Kinder übernehmen. Ich




Präsident Wolfgang Thierse
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hoffe, dass die Möglichkeiten, die wir jetzt mit diesem
Gesetz neu eröffnen, von ihnen kräftig genutzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind darauf schon alle ganz gespannt. Denn jetzt sind
auch einmal die jungen Väter dran; die Mütter haben das
schon immer getan. Wir wollen die Väter darin unterstüt-
zen.

Wir schaffen mit diesem Gesetz die Wahlfreiheit bei
der Gestaltung der Aufgabenverteilung in der Familie; das
starre System des Erziehungsurlaubs bzw. der Elternzeit
gehört also nun der Vergangenheit an. Künftig können Vä-
ter und Mütter zur gleichen Zeit Elternzeit nehmen.

Wir erweitern die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit
während des Erziehungsurlaubes von derzeit 19 auf
30 Wochenstunden für jeden Elternteil, der Elternzeit in
Anspruch nimmt. Dank dieser Neuregelung müssen Väter
und Mütter, die Elternzeit in Anspruch nehmen, nicht aus
dem Beruf aussteigen. Von diesen Veränderungen kann
die ganze Familie profitieren, zuallererst natürlich die
Kinder, weil sich aktive Väter und zufriedene Eltern im-
mer positiv auf ihre Entwicklung auswirken. Es können
die Väter profitieren, weil ihnen Raum für eine aktive Va-
terschaft eingeräumt wird und sie ihr berufliches Engage-
ment gleichzeitig mit der Mutter reduzieren können. Ich
hoffe, die Väter tun es dann auch – ich sage das noch ein-
mal, weil man es gar nicht oft genug sagen kann – aber die
Mütter natürlich auch, weil sie künftig die Erziehungsar-
beit besser mit dem Partner teilen können. Wenn Mütter
oder Väter allein erziehend sind, schafft der Rechtsan-
spruch auf bis zu 30 Wochenstunden Teilzeitarbeit exis-
tenzielle Sicherheit. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Darüber hinaus profitieren auch die Betriebe von zu-
friedenen, motivierten und qualifizierten Eltern, die den
Kontakt zum Betrieb aufrechterhalten, ihre Qualifikation
und gleichzeitig ihre Erfahrungen und Kompetenzen aus
der Erziehungsarbeit in den betrieblichen Prozess einbrin-
gen. Wir wissen, dass die berühmten sozialen Kompe-
tenzen einen immer höheren Stellenwert in den Unter-
nehmen erhalten. Ich kann immer nur sagen: Das, was an-
sonsten in teuren Managementkursen antrainiert werden
muss, kann man sehr viel einfacher durch Inan-
spruchnahme von Elternzeit, die auch noch im Interesse
der Familien liegt, hinbekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sind alles Faktoren, die positiv zu Buche schlagen.
Ich möchte noch ein paar Worte zu den Unternehmen

sagen. Viele Betriebe in diesem Land haben es ja unter
Beweis gestellt: Familienfreundlichkeit und betrieblicher
Vorteil können Hand in Hand gehen.

Wir müssen auch sagen: Wenn wir familienfreundliche
Arbeits- und Lebensbedingungen in diesem Land schaf-
fen wollen, dann müssen viele ihren Beitrag dazu leisten.

Wenn dies nicht geschieht, führt dies zu Verhältnissen, die
nicht nur familienfeindlich, sondern auch inhuman sind.
Wir wollen eine Gesellschaft – darüber sind wir uns
einig –, die sich zu Kindern bekennt. Aber die Eltern, die
Kinder und Beruf miteinander verbinden wollen, müssen
auch Unterstützung von der Politik und, wie ich meine,
von den Unternehmen erfahren.

Zum ersten Mal wird es mit dem neuen Erziehungs-
geldgesetz in Deutschland einen Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit geben. Das halte ich für ein zentrales fami-
lienpolitisches Signal für eine familienfreundliche Ge-
sellschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten müssen diesen
Anspruch einlösen, wenn keine dringenden betrieblichen
Erfordernisse entgegenstehen.

Nun ist über diese Regelung viel diskutiert worden.
Manchen ging sie viel zu weit. Die Unternehmen begrüß-
ten zwar generell die Erhöhung auf 30 Stunden bei der
Teilzeitarbeit. Über diesen Punkt gab es keinen Streit.
Aber den Rechtsanspruch haben sie weniger positiv zur
Kenntnis genommen. Sie hätten ihn lieber für Betriebe ab
einer Beschäftigtenzahl von 50 gesehen. Die Regelung,
die für Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten gilt, wird
75 Prozent der Beschäftigten erfassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann aus meiner langjährigen Erfahrung als Ar-
beitssenatorin dazu nur sagen: Gerade in Kleinbetrieben,
ist von vornherein vieles machbar, weil man die betriebli-
chen Belange kennt und weil vieles individuell zu regeln
ist. Wir werden uns natürlich anschauen, wie diese Rege-
lung in den nächsten Jahren wirkt und ob sie die Erwar-
tungen erfüllt.

Darüber hinaus haben wir ein Budgetangebot einge-
führt. Ich halte das für sehr wichtig. Wir wissen, dass viele
Mütter und Väter zum Beispiel nur ein Jahr von dieser El-
ternzeit Gebrauch machen wollen. Sie können dann ihren
Anspruch auf Erziehungsgeld von maximal 600 DM auf
900 DM erhöhen. Das ist gerade für diese Familien eine
wichtige Hilfe.

Wir haben mit diesem Gesetz ganz bedeutende Fort-
schritte erreicht. Wir haben weitere Wahlmöglichkeiten
für Eltern geschaffen und versucht, das zu realisieren, was
wir schon im Rahmen von Gesetzesvorhaben in anderen
Bereichen angefangen haben. Wir wissen, dass Familien
in vielfältigen Formen zusammenleben. Aber in einer Fa-
milie – das ist unser Anliegen – müssen alle Familienmit-
glieder zu ihrem Recht kommen. Eltern müssen also
Wahlmöglichkeiten haben.

Für mich gehört Art. 6 des Grundgesetzes, nämlich der
Schutz von Ehe und Familie, immer mit Art. 3, mit dem
Recht auf Chancengleichheit, zusammen. Das heißt: Müt-
ter und Väter müssen in einer Familie zu ihrem Recht
kommen. Dazu gehört auch die Umsetzung von Kinder-
rechten. Wir haben gestern – zu meiner großen Freude




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

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mehrheitlich – das Recht der Kinder auf gewaltfreie Er-
ziehung verabschiedet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Ich denke, dass wir mit diesem Gesetz, das wir heute ver-
abschieden, einen weiteren Baustein zu diesem Komplex
hinzufügen, indem wir den Familien in unserem Land
weitere Wahlmöglichkeiten eröffnen.

Wir wissen, Familie ist „in“ auch bei jungen Men-
schen – das ist sehr erfreulich; wir alle erleben es hoffent-
lich um uns herum –, was zum Beispiel auch durch die
letzte Shell-Jugendstudie dokumentiert wurde. Die Ju-
gendlichen erleben die Familie nicht nur deshalb positiv,
weil sie dort vielleicht materiell abgesichert sind. Nein,
sie wollen in der Familie die traditionellen Werte wie Ge-
borgenheit finden. Sie wissen, dass die Familie ein Ort ist,
wo man Zuwendung, Rückhalt und Stärkung erfahren
kann. Genau das ist es, was eine moderne Familienpolitik
fördern muss.

Ich denke, wir tun das mit diesem Gesetz. Die Über-
nahme von Elternverantwortung muss mit anderen Ge-
staltungswünschen vereinbar sein. Mehr Optionen in der
Lebensgestaltung von Frauen und Männern und bessere
Bedingungen, um Familien- und Erwerbsleben vereinba-
ren zu können, sind Ziele, für die wir uns nachhaltig ein-
setzen und auch immer einsetzen werden.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500100
Ich erteile der Kolle-
gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1411500200
Guten Morgen, Herr
Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Frau Ministerin Bergmann, Sie haben heute erneut
das Bundeserziehungsgeldgesetz als das Kernstück Ihrer
Familienpolitik bezeichnet. Wenn das das Kernstück ist,
ist diese Familienpolitik eine komplette Enttäuschung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben mit Ihren Ankündigungen zur Familienpoli-

tik große Erwartungen in der Bevölkerung geweckt. Im
Koalitionsvertrag ist nachzulesen, dass sich die wirt-
schaftliche und soziale Lage der Familien in unserem
Land spürbar verbessern soll. Aber was tut sich?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine Menge! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Durch die Steuerreform, durch das Kindergeld!)


Sie haben zwar das Kindergeld erhöht, aber auf der ande-
ren Seite schlagen Sie mit der Ökosteuer voll zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Diese Nörgelei hatten wir schon vorher erwartet!)


Damit treffen Sie die jungen Familien mehr als alles an-
dere. 300 DM minus im Portemonnaie einer jungen
Durchschnittsverdienerfamilie, das ist eine ganze Menge.
Darüber können auch Debatten nicht hinwegtäuschen.
Wenn Sie zu weiteren Erhöhungen kommen, greifen Sie
weiter tief ins Portemonnaie der jungen Familien.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500300
Frau Kollegin
Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Schewe-Gerigk?


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1411500400
Aber gerne.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wir etwas für die Förderung der Kinder und der Familien
tun, kommt dieser Oppositionsreflex, dass die Ökosteuer
die Familien so belaste. Da ich das erwartet hatte, habe ich
mich zahlenmäßig darauf vorbereitet. Ich möchte Sie gern
fragen, ob Sie wissen, dass eine Familie mit zwei Kindern
und einem Einkommen von 60 000 DM bei einer durch-
schnittlichen Leistung ihres PKWs von 15 000 km und ei-
nem normalen Stromverbrauch durch die Entlastung bei
der Einkommensteuer, durch die Beitragssenkung in der
Rentenversicherung und das erhöhte Kindergeld am Ende
im Jahr 2 000 DM mehr im Portemonnaie hat als vorher
unter Ihrer Regierung. Ist Ihnen das bekannt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1411500500
Liebe Frau Schewe-
Gerigk, weil ich wusste, dass Sie rechnen würden, habe
auch ich gerechnet. Aber ich muss Ihnen sagen, das Er-
gebnis, das ich erhalten habe – das ist seriös gegenge-
rechnet; dabei habe ich auch die Senkungen bei den Ren-
tenversicherungsbeiträgen berücksichtigt; da wollen wir
fair sein –, besagt, dass es nicht zu einem Plus kommt.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was Sie auf der einen Seite geben, nehmen Sie auf der an-
deren Seite wieder weg. Ich reiche Ihnen die Berechnun-
gen gern nach. 300 DM minus gilt für Familien mit
80 000 DM Durchschnittseinkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles nach dem Motto: Es bleibt schon etwas hängen!)


Wir stehen nicht allein mit dieser Kritik, muss ich Ih-
nen sagen. Als am 15. Mai die Anhörung zum Bundes-
erziehungsgeldgesetz stattfand, hat die Vertreterin des
DGB erklärt: Insgesamt bleibt der Gesetzentwurf deutlich
hinter unseren Erwartungen zurück, auch hinter dem, was
wir aufgrund der Koalitionsvereinbarung erhofft hatten.

Der Verband allein erziehender Mütter und Väter be-
zeichnet die Anhebung der Einkommensgrenzen – ich




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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zitiere – als „völlig unzureichend, weil sie weiterhin Al-
leinerziehende zusätzlich auf die Sozialhilfe verweist“.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: „Weiterhin“ ist gut! Frau Böhmer, der Grund ist, dass Sie sie jahrelang dorthin verwiesen haben!)


– Wenn Sie eine Frage stellen wollen, Frau Schmidt, kön-
nen Sie das gern tun.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das war ein Zwischenruf!)


– Lassen Sie es! Sie bekommen meine Antwort nachher
noch.

Die Vertreter der evangelischen und der katholischen
Familienverbände haben in dieser Anhörung zur Budge-
tierung gesagt: Die Budgetlösung ist ein Minusgeschäft
für die Familien. – Das, was hier als Plus verkauft wird,
ist ein dickes Minus in den Taschen der Familien.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nicht umsonst haben die Vertreterinnen der deutschen

Frauenverbände, von Gewerkschaften, Kirchen und Wis-
senschaft vor wenigen Tagen an den Bundeskanzler einen
offenen Brief geschrieben. Sie haben ihn darin aufgefor-
dert, das Gesetz zu Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld
zu korrigieren. Und was geschieht hier? Keine Korrektu-
ren, nichts!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist bedauerlich, aber dieser Entwurf des Bundes-

erziehungsgeldgesetzes ist kein großer Wurf; es ist eine
Reform im Westentaschenformat. Es findet hier keine Re-
volution in Sachen Familienpolitik statt, wie ich es in den
letzten Debatten immer wieder gehört habe. Eine Revolu-
tion in Sachen Familienpolitik hat 1986 durch die Union
stattgefunden, als wir Erziehungsgeld und Erziehungs-
urlaub eingeführt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben in der Familienpolitik Maßstäbe gesetzt.
Wenn Sie uns heute erneut vorwerfen, es gebe seit

14 Jahren einen Stillstand, dann möchte ich für Sie einige
Fakten in den Blickpunkt rücken, die man wissen sollte,
wenn man Familienpolitik macht.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Die Akten sind nicht mehr da! Deshalb geht es nicht!)


Als das Erziehungsgeld eingeführt wurde, wurde die
Zahlung zunächst auf zehn Monate begrenzt. Dann wurde
die Frist auf 18 Monate und schließlich auf 24 Monate
verlängert. Das ist kein Stillstand, das ist eine deutliche
Weiterentwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mit der deutschen Einheit standen wir vor einer großen

Herausforderung. Wir haben all den jungen Familien in
den neuen Bundesländern auf einen Schlag die Möglich-
keit gegeben, Bundeserziehungsgeld zu erhalten. Es sind
heute über 100 000 Familien, die jährlich in den Genuss
dieser Leistung kommen. Das waren keine kleinen

Schritte, sondern das war eine große Anstrengung seitens
der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will auch nicht vergessen zu erwähnen, dass der

Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Deut-
schen Bundestag von der Union durchgesetzt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Wer bekennt eigentlich Farbe in der Familienpolitik?
Wenn Sie darüber lachen, dann sage ich: Schauen Sie in
die SPD-regierten Bundesländer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Welches SPD-regierte Bundesland hat ein drittes Jahr Er-
ziehungsgeld gewährt? Keines! Pure Fehlanzeige an die-
ser Stelle.


(Widerspruch bei der SPD)

Die Länder, die Erziehungsgeld auch für ein drittes Jahr
gewährt haben, sind die unionsregierten Länder Bayern,
Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist der Unterschied zwischen Reden und Handeln!)


Die SPD war sogar so kühn, in Rheinland-Pfalz das Fa-
miliengeld für kinderreiche Familien abzuschaffen. Das
war ein Skandal erster Klasse in Sachen Familienpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So sind die Sozis halt!)


Aber ich stimme mit Ihnen überein: Es ist an der Zeit,
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub weiterzuent-
wickeln. So weit sind wir uns einig. Nur, Frau Ministerin,
es kommt darauf an, wie man das macht. Man muss es
richtig machen!


(Christel Hanewinckel [SPD]: Das haben wir an Ihrer Familienpolitik gemerkt!)


Deshalb können Sie auch nicht die Augen vor unserer
Kritik an Ihrem Entwurf zur Änderung des Bundeserzie-
hungsgeldgesetzes verschließen. Ich möchte die Kri-
tikpunkte einmal nennen.

Sie haben 7 000 DM Kinderfreibetrag versprochen und
sind jetzt bei 4 800 DM gelandet. Darüber täuscht auch
die anvisierte Erhöhung auf 6 140 DM nicht hinweg; denn
damit bleiben Sie noch immer unter dem Exis-
tenzminimum für Kinder.

Sie schaffen ungleiche Freibeträge für verheiratete El-
tern und Alleinerziehende. Verheiratete Eltern sind Ihnen
weniger wert; denn bei ihnen bleiben Sie unter dem Exis-
tenzminimum und bei Alleinerziehenden gehen Sie darü-
ber hinaus. Wie wollen Sie diese Ungleichbehandlung be-
gründen? Ich kann keine Argumente dafür sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt ja auch eine stärkere Belastung von Alleinerziehenden!)





Dr. Maria Böhmer

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(D)



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(B)


Dass die verheirateten Eltern gegenüber den Alleinerzie-
henden deutlich benachteiligt werden, kann nicht famili-
enfreundliche Politik sein; dahinter verbirgt sich ein
falsches Familienbild.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiterer Minuspunkt: Wo bleibt die Dynamisie-

rung der Freibeträge und des Erziehungsgeldes als sol-
chem? In Ihrem Gesetzentwurf ist dafür kein Ansatz zu
sehen. Die Beträge bleiben unverändert. Sie haben uns
immer heftig dafür kritisiert. Aber jetzt, da Sie die Chance
haben, das zu ändern, bleiben Sie im Bereich kleiner
Schritte, weil Sie der Mut verlässt. Wenn ich mir den An-
trag anschaue, der im Jahre 1995 von Ihnen als damaliger
Opposition hier vorgelegt worden ist, stelle ich fest, dass
Sie jetzt meilenweit hinter Ihren damaligen Ansätzen
zurückbleiben.

Und wie ist es mit der Budgetlösung? Auf den ersten
Blick kann man positiv feststellen: 900 DM pro Monat,
das heißt 300 DM monatlich mehr, für Mütter und Väter,
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden. Aber ich
habe mittlerweile gelernt, dass es bei Rot-Grün immer gut
ist nachzurechnen.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist leider wahr!)


Wenn man nachrechnet, stellt man fest, dass Ihre Rege-
lung ein dickes Minusgeschäft für die Familien bedeutet,
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden; denn
dann haben sie am Ende 3 600 DM weniger in der Tasche,
als wenn sie sich für den vollen Erziehungsgeldzeitraum
entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist keine tragfähige Lösung. Das ist Augenwischerei.
Damit machen Sie nicht nur eine Milchmädchenrechnung
auf. Dies ist auch entlarvend für Ihr Konzept.

Ich habe mir die in Ihrem Gesetzentwurf unter dem
Punkt „Kosten der öffentlichen Haushalte“ gemachten
Ausführungen genauer angeschaut. Die Mehrausgaben,
so steht hier zu lesen, würden kompensiert, und zwar zum
einen – das ist ganz klar zu erkennen – durch die genann-
ten Ansätze. Aber Sie haben zum anderen einen vierten
Minuspunkt für die Familien in der Tasche. Hier steht
nämlich – ich zitiere –:

Diese Mehrausgaben werden großenteils kompen-
siert ... aufgrund der erhöhten Minderungsquote für
das Erziehungsgeld bei Einkommen oberhalb der
Einkommensgrenze ...

Das heißt, Sie verteilen um, indem Sie die Minderungs-
quote von 40 auf 50 Prozent erhöhen. So sieht Ihre Fami-
lienförderung aus. Sie benachteiligen zahlreiche Fami-
lien, die dadurch zukünftig kein Erziehungsgeld mehr er-
halten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb sagen wir an dieser Stelle ganz klar: Das darf

nicht sein. Eine solche Lösung werden wir nicht mitma-
chen. Wenn sich Eltern tatsächlich für eine Inan-
spruchnahme des Erziehungsgeldes nur für ein Jahr ent-

scheiden, dann werden sie im Anschluss daran in eine
Betreuungsfalle für ihre Kinder tappen. Denn wer für den
Lenkungsansatz ist, dass Eltern nur ein Jahr lang Erzie-
hungsgeld in Anspruch nehmen, muss auch dafür sorgen,
dass flexible Möglichkeiten der Kinderbetreuung vorhan-
den sind, damit die betroffenen Eltern nachher nicht vor
dem Nichts stehen. Wenn ich an Bundesländer wie zum
Beispiel Nordrhein-Westfalen denke, dann muss ich fra-
gen: Wo gibt es dort ausreichende Kinderbetreuungsmög-
lichkeiten?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber ja!)


Die sollten Sie uns einmal nachweisen. Sie hatten immer
allergrößte Schwierigkeiten, im Bereich der Kinderbe-
treuung voranzukommen. Deshalb muss ich feststellen:
Durch die Budgetlösung wird eine Betreuungsfalle auf-
gemacht. Das ist nicht im Sinne der Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihr Gesetzentwurf enthält zwei Aspekte, die der gesell-

schaftlichen Veränderung Rechnung tragen sollen. Der
eine Aspekt ist ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und
der andere ist der, dass man den Erziehungsurlaub auf
acht Jahre verteilt nehmen kann. Beides ist meiner Mei-
nung nach eine Weiterentwicklung, die durchaus Sinn
macht.

Aber auch hier muss man die Frage stellen: Wird es da-
mit gelingen, Vätern mehr Anreize zu geben – das ist ja
das Ziel dieser Lösung –, tatsächlich Erziehungsurlaub zu
nehmen? Ich glaube, wir sind uns bei diesem Anliegen
sehr einig. Denn partnerschaftliche Erziehungmuss un-
ser gemeinsames Ziel sein. Nur, bei der Art und Weise,
wie Sie an die Väter appelliert haben, schwingt die Skep-
sis durch, die viele von uns haben. Ich glaube deshalb,
auch an dieser Stelle sind Sie mit Ihrem Entwurf zu kurz
gesprungen.

Wir sagen: Man muss besondere Anreize schaffen, da-
mit beide Elternteile Erziehungsurlaub nehmen können.
Das heißt, wir wollen einen Bonus von einem halben Jahr
gewähren, wenn sich Vater und Mutter die Familienzeit,
so wie wir sie uns vorstellen, teilen. Denn nur durch An-
reize und Optionen wird es gelingen, dass junge Men-
schen, Väter und Mütter, wirklich Ja zur Erziehung ihrer
Kinder sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben unsere Vorstellungen im vergangenen Jahr

auf dem Parteitag der CDU zur Familienpolitik klar for-
muliert. Sie werden sich in weiteren Diskussionen daran
messen lassen müssen, was auf der einen Seite negative
Entwicklungen und auf der anderen Seite innovative Lö-
sungen im Bereich der Familienpolitik anbetrifft. Dem
hier vorliegenden Gesetzentwurf können wir angesichts
der dicken Minuspunkte nicht zustimmen. Wir haben un-
sere Änderungsvorschläge in einem Änderungsantrag und
in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht.

Ich habe soeben gehört, dass Sie jetzt endlich die Be-
zeichnung „Erziehungsurlaub“ ändern wollen. Denn der
Erziehungsurlaub ist für Eltern keine Ferienzeit. Das ist




Dr. Maria Böhmer
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(D)



(A)



(B)


harte Arbeit von Mutter und Vater und muss entsprechend
gewürdigt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Frau Ministerin Bergmann, ich hatte schon fast den Ein-
druck, Sie seien versucht, in Deutschland ein Preisaus-
schreiben dahin gehend zu machen, wie der neue Begriff
heißen soll. Jetzt bin ich ein Stückchen beruhigter, dass
Sie sich endlich zu einer neuen Bezeichnung durchgerun-
gen haben. Denn neue Bezeichnungen setzen Signale.

Wir werden weiter mit aller Kraft daran arbeiten,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja nicht viel!)

dass Eltern bzw. Familien keine Benachteiligungen erfah-
ren, wie sie für viele Familien in dem vorliegenden Ge-
setzentwurf angelegt sind. Deshalb gilt es, über Ansätze
zur Veränderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes wei-
ter zu streiten. Wir wollen gleiche Chancen und eine bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500600
Ich erteile der Kolle-
gin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

„Verpass nicht die Rolle deines Lebens!“ Mit diesem Ap-
pell trat ein Werbemanager vor kurzem an seine Ge-
schlechtsgenossen heran, um deutlich zu machen, dass die
eindimensionale Orientierung der Männer auf die Er-
werbsarbeit sie um einen wichtigen Teil ihres Lebens be-
raubt, nämlich um das Leben mit Kindern. Nicht umsonst
sprechen wir davon, dass Kinder in einer vaterlosen Ge-
sellschaft aufwachsen, denn nur 1,5 Prozent der Väter ent-
scheiden sich für den „Erziehungsurlaub“, den wir künf-
tig „Elternzeit“ nennen. Frau Böhmer, ich muss mich über
Ihren Vorwurf schon sehr wundern. Ich frage mich: Wer
hat denn den Begriff „Erziehungsurlaub“ eigentlich ein-
geführt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deswegen war das auch besonders witzig! – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Sie haben gar nicht zugestimmt! Wir hätten ihn nicht, wenn es nach Ihnen gegangen wäre!)


Nur jeder 16. Mann arbeitet Teilzeit – und das, obwohl
sich nach einer Umfrage 86 Prozent der jungen Männer
ein Leben in einer Partnerschaft mit Kind wünschen. Da-
neben fänden es drei viertel dieser Männer gut, wenn sich
Männer mehr um Familie und Haushalt kümmern und
dafür im Beruf kürzer treten würden. Bisher fanden Män-
ner eine Reihe von Gründen, weshalb sie ihre Wünsche
nicht in die Tat umsetzen konnten und Zaungäste in ihrer
Familie waren; denn bisher standen sie vor der Entschei-
dung, entweder ganz an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben
oder ganz für die ersten Lebensjahres ihres Kindes aus-
zusteigen.

Letzteres hatte natürlich Folgen: Erstens. Das Einkom-
men der Familie ging rapide zurück, denn immer noch
verdienen Männer mehr als Frauen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das stimmt nicht mehr!)

Zweitens war der Karriereknick vorprogrammiert; denn
in unserer so angeblich fortschrittlichen Gesellschaft wer-
den Männer noch immer als Softies angesehen, wenn sie
Windeln wechseln und Babys füttern, statt Aktienkurse zu
beobachten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Nein, das stimmt nicht mehr!)


Die theoretische Aufgeschlossenheit der Väter wollen
wir jetzt zu einer praktischen Verhaltensänderung
führen. Wir wollen die Verhaltensstarre der Männer auf-
lösen; denn mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Neu-
gestaltung des Erziehungsgeldgesetzes gibt es einen
Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für drei
Jahre. Väter und Mütter können diese Zeit gleichzeitig in
Anspruch nehmen. Wenn beide nicht mehr als 30 Stunden
erwerbstätig sind, erhalten sie zudem das Erziehungsgeld.
Das heißt, das alte gewerkschaftliche Motto „Samstags
gehört Papi mir“ können wir auf den Freitag und den
Montag erweitern. Väter können also für eine bestimmte
Zeit ihr Kind zur „Chefsache“ machen, wie es eine Väter-
kampagne des nordrhein-westfälischen Frauenministeri-
ums vorsieht.

Im Gesetzentwurf festgeschrieben ist der Rechtsan-
spruch zunächst leider nur für Beschäftigte in Unterneh-
men ab 15 Personen. Ich hoffe aber, dass auch kleinere
Betriebe mit weniger als 15 Personen, die einen hohen
Anteil an Teilzeitbeschäftigten haben, diese Vereinbarung
umsetzen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch zwei Verbes-
serungen nennen – wir haben aus der Anhörung und aus
den vielen Anregungen gelernt –: Erstens. Die Zahl der
Beschäftigten richtet sich nicht mehr nach dem Kün-
digungsschutzgesetz, denn das hätte 30 Beschäftigte mit
Teilzeitarbeit bedeutet, sondern es sind tatsächlich 15 Per-
sonen. Die zweite Änderung: Es wird im Jahre 2004 eine
Überprüfung geben, welche Probleme mit diesem
Rechtsanspruch für Väter und Mütter sowohl für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Be-
triebe entstanden sind und welche gesetzlichen Ände-
rungen notwendig sind,


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist das Mindeste, was man machen muss!)


denn wir betreten ein neues juristisches Gebiet. Insofern
werden wir das Ganze kontrollieren. Die Auswertung er-
warte ich mit Spannung, weil ich glaube, dass weniger die
Mütter Probleme haben, ihren Rechtsanspruch umzuset-
zen, als vielmehr die Väter.

Aber lassen Sie mich zum Kernstück der Neuregelung
kommen. Es ist nicht das Kernstück der Familienpolitik,
wie Sie, Frau Böhmer, vorhin gesagt haben, aber es ist ein
wichtiger Baustein.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha!)





Dr. Maria Böhmer

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(D)



(A)



(B)


Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der ers-
ten drei Erziehungsjahre stellt nun ein absolutes Novum
dar. Hier ist es uns endlich gelungen, einen Einstieg
während der Erziehungszeit zu wagen. Ich würde mir
wünschen und ich hoffe, dass wir auch im Bündnis für Ar-
beit noch längere Zeiten als diese drei Jahre erreichen
können. Das wird natürlich eine freiwillige Vereinbarung
mit der Wirtschaft sein müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite wichtige Neuerung ist, dass nicht mehr ent-
weder Vater oder Mutter die Erziehungszeit nimmt, son-
dern dass sie von beiden gleichzeitig genommen werden
kann. Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden
Jahre inklusiv eines flexiblen dritten Jahres, das bis zum
achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen
werden kann, nicht nur abwechselnd, sondern auch zu
zweit genommen werden können. Vater und Mutter haben
also einen Anspruch auf volle drei Jahre Erziehungszeit.
Damit werden wir auch den Ansprüchen der EU-Richtli-
nie gerecht. Ein Jahr dieser drei Jahre ist das so genannte
flexible Jahr, das in Absprache mit dem Arbeitgeber um-
gesetzt werden kann. Allerdings kann der Arbeitgeber
dringende betriebliche Gründe nennen, die dem entge-
genstehen. Ich hoffe aber, dass es auch hier eine einver-
nehmliche Lösung zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern gibt.

Das Gesetz bringt weitere Vorteile: Begrenzt man die
Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes künftig auf nur
ein Jahr, besteht die Möglichkeit, für dieses Jahr im Rah-
men des Budgets einen erhöhten Betrag in Höhe von
900 DM zu erhalten. Frau Böhmer, ich möchte an dieser
Stelle mit einem Vorurteil von Ihnen aufräumen. Das ist
doch keine Schlechterstellung.


(Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: Das ist kein Vorurteil, sondern Adam Riese! – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ein einfaches Rechenexempel!)


– Lassen Sie mich das doch einmal ausführen. – Wenn Sie
bisher ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen
haben, haben Sie 600 DM im Monat bekommen. Wenn
Sie sich künftig für nur ein Jahr Erziehungszeit entschei-
den, werden Sie 900 DM erhalten, also 300 DM pro Mo-
nat mehr.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine völlig verkehrte Rechnung! Barer Unsinn!)


Schon in der Vergangenheit gab es viele Familien, die nur
ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen haben.
Deshalb bitte ich einfach, diese Rechnung nachzuvollzie-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als Ergebnis der Sachverständigenanhörung haben wir
auch eine Härtefallregelung zum Budgetbetrag aufge-
nommen. Sollte also im ersten Jahr die Familie einer be-
sonderen Härte ausgesetzt sein – wir denken hier etwa an
eine erhebliche Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Exis-
tenz –, kann zusätzlich während des zweiten Lebensjah-

res des Kindes der Betrag von 600 DM über zwei Jahre in
Anspruch genommen werden. Was wollen Sie eigentlich
noch mehr?


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Fragen Sie die Familien! Die wollen etwas anderes!)


Hinzu kommt, dass künftig wieder mehr Familien Er-
ziehungsgeld bekommen. Wir konnten eine Erhöhung
der Einkommensgrenzen um rund 10 Prozent und eine
stufenweise Erhöhung des Kinderzuschlags auf bis zu
6 140 DM im Jahre 2003 nach harten Verhandlungen mit
dem Finanzminister durchsetzen. Immerhin sind das
100 Millionen DM mehr. Sie sagen nun, das sei viel zu
wenig. Ich kann mich daran erinnern, dass auch Sie häu-
fig Verhandlungen mit Finanzminister Waigel geführt hat-
ten. Frau Nolte versprach uns immer, die Einkommens-
grenzen zu erhöhen, konnte sich offensichtlich aber bei
Finanzminister Waigel nicht durchsetzen. Das mussten
wir erst in die Hand nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dass die Einkommensgrenzen niemals erhöht wurden,
hat dazu geführt, dass beinahe jede zweite Familie das
volle Erziehungsgeld nach dem siebten Lebensmonat des
Kindes nicht mehr erhalten hat. Wir reißen jetzt das Ru-
der herum und sorgen für eine bessere Förderung der Fa-
milien. Daran werden Sie uns auch nicht hindern, wenn
Sie immer wieder die Ökosteuer diskutieren.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Aber die Diskussion gibt es doch!)


– Ich habe Ihnen ja gerade gesagt, wie die Entlastung der
Familien ist.

Ein weiterer Punkt, der sich auf die Erwerbstätig-
keit von Müttern und Vätern positiv auswirken wird, ist
die Erhöhung der zulässigen Teilzeitarbeit von 19 auf
30 Stunden. Heute schließt eine Erwerbstätigkeit von
mehr als 19 Stunden den Bezug von Erziehungsgeld völ-
lig aus. Damit kommen wir auch vielen Alleinerziehenden
entgegen, die wir davor bewahren, in die Sozialhilfe ab-
gedrängt zu werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf gehört auch eine bedarfsgerechte
Kinderbetreuung. Hier gibt es gerade in den alten Bun-
desländern immer noch enorme Lücken. Das betrifft das
Betreuungsangebot für Kinder unter drei und über sechs
Jahre. Deutschland ist hier im europäischen Vergleich ein
absolutes Schlusslicht. Nicht nur Kindertagesstätten, son-
dern auch Ganztagsschulen in allen Schulformen wurden
aufgrund von ideologischen Vorbehalten der CDU/CSU
und der F.D.P. nicht errichtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


Darum teile ich zwar den Inhalt des PDS-Antrags, dass
wir hier einen Nachholbedarf haben, nicht aber das Vor-
haben der PDS, dass die Länder ausführen müssen, was
der Bund beschließt. Nach diesem Muster ging die alte
Bundesregierung beim Rechtsanspruch auf einen Kinder-




Irmingard Schewe-Gerigk
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(A)



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gartenplatz vor: Der Bund beschließt, die Länder und
Kommunen zahlen. Dieses üble Spiel werden wir nicht
weiterführen. Vielmehr werden wir dafür sorgen, dass die
Länder und Kommunen wieder mehr finanzielle Spiel-
räume haben,


(Ina Lenke [F.D.P.]: Unterhaltskostenvorschussgesetz!)


damit sie diese dringend notwendigen Einrichtungen zur
Verfügung stellen können. Hier können wir tatsächlich
vom Osten lernen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen Ge-
setzesänderung werden wir natürlich nicht sofort die
Wirklichkeit ändern; das ist mir auch klar. Aber wir geben
Anreize und machen Angebote. Ich hoffe, dass die Eltern
und insbesondere die Väter dieses aufgreifen werden. Wir
werden dazu sicherlich noch eine Öffentlichkeitskampa-
gne machen. Wir werden herausstellen, welche Bereiche-
rung es auch für ein Leben von Vätern ist, wenn sie Zeit
für ihre Kinder haben. Ich glaube, wir sind auf einem
guten Weg.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500700
Nun hat das Wort die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1411500800
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute Änderungen eines Schutzge-
setzes für Eltern. Es geht um den Erhalt des Arbeitsplat-
zes nach der Geburt des Kindes und das Recht auf eine
zeitlich begrenzte Beschäftigung während der Erzie-
hungszeit.


(Lachen bei der SPD – Hildegard Wester [SPD]: Ein Schutzgesetz?)


– Natürlich ist das ein Schutzgesetz! Oder sehen Sie das
nicht so? Sonst hätten wir es doch nicht.


(Hildegard Wester [SPD]: Artenschutz!)

Ich denke, der Schutz des Arbeitsplatzes nach der Ge-

burt eines Kindes ist eine ganz wichtige Sache, und des-
halb sind wir 1986 alle der Meinung gewesen, dass dieses
Gesetz sein muss.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Von daher weiß ich überhaupt nicht, welchen Grund Sie
haben, über diese Dinge zu lachen. Auch Sie wissen, dass
manche Schutzgesetze für Frauen Beschäftigungsfallen
waren, zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot. Sie sollten
sich daher lieber ernsthaft mit der Sache beschäftigen und
nicht, wenn die Opposition etwas sagt, nur darüber la-
chen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich will jetzt zum eigentlichen Gesetz kommen. Alle

Fraktionen haben Konzepte vorgelegt. Das Konzept der
CDU/CSU ist ein bisschen dünn. Da hätte die große

Oppositionsfraktion CDU/CSU doch mehr Substanz ha-
ben müssen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir jedenfalls haben ein umfassendes Konzept vorgelegt.
Der alte Erziehungsurlaub soll modernisiert werden, er

soll den Bedürfnissen der Eltern und, so meine ich, der
Betriebe gerecht werden; denn die Arbeitswelt hat sich
verändert. Deshalb müssen wir alte Konzepte auf den
Prüfstand stellen und neue entwickeln.

Meine Damen und Herren, was ändert sich denn bei
SPD und Grünen? Der Gesetzentwurf sieht eine Er-
höhung des Erziehungsgelds im ersten Jahr um 300 DM
vor, und die Einkommensgrenzenwerden um 10 Prozent
erhöht. Wenn wir uns ansehen, wie sich die Löhne und
Gehälter und die Kosten für Kinder entwickelt haben,
dann wissen wir, dass das viel zu wenig ist. Wir haben
noch einmal die Hälfte bei den Einkommensgrenzen
draufgelegt. Wir wissen, dass auch das zu wenig ist, und
wir hätten uns gern mit Ihnen darüber geeinigt, eine deut-
liche Anhebung der Einkommensgrenzen bei der Ge-
währung von Erziehungsgeld für Mütter und Väter umzu-
setzen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir meinen allerdings, dass Ihre zeitliche Ausgestal-

tung nicht ausreicht. Frau Bergmann, ich muss schon sa-
gen: Sie nehmen den Mund – ich meine das jetzt nicht di-
rekt und persönlich – ziemlich voll, wenn Sie sagen: Wir
tragen gelebter Vielfalt Rechnung. – Schauen Sie sich
bitte unser Konzept an! Schauen Sie sich Ihr Konzept an!
Dann werden Sie sehen, dass die Vielfalt nicht in Ihrem
Konzept liegt, sondern ganz bestimmt in unserem. Ich
werde das noch kurz erläutern.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Sie nehmen den Mund aber auch sehr voll, Frau Lenke!)


– Ja, aber die SPD hätte doch ein bisschen mehr Vielfalt
in ihr Konzept einbringen können. Das hat sie aber nicht,
sie ist unserem Vorschlag nicht gefolgt.

Wir meinen, dass dieses Gesetz immer noch ein zu en-
ges Korsett für Eltern und Betriebe ist. Ein Schutzgesetz
muss nämlich viel Raum geben, um die Erziehungszeit
zwischen den Beteiligten flexibel zu vereinbaren und
nach einvernehmlichen Lösungen suchen zu können.
Warum geben Sie nicht, wie es unser Vorschlag vorsieht,
vorab mehr Raum für individuelle Lösungen?


(Beifall bei der F.D.P.)

Bei unserem Vorschlag nimmt sich der Staat erst ein-

mal zurück

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


und lässt die handelnden Personen individuelle Lösungen
für sich selbst finden. Ich meine, das ist ein liberaler An-
satz,


(Beifall bei der F.D.P.)





Irmingard Schewe-Gerigk

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(C)



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(A)



(B)


den wir durchgängig – „gender mainstreaming“ – in allen
Gesetzen durchsetzen werden, die Frauen und Familie be-
treffen.

Ein Kritikpunkt am SPD/Grünen-Gesetz ist der neu
eingeführte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während
der ersten Lebensjahre des Kindes. Dies geschieht bei Be-
trieben mit 15 und mehr Mitarbeitern. Ich habe mir wirk-
lich die Mühe gemacht, Frau Schewe-Gerigk, im Aus-
schuss und im Parlament nachzufragen, wie Sie auf diese
gesetzte Größe kommen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir wollten lieber fünf! Dies ist ein Kompromiss!)


Frau Schmidt hat gesagt: Diese Größe haben wir fest-
gelegt. Sie hat es überhaupt nicht begründet. Sie hat dann
noch angedroht, dass sie in den nächsten Jahren noch he-
runtergesetzt werde. Die Betriebe werden sich freuen. Sie
sind sehr „mittelstandsfreundlich“. Wenn dann noch Ihr
Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft kommt, werden
wir sehen, ob die Betriebe nach wie vor bereit sind, Ihrer
Regierung Zusagen über die Einstellung von Frauen zu
machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir meinen, dass es sich Betriebe mit 15 bis 20 Mitar-
beitern schwer überlegen werden, ob sie überhaupt noch
Frauen einstellen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und Männer schon gar nicht, weil Männer auch Erziehungsurlaub nehmen können! – Christian Simmert [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die stellen gar keinen mehr ein!)


Denn bei Inanspruchnahme des Rechtsanspruchs auf Er-
ziehungsurlaub geraten sie in Schwierigkeiten. Ich will
nur sagen: Man kann dies positiv sehen, aber man muss
auch sehen, dass es zwei Seiten der Medaille gibt. Wir
werden abwarten und sehen, wie sich dies entwickelt.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wir machen einen Bericht!)


Der Deutsche Frauenrat hat Ihr Gesetz negativ be-
wertet. Er kommt zu dem Schluss, dass mit der Reform
hinsichtlich der Umverteilung von Erwerbs- und Erzie-
hungsarbeit zwischen Männern und Frauen nichts erreicht
wurde. Meines Erachtens ist der Anreiz für Männer, auch
einmal Erziehungsurlaub zu nehmen – wie Frau Schewe-
Gerigk es gesagt hat –, in diesem Gesetz sehr schwer zu
finden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die PDS hat einen Antrag vorgelegt, Frau Schenk, der

sich wirklich nicht finanzieren lässt. Das wissen Sie auch.
Das Ganze ist reine Parteitaktik. Auf den Antrag der CDU
kann ich eigentlich nicht eingehen, weil er kein rundes
Konzept enthält. Er ändert nur die starken Verwerfungen,
die SPD und Grüne haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo haben Sie das denn her?)


Nun ganz kurz zu unserem Vorschlag: Wir wollen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgebe-
rinnen und Arbeitgeber einen großen Spielraum bei der
Gestaltung der Erziehungszeit. Arbeitnehmer und Arbeit-
geber können sich gemeinsam einigen, wie oft bis zum
Schuleintritt des Kindes gewechselt und wie gearbeitet
wird, und zwar 600 Stunden in sechs Monaten.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da werden sich die Arbeitgeber aber freuen!)


Hier muss man sagen, dass bei unserem Vorschlag einfach
vielfältigere Möglichkeiten für individuelle Lösungen be-
stehen.


(Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Zur Erhöhung des Erziehungsgeldes: Wir haben
800 DM für zwei Jahre vorgeschlagen. Dies und die Ein-
kommensgrenzen habe ich vorhin schon genannt.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Sie sich nicht
bemühen, die Antragstellung für Familien – wie wir es
vorgeschlagen haben – zu erleichtern. Dazu habe ich von
Ihnen überhaupt nichts gehört. Es wäre schön, wenn die
Rednerin der SPD auf diese Dinge einginge. Wir sind mo-
bil. In jedem Bundesland gibt es andere Voraussetzungen
und Ansprechstellen. Dies sollten Sie einmal mit den Län-
dern besprechen.

Bei SPD und Grünen ist vieles erlaubt, nein: vieles ver-
boten. Bei uns ist vieles erlaubt. – Dies war keine freud-
sche Fehlleistung, Frau Schmidt. Also: Bei der SPD und
den Grünen ist vieles verboten und bei uns ist vieles er-
laubt.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alles, was Spaß macht, ist verboten!)


Wir tragen der Lebensvielfalt von Menschen, die in
Partnerschaften leben, Rechnung. Wir wollen hier ein
Stück weitergehen. Wir wollen das Gesetz gern mit Ihnen
zusammen modernisieren, aber mit unseren Alternativen.
Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist durch dieses
Gesetz – da geben Sie mir Recht – sicher nicht erreicht
worden. Das Gesetz mildert nur die Nachteile der Eltern-
schaft.

Zum Schluss habe ich noch einen Wunsch: Ich würde
mir wirklich wünschen, dass viele junge Männer die Kraft
finden – den Wunsch, Kinder mit zu erziehen, haben die
jungen Männer –, ihrem Arbeitgeber zu sagen: Ich möchte
einen Monat, zwei oder drei Monate bei meinem Kind
bleiben.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit diesem Gesetz haben sie gute Anreize!)


Diejenigen, die diese Kraft finden, werden in unserer Ge-
sellschaft auch von Frauen diskriminiert. Wenn ein Mann
zu Hause ist, wird gesagt: Hausmann, der hat wohl keine




Ina Lenke
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(C)



(D)



(A)



(B)


Lust zu arbeiten. Dies muss sich in unseren Köpfen än-
dern. Dafür sitzen wir hier im Parlament und sprechen mit
unseren Bürgern und Bürgerinnen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Arbeitgeber müssten dann auch noch Ja sagen! Das wäre schön!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411500900
Ich erteile der Kolle-
gin Christina Schenk von der PDS-Fraktion das Wort.


Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1411501000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In wohl kaum einem anderen Industrie-
land wird die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern so
gezielt unterlaufen wie in der Bundesrepublik. Das 1986
eingeführte Bundeserziehungsgeldgesetz ist – das muss
man so klar sagen – ein äußerst wirksamer Teil dieser Ver-
hinderungsstrategie. Es erwies sich als regelrechte Frau-
enfalle: Für 600 DM Erziehungsgeld werden Frauen aus
dem Arbeitsmarkt herauskomplimentiert. Nur etwa die
Hälfte der Frauen – das wissen Sie genauso gut wie ich –
kehrt nach dem Erziehungsurlaub wieder in den Beruf
zurück, und das meist zu verschlechterten Bedingungen.
Der Anteil der Männer, die in den so genannten Erzie-
hungsurlaub gehen, hat die 2-Prozent-Marke nie über-
schritten.

Im Klartext: Das Bundeserziehungsgeldgesetz schafft
in Verbindung mit der völlig unzureichenden Bereitstel-
lung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Rahmenbe-
dingungen für das Drei-Phasen-Modell, nicht aber für
eine tatsächliche Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und
Beruf.


(Beifall bei der PDS)

Löblicherweise will Rot-Grün an dieser Situation et-

was ändern. Die Reform des Bundeserziehungsgeldgeset-
zes wurde von der Bundesministerin Frau Bergmann gar
als Kernstück ihrer Familienpolitik gepriesen. In Anbe-
tracht des hier vorliegenden Entwurfs muss man konsta-
tieren, dass das nichts als große Worte sind. Die Ände-
rungen im Bundeserziehungsgeldgesetz bringen zum ei-
nen nur wenigen Eltern Vorteile und sind zum anderen
teilweise nichts als Mogelpackungen.

So wundert es mich auch nicht, dass vor genau einer
Woche führende Vertreterinnen der Frauenverbände, der
Gewerkschaften, der Kirchen und der Wissenschaft in ei-
nem offenen Brief massive Kritik an dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung geübt haben. Diese Kritik teilt die
PDS voll und ganz. Ich möchte hier deutlich anmerken:
Die Forderungen, die von diesen Vertreterinnen erhoben
werden, entsprechen ziemlich genau dem, was in den An-
trägen der PDS formuliert ist. Insofern, Frau Lenke, ist
das nicht bloß reine Parteitaktik. Vielmehr entsprechen
unsere Forderungen offensichtlich denen dieser Frauen
und damit den Notwendigkeiten bei der Kinderbetreuung.


(Beifall bei der PDS – Ina Lenke [F.D.P.]: Frau Schenk, die Kosten! Lohnersatz!)


Der entscheidende Mangel ist, dass das Gesetz keine
substanziellen finanziellen Verbesserungen für Familien
bringt. Das Erziehungsgeld bleibt mit 600 DM ein Ta-
schengeld. Berücksichtigt man allein die Preisentwick-
lung seit 1986, hätten 1999, also im vergangenen Jahr, be-
reits 863 DM gezahlt werden müssen. Der andere Punkt
ist, dass die Einkommensgrenzen nur minimal erhöht
werden. Nach der Gesetzesänderung werden gerade ein-
mal 55 Prozent der Familien Erziehungsgeld erhalten;
jetzt sind es 50 Prozent. Diese Zahl wird in Kürze sinken –
das ist auch so gewollt; das ist dem Gesetzentwurf zu ent-
nehmen –; denn die Einkommensgrenzen sollen nicht dy-
namisiert werden. Damit werden die jetzigen Mehrausga-
ben eingefroren. Hier wird wieder auf Kosten der Fami-
lien gespart. Das ist für uns nicht akzeptabel.


(Beifall bei der PDS)

Auch das budgetierte Erziehungsgeld, im Grunde ge-

nommen eine gute Idee, dient letztendlich der Mittel-
ersparnis; das ist hier schon ausgeführt worden. Bei ent-
sprechender Ausgestaltung könnte das budgetierte Er-
ziehungsgeld der Einstieg in die Zahlung von Lohn-
ersatzleistungen sein, wie das vielerorts anstelle von Er-
ziehungsgeld gefordert wird. Es ist vor allen Dingen auch
ein Signal, sich nicht in die Falle des Drei-Phasen-Mo-
dells zu begeben. Der Pferdefuß aber ist: Wer ein Jahr lang
das erhöhte Erziehungsgeld von 900 DM in Anspruch
nimmt, bekommt unterm Strich 3 600 DM weniger als
diejenigen, die zwei Jahre lang 600 DM in Anspruch ge-
nommen haben. Da fehlen pro Monat 300 DM im Porte-
monnaie.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber eine Person, die das früher nur ein Jahr in Anspruch genommen hat, hat dafür nur 600 DM gekriegt!)


– Frau Schewe-Gerigk, Sie können nicht bestreiten, dass
es unterm Strich tatsächlich ein Minus ist.

Ich stelle also fest: Die Familienpolitik darf auch bei
der rot-grünen Bundesregierung nichts kosten. Die Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie – das ist nicht bestritten
worden, insbesondere auch von uns nicht – ist nicht zum
Nulltarif zu haben, sondern kostet selbstverständlich
Geld. Das haben wir in unseren Anträgen auch ausgeführt.
Aber die hier veranschlagten 400 Millionen DM sind
dafür ein nachgerade lächerlicher Betrag.

Noch ein Wort zu den Vätern: Ohne eine entspre-
chende finanzielle Kompensation der Einkommensver-
luste werden diese weder motiviert noch in die Lage ver-
setzt, in den Erziehungsurlaub zu gehen oder auch nur den
neuen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit wahrzunehmen.
Das weiß auch die Bundesministerin; das ist nämlich das
Ergebnis einer repräsentativen Studie, die das Bundesfa-
milienministerium in Auftrag gegeben hat. Ich frage mich
natürlich, wozu, wenn daraus nicht die entsprechenden
Schlussfolgerungen gezogen werden.

Die PDS fordert die Zahlung einer Lohnersatzleistung
statt der Ausstiegsprämie von 600 DM. Vätern würde so
das Argument genommen, schon allein aus finanziellen
Gründen den Erziehungsurlaub oder den Anspruch auf
Teilzeitarbeit nicht wahrnehmen zu können.




Ina Lenke

10951


(C)



(D)



(A)



(B)


Unsere Vorschläge zielen auf eine tatsächliche Wende
in der Familienpolitik, die die Diskriminierung von
Frauen abbaut und Väter in die Erziehungsarbeit einbe-
zieht. Deswegen wollen wir auch zu der hälftigen Teilung
der Freistellung zwischen Frauen und Männern motivie-
ren – nicht zwingen. Ein Teil der Freistellungsansprüche
sollte nach unseren Vorstellungen nicht übertragbar sein.
Wird der Anspruch nicht wahrgenommen, verfällt er. An-
dere Länder praktizieren ähnliche Regelungen bereits seit
einiger Zeit erfolgreich. Ein individueller und nicht über-
tragbarer Rechtsanspruch würde Väter nicht nur ihren
Kindern und ihren Partnerinnen gegenüber in die Pflicht
nehmen, sondern sie auch gegen kinder- und familien-
feindliche Zumutungen von Arbeitgebern und Kollegen
schützen.

Ein Wort zum Schluss. Auch das beste Vereinbarkeits-
gesetz wird nichts nützen ohne ein bedarfsdeckendes An-
gebot an Kinderbetreuungseinrichtungen.


(Beifall bei der PDS)

Solange dieses nicht gegeben ist, werden die hier vorge-
schlagenen geringfügigen Verbesserungen wirkungslos
bleiben. Wer betreut denn den Nachwuchs, wenn Mütter
und Väter 30 Stunden Teilzeit arbeiten wollen? Wohin mit
dem Kind, wenn der betreuende Elternteil nach einem
Jahr Bezug von budgetiertem Erziehungsgeld wieder voll
beruflich einsteigen will?

Die hier vorgeschlagene Reform des Bundeserzie-
hungsgeldgesetzes bringt also weder die Vereinbarkeit
von Beruf und Kindern für Frauen und Männer noch för-
dert es die Teilhabe von Männern an der Erziehung ihrer
Kinder. Das Arbeitsmarktrisiko Kind bleibt auch künftig
bei den Frauen. Wir werden diesen Entwurf daher ableh-
nen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411501100
Ich erteile das Wort
der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411501200
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Liebe Frau Böhmer, Sie haben mir eine
wunderbare Gelegenheit für einen Einstieg geboten. Sie
haben Argumente gebracht, die zeigen, dass Ihre Politik
dringend verlassen werden musste. Zwei oder drei For-
mulierungen, die Sie eben verwendet haben, zum Bei-
spiel: „Weiterhin werden die Familien an der Grenze der
Armut leben und Sozialhilfe beziehen, endlich muss et-
was geschehen“, zeigen eindrucksvoll, dass das, was Sie
in 16 Jahren Familienpolitik in diesem Land geleistet ha-
ben, zu dieser Entwicklung geführt hat. Es ist endlich Zeit,
diesen Weg zu verlassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411501300
Kollegin Wester, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böhmer?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411501400
Bitte schön.


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1411501500
Frau Kollegin
Wester, ist Ihnen bekannt, dass, als Erziehungsgeld und
Erziehungsurlaub eingeführt worden sind, von der dama-
ligen unionsgeführten Bundesregierung auf einen Schlag
ein Betrag von 1,6 Milliarden DM für diese Leistungen
zur Verfügung gestellt worden ist? Der Betrag ist im Ver-
lauf der Jahre auf 7,2 Milliarden DM angestiegen. 1996
haben 95 Prozent der Eltern davon profitiert. Das sind Da-
ten, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen.
Sie können nicht immer wieder auf dem Argument des
Stillstandes herumreiten.


(Christel Hanewinckel [SPD]: 1996 wurde 1 Milliarde DM gespart!)


Frau Wester, das, was die Union im Bereich Familienpo-
litik gemacht hat, waren Meilenschritte, Sie machen Trip-
pelschritte.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411501600
Frau Böhmer, dazu muss
ich Ihnen sagen: Als Sie das Gesetz über die Gewährung
von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt ha-
ben, haben Sie im gleichen Zug das Mutterschaftsur-
laubsgesetz abgeschafft, das es unter der sozial-liberalen
Regierung gegeben hatte. Das war in meinen Augen ein
Gesetz, das in eine richtige Richtung ging. Es hat sich
zunächst einmal an Frauen gerichtet, die berufstätig wa-
ren. Es hat ermöglicht, dass Frauen anschließend in den
Beruf zurückgingen. Die Leistung war am Einkommen
orientiert, das durch die Erziehung dann ausfiel.

Es ist sicherlich nicht der springende Punkt, wie viel
Geld in die Hand genommen wird.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha! Wenn ich die Großtaten, die Sie hier verkünden – 1986 1,6 Milliarden DM auf einen Schlag –, einmal so hinnehme, dann frage ich mich doch: Was hat das Ganze denn gebracht? Sie haben eben selber gesagt, dass ein Großteil der Familien an der Armutsgrenze leben, dass viel zu viele Kinder sozialhilfeabhängig sind. Man muss sich dann doch fragen, wo die Förderung hingegangen ist. Sie haben durch Ihr Erziehungsurlaubsgesetz ein Gesetz geschaffen, das die Frauen aus dem Beruf herausgeholt hat. Es war ein Ziel dieses Gesetzes – ein Ziel, natürlich nicht das einzige –, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Es ist Ihnen zwar nicht gelungen, den Arbeitsmarkt zu entlasten, aber es ist Ihnen gelungen, die Frauen aus dem Beruf herauszuholen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Christina Schenk [PDS])


Insofern war Ihr Gesetz, wie Sie eben sagten, ein Meilen-
stein in Richtung Entwicklung von Armut und in Rich-
tung Vertreibung von Frauen aus dem Beruf.

Was wir jetzt hier vorlegen, ist genau das Gegenteil:
Wir ermöglichen Frauen, wieder Erziehungsarbeit und
Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden.


(Beifall bei der Abg. Hanna Wolf [München] [SPD])





Christina Schenk
10952


(C)



(D)



(A)



(B)


Insofern bekräftige ich das, was Frau Ministerin
Dr. Bergmann sagte: Es ist ein Kernstück der Familien-
politik. Es gibt den Familien die Möglichkeit, sich frei zu
entscheiden. Es hat eben so geklungen, als ob wir den Fa-
milien nicht genügend Flexibilität einräumen würden.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Ja, sicher!)

Es wird niemand gezwungen, das Recht auf eine Redu-
zierung der Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen. Es ist ein
Angebot an die Familien und diejenigen, die es wahr-
nehmen, werden eine Vielzahl von flexiblen Gestal-
tungsmöglichkeiten für ihr Familienleben haben.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411501700
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Nachfrage der Kollegin Böhmer?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411501800
Nein, ich denke, das bringt
nichts. Es bestehen große ideologische Schranken, sodass
ich glaube, ich sollte mich nicht weiter damit auseinander
setzen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist wirklich barer Unsinn, was Sie verkünden, wenn es darum geht, dass Frauen weniger erwerbstätig sein können! Wir haben eine Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit! Wir haben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert!)


Ich bleibe dabei: Das Ziel der jetzigen Regierung, den
Eltern mehr und vor allem flexible Zeit für die Erziehung
und Betreuung ihrer Kinder zu geben, ist nach wie vor
richtig und wird weiterhin verfolgt. Der Gesetzentwurf,
den wir heute – nach nicht einmal der halben Legislatur-
periode – vorlegen und verabschieden werden, kann sich
sehen lassen. Ich bin zuversichtlich und überzeugt davon,
dass die Regelungen, auf die ich im Folgenden noch ein-
gehen werde, das Ziel erreichen werden, Betreuungs- und
Erwerbsarbeit für Väter und Mütter zu vereinbaren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Einzelnen werden die neuen Regelungen von den

unterschiedlichen Interessenlagen her unterschiedlich be-
wertet. Das ist völlig klar, das war auch nicht anders zu er-
warten, hat sich auch in den Expertenanhörungen gezeigt
und ist in vielen Zuschriften sowie Veröffentlichungen
zum Ausdruck gekommen. Ich bin trotzdem fest davon
überzeugt, dass es uns mit diesem Gesetz gelungen ist, ei-
nen Kompromiss vorzulegen, den alle Seiten mit ihren un-
terschiedlichen Interessen auch mittragen können und der
in sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung birgt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die stärkste Kritik an dem Gesetzentwurf bezog sich
auf die Höhe des Erziehungsgeldes sowie auf die Rege-
lungen zur Einkommenshöhe, zur Einkommensgrenze
und die Budgetierung. Das war nicht anders zu erwarten.
Wir haben aber nie versprochen – auch nicht in der Op-
position und das unterscheidet uns vielleicht von der heu-

tigen Opposition –, dass wir in der Lage sein werden, das
Erziehungsgeld zu erhöhen. Wir haben bei der Höhe der
Einkommensgrenzen natürlich genau rechnen müssen
und dabei das erreicht, was wir jetzt vorgelegt haben. Die
Zahlen sind genannt worden, aber ich möchte eine Zahl
noch einmal herausgreifen: Aufgrund dieses Gesetzes
werden jährlich 300Millionen DM mehr an Familien aus-
gezahlt.


(Beifall bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Durch Umverteilung!)


Die Budgetierung, Frau Böhmer, ist weder ein Mi-
nusgeschäft für die Familien noch eine Betreuungsfalle,
da es – wie ich eben bereits sagte – die freie Wahlmög-
lichkeit der Familien gibt, entweder die Budgetierung in
Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich weiß nicht, für wie
dumm Sie unsere Familien halten, wenn Sie annehmen,
sie wären nicht in der Lage abzuschätzen, ob sie, wenn sie
sich für ein Jahr Erziehungsgeld entschieden haben, an-
schließend eine Betreuung für das Kind haben werden.
Das kann man den Familien mit Recht zumuten, da wir in
einem Land mit gebildeten Menschen leben. Darauf sind
wir sehr stolz.


(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen brauchen wir uns von niemandem – weder

von der Opposition noch von irgendeinem Verband – vor-
rechnen zu lassen, wie stark das Erziehungsgeld verfal-
len sei, wenn man es mit dem Wert vergleicht, den es im
Jahre 1986 gehabt hat. Wir können selber rechnen und
wissen das. Wir haben aber nicht 16 Jahre die Verantwor-
tung gehabt und auch nicht wie mancher Verband still zu-
gesehen, wie die alte Regierung nichts getan hat. Wir ha-
ben jetzt mit diesem Haushaltsloch zu leben und dabei das
Beste herauszuholen. Der Gesetzentwurf, den wir heute
vorlegen, ist ein Beweis dafür, dass uns das gelingen wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer 16 Jahre lang nicht gehandelt hat oder es hinge-
nommen hat, dass nicht gehandelt wurde, sollte sich fra-
gen, ob es hilfreich und der Sache dienlich ist, Fortschritte
madig zu machen, die mit diesem Gesetzentwurf auf den
Weg gebracht werden sollen. Es geht bei diesem Gesetz-
entwurf nicht in erster Linie um die finanzielle Wirkung,
sondern es geht um Änderungen in der Struktur des Ge-
setzes. Das kann nicht oft und deutlich genug gesagt wer-
den. So wünschenswert es wäre, diese strukturellen Ver-
änderungen durch eine entsprechende finanzielle Leis-
tung zu flankieren, so falsch wäre es, jetzt darauf zu
verzichten, diese strukturellen Veränderungen vorzuneh-
men, nur weil die entsprechenden Finanzmittel nicht vor-
handen sind.

Ich möchte noch einmal in Bezug auf die 300 Mil-
lionen DM jährlich, die wir zusätzlich für Familien aus-
geben, darauf hinweisen, dass wir versucht haben, dort
eine soziale Komponente hineinzubringen, indem wir
die Kinderzuschläge nicht nur jetzt deutlich erhöhen, son-
dern sie auch in den nächsten zwei Jahren noch einmal er-
höhen. Das ist natürlich keine Dynamisierung, wie es ge-




Hildegard Wester

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(C)



(D)



(A)



(B)


fordert wurde, aber es ist ein deutliches Zeichen dafür,
dass es weitergeht. Im Jahre 2004 wird es mit Sicherheit
weitergehen. Dies ist ein Angebot und ein Versprechen an
die Familien, auf das sie sich verlassen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weiter möchte ich darauf hinweisen – auch wenn Sie
das in Abrede stellen und mit der Ökosteuer verrechnen –,
dass die Bundesregierung in der kurzen Zeit ihrer Regie-
rungsverantwortung verschiedene Maßnahmen ergriffen
hat, um Familien finanziell besser zu stellen. Sie wissen
genau, dass es einer unserer ersten Schritte war, das Kin-
dergeld zu erhöhen. Durch steuerliche Erleichterungen
haben wir erreicht, dass Familien mit zwei Kindern unge-
fähr 2 000 DM mehr zur Verfügung haben. Über die Öko-
steuer möchte ich jetzt nicht mehr sprechen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Warum nicht?)

Wir werden den Weg fortsetzen, die Familien finanzi-

ell zu entlasten. Dies geschieht aber nicht allein mit dem
Erziehungsgeldgesetz. Die SPD-Fraktion und die Famili-
enpolitikerinnen und -politiker der SPD-Fraktion werden
es nicht hinnehmen, dass Kinder in diesem Land immer
stärker zum Armutsrisiko werden. Diese Entwicklung
werden wir stoppen. Wir haben sie zum Teil schon ge-
stoppt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden die Richtung ändern. Beide Eltern haben
auch die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit gleichzeitig zu re-
duzieren. Denn wenn beide Eltern gleichzeitig arbeiten,
können sie ihre Existenz besser sichern. Es ist unser Ziel,
den Familien die Möglichkeit zu geben, ihre Existenz aus
eigener Kraft zu sichern und so der Armutsfalle zu entge-
hen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411501900
Kollegin Wester,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Falk,
CDU/CSU-Fraktion?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411502000
Ja, bitte.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1411502100
Frau Kollegin, Sie haben am
Schluss auf die materielle Seite stark abgehoben. Sie ha-
ben am Anfang bestritten, dass das der wesentliche Punkt
sei. Daher muss ich Sie fragen, wieso die 7,6 Mil-
liarden DM, die die CDU/CSU für die Familien einge-
führt hat, an die Armutsgrenze führen und die Familien in
den Ruin treiben, und die 300 Millionen DM, die Sie jetzt
zusätzlich bringen, in die Zukunft weisen und die Fami-
lien von dem Armutsrisiko befreien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die 300Millionen DM, wenn wir das umrechnen, sind ein
Sechstel der Kindergelderhöhung um 10 DM. Wenn man

das auf alle Kinder umrechnen würde, wären es pro Kind
und Monat 1,66 DM.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Gut gerechnet! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie beschäftigen sich gar nicht mit den Fakten!)



Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411502200
Sie haben den letzten Teil
meiner Ausführungen nicht richtig verstanden. Wir wol-
len den Familien die Möglichkeit geben, ihre Erwerbs-
tätigkeit beizubehalten und so ihre Existenz zu sichern.
Sie wissen genauso gut wie ich: Man kann ein noch so ho-
hes Kindergeld oder Erziehungsgeld zahlen: Am Ende des
Bezugs dieser Leistung wird ein Elternteil, in der Regel
die Mutter, entweder beruflich vor dem Nichts stehen
oder eine geringe Arbeitszeit akzeptieren müssen, sodass
er nicht mehr dazu beitragen kann, die Existenzsicherung
zu gewährleisten. Es ist ein Ammenmärchen zu glauben,
dass einer Familie damit gedient ist, wenn man ihr Geld
in die Hand drückt, ohne die Strukturen zu schaffen, die
es möglich machen, dass sie sich an der Erwerbsarbeit be-
teiligen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411502300
Kollegin Wester, ge-
statten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kol-
legin Hanewinckel?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411502400
Ja, bitte.


Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1411502500
Kollegin Wester, kön-
nen Sie sich mit mir daran erinnern, dass zum Beispiel im
Jahre 1996 bei dem jetzt so gerühmten Haushalt der
CDU/CSU für die Familien beim Erziehungsgeld etwas
mehr als 1 Milliarde DM eingespart worden ist, weil in-
zwischen nur noch vier von zehn Familien in den Genuss
des vollen Erziehungsgeldes gekommen sind, da die Ein-
kommensgrenzen in all den Jahren nicht mehr erhöht wor-
den sind? Deshalb stelle ich die Zahl, die hier genannt
worden ist, infrage; denn diese Milliarde DM ist nicht nur
1996, sondern auch in den darauf folgenden Jahren ein-
gespart worden, weil die Zahl der Familien immer gerin-
ger wurde.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Warum nur 300 Millionen? Setzen Sie doch die 1 Milliarde ein! – Gegenruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Weil es weniger Kinder gibt!)



Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411502600
Ich gebe Ihnen Recht. Ich
kann mich sehr gut daran erinnern. Wir werden den Anteil
der Erziehungsgeldberechtigten von 50 Prozent auf
55 Prozent anheben. Das mag sich wenig anhören.

Frau Lenke wirft gerade ein, warum wir die 1 Mil-
liarde DM nicht auf einen Schlag wieder einsetzen. Ich
glaube, naiver kann man eigentlich nicht sein. Wie soll
man das, was vielleicht vor 15 Jahren notwendig


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Hildegard Wester
10954


(C)



(D)



(A)



(B)


gewesen wäre, heute in einen kaputtgefahrenen Haushalt
einstellen, bei dem an allen Ecken und Enden Handlungs-
bedarf besteht?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden während unserer Regierungszeit nach und
nach und in verantwortungsvollen Schritten die Leistun-
gen hochfahren, immer mit Blick darauf, dass der Haus-
halt konsolidiert werden muss und dass wir der jungen
Generation keine so hohe Verschuldung hinterlassen
können, wie wir sie derzeit haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der wesentliche Punkt der strukturellen Veränderung,
den ich eben angesprochen habe und der hier schon mehr-
fach genannt worden ist, ist das Recht auf Reduzierung
der Arbeitszeit. Ich halte das für einen Meilenstein. Wer
hätte denn vor zwei Jahren gedacht, dass es uns möglich
wäre, gegen den Widerstand der Wirtschaft und anderer
Interessenverbände ein Recht auf Reduzierung der Ar-
beitszeit einzuführen? An dieser Stelle muss man natür-
lich darauf hinweisen – das ist schon gemacht worden –,
dass dieses Recht eingeschränkt ist, weil es nur bei Ar-
beitgebern gilt, die mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer beschäftigen. Ich habe eingangs von einem
Kompromiss gesprochen. Hier wird er deutlich.

Ich hätte mir auch etwas Besseres vorstellen können.
Ich hätte sehr gerne auf die Grenze von 15 Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern verzichtet. Deswegen bin ich
sehr froh darüber – das gestehe ich ein –, dass wir in das
Gesetz eine Überprüfungsklausel hineingeschrieben ha-
ben. Das heißt, die Bundesregierung soll in einem ange-
messenen Zeitraum Bericht erstatten, wie sich das Recht
auf Reduzierung der Arbeitszeit auf Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber und auch auf Arbeitnehmer und Arbeitneh-
merinnen auswirkt. Wir werden dann im Licht der durch
diesen Bericht gewonnenen Erkenntnisse Gelegenheit ha-
ben, festzustellen, ob politischer Handlungsbedarf be-
steht. Wenn er besteht, dann werden wir auch für entspre-
chende Lösungen sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411502700
Kollegin Wester, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411502800
Ja, bitte.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1411502900
Frau Wester, ich habe die Bitte in
meiner Rede geäußert, dass irgendjemand von Ihnen sagt,
wie die Grenze von 15 Mitarbeitern zustande gekommen
ist.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411503000
Das habe ich doch getan.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1411503100
Nein, Sie sollten es begründen. Er-
klären Sie mir doch einmal, wie Sie auf die Zahl 15 ge-
kommen sind. Könnte die Grenze auch bei 14 oder

16 Mitarbeitern liegen? Sie sagen: Wir wollen die Grenze
ganz abschaffen. Wie kommen Sie genau auf 15? Darauf
hätte ich gerne ein Antwort von Ihnen.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1411503200
Ich habe Ihnen eben ge-
sagt, dass die Zahl 15 einen Kompromiss darstellt. Das ist
ausgehandelt worden. Ich halte es für tragbar. Das ist in
Ordnung. Im Leben und gerade auch im politischen Le-
ben ist es so, dass man Kompromisse schließen muss.
Meine Zielvorstellung ist die Abschaffung der Grenze von
15Mitarbeitern. Daran werden wir arbeiten. Wenn Sie uns
dabei helfen wollen, dann sind Sie herzlich willkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte das nicht weiter vertiefen. Ich habe es erklärt.
Ich denke, das muss auch für Sie, Frau Lenke, ausreichen.

An dieser Stelle muss ich allerdings noch einige Sätze
zu dem offenen Brief des Deutschen Frauenrates sagen.
So sehr ich verstehe, dass einige neue Regelungen als
nicht weitreichend genug empfunden werden, so wenig
verstehe ich die Fundamentalkritik, die in dem Schluss-
satz gipfelt, das neue Gesetz erreiche seine Ziele nicht,
nämlich die der Gleichberechtigung von Männern und
Frauen und der damit einhergehenden Umverteilung von
Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit. Dies an der Be-
triebsgröße, dem nicht übertragbaren individuellen An-
spruch auf Reduzierung der Arbeitszeit – er fehlt bei
uns –, der fehlenden Einkommenskompensation und der
nicht ausreichenden Zahl von Kinderbetreuungseinrich-
tungen festzumachen, das kann man natürlich tun. Aber
man kann auch sagen, dass wir einen Riesenschritt in
Richtung Gleichberechtigung getan haben. Das zum
Ausdruck zu bringen hätte ich vom Deutschen Frauenrat
erwartet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Welcher Verband, der dem Deutschen Frauenrat an-

gehört – ich habe es schon eben in einem anderen Zu-
sammenhang gesagt –, hätte noch vor zwei Jahren ge-
glaubt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Reduzierung
von Arbeitszeit im Gesetz festschreiben würden? Auch
die Erhöhung der zulässigen Arbeitszeit auf 30 Stunden
und die Möglichkeit der gleichzeitigen Inanspruchnahme
des Erziehungsurlaubs sind Ergebnisse, die von entschei-
dender Bedeutung für das Rollenverhalten in den Part-
nerschaften sein werden.

Es wird für den Mann nämlich nicht mehr so leicht
sein, die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs auszu-
schlagen, wenn es ihm möglich ist, die Arbeitszeit zum
Beispiel nur um einige wenige Stunden in der Woche zu
reduzieren. Die Frau wird in ihrer Forderung, eine mög-
lichst hohe Stundenzahl erwerbstätig sein zu können, ge-
stärkt und sie wird sie besser durchsetzen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies wird in den Familien ausgehandelt werden, was dann
die für sie beste Lösung zur Folge haben wird. Dazu be-
darf es keines Zwangs und keines staatlichen Eingriffs.




Hildegard Wester

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich kann mich auch nicht der Auffassung anschließen,
dass nur ein Erziehungsgeld in der Höhe einer Einkom-
menskompensation Männer dazu bewegen kann, Erzie-
hungsurlaub zu nehmen. Frauen werden bei dieser Argu-
mentation im Übrigen immer außen vor gelassen. Es gibt
mittlerweile – Gott sei Dank – genügend Frauen, für die
600 DM Erziehungsgeld ebenfalls keine Einkommens-
kompensation darstellen. Über diese Frauen reden wir
nicht. Sie werden genauso wie die Männer viel lieber auf
einem höheren Stundenniveau erwerbstätig sein, als mit
einem hohen Erziehungsgeld den vollen Erziehungs-
urlaub zu nehmen und damit in der Gefahr zu stehen, auf
Erwerbsarbeit nach dem Erziehungsurlaub verzichten zu
müssen.

Natürlich gibt es noch viel zu viele Familien, für die die
Höhe des Erziehungsgeldes von extrem hoher Bedeutung
ist. Für diese Familien werden wir etwas tun müssen. Ich
habe eben gesagt, dass das passieren wird. Hier liegt ein
weites Betätigungsfeld für die Politik und für die Ver-
bände, die uns angeschrieben und angesprochen haben;
aber diese Probleme können nicht mit diesem Gesetz
gelöst werden.

Mit diesem Gesetz kann ebenfalls nicht das Problem
der nicht ausreichenden Anzahl an Betreuungsplätzen
gelöst werden; denn auf diesem Gebiet sind die Länder
die Ansprechpartner. Sie wissen genauso wie ich, dass der
Bund das nicht regeln kann. Ich bin zuversichtlich, dass
die Initiativen von Ministerin Bergmann, mit den Ländern
ins Gespräch zu kommen, um die Dramatik dieser Situa-
tion und den Handlungsbedarf zu verdeutlichen, Erfolg
haben werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Abschließend kann ich nur an Sie alle appellieren, mit
uns die Verbesserung der Situation von Familien, von
Kindern, von Frauen und von Männern, bei allen Geset-
zesvorhaben und in allen Handlungsbereichen voranzu-
treiben. Überfrachten Sie dieses Gesetz nicht mit Hoff-
nungen, denen ein einziges Gesetz nicht gerecht werden
kann. Ich lade Sie ein, uns bei dieser großen Aufgabe be-
hilflich zu sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411503300
Ich erteile der Kolle-
gin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Renate Diemers (CDU):
Rede ID: ID1411503400
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Wester, Frau Dr. Böhmer
hat es schon gesagt: Die großen Ankündigungen der Re-
gierungskoalition im Wahlkampf und in der Koalitions-
vereinbarung in Bezug auf die Förderung der Familien ha-
ben auch bei vielen von uns eine gewisse Hoffnung her-
vorgerufen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Es war die Hoffnung, durch ein gutes und auch finanzier-
bares neues Gesamtkonzept das Erziehungsgeldgesetz
wirklich weiterzuentwickeln und unsere Wünsche in der
Familienpolitik auch mit Ihrer Hilfe umzusetzen.

Sie haben mit Ihrem Entwurf leider nicht nur uns ent-
täuscht. Das Erziehungsgeld war bei seiner Einführung
1986 das denkbar modernste Instrument. Wir hätten in der
Folgezeit gerne Anhebungen und Dynamisierungen ge-
habt. Wir sind letztendlich am Finanzminister gescheitert.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ein ehrliches Wort!)


Ihre Schadenfreude darüber und der ewige 16-Jahre-Vor-
wurf klingen hohl, da Sie nun die Möglichkeit hatten, ei-
nen großen Wurf zu landen, aber an Ihrem eigenen Fi-
nanzminister scheitern mussten.


(Christel Hanewinckel [SPD]: An den Finanzen, die Sie uns nicht hinterlassen haben, Menschenskinder, nicht am Finanzminister!)


An Ihrem guten Willen lag es wahrscheinlich nicht. Das
gebe ich gerne zu. Sie hatten doch wirklich Großes vor
und wir hätten Sie gern unterstützt. Aber der wahre Vater
Ihres Gesetzes ist der Finanzminister.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Noch in der Koalitionsvereinbarung sprechen Sie rich-

tigerweise vom Zusammenspiel von Familienpolitik
und – unter anderem – Beschäftigungs- und Steuerpoli-
tik.Dazu sage ich Ihnen jetzt noch einmal, auch wenn Sie
es nicht hören möchten: Die Ökosteuer mit all ihren Aus-
wirkungen auf das Portemonnaie ist familienfeindlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bereits 1996 haben Sie, Frau Wester, in einer Antwort
auf eine schriftliche Anfrage von der damaligen Parla-
mentarischen Staatssekretärin Gertrud Dempwolf erfah-
ren, dass das Erziehungsgeld 1996, also zehn Jahre nach
Einführung, bereits 750 DM hätte betragen müssen, wenn
nur der Anstieg der Lebenshaltungskosten berücksichtigt
worden wäre.


(Christel Hanewinckel [SPD]: Warum haben Sie das nicht gemacht, wenn Sie es da schon wussten?)


– Ich habe vorhin gesagt, warum wir das nicht machen
konnten.

Die Forderungen nach mehr familienpolitischen Leis-
tungen waren doch auch im Bundestagswahlkampf von
Ihnen, verbunden mit einer maßlosen Kritik an uns, zu
hören. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen
Veranstaltungen zu diesem Thema. Sie aber stellen im
Jahr 2000 einen Entwurf vor, nach dem das Erziehungs-
geld auf der Höhe von 600 DM pro Monat bleibt bzw. bei
der Budgetvariante insgesamt um 3 600 DM verringert
wird.

Zum Thema Budget hat Frau Dr. Böhmer bereits aus-
führlich Stellung genommen. Lassen Sie mich noch hin-
zufügen, dass neben der Schlechterstellung in finanzieller




Hildegard Wester
10956


(C)



(D)



(A)



(B)


Hinsicht bei Inanspruchnahme der Budgetregelung eben-
falls eine Schlechterstellung in Bezug auf die Situation
des Kindes erfolgen kann. Wir teilen nämlich nicht die
Auffassung, wie sie in der Anhörung vonseiten des DGB
zum Ausdruck gebracht wurde, dass es für ein Kind in den
ersten Lebensjahren keinen Unterschied macht, ob es
überwiegend zu Hause oder außerhäuslich betreut wird.
Auf der Basis Ihrer Budgetregelung wird es bei zwölf Mo-
naten Erziehungsurlaub dazu kommen, dass die Kinder-
betreuung durch andere Personen als die Eltern der Nor-
malfall sein wird. Dies ist nicht etwa nur ein Nebeneffekt,
sondern von Ihnen ausdrücklich so gewünscht. Es passt
einfach nicht in Ihr Weltbild – das sage ich hier noch ein-
mal sehr deutlich –, dass Mütter oder Väter sich ganz der
Familie widmen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hildegard Wester [SPD]: Das können sie doch immer noch!)


Die Zukunft der Familie hängt im Wesentlichen von
der Wertorientierung derer ab, die politische Verant-
wortung tragen und politisch gestalten. Die Aufgabe der
Politik ist es, angemessen auf gesellschaftliche Verände-
rungen, auf veränderte Lebensentwürfe und auf ein ver-
ändertes Rollenverständnis zu reagieren. Allerdings
wird das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Be-
ruf nicht aufgehoben, solange nur die Frau bzw. die Mut-
ter über die Familie definiert wird und der Vater im ge-
sellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor überwiegend
eine Außenseiterrolle in der Familie einnimmt.

Das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck kommende Be-
streben, die Väter stärker dazu zu ermuntern, Erziehungs-
urlaub zu nehmen, und zugleich die dafür notwendigen
Rahmenbedingungen zu verbessern, findet unsere Zu-
stimmung. Aber unserer Meinung nach ist es der falsche
Weg, den Vätern als Ausgleich die Möglichkeit zu geben,
fast Vollzeit außerhäuslich zu arbeiten. Unsere Idee, zum
Beispiel ein Bonussystem zu schaffen, mit dem nicht
übertragbarer zusätzlicher Erziehungsurlaub gewährt
wird, wenn ihn beide Elternteile nehmen, wurde in der
Anhörung durchweg als positiv beurteilt.


(Christel Hanewinckel [SPD]: Diese Möglichkeit geben wir doch den Müttern auch, wenn Sie das richtig gelesen haben!)


Die problematische Situation auf dem Arbeitsmarkt
gerade für Frauen und Mütter ist uns vollkommen be-
wusst. Es ist sehr schwierig und fast unmöglich, ohne
Nachteile längere Zeit aus dem Beruf zu sein. Die ur-
sprüngliche Intention des Erziehungsgeldes war die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf. Hierdurch sollte die Er-
ziehungsleistung honoriert und zugleich der Anschluss an
das Arbeitsleben ermöglicht werden. Aus diesen Gründen
war für Mütter oder Väter während des Erziehungsurlau-
bes eine Arbeitszeit von 19 Stunden erlaubt. Diese Ober-
grenze sollte auch unserer Meinung nach ausgeweitet
werden. Das darf aber nicht zur Folge haben, dass auf-
grund des dann erhöhten Einkommens trotz Anhebung
der Einkommensgrenzen kein Anspruch auf Er-
ziehungsgeld mehr besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Hauptgrund für die meisten Frauen, beruflich tätig
zu sein, ist, dass sie sich eine eigenständige wirtschaftli-
che und soziale Sicherheit aufbauen wollen. Der Wunsch
der Frauen, sich vom alten Rollenverständnis zu trennen
und ebenso wie die Männer eine lückenlose Erwerbsbio-
grafie aufzubauen, geht einher mit einer allgemeinen Ver-
änderung im Arbeitsleben.

Auch wenn die Flexibilisierungen in Bezug auf die
Arbeitszeit fast schon alltäglich sind, beginnt nun erst der
Lernprozess, dass Veränderungen auch bezüglich des Ar-
beitsortes möglich sind, der dann zu Hause sein kann. Ich
denke in diesem Fall an die alternierenden Arbeitsplätze.
Das heißt: Der wachsende Einfluss der neuen Medien auf
die Arbeitsplatz-, Arbeitsinhalts- und Arbeitsortsgestal-
tung eröffnet – neben den Risiken – auch große Chancen
für die Erwerbstätigkeit von Vätern und Müttern; denn
diese neuen Möglichkeiten lassen hoffen, dass die Frage
nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt nicht nur im-
mer stereotyp mit der klassischen Form von Teilzeitarbeit
für Frauen beantwortet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Devise muss lauten – das ist eine der Forderungen
der CDU/CSU –: Die Arbeitswelt muss sich an den Fa-
milien orientieren und nicht umgekehrt, wie es in der Ver-
gangenheit der Fall war. Allerdings darf daraus nicht au-
tomatisch abgeleitet werden, dass Frauen, also auch Müt-
ter, um jeden Preis erwerbstätig sein sollen. Mütter und
Väter müssen die uneingeschränkte Wahlfreiheit haben,
sich für die außerhäusliche Erwerbstätigkeit oder für die
Familie – auch ausschließlich für die Familie; es gibt viele
Frauen, die das möchten – oder aber für beides zu ent-
scheiden. Die Wahlmöglichkeiten, die erst diese Wahl-
freiheit gewährleisten, müssen verstärkt – da geben wir
Ihnen Recht –, aufgebaut und ausgebaut werden.

Aber nicht die ausschließliche gleichzeitige Wahrneh-
mung von Beruf und Familie ist unser Ziel, sondern die
Vereinbarkeit beider Lebensinhalte unter besonderer
Berücksichtigung der Interessen des Kindes. Um es zu
verdeutlichen: Eine fehlende Vereinbarkeit von Beruf und
Familie geht zulasten der Kinder. Dass in vielen Fällen
beide Elternteile arbeiten müssen – nicht um Karriere zu
machen, sondern um finanziell über die Runden zu kom-
men –, ist uns allen sicher klar.

Ich bin sehr froh, dass unsere Forderung, die mir ge-
genüber in der ersten Lesung noch mit hämischem Lachen
Ihrerseits quittiert wurde, nämlich den Begriff „Urlaub“
zu ändern, von Ihnen berücksichtigt wurde. Ob der neue
Begriff letztendlich „Familienzeit“, wie wir es vorschla-
gen, oder „Elternzeit“ lauten wird: Ich denke, wir werden
uns in diesem Punkt sicherlich einigen.

Wie schon gesagt: Sie haben mit Ihrer bisherigen Fa-
milienpolitik Chancen nicht genutzt. Sie haben vielmehr
Gelegenheiten vorbeiziehen lassen und Möglichkeiten
außer Acht gelassen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen. Sie beziehen sich in der Diskussion immer wie-
der auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und
machen dabei einen großen Fehler. Sie wollen in der




Renate Diemers

10957


(C)



(D)



(A)



(B)


Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, das Verfassungs-
gericht habe ausdrücklich festgestellt, dass CDU/CSU
und F.D.P. in ihrer Regierungszeit eine schlechte Famili-
enpolitik gemacht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Gericht hat lediglich – das wissen Sie genau – auf die
steuerliche Ungleichbehandlung in Bezug auf Kinderbe-
treuungskosten von verheirateten und nicht verheirateten
Paaren hingewiesen.

Ich möchte Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen,
am Ende meiner Rede raten, sich einmal Zahlen aus-
drucken zu lassen – Sie alle haben in Ihren Büros die
Möglichkeit dazu –, die belegen, welche familienpoliti-
schen Leistungen seit 1994 von der CDU/CSU und der
F.D.P. auf den Weg gebracht wurden.


(Zuruf von der SPD: Zu wenig!)

Ich rate auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der
CDU/CSU-Fraktion, die Sommerpause zu nutzen, darauf
hinzuweisen, dass wir ohne Ihre Zustimmung viele fami-
lienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht haben.
Ich gebe Ihnen Recht, dass wir uns seit 1990 die eine oder
andere Leistung mehr gewünscht hätten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411503500
Frau Kollegin
Diemers, Ihre Redezeit ist schon weit überschritten.


Renate Diemers (CDU):
Rede ID: ID1411503600
Aber man muss Prio-
ritäten setzen. Im Interesse der gesamtdeutschen Situation
haben wir, so denke ich, die richtigen Entscheidungen ge-
troffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411503700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Ab-
stimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der
Ausschussfassung auf den Drucksachen 14/3553 und
14/3808. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3838 vor, über den wir zu-
erst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungs-
antrag ist abgelehnt, und zwar mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS bei Ja-Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion.

Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der anderen Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf

ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Gegenstimmen der anderen Fraktionen angenom-
men.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt weiterhin unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3808 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenom-
men.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/3842. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS und Ja-Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt worden.

Abstimmung über den von den Fraktionen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Drucksa-
chen 14/3118 und 14/3808. Der Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3808,
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zum Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geför-
derten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis
zu 14 Jahren. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
sache 14/2758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom-
men.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
der PDS unter dem Titel „Vereinbarkeit von Beruf und
Kinderbetreuung für Frauen und Männer“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag auf Drucksache 14/2759 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Erziehungszeit statt Erziehungs-
urlaub“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e sei-
ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-




Renate Diemers
10958


(C)



(D)



(A)



(B)


1) siehe Anlage 2

sache 14/3192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Stimmenthaltung von CDU/CSU angenommen.

Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie

die Zusatzpunkte 12 und 13 auf,
22 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses


(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge-

schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Rainer Funke, Jörg van Essen, Hildebrecht
Braun (Augsburg), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Bürger-

(Wohnrecht hinterbliebener Haushaltsangehöriger)

– Drucksache 14/326, 14/2347, 14/3779 –

(Erste Beratung 27. Sitzung)

Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Norbert Geis
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

b) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge-

schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Christina Schenk, Sabine Jünger, Christine
Ostrowski, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Übernahme der gemeinsa-
men Wohnung nach Todesfall der Miete-
rin/des Mieters oder der Mitmieterin/des
Mitmieters

(Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches)

– Drucksache 14/308, 14/3780 –

(Erste Beratung 27. Sitzung)

Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Norbert Geis
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Alfred Hartenbach, Hermann Bachmeier,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD so-
wie den Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Claudia Roth

(Augsburg), weiteren Abgeordneten und der

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
endigung der Diskrimminierung gleichge-
schlechterlicher Gemeinschaften: Lebenspart-

(Lebenspartnerschaftsgesetz – LPartG)


– Drucksache 14/3751 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Hans-
Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einbeziehung von eingetragenen Lebens-
partnerschaften in die Hinterbliebenenver-
sorgung
– Drucksache 14/3792 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1411503800
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich
gestern viele Kommentare aus einem bestimmten Ver-
lagshause zu dem hier anstehenden Gesetzentwurf zu den
Lebenspartnerschaften gelesen habe, weiß ich nun Be-
scheid: Sie reiten, die apokalyptischen Reiter, und zer-
stampfen auf ihrem Ritt durch das Brandenburger Tor mit
ihren rot-grünen Hufen die heiligsten Werte der Nation.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie schön sind dagegen die Umfrageergebnisse, die
heute Morgen zu lesen waren und die zeigen, mit welcher
Gelassenheit offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung
darauf reagiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn die meisten haben offenbar verstanden, dass es kei-
neswegs Pflicht ist, nunmehr eine Lebenspartnerschaft
einzugehen und homosexuell zu werden,




Präsident Wolfgang Thierse

10959


(C)



(D)



(A)



(B)



(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das beruhigt!)


und dass niemandem, der eine solche Lebenspartner-
schaft, ob hetero, homo oder sonst etwas auf dieser Welt,
nicht eingeht, auch nur irgendetwas genommen wird.

Es wird auch nicht das, was für die Förderung von
Ehe und Familie zur Verfügung steht, budgetiert.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Mittel werden nicht aus einem Kuchen genommen.
Grundrechte kann man normalerweise nicht budgetieren.
Sonst müsste man auch den Anträgen der CDU/CSU,
etwa die Ausgaben für die Bundeswehr zu erhöhen, Art. 6
entgegenhalten, denn dadurch würde ja das allgemein für
andere Aufgaben zur Verfügung stehende Budget, wie zur
Förderung von Ehe und Familie, verringert. So scheint es
aber nicht zu sein und die Bevölkerung weiß das.

Dass ältere Jahrgänge mit dem Thema große Schwie-
rigkeiten haben, kann ich verstehen; ich kenne das auch
aus meiner eigenen engeren Familie. Es ist für alte Men-
schen weiß Gott eine große Herausforderung. Welch ei-
nen Wandel haben diese Menschen in ihrem Leben be-
züglich dieses Themas erlebt! Als sie jung waren, war es
eine tödliche Bedrohung; es führte ins KZ. Als sie älter
wurden, war es – sowohl in der Bundesrepublik Deutsch-
land als auch in der DDR – über lange Zeit hochgradig
strafbar und mit lebenslanger gesellschaftlicher Ächtung
verbunden. Noch bis vor kurzem bestanden Unterschiede
bei der Strafbarkeit hetero- und homosexueller Über-
griffe, die erst in jüngster Zeit eingeebnet wurden. Und
jetzt soll die Lebenspartnerschaft anerkannt werden?

Dass Menschen mit einem solchen Wandel überfordert
sind, kann ich gut verstehen. Ich werde auch nichts dage-
gen tun; denn die Überforderung ist zu groß, Herr Geis.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


– Ich meine das nicht witzig; ich sage das wirklich ohne
jeden Zynismus. Ich habe neulich im Bayerischen Rund-
funk mit einer 81-jährigen Frau gesprochen, die mir er-
zählte, das sei gegen die Schöpfung, wie man es ja oft
hört. Ich kann verstehen, dass manche Menschen, insbe-
sondere ältere Männern, vor Aversion geradezu Pickel
kommen.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage das voller Mitgefühl, weil ich das verstehe.
Aber darum geht es nicht. Es geht Gott sei Dank be-

sonders darum, für die nächsten Generationen eine Welt
zu öffnen, in der – das sage ich, weil meine liebe Mutter
mir beigebracht hat, dass man über sexuelle Dinge eigent-
lich nicht spricht –


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Hier geht es doch nicht um die Ausgrenzung von Homosexuellen! Hier geht es um die Gleichstellung!)


in dieser Hinsicht kein Unterschied mehr gemacht wird,
in der das eine wie das andere normal ist und Bettge-
schichten kein Thema mehr sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Darum brauchen wir die Gleichstellung: damit das Thema
normalisiert wird, damit nicht hinter vorgehaltener Hand
darüber gesprochen wird, damit es keine Rolle mehr
spielt, schon gar nicht im Recht. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es wird gesagt, die Regelung verstoße gegen Art. 6 des
Grundgesetzes. Lassen Sie mich etwas zu Art. 6 sagen,
einer Vorschrift, die mir sehr wichtig ist und hinsichtlich
derer ich alles tun würde, damit sie nicht beschädigt wird;
denn Ehe und Familie sind eine lebensdienliche Sache
und der Grundgesetzgeber hat gut daran getan, das im
Grundgesetz zu regeln und damit für jedermann zur Vor-
schrift zu machen.

Drei Funktionen von Art. 6 des Grundgesetzes sind In-
stitutionengarantie, Leitbildfunktion und Grundrecht.

Erstens. Institutionengarantie bedeutet, dass jeder,
der heiraten will, es kann. Haben wir da irgendeine Än-
derung vorgenommen? Nicht die Spur! Die Vorstellung,
die Ehe verlöre dadurch, dass man auch eine andere Form
der Partnerschaft eingehen kann, ist mir nur aus einem tie-
fen Defätismus gegenüber der Ehe heraus erklärlich: als
sei sie ein vertrocknender, unattraktiver Ladenhüter in ir-
gendeiner Ecke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


So sehe ich die Ehe nicht. Die Menschen heiraten nicht,
weil sie nur so steuerliche Vorteile bekommen können.
Sie haben schon geheiratet, als es das Ehegattensplitting
noch gar nicht gab.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Zweitens: Leitbildfunktion. Als gesellschaftliches
Leitbild ist mir Art. 6 des Grundgesetzes ebenfalls wich-
tig. Leitbild eines verantwortlichen Umgangs mit einem
Partner, für den man lebenslang Verantwortung über-
nimmt, selbst dann, wenn man ihn nicht mehr liebt; was
ganz entscheidend ist. Dies ist unheimlich wichtig in ei-
ner Zeit, in der der Individualismus zunimmt.

Das Leitbild Ehe und Familie gilt für diejenigen, die in
Ehe und Familie leben. Herr Geis, es gilt nicht für katho-
lische Priester, nicht für die evangelische Diakonisse und
nicht für Menschen, die nicht heiraten können und die sich
morgens beim Rasieren, beim Waschen oder wo auch im-
mer fragen,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich jetzt schon zum zehnten Mal gehört!)





Margot von Renesse
10960


(C)



(D)



(A)



(B)


ob sie lieber einen Mann oder eine Frau heiraten. Dieser
Punkt stellt sich für diese Menschen nicht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ihnen fällt nichts mehr ein!)


– Ich versuche gar nicht mehr, Sie zu überzeugen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Das Leitbild als Respekt der Unverheirateten vor Ehe

und Familie wird durch das, was wir vorhaben, nicht be-
schädigt. Im Gegenteil: Durch die Ausdehnung dieses
verantwortlichen, verlässlichen und verbindlichen Rechts-
instituts auf andere, die nicht heiraten können, steigern
wir die Bedeutung des von der Ehe und Familie ausge-
henden Magnetismus, der Aura der Begeisterung für
wechselseitige Verantwortung – eine anthropologische
Konstante, die wir in der Tat aus dem Familienrecht über-
nehmen und deswegen systematisch dem Familienrecht
zuordnen müssen.

Drittens: Grundrecht. Natürlich haben Homosexuelle
gemäß Art. 2 des Grundgesetzes Grundrechte, wenn sie
eine Partnerschaft eingehen. Nur, eines ist auch klar: Mit
den vorhandenen zivilrechtlichen Möglichkeiten kann
man nicht die angestrebten Alltagshilfen bekommen – die
wollte man ihnen selbst auf dem kleinen Parteitag der
CDU Ende letzten Jahres zugestehen –, ohne dass man
Heterosexuelle benachteiligt. Denn die bekommen das al-
les nur, wenn sie sich extrem verpflichten, mit Kopf und
Kragen beim Standesamt mit dem förmlich verbindlichs-
ten Vertrag, den es auf dieser Welt überhaupt gibt – er ist
förmlicher als ein Grundstücksverkehrsvertrag; denn das,
was sie da tun, ist sehr schwerwiegend. Das können wir
den Homosexuellen nicht billiger geben.

Ich wiederhole, was ich oft gesagt habe: So nahe sind
sie meinem Herzen nicht, dass ich irgendeinen Grund
dafür sehe, sie besser als Heterosexuelle zu behandeln.
Eine Gleichbehandlung bzw. Normalisierung ist ange-
sagt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Bravo!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411503900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411504000
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau von Renesse,
vielleicht eignet sich dieses Thema nicht so sehr für flap-
sige Bemerkungen.


(Widerspruch bei der SPD)

Hier treffen zwei verschiedene Auffassungen aufeinander.
Es muss möglich sein, dass man mit Respekt und in Ruhe
diese beiden Auffassungen zur Geltung kommen lässt.
Dann kann man ja entscheiden, für welche Auffassung
man steht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber flapsige Bemerkungen, verehrte Frau Renesse, sind
hier mit Sicherheit fehl am Platz.

Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird ein familien-
rechtliches Institut geschaffen, das der Ehe gleichgestellt
ist.


(Sabine Jünger [PDS]: Leider nicht!)

Sie ändern 112 Gesetze, die alle Regelungen in Bezug auf
die Ehe enthalten. Daraus ergibt sich die Gleichstellung
des von Ihnen vorgesehenen Instituts mit Ehe und Fami-
lie. Das ist ja auch Ihre Absicht. 1996 haben die Grünen
einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit Ehe und Fa-
milie eingebracht. Dies ist die Absicht des Herrn Beck,
auch wenn er sagt, es handele sich nicht um eine Konkur-
renz zur Ehe.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie, jemand lässt sich durch dieses Gesetz von der Eheschließung abhalten?)


Die Grünen sind in dieser ganzen Auseinandersetzung das
treibende Moment. Die SPD hat sich wohl dazu hinreißen
lassen, weil die Koalition halten muss.

Die Fachwelt ist sich darüber völlig einig, dass hier ein
Institut entsteht, das in unserer Rechtsordnung gleichbe-
rechtigt neben der Ehe stehen wird. Deshalb lehnt die
CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf entschieden
ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir stimmen darin mit den beiden großen Kirchen und –
Umfrage hin, Umfrage her, es kommt auf die Fragestel-
lung an – mit der Mehrheit der Bevölkerung überein. Da
bin ich mir ganz sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum ersten Mal in unserer Rechtsgeschichte – wenn

wir einmal die Zeit des Nationalsozialismus und des
Kommunismus ausblenden, in der die Ehe nur ein Schat-
tendasein führen durfte – wird die ganz herausragende
Stellung von Ehe und Familie in unserer Rechtsordnung
in frage gestellt. Dagegen wenden wir uns. Wir halten des-
halb diesen Gesetzentwurf für verfassungswidrig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, nennen Sie es verfassungswidrig!)


Das will überhaupt nicht heißen, dass wir uns nicht –
genau wie die Kirchen und auch die Mehrheit der Bevöl-
kerung – gegen jegliche Diskriminierung von Homo-
sexualität wenden.


(Christina Schenk [PDS]: Das ist ein Widerspruch!)


– Das ist überhaupt kein Widerspruch. Sie haben es nur
noch nicht begriffen.

Freie Lebensformen müssen in einer freien Gesell-
schaft und in einem freien Staat frei gewählt werden kön-
nen. Jeder hat dies zu respektieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Margot von Renesse

10961


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir achten auch die durchaus aufopfernden Freundschaf-
ten zwischen solchen Partnern, die ein Leben lang beste-
hen können. Davor haben wir Respekt. Allerdings gilt
dies nicht nur für gleichgeschlechtliche Lebenspartner,
sondern für viele Lebensformen.

Wir haben – dem Himmel sei Dank – viele Lebensfor-
men in unserer Gesellschaft, bei denen die Partner ein Le-
ben lang füreinander eintreten. Es besteht überhaupt gar
kein Grund, eine Lebensform herauszugreifen und ihr
eine besondere gesetzliche Regelung zukommen zu las-
sen. Das ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch das muss man einmal sehen. Das müssen Sie so se-
hen. Es gibt in Frankreich den Versuch, eine größere
Regelung zu finden. Allerdings ist sie aufgrund der
Schwierigkeiten, die dabei entstehen, bis jetzt nicht ge-
lungen. Aber das können Sie nicht einfach übersehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Le-
bensformen können nicht mit der einzigartigen Stellung
und Bedeutung von Ehe und Familie in unserer Gesell-
schaft verglichen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nirgendwo erfahren die Kinder größere Geborgenheit als
bei Vater und Mutter.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Jünger [PDS]: Quatsch!)


Nirgendwo werden die Kinder besser heranwachsen als
bei Vater und Mutter. Nirgendwo, das ist unbestritten,
werden sie besser – das wissen Sie genauso gut wie ich,
Frau von Renesse; darin stimmen wir überein – auf ihr Le-
ben vorbereitet als in der Familie. Das erkennen wir an.

Deswegen haben – auch darin sind wir uns einig – Ehe
und Familie eine überragende Bedeutung für unsere Ge-
sellschaft und für unseren Staat. Diese überragende Be-
deutung respektiert und artikuliert Art. 6 des Grundgeset-
zes. Das ist ein Grundrecht.

Normalerweise werden Grundrechte dafür geschaf-
fen, um dem Einzelnen einen Freiheitsraum gegenüber
dem Staat zu sichern. Aber bei zwei Grundrechten hat der
Staat den Auftrag, alles zu tun, damit dieses jeweilige
Grundrecht gewahrt bleibt und seine Bedeutung in der
Gesellschaft behält. Das betrifft zum Ersten die Würde
des Menschen und zum Zweiten Ehe und Familie. Des-
wegen kann sich der Staat nicht zurücklehnen und sagen:
Die Zeiten und die Menschen haben sich geändert. Wir
haben nicht mehr die gleichen Verhältnisse wie 1950.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Haben wir auch nicht mehr!)


Nein, wir haben die gleiche Verfassung. Wir haben in
dieser Verfassung stehen, dass unabhängig davon der
Staat verpflichtet ist, alles zu unternehmen, damit Ehe und
Familie ihre überragende Stellung in unserer Gesellschaft
behalten. Wer dies missachtet, missachtet die Verfassung,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Das wissen Sie
auch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben doch selbst 1993 in der Verfassungskom-
mission den Antrag gestellt, neben Ehe und Familie an-
dere Lebensgemeinschaften ebenfalls unter den besonde-
ren Schutz des Staates zu stellen. Das war der Versuch,
Ehe und Familie in der Verfassung mit anderen Lebens-
gemeinschaften gleichzustellen. Damals waren Sie der
Auffassung, man brauche eine Änderung oder Ergänzung
der Verfassung, um entsprechende gesetzliche Regelun-
gen treffen zu können. Heute versuchen Sie, dies mit Ge-
setzen unterhalb der Verfassung, mit einfachgesetzlichen
Regelungen, zu erreichen und widersprechen damit Ihrer
Auffassung von 1993, als Sie noch der Meinung waren,
wir brauchten erst eine Verfassungsänderung.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist, ob der Verfassungsgesetzgeber es tun muss oder tun darf! Das ist ein Unterschied!)


Wenn ich es richtig beurteile, machen Sie also sehenden
Auges ein verfassungswidriges Gesetz, meine sehr geehr-
ten Damen und Herren. Das können Sie so nicht stehen
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie alle wissen, welche Bedeutung auch das Verfas-

sungsgericht Ehe und Familie beimisst. Es gibt eine ein-
deutige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Sie
können in vielen Urteilen nachlesen, dass die einzigartige
Bedeutung von Ehe und Familie gewahrt bleiben muss
und dass es nicht erlaubt ist, andere Rechtsinstitute
gleichrangig danebenzustellen. Der frühere Verfassungs-
richter Kirchhof hat klar und eindeutig erklärt: Wer andere
Rechtsinstitute wie die gleichgeschlechtlichen Lebens-
partnerschaften neben Ehe und Familie stellt, pervertiert
den Verfassungsauftrag.

Die F.D.P. hat in ihrem Entwurf sehr wohl versucht, auf
diese Lage Rücksicht zu nehmen. Das erkenne ich an, ob-
wohl ich auch gegen diesen Entwurf bin. Dieser Entwurf
ist etwas ganz anderes als das, was von der anderen Seite
des Hauses vorgelegt wurde. Dort wird die Ehe kopiert
und es gibt fast keinen Unterschied mehr. Jedenfalls sind
die verbleibenden Unterschiede nicht wesentlich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
muss man auch die einzelnen Regelungen einmal be-
trachten. Was macht eigentlich der Standesbeamte, bei
dem sich zwei Partner eintragen lassen wollen, wenn er
genau weiß, dass es sich nur um eine Scheinpartnerschaft
handelt? Es fehlt eine Missbrauchsregelung.Oder haben
Sie nicht genauso wie wir und wie Ihr Innenminister die
Befürchtung, dass über diese Regelung das Asylrecht um-
gangen werden kann?


(Margot von Renesse [SPD]: Herr Geis, das ist nun wirklich das erbärmlichste Argument!)


– Dieser Vorwurf stammt nicht von mir, sondern ich wie-
derhole nur die Befürchtungen, die laut Zeitungsberichten
der Innenminister hegt. Diese Befürchtungen sind doch
nicht aus der Luft gegriffen; sie sind real. Belassen wir es
dabei und versuchen Sie nicht, das mit irgendwelchen
Zwischenrufen zu überdecken!




Norbert Geis
10962


(C)



(D)



(A)



(B)


Des Weiteren wird immer wieder behauptet, die gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften würden diskriminiert
werden. Es gibt bei uns keine Diskriminierung von gleich-
geschlechtlichen Partnerschaften.


(Widerspruch bei der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Sie sehen die Diskriminierung darin, dass wir uns wei-
gern, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und an-
dere Lebensformen der Ehe gleichzustellen. Ich halte das
nicht für Diskriminierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass es etwas ganz anderes ist, habe ich herauszuarbeiten
versucht.

Es wird immer das Argument gebraucht, dass, wenn
der eine Partner, der den Mietvertrag unterschrieben hat,
stirbt, der andere das Mietverhältnis nicht aufrechterhal-
ten könne. Erstens einmal wird das ganz selten vorkom-
men und zweitens können beide den Mietvertrag unter-
schreiben. Was hindert sie denn, beide den Mietvertrag zu
unterschreiben?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vermieter zum Beispiel!)


Dann wird immer das Beispiel angeführt – völlig aus
der Luft gegriffen! –, einer der Partner liege im Kranken-
haus und der Arzt müsse entscheiden, ob er ihn operieren
solle oder nicht.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das soll aus der Luft gegriffen sein?)


Durch eine einfache privatrechtliche Vollmacht kann man
eine entsprechende Regelung heute schon treffen. Dazu
brauche ich doch keine gesetzliche Regelung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411504100
Kollege Geis, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun, F.D.P.-
Fraktion?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411504200
Sofort. Ich möchte nur
noch den Gedanken zu Ende führen.

Natürlich gibt es auch Rechtsfragen, die man nicht
privatrechtlich oder durch privaten Vertrag regeln kann,
beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht. Aber,
meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist einer von
10 000 Fällen. Brauchen wir dafür ein Gesetz? Das frage
ich Sie wirklich. – Herr Braun, bitte.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1411504300
Herr Kol-
lege Geis, es gab in letzter Zeit zwei deutliche Signale
vonseiten der CDU/CSU, die eine Einstellungsänderung
der Fraktion und der hinter ihr stehenden Parteien zu dem
Regelungsgegenstand nahe legten, der heute debattiert
wird. So hat der Kollege Siemann vor drei Monaten hier
im Bundestag bei der Behandlung unseres Antrags, jegli-
che Diskriminierung in der Bundeswehr in Zukunft zu un-
terbinden, auch die wegen der sexuellen Orientierung,
deutlich gesagt, dass sich seine Fraktion nicht nur damit

beschäftigt hat, sondern auch zu dem Ergebnis gekommen
ist, dass man dem Antrag zustimmen will.

Der Chef der Staatskanzlei in Bayern, Huber, hat vor
ganz kurzer Zeit mitgeteilt, die CSU wolle ihr Verhältnis
zu homosexuellen Partnerschaften neu ordnen und auf
eine neue Basis stellen. Das fand sicherlich in Abstim-
mung mit dem Ministerpräsidenten und seinem Partei-
vorsitzenden Stoiber statt.

Muss ich davon ausgehen, dass das, was Sie heute zu
dieser Thematik ausführen, das Ergebnis dieses neuen
Denkens der CSU darstellt?


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411504400
Lieber Herr Braun, soweit
Sie Ihre Frage nicht polemisch gemeint haben,


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Ich habe sie politisch gemeint!)


will ich versuchen, eine Antwort zu geben. Sie können
ganz sicher sein, dass es in der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion in der Frage der Ablehnung dieses Gesetzent-
wurfes zur Gleichstellung von homosexuellen Lebens-
partnerschaften mit der Ehe überhaupt keine unterschied-
lichen Auffassungen geben wird. Die Unionsfraktion wird
eine solche Gleichstellung in jedem Fall ganz einmütig
ablehnen. Gleiches gilt auch für die CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt Ein-

zelfälle, die man nicht mit den jetzigen Bestimmungen re-
geln kann. Diese sind aber selten. Sie müssen sich über-
haupt fragen: Für wen machen wir dieses Gesetz?


(Sabine Jünger [PDS]: Für die Menschen!)

In Dänemark gibt es eine ähnliche gesetzliche Regelung.
Seit 1988 besteht in Dänemark für gleichgeschlechtliche
Partner die Möglichkeit, ihre gleichgeschlechtliche Part-
nerschaft registrieren zu lassen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Hören Sie einmal zu!

2 000 Menschen haben sich bislang registrieren lassen
und zwei Drittel der Paare sind wieder auseinander ge-
gangen.


(Margot von Renesse [SPD]: Dann haben Sie doch nicht so viel Angst!)


Muss denn wirklich der Bundestag in Bewegung gesetzt
werden, um für so wenige Fälle eine gesetzliche Regelung
zu treffen?

Ich sehe hinter der Forderung, nicht eheliche Lebens-
gemeinschaften, gleichgeschlechtliche Lebensgemein-
schaften mit der Ehe gleichzustellen, den ganz klaren
Versuch, die eindeutige Vorrangstellung von Ehe und Fa-
milie in unserer Verfassung auszuhöhlen und zu untergra-
ben. Das aber widerspricht nicht nur unserem religiösen
Verständnis, sondern das widerspricht auch unserem




Norbert Geis

10963


(C)



(D)



(A)



(B)


Rechtsverständnis, und das widerspricht vor allem unse-
rem Kulturverständnis. Deswegen lehnen wir das ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1411504500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411504600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige
Tag hat gezeigt: Die Koalition hat ein optimistisches und
positives Familienbild. Das haben wir heute Morgen in
der Debatte über das Bundeserziehungsgeld, mit dem wir
wirklich etwas für die Familien, also für die Menschen,
die für Kinder sorgen und nicht bloß darüber reden, ge-
zeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass wir Familienför-
derung nicht damit verwechseln, andere zu benachteili-
gen. Hier scheint der wesentliche Unterschied zwischen
unserem und Ihrem Verständnis von Ehe und Familie zu
liegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist nicht das erste Mal, dass der Bundestag über die
rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partner-
schaften diskutiert und streitet. Es ist aber das erste Mal,
dass eine Regierungskoalition hier ein Gesetz zur rechtli-
chen Anerkennung von homosexuellen Lebensgemein-
schaften vorlegt. Das ist ein historisches Datum für die
homosexuellen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.
Das ist ein Meilenstein für mehr Gerechtigkeit in
Deutschland, für eine moderne und offene Gesellschafts-
politik.

Bis 1969 war Homosexualität in der Bundesrepublik
noch voll strafbar. Endgültig beseitigt wurde der unselige
§ 175 StGB erst 1994. Noch vor 15 Jahren galt gleichge-
schlechtliches Zusammenleben vor deutschen Gerichten
als sittenwidrig. Jetzt, im Jahre 2000, schicken wir uns an,
die Standesämter für Schwule und Lesben zu öffnen. Wir
bieten homosexuellen Paaren einen gesetzlich abgesi-
cherten Rahmen für ihre Partnerschaft. Wir holen unsere
schwulen Bürger und lesbischen Bürgerinnen vom Rand
in die Mitte der Gesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch wegen der schrecklichen Geschichte derHomo-
sexuellen-Verfolgung in Deutschland ist dieses Haus den
Schwulen und Lesben etwas schuldig. Übrigens – wenn
wir schon bei Rückblicken in die Historie sind – ist es ge-
nau genommen nicht das erste Mal, dass sich hier in die-
sem Hause eine Regierungsmehrheit Sorgen um homose-
xuelle Lebensgemeinschaften macht.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Im Jahre 1962 hat hier eine CDU/CSU-F.D.P.-Regie-

rung einen Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform vorge-
legt. In diesem Gesetzentwurf hat man damals ausdrück-
lich an der bestehenden Strafbarkeit der Homosexualität
festgehalten. Zur Begründung hieß es damals im Gesetz-
entwurf: Wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde

für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere
Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnli-
chen Verhältnissen zu belästigen.

Meine Damen und Herren, Sie haben Recht behalten:
So ist es auch gekommen. Heute, wo der Verfolgungs-
druck weg ist, lebt die Mehrheit der Lesben und Schwu-
len in festen Beziehungen. Erfreulicherweise fühlen sich
aber kaum noch Menschen belästigt, wenn ein homo-
sexuelles Paar in die Nachbarwohnung einzieht. Die
Mehrheit der Deutschen akzeptiert das. Die Mehrheit ist
dafür, dass Schwule und Lesben gleiches Recht bekom-
men. Am heutigen Tag wurde von forsa eine Meinungs-
umfrage veröffentlicht: 56 Prozent der Bevölkerung un-
terstützen das Projekt von Rot-Grün und 37 Prozent ha-
ben sich dagegen ausgesprochen. Um deren Zustimmung
werden wir weiter werben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der gesellschaftlichen Entwicklung wollen wir als Ge-
setzgeber jetzt Rechnung tragen.

Von Island bis zum Mittelmeer gibt es die rechtliche
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Bisher gibt es einen großen weißen Fleck auf der Karte
der Bürgerrechte von Lesben und Schwulen und das ist
Deutschland. Schauen Sie einmal in die Länder, in denen
es eine rechtliche Anerkennung gibt: Dänemark, Schwe-
den, Norwegen, Island, die Niederlande oder auch Frank-
reich. Nirgendwo ist die Ehe tangiert worden. Nirgendwo
ist das Abendland untergegangen. Die Apokalypse, die
Sie hier beschwören, ist schlichtweg ausgefallen. Dies
können wir von diesen Ländern lernen. Deswegen bitte
ich um etwas mehr Piano in dieser Debatte.

Die eingetragene Partnerschaft, die Inhalt des heute
von uns vorgelegten Gesetzentwurfes ist, ist ein fairer
Mix von Rechten und Pflichten. Man muss deutlich sa-
gen: Dies ist kein Projekt der Libertinage. Es ist ein repu-
blikanisches Projekt der Beendigung von Diskriminie-
rung, ein Projekt einer werteorientierten und wertebestär-
kenden Politik. Man muss den Partnerinnen und Partnern,
die dieses Gesetz – wenn es denn in Kraft tritt – auf sich
anwenden wollen, mit auf den Weg geben: Drum prüfe,
wer sich ewig bindet. Denn das Glück mag womöglich
nicht ewig dauern, die Unterhaltsverpflichtungen nach
dem Familienrecht können dies aber durchaus tun.

Dies ist aber das Entscheidende: Wir schaffen hier
keine Sonderrechte, sondern wir verschaffen den Men-
schen die Rechte, die sie brauchen. Hier kann es keine Ro-
sinenpickerei geben. Verantwortung und Einstehen wer-
den mit Unterhaltspflichten umfassend geregelt. Daraus
ergeben sich zwingend entsprechende Folgeregelungen in
anderen Rechtsbereichen.

So haben wir zum Beispiel im Steuerrecht schlicht-
weg an den Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit
angeknüpft. Schaffen wir gesetzliche Unterhaltsver-
pflichtungen, können wir im Steuerrecht nicht so tun, als
ob diese nicht bestünden. Dem müssen wir Rechnung tra-
gen. Wir haben hier nicht das Ehegattensplitting auf die
eingetragenen Partnerschaft angewandt, aber ein Real-
splitting vorgesehen, um diesem Umstand gerecht zu wer-




Norbert Geis
10964


(C)



(D)



(A)



(B)


den. Bei der Sozial- und Arbeitslosenhilfe müssen wir
dies auch tun. Hier ist es zum Nachteil der Partner. Hier
spart der Staat bei eingetragenen Partnerschaften entspre-
chend Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein. Auch dies ist
sachgerecht und zwingend.

Beim Erbrecht und beim Erbschaftsteuerrecht ha-
ben wir dem Grundsatz ebenfalls Rechnung getragen,
dass man bei einer Partnerschaft, in der es Unterhalts-
pflichten gibt, beim Tod des Partners dem Überlebenden
nicht einfach die gemeinsame Lebensgrundlage entziehen
kann. Dies sind alles Dinge, die sich aus den Unterhalts-
verpflichtungen ergeben: wohl abgewogen, wohl begrün-
det und keine Tangierung von Art. 6 Grundgesetz.

Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention
zwingt uns – das sagt uns die deutsche Rechtsprechung in-
zwischen –, gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch
im Ausländerrecht anzuerkennen und hier für Rechtssi-
cherheit zu sorgen.

Meine Damen und Herren, in einigen Bereichen schaf-
fen wir gleiches Recht. In anderen Bereichen haben wir
den bestehenden Abstand gelassen – der mag politisch un-
terschiedlich bewertet werden, ist aber erst einmal die
Substanz des Gesetzes –: Es gibt kein Adoptionsrecht,
keine Stiefkindadoption, kein Ehegattensplitting, es gibt
einen Wahlgüterstand statt des gesetzlichen Güterstandes,
wie wir ihn bei der Ehe kennen, und es gibt auch kein Ver-
löbnis. Also, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, auch Ihrer verfassungsrechtlichen Philosophie wird
dieser Gesetzentwurf eigentlich gerecht.

Die Lebenspartnerschaft nimmt niemandem etwas
weg; sie schafft Rechtssicherheit. Sie, Herr Geis, ver-
schanzen sich hier hinter einer Fehlinterpretation von
Art. 6 der Verfassung. Reden Sie in Zukunft doch lieber
einmal zur Sache! Glauben Sie im Ernst, es entspricht den
Grundwerten unserer Verfassung, dass der Lebenspartner
nach dem Tod seines Gefährten aus der gemeinsamen
Mietwohnung geworfen werden kann? Glauben Sie wirk-
lich, es ist im Sinne des Grundgesetzes, wenn zwei Men-
schen, die vielleicht jahrzehntelang zusammengelebt, für-
einander gesorgt haben, vom Recht wie Fremde behandelt
werden? Das kann doch nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Glauben Sie im Ernst, es steht im Einklang mit unserem
freiheitlichen Grundgesetz, dass Menschen, die sich lie-
ben und lebenslang zusammenbleiben wollen, dieses Zu-
sammenleben verboten wird, nur weil einer davon Aus-
länder ist?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird doch nicht verboten!)


– Wenn sie nicht einreisen dürfen, ist es verboten.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gilt allgemein, Herr Beck!)

Nach der Rechtsprechung in Deutschland kann das

menschenrechtswidrig sein. Was Sie hier als verfassungs-
rechtliche Dogmen verkünden, ist reine Phantasie. Das
Bundesverfassungsgericht hat zur Rechtssituation ho-

mosexueller Lebensgemeinschaften bislang erst einmal
Stellung genommen. Es hat dabei darauf hingewiesen,
dass homosexuellen Lebensgemeinschaften aus der feh-
lenden rechtlichen Absicherung „vielfältige Behinderun-
gen“ der „privaten Lebensgestaltung“ entstehen können.
Es hat weiterhin ausgeführt: Diese vielfältigen Behinde-
rungen der privaten Lebensgestaltung werfen Fragen auf
nach der Vereinbarkeit des derzeitigen Rechtszustandes
mit Art. 2 des Grundgesetzes, freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit, mit Art. 1 des Grundgesetzes, Schutz der
Menschenwürde, und mit Art. 3 des Grundgesetzes,
Gleichheit vor dem Gesetz. Das sehen wir genauso wie
das Bundesverfassungsgericht. Deshalb wollen wir hier
Abhilfe schaffen.

Mit der Eintragung auf dem Standesamt übernehmen
Lebenspartner umfassende gegenseitige Fürsorge- und
Unterhaltsverpflichtungen. Daher ist es nur gerecht, ihnen
auch den rechtlichen Schutz zu gewähren. Das steht völ-
lig im Einklang mit unserer Verfassung.

Herr Geis, Sie sagen hier, Sie seien gegen dieses Ge-
setz. Die CDU/CSU hat gesagt, sie wolle die Benachteili-
gungen überprüfen. Sagen Sie doch nicht immer, woge-
gen Sie sind, sondern wofür Sie sind! Legen Sie das
Ergebnis dieser Überprüfungen auf den Tisch! Die
Schwulen und Lesben in diesem Lande erwarten auch von
der Volkspartei CDU/CSU nicht warme Worte und Sonn-
tagsreden auf Parteitagen, sondern konkrete Taten und
Respekt durch das Gesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Stan-
desamt. Es gibt absurde Diskussionen in diesem Land.
Das Standesamt war für mich bislang immer eine Be-
hörde, die man in bestimmten Fällen aufsuchen muss: für
die Anzeige von Geburts- und Todesfällen, bei Ehe-
schließungen, bei Kirchenein- und -austritten. Jetzt wird
aus dem Standesamt auf einmal eine geheiligte Stätte ge-
macht.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Ersatzaltar!)


Das Standesamt ist eine Behörde und kein Traualtar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

Deshalb ist diese gesamte Aufregung völlig gegenstands-
los. Ich bitte Sie, den Schwulen und Lesben die Öffent-
lichkeit der Zeremonie zu gestatten. Das ist eine Frage des
Respekts.

Eine moderne Gesellschafts- und Familienpolitik muss
selbstverständlich auch gleichgeschlechtlichen Paaren
Rechtssicherheit bieten. Es ist einer demokratischen Ge-
sellschaft nicht zuträglich, wenn einem Teil der Bürgerin-
nen und Bürger wichtige Rechte vorenthalten bleiben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Volker Beck (Köln)


10965


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411504700
Ich erteile für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das
Wort.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411504800
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Wir Freien Demokraten begrüßen, dass wir
hier heute eine solche Debatte auf der Tagesordnung ha-
ben.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass hier mit einem Ge-
setzentwurf eine Diskussion angestoßen und weiterge-
führt wird, die uns in diesem Hause im letzten Jahr, als wir
unseren Gesetzentwurf eingebracht haben, schon einmal
beschäftigt hat. Wir halten es für notwendig, dass Rechts-
änderungen durchgesetzt werden. Deswegen möchte ich
zunächst ein Wort an Sie, an die Abgeordneten der CDU/
CSU-Fraktion, richten.

Ich glaube, es ist in diesem Hause unbestritten, dass
Ehe und Familie die tragenden Säulen in unserer Gesell-
schaft sind. Aber die gesellschaftliche Realität zeigt auch,
dass längst neue Formen des Zusammenlebens in unse-
rem Volke entstanden sind. Ich finde, jede Partnerschaft
ist wertvoll, in der Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Gerade die Konservativen beklagen, wie ich finde, zu
Recht immer wieder die Tendenzen der Vereinzelung in
der Gesellschaft. Die gibt es und die muss man sich sorg-
sam ansehen. Aber dann sollten auch gerade die Konser-
vativen jede Initiative, die sich gegen diese Vereinze-
lungstendenzen richtet, unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Sie sprechen von einem „Werteverlust“. Wenn je-

mand seinen zu Tode erkrankten Partner bis zum Schluss
pflegt, ist das kein Werteverlust, sondern ein Wertegewinn
in dieser Gesellschaft.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Völlig unbestritten!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411504900
Sie gestatten eine
Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411505000
Ja, selbstverständ-
lich.


Wolfgang Dehnel (CDU):
Rede ID: ID1411505100
Herr Kollege
Westerwelle, Sie haben gerade im Zusammenhang mit der
Pflege von Gemeinschaften gesprochen. Wie halten Sie es
damit, wenn zum Beispiel zwei ältere Damen, zwei Wit-
wen, oder Vater und Sohn in hohem Alter gemeinsam in
einem Haushalt leben und sich gemeinsam unterstützen?
Müssten auch sie entsprechende Gemeinschaften einge-
hen? Sie werden bei Ihrer Regelung ja regelrecht benach-
teiligt.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411505200
Mit Verlaub gesagt:
Nach dieser Frage verstehe ich nicht, warum Sie uns nicht
unterstützen. Das ist nicht verständlich.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


In Ihrer Frage kommt ja zum Ausdruck, dass Sie mehr
wollen, dass Sie die neuen Formen des Zusammenlebens
anerkennen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das wollen, meine ich, müssten Sie Ihren Wor-
ten auch Taten folgen lassen.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411505300
Kollege Geis hat
noch eine Zwischenfrage.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411505400
Herr Kollege Westerwelle,
wir bejahen, dass solche Gemeinschaften – nicht nur
gleichgeschlechtliche, sondern auch andere Gemein-
schaften; ich habe es vorhin ausgeführt – einander ihr Le-
ben lang stützen. Dies muss auch vom Staat respektiert
werden. Aber berechtigt das schon die Forderung nach
Gleichstellung mit der Ehe? Das ist unser heutiges
Thema.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411505500
Zunächst einmal bin
ich damit einverstanden – darauf werde ich auch gleich
noch eingehen –, dass es eine Gleichstellung schon aus
verfassungsrechtlichen Gründen nicht geben kann. So
hatte ich übrigens Frau Kollegin von Renesse ausdrück-
lich nicht verstanden.


(Beifall bei der F.D.P – Alfred Hartenbach [SPD]: Das hat sie auch nicht gesagt!)


– Eben, das hat sie ausdrücklich nicht erklärt. Ich finde
sehr bemerkenswert, wie Frau von Renesse es hier einge-
führt hat.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir müssen vom Gesetzentwurf ausgehen!)


– Wir werden noch über Details des Gesetzentwurfes re-
den. Ich werde gleich noch ein paar Punkte aufzeigen. Das
ist ganz selbstverständlich. Es ist die erste Lesung, bei der
wir natürlich darüber reden müssen. Das ist gar keine
Frage.

Ich möchte Ihnen antworten, weil Sie in dieser Frage
wieder die gleiche Geisteshaltung zum Ausdruck bringen.


(Zuruf von der SPD: Der Geis und seine Geisteshaltung!)


– Lassen Sie das doch bitte! Ich muss darum bitten: Es ist
in meinen Augen richtig, wenn der Kollege Geis seine
Meinung vorträgt. Wir teilen diese Meinung vielleicht
nicht, müssen sie aber ernst nehmen, weil sie in der Be-
völkerung vertreten wird. Das finde ich selbstverständ-
lich. Es ist eine ganz wichtige Frage. Wie das Niveau die-






(C)



(D)



(A)



(B)


ser Debatte ist, entscheidet darüber, wie die Akzeptanz
dieses Vorhabens in der Bevölkerung sein wird.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich möchte Ihnen noch auf eine Sache antworten, in der
es, glaube ich, bei Ihnen ein Missverständnis gibt. Wenn
die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensge-
meinschaften abgebaut und abgeschafft wird, ist das keine
Entwertung der Ehe. Wer sich gegen die Diskriminierung
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften wendet,
attackiert damit nicht das Institut Ehe, sondern er möchte
nichts anderes, als dass Menschen, die zusammenleben,
dieses mit Rechten und Pflichten tun können. Er möchte,
dass Menschen zusammenleben können, die – zumindest
aus meiner Sicht heraus – Verantwortung übernehmen.
Sie fordern bei jeder Laienpredigt und jeder Podiumsdis-
kussion immer wieder: Übernehmt Verantwortung fürei-
nander, tretet füreinander ein und geht nicht den Weg in
die Isolation, in die – Robinson-Crusoe-Gesellschaft! Das
können Sie hier als Gesetzgeber faktisch mitbewirken.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir haben in den letzten Monaten die Töne aus der
CDU/CSU – ob das Frau Merkel, Herr Kollege Polenz
oder andere Kollegen gewesen sind – sehr aufmerksam
verfolgt. Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass Bewe-
gung in der Union vorhanden sei. Das von Ihnen, Herr
Geis, Vorgetragene erinnert mich zum Teil – bei allem
Respekt – an das Echo der 50er-Jahre. Aber wir sind heute
weiter.


(Beifall bei der F.D.P. der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411505600
Herr Kollege Geis
hat eine zweite Zusatzfrage. Herr Kollege Westerwelle
möchte seine Redezeit verdoppeln. Das ist sein gutes
Recht. Die Redezeit wird angehalten.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411505700
Ich bedanke mich
dafür. Kleinere Fraktionen, das heißt vorübergehend klei-
nere Fraktionen, können das immer gut gebrauchen.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411505800
Herr Kollege Westerwelle,
ich freue mich mit Ihnen, dass Sie Ihre Redezeit verdop-
peln können. Sie müssen mir aber schon Antwort auf
meine Frage geben.

Ich habe gefragt, ob es – bei allem Respekt für diese
Lebensgemeinschaften – denn notwendig sei, solche
Lebensgemeinschaften der Ehe gleichzustellen, um eine
Diskriminierung zu verhindern. Das ist doch die eigentli-
che Frage bei diesem Gesetzentwurf. Sie dürfen nicht da-
rauf eingehen, was Frau von Renesse gesagt hat, sondern
Sie müssen den Gesetzentwurf betrachten.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411505900
Herr Kollege Geis,
ich habe ausdrücklich gesagt, es könne nicht um eine

Gleichstellung gehen. Es gibt aber Regelungsbereiche,
bei denen wir nicht so tun können, als gäbe es kein Pro-
blem. Nehmen Sie zum Beispiel das Zeugnisverweige-
rungsrecht, über das schon gesprochen worden ist. Eine
solche Frage können Sie niemals über einen zivilrechtli-
chen Vertrag regeln, das muss vielmehr der Gesetzgeber
regeln. Das mögen für Sie Ausnahmefälle sein, aber jeder
Fall von Diskriminierung ist ein Fall, dem sich der Bun-
destag nicht verschließen darf.

Es gibt auch andere Bereiche. Denken Sie zum Bei-
spiel an das Erbschaftsteuerrecht: Zwei Personen leben
jahrzehntelang in einer eheähnlichen oder nicht ehelichen
Lebensgemeinschaft zusammen und haben ein gewisses
Vermögen – denken Sie zum Beispiel an eine Eigentums-
wohnung – aufgebaut. Stirbt einer von beiden, geht diese
Wohnung unter den Hammer, weil es nicht die entspre-
chenden erbschaftsteuerrechtlichen Möglichkeiten gibt.
Das ist die Realität. Diese Frage können Sie nicht durch
Verträge zwischen zwei Personen regeln. Das können Sie
nur regeln, indem der Deutsche Bundestag endlich seinen
Handlungsbedarf begreift.


(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Deswegen ist es aus meiner Sicht notwendig, dass die
Ausschussberatungen konstruktiv stattfinden. Dem Deut-
schen Bundestag liegen mittlerweile mehrere Gesetzent-
würfe vor. Wir werden darüber reden müssen, wie man zu
einer verfassungsfesten Lösung kommt. Die Bedenken,
die Bundesinnenminister Otto Schily vorgetragen hat,
würde ich nicht zu gering achten. Wenn der Verfassungs-
minister der deutschen Bundesregierung öffentlich im
„Tagesspiegel“ dieser Woche seine verfassungsrechtli-
chen Bedenken gegen den vorgelegten Gesetzentwurf an-
meldet, sollte man das ernst nehmen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich habe eine große Sorge: Wenn Sie mit Ihrer Mehr-

heit einen Gesetzentwurf durchbringen – was Sie kön-
ne –, ohne ihn zu verändern, wird es eine Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts geben – raten Sie einmal, von
welcher Landesregierung! – und dann wird dieses Vorha-
ben vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Dann
ist jede Chance für die nächsten zehn Jahre vertan. Des-
wegen: Gehen Sie in eine konstruktive Debatte! Wir wer-
den jedenfalls mit Änderungsanträgen dazu beitragen,
dass am Schluss eine verfassungsfeste Lösung gefunden
werden kann. Eine Gleichstellung mit Ehe und Familie
kann es nach Art. 6 des Grundgesetzes nicht geben. Das
hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich
gemacht. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass dieses
wichtige, ja auch historische Vorhaben, das viele in die-
sem Hause verbindet, am Bundesverfassungsgericht
scheitern muss, weil es die Verfassungswirklichkeit igno-
riert!


(Beifall bei der F.D.P.)

Dann ist dieses Thema erledigt. Dies wäre ein großer
Schaden für diejenigen, die in dieser Sache einen Fort-
schritt wünschen.




Dr. Guido Westerwelle

10967


(C)



(D)



(A)



(B)


Jeder weiß, warum die beiden Koalitionsfraktionen
den Gesetzentwurf einbringen und warum der Entwurf
nicht von der Bundesregierung, vom Kabinett, einge-
bracht worden ist. Dies liegt daran, dass der Verfassungs-
minister intern und öffentlich geäußerte verfassungs-
rechtliche Bedenken hat. Diese Bedenken muss man ernst
nehmen, weil sonst meiner Meinung nach eine gefährli-
che Situation entstehen würde.

Die F.D.P. schlägt Ihnen vor – es ist ein legitimes An-
liegen, dass wir das hier tun –, dass Sie sich unseren Ge-
setzentwurf noch einmal anschauen, der sich nur in einem
wesentlichen Punkt von dem unterscheidet, was die Koa-
litionsfraktionen vorgelegt haben. Sie haben eine Stan-
desamtslösung vorgeschlagen. Das kann ich verstehen,
weil das Standesamt für viele nicht nur eine Behörde ist,
wie es vorgetragen worden ist, sondern auch eine Kul-
turinstitution. Damit verbinden viele Menschen Gefühle.
Man kann es nicht einfach zu einer Behörde deklarieren.
Das ist ganz selbstverständlich.

Wenn Sie aber eine standesamtliche Lösung vorschla-
gen, dann laufen Sie Gefahr, dass ein Verfassungsverstoß
erkennbar wird und wegen Art. 6 des Grundgesetzes ein-
geschritten werden müsste. Sie begeben sich damit in eine
gefährliche Situation. Wenn das einmal vor dem Bun-
desverfassungsgericht gescheitert ist, ist dieses Thema in
der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Politik
in den nächsten zehn Jahren unten durch. Das, was wir
jetzt machen, muss aber der Verfassung standhalten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es darf uns nicht wie beim § 218 StGB gehen. Sie er-

innern sich, dass wir dort maximale und meiner Meinung
nach richtige Positionen gefunden haben, dann aber als
Gesetzgeber beim Bundesverfassungsgericht regelmäßig
gescheitert sind, weil die Minderheit, die unterlegen war,
dieses Gericht angerufen hat. Deswegen sind Sie meiner
Meinung nach gut beraten, wenn Sie sich eher der ver-
tragsrechtlichen Lösung, die die F.D.P. vorgeschlagen hat,
annähern, als dass Sie so starr auf der standesamtlichen
Lösung beharren; das ist mehr ein Symbol. Diejenigen,
die in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu-
sammenleben, möchten, dass sich auch die rechtliche
Realität zu ihren Gunsten verändert. Um Symbole geht es
dabei weniger. Es geht um handfeste Verbesserungen, um
das handfeste Abschaffen von Diskriminierungen gleich-
geschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Lieber einen
Schritt weniger, dafür aber die Sicherheit, dass es beim
Bundesverfassungsgericht auch Bestand haben kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb möchte ich zum Schluss sagen: Das, was bis-

her von den beiden Regierungsfraktionen vorgelegt wor-
den ist, nämlich die Diskriminierung gleichgeschlechtli-
cher Lebensgemeinschaften abzuschaffen, wird von den
Liberalen unterstützt. Wir haben einen ähnlichen Gesetz-
entwurf eingebracht. Die Ausgestaltung dessen, was Sie
vorgelegt haben, muss noch geändert werden. Das muss
noch im Ausschuss besprochen werden. Ich habe sonst die
Befürchtung, dass einige, die das zurzeit als Lieblings-
kind seit Jahren verfolgen, mit einem guten Gefühl nach
der Abstimmung im Bundestag nach Hause gehen, aber

mit einem schlechten Gefühl nach einer entsprechenden
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder zu-
sammentreten müssen. Das wäre schade.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506000
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Christina Schenk.


Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1411506100
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die Aufhebung der rechtlichen Diskri-
minierung lesbischer und schwuler Paare gegenüber
heterosexuell Lebenden ist in Deutschland seit langem
überfällig. Insofern ist das Gesetzgebungsvorhaben der
Bundesregierung ein wichtiger Schritt, den wir begrüßen.

Es gibt keinen einzigen Grund, homosexuellen Paaren
das Recht auf Eheschließung vorzuenthalten. Die lesbi-
sche und schwule Zweiergemeinschaft unterscheidet sich
nicht von der Heterosexueller. Hier wie da wird geliebt,
wird gegenseitig Verantwortung übernommen, werden
Kinder erzogen. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlich-
keit, Gleiches auch gleich zu behandeln.


(Beifall bei der PDS)

Wenn Menschen nur aufgrund ihrer sexuellen Orien-

tierung von Rechten ausgeschlossen bleiben, die andere
haben, ist das Diskriminierung und nichts anderes. Die
Äußerungen von der konservativen Seite hierzu sind für
mich unerträglich. Wenn behauptet wird, die eingetragene
Partnerschaft gefährde Ehe und Familie, dann muss ich
dazu feststellen, dass dies schon mit den elementaren Ge-
setzen der Logik unvereinbar ist. Keinem einzigen Hei-
ratswilligen oder Verheirateten wird etwas vorenthalten
oder genommen, worauf er bisher Anspruch hatte. Mit der
Öffnung der Ehe für Homosexuelle würde lediglich der
Kreis der Begünstigten erweitert.

Die Behauptung, die Ehe und nur die Ehe sei auf Kin-
der ausgerichtet und müsse deshalb besonders gefördert
werden, offenbart, mit Verlaub, eine blühende Fantasie,
hat aber mit der Realität nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der PDS)

Zum einen nimmt die Zahl kinderloser Ehen zu. Zum an-
deren wachsen immer mehr Kinder bei allein erziehenden
oder bei unverheirateten Eltern auf. Die Ehe ist nicht per
se – das möchte ich ganz deutlich auch an die Adresse von
Herrn Geis sagen – verlässlicher, verantwortlicher oder
für Kinder förderlicher als andere Lebensformen.


(Beifall bei der PDS)

Die hohen Scheidungszahlen und die Häufigkeit familiä-
rer Gewalt in traditionellen Ehen belegen das. Nein, die
Qualität von Beziehungen lässt sich nicht aus der Form
des Zusammenlebens ableiten.


(Beifall bei der PDS)

Auch die Behauptung, die eingetragene Partnerschaft

stehe im Widerspruch zum Grundgesetz, überzeugt in kei-
ner Weise. Art. 6 des Grundgesetzes enthält keineswegs
ein Verbot, die der Ehe zugeordneten Rechte auch ande-
ren Lebensgemeinschaften zugänglich zu machen. Das




Dr. Guido Westerwelle
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(C)



(D)



(A)



(B)


Verständnis zum einen von Ehe und zum anderen von Fa-
milie ist unstreitig abhängig von der gesellschaftlichen
Entwicklung. Zwischen Verfassungstext und Verfas-
sungswirklichkeit hat sich in dieser Hinsicht von 1949 bis
heute eine gravierende Lücke aufgetan. Für eine heraus-
gehobene Stellung der Ehe gibt es heutzutage keine ver-
nünftige Begründung mehr. Es ist die Aufgabe des
Gesetzgebers, hier für eine Klarstellung zu sorgen. Das
haben im Übrigen im Rahmen der damaligen Verfas-
sungsdiskussion in der 12. Legislaturperiode außer der
PDS auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert.

Die Kritik der PDS am vorgelegten Gesetzentwurf ist
folgende: Erstens. Die eingetragene Partnerschaft erhält
im Vergleich zur Ehe nur eingeschränkte Rechte. Das ist
nicht die erwartete Gleichstellung mit der Ehe. Besonders
kritikwürdig sind die vorgesehenen Einschränkungen der
Elternrechte. So ist zum Beispiel die Stiefelternadoption
nicht vorgesehen. Es soll lediglich ein kleines Sorgerecht,
nicht aber eine gleichberechtigte Elternschaft für lesbi-
sche und schwule Beziehungen geben. Für mich ist das
nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der PDS)

Rot-Grün bietet damit ausgerechnet die Eltern-Kind-Be-
ziehung als Projektionsfläche für Homophobie an. Das
kann nicht angehen.

Zweitens. Mit der eingetragenen Partnerschaft schafft
Rot-Grün ein Sondergesetz nur für homosexuelle Paare.
Sondergesetze zementieren immer die Diskriminierung,
anstatt sie zu beseitigen. Lesbische und schwule Paare
werden zu Paaren zweiter Klasse. Dafür gibt es keine
Rechtfertigung.

Der dritte Punkt ist der wichtigste. Das Modell der Ehe
hat keine Zukunftsperspektive. Bereits heute gibt es eine
große Vielfalt an Lebensformen. Das haben im Übrigen
die Rednerinnen und Redner aller Parteien hier festge-
stellt. Diese Vielfalt wird nicht nur von Lesben und
Schwulen, sondern auch von immer mehr heterosexuellen
Menschen gelebt. In Großstädten ist die Ehe seit geraumer
Zeit nicht mehr das dominierende Lebensmodell. Es wird
heute hetero-, homo- oder bisexuell als Paar, zu mehreren
oder auch allein gelebt, entweder mit Kindern oder ohne
Kinder. In der Regel hat man nicht nur eine Beziehung im
Leben; vielmehr folgen mehrere nacheinander. Das be-
deutet keineswegs die Auflösung der Familie, wie Kon-
servative behaupten. Familie ist heute einfach nur sehr
viel vielfältiger als früher.

In einer pluralistischen Gesellschaft muss der Staat die
real gelebte Vielfalt des Zusammenlebens anerkennen
und darf nicht einseitig das Ehemodell privilegieren. Das
muss der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen. Der Staat hat
alle Lebensformen Erwachsener rechtlich und finanziell
gleich zu behandeln. Es muss allerdings ganz klar gesagt
werden: Einer besonderen Unterstützung bedürfen nur
diejenigen, die Kinder erziehen oder Pflegebedürftige be-
treuen.


(Beifall bei der PDS)


Es ist unhaltbar, dass die kinderlose Ehe über das Ehegat-
tensplitting jährlich mit bis zu 23 000 DM subventioniert
wird, während die maximale Entlastung für ein Kind ge-
rade einmal 5 000 DM beträgt.

Die Homoehe – das sage ich zum Schluss – hätte zwei-
fellos einen sehr hohen Symbolwert. Den hätte die recht-
liche Gleichstellung aller Lebensweisen nicht minder. Al-
lerdings wäre ihr praktischer Nutzen sehr viel größer.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506200
Ich gebe das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta Däubler-
Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-
tiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrter Herr Kollege Geis, Sie haben heute ein Wort gesagt,
das mir sehr gut gefallen hat. Sie wandten sich an die linke
Seite des Hauses und sagten, die Diskussion über diese
Fragen müsse mit gegenseitigem Respekt geführt wer-
den. Ich finde, das ist in Ordnung. Auch wenn es jetzt in
die öffentliche Auseinandersetzung geht, sollten wir uns
daran erinnern.

Diese Äußerung haben Sie sicherlich nicht nur getan,
um für Ihren persönlichen Standpunkt Respekt einzufor-
dern, sondern auch, weil es die Arbeitsgemeinschaft der
Schwulen und Lesben in der CDU von Ihnen erwartet. Sie
hat eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie zwar
mitteilt, die Union sei – jedenfalls vor der ersten Lesung
im Bundestag – noch nicht reif, dem Gesetzentwurf zuzu-
stimmen, aber CDU-Chefin Angela Merkel und General-
sekretär Ruprecht Polenz hätten verbindlich zugesagt,
dass es keine Unterschriftenkampagne der Union gegen
das rot-grüne Gesetz geben werde. Das ist doch schon et-
was.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat nie einer gesagt!)


Ich finde, dass die Grundanliegen des Gesetzentwurfs
in der Tat herausgearbeitet werden müssen. Das beginnt
mit dem Abbau von Diskriminierung. Der Abbau von
Diskriminierung ist übrigens nichts, was jetzt der eine mit
mehr oder der andere mit weniger Argumenten sozusagen
als Privatsache vorantreiben könnte; vielmehr handelt es
sich um ein Uranliegen unserer Verfassung und damit je-
der verfassungsgemäßen Justiz- und Rechtspolitik. Ich
betone in diesem Zusammenhang: Es ist auch dann ein
Anliegen, wenn es sich nur um wenige Menschen handelt,
für die eine bestimmte Regelung erforderlich ist.

Ich halte den Abbau von Diskriminierung für dringend
notwendig. Auf die unselige Kultur- und Rechtstradition
gerade im Umgang mit Schwulen und Lesben ist schon
hingewiesen worden. Sie dauert schon ein paar Jahrhun-
derte an und hat sich bis in die Neuzeit hinein fortgesetzt.
Es geht nicht nur um die Nazis, die Homosexuelle in KZs
auf schrecklichste Weise umgebracht haben. Diese Dis-
kriminierung in der Kultur- und der Rechtstradition hat in




Christina Schenk

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(C)



(D)



(A)



(B)


der Bundesrepublik Deutschland bis in die 70er-Jahre hi-
nein angehalten. Von einigen wird sie noch immer betrie-
ben. Wir müssen uns dessen wirklich bewusst sein.

Herr Westerwelle, ich habe mich sehr über die Zustim-
mung gefreut, die Sie von allen Seiten bekommen haben,
als Sie gesagt haben, das sei heute anders. Auch ich hoffe,
dass es heute anders ist. Ich weiß aber, dass es den einen
oder anderen gibt, der Richard von Weizsäcker noch heute
übel nimmt, dass er 1985 auch die Homosexuellen in die
Gruppe der KZ-Opfer aufgenommen und sie auf diese
Weise geehrt hat.


(Margot von Renesse [SPD]: Richtig! Damals gab es einen Aufschrei der Empörung!)


Was ist denn eigentlich Diskriminierungsabbau? Herr
Beck und auch Sie, Herr Westerwelle, sprechen von An-
erkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbezie-
hung der sexuellen Identität. Genau darum geht es. Aber
diese Anerkennung bedeutet natürlich keine automatische
Gleichstellung mit der Ehe. Weder ist dies so im Gesetz-
entwurf enthalten noch ist es notwendig. Man muss das
Missverständnis offen benennen und auszuräumen versu-
chen, der Abbau der Diskriminierung durch Anerkennung
dieser Lebensgemeinschaften, die Anerkennung der sexu-
ellen Identität, sei eine Gleichsetzung mit der Ehe. Genau
diese Gleichsetzung gibt es nicht.

Wenn man die Frage stellt, was Anerkennung einer ho-
mosexuellen Lebensgemeinschaft unter Einbeziehung der
sexuellen Identität eigentlich heißt, dann muss man sich
entscheiden – das ist eine Frage nach dem eigenen kultu-
rellen Verständnis – , wie man die andere, die gleichge-
schlechtliche Orientierung betrachtet. Betrachtet man
sie als andere Orientierung, wie Margot von Renesse oder
auch ich es tun, oder als etwas, was eben doch den Ruch
der Minderwertigkeit, also nicht nur den der Verschieden-
heit, hat?

Um diese Entscheidung kommt man nicht herum; denn
wenn „anders“ im Sinne von „minderwertig“ gemeint ist,
zumindest wenn man es so im Hinterkopf hat, dann wird
man natürlich immer fragen, warum der Staat ein eigenes
familienrechtliches Institut zur Verfügung stellen soll.
Deswegen sagen wir: anders – ja, minderwertig – nein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die darü-
ber noch nicht nachgedacht haben, geht dahin, darüber zu
diskutieren.

Wenn man sagt, andersartig, aber gleichwertig, dann
heißt das, dass das den Menschen mitgegeben ist und zur
Würde des Menschen gehört. Damit steht es unter dem
Schutz des Art. 1 Grundgesetz. Dann heißt das, dass auch
die Handlungsfreiheit gemäß den Grenzen des Art. 2 ge-
geben ist und dass für entsprechende Lebensgemein-
schaften das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3
gilt. Wir sehen das so. Deswegen sind wir der Meinung,
dass es sinnvoll ist, ein eigenes familienrechtliches Insti-
tut zu schaffen. Ich sage noch einmal: Das beruht auf der
Basis von Art. 1, Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 des Grundge-
setzes.

Warum sind wir denn der Auffassung, man sollte die-
ses familienrechtliche Institut schaffen? Hierfür haben
wir zwei Gründe: Zum Ersten sind wir der Meinung, dass
diese Lebensgemeinschaften im Rahmen des Diskrimi-
nierungsabbaus die Anerkennung verdienen, und zum
Zweiten – da will ich einen Gedanken aufgreifen, den Sie,
Herr Westerwelle, gerade auch schon angeführt haben –
wollen wir Bindungen und Partnerschaften stärken. Hier
geht es aber um Bindungen und Partnerschaften in einem
spezifischen Sinn, die sich von denen von Mönchen, Wit-
wen oder Menschen, die andere pflegen – diese haben alle
unsere Hochachtung –, unterscheiden, weil hier die be-
sondere sexuelle Identität einbezogen wird. Das ist der
Grund dafür, warum wir sagen: die ja und andere nicht.

Es gibt noch einige andere Gründe, liebe Kolleginnen
und Kollegen, warum wir bei eheähnlichen Lebens-
gemeinschaften von Menschen, die heiraten könnten,
aber ihre Gründe haben, dieses nicht zu wollen, die Un-
gerechtigkeiten, zu denen es dort nach langen Jahren
kommen kann, zwar grundsätzlich, aber nicht mithilfe ei-
nes Trauscheins zweiter Klasse oder irgendeines anderen
familienrechtlichen Instituts ausgleichen wollen. Dies
sind unterschiedliche Sachverhalte.

Jetzt komme ich auf die mit Art. 6 Grundgesetz zu-
sammenhängenden Fragen zu sprechen. Gestatten Sie
mir, lieber Herr Westerwelle, folgende Anmerkung: Ich
glaube, dass Sie den Bundesinnenminister, den wir alle
sehr schätzen, ein bisschen sehr eigenwillig zu Ihrem ei-
genen Nutzen interpretiert haben. Ich sehe die Bedenken,
die Sie haben. Auch ich bin der Meinung, dass wir eine
Regelung brauchen, die hält. Lassen Sie mich das ganz
deutlich unterstreichen. Ich nehme auch an, dass Karls-
ruhe zu dieser Frage angerufen werden wird. Deshalb
muss man die verfassungsrechtlichen Grundlagen sehr
sorgfältig prüfen. Das haben wir getan und werden es
auch weiterhin tun. Wenn Sie zusätzliche Anregungen
hierzu auch für die Auseinandersetzung im Deutschen
Bundestag haben, dann werden diese, da können Sie si-
cher sein, mit großer Sorgfalt geprüft.

Was stellt denn Art. 6 Grundgesetz unter den besonde-
ren Schutz des Staates? Zum einen die Familie: Sie be-
steht aus Eltern und Kindern, einem Vater, einer Mutter
und einem eigenen oder angenommenen Kind. Dieses be-
deutet aber auch, dass, wenn ein schwuler Vater ein eige-
nes Kind in die Partnerschaft mitbringt, dies eine Familie
ist, die als solche unter dem Schutz von Art. 6 steht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bitte bedenken Sie: In der Öffentlichkeit gibt es her-
vorragende Beispiele nicht nur für Menschen, die andere
pflegen, sondern auch für Menschen, die wie Patrick
Lindner in Bayern ein krankes Kind adoptieren, was
zulässig und wünschenswert ist, damit es diesem Kind gut
geht. Selbstverständlich ist diese Beziehung eine Vater-
Kind-Beziehung und steht damit ohne Zweifel unter dem
Schutz des Art. 6. Das heißt, die Familie steht völlig un-
geachtet der sexuellen Orientierung der Eltern oder eines
Elternteils unter dem besonderen Schutz des Staates.




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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(C)



(D)



(A)



(B)


Art. 6 schützt auch die Ehe, und zwar aus gutem
Grund. Ich darf noch einmal wiederholen: Es ist ja inte-
ressant, dass wir, Herr Geis, Margot von Renesse, viele
andere und ich, uns in nichts nachstehen, was die Ernst-
haftigkeit unserer persönlichen Beziehungen – für uns ist
ganz offensichtlich die Ehe das Lebensmodell – und die
Bejahung, die wir dazu ganz eindeutig äußern, betrifft.

Warum schützt denn Art. 6 die Ehe? Natürlich auch we-
gen der gemeinsamen Kinder, aber auch wegen der part-
nerschaftlichen Bindungen. Das heißt, hier ist eine beson-
dere heterosexuelle, auf lange Dauer angelegte Bindung
unter den besonderen Schutz des Staates gestellt, in der
der Wunsch bzw. die Möglichkeit oder sogar die Gewiss-
heit besteht, eigene Kinder zu haben und sie zu erziehen.
Beides spielt eine große Rolle.

Deswegen haben alle die Recht, die immer wieder da-
rauf hinweisen, dass das neue familienrechtliche Institut
der eingetragenen Partnerschaften natürlich Rechtsbezie-
hungen zwischen den Ehegatten nur insofern zum Vorbild
nehmen kann, als sie nicht in der Möglichkeit begründet
sind, gemeinsame Kinder zu haben. Das muss die Grenze
sein. Nicht passend sind also – das ist hier schon genannt
worden – Adoption, Versorgungsausgleich, Güterstand
und Ehegattensplitting.

Aber diese Diskussionen können wir sicher noch mit
Ihrer kritischen Begleitung führen, weil es uns darum ge-
hen muss, eine Regelung zu finden, die Diskriminierung
abbaut, die solche Lebensgemeinschaften unter Einbezie-
hung der sexuellen Identität anerkennt, die sie nicht
gleichstellt mit der Ehe und die auf jeden Fall vor dem
Verfassungsgericht Bestand hat.

Ich glaube nicht, dass Sie, Herr Westerwelle, mit Ihrem
Argument vom Standesamt Recht haben. Ich darf
zunächst einen praktischen Aspekt anführen. Sie wissen
ganz genau, dass es in Hamburg die Anerkennung vor
dem Standesamt – allerdings ohne Rechtsfolgen – schon
seit langem gibt. Ist das denn verfassungswidrig? Sind Sie
wirklich der Meinung, dass das gegen Art. 6 des Grund-
gesetzes, also gegen den Schutz der Ehe, verstößt? Ich
habe dieses Argument noch nicht gehört.

Das Standesamt ist Personenstandsbehörde, keines-
wegs ein Amt, das ausschließlich mit Eheangelegenheiten
zu tun hat. Es hat sehr viel mit Familienangelegenheiten
zu tun. Man kann also auf keinen Fall zu dem Schluss
kommen, dass das Standesamt nur die Funktion der zivil-
rechtlichen Trauung erfüllt. Hierin liegt also nicht das
Problem.


(Margot von Renesse [SPD]: Sonst haben wir bald das „Sakrament des Standesamts“!)


Lassen Sie mich noch einen weiteren pragmatischen
Aspekt anführen. Wir alle wollen, dass es Partnerschaften
und Ehen nicht gleichzeitig geben kann. Das schließt sich
vom Wesen her aus. Praktisch gesehen ist es deshalb sinn-
voll, eine Regelung zu haben, aufgrund deren Eintragun-
gen auf dem Standesamt gemacht werden können. All
diese Punkte muss man bedenken, wenn man die Lösung
beurteilen will.

Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf natürlich sehr sorg-
fältig angeschaut. Ich glaube aber nicht, dass Ihre Überle-
gung richtig ist, dass wir ohne familienrechtliches Institut –
zum Beispiel bei der Zeugnisverweigerung – weiterkä-
men.

Ich kehre zu dem Ausgangspunkt zurück – Abbau von
Diskriminierung und Anerkennung von Lebensgemein-
schaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität – und
sage: Es gibt keine Gleichstellung mit der Ehe. Die
Diskussion nicht nur hier im Bundestag, sondern auch
draußen sollte mit Respekt geführt werden. Das sind die
Schlagworte, die dieses Vorhaben begleiten sollten. Wenn
uns dies gelingt, dann kommen wir gemeinsam ein gutes
Stück weiter.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506300
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
das Wort.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1411506400
Frau Ministerin, es
ist nur eine kurze Intervention zur Klarstellung. Nicht al-
lein die Tatsache bezüglich des Standesamtes macht mir
verfassungsrechtliche Sorgen, sondern die Kombination
aus Standesamt als eben nicht nur einer bürokratischen,
sondern auch Kulturbehörde und einer weitgehenden
rechtlichen Annäherung von Ehe und eingetragener Part-
nerschaft. Das ist der große Unterschied zur Situation in
Hamburg.

In Hamburg gibt es zwar eine standesamtliche Regis-
tratur, aber ohne jede rechtliche Konsequenz. Was Sie
vorlegen – das ist einer der Punkte, wo man sehr genau
hinschauen muss; das können Sie bei Herrn Schily
nachlesen –, enthält eine Kombination, über die wir noch
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten reden müs-
sen und die mir große Sorgen bereitet.


(Margot von Renesse [SPD]: Jedenfalls ist das Standesamt nicht heilig!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506500
Zur Erwiderung die
Bundesministerin der Justiz.

Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-
tiz: Vielen Dank, Herr Westerwelle, für die Klarstellung.
Wenn Sie ein bisschen konkreter geworden wären, wäre
ich jetzt selbstverständlich in der Lage, Ihre Sorge bezüg-
lich des einen oder anderen Punktes auszuräumen.

Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen, wo
die Grenzlinie verläuft. Das ist für die Beurteilung des
vorliegenden Gesetzentwurf ganz wichtig. Die Grenze
verläuft so – um nochmals die Worte von Margot von
Renesse aufzugreifen –, dass Regelungen für Ehepartner
ohne eigene Kinder zum Vorbild genommen werden kön-
nen, andere Regelungen aber nicht. Darunter fallen
Adoption, Ehegattensplitting, Zugewinnausgleich und




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

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(C)



(D)



(A)



(B)


Versorgungsausgleich. Dazu gehören auch noch andere
Überlegungen – ich weiß, die Zeit war ein bisschen kurz,
unseren Entwurf sorgfältig durchzulesen –, die Sie alle in
dem Gesetzentwurf finden werden.

Ich sage Ihnen eindeutig zu: Wenn Sie konkrete Fragen
haben, die hier diskutiert werden sollen, dann tun wir das
sehr gerne.

Danke schön.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1411506700
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich will versuchen, heute mit mei-
ner Rede einen eher unüblichen Weg zu gehen. Obwohl
ich den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ablehne,
will ich mich heute nicht zu sehr mit den Einzelheiten be-
fassen, sondern vielmehr versuchen, den Weg für eine
gute und faire Diskussion zu bereiten. Dabei wende ich
mich an diejenigen gerade auch in meiner eigenen Frak-
tion und Partei, die sich schwer tun mit diesem Thema an
sich und mit der Festschreibung von Rechten im Beson-
deren. Ich bin mir sicher, dass es gerade auch bei den So-
zialdemokraten Kollegen und Kolleginnen gibt, die große
Schwierigkeiten haben werden, einer fast vollständigen
Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der
Ehe zuzustimmen. Sie, Frau von Renesse, haben ja auch
angedeutet, dass es nicht überall ganz leicht ist.

Viele von uns fangen, wenn überhaupt, erst langsam
an, sich für ein Thema zu öffnen, das einerseits nach wie
vor ein Tabuthema und andererseits mit vielen Vorurteilen
behaftet ist, Vorurteilen, die leider auch immer wieder be-
fördert werden, wenn zum Beispiel beim Christopher
Street Day nur die schrillen und bizarren Typen gezeigt
werden und nicht die große Mehrheit derjenigen, die sich
an diesem Tag einfach nur freuen, dass sie sich als lesbi-
sches oder schwules Paar ganz selbstverständlich in der
Öffentlichkeit zeigen können und, statt neugierig ange-
starrt zu werden, einfach akzeptiert werden.

Meine Damen und Herren, ich kann das deshalb sagen,
weil ich selber, seit ich mich auf dieses Thema eingelas-
sen habe, einen schwierigen Lernprozess durchlaufen
habe: vom Vorurteil zum hoffentlich begründbaren Urteil.
Da war bei mir zunächst auch das „Tuntenbild“ im Kopf
und die Vorstellung von etwas, „was man nicht tut“ und
was man schon gar nicht „ist“.

Als ich aber angefangen habe, mich näher mit dieser
Thematik zu befassen, und dabei die Chance wahrgenom-
men habe, viele Gespräche zu führen und die Menschen
kennen zu lernen, habe ich auch die „Normalität“ von
Schwulen und Lesben erfahren und viele besonders lie-
benswerte Menschen getroffen.

Erschreckt hat mich aber auch, von Ausgrenzung, von
verletzender Ablehnung und von massivem Mobbing zu
hören. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass es
keine Diskriminierungen gebe.


(Beifall im ganzen Hause)


Aber nicht nur in der Öffentlichkeit kommt es zu er-
heblichen Schwierigkeiten, sondern auch die Not von El-
tern kann groß sein, die angesichts der eigenen Befangen-
heit und der Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung
ihre eigenen Kinder nicht mehr annehmen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit ich diese Erfah-
rungen gemacht habe, habe ich nicht nur angefangen,
nach sachgerechten Antworten zu suchen, sondern auch
nach angemessenen. Und wenn mir von zwei Männern
oder zwei Frauen, die sich ebenso lieben wie ein Mann
und eine Frau, die heiraten wollen, die gleichen Gründe
für den Wunsch nach einer auf Dauer angelegten und
rechtlich gesicherten Partnerschaft vorgetragen werden,
kann das nicht das eine Mal richtig und das andere Mal
völlig abwegig sein.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Gerade die Konservativen unter uns sollten sehr genau
hinsehen, ob nicht gerade die von uns mit Recht als wich-
tig erachteten Werte hier einmal mehr eingefordert wer-
den. Ich denke da an Verlässlichkeit, an Verantwortung,
an Vertrauen – im Gegensatz zu Unverbindlichkeit und
wechselnden Beziehungen.

Mit diesen Überlegungen kommt man sehr schnell zu
dem Ergebnis, dass beide Formen dieser Beziehungen ab-
solut gleich wertvoll sind, gleichwertig, aber völlig unter-
schiedlich in den Konsequenzen für die angemessene
Rechtsetzung. Da unterscheiden wir uns denn doch sehr.

Was ist also zu tun? Ich muss zugeben, dass mir der
vorgelegte Gesetzentwurf sehr hilfreich war, Klarheit zu
schaffen, Klarheit darüber, was ich will und was ich nicht
will. Die völlige oder fast völlige Gleichstellung mit der
Ehe, wie vorgesehen, will ich jedenfalls nicht. Ich halte
sie weder für logisch noch für angemessen.

Unser Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den
besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat
gibt damit der Familie besondere Rechte zum Schutz der
Kinder, um ihnen Fürsorge, Vertrauen und Verlässlichkeit
zu gewähren. Der Staat verspricht auch der Ehe seinen
besonderen Schutz, weil er idealtypisch davon ausgeht,
dass – trotz mancher gegenläufiger Tendenzen auch heute
noch – die natürliche Erfüllung der Ehe die Familie mit
Kindern ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Privilegierung der Ehe ist also kein Grund für eine

Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit ihr. Der
Gleichberechtigungsgrundsatz gebietet, dasjenige und
nur dasjenige gleich zu behandeln, was wesentlich gleich
ist. Er gebietet keine schematische Gleichmacherei von
allem und jedem ohne Rücksicht auf wesentliche Unter-
schiede. Ungleiches ist gerade nicht gleich, sondern ge-
rechterweise ungleich zu behandeln. Gleichbehandlung
bedeutet also, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu
behandeln. Ich kann da nur auf die sehr eindrucksvollen
Worte des Kollegen Dreßler in seiner letzten Rede am
gestrigen Tag hinweisen.

Die heute schnell gebrauchte Rede von der Diskrimi-
nierung, wann immer eine ungleiche Behandlung festzu-




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
10972


(C)



(D)



(A)



(B)


stellen ist, bedarf darum jeweils der genauen Überprü-
fung. In vielen Fällen ist sie ihrerseits Kampfbegriff zur
Erlangung von Positionsgewinnen im Interessenabgleich
der pluralistischen Gesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus der klassischen Tradition von Ehe und Familie

wurden rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die
dem besonderen Schutzbedürfnis des wegen der Erzie-
hungsaufgaben ganz oder teilweise auf eigene Erwerbs-
tätigkeit verzichtenden Elternteils Rechnung tragen. Dazu
gehören zum Beispiel Unterhaltsrechte und -verpflichtun-
gen mit ihren steuerlichen Konsequenzen sowie abgelei-
tete Sozialversicherungsansprüche.

Aber was ist nun notwendig, um homosexuellen Paa-
ren, die ihre Partnerschaft auf Dauer anlegen möchten, die
erforderlichen Rahmenbedingungen zu geben? Im Regel-
fall – nur dafür sollten wir Vorsorge treffen – werden
beide Partner oder Partnerinnen selber für ihren Unterhalt
sowie ihre soziale Absicherung sorgen können. Es ist kein
Grund zu erkennen, warum die Solidargemeinschaft hier
eintreten sollte.

Statt materieller Rechte sind bei gleichgeschlechtli-
chen Paaren aus meiner Sicht viel notwendiger morali-
sche Rechte abzusichern. Damit meine ich, gesetzliche
Sicherheit für den Fall zu geben, dass einer der Partner der
besonderen Fürsorge bedarf. Hierzu zählen aus meiner
Sicht: das Zeugnisverweigerungsrecht, damit auch ho-
mosexuelle Partner nicht in die Zwangslage gebracht wer-
den, zulasten ihres Partners oder ihrer Partnerin aussagen
zu müssen; Auskunfts- und Besuchsrechte; die Änderung
des Mietrechts, um nach dem Tod des Partners in das be-
stehende Mietverhältnis eintreten zu können. Die Vor-
schriften des Bestattungsrechts sollten dahin gehend mo-
difiziert werden, dass dem homosexuellen Partner des To-
ten ein gegenüber den sonstigen Berechtigten nicht
nachrangiges Recht zur Totensorge eingeräumt wird, das
seinen Ausschluss von der Beerdigung durch die An-
gehörigen verhindert. Die großzügigeren Bedingungen
für den Besuch von Angehörigen im Strafvollzug könnten
auf homosexuelle Partner ausgedehnt werden. Fragen des
Erbrechts sollten ebenfalls bedacht werden. Wenn ein Le-
benspartner den anderen im Falle einer schweren Krank-
heit oder Berufsunfähigkeit finanziell unterstützt, sollten
diese Kosten steuerlich geltend gemacht werden können.

Wenn auch die Mehrheit meiner Fraktion der Auffas-
sung ist, dass vieles, was homosexuelle Paare einfordern,
durch privatrechtliche Verträge geregelt werden könnte,
so können doch solche Regelungen im Innenverhältnis
keine Rechtsverhältnisse gegenüber Dritten oder dem
Staat beeinflussen oder gestalten. Deshalb sind wir gut be-
raten, wenn wir diese Rechte festschreiben und ihnen zu-
gleich eine solide und eindeutige Grundlage geben. Für
mich ist die Eintragung der Lebenspartnerschaft die
logische und eindeutige Grundlage für Rechte und Pflich-
ten. Sie gäbe einen sicheren Beweis und unterstriche die
Unterscheidbarkeit von allen unverbindlichen Lebensfor-
men. Welcher hierfür der richtige Ort ist, wird zu klären
sein. Allerdings hat es sich schon jetzt gezeigt, dass der
Vorschlag der Koalition, dieses standesamtlich zu regeln,

in der Öffentlichkeit wegen seiner Verwechselbarkeit mit
der Ehe auf heftigen Widerstand stößt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? Bei Ihnen!)


Lassen Sie uns in gegenseitigem Respekt vor der je-
weils anderen Meinung – das ist hier verschiedentlich ein-
gefordert worden – in die Beratungen gehen und tragen
wir alle dazu bei, dass die notwendige gesellschaftliche
Diskussion der Aufklärung und dem besseren Verständnis
füreinander dient. Gestehen wir denen, die anders als wir
empfinden, zu, dass sie ihre Liebe zueinander, sofern sie
das wollen, auch in einer verbindlichen Lebensform leben
können. Es wird deshalb garantiert keine einzige Ehe we-
niger geschlossen werden.

Und denken wir immer daran: Keiner und keine von
uns weiß, warum er oder sie homosexuell oder es eben
nicht ist. Eines aber wissen wir ganz genau, nämlich dass
Gott uns gerade so, wie wir in unserer Unverwechselbar-
keit und Einzigartigkeit sind, gewollt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411506800
Ich erteile für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411506900
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin
Falk, ich möchte Ihnen sehr ausdrücklich für Ihren Re-
debeitrag danken, mit dem Sie für die künftigen Diskus-
sionen einen guten Boden bereitet haben. Denn ich
glaube, wir brauchen dies und sollten eine aufgeheizte
Stimmung und parteipolitisches Gezänk vermeiden.

Ich gestehe, dass mir die Ehe natürlich näher liegt als
die Partnerschaft. Dabei ist für mich die Ehe ein äußerer
Rahmen. Entscheidend ist dabei der Inhalt, der in dieser
Ehe gelebt wird. Das sind zum Beispiel Verlässlichkeit,
Verantwortung, Treue – um nur drei Stichworte zu nen-
nen.

Warum sollen wir den Menschen, die aufgrund ihrer
sexuellen Neigungen einen anderen, einen homosexuel-
len Partner lieben, einen solchen Rahmen verweigern, um
das, was sie ausdrücken wollen, zu leben? Warum können
wir in diesem neuen Jahrtausend nach der Verfolgung in
der Vergangenheit – die Ministerin hat von jahrhunderte-
langer Verfolgung gesprochen; wenn man weiter zurück-
schaut, erkennt man, dass Menschen mit gleichge-
schlechtlicher Neigung jahrtausendelang verfolgt worden
sind – nicht endlich damit Schluss machen?


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben den in dem von uns vorgelegten Gesetzent-
wurf eingeschlagenen Weg sehr bewusst gewählt, um die
bestehende Diskriminierung zu beenden und um hier
eine Regelung zu finden, damit Menschen mit gleichge-
schlechtlicher Neigung endlich – ich gebrauche die Worte




Ilse Falk

10973


(C)



(D)



(A)



(B)


des Kollegen Beck – in der Mitte der Gesellschaft leben
können und nicht mehr am Rand leben müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der hier bis-
her noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, den
zu erwähnen ich aber für durchaus wichtig und notwendig
halte. Denken wir doch bitte einmal an all die Eltern, die
Kinder mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung groß-
ziehen und erleben müssen, wie ihre Kinder diskriminiert,
wie sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Müssen wir nicht auch für diese Eltern etwas tun? Ich
denke, auch das ist langsam an der Zeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Nun haben wir einen Weg gewählt, der eine möglichst
weit gehende Annäherung an das Institut der Ehe – ich
wiederhole: Ehe heißt Jawort vor dem Standesamt –
sicherstellt. Herr Kollege Westerwelle, wir haben ganz
bewusst das Standesamt als die Stelle gewählt, bei der die
Erklärung „Ja, wir wollen eine Partnerschaft schließen“
abgegeben werden soll. Dies hat gute Gründe.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411507000
Herr Kollege
Hartenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Hildebrecht Braun?


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411507100
Gut. – Bitte, Herr Braun.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1411507200
Herr
Hartenbach, verzeihen Sie, Sie sind gerade bei einer Spe-
zialthematik. Aber es ist oft so, dass man sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt zu Wort meldet und der Redner
zwischenzeitlich schon beim nächsten Thema ist.

Wir sprechen hier viel über einzelne Formen der Dis-
kriminierung bei einer bestehenden homosexuellen Part-
nerschaft. Primär geht es natürlich darum, dass eine sol-
che Partnerschaft überhaupt gelebt werden kann. Des-
wegen ist das Problem der binationalen Verbindungen,
der ausländerrechtlichen Absicherung, dass also eine Ver-
bindung überhaupt gelebt werden kann, von überragender
Bedeutung.

Sie sind der dritte Sprecher der SPD zu diesem Thema.
Ich habe bisher nichts dazu erfahren, inwieweit der In-
nenminister und auch der Bundeskanzler, der nach unse-
rer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmt, bereit
sind bzw. sein werden, dem in Ihrem und auch in unserem
Gesetzentwurf enthaltenen Konzept zuzustimmen, wo-
nach in Deutschland in Zukunft nachgewiesene, lange be-
stehende Partnerschaften auch von Deutschen und Nicht-
deutschen gelebt werden können. Können Sie dazu etwas
sagen?


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411507300
Ich möchte mich zunächst
einmal an Sie wenden, Herr Präsident. Der Kollege Braun
hat anscheinend auf die Uhr gesehen und festgestellt, dass
ich nur noch etwas mehr als zwei Minuten Redezeit habe.
Eine Beantwortung seiner Frage passt im Moment nicht

in mein Konzept. Darf ich für mich 30 Sekunden länger
reklamieren, damit ich diese Frage beantworten kann?


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Ich stehe ja! Die Beantwortung geht ja nicht zulasten Ihrer Zeit!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411507400
Sie haben genügend
Zeit, die Frage zu beantworten und Ihren Redebeitrag zu
vollenden.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411507500
Ich möchte an anderer
Stelle auf Ihre Frage eingehen, Herr Braun. Ich werde es
nicht vergessen.


(Margot von Renesse [SPD]: Dann geht das aber zulasten deiner Redezeit!)


– Deswegen habe ich ja um eine Verlängerung meiner Re-
dezeit um 30 Sekunden gebeten.

Ich fahre fort: Wir haben für eingetragene Lebenspart-
nerschaften ganz bewusst diese verbindliche Form ge-
wählt. Wir wollen nicht nur einen Vertrag; vielmehr soll
nach außen sehr deutlich dokumentiert werden: Wir wol-
len eine Partnerschaft eingehen. Ich habe nicht die Be-
denken, die Sie geäußert haben, dass diese Form mögli-
cherweise verfassungswidrig ist. Wir haben sehr genau
darüber nachgedacht und sind überzeugt, dass das Stan-
desamt auch in diesem Fall genau die richtige Stelle ist.
Der Standesbeamte muss nämlich prüfen, ob eine andere
Partnerschaft oder möglicherweise eine Ehe besteht. Zu-
dem wird dadurch letztendlich der Wille zur Partnerschaft
bekundet.

Ich möchte nun auf den Kollegen Braun eingehen. Für
uns ist selbstverständlich, dass in diesem Fall ähnliche
Regelungen gelten müssen wie beim Nachzug von Ehe-
partnern. Damit habe ich Ihre Frage auch schon beant-
wortet.

Die von Ihnen geäußerten Bedenken kann ich ausräu-
men; denn es gibt andere zivilisierte Länder – ich nenne
nur Dänemark und Frankreich –, in denen bereits solche
Lebenspartnerschaften bestehen. Auch dort wird über den
Nachzug von ausländischen Lebenspartnern disku-
tiert. Im Übrigen geht es nicht um die von der Union – ins-
besondere von Herrn Geis in einem Zeitungsartikel – pro-
pagierte Masse.

Außerdem wissen wir alle, dass gerade in den Ländern,
von denen Fluchtbewegungen zu uns ausgehen, die Ho-
mosexualität verfolgt wird, dass dort also solche Partner-
schaften überhaupt nicht möglich sind. Daher müssen wir
über diese Frage gar nicht weiter nachdenken. Dies wird
sich in dem normalen Rahmen regeln lassen.

Ich komme auf Herrn Westerwelle zurück – jetzt kön-
nen Sie die Uhr wieder laufen lassen, Herr Präsident –:
Natürlich brauchen wir hier eine verbindliche Regelung;
denn wir wollen und müssen auch in anderen Gesetzen
verbindliche Regelungen treffen. Ich glaube nicht, dass
man eine vertragliche Regelung treffen kann, ohne in an-
deren Gesetzen, zum Beispiel hinsichtlich der ganz wich-
tigen Frage des Zeugnisverweigerungsrechts – und ich
halte das nicht für einen Ausnahmefall –, Anpassungen
vorzunehmen.




Alfred Hartenbach
10974


(C)



(D)



(A)



(B)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte des
Dankes sagen, und zwar an diejenigen, die in den Koali-
tionsfraktionen an diesem Entwurf mitgearbeitet und zu
erkennen gegeben haben, dass wir hiermit ein gesell-
schaftspolitisches Werk schaffen, das dem Stand unserer
Republik, dem Stand unseres Denkens, nämlich eines
aufgeklärten Denkens, gerecht wird und dessen würdig
ist. Ich darf mich bei all jenen bedanken – vor allen Din-
gen bei Ihnen, Frau Ministerin –, die uns unterstützt
haben,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


auch denen, die uns bei den teilweise schwierigen Fragen
zu anderen Rechtsgebieten geholfen haben.

Ich denke, dass wir in den Beratungen – Frau Falk, ich
schaue Sie ganz offen an – einen guten Gesetzentwurf zu-
stande bringen werden. Sie, Herr Westerwelle, und die ge-
samte F.D.P. wollen dies. Ich stelle fest: Auch der Wi-
derstand in der Union bröckelt. Es ist ein vernünftiger
Umgang miteinander möglich. Wir, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalition, haben einen mutigen und
guten Schritt getan; wir wollen dieses Werk beenden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411507600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3751 und 14/3792 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3751 soll zusätzlich an den
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung, die Vorlage auf Drucksache 14/3792 zusätzlich
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstan-
den? – Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard
Brinkmann (Hildesheim), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform

(Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG)

– Drucksache 14/3750 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411507700
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Wochen und Monaten ist in unse-
rem Land Erstaunliches passiert. Über die so genannte
Fachöffentlichkeit hinaus hat in einer breiteren Öffent-
lichkeit die intensive Diskussion rechtspolitischer The-
men begonnen. Überregionale und auch regionale Zei-
tungen haben sich zunehmend mit der für den Laien doch
eher spröden Materie der Rechtspolitik beschäftigt. Was
ist geschehen? Es wird auf der Grundlage der Ergebnisse
der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsmittel im zivil-
gerichtlichen Verfahren“ bereits seit dem Sommer letzten
Jahres und dann letztendlich bis in diese Tage hinein – ich
hoffe, auch darüber hinaus – und auf der Grundlage eines
Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Justiz
vom Jahresende 1999 die Reform unseres Zivilprozess-
rechts diskutiert.

Ich begrüße diesen breit angelegten Diskussionspro-
zess ausdrücklich und fordere alle Interessierten auf, die-
ses Gespräch nunmehr nach Vorlage des Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses durch die Koali-
tionsfraktionen intensiv weiter zu führen. Ich begrüße
dies insbesondere deshalb mit Nachdruck, weil das Ver-
fahren in der Vergangenheit, nämlich in den 16 Jahren der
Vorgängerregierung, genau andersherum gelaufen ist.
Insbesondere in den 90er-Jahren gab es eine Reihe von
Entlastungs-, Beschleunigungs- oder so genannten Ver-
einfachungsnovellen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
die jeweils von der breiten Öffentlichkeit gänzlich unbe-
merkt und überwiegend auch für die Praxis überraschend
daherkamen. Wir haben uns oft gewundert, was da wieder
im Bundesgesetzblatt stand, meine Damen und Herren.

Von daher möchte ich an dieser Stelle Ihnen, Frau Mi-
nisterin, den ausdrücklichen Dank der Koalitionsfraktio-
nen dafür sagen, dass Sie diesen breiten Diskussionspro-
zess im vorigen Sommer mit der Vorlage der Auswertung
des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe in Gang ge-
setzt haben. Sie haben sich dabei sehr viel Kritik ausge-
setzt. Aber Sie haben sich der sachlichen und fachlichen
Diskussion gestellt. Das ist der richtige Weg, der uns zum
Erfolg führen wird. Noch einmal schönen Dank.


(Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die von mir

erwähnten so genannten Entlastungsgesetze der Vergan-
genheit sind allerdings alle gescheitert. Um mit den Wor-
ten des Kollegen Scholz zu sprechen: gnadenlos geschei-
tert. Sie haben für die Rechtsuchenden keine Verbesserun-
gen und für die Gerichte keine Entlastungen, sondern – im
Gegenteil – weitere Belastungen gebracht. So ist durch
das ständige Hochschrauben der Wertgrenzen im Zivil-
prozess letztendlich die Masse des Arbeitsanfalles ledig-
lich nach unten durchgedrückt und im Ergebnis die Amts-
gerichte immer wieder mit Mehrarbeit belastet worden.
Man hat die Quantitäten geregelt und die Qualitäten aus
dem Auge verloren. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich
im Jahre 1973 in der ordentlichen Justiz anfing, hatte ein
amtsrichterliches Dezernat 350 bis 400 Eingänge im Jahr;
heute sind wir bei 700 und mehr.




Alfred Hartenbach

10975


(C)



(D)



(A)



(B)


Weil die Entlastungsgesetze der Vergangenheit, wie ich
meine, gescheitert sind, geht der jetzt vorgelegte Entwurf
zur Reform des Zivilprozesses ganz konsequent einen an-
deren Weg: den Weg einer wirklichen Strukturreform;
denn über die Istbeschreibung der jetzigen Situation hi-
naus müssen wir uns vergegenwärtigen, dass insbeson-
dere auf die Ziviljustiz durch die weitere zunehmende
Verrechtlichung des Alltagslebens, den rasanten Fort-
schritt der Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien und nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des eu-
ropäischen Rechtsraumes neue, zusätzliche Aufgaben zu-
kommen werden.

Der Zivilprozess des Jahres 2010 wird daher in seiner
Komplexität mit dem Zivilprozess des Jahres 2000 nicht
mehr vergleichbar sein, wie bereits der heutige Zivilpro-
zess nicht mehr mit dem des Jahres 1973 vergleichbar ist.
Die Rechtspolitik muss daher vorausschauen, sich auf ge-
sellschaftliche Veränderungen, den technischen Fort-
schritt und die globalen Veränderungen einlassen. Sie
kann sich nicht damit begnügen, solche Entwicklungen
nur nachzuvollziehen. Die Rechtspolitik muss vielmehr
die Initiative ergreifen und jedes Optimierungspotenzial
nutzen, um das hohe Qualitätsniveau der Justiz langfristig
zu sichern und noch weiter zu steigern.

Die Rechtspolitik muss sich aus den Zwängen und der
Umklammerung der Fiskalpolitik befreien. Das heißt aber
nicht, dass sich die Justiz bei der Erfüllung der ihr ge-
stellten Aufgaben in der Vergangenheit und in der Gegen-
wart nicht bewährt hätte, Herr Geis. Die Diskussion
der letzten Monate hat vielmehr gezeigt, wie effektiv und
auf welch hohem Niveau insbesondere die Ziviljustiz ar-
beitet.

Das Entscheidende ist vielmehr, jetzt die Weichen
dafür zu stellen, dass die Gerichte auch zukünftig den ho-
hen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, der Wirt-
schaft und letztlich der ganzen Gesellschaft gerecht wer-
den können. Um die anerkannt hohe Qualität der Dienst-
leistungen der Justiz und damit ihre Akzeptanz in der
Bevölkerung langfristig zu sichern, bedarf es einer um-
fassenden Reform der Rechtspflege in allen Bereichen.

Für die Ausgangssituation, von der aus wir diskutieren,
gibt es die, wie ich meine, unstrittige Feststellung, dass
wir uns ganz realistisch darüber im Klaren sein müssen,
dass die Justiz den sich abzeichnenden Aufgabenzuwachs
angesichts der Haushaltslage der Länder ohne zusätzli-
ches Personal bewältigen muss. Die hierfür erforderlichen
Kapazitätsreserven müssen die Organe der Rechtspflege
bei sich selbst mobilisieren.

Wenn das so richtig ist – ich meine, es ist richtig –, er-
geben sich daraus Folgerungen, die der ehemalige
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor
Wolfgang Zeidler, in seinem, wie ich meine, heute schon
historisch zu nennenden Festvortrag anlässlich des Deut-
schen Richtertags 1983 in München vorgezeichnet hat. Er
hat drei Punkte aufgezeigt:

Erstens. Die Revisionsgerichte sind in ihrer Aufgabe
ganz auf die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechts-
fortbildung zu konzentrieren. Genau das steht in unserem
Entwurf.

Zweitens. Die Entwicklung kann vor der Position der
Mittelinstanz nicht Halt machen. Das Prinzip des Zu-
gangs zur zweiten Instanz als Verfahrensrecht einer Par-
tei, von dem sie nach Belieben Gebrauch machen kann,
wird sich nicht aufrechterhalten lassen, da hierdurch zu
viel richterliche Arbeitskapazitäten für letztlich Überflüs-
siges absorbiert werden. Auch dem folgen wir in unserem
Entwurf.

Drittens. Daraus folgt der Schluss, dass die Erhaltung
der Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaats eine erhebliche
Aufwertung der ersten Instanz voraussetzt.


(Beifall bei der SPD)

Sie ist nicht nur Durchgangsstation auf dem Weg zu den
heiligen Hallen der Obergerichte, sondern sie sollte in
aller Regel Endstation sein. Genau das setzen wir mit un-
serem Entwurf konsequent um.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Was sie für 96 Prozent der Fälle auch ist!)


Wir fordern Sie, die breite Fachöffentlichkeit, die Op-
position in diesem Haus und die Bundesländer, auf, mit
uns gemeinsam auf der Grundlage dieses Entwurfs in die
weitere Diskussion zu gehen.

Nach meinen Informationen wird es im Sommer dieses
Jahres, im August, einen Entwurf der Bundesregierung
geben. Wir können dann über das Thema von zwei Seiten
her strukturell diskutieren. Wir werden mit den Diskus-
sionsvorschlägen den Deutschen Juristentag im Septem-
ber erreichen und können dann auch dort in die Diskus-
sion einsteigen. Im weiteren Verfahren können wir vor
dem Hintergrund sachlicher Arbeit etwas Gutes tun, um,
wie ich bereits eingangs sagte, die ordentliche Gerichts-
barkeit für die Zukunft fit zu machen.

Ich denke, auch die Opposition hier im Hause müsste
eigentlich mit uns gemeinsam diesen Weg gehen können.
Ich darf aus dem Protokoll vom 13. Juni 1997, als über das
gleiche Thema beraten wurde, zitieren. Der damalige Vor-
sitzende des Rechtsausschusses, Herr Eylmann von der
CDU, hat Folgendes gesagt:


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Der war schon immer ein Eigenbrötler!)


Wir brauchen eine Stärkung der ersten Instanz. Wir
brauchen mehr Mündlichkeit in der ersten Instanz;
denn in der ersten Instanz entscheidet sich das Anse-
hen der Justiz; mit den Amtsrichtern kommen die
Leute zusammen. Wir brauchen weiterhin eine Straf-
fung des Rechtsmittelsystems – ich habe das schon
häufig vorgetragen –: eine Tatsacheninstanz, eine
Rechtsüberprüfungsinstanz.

Das war ein Aufruf an Sie, sich diesem vernünftigen
Weg anzuschließen. Ich hoffe, Sie werden diesen Schritt
jetzt gehen können, Herr von Stetten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Joachim Stünker
10976


(C)



(D)



(A)



(B)


Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes aus-
führen: Wir haben im vorigen Jahr die Möglichkeit der
außergerichtlichen Streitschlichtung neu in das Gesetz
aufgenommen. Sie waren daran beteiligt. Wir haben die
Präsidialverfassung der Gerichte reformiert. Dies waren
die ersten beiden Schritte. Die heute vorgestellte Reform
des Zivilprozesses ist der nächste Schritt auf dem von uns
eingeschlagenen Weg, dem Weg, der uns zu dem Ziel
führen soll, der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Rüst-
zeug zu geben, um den Anforderungen der Zukunft ge-
wachsen zu sein.

Die Reform der Verfahren der freiwilligen Gerichts-
barkeit und des Strafprozesses werden die nächsten
Schritte sein. Parallel dazu müssen wir im Einvernehmen
mit den Bundesländern die notwendige Binnenreform der
ordentlichen Gerichtsbarkeit vorantreiben, also die Über-
tragung gegenwärtig noch richterlicher Aufgaben auf den
rechtspflegerischen Dienst und die weitere Übertragung
von Aufgaben, die jetzt noch von Rechtspflegerinnen und
Rechtspflegern zu erfüllen sind, auf den mittleren Dienst.

Diesen Weg der notwendigen Reformen zu gehen wird
nicht leicht sein. Er wird steinig sein und die Widerstände
heftig. Denn hiermit greifen wir in Strukturen ein, in de-
nen wir seit 120 Jahren in der Justiz arbeiten. Aber ich darf
Ihnen versichern: Wir haben das im Kreuz, wir werden
diesen dornigen Weg bis zum Ende gehen; denn wir sind
davon überzeugt – ich bin davon überzeugt –, dass es zu
diesem Weg der Reformen keine Alternative gibt.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411507800
Jetzt spricht der Kol-
lege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411507900
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Stünker, die Pra-
xis, etwa die Anwälte und Richter, sieht das ganz anders
als Sie. Das wissen Sie auch. Es wird sehr schwierig wer-
den, all dies gegen die Praxis, also gegen Anwälte und
Richterschaft, durchzusetzen. Soweit meine erste Vorbe-
merkung.

Zweitens möchte ich sagen: Ich meine, dass dies ein
sehr wichtiges Thema ist, nach unserer Einschätzung viel-
leicht das wichtigste in der Rechtspolitik in dieser Legis-
laturperiode. Dieses Thema hätte es verdient, zu einem
besseren Zeitpunkt behandelt zu werden. Bei der Einbrin-
gung von Gesetzen muss man auch ein wenig darauf ach-
ten, dass man Gedanken nicht in einer geschlossenen Ge-
sellschaft austauscht, sondern dass sie einen vernünftigen
Widerhall bei den Kollegen finden können. Insofern be-
daure ich es außerordentlich, dass wir dieses Thema
heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, auf der Ta-
gesordnung haben.

Ich bedaure auch, dass dieser Gesetzentwurf von den
Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist, die Bundes-
regierung also nicht den normalen Weg gegangen ist,
nämlich diesen Gesetzentwurf erst dem Bundesrat zuzu-

leiten, damit dieser Stellung nehmen kann. Ich glaube,
dies wäre der bessere Weg gewesen und hätte der Diskus-
sion besser gedient.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411508000
Herr Kollege Geis,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alfred
Hartenbach?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411508100
Bitte sehr.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411508200
Herr Kollege Geis, waren
Sie immer so selbstzweiflerisch, was die Rechte eines
Parlaments anbetrifft, oder sind Sie das erst, seit Sie in der
Opposition sind?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411508300
Nein, ich achte die parla-
mentarischen Rechte sehr hoch, dass wissen Sie genau.
Ich meine nur, es hätte der Sache mehr gedient, wenn die
Bundesregierung einen Kabinettsentwurf vorgelegt, die-
sen dann dem Bundesrat zugeleitet hätte und der Bundes-
rat dann dazu hätte sachkundig Stellung nehmen können.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das wäre sehr viel besser gewesen!)


Dies hätte unserer Diskussion mehr gedient.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411508400
Der Kollege
Hartenbach möchte eine zweite Zwischenfrage stellen.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411508500
Herr Kollege Geis, finden
Sie es nicht gut, dass dieser Entwurf so lange als Refe-
rentenentwurf vorlag, dass Ihr eigener Sachverstand aus-
reicht, um ihn zu beurteilen? Sind Sie nicht mit mir der
Meinung, dass es ein sehr kollegialer Akt der Koalitions-
fraktionen ist, Ihnen über die Sommerpause hinweg die
Gelegenheit zu geben, sich mit diesem Referentenentwurf
zu befassen, statt dauernd rätseln zu müssen: Was hat die
Koalition im Panzerschrank liegen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411508600
Lieber Kollege
Hartenbach, es handelt sich hier doch nicht mehr um ei-
nen Referentenentwurf, sondern um einen Gesetzentwurf.
Diesen Gesetzentwurf diskutieren wir heute. Was spricht
eigentlich dagegen, uns über die Sommerpause den vom
Kabinett beschlossenen und dem Bundesrat zugeleiteten
Entwurf zu geben, um ihn zu durchdenken und zu disku-
tieren? Es wäre für diese Beratung besser gewesen, wenn
wir vorher die Stellungnahme des Bundesrates gehabt hät-
ten. Sie mögen zwar anderer Meinung sein – ich kenne
Ihre Zwänge in dieser Frage –, aber ich glaube – lassen Sie
mich das in Ruhe sagen –, ein normales Gesetzgebungs-
verfahren in dieser Sache wäre der bessere Weg gewesen.
Da stimme ich mit meinen Kollegen überein.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Mit bayrischen Vordenkern?)





Joachim Stünker

10977


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Kollege Hartenbach, das ist eine sehr tief grei-
fende Reform, die Sie da vorhaben; das sagen Sie auch
selbst. Die Rechte des Bürgers werden nicht ausgeweitet,
jedenfalls nicht hinsichtlich der Berufungsinstanz. Die
Rechte in der Berufungsinstanz – jedenfalls ist es in dem
Entwurf so niedergelegt – werden sogar eingehend be-
schränkt.

Die Dreistufigkeit wird kommen. Das werden viele
Amtsgerichte, sollte das Gesetz so in Kraft treten, in der
Praxis nicht überleben.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Gerichtsorganisation ist doch wohl Ländersache!)


Viele Amtsgerichte werden aufgelöst werden müssen. Es
ist auch nicht wahr, dass die Bürgernähe größer wird;
denn durch die Dreistufigkeit werden wir gerade einen
Verlust an Bürgernähe und damit auch an Rechtskultur
haben.

Dabei haben wir eine gut funktionierende Justiz. Die
Frage ist doch, ob man jetzt so umwälzend reformieren
muss. Herr Stünker, ich bin ja dafür, dass wir das System
immer wieder verbessern; denn gerade der Zivilprozess
muss flexibel sein, muss auf neue Entwicklungen Antwort
geben können und muss für neue Sachverhalte vernünf-
tige Regelungen finden, damit Konflikte gelöst werden
können. Aber dafür ist doch keine so große, umfassende,
geradezu revolutionierende Reform notwendig.


(Joachim Stünker [SPD]: In der Vergangenheit ist der andere Weg doch gescheitert! Er endete doch mit einer Bruchlandung!)


Gegenwärtig kann der deutsche Bürger in einem fairen,
effektiven und verlässlichen Verfahren vor dem Gericht
sein Recht suchen.

Die Behauptung, die Justiz sei nicht bürgernah – in
Ihrem Entwurf steht, sie sei nicht transparent, nicht bür-
gernah und nicht effizient –, ist nach Ihren eigenen Wor-
ten, Herr Stünker, gar nicht richtig. Wir haben eine effizi-
ente Justiz. Die Justiz wird in dem Entwurf – Sie, Herr
Stünker, haben das nicht getan – krank geredet. Das ist
völlig falsch. Sie ist nicht krank. Sie funktioniert, und
zwar recht gut. Wäre es nicht so, dann würden nicht so
viele Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen auf die Justiz
setzen und versuchen, dort ihr Recht zu finden und durch-
zusetzen. Die Justiz ist nicht krank. Das Gegenteil ist rich-
tig. Ich meine, man sollte jetzt nicht krampfhaft versu-
chen, unsere Justiz krank zu reden.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das habt ihr doch zehn Jahre gemacht, Herr Dr. Eisenbart!)


Sie behaupten immer, die vielen Entlastungsgesetze –
mir sind insgesamt drei auf den Tisch gelegt worden;
damals, in unserer Koalition, haben wir vieles so durch-
gesetzt, wie wir es für richtig gehalten haben –, Herr
Hartenbach, hätten nichts bewirkt. Dass wir eine so gut
funktionierende Justiz haben, liegt nach meiner Auffas-
sung auch an den Entlastungsgesetzen. Wir lassen sie
auch nicht schlecht reden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie behaup-
ten immer, unsere Justiz sei zu stark belastet. Die

Belastung ist aber seit sieben Jahren die gleiche – und die
Justiz bricht nicht zusammen. Wir haben seit 1993 in etwa
die gleichen Eingangszahlen. Im letzten und vorletzten
Jahr gingen diese Eingangszahlen sogar zurück.


(Abg. Joachim Stünker [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Im Übrigen bin ich nicht der Auffassung, dass wir,
wenn die Belastung wirklich zu hoch wäre, die Zivilpro-
zessordnung in einer so radikalen Form ändern sollten,
wie Sie das vorhaben. Warum sollten wir nicht einmal
versuchen, den Ländern klarzumachen, dass die Justiz
eine Kernaufgabe ist? Warum sollten wir nicht einmal an
die Finanzminister der Länder appellieren, für die Justiz,
weil sie eine Kernaufgabe ist, mehr Geld zur Verfügung
zu stellen? Wie viel verbraucht die Justiz? Sie verbraucht
gerade mal zwei Prozent der Länderhaushalte. Das ist für
eine Kernaufgabe des Staates nicht zu viel. Und wenn die
Belastung wirklich größer wird, dann müssen wir auch
einmal ganz klar und deutlich sagen, dass solche Belas-
tungen auch durch Mehrung von Richterstellen abgebaut
werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411508700
Jetzt bekommt das
Wort zu einer Zwischenfrage der schon lange wartende
Kollege Joachim Stünker.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411508800
Danke schön, Herr
Präsident. – Herr Geis, ich habe ja Geduld.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411508900
Ich auch.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411509000
Herr Geis, wenn das alles
so ist, wie Sie es hier beschreiben, wenn das alles Gold ist,
was den Zustand in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
in der Ziviljustiz angeht: Wieso haben Sie dann in der letz-
ten Legislaturperiode einem von den Bundesländern ein-
gebrachten Entwurf – er trägt die Drucksachennum-
mer 13/11042 – noch 1998 zugestimmt, in dem zum Bei-
spiel die Regelung enthalten war, dass künftig von der
Berufungsinstanz bis zum Streitwert von 60 000 DM eine
Berufung ohne Begründung als „offensichtlich unbegrün-
det“ verworfen werden kann? Warum haben Sie damals
der in diesem Entwurf vorgesehenen Regelung eines ver-
mehrten Einsatzes von Einzelrichtern in der ersten Instanz
zugestimmt? Ich könnte Ihnen hier noch weitere ähnliche
Beispiele nennen.

Warum also haben Sie, wie ich meine, immer nur
Flickwerkoperationen gemacht, mit denen immer nur in
Teilbereichen etwas geregelt wurde? Worin liegt der tie-
fere Grund dafür, dass die Berufung mit einem Streitwert
bis zu 60 000 DM gegenüber der mit einem Streitwert
über 60 000 DM schlechter gestellt wird? Wenn das, wie
Sie sagen, alles in Ordnung war, warum haben Sie dann
diesen Entwurf noch 1998 beschlossen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Norbert Geis
10978


(C)



(D)



(A)



(B)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411509100
Herr Stünker, ich habe
ausdrücklich gesagt, dass wir dann, wenn sich heraus-
stellt, dass unser Zivilprozess nicht flexibel genug ist, im
Einzelfall reagieren müssen. Das sieht dieser Gesetzent-
wurf vor. Wie Sie wissen, haben Sie diesem Ent-
wurf – Sie persönlich waren noch nicht dabei, aber Ihre
Kolleginnen und Kollegen – im Rechtsausschuss bis auf
eine Passage – sie betrifft die Klausel bezüglich der Kam-
mern für Handelssachen und des Registerwesens – da-
mals zugestimmt. Wir waren alle zusammen der Mei-
nung, dass dieser Gesetzentwurf, vom Bundesrat erarbei-
tet, aus der Praxis kommend, vernünftig ist. Er beinhaltete
aber nicht so umwälzende Neuerungen wie Ihr jetzt vor-
liegender Entwurf und wollte auch nicht die ganze Justiz
umkrempeln. Darin stimmen wir doch hoffentlich über-
ein. Herr Kollege Stünker, ich bin immer für Verbesse-
rungen, wenn es wirklich notwendig ist. Aber ich bin ge-
gen eine totale Umwälzung, wie Sie sie mit Ihrem Ent-
wurf vorhaben.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411509200
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage des Kollegen Stünker?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411509300
Ja.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411509400
Worin bestand damals für
Sie die Notwendigkeit? Sie sagen: Wenn Notwendigkeit
besteht, dann machen wir was. Aber Sie haben nicht die
Frage beantwortet, worin für Sie die Notwendigkeit be-
stand.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1411509500
Die Notwendigkeit wurde
in den einzelnen Fällen aus der Praxis heraus erkannt.


(Zurufe von der SPD: Aha!)

Die Praxis und die Beratung mit den Kolleginnen und
Kollegen des Bundesrates haben uns nahe gelegt, Rege-
lungen zu treffen. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf
getan. Sie werden mit mir darin übereinstimmen – Sie sa-
gen ja, das sei Flickwerk gewesen; ich bin nicht Ihrer Auf-
fassung –, dass dieser unser Entwurf nicht der so genannte
große Wurf war. Das war nicht ein so revolutionäres Ge-
setzgebungskonvolut, wie Sie es jetzt vorhaben. Aber: Ich
wende mich doch nicht gegen Verbesserungen. Ich bin für
Verbesserungen! Kein System ist vollkommen. Wir müs-
sen jedes System verbessern, wenn es notwendig ist.
Dafür trete ich ein. Doch ich wende mich ganz massiv ge-
gen Ihren Gesetzentwurf, weil er mir zu revolutionär ist.

Lassen Sie mich fortfahren. Ich habe vorhin noch ein-
mal darauf hingewiesen, dass man bei zu großer Belas-
tung natürlich auch einmal daran denken muss, ob nicht
Richterstellen gemehrt werden müssen. Aber gegenwärtig
ist das nicht nötig. Die Belastung ist nicht so groß, wie Sie
behaupten. Wir haben seit 1993 eine gleich bleibende Be-
lastung. Ich glaube, unsere Richter kommen damit gut zu-
recht. Es hat sich jedenfalls kein Mangel gezeigt.

Es ist auch nicht so, dass die erste Instanz,wie Sie im-
mer sagen, eine Durchgangsinstanz ist. Die Prozesse wer-
den in erster Instanz zu 94 Prozent beim Amtsgericht er-

ledigt. Beim Landgericht haben wir Erledigungszahlen
von über 80 Prozent. Dies ist auch ein Beweis dafür, dass
unsere Justiz gut funktioniert.

Ich glaube, wenn Ihr Reformwerk umgesetzt würde,
wäre diese gute Funktion unserer Justiz nicht mehr im
gleichen Maße gewährleistet. Sie werden den dreiglied-
rigen Gerichtsaufbau ansteuern und damit eine Zer-
schlagung des Amtgerichtes und des Landgerichtes – es
soll ja zu einer Zusammenführung beider zu einem großen
Eingangsgericht kommen – in Kauf nehmen. Wir hatten
diese Diskussion schon einmal in den 70er-Jahren, als
ähnliche Pläne verfolgt wurden. Damals war man aber
klugerweise der Auffassung, sie wieder in die Schublade
zurückzulegen. Das war eine richtige Entscheidung. In
der damaligen sozialliberalen Koalition saßen kluge
Leute. Ich hoffe, im Laufe der Zeit stellt sich auch in die-
sem Verfahren wieder die Klugheit ein, sodass der Ent-
wurf wieder in der Schublade verschwinden wird. Bis
jetzt kann man diesen Eindruck noch nicht haben.

Durch die geplante Zerschlagung von Amtsgerichten
und Landgerichten kommt es – ich habe es vorhin schon
gesagt – zu einem Verlust an Bürgernähe und zu einer Zer-
störung alter Bindungen. Man muss einmal überlegen,
dass in manchen Städten ein Amtsgericht bzw. eine Ge-
richtsstelle schon seit Jahrhunderten vorhanden ist. Das
soll nun aufgehoben werden und ich weiß nicht, ob das
der Bindung der Bevölkerung an die Justiz zugute kommt.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das ist doch nicht wahr! – Joachim Stünker [SPD]: Ein Kulturbruch!)


Ich bin da ganz anderer Meinung.
Sie wollen die Konzentration der Berufungssachen

beim Oberlandesgericht und dabei die Berufungs-
summe auf 1 200 DM heruntersetzen. Haben Sie sich
einmal überlegt, wenn jemand mit einem Streitwert von
1 300 DM in die Berufung geht, – –


(Joachim Stünker [SPD]: Das macht keiner mehr! Das ist heute schon zu teuer!)


– Ja, genau, aber heute kann er vom unteren Stock des
Amtsgerichts in das nächste Stockwerk des Landgerichts
gehen; er hat das Landgericht in der Nähe. Wenn er sich
aber erst mit seinem Anwalt in das Auto setzen muss, um
in einer Tagesreise das Landgericht zu erreichen – das gilt
zum Beispiel für mich in Aschaffenburg, wo das zustän-
dige Oberlandesgericht seinen Sitz in Bamberg hat –, ent-
stehen gewaltige Kosten, sodass am Ende die Kosten
höher liegen als der Streitwert.

Das heißt doch, dass die Zusammenfassung beim
Oberlandesgericht im Grunde genommen ein Berufungs-
verhinderungsinstitut ist. Sie haben ja selber gesagt, es
würde dann keiner mehr machen.


(Joachim Stünker [SPD]: Heute!)

Das bedeutet doch einen Verlust der Rechte der Bürger.
Warum wollen wir denn den Bürgern das Recht nehmen,
in der Berufungsinstanz ihre Sache noch einmal überprü-
fen zu lassen?






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bedauere diese Entwicklung außerordentlich und
schon aus diesem Grunde wenden wir uns ganz entschie-
den gegen Ihr Vorhaben; denn dies bedeutet in der Tat ei-
nen Verlust der Rechte des Bürgers. Das ist keine Politik
für den Bürger, sondern es ist eine Politik gegen den klei-
nen Mann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Nur noch die Besserverdienenden werden sich dann eine
Berufung leisten können.


(Lachen bei der SPD)

Damit handeln Sie wie in der Steuerpolitik: Sie helfen den
Großen und treten die Kleinen. Genauso ist es hier.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


– Sie lachen darüber, aber es wird so sein. Das haben Sie
nur noch nicht gemerkt.

Sie wollen die erste Instanz stärken. Das ist für sich ge-
nommen ein ganz vernünftiger Gedanke, den wir gut
nachvollziehen können. Sie wollen deshalb die Gütever-
handlung einführen. Das alles haben wir doch schon. In
Ihren Reihen befinden sich doch viele gelernte Juristen
und mehrere von Ihnen waren ja in der Justiz tätig. In der
heutigen Praxis wird doch kein Prozess begonnen, ohne
dass der Richter versuchen würde, vergleichsweise eine
Regelung zu finden. Er muss in jedem Stand des Verfah-
rens nach unserer Zivilprozessordnung eine Regelung im
Wege des Vergleichs anstreben. All diese Dinge sind also
gar nicht notwendig.

Ich möchte noch ein Wort zum obligatorischen Einzel-
richter sagen, Herr Stünker. Sie haben mit Recht gesagt,
wir hätten die dem Einzelrichter zuzuweisenden Fall-
gruppen ausgedehnt. Es steht fest, dass die Einzelrich-
terentscheidungen genauso gut angenommen werden wie
die kammergerichtlichen Entscheidungen. Man muss da-
bei aber eine Einschränkung machen: Bei unserer jetzigen
Organisation haben die kammergerichtlichen Entschei-
dungen meistens schwierigere Sachverhalte und schwie-
rigere Rechtsfragen zum Gegenstand, weil alle anderen
Fälle dem Einzelrichter übertragen werden. Bei solchen
Prozessen mit schwierigeren Sachverhalten und schwieri-
geren Rechtsfragen kommt es naturgemäß leichter zu
Fehlentscheidungen. Deswegen kann man beides nicht
vergleichen.

Ich glaube aber, wir sollten dabei einen Gedanken nicht
vernachlässigen: Das Kammerprinzip hat eine wichtige
Funktion, da sechs Augen auf einen Sachverhalt schauen.
Es gibt die Binnenkontrolle des ansonsten in seiner Ent-
scheidung freien Richters. Das ist ein Wert, den man nicht
unterschätzen sollte.

Dass Sie den obligatorischen Einzelrichter auch ohne
Bindung an irgendeinen Streitwert einführen, halten wir
für sehr bedenklich. Wir halten es insbesondere auch für
bedenklich, weil Sie in der Berufungsinstanz eine einge-
schränkte Sachverhaltsprüfung haben. Nach dem Refe-
rentenentwurf haben Sie dies zwar zurückgenommen und
wollen nun die Prüfung des Sachverhaltes und des Tatsa-

chenvortrages in zweiter Instanz stärker vornehmen las-
sen. Dies geht auf die Intervention Ihrer Fraktion zurück.
Das begrüßen wir. Aber reicht das? Denn das Gericht
muss nach wie vor entscheiden: Gibt es hier wirklich eine
Aussicht auf Erfolg, geht es um eine wichtige Rechts-
frage? All diese Fragen sind entscheidend dafür, ob die
Sache überhaupt von der Berufungsinstanz angenommen
wird. Nach dem Referentenentwurf haben Sie zwar die
Annahmeberufung abgeschafft, Sie haben aber im
Grunde genommen nur eine neue Formulierung dafür ge-
funden. Sie nennen es jetzt Zulassungsbeschluss. Das
kommt aufs Gleiche heraus. Es ist aber ein viel umständ-
licheres Verfahren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
mich insbesondere gegen die Einschränkung des Tat-
sachenvortrages in zweiter Instanz – ich wiederhole
mich – wenden. Er ist auch nach dieser Korrektur, die
wir begrüßen, noch eingeschränkt. Ist dies wirklich rich-
tig? Im Zivilprozess – das wissen Sie genauso gut wie
ich – geht es um Sachverhalte. In 90 Prozent der Fälle
sind Sachverhalte Gegenstand der Entscheidung in ei-
nem Zivilprozess. Rechtsfragen spielen vom Aufwand
her nur eine geringe Rolle. Bei der Feststellung des
Sachverhaltes gibt es die Fehler. Deswegen ist es richtig,
dem Betroffenen, der mit der Feststellung des Sachver-
haltes und der Wertung des Richters in erster Instanz, die
vollkommen rechtsfehlerfrei gewesen sein mag, nicht
einverstanden ist, die Chance zu geben, dies in zweiter
Instanz kontrollieren zu lassen.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Diese Chance hat er!)


Warum nehmen wir dem Bürger die Möglichkeit? Ich be-
daure dies außerordentlich.

Genau das Gleiche gilt für die Revisionsinstanz.
Natürlich gibt es die Revisionsinstanz schon immer, da-
mit die Einheitlichkeit des Rechtes gewahrt wird. Aber die
Einheitlichkeit und die Fortbildung des Rechtes – abgese-
hen von den Nöten im Einzelfall –, zur Bedingung dafür
zu machen, ob die Revision angenommen wird und Erfolg
hat, halte ich für sehr bedenklich und für eine Verkürzung
des Rechtes der Bürger. Es kommt dem Bürger nämlich
nicht darauf an, ob seine Sache der Fortbildung des Rech-
tes dient, sondern es kommt ihm einzig und allein darauf
an, dass er seine Gerechtigkeit findet. Wir müssen diese
Einzelfallregelung mehr beachten.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Das tun wir doch!)


Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass Sie nach einer entsprechenden Anhörung doch zu
dem Ergebnis kommen, den Gesetzentwurf wieder
zurückzuziehen. Es wäre das Beste für Sie, für die Justiz,
für die Gerechtigkeit und für unsere Rechtskultur.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411509600
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Volker Beck.




Norbert Geis
10980


(C)



(D)



(A)



(B)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411509700

Wir haben gerade erfahren: Die Union ist der Meinung, es
herrschen paradiesische Zustände bei der Justiz, denn sie
bricht noch nicht zusammen. Das ist ein sehr schöner Be-
fund. Ich wundere mich darüber sehr. Es passt überhaupt
nicht zu Ihrer Analyse in der letzten Wahlperiode. Die da-
maligen Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege, so auch
das letzte gescheiterte Gesetz, enthielten durchaus ver-
nünftige Elemente, die wir in dieser Reform auch aufge-
nommen haben. Entweder war es damals richtig, etwas zu
tun – dann ist es auch heute gut, etwas zu tun und darüber
zu reden – oder es war damals falsch. Und dann muss man
sich fragen, was Sie in der letzten Wahlperiode, als Sie die
Verantwortung hatten, überhaupt gemacht haben.

Meine Damen und Herren, diese Justizreform ist eine
runde Sache. Sie verbessert den Rechtsschutz für die Bür-
gerinnen und Bürger und erhöht zugleich Transparenz und
Effizienz der Justiz. Dennoch konnten die Reaktionen auf
diesen Gesetzentwurf nicht unterschiedlicher ausfallen.


(Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die waren einhellig!)


Positiv, wenn auch bei der Anwaltschaft verhalten, ist das
Echo bei den Berufsverbänden. Sowohl Richterschaft als
auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind zu-
frieden,


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Katastrophal!)


weil wesentliche Kritikpunkte aus ihren Stellungnahmen
berücksichtigt worden sind. Heribert Prantl von der „Süd-
deutschen Zeitung“ – im Übrigen einer der größten Be-
fürworter dieser Reform – gibt eine zu vorsichtige Reno-
vierung der alten Verwirrordnung ZPO zu bedenken. Die
Berliner „tageszeitung“ applaudiert fast überschwäng-
lich.

Aber Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, geht wieder einmal alles zu schnell und nicht in Ihre
Richtung. Aber wieso eigentlich? Noch kürzlich haben
Sie der Koalition in der Rechtspolitik Untätigkeit vorge-
worfen und gemahnt, wir würden Ihnen zu wenige Ge-
setze vorlegen. Jetzt sind Sie anscheinend überlastet und
beschweren sich über das Verfahren, obwohl es das glei-
che Verfahren ist, das auch Sie 16 Jahre hier praktiziert
haben: Die Koalition legt Gesetzentwürfe vor, um in der
parlamentarischen Diskussion voranzukommen, während
gleichzeitig die Abstimmung mit dem Bundesrat läuft.
Das sieht die Geschäftsordnung vor.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist ein ganz normales Verfahren, um voranzukommen
und Ergebnisse für unser Land zu erzielen.

Seit Weihnachten befindet sich auf der Homepage des
Bundesjustizministeriums der Referentenentwurf zur Jus-
tizreform. Jeder konnte also mitdiskutieren, Stellung neh-
men und die Punkte sehen, die wir für reformbedürftig
halten. Verbände und Länder haben teilweise sehr um-
fangreiche Stellungnahmen zu dieser Reform abgegeben.
Die Koalition hat zusammen mit der Ministerin die Be-
denken und Anregungen ausgewertet und in dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Was bitte ist
daran überhastet? Das ist der ganz normale Lauf der

Dinge, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
F.D.P.. So macht man vernünftige Gesetze. Aber mittler-
weile wird mir auch klar, warum Sie 16 Jahre lang in der
Rechtspolitik außer Flickschusterei so wenig zustande ge-
bracht haben.


(Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])

Wir vom Bündnis 90/Die Grünen können mit den jetzt

getroffenen Regelungen sehr zufrieden sein. Seit Beginn
der Diskussion um die Justizreform haben wir uns für eine
insgesamt ausgewogene Lösung stark gemacht. Wir ha-
ben uns gegen unverhältnismäßige Eingriffe in die
Rechtsmittel gewandt. Wir halten es für gefährlich, wenn
die Berufungsinstanz ausschließlich der Rechtsfehlerkon-
trolle diente und eine Neuverhandlung von Tatsachen
kategorisch ausgeschlossen wäre. Man hat es Ihrer Kritik,
Herr Geis, angemerkt, dass Sie eigentlich unzufrieden
über die Berücksichtigung der Kritikpunkte im Ge-
setzentwurf waren, weil Ihre Rede nicht mehr richtig zu
dem Entwurf passte.

Die jetzt gefundene Öffnungsklausel hinsichtlich des
Prüfungsumfangs des Berufungsgerichtes ist für die
Bürgerinnen und Bürger eine Verbesserung; denn mit ihr
wird sowohl ein wichtiges Ziel der Reform – berechtigte
Forderungen schneller und auch kostengünstiger durch-
zusetzen – als auch das mögliche Risiko berücksichtigt,
dass die in der ersten Instanz festgestellten Tatsachen viel-
leicht doch nicht so rechtsfehlerfrei ermittelt wurden.

Meine Damen und Herren von der Union – ich spreche
zu Ihnen, auch wenn Sie nicht zuhören –, Ihr Generalse-
kretär, Herr Polenz, hat uns vorgeworfen, der Rechts-
schutz werde mit der Reform massiv beschnitten. Ich
würde ihm empfehlen – da er nicht anwesend ist, möchte
ich Sie bitten, ihm das auszurichten –, den zugegebener-
maßen sehr umfangreichen Gesetzentwurf einmal in
Ruhe von vorne bis hinten durchzulesen. So trocken die
Materie auch sein mag: Die Mühe sollte sich lohnen. Ich
empfehle ihm das auch auf die Gefahr hin, dass er der Ko-
alition dann das Gegenteil vorhalten wird.

Die Annahmeberufung in ihrer alten Form ist auch
aufgrund unserer Bedenken vom Tisch. Hier hat uns übri-
gens auch der Vorschlag des Landes Niedersachsen sehr
geholfen. Eine Art Schnellverfahren, mit dem sich der Be-
rufungsrichter vielleicht manchmal eine Menge Arbeit er-
sparen möchte, wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht
zuzumuten gewesen. Wir haben an dieser Stelle auch die
Bedenken der Anwaltschaft sehr ernst genommen. Die
nun gefundene Ausgestaltung des Verfahrens ist eine gute
Lösung. Offensichtlich aussichtslose Berufungen können
abgelehnt werden.

Ein Kollegium, also sechs Augen, muss das Rechts-
mittel einstimmig für unbegründet erachten. Und es kann
erst dann die Annahme des Rechtsmittels ablehnen, wenn
den Parteien die Gründe erläutert worden sind und ihnen
noch einmal rechtliches Gehör geschenkt wurde. In die-
sem Verfahren wird der Grundsatz gelten: Im Zweifel für
das Rechtsmittel. Ist das ein massiver Einschnitt in den
Rechtsschutz? Wollen Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, auch bei aussichtslosen Rechtsmitteln un-
bedingt eine für die Parteien kostenintensive mündliche
Verhandlung beibehalten?






(C)



(D)



(A)



(B)



(Alfred Hartenbach [SPD]: So ist das nämlich!)


Der Entwurf verfährt nach dem Motto: Rechtsschutz
dort, wo er geboten ist. Aus diesem Grunde haben wir die
Berufungssumme auch nicht, wie wir es aus früheren
Zeiten gewohnt sind, erhöht, sondern um 300 DM auf
1 200 DM bzw. 600 Euro gesenkt.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Auch unterhalb dieser Summe haben wir mit einer Zu-
lassungsberufung und einer neuen Abhilfemöglichkeit
den Rechtsschutz erweitert. Herr Geis, das ist das Gegen-
teil von dem, was Sie gesagt haben. Hiermit wird der
Rechtsschutz gerade für die kleinen Leute und bei gerin-
gen Streitwerten in einer angemessenen Art und Weise –
mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Fehlerkontrolle – ver-
bessert. Das ist wirklich das glatte Gegenteil Ihrer Aus-
sage von vorhin, dass man etwas gegen die kleinen Leute
mache. Ihre Ausführungen waren an den Haaren herbei-
gezogen.

Die Tendenz, dass die Zeit willkürlicher Streitwert-
grenzen allmählich vorbeigeht, weil dies mit effektivem
Rechtsschutz wenig zu tun hat, zieht sich wie ein roter
Faden durch den gesamten Entwurf. Bei der Revision ist
die 60 000-DM-Grenze weggefallen. Eine Überprüfung
durch den BGH soll bei grundsätzlicher Bedeutung der
Streitsache möglich sein. Damit sind aber nicht nur über
den Einzelfall hinausreichende Streitfälle von allgemei-
ner Bedeutung gemeint. Machen Sie sich bitte die Mühe
und schauen Sie in die Begründung des Entwurfs –
Seite 114 –: Auch bei eklatanten Rechtsfehlern kann das
Ergebnis zur Wahrung von Einzelfallgerechtigkeit korri-
giert werden. Ist das etwa massive Beschneidung von
Rechtsschutz? Nein, das ist eine Änderung in der Philo-
sophie: weg von quantitativ orientierten Rechtsmitteln
hin zu qualitativ orientierter Rechtsfehlerkontrolle.

Und um keine Missverständnisse aufkommen zu las-
sen: Die Philosophie des Entwurfes besteht nicht darin,
ein möglichst optimales Rechtsmittelsystem zu erfinden,
in dem jegliche Fehlentscheidung ausgeschlossen ist. Ge-
richtsurteile werden immer noch von Menschen gefällt,
die sich irren können. Hauptziel des Entwurfes ist, dass
die Menschen möglichst keinen Grund mehr haben sollen,
sich über die Urteile zu beschweren. Wir wollen, dass sie
gegebenenfalls ein Urteil akzeptieren, zum Beispiel weil
das Gericht ihnen seine Entscheidung hinreichend ver-
ständlich gemacht hat.

Die Bürgernähe dieser Reform drückt sich auch in der
personellen und qualitativ gestärkten Eingangsinstanz
aus. In diesem Punkt – das wird Ihnen wenig gefallen –
war es bei der Auswertung der verschiedenen Stellung-
nahmen besonders erfreulich, dass es von allen Seiten der
Rechtspflege große Zustimmung gegeben hat. Wir haben
die Hinweis- und Aufklärungspflichten in einer zentralen
Vorschrift gebündelt und verschärft. Wir wollen damit er-
reichen, dass der Weg zur Entscheidungsfindung für die
Rechtsuchenden überschaubar ist. Wer nicht vom Urteil

überrascht wird, der kann es vielleicht auch eher akzep-
tieren.

Als Bündnisgrüne freuen wir uns ganz besonders über
ein weiteres wichtiges Element, das die Eingangsinstanz
ebenfalls stärkt: die obligatorische Güteverhandlung.
Nach dem Gesetz zur außergerichtlichen Streitschlich-
tung, das im letzten Jahr in Kraft getreten ist, betont die
Koalition auch hiermit konsequent den Gedanken der
Streitschlichtung. Natürlich kann man das System der Ar-
beitsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang nicht
blindlings auf den Zivilprozess übertragen. Die zunächst
im Referentenentwurf vorgeschlagene Regelung ist pra-
xisgerecht zurechtgeschneidert worden. Ist eine gütliche
Einigung erkennbar überflüssig, muss sie nicht stattfin-
den. Auch in diesem Punkt sind wir übrigens für die zahl-
reichen konstruktiven Vorschläge der Verbände dankbar.

Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine bes-
sere, praxisgerechtere und effektive Ziviljustiz ist mit
dem heutigen Tag nicht zu Ende. Im Gegenteil! Schon
jetzt bin ich auf die Anhörung gespannt, bei der die ge-
samte Rechtspflege erneut die Gelegenheit erhält, Vor-
schläge zu unterbreiten. Über vernünftige Vorschläge
kann man mit dieser Koalition immer reden.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Ziel sollte aber allen klar sein: Die Renovierung

der Verwirrordnung ZPO steht an. Die „Süddeutsche Zei-
tung“ hat zu Recht festgestellt – mit Erlaubnis des Präsi-
denten zitiere ich als Letztes diesen Satz –:

Jahrzehntelang hat sich der Gesetzgeber an Grund-
probleme der Justiz kaum herangetraut; und wenn er
es getan hat, kam erbärmliches Flickwerk heraus ...
Die Prozessordnungen aus dem vorigen Jahrhundert
wurden vom Gesetzgeber nicht verbessert, sondern
verschlimmbessert.

Mit dieser Politik machen wir jetzt Schluss. Wir verbes-
sern die ZPO.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Der Beifall kam sehr zögernd!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411509800
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1411509900
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Kurz vor der Sommerpause wird das Parla-
ment noch einmal mit justizpolitischen Initiativen über-
häuft. Der Freitag ist offensichtlich der Justizpolitik
gewidmet. Es handelt sich um Vorhaben, die schon vor an-
derthalb Jahren von der Bundesjustizministerin angekün-
digt worden sind und jetzt im Rahmen einer Fraktions-
initiative eingebracht werden. Die Ministerin hat ihren ei-
genen Entwurf noch nicht fertig stellen können, dem-
gemäß gab es noch keine Kabinettsbefassung, demgemäß
noch keine Beratung im Bundesrat, was aber zweckmäßig
gewesen wäre; denn insbesondere die Länder sind von




Volker Beck (Köln)

10982


(C)



(D)



(A)



(B)


Fragen der Justiz stark betroffen und müssen sich damit
auseinander setzen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist viel zu praktisch, was Sie vortragen!)


Zu Recht sagen die Verfasser des Gesetzentwurfs zur
Reform des Zivilprozesses, dass sich eine Strukturreform
daran messen lassen muss, ob die vorgesehenen Ände-
rungen dazu führen, dass die Justiz bürgernäher, effizien-
ter und transparenter wird. In der Tat ist eine Reform des
Zivilprozesses nur dann sinnvoll, wenn sie den Rechts-
schutz des Bürgers nicht beschneidet, sondern effektiver
macht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diesen Anforderungen wird dieser Gesetzentwurf nicht
gerecht.


(Dirk Manzewski [SPD]: Darüber unterhalten wir uns in zehn Jahren, Herr Kollege Funke!)


Der Zivilprozess wird durch die vorgesehene Neuordnung
schlechter und leider auch noch teurer. Der Rechtsschutz
des Bürgers wird beschnitten.


(Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch nicht!)

Die Bundesjustizministerin hatte nach der Vorlage des

ersten Referentenentwurfs und der sich anschließenden
beißenden Kritik der betroffenen Berufsverbände, also
der Richter, des Anwaltvereins und der Anwaltskammer,
zugesagt, Nachbesserungen vorzunehmen. Ich will nicht
verkennen, dass zumindest in einzelnen Punkten vorhan-
dene Giftzähne abgeschliffen worden sind. Dennoch ver-
bleiben die bürgerunfreundlichen und den Rechtsschutz
einschränkende Maßnahmen.

Der Gesetzentwurf sieht bei Berufungenweiter die al-
leinige Zuständigkeit der Oberlandesgerichte vor, was in
den Flächenstaaten zu erheblichen zeitlichen und finanzi-
ellen Belastungen der Parteien, Zeugen und Sachverstän-
digen führen wird. Die ausschließliche Zuleitung von Be-
rufungen an die Oberlandesgerichte wird gerade in den
Flächenstaaten zu einer Ausdünnung der Landgerichte
führen, die mehr und mehr unter Schließungszwang gera-
ten. Ich fürchte, dass Sie das auch so wollen. Sie wollen
nämlich die Dreistufigkeit der Instanzen haben. Das hat
die Ministerin ja schon mehrfach angekündigt. Die F.D.P.-
Fraktion lehnt dies eindeutig ab.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach wie vor beabsichtigt die Bundesjustizministerin
in der Berufungsinstanz die Abschaffung der Kollegial-
gerichte, auch wenn jetzt für einzelne Verfahren – damit
schränke ich meine Aussage ein – die Beibehaltung der
Kollegialgerichte vorgesehen wird.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: Auch falsch!)


– Vielen Dank für Ihre belehrenden Ausführungen, Frau
Ministerin. – Die Kollegialgerichte bei den Berufungsge-
richten haben sich durchaus bewährt und die Übertragung

des Rechtsstreits auf Einzelrichter hat sich, wo es sinnvoll
ist, ebenfalls bewährt, sodass kein Grund für Änderungs-
bedarf ersichtlich ist.

Die deutsche Justiz arbeitet – das haben die Kollegen
Geis und auch andere gesagt – durchaus effektiv und effi-
zient. Die Dauer der Verfahren beträgt durchschnittlich
4,6 Monate vor den Amtsgerichten. 94 Prozent aller Ver-
fahren werden vor dem Amtsgericht abgeschlossen. Der
Ruf nach Justizreformen mag gut klingen; er entspricht ei-
nem dumpfen Gefühl in der Bevölkerung. Man sollte je-
doch erst einmal Tatsachenaufklärung vornehmen, ehe
man an wohlklingende Reformvorhaben geht.


(Joachim Stünker [SPD]: Wo ist denn Herr Schmidt-Jortzig, Herr Kollege?)


Fiskalgesichtspunkte – das war immer das Hauptanlie-
gen der Länder – dürfen nicht im Vordergrund stehen,
sondern ausschließlich der Rechtsschutz des Bürgers. Die
innere Sicherheit und die Justiz sind nämlich Kernberei-
che des Staates. Eine gute Justiz darf dann auch etwas kos-
ten.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Den Gesetzentwurf, der jetzt vorgelegt worden ist,

lehnt die Bundestagsfraktion der F.D.P. ab. An Verbesse-
rungen unserer Zivilprozessordnung werden wir mitwir-
ken, nicht jedoch am Abbau des Rechtsschutzes des Bür-
gers. Diese Justizreform ist jedenfalls so überflüssig wie
ein Kropf.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1411510000
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Frau Dr. Evelyn Kenzler.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1411510100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Welche Überraschung! Nun
kam der dicke Gesetzentwurf zur großen Reform des Zi-
vilprozesses doch schneller als gedacht. Von einem
Durchbruch bei der Justizreform ist gar die Rede.

Ich erspare mir an dieser Stelle jede weitere Polemik
hinsichtlich des Zustandekommens dieses Entwurfs.
Auch möchte ich meiner Verwunderung nicht deutlicher
Ausdruck verleihen, wie mancher Gegner der Reform-
vorstellungen der Bundesjustizministerin innerhalb kür-
zester Zeit einen Einschätzungswandel von „stark re-
formbedürftig“ zu „Bestzustand der Justiz im europä-
ischen Maßstab“ vollzogen hat, ohne dass sich das
adäquat in tatsächlichen Änderungen niedergeschlagen
hat.

Doch eines ist ganz deutlich geworden: Die Justiz hat
etwas mit Interessen zu tun, aber offenbar nur wenig mit
den Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die in der bis-
herigen Diskussion als beinah beliebig einsetzbares Argu-
ment für ein Pro oder Kontra zu den einzelnen Regelun-
gen der Justizreform vorkommen.


(Beifall bei der PDS)





Rainer Funke

10983


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn der Berliner Rechtssoziologie Rottleuthner auf
einem Forum die Ansicht äußerte, dass es in der Justizge-
schichte wirklich noch in keinem Land eine Justizreform
gab, die auf irgendwelche Bedürfnisse und Artikulationen
der Bürger hin unternommen wurde, dann muss man – der
Wissenschaft Anerkennung zollend – auch einen viel-
leicht erstmalig andersartigen Gesetzentwurf einer kriti-
schen Betrachtung unterziehen.

Zunächst möchte ich aber ausdrücklich die längst über-
fällige Justizreform unterstützen. Ich darf daran erinnern,
dass die deutsche Justiz in ihrer fast 130-jährigen Ge-
schichte in den Grundstrukturen unverändert geblieben
ist. Wer da pauschal äußert, Bewährtes gelte es zu bewah-
ren, der meint wohl ehrlicherweise, Besitzstände gelte es
zu verteidigen. Wer der Ministerin vorwirft, sie wolle sich
mit dieser Reform ein Denkmal setzen, dem kann ich nur
sagen: Soll man ihr doch ein Denkmal setzen,


(Beifall bei der PDS und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alfred Hartenbach [SPD]: Das haben Sie aber schön gesagt!)


wenn ihr eine wirklich große Reform gelingt und der Zi-
vilprozess tatsächlich bürgernäher, effizienter und durch-
schaubarer wird wie versprochen.

Doch keine Angst: Zu einem Denkmal wird es nicht
kommen.


(Dirk Manzewski [SPD]: Schade!)

Dafür sorgt nicht nur die Opposition in diesem Hause,
sondern auch die vielen Juristen und ihre Verbände in un-
serem Lande, die schon lange nicht mehr so viel einigen-
den Widerstand gegen einen Justizminister – hier eine
Justizministerin – gezeigt haben.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie sind einfach zu jung, Frau Kenzler, um zu wissen, dass die immer Widerstand leisten!)


Unter dem Strich der heftig geführten Auseinanderset-
zung steht jetzt ein Gesetzentwurf, der auf Kritiken ein-
geht und der auch Nachbesserungen enthält.

Unterstützenswert ist das grundsätzliche Vorhaben, die
erste Instanz so zu stärken, dass dort die Rechtsstreitig-
keiten in der Regel erledigt werden. Für folgerichtig halte
ich in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag, die
erste Instanz mit sozial kompetenten Richtern zu beset-
zen, die ausreichend Zeit haben, um gründlich zu arbei-
ten, das Gespräch mit den Parteien zu führen, Ver-
gleichsvorschläge zu machen und verständliche Urteile zu
fällen.

Meine Zustimmung haben auch die geplanten Güte-
verhandlungen und die Möglichkeit der gütlichen Beile-
gung des Rechtsstreits in jeder Lage des Verfahrens durch
einen gerichtlichen Vergleich; denn eine einvernehmli-
che Konfliktregulierung bietet erfahrungsgemäß die beste
Möglichkeit, dauerhaft und kostengünstig Rechtsfrieden
herzustellen.

Für richtig erachte ich die Nachbesserung, dass Beru-
fungen nicht zwingend an Einzelrichter übertragen wer-
den und auch in der ersten Instanz auf bestimmten kom-

plizierten Rechtsgebieten weiterhin die Kammern tätig
werden. Wenn künftig das Gericht per Geschäftsvertei-
lungsplan selbst bestimmt, wo statt eines Einzelrichters
eine Kammer entscheiden soll, dann wäre dies nicht zu-
letzt eine Stärkung der Selbstverwaltung der Gerichte.


(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

– Danke schön, Herr Stünker. – Der Verzicht auf die um-
strittene Annahmeberufung ist sicher ebenfalls nicht zum
Schaden des Rechtsstaates.

Der sensibelste Punkt der Reform ist bekanntlich das
Rechtsmittelsystem. Hier sollten wir uns parteiübergrei-
fend einig sein, dass der Rechtsschutz der Bürger nicht da-
durch beschnitten werden darf, dass ihnen Überprü-
fungsmöglichkeiten in der zweiten Instanz genommen
werden.


(Beifall bei der PDS)

Insofern ist es richtig, dass der Entwurf davon abrückt, die
zweite Instanz auf eine reine Überprüfung von Rechts-
fehlern zu beschränken. Die jetzt vorgesehene leichte Öff-
nung, wonach nur in bestimmten Ausnahmefällen neue
Tatsachen vorgetragen werden können, dürfte jedoch
nicht ausreichend sein. Diese Regelung könnte sich in der
Praxis als eine erhebliche Beschränkung der Rechtsmittel
erweisen, von der die Gerichte extensiv Gebrauch machen
könnten. Die Verwerfungsmöglichkeit vermeintlich aus-
sichtsloser Klagen in der zweiten Instanz – ohne mündli-
che Verhandlung – hat mit Bürgerfreundlichkeit aller-
dings nach meiner Auffassung eindeutig nichts zu tun.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

Dagegen sehe ich in der Erhöhung der Chancen des Zu-

gangs zum Berufungsverfahren durch die Senkung des
Wertes des Beschwerdegegenstandes auf 1 200 DM schon
jetzt eine Verbesserung des Rechtsmittelsystems. Auch
dass die Zulässigkeit von Revisionen nicht mehr vom
Streitwert, sondern von der Bedeutung eines Falles ab-
hängen soll, ist ein Fortschritt.

Ob diese Reform allerdings zum Nulltarif zu haben ist,
wie es im Gesetzentwurf angenommen wird, ist mehr als
fraglich. Die Justizreform wird weiterer Stellen und vor
allem neu ausgebildeter Juristen bedürfen. Eine Reform
der Juristenausbildung, die die Intentionen dieser Justiz-
reform berücksichtigt, sollte deshalb nicht lange auf sich
warten lassen.


(Beifall bei der PDS)

Anderernfalls steht der Erfolg dieser Reform infrage, die
nicht ohne und schon gar nicht gegen die Akteure und ins-
besondere die künftige Juristengeneration realisiert wer-
den kann.

Die rechtsuchenden Bürger haben einen Anspruch auf
eine in jeder Beziehung bürgerfreundliche Justiz. Doch
die Bürger sollten sich der Justiz, soweit möglich, wirk-
lich nur als letzter Instanz bedienen. Bekanntlich verhält
sich die Wirtschaft, weil sie es sich leisten kann und muss,
schon seit geraumer Zeit so. Was ich sagen will: Im Inte-
resse der Bürger und auch zur Entlastung der Justiz muss
mehr zur präventiven Konfliktvermeidung getan wer-
den. Qualifizierte und spezialisierte Rechtsaufklärung,




Dr. Evelyn Kenzler
10984


(C)



(D)



(A)



(B)


die für die Bürgerinnen und Bürger unkompliziert und
kostengünstig zu erlangen ist, und außergerichtliche
Schlichtung müssen unbedingt auch weiterhin gefördert
werden.

Ich halte es auch nicht für sinnvoll – und da stimme ich
ausnahmsweise mit meinem Kollegen Herrn Geis


(Alfred Hartenbach [SPD]: Oh, das hört er aber gerne! – Joachim Stünker [SPD]: Oh, Sie enttäuschen mich!)


und auch mit Herrn Funke, wobei es da nicht ganz so aus-
nahmsweise ist, überein –, dass nach dem jetzt vorliegen-
den Koalitionsentwurf weiterhin an einem Regierungs-
entwurf zur Justizreform gebastelt wird, der dann mit wei-
teren Verbesserungen nachgeschoben wird. Entweder ist
man mit einem Gesetzentwurf fertig oder man muss seine
Arbeit erst beenden. Für Testläufe im Parlament fehlt ein-
fach die Zeit.

Apropos Testlauf: Die Simulation des Verfahrens in
Nordrhein-Westfalen war den offiziellen Mitteilungen zu-
folge nicht problemlos. Vielleicht kann die Frau Justiz-
ministerin dazu nachher auch noch etwas sagen.

Warum also, liebe Kollegen von der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen, haben Sie sich nicht die Zeit ge-
nommen, diese Erfahrungen ausreichend zu berücksichti-
gen? Nun steht zu befürchten, dass in der Praxis unnöti-
gerweise unerwünschte Effekte auftreten, die dann wieder
nachgebessert werden müssen – vielleicht kommen wir in
der Anhörung darauf zu sprechen –, und das kann nicht im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen.

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411510200
Nächster Redner ist
der Kollege Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.


Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1411510300
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei
der Bundesjustizministerin dafür bedanken, dass sie ein
so bedeutendes Gesetzgebungsverfahren wie die Zivil-
prozessreform entschlossen angepackt und in einem offe-
nen und transparenten Verfahren auf den Weg gebracht
hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wann, meine Damen und Herren, wurde jemals über
Probleme der Justiz, über Rechtsmittel und gerechte Ver-
fahren in der Fachöffentlichkeit und weit darüber hinaus
schon zu Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens so breit
und bisweilen auch heftig diskutiert wie bei der anstehen-
den Zivilprozessreform, die der erste Schritt einer grund-
legenden Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbar-
keit ist? Dies ist gut so und kann der Qualität eines so be-
deutenden Vorhabens nur dienlich sein.

Justizreform ist kein Anliegen, das nur in eingeweih-
ten Fachkreisen unter weitgehendem Ausschluss der Öf-
fentlichkeit debattiert werden kann. Nicht nur Richter,
Anwälte und die engere Fachöffentlichkeit haben einen
Anspruch darauf, sich an dieser Diskussion zu beteiligen,
Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu unter-
breiten.

Diese Diskussion, die seit der Vorstellung des Referen-
tenentwurfs durch das Justizministerium geführt worden
ist, hat zu vielen bedenkenswerten Verbesserungsvor-
schlägen geführt. Sie hat ihren Niederschlag in dem jetzt
vorliegenden Koalitionsentwurf gefunden. Das ist hier
schon erwähnt worden.

Nicht diejenigen, die in oft überzogener Fundamental-
kritik alle Reformvorschläge abgelehnt haben und gera-
dezu paradiesische Zustände einer längst reformbedürfti-
gen Ziviljustiz an die Wand gemalt haben, haben sich
Gehör verschafft, sondern diejenigen, die mit fachlich
fundierten und ausgefeilten Vorschlägen zur Fortschrei-
bung des Referentenentwurfs beigetragen haben.


(Beifall bei der SPD)

Wenn man wie ich über mehrere Legislaturperioden

hinweg immer wieder erleben musste, dass durch regel-
mäßig wiederkehrende Rechtspflegevereinfachungs-
gesetze – der Kollege Stünker hat schon darauf hingewie-
sen – ohne viel Federlesen an der Streitwertschraube ge-
dreht wurde, um die gewünschten Entlastungseffekte zu
erzielen, ist man von manchen Tönen in der jetzt geführ-
ten Diskussion schon etwas überrascht.

In der letzten Legislaturperiode – darauf ist hingewie-
sen worden – wären um Haaresbreite der originär zustän-
dige Einzelrichter bis zu einem Streitwert von 30 000DM,
der allein entscheidende Einzelrichter in Berufungs- und
Beschwerdeverfahren beim Landgericht, die Erhöhung
der Berufungssumme auf 2 000 DM und die Möglichkeit,
Berufungen bis zu einem Streitwert von 60 000 DM durch
einstimmigen Beschluss abzulehnen, fester Bestandteil
der Zivilprozessordnung geworden.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Genau so ist es!)

Wo waren da eigentlich diejenigen, die heute so lautstark
Kritik an diesen Entwürfen üben?

Durch die Strategie der früheren Rechtspflegevereinfa-
chungsgesetze waren wir auf dem nicht ungefährlichen
Weg, eine Art Zweiklassenjustiz zu schaffen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Wir haben eine hervorragende Justiz!)


bei der die oft so wichtigen Streitfälle des täglichen Le-
bens kaum noch die Chance gehabt hätten, durch eine
weitere Instanz geprüft zu werden, während den Verfah-
ren mit den höheren Streitwerten nach wie vor sämtliche
Instanzen unseres durchgegliederten Justizsystems zur
Verfügung gestanden hätten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411510400
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?




Dr. Evelyn Kenzler

10985


(C)



(D)



(A)



(B)



Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1411510500
Ja, gerne.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1411510600

Herr Kollege Bachmaier, wir sind ja fast im selben Jus-
tizsprengel. Sie haben sich bei diesem verhinderten Ge-
setz besonders dafür eingesetzt, dass die Amtsgerichte die
Handelsregisterhoheit behalten. Sie haben die Amtsge-
richte offenbar lieb gewonnen.


Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1411510700
Ja!


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1411510800

Würden Sie mir zustimmen, dass bei dem jetzigen Ge-
setzentwurf im Grunde genommen die Dreistufigkeit vor-
geplant ist und dass man dann – auch das ist eine Frage
der Bürgernähe – bei der Berufung statt, wie bisher, zum
Beispiel von Ihrem Amtsgericht Crailsheim 20 Kilometer
bis zum Landgericht Ellwangen in Zukunft 120 oder
130Kilometer bis zum Oberlandesgericht Stuttgart fahren
muss? Wie wollen Sie das Ihrer Klientel und der Bevöl-
kerung Ihres Kreises klarmachen?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das bringt er fertig!)



Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1411510900
Herr Kollege
Dr. von Stetten, ich bin dankbar für diese Frage, zumal der
uns beiden wohl bekannte Chef des Amtsgerichtes Crails-
heim diesem Reformvorhaben heute in der Lokalpresse
großes Lob gezollt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind alte Seilschaften! – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Er hat sicher den Gesetzentwurf nicht gehabt!)


Dieser Amtsgerichtsdirektor steht nicht in der Gefahr, als
Sozialdemokrat verdächtigt zu werden. Das ist der erste
Punkt.

Der zweite Punkt. Sie wissen genau wie ich, dass man
in Familienstreitsachen, zum Beispiel im Unterhaltsstreit,
auch zwischen Parteien, die nicht unbedingt zu den begü-
tertsten gehören, seit über 20 Jahren ganz selbstverständ-
lich zum Oberlandesgericht Stuttgart fährt.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist doch keine Begründung!)


Ich meine, das ist der Qualität der Rechtsprechung vor Ort
nicht schlecht bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich könnte vieles dazu sagen, aber ich lasse es!)


Für gute Zwischenfragen ist man immer dankbar.
Der Streitwert alleine aber ist kein hinreichendes Kri-

terium, um die Bedeutung eines Zivilverfahrens zu be-
werten und zu ermessen. Beträge, die die einen aus der
Portokasse entrichten können, sind für andere von exis-
tenzieller Bedeutung und müssen auch von den Gerichten
entsprechend behandelt werden.

Der vorliegende Entwurf macht Schluss mit dem stän-
digen Drehen an der Streitwertschraube. Dieser Gesetz-
entwurf fördert durch neu gewichtete Instrumentarien des
Zivilprozessrechtes das erstrebenswerte Ziel, möglichst
in der ersten Instanz zu einem vernünftigen und gerechten
Ergebnis zu kommen.

Diesem Ziel dienen umfassende Aufklärungspflich-
ten und ein sich daraus ergebendes höchst transparentes
Verfahren, das den Prozessbeteiligten in weit größerem
Umfange als heute die Möglichkeit bietet, Fehleinschät-
zungen schon innerhalb der ersten Instanz zu korrigieren
und damit zu einer umfassenden Prüfung des Streitgegen-
standes beizutragen. Das Ergebnis werden zahlreichere
gütliche Streitbeilegungen sein, deren Gerechtigkeitsge-
halt von beiden Seiten akzeptiert werden wird.

Ich kann nicht verstehen, dass von richterlicher Seite
mit dem Hinweis, dass dies in aller Regel schon heute ge-
schehe und deshalb nicht noch gesetzlich festgeschrieben
werden müsse, wieder Klage über die erweiterten Aufklä-
rungspflichten gemäß § 139 des Entwurfes geführt wird.
Wenn das so ist, dann können auf diejenigen Richterinnen
und Richter, die sich schon heute so vorbildlich verhalten,
keine zusätzlichen Belastungen, zukommen.

Mit dem Entwurf in seiner jetzigen Fassung werden
aber auch im Rahmen der zweiten Instanz, die meines Er-
achtens aus gutem Grunde beim Oberlandesgericht kon-
zentriert wird, vernünftige Überprüfungs- und Kor-
rekturmöglichkeiten geschaffen.

Die nach Vorlage des Referentenentwurfes geführte
Diskussion hat mit dazu beigetragen, neben einer umfas-
senden Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf
Rechtsfehler umstrittene und zweifelhafte Tatsachenfest-
stellungen der ersten Instanz auf den Prüfstand der Beru-
fungsinstanz zu nehmen; Herr Geis hat dankenswerter-
weise darauf hingewiesen. Damit ist eine umfassende
Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf jedwede
Mängel hin gewährleistet.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein!)

Mit diesem Entwurf blieb man aber aus gutem Grunde

dabei, den Weg in die zweite Instanz, Herr Geis, nur dann
zu eröffnen, wenn tatsächlich Korrekturbedarf an der erst-
instanzlichen Entscheidung besteht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Eben!)

Diesem Ziel dient der vorgeschaltete Filter durch den Be-
rufungssenat. Er erhält die Befugnis, nach vorherigem be-
gründeten Hinweis und der Möglichkeit der Parteien,
dazu Stellung zu nehmen, das Berufungsrechtsmittel ein-
stimmig dann zu verwerfen, wenn es keinerlei Erfolgs-
chancen gibt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber sehr umständlich!)


– Transparenz haben Sie noch nie gemocht; das zeigen
auch Ihre Zurufe.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist gar nicht wahr!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Auch die Abschaffung der Streitwertrevision ist über-
fällig. Denn wir wollen Ernst machen mit der Forderung,
für alle Verfahren, die über einen Bagatellstreitwert
hinausgehen, gleiche prozessuale Instrumentarien zur
Verfügung zu stellen. Damit beseitigen wir die bisheri-
ge willkürliche Grenze des Revisionsstreitwertes von
60 000 DM.

Ich halte es für eine sinnvolle und gute Aufgabenzu-
weisung, einerseits eine Kammerbefassung beim Land-
gericht dann vorzusehen, wenn einzelne Kammern mit
Schwerpunktaufgaben betraut sind, und andererseits im
Übrigen den originären Einzelrichter mit dem erst-
instanzlichen Verfahren zu betrauen. Der neu zu fassende
§ 348 der ZPO legt es weitgehend in die Hand der einzel-
nen Landgerichte, in welchem Umfange Kammern und in
welchem Umfange originäre Einzelrichter für das erst-
instanzliche Verfahren bei den Landgerichten zuständig
sind.

Ich möchte die hohe Kompetenz der Zivilkammern
nicht infrage stellen. Es sollte aber nicht verkannt werden,
dass Einzelrichterinnen und Einzelrichter den Prozess-
stoff auch bei hohen Streitwerten häufig im Dialog mit
den Prozessbeteiligten einer gerechten und von den Par-
teien akzeptierten Lösung zuführen. Die uns vorliegenden
Zahlen und vielfältige eigene Erfahrungen als Anwalt bei
der Betreuung von Zivilprozessen untermauern diese
Feststellung.

Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor prak-
tizierender Anwalt und vertrete nicht selten Parteien, de-
ren Geldbeutel nicht gerade prall gefüllt ist. Auch deshalb
bin ich überzeugt davon, dass der jetzt vorliegende Ent-
wurf mit den darin gefundenen Lösungen wieder zu mehr
Verfahrensgerechtigkeit führt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Oje! Da stehen Sie aber ziemlich allein!)


Denn wir werden damit zügiger zu gerechten Lösungen
kommen und wir räumen den Rechtsuchenden wieder die
gleichen prozessualen Möglichkeiten ein, die sie unab-
hängig von der Höhe des Streitwertes für ihre Verfahren
beanspruchen können. Das ist eines der entscheidenden
Ziele dieses Entwurfes. Damit wird endlich Ernst ge-
macht. Wie gesagt, wir wollen keine Zweiklassenjustiz,
einerseits für die Verfahren de luxe und andererseits für
die Verfahren des täglichen Lebens.

Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411511000
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU-
Fraktion.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1411511100
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die rechtsstaat-
liche Ausgestaltung des Zivilprozesses geht nicht nur An-

wälte, Richterinnen und Richter an, sondern alle Bürger in
unserem Lande. Ungefähr 4 Millionen Bürgerinnen und
Bürger führen jedes Jahr einen Zivilprozess. So viele
Menschen sind also von Ihrem Projekt betroffen. Es ist
natürlich ein Vorteil für Sie, dass viele noch gar nicht da-
ran denken, vielleicht in einigen Monaten einen solchen
Prozess führen zu müssen. Trotzdem ist es eine wichtige
Frage, ob Bürgerrechtlichkeit in unserem Land durch Ihr
Projekt gefördert oder behindert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ein faires, effektives Verfahren, das die Akzeptanz der
Bürger findet und für Rechtsfrieden sorgt, beruht immer
auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müs-
sen wir darüber reden, ob die Rechtsstaatlichkeit geför-
dert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nach Ihren Plänen, den Plänen der rot-grünen Bundes-
regierung, wird die rechtsstaatliche Qualität des Zivilpro-
zesses ausgehöhlt;


(Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch absoluter Unsinn! Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet!)


denn Sie verringern den gerichtlichen Rechtsschutz des
einzelnen Bürgers in massiver Weise und belasten den Zi-
vilprozess mit praxisferner Formalisierung und Bürokra-
tisierung. Das ist das einhellige Urteil der Bundesrechts-
anwaltskammer, des Deutschen Anwaltvereins, des Rich-
terbundes und der Wirtschaftsverbände:


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


Dies ist ein rechtsstaatsfeindliches Projekt.

(Hermann Bachmaier [SPD]: Sie müssen ein mal in unseren Entwurf hineinschauen!)

Ihr Referentenentwurf wurde seitens der Gesellschaft

einhellig kritisiert. Wir waren doch dabei. Und es ist nicht
sinnvoll, etwas zu bestreiten, was jeder weiß. Mit dem
Versuch, so zu tun, als hätten Sie diese Kritik in Ihren
Gesetzentwurf einfließen lassen, betreiben Sie gezielt ein
Täuschungsmanöver. Sie haben sich getreu Ihrem allge-
meinen Regierungsmotto verhalten: Sie haben in diesem
Gesetzentwurf einiges anders, aber nichts besser gemacht.
Denn Sie sind nur scheinbar auf die Kritik eingegangen.

Ich will meine gerade vorgetragene Einschätzung an
einigen Punkten konkret festmachen.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich aber sehr gespannt!)


Die Axt wird insbesondere beim Berufungsverfahren
angelegt. Darum einige Bemerkungen zur Bedeutung die-
ses Verfahrens: Das Berufungsverfahren ist für die Qua-
litätssicherung schon in der ersten Instanz wichtig. Das
Wissen des erstinstanzlichen Richters und des Gerichts,
dass es eine effektive Berufung gibt, ist wichtig für die




Hermann Bachmaier

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(C)



(D)



(A)



(B)


Qualität des erstinstanzlichen Urteils. Dies hat eine
präventive Wirkung; das ist völlig unbestritten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreitet auch niemand!)


Das Wichtigste an der Berufung aber ist – ich bin als
Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht zugelassen und
höre, was diejenigen, die eine jahrzehntelange Beru-
fungserfahrung haben, sagen –, dass die unterlegene Par-
tei noch einmal vortragen kann und gehört werden kann.
Natürlich will sie Recht bekommen. Das Wichtigste
aber im Sinne des Rechtsfriedens – und nur einer kann
Recht bekommen – ist, dass sie den Sachverhalt noch ein-
mal vortragen kann, weil der erstinstanzliche Richter sie
möglicherweise nicht verstanden hat.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Das kann er nach dem Entwurf!)


Genau da aber setzen Sie an. Diese Möglichkeit beseiti-
gen Sie, obwohl sie in der Praxis Erfolge aufweist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Natürlich leben wir nicht im Paradies, es gibt Verbes-
serungsbedarf. Im europäischen Vergleich aber haben wir
Spitzenwerte zu verzeichnen. Von 1,6 Millionen Amts-
gerichtsprozessen pro Jahr werden 94 Prozent rechtskräf-
tig abgeschlossen, und zwar in einer durchschnittlichen
Bearbeitungszeit von viereinhalb Monaten. Dies werden
Sie beeinträchtigen; Sie werden den Prozess verlangsa-
men. Das wird das Ergebnis sein.

Warum wird es dazu kommen? Wir müssen uns fragen,
was die Konzentration aller Berufungen beim Oberlan-
desgericht für die Bürger bedeutet; denn ich glaube, dass
wir dieses Projekt aus der Perspektive des Bürgers beur-
teilen müssen. Ich sage Ihnen, was das heißt, was rot-
grüne Bürgernähe bedeutet.

Nehmen Sie den Fall eines Häuslebauers aus Buchen
im Odenwald, der Ärger mit seinen Handwerkern hatte.
Er musste nach gegenwärtiger Rechtslage für die Beru-
fung zum nahe gelegenen Landgericht Mosbach; das ist
nur einige Kilometer entfernt. Wenn es nach Rot-Grün
geht, muss dieser Häuslebauer in Zukunft über 100 Kilo-
meter zum Oberlandesgericht nach Karlsruhe fahren. Ist
das Bürgernähe, meine Damen und Herren?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Norbert Geis [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! Bürgerferne ist das!)


Sie entfernen die Justiz geradezu von dem Bürger. Das ist
rot-grüne Bürgernähe – Bürgerferne, versteckt unter ei-
nem anderen Etikett. Sie betreiben ein Täuschungs-
manöver.

Natürlich ist das Ganze auch – das füge ich in Paren-
these an – eine parteipolitische Auseinandersetzung,
meine Damen und Herren. Aber ich sage jetzt einmal in
ruhigem Ton – ich hoffe, Sie nehmen es mir ab; ein biss-

chen kennen wir uns ja –: Sie legen die Axt an die rechts-
staatliche Qualität des Zivilprozesses.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein zweites Beispiel: Sie haben zwar das Annahme-

verfahren im Zusammenhang mit Berufungsverfahren be-
seitigt, aber die Möglichkeit geschaffen, dass über die Be-
rufung nicht in der Sache, sondern folgendermaßen ent-
schieden wird: Der erstinstanzlich Unterlegene legt
Berufung ein und das Berufungsgericht kann, ohne dass
eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben wäre, auf-
grund einer Prognose unanfechtbar dem Bürger kurz
schriftlich mitteilen, dass über seine Sache nicht mehr ge-
redet werde. Das ist Schreibtischjustiz!


(Hermann Bachmaier [SPD]: Jetzt schlägt‘s dreizehn! Das ist ja der Hammer!)


Das ist rot-grüne Transparenz, wenn der Bürger nicht ein-
mal die Möglichkeit hat, sein Anliegen noch einmal vor-
zutragen! Vom Schreibtisch wird ihm kurz schriftlich be-
schieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. So sieht
rot-grüne Bürgerfreundlichkeit aus.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411511200
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das könnte böse für Sie werden, Herr Röttgen!)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1411511300
Ja, gerne.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411511400
Herr Kollege Röttgen, so
temperamentvoll und auch so polemisch wie heute habe
ich Sie noch gar nicht erlebt.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1411511500
Sehr sachlich!


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411511600
Das ist ein völlig neuer Ein-
druck.

Stimmen Sie mir zu, dass Sie genau das 1998 hier im
Deutschen Bundestag beschlossen haben?


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1411511700
Nein. Ich komme
gleich dazu.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1411511800
Doch. Im damaligen Ent-
wurf stand, dass bei Berufungen bis zum Streitwert bis zu
60 000 DM die Berufung im Beschlusswege als offen-
sichtlich unbegründet verworfen werden kann. 1998
wurde dieses Gesetz hier beschlossen. Es erlangte nur
deshalb keine Rechtskraft, weil die Geschichte mit den
Handelsregistern hinzugekommen ist. Das war damals
das einzige Hindernis. Jetzt brandmarken Sie das als rot-
grüne Chaospolitik. Können Sie sich dazu einmal erklä-
ren?




Norbert Röttgen
10988


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1411511900
„Rot-grüne Chaos-
politik“ ist ein interessanter Begriff. Ich habe ihn noch
nicht verwendet.


(Heiterkeit und Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU])


Aber wenn Sie ihn selber verwenden, spricht aus dieser
Assoziation einiges, was Ihre wirkliche Einschätzung an-
belangt.

Ich stelle in den Diskussionen immer wieder fest, dass
Sie von Ihrem Gesetzentwurf ablenken. Sie verteidigen
diesen Referentenentwurf nicht, sondern sagen, dass es
noch einen anderen Vorschlag gebe, den Sie auch nicht
wollten. Wenn Sie hinter diesem Gesetzentwurf, der ja
nicht von Ihnen stammt, aber aus taktischen Gründen von
Ihnen eingebracht wird, stehen und ihn für richtig halten –
ich verfolge Ihre Logik in der Argumentation weiter – und
dann sagen, wir hätten in der letzten Legislaturperiode das
Gleiche vorgeschlagen, was ich bestreite – wir hatten ein
Gesamtkonzept vorgeschlagen –,


(Lachen bei der SPD – Hermann Bachmaier [SPD]: Das war Stückwerk!)


dann frage ich Sie: Warum haben Sie denn, wenn es das
Gleiche war, nicht zugestimmt? Dann hätten Sie in der
letzten Legislaturperiode doch zustimmen können.


(Joachim Stünker [SPD]: Das haben meine Kollegen ja!)


– Das haben sie nicht getan. Wir haben ein Gesamtkon-
zept vorgelegt.

Ich bestreite übrigens nicht den punktuellen Verbesse-
rungsbedarf in der Justiz. Sie versuchen, Geld zu sparen.
Aber Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Justizminister
werden Ihnen vorrechnen, dass Sie die Justiz teurer ma-
chen und auch noch den Rechtsschutz der Bürger verkür-
zen.

Ich nenne ein drittes konkretes Beispiel dafür, dass Sie
den Rechtsschutz der Bürger beschneiden: Sie schaffen
die Revision beim Bundesgerichtshof als Mittel des In-
dividualrechtsschutzes ab; Kollege Geis hat es schon ge-
sagt. In Zukunft wird die Revision nicht mehr dazu da
sein, die individuellen Rechte der Bürger zu schützen. Es
kann sein, dass ein Bürger nach der Berufung – da kann
es um 100 000 DM, 1 Million DM oder 10 Millionen DM
gehen – Revision einlegt. Der BGH könnte die Auffas-
sung vertreten, das Urteil des Oberlandesgerichtes sei
falsch, der Revisionsführer sei zu Unrecht zu einer Leis-
tung von 10 Millionen DM verurteilt worden. Da dieser
Fall nach dem neuen Gesetz aber keine grundsätzliche
Bedeutung hat, hat der BGH keine Möglichkeit mehr, auf
diesen Fall zuzugreifen. Das ist eine wirklich eklatante
Verletzung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit. Sie
schaffen die Revision als Mittel des Individualrechts-
schutzes ab. Das ist rot-grüne Bürgerfreundlichkeit,
meine Damen und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Stimmt doch gar nicht! – Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Natürlich! – Joachim Stünker [SPD]: Sie haben nichts gelesen!)


– Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist so.
Die gesamte Fachwelt, die Richter, die Anwälte und die
Wissenschaftler sagen Ihnen das.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Es ist wirklich schwer, Sie ernst zu nehmen!)


Alle sagen es Ihnen, nur, Sie nehmen es nicht zur Kennt-
nis. Sie können sich natürlich als Betonfraktion aufführen,
aber Sie werden damit keinen Erfolg haben.


(Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])

– Ich war noch vor kurzem mit Ihrem niedersächsischen
Justizminister, der das übrigens auch nicht verteidigt, da;
das wollte ich nur nebenbei sagen.

Die erste Instanz, die bislang erfolgreich ist, wird durch
Formalisierungen, Hinweispflichten und Dokumentati-
onspflichten aufgebläht. Das wird dazu führen, dass jetzt
alles erstinstanzlich vorgetragen werden muss. Das führt
zur Verlangsamung der Justiz, die bis jetzt gut funktio-
niert. Die Richter sagen uns: Erhaltet uns unsere Flexibi-
lität. Es ist rot-grüne Effizienz, die Verfahren schwieriger,
bürokratischer und langsamer werden zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Von der Einschränkung der Prüfung des Tatsachenvor-

trags in der Berufungsinstanz ist schon gesprochen wor-
den. Sie wird dazu führen, dass in der Berufung nicht
mehr über die Sache, sondern über Formalien gestritten
wird: Wurde erstinstanzlich richtig belehrt? Ist der Hin-
weis dokumentiert worden? Es wird nur noch über die
Formalien und nicht mehr über die Sache gestritten, und
das werden die Bürger nicht verstehen. In zweiter Instanz
wird der Zeuge nicht mehr gehört, sondern es wird da-
rüber gestritten werden, ob er in der ersten Instanz richtig
angehört worden ist.

Das verstehen die Bürger nicht. Sie fragen: Warum darf
ich hier nicht reden? Sie verbieten dem Bürger den Mund
vor Gericht. Das ist das Kernanliegen Ihres Vorhabens,
das ist Ihr Kerninstrument.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Er soll nichts mehr sagen. Das ist Rechtspolitik à la Rot-
Grün.

Das ist eine Reform gegen die Anwältinnen und An-
wälte in unserem Land. Hundertausend Anwälte in unse-
rem Land haben das so artikuliert. Es ist eine Reform ge-
gen die Richterinnen und Richter. Es ist eine Reform ge-
gen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Es ist
eine bürgerfeindliche Reform. Sie können sie verabschie-
den, sie wird aber keinen Bestand haben. Ein derartiges
Projekt ist nicht bestandsfähig, und das wissen Sie auch.
Sie reden anders, als Sie es wissen; dafür kenne ich Sie gut
genug.

Es ist doch interessant, dass sich jetzt diejenigen, die
sich sonst immer als Rechtsstaatsparteien gerieren,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anders als der Herr Kanther zum Beispiel!)







(C)



(D)



(A)



(B)


nämlich die Grünen und die SPD, hier als Betonfraktio-
nen aufführen. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiel steht.
Das ist der Preis, den Sie für ein Prestigeobjekt der Bun-
desjustizministerin zahlen müssen.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin: Jetzt wissen wir es!)


Wenn Sie als Betonfraktion sekundieren und sich Ihren ei-
genen Verstand und Ihre eigene Meinung verbieten las-
sen, werden Sie dafür als Grüne und SPD einen hohen po-
litischen Preis zahlen müssen.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Blutzoll!)

Sie brauchen sich als Parteien des rechtsstaatlichen
Schutzes der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr blicken
zu lassen. Das wird Ihnen keiner mehr abnehmen. Da-
rüber werden wir die öffentliche Debatte führen.

Die Vernunft sollte bei Ihnen wieder einkehren. Reden
wir über vernünftigen punktuellen Reformbedarf! Dieses
Vorhaben aber, das sich gegen die Bürger, gegen den
Rechtsschutz der Bürger vor Gericht wendet, wird unsere
scharfe Ablehnung erfahren. Es findet auch die scharfe
Ablehnung innerhalb der gesamten Gesellschaft und der
Gruppierungen, die sich mit dem Zivilprozess befassen.

Ändern Sie Ihre Haltung! Kehren Sie zur Vernunft
zurück, dann wird es auch eine vernünftige Reform ge-
ben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512000
Nächster Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege
Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der ers-
ten Lesung des Gesetzentwurfs eine neue, moderne und
ausgewogene Zivilprozessordnung auf den Weg bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein Vorhaben, das die Vorgängerregierung nur sehr
halbherzig in Angriff genommen hat, nimmt unter Rot-
Grün nunmehr konkrete Gestalt an und wird zu einer Viel-
zahl von Verbesserungen führen. Viel mehr Verfahren als
bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden,
und zwar endgültig bereits in erster Instanz. Dies kommt
vor allem den rechtsuchenden Bürger zugute.

Wenn durch die Justiz bekanntermaßen leider nicht im-
mer allseits befriedigende Gerechtigkeit geschaffen wer-
den kann, so ist es doch schnelle Rechtsklarheit, die Klä-
ger und Beklagte von der Justiz erwarten können, und
zwar schon in erster Instanz. Es gibt kein meist unbe-
gründetes und damit sinnloses Hoffen auf eine zweite In-
stanz, kein unnützes Verschleudern von Zeit, Geld und
Nerven. Die finanzschwächere Prozesspartei muss keine
Angst haben, wegen des vom finanzstarken Gegner ange-
drohten Marsches durch die Instanzen die Segel streichen

und berechtigte Forderungen in den Wind schreiben zu
müssen.

Bewerkstelligt wird dies durch die schon mehrfach an-
gesprochene Stärkung der ersten Instanz – die mir als
ehemaligem Richter besonders am Herzen liegt – verbun-
den mit der Möglichkeit, aussichtslose Berufungen
zukünftig wesentlich schneller als nach der bisherigen
Gesetzeslage zu erledigen.

Diese Errungenschaft wird nicht nur – wie schon von
meinen Vorrednern mehrfach dargestellt wurde – ohne
Rechtsbeschränkungen der Prozessparteien festgeschrie-
ben. Gegenteilige Äußerungen sind schlichtweg falsch.
Vielmehr wird damit zusätzlich ein transparenteres und
gerechteres Rechtsmittelsystem geschaffen. Es kommt zu
einer klaren Gliederung in Eingangsgerichte, nämlich
Amts- und Landgerichte, in die Berufungsinstanz Ober-
landesgericht und in die Revisionsinstanz BGH, so ähn-
lich, wie es heute schon in Familien- und Mietsachen der
Fall ist.

Kerngedanke der Reform ist – auch dies wurde schon
mehrfach gesagt – die Stärkung der Eingangsgerichte
mit dem Ziel, in erster Instanz den dem Rechtsstreit zu-
grunde liegenden Sachverhalt möglichst umfassend und
sorgfältig zu ermitteln und darüber rechtlich zu entschei-
den, sofern nicht bereits durch die vorgeschaltete Güte-
verhandlung einverständlich Rechtsfrieden geschaffen
werden konnte.

Das heißt aber auch, dass dort die Richterzahl erhöht
werden muss, um das Reformziel erreichen zu können.
700 oder 800 Fälle pro Jahr – über so viele Fälle hat ein
Amtsrichter heute im Durchschnitt zu entscheiden – las-
sen keine sorgfältige Arbeit mehr zu. Hier ist eine perso-
nelle Stärkung zwingend geboten. Angesichts dessen
wundere ich mich schon etwas, wenn ich zumindest in
Bayern ständig erlebe, dass CSU-Kollegen aus dem Bun-
destag inzwischen häufig mit ihren örtlichen Mandatsträ-
gerkollegen durch das Land tingeln und dort das Gespenst
der angeblich als Folge der rot-grünen Reform notwendi-
gen Auflösung von 50 Prozent aller Amtsgerichte sowie
sämtlicher amtsgerichtlicher Zweigstellen an die Wand
malen. Meine Damen und Herren, da haben Sie aber die
Intention dieser Reform gründlich missverstanden:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Stärkung ist angesagt, nicht Schwächung.

Überhaupt ist die Gerichtsorganisation Ländersache
und wird durch diese ZPO-Reform in keiner Weise
berührt. Ich vertrete entschieden die Ansicht, dass die Ein-
gangsgerichte wohnortnah sein müssen. Es ist richtig,
dass die Zahl der Berufungsgerichte durch die Konzen-
tration bei den Oberlandesgerichten reduziert wird. Bei
Miet- und Familiensachen ist dies schon lange so und
nichts hindert die für die Gerichtsorganisation zuständi-
gen Länder, deren Zahl zu vergrößern oder aber auswär-
tige Senate einzurichten, wie dies vielfach schon der Fall
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Norbert Röttgen
10990


(C)



(D)



(A)



(B)


Nachdem der Kern dieser Reform auf der Basis beruht,
die die noch von der früheren Bundesregierung einge-
setzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet hat, deren
Vorsitz bekanntlich ein Vertreter des CSU-geführten
Bayerischen Staatsministeriums der Justiz innehatte,
hätte ich eigentlich mit etwas mehr Zustimmung seitens
der CDU/CSU-Fraktion gerechnet. Aber Sie haben ja
noch Zeit. Sie können es sich noch überlegen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Joachim Stünker [SPD]: Die Sachlichkeit ist bei der CDU/CSU ausgeschlossen! Die machen Fundamentalopposition! Der Merz hat die Devise ausgegeben: Jetzt gegen alles!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512100
Jetzt spricht der Jus-
tizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Ulrich
Goll.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512200
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Eile, mit der der Entwurf über die Bühne gebracht werden
soll, ist verdächtig. Dies muss natürlich insbesondere im
Hinblick darauf Verdacht erregen, dass es darum gehen
könnte, lästige Kritiker abzuschütteln, indem man jetzt
Festlegungen trifft, und sozusagen die Pflöcke einschlägt.
Ein solches Verfahren ist verhängnisvoll, da die Kritiker
in der Sache Recht haben und da sie aus den Ländern
kommen, und zwar ohne Rücksicht auf die Zusammen-
setzung der Regierungen dort. Was Sie hier beschließen,
müssen wir in den Ländern umsetzen.

Ich nehme an, dass Sie genau wie wir eine Synopse der
wesentlichen Punkte der zunächst vorgelegten Reform er-
stellt haben. Wir haben geprüft: Wer ist dafür – Pluszei-
chen –, wer ist dagegen – Minuszeichen –, wer enthält
sich? Ich hoffe, Sie haben das genauso geprüft wie wir.
Dann wissen Sie, dass es viele waagerechte Striche gab,
also Minuszeichen, einige Enthaltungen und ganz wenige
Pluszeichen. Sie haben darauf reagiert und einen neuen
Entwurf vorgelegt, allerdings in einem Hauruckverfah-
ren, wie ich es empfinde.

Obwohl ich für ein Land spreche, das diese Reform
umzusetzen hat, bin ich nicht in der Lage, Ihnen schon
jetzt zu sagen, wie sie sich in der Praxis auswirkt. Wir ha-
ben bei dem Simulationstest in Nordrhein-Westfalen ge-
merkt, dass es auf die Details ankommt und dass man das
erst einmal ausprobieren muss. Ich kenne diesen Entwurf
erst seit einer Woche.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann brauchen Sie jetzt nicht zu reden!)


– Ich muss deswegen zu diesem Entwurf reden, weil Sie
ihn in den Bundestag einbringen. Genau das kritisiere ich;


(Hans-Christian Ströbele DIE GRÜNEN: Wenn Sie es nicht gelesen haben!)


denn Sie wollten mit diesem Verfahren erreichen, dass an-
dere, deren Stimme Sie offensichtlich überhören möch-
ten, nicht mitreden können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber schon jetzt kann ich Ihnen ganz sicher sagen: Ei-

nes kann in diesem Entwurf so nicht stehen bleiben und
das ist die Konzentration der Rechtsmittel beim Ober-
landesgericht, die Verlagerung der Berufungsverfahren
auf das Oberlandesgericht.

Haben Sie eigentlich schon einmal ausgerechnet, was
das kostet? Wir haben das getan. Nehmen Sie zum Bei-
spiel die Stadt Ravensburg – kein flaches Land –, eine
schöne, alte Stadt am Bodensee.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahr! Die kenne ich!)


Sie hat viele Einwohner, ein Amtsgericht, ein Landge-
richt. Gehen wir von einem Fall mit einem Streitwert von
5 000 DM aus. Es gibt Parteien, Anwälte, Zeugen. Wenn
Sie die Berufung nach Stuttgart verlagern, dann ergeben
sich allein 2 000 DM Reisekosten. Das ist die heutige
Rechnung.


(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So teuer ist das? – Zurufe von der SPD: Fahren Sie mit Chauffeur? – Sie müssen einmal mit Herrn Mehdorn reden!)


– Sie können unsere Zahlen gerne überprüfen. Ich will Ih-
nen nur vor Augen führen, wie sich das, was Sie be-
schließen möchten, in den Ländern auswirkt. Sie können
natürlich dazwischenrufen und sich die Ohren zuhalten,
aber das sind die Zahlen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nehmen Sie einmal die Berufungsverfahren, die bei
uns ans OLG verlagert werden müssten. Ich ziehe alle
Verfahren ab, die ohnehin in Karlsruhe und Stuttgart lau-
fen; weitere Wege gibt es nicht. Ich ziehe die Verfahren
ab, in denen es keine mündliche Verhandlung gibt. Dann
bleiben etwa 4 000 Fälle übrig. Ich setze etwa die Hälfte
der Last des Ravensburger Falls an; das ist, glaube ich,
eine zurückhaltende Rechnung. Heraus kommen an die
3 Millionen DM, die die Parteien für Ihr neues Beru-
fungsverfahren zu tragen haben. Damit ist nun wirklich
alles zum Thema Bürgernähe gesagt, das Sie vorhin uns
näher zu bringen versucht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU – Hermann Bachmaier [SPD]: In Ravensburg können Sie einen Außensenat machen!)


Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Grund, den Sie
nicht unterschätzen dürfen. Wenn Sie in der Berufungs-
instanz weitere Beweisaufnahmen durchführen, was ein
richtiger Schritt ist, wenn Sie in der Berufungsinstanz Tat-
sachenüberprüfungen zulassen, dann müssen Sie diese In-
stanz in der Nähe lassen. Sie sollte zum Beispiel die örtli-
chen Verhältnisse kennen. Wenn Sie in zweiter Instanz
Beweisaufnahmen vorsehen, dann müssen Sie eigentlich
schon aus einer inneren Logik heraus das Verfahren bei




Helmut Wilhelm (Amberg)


10991


(C)



(D)



(A)



(B)


den Landgerichten belassen, weil sich die Oberlandesge-
richte da nicht genug auskennen und bei der Tatsachen-
überprüfung einen erhöhten Aufwand betreiben müssen.

Die Dreistufigkeit erscheint am Horizont. Es gibt
keine einzige klare Äußerung, mit der Sie sich von der
Dreistufigkeit distanziert haben. Diese Konzentration der
Rechtsmittel beim OLG geht in Richtung Dreistufigkeit.
Wenn Sie all Ihre Reformschritte verwirklicht haben,
wäre es konsequent, ein einheitliches Eingangsgericht
vorzusehen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512300
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512400

Natürlich.


Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1411512500
Herr Minister,
Sie haben eben die Probleme mit der Verlagerung der Be-
rufungsverfahren zu den Oberlandesgerichten geschil-
dert. Nun kennen Sie sich gerade in Freiburg sehr gut aus,
wo Sie als Landtagskandidat antreten werden. Deshalb
die Frage gezielt zu Freiburg: Sind Sie mit mir der Auf-
fassung, dass die Außensenate des Oberlandesgerichts
Karlsruhe in Freiburg sehr gut funktionieren? Sind Sie
nicht auch der Meinung, dass dieses Modell die von Ihnen
geäußerten Befürchtungen gegenstandslos machen kann
und wird?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512600
Ich
kenne dieses noble Angebot, Außenstellen zu bilden.
Dieses Angebot haben Sie auch gemacht, als noch über
die Amtsgerichte bzw. das Eingangsgericht diskutiert
wurde. Sie haben gesagt: Wir können die Amtsgerichte zu
Außenstellen machen. Diese Diskussion haben Sie mei-
ner Meinung nach nur vorübergehend abgestellt. Das
Ganze kommt mir so vor, als wenn irgendjemand ein Ver-
bot mit der einzigen Begründung fordert, man könne ja
Ausnahmeregelungen davon schaffen.

Man muss doch erst einmal die Maßnahme selbst als
sinnvoll begründen können, bevor man sagt: Ihr könnt ja
von ihr abweichen und Ausnahmen machen. Glauben Sie,
dass Außenstellen wirtschaftlicher sind als die bisherigen
Landgerichte?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das funktioniert doch in der Praxis nicht. Es macht die Sa-
che eher komplizierter.

Noch ein letztes Argument gegen diese Konzentration
beim Oberlandesgericht. Wenn je daran gedacht wird,
diese Reformen auch im Strafrecht umzusetzen, dann
sage ich jetzt schon: Man wird sich der Lächerlichkeit
preisgeben, wenn Berufungen in Strafsachen, etwa bei je-
dem Ladendiebstahl, beim OLG verhandelt werden. Be-
vor nicht klar ist, dass die Berufungsverfahren bei den
Landgerichten bleiben, ist meines Erachtens ein vernünf-
tiger Dialog über diese Reformen gar nicht möglich.

Die übrigen Vorschläge werden wir sorgfältig prüfen.
Wir haben gelernt, dass man genau hinschauen muss, wie
sie sich in der Praxis auswirken. Ich sehe vieles, bei dem
man „Prima-facie“ sagen könnte: Das kann man so oder
anders regeln. Man hat es hier anders geregelt. Wieso soll
es besser sein? Es riecht ein bisschen nach Aktionismus.
Papier ist geduldig. Die Praxis wird es schon richten.

Aber eine Frage lässt mich nicht los: Was will man mit
der Reform eigentlich erreichen? Was ist das Ziel? Vorher
habe ich von einem Ziel gehört, nämlich dass das Amts-
gericht keine Durchgangsstation, sondern Endstation sein
soll.


(Joachim Stünker [SPD]: Erste Instanz!)

Sie wissen doch, dass es das in 95 Prozent der Fälle ist.
Was wollen Sie erreichen? Wollen Sie, dass 100 Prozent
dort bleiben? Das kommt gleich nach 95 Prozent. Jetzt
schon werden 95 Prozent der Fälle beim Amtsgericht ab-
schließend erledigt. Darum kann man doch einem Amts-
richter nicht weismachen, dass er seine Urteile nur für die
nächste Instanz schreibt. 95 Prozent dieser Fälle werden
endgültig beim Amtsgericht erledigt.


(Hermann Bachmeier [SPD]: Warum befürworten die Amtsgerichte überall diese Reform?)


Diese Reform wird keinen Prozess beschleunigen. Das
kann schon deswegen nicht eintreten, weil die erste In-
stanz quasi aufgeladen und dadurch komplizierter wird.
Den Mehraufwand, den Sie in 95 Prozent der Fälle trei-
ben müssen, werden Sie nirgendwo wieder hereinholen
können.

Der Prozess wird nicht bürgernäher, sondern für die
Betroffenen schwerer verständlich sein. Sie werden dann
ihren Anwalt fragen, warum sie diese Tatsache nicht mehr
vorgetragen dürfen, wenn sie in der Berufungsinstanz von
Bedeutung ist.

Es wird dadurch nichts billiger. Auch das ist ein Argu-
ment. Denn noch immer wird die Hälfte der Prozesskos-
ten von der Gemeinschaft getragen. Wir haben in Baden-
Württemberg viel Geld für die Justiz übrig. Wir investie-
ren in den kommenden Jahren um die 70 Millionen DM,
um 7 500 Arbeitsplätze mit moderner Technik auszustat-
ten. Das ist der richtige Weg, um den Prozessablauf zu
verbessern und zu beschleunigen.

Man kann sicher auch einzelne Vorschläge zum Pro-
zess machen. Gestern haben wir den Vorschlag gemacht,
den Strafprozess zu beschleunigen, mehr Verfahren im be-
schleunigten Verfahren im Strafprozess durchzuführen.
Sie von Rot-Grün haben diesen Vorschlag abgelehnt.
Wenn es um Effizienz und um Schnelligkeit im Einzelfall
geht, sind Sie nicht dabei. Sie präsentieren uns eine Re-
form, bei der ich nur sagen kann: „Mehr Effizienz, mehr
Transparenz, mehr Bürgernähe“ können Sie noch so groß
auf die Packung schreiben, aber genau das wird diese Re-
form nicht bringen.

Unsere Justiz braucht diese so genannte Jahrhundertre-
form nicht; sie kann sie nicht brauchen. Frau Bundesjus-
tizministerin, Sie wollen sich mit dieser Reform ein Denk-
mal setzen, und zwar leider zulasten einer funktionieren-
den Justiz in den Ländern. Wenn etwas nichts bringt und




Minister Dr. Ulrich Goll (Baden-Württemberg)

10992


(C)



(D)



(A)



(B)


wenn man das im Praxistest erkannt hat, sollte man die
Größe und Souveränität haben, es beiseite zu legen. Ge-
nau darum bitte ich Sie.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512700
Das Wort hat die Bun-
desministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus-
tiz: Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Es ist schon zweimal von einem Denkmal gesprochen
worden. Wissen Sie, warum ich meine, bald ein Denkmal
verdient zu haben? Nicht nur deswegen, weil ich zu denen
gehöre, die die Einwürfe des geschätzten Kollegen Geis
mit Heiterkeit entgegennehmen, sondern auch wegen sol-
cher Reden.

Lieber Herr Goll, gerade auch Ihre Ausführungen ma-
chen die mit der Modernisierung der Justiz verbunde-
nen Probleme deutlich. Sie tun so, als sei hier ein Entwurf
eingebracht worden, der Sie völlig überrascht habe und zu
dem Sie nichts sagen könnten. Gleichzeitig bringen Sie ei-
nen Verriss, der mit dem Entwurf nichts zu tun hat, und
tun so, als sei alles, was Rot-Grün bringt, irrelevant.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nicht alles, aber das meiste!)


Was soll denn das? Sie wissen doch ganz genau, dass
Sie eigentlich Rot-Grün bekämpfen. Lassen Sie dies doch
einmal eine Weile und lassen Sie uns – wir sind Fach-
leute – über das reden, was die Justiz braucht. Die Justiz
braucht nämlich eine Modernisierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Kollege Röttgen, Sie haben vorhin
eine rhetorisch eindrucksvolle Leistung geliefert, die aber
mit der Sache nur teilweise etwas zu tun hatte. Sie haben
darauf hingewiesen, dass die Justiz nicht nur etwas für die
Anwälte und Richter sei. Das ist völlig richtig und ich
stimme Ihnen absolut zu. Nur, wenn Sie so tun, als wolle
Rot-Grün Modernisierung verhindern, Bürgerrechte
zurückzunehmen oder Berufungsmöglichkeiten zusam-
menstreichen, dann ist dies nicht nur ganz falsch, sondern
wirklich unfair, weil Sie damit den Menschen einen völ-
lig falschen Eindruck vermitteln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte mich damit befassen, was die Bürgerinnen
und Bürger von der Justiz haben. Ich bin die Letzte, die es
zulassen würde, dass man unsere Justiz krank redet, wie
dies nach Urteilen, die dem einen oder anderen nicht pas-
sen, immer wieder geschieht. Unsere Justiz ist nicht
krank. Es wird aber jedem, der ihre Arbeitsweise kennt
und ihre Ausstattung beispielsweise hinsichtlich der Elek-
tronik mit dem vergleicht, was heute in Kommunen oder
bei der Polizei längst üblich ist, deutlich werden, dass eine
Modernisierung überfällig ist. Das ist das eine.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: In Bayern ist das in Ordnung!)


Natürlich ist das Sache der Länder. Aber ich hätte es
begrüßt, wenn der Justizminister des Landes Baden-
Württemberg über die Arbeitsorganisation und die
Computerausstattung geredet hätte. Aber auch der Bund
muss für die Modernisierung seinen Beitrag leisten. Ge-
rade darum geht es hier, um den Beitrag des Bundes zur
Modernisierung der Justiz. Sie aber tun so, als lebten wir
in der besten aller Justizwelten und als hätten Sie früher
alles besser und anders gemacht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagt keiner, Frau Ministerin!)


All dies zeigt, dass wir sehr viel tiefer einsteigen müs-
sen. Dafür haben wir viele Beispiele geliefert bekommen,
gerade auch, wie sich anwesende Kollegen geäußert ha-
ben – unter anderem auch der Vorsitzende des Rechtsaus-
schusses in der letzten Legislaturperiode. Schauen Sie
heute in die „Süddeutsche Zeitung“. Sie finden dort nicht
nur das lesenswerte Interview mit dem Kollegen Geis zu
den Lebenspartnerschaften, Sie finden auch den Hinweis
des Journalisten Prantl darauf, dass es der frühere Justiz-
minister der F.D.P., Schmidt-Jortzig, war, der auf dem
letzten Juristentag gefordert hat, es müsse endlich Schluss
gemacht werden mit dieser Flickschusterei und jetzt
müsse endlich eine Linie für eine Reform des Zivil-
prozesses und der Modernisierung der Justiz gefunden
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die richtige Linie brauchen wir!)


Herr Kollege Eylmann hat dies im Frühjahr wieder-
holt. Dieser Kollege gehört der CDU an. Ich will das nur
einmal sagen. Ich verweise weiter auf einen Artikel des
von mir sehr geschätzten Kollegen Scholz in der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“ vom 23. November 1998, in
dem er eine umfassende Justizreform verlangt, dabei ei-
nen dreistufigen Gerichtsaufbau vorschlägt und erklärt,
die Zeit dafür sei überreif.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Da war er noch vernünftig!)


Herr Scholz, Ihren Presseartikeln der letzten Tage habe
ich das nicht entnehmen können. Ich weiß nicht, ob der
Kollege Sie falsch zitiert hat. Ich weiß aber, dass Sie Vor-
sitzender der Sachverständigenkommission „Schlanker
Staat“ waren. Dieser hat darauf hingewiesen, dass mit der
Flickschusterei Schluss sein müsse und jetzt ein klarer
Entwurf und eine klare Bestimmung darüber, was die ein-
zelnen Instanzen – also erste Instanz, zweite Instanz und
Bundesgerichtshof – machen sollen, auf den Tisch müss-
ten.

Meine Bitte ist: Sie können ja auf Kreisparteitagen der
CDU so reden. Lassen Sie uns aber in dieser Auseinan-
dersetzung, bei der es um die Modernisierung der Justiz
geht, wirklich über die Probleme reden.

Ich zitiere später noch ein paar Herren aus Bayern, weil
die Bund-Länder-Arbeitsgruppe von einem Vertreter
Bayerns geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe wird – das
wissen Sie, Herr Minister Goll – das nächste Mal am




Minister Dr. Ulrich Goll (Baden-Württemberg)


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(C)



(D)



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(B)


14. Juli zusammentreten. Das bedeutet, dass von einer
Überforderung keine Rede sein kann. Wenn Sie das den
Leuten weismachen wollen, kann ich nur sagen: Das ist
ein Gerücht.

Wie fühlt sich eigentlich jemand, der heute vor Gericht
muss? Die Aufwertung der außergerichtlichen Streit-
schlichtung haben wir beschlossen. Dies steht jetzt im
Bundesgesetzblatt. Wenn ein Bürger dennoch zum Amts-
gericht muss, dann findet er dort eine Richterin oder einen
Richter vor, die etwa 750 Fälle im Jahr bearbeiten. Jetzt
sagen Sie: Das ist die beste aller Welten. Ich sage Ihnen:
Das ist es nicht, und zwar deswegen, weil nicht berück-
sichtigt werden kann, dass man für die Entscheidung des
einen Falles mehr Zeit benötigt als für die eines anderen.
Sie haben insgesamt zu wenig Richter.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen auch: Wenn ein Fall vor dem Oberlandes-
gericht verhandelt wird, dann trifft man dort einen
Richter, der 70 Verfahren im Jahr bewältigen muss und
34 Urteile fällt. Natürlich sind seine Fälle in der Regel
schwieriger, aber dieses Missverhältnis sollte Sie eigent-
lich zum Nachdenken bringen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann man nicht über Verfahrensrecht machen!)


Übrigens, Herr Kollege Röttgen, wenn Sie schon Ober-
landesgerichte zitieren, dann schauen Sie das nächste Mal
auf die Gerichtsverteilung in Baden-Württemberg. Oder
nehmen Sie Niedersachsen. Sie aber sollten wissen, dass
Mosbach in Baden und nicht in Württemberg liegt. Das
macht aber nichts.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber in BadenWürttemberg!)


– Ja, das ist gut. Ich wollte damit nur andeuten, dass man
in einer so schneidigen Rede darauf achten sollte, dass die
Fakten richtig sind. Das ist nur ein kleiner Hinweis.


(Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was war falsch?)


– Das zuständige Oberlandesgericht. Ganz einfach.
Ich komme zu der von Ihnen mehrfach angezweifelten

Neuregelung der Berufung, gegen die Sie erhebliche Ein-
wendungen haben. Ich lese Ihnen einmal vor, was das
Land Bayern, vertreten durch den Ministerialdirigenten
Werner Weiß, der die Bund-Länder-Arbeitsgruppe gelei-
tet hat, in der Broschüre „Die Justizpolitik – CDU“ mit-
geteilt hat. Er hat gesagt: Es besteht die Meinung, man
müsse nicht nochmals den ganzen Prozess wiederholen.
Nur wenn das Urteil der ersten Instanz in irgendeiner
Weise fehlerhaft ist, ist das Verfahren offen für neue Tat-
sachen und Beweise. Darum geht es.

Wir gehen nicht so weit wie das in der letzten Legisla-
turperiode von Ihnen eingebrachte und beschlossene so
genannte zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz. Deswe-
gen hören Sie auf, die Gäule scheu zu machen. Hier geht
es darum, dass die erste Instanz gestärkt werden kann,
dass die normalen Menschen, die mit 1,5 Millionen Kla-

gen zum Amtsgericht gehen, den gleichen Rechtsschutz
vorfinden wie die Parteien vor dem Oberlandesgericht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Norbert Röttgen [CDU/CSU])


Sie haben gesagt, 94 Prozent der Fälle würden beim
Amtsgericht erledigt. Haben Sie immer noch nicht ge-
merkt, warum das so ist? Dies ist deswegen so, weil heute
erheblich mehr als die Hälfte der amtsgerichtlichen Ur-
teile überhaupt nicht überprüft werden kann. Das ist eine
Konsequenz der Streitwertabhängigkeit. Das ist doch ein
Fehler. Dann müssen Sie doch sagen, dass wir das ändern
müssen. Sie werden sehen, dass wir es ändern, und zwar
deswegen, weil wir mit den Streitwerten heruntergehen
und weil wir eine Grundsatzzulassungsberufung neu ein-
führen. Wir führen sogar noch eine Rechtsgehörsrüge ein,
die das Bundesverfassungsgericht entlastet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese drei Dinge sind vernünftiger für den Bürger. Es
bringt mehr Rechtsschutz. Es hilft auch dem Bundesver-
fassungsgericht, seine eigentliche Aufgabe zu erledigen.

Ich möchte jetzt die Kritik aufgreifen, den Bürgerinnen
und Bürgern würden weniger Rechtsmittel zur Verfü-
gung stehen. Das stimmt nicht. Wir gehen nicht so weit,
wie es die Bayern gefordert haben. Wir gehen nicht so
weit wie das zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz der
letzten Legislaturperiode. Wir sagen Folgendes – ich bitte
Sie, darüber nachzudenken, denn es ist etwas Vernünfti-
ges –: Bei Verfahren, bei denen drei Richter in der Beru-
fung nach einem Hinweis an den Berufungskläger sagen,
es sei aussichtslos, soll die Zurückweisung schnell erfol-
gen. Das ist deswegen vernünftig, weil bei einem Zivil-
prozess immer einer klagt und ein anderer verklagt wird.
In der ersten Instanz gewinnt einer. Aber wenn wie bisher
die Verfahren – abhängig vom Streitwert – durch alle In-
stanzen geführt werden, obwohl sie erkennbar aussichts-
los sind, dann schadet das immer dem kleinen Handwer-
ker, der in der ersten Instanz gewonnen hat und der sein
Geld trotzdem nicht bekommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen ist es sehr vernünftig, anders zu verfahren: In
die Berufung darf nur dann gegangen werden, wenn dies
unbedingt notwendig ist. Aussichtslose Berufungen sind
zwar auch weiterhin möglich, aber sie sollten dann schnell
zurückgewiesen werden, wenn drei Richter sagen: Da ist
nun wirklich nichts dran.

Nun komme ich auf den Bundesgerichtshof zu spre-
chen. Nicht nur die rechte Seite des Hauses hat die Kritik
des letzten Präsidenten des Bundesgerichtshofs zur
Kenntnis genommen – ich bin ganz sicher, dass der neue
Präsident es ähnlich sehen wird –, der sich darüber be-
schwert hat – Herr Röttgen, das sage ich speziell zu Ih-
nen –, dass der Bundesgerichtshof nur noch in etwa 6 Pro-
zent der Fälle seine eigentliche Aufgabe erfüllen kann,
nämlich Grundsatzentscheidungen im Rahmen der
Rechtsfortbildung treffen und die Einheitlichkeit der
Rechtsprechung wahren. Er hat des Weiteren darauf




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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(D)



(A)



(B)


hingewiesen, dass mehr als 96 Prozent der Fälle reine
Streitwertrevisionen seien.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Entschuldigung, wir sind der Meinung, dass der Streit-
wert überhaupt kein Kriterium dafür ist, ob Revision ein-
gelegt werden kann oder nicht. Die entscheidende Frage
ist vielmehr, ob das Urteil falsch oder richtig ist. Wir tun
etwas dafür, damit dieses Kriterium herangezogen wird.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das machen Sie nicht!)


– Doch, das tun wir. Sie sollten noch einmal nachdenken;
denn ich meine, aus Ihren Überlegungen inzwischen eher
Zustimmung herauslesen zu können.

Ich habe den Eindruck, dass das neue Revisionsrecht,
das den Formulierungen des § 73 und des § 74 GWB
nachgebildet ist und künftig auch für den Bundesfinanz-
hof gelten und ohne Zweifel auch in den Regierungsent-
wurf aufgenommen werden soll, ein sehr vernünftiger
Kompromiss zwischen den eigentlichen Aufgaben des
Bundesgerichtshofs und der Einzelfallgerechtigkeit ist,
deren Gewährleistung Sie anmahnen. Aber die Einzelfall-
gerechtigkeit, Herr Röttgen, bestimmt sich nicht nach
dem Streitwert. Diese Grenze ist nun wirklich die will-
kürlichste von allen. Die Einzelfallgerechtigkeit bemisst
sich bei der Revision vielmehr danach, ob ein schwerer
Rechtsfehler in irgendeiner Form aufgetreten ist. Das ist
der Punkt.


(Beifall bei der SPD)

Die Modernisierung der Justiz ist schwer, aber not-

wendig. An ihr sind die Länder und auch der Bund betei-
ligt. Die Länder müssen genauso einen Beitrag leisten wie
der Bund. Der Bund hat mit der Änderung der Präsidial-
verfassung und der außergerichtlichen Streitschlichtung
angefangen. Wir machen jetzt weiter. Wir stärken die erste
Instanz. Wir sind – lassen Sie mich das sagen – so radikal,
dass wir sagen: Wir wollen auch hier die Möglichkeit zur
Güteverhandlung und Streitschlichtung stärken. Wir sind
so radikal, dass wir sagen: Die Überprüfung eines Urteils
soll nicht vom Streitwert abhängig sein; vielmehr soll sie
davon abhängen, ob tatsächliche oder rechtliche Fehler
gemacht wurden. Dies alles ist bürgerfreundlich. Dies al-
les wollen wir durchsetzen.

Dass der Vorschlag, die Berufung bei den Oberlandes-
gerichten zusammenzuführen, sehr unterschiedlich gese-
hen wird, wissen wir. Dass es in Flächenländern anders
aussieht als zum Beispiel in Stadtstaaten, Herr Goll,
wissen wir auch. Es wäre nur klug, wenn man jetzt über
die Fragen von Nutzen und Kosten sowie der Vereinfa-
chung nachdenkt. Wir wollen Vereinfachung. Wenn man
draußen darüber redet, dann muss man sehr deutlich ma-
chen, dass es die Zusammenführung der Berufung bei Ar-
beitsgerichtsverfahren, Sozialgerichtsverfahren, Verwal-
tungsgerichtsverfahren und bei den familiengerichtlichen
Verfahren gibt, in denen sehr häufig ein persönliches Er-
scheinen erforderlich ist. In all diesen Bereichen funktio-
niert das gut.

Hermann Bachmaier hat darauf hingewiesen, dass
Karlsruhe sieben Außensenate hat, und zwar aus tradi-

tionellen Gründen, wie wir beide sehr wohl wissen. Ich
traue Ihnen zu, dass Sie dort, wo Sie eine Außenstelle
wünschen, auch eine einrichten können, wenn Sie es nur
wollen. Aber ob Sie es wollen, weiß ich nicht. Ich wehre
mich nur dagegen, dass Sie landauf, landab behaupten,
Rot-Grün wolle die Amtsgerichte schließen. Vielleicht
wollen Sie das und haben nicht den Mut, den Bürgerinnen
und Bürgern das mitzuteilen. Wir wollen es jedenfalls
nicht. Wir sind entschlossen, die Amtsgerichte zu stärken.

Ich möchte noch einmal auf die Vorgeschichte des Ent-
wurfs zu sprechen kommen. Das jetzige Verfahren ist nun
wirklich das merkwürdigste. Vor zwei Jahren hat mein
Amtsvorgänger, Herr Schmidt-Jortzig – ich rede immer
davon, dass man in der Kontinuität steht –, auf dem letz-
ten Juristentag einen Anstoß gegeben. Damals hat er das
erste Gutachten in Auftrag gegeben. Seitdem diskutiert
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe das alles.
Dann gibt es einen Beschluss der Justizministerkonfe-
renz, die mich auffordert, einen Gesetzentwurf vorzule-
gen, was ich auch tue. Daraufhin gibt es viel Kritik, aber
auch viel Zustimmung. Dann werten wir das aus und ar-
beiten das in diesen Gesetzentwurf ein. Wenn von ande-
ren Ländern noch etwas kommt, wird das im Übrigen
auch noch in den Regierungsentwurf eingearbeitet. Und
trotzdem wird daran wieder Kritik geübt. Ich sage Ihnen:
Wichtige Reformen kann man nur öffentlich diskutieren.
Das haben wir mit der Veröffentlichung des Referenten-
entwurfs im vergangenen Dezember getan.

Wir werden die Diskussion weiterhin suchen, und zwar
keineswegs allein mit den Ländern, wofür die Termine,
wie ich gesagt habe, schon feststehen. Wie bereits in den
vergangenen Tagen werden wir mit dem Richterbund, mit
der Bundesrechtsanwaltskammer und mit dem Anwalt-
verein sprechen. Sicher ist aber auch, dass wir mit der Op-
position reden. Es geht darum, dass unsere Justiz moder-
nisiert wird, dass die normalen Bürger auch in Zukunft
vor Gericht gute Bedingungen vorfinden, dass die Justiz
für neue Aufgaben fit gemacht wird – wir wissen ganz ge-
nau, dass es nicht mehr Richterstellen geben wird – und
dass unsere Justiz europafreundlicher werden muss. Diese
vier Ziele sind in den Gesetzentwurf aufgenommen.

Ich hoffe, wir können unter Fachleuten – meinetwegen
temperamentvoll; das bin auch ich – darüber reden. Das
sollte aber, wenn es irgendwie geht, ohne den ständigen
Austausch von Argumenten geschehen, die mehr mit Par-
teipolitik als mit irgendwelchen fachlichen Aspekten zu
tun haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411512800
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Minister der Justiz und für Euro-
paangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt
Schelter.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Halt! Es war eine Kurzintervention angemeldet!)





Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

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(A)



(B)


– Entschuldigung, Herr Minister, es gibt eine Anmeldung
zu einer Kurzintervention. Ich erteile dem Kollegen
Rupert Scholz das Wort.


Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1411512900
Frau Ministerin, Sie
haben mich sehr liebenswürdig angesprochen. Sie haben
versucht, mich zum Kronzeugen der Dreistufigkeit zu ma-
chen. Dazu möchte ich schon einen Satz sagen.

Ich bin in der Tat der Meinung, dass das Thema der
Dreistufigkeit kein Dogma ist. Es kommt auf die Effizi-
enz im Rechtsschutz für den Bürger und damit auf die Ef-
fizienz der Justiz an. Sie wissen von mir direkt, dass ich
der Meinung bin, man könnte – vielleicht sollte man so-
gar – die Dreistufigkeit in Stadtstaaten einmal erproben.
Das ist möglich. Sie können in Ihren Gesetzentwurf zum
Beispiel eine entsprechende Experimentierklausel hinein-
nehmen, die den Stadtstaaten die Möglichkeit der Erpro-
bung gibt. Das halte ich für einen sinnvollen Schritt. Im
Übrigen ist das die Philosophie des von Ihnen angespro-
chenen Berichts des Sachverständigenrats „Schlanker
Staat“, den ich in der letzten Legislaturperiode zu leiten
hatte.

Sie hätten die Forderungen dieses Sachverständigen-
rats – gerade was eine Justizreform angeht – vielleicht
doch ein bisschen mehr beherzigen sollen, wie das zum
Beispiel Ihr Kollege Schily jetzt tut. Bei ihm habe ich zu
meiner Freude manchmal das Gefühl, dass er unsere Emp-
fehlungen von damals regelrecht abkupfert. Das ist sinn-
voll. Denn wenn etwas Vernünftiges gesagt wird, dann ist
es egal, wer es umsetzt; Hauptsache es wird umgesetzt.

Die wirklich entscheidenden Fragen der Justizreform,
die dort angesprochen sind, sind ganz andere. Da geht es
um die Vereinheitlichung von Verfahrensordnungen ins-
gesamt. Außerdem – ich sehe in dieser Frage dringenden
Reformbedarf – ist dort thematisiert, dass wir endlich von
der Überspezialisierung unserer Gerichtsbarkeiten weg-
kommen.

Es macht keinen Sinn, wenn die Reform eines Bereichs
wie der Zivilgerichtsbarkeit – sie funktioniert insgesamt
ja gut – Stückwerk bleibt. Wenn man den Einstieg in die
Dreistufigkeit will, dann muss man es offen sagen. Aber
mit Sicherheit ist es nicht gut, diesen Weg mit der Redu-
zierung der Rechtsmittel im Rechtsschutzbereich einzu-
leiten. Dies hielte ich für sehr problematisch. Gehen wir
lieber einen offenen Weg, fangen wir vielleicht wirklich
einmal mit einer Stadtstaatenklausel an, Frau Däubler-
Gmelin, und schauen wir uns die Entwicklung an! Dann
wird man weitersehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513000
Frau Justizministerin,
zur Erwiderung, bitte.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Herr Kollege Scholz, vielen Dank für diese kolle-
giale Haltung. Ich weiß, Sie haben mich sogar ermutigt,
den Gesetzentwurf einzubringen.

Ich gehöre zu denjenigen, die den Abschlussbericht der
Sachverständigenkommisson „Schlanker Staat“ wirklich
gelesen haben. Abgesehen von dem, was Sie erwähnt ha-
ben, enthält der Bericht zusätzliche Forderungen. In der
Tat – dies will ich Ihnen gerne bestätigen – soll nach Auf-
fassung der Sachverständigenkommission „Schlanker
Staat“ nicht nur die Zahl der Gerichtszweige verringert
werden, sondern wird auch gefordert, die Fachgerichte
baulich zusammenzulegen. Das ist ein Punkt, den man
erst mit den Ländern besprechen muss, weil das wirklich
erhebliche Kosten verursachen würde.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist wirkliche Reform!)


Die Kosten hierfür wären außerordentlich hoch. Die Län-
der sind in diesem Punkt viel stärker gefordert als der
Bund.

Der Bund ist dagegen bei dem Teil gefordert, über den
wir jetzt reden, nämlich bei der Frage der Rechtsmittel.
Lassen Sie es mich nochmals sagen: Wir reduzieren
die Berufungsmöglichkeiten nicht, sondern bauen die
Rechtsmittel insgesamt aus und geben den Grundsatz der
Streitwertabhängigkeit aufgrund der sich daraus ergeben-
den Ungerechtigkeiten auf.

Ich wollte aber noch aus dem Bericht der Sachverstän-
digenkommission „Schlanker Staat“ zitieren. Dort steht
drin:

Das heute sehr differenzierte Rechtsmittelsystem
sollte in seiner Gesamtheit überdacht werden. Dabei
könnte der Instanzenzug grundsätzlich einheitlich
ausgestaltet werden, und zwar mit einer Tatsachen-
und mit einer Rechtsmittelinstanz. Notwendig wäre
zunächst die Absicherung durch eine rechtsstaatliche
Untersuchung.


(Joachim Stünker [SPD]: Das machen wir jetzt ja!)


Diese haben wir vorgenommen. Auch die weiteren
Punkte, die erwähnt werden, haben wir aufgenommen.
Wir sind nur nicht ganz so weit gegangen wie die Kom-
mission, der Sie damals vorgesessen haben. Ich denke,
dass wir gerade dann, wenn wir Bürgernähe, Transparenz
und Effizienz im Blick haben, auf dem richtigen Weg
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513100
Nun erteile ich das
Wort dem Minister der Justiz und für Europaangelegen-
heiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt Schelter.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich würde gerne – mit der Erlaubnis der Präsidentin
mit einem kurzen Zitat aus einem Brief, den mir die Bun-
desjustizministerin am 5. Juli geschrieben und der mich
heute erreicht hat, beginnen:

Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zum Referen-
tenentwurf eines ZPO-Reformgesetzes vom 23. De-
zember 1999. Ihre Überlegungen zu den Entwurfs-




Vizepräsidentin Petra Bläss
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(A)



(B)


vorschriften werden im Zuge der zweiten Beratungs-
runde über den Referentenentwurf, in die wir jetzt
eingetreten sind, sehr sorgfältig gewürdigt.

Ich muss gestehen, diese Einleitung Ihres Briefes, Frau
Bundesministerin, hat mich einigermaßen sprachlos ge-
macht, denn vom heutigen Entwurf ist keine Rede. Mit
keinem Wort gehen Sie auf den Entwurf ein, über den
heute hier beraten wird. Das bedeutet für mich: Seit heute
ist die Justizreform zu einem spannenden Ratespiel ge-
worden. „Was soll gelten?“, lautet die Frage.

Ich habe deshalb keine große Neigung, mich heute de-
tailliert zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes zu äußern.
Seine Initiatoren werden darüber nicht enttäuscht sein,
denn das jetzt gewählte Verfahren ist ja ganz offensicht-
lich geradezu darauf angelegt, dass die Länder und der
Bundesrat, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, keine Chance
bekommen sollen, ihre Meinung zu sagen. Das wäre wohl
auch Zeitverschwendung, denn die neue Dramaturgie
sieht ja vor – so steht es jedenfalls in den Zeitungen –, die-
sen Entwurf im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsver-
fahrens noch wesentlich zu verändern.

Als Justizminister meines Landes wird mir jeden Tag
vermittelt, was die Organe der Rechtspflege davon halten,
immer wieder neue Vorschläge, neue Erwägungen zu
hören und mit diesen konfrontiert zu werden. Ich bin mir
nun, Frau Bundesministerin, nicht ganz sicher, ob es Sie
überhaupt interessiert, wie dieses Verfahren – jedenfalls
von der Mehrheit der Justizminister der Länder – gesehen
wird. Die Besetzung und Zusammensetzung der Bundes-
ratsbank gibt davon beredtes Zeugnis. Sie wissen aber,
dass die Art des Umgangs mit den Ländern bis in die letz-
ten Monate hinein zu starken Irritationen geführt hat. Die
Informationen über wichtige Gesetzgebungsvorhaben des
Bundes erreichen uns zu spät oder überhaupt nicht – und
wenn, dann sind sie zu vage.

Die besten Informationsquellen für die Justizminister
der Länder über die Rechtspolitik des Bundes und ihre
Veränderungen sind seit Monaten die Medien. Es kann
doch nicht richtig sein, dass die in den Ländern verant-
wortlichen Ressortchefs den Inhalt dieses Gesetzentwurfs
zunächst nur aus einer sehr detaillierten Abhandlung von
dem von mir sehr geschätzten Heribert Prantl in der „Süd-
deutschen Zeitung“ und weiteren Medienberichten zum
Beispiel in der „taz“ erfahren konnten. Dabei lassen Sie
verbreiten, dass dieser Entwurf einen Durchbruch in Sa-
chen Justizreform darstelle. Ich sehe das nicht und würde
Sie fragen, wenn ich könnte: Durchbruch wohin? Es mag
ja sein, dass dieser Entwurf der gemeinsame Nenner ist,
auf den sich die Koalition einigen kann. Aber es kann
doch keine Rede davon sein, dass Sie damit die massive
Kritik aus allen Richtungen an Ihrem Konzept überwun-
den hätten.

Frau Bundesministerin, ich bitte Sie sehr herzlich da-
rum, in unserer weiteren Zusammenarbeit wieder an den
Konsens anzuknüpfen, den wir bei der letzten Konferenz
der Justizminister in Potsdam gefunden hatten. Wir hat-
ten uns darauf verständigt, dass die Unterrichtung rascher,
konkreter, stetiger und auch offener erfolgen soll. Sie hat-
ten zugesagt, dass die Länder in Zukunft rechtzeitig zur
Abschätzung der Folgen Ihrer Reformvorhaben gehört
werden.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513300
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513400

Sehr gerne.


Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1411513500
Herr Minister Schelter, er-
lauben Sie mir eine Zwischenfrage mit ein paar „Unter-
abteilungen“. Sie sind ja zurzeit der Vorsitzende der Jus-
tizministerkonferenz. Es würde mich interessieren, ob Sie
hier als Justizminister des Landes Brandenburg oder als
Vorsitzender der Justizministerkonferenz sprechen.

Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass es sich hier
nicht um einen Regierungsentwurf, sondern um einen
Entwurf der Koalitionsfraktionen SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen handelt?

Würden Sie bitte noch freundlicherweise eine kleine
Episode zur Kenntnis nehmen, die sich gestern zugetra-
gen hat: Ich war in Perleberg auf einer Veranstaltung des
brandenburgischen Rundfunks und habe dort mit Hand-
werksmeistern diskutiert. Diese Handwerksmeister sind
der Meinung, in der Brandenburger Justiz dauere alles zu
lange. Einer wartet seit sechs Monaten auf einen Termin,
ein anderer seit zwei Jahren auf ein Urteil. Was gedenken
Sie diesbezüglich zu tun? Meinen Sie nicht auch, dass un-
ser Entwurf geeignet ist, für mehr Tempo auch in der ers-
ten Instanz zu sorgen?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513600
Ich
fange mit der Beantwortung der letzten „Unterabteilung“
Ihrer Zwischenfrage an. Ich bin seit dem 13. Oktober des
vergangenen Jahres im Amt. Dieses Amt wurde neun
Jahre lang von einem anderen Kollegen, den ich sehr
schätze, bekleidet. Er hat eine hervorragende Aufbaulei-
stung in der Brandenburger Justiz erbracht. Die lange
Dauer der Verfahren in Brandenburg, die zum großen Teil
auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber nicht auf die or-
dentliche Gerichtsbarkeit zutrifft, hat im Wesentlichen
mit dem Haushalt zu tun. Ich habe erst seit dem 13. Okto-
ber des vergangenen Jahres die Haushaltspolitik in Bran-
denburg mit zu verantworten.


(Joachim Stünker [SPD]: Babylonische Gefangenschaft!)


Zu Ihrer zweiten Frage. Sicher, es handelt sich um ei-
nen Gesetzentwurf der Koalition – in einem Bereich, über
den sich zu äußern die Justizminister der Länder allen An-
lass haben; denn sie sind es, die diesen Gesetzentwurf,
wenn er eines Tages im Bundesgesetzblatt stehen sollte,
umsetzen müssen. Es ist richtig – damit komme ich zur
Beantwortung Ihrer ersten Frage –, dass ich hier in der
Eigenschaft spreche, in der mich die Präsidentin des Ho-
hen Hauses angekündigt hat, nämlich in der Eigenschaft
als Justizminister des Landes Brandenburg und als Mit-
glied des Bundesrates.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich darf mit meinen Ausführungen fortfahren. – Frau

Bundesministerin, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär,
den ich sehr schätze und der heute ebenfalls anwesend ist,




Minister Prof. Dr. Kurt Schelter (Brandenburg)


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(D)



(A)



(B)


hatte in Potsdam versprochen, dass Sie sich mit den Er-
gebnissen der Fallstudien befassen, die in Nordrhein-
Westfalen mit Ihrer Unterstützung durchgeführt worden
sind, und zwar ganz rasch und unter Beteiligung der Län-
der. Sie wissen, dass ich in Potsdam sehr viel Aufmerk-
samkeit darauf verwendet habe, die vielfältigen Verkan-
tungen und Verkrampfungen zwischen der politischen
Leitung Ihres Hauses und den Ländern aufzulösen. Sie ha-
ben das leider in keiner Weise honoriert. Im Gegenteil:
Das Verfahren, das Sie jetzt eingeschlagen haben, ist ein
großer Rückschritt und macht die Zusammenarbeit mit
Ihrem Haus nicht leichter.

Nun zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Ich wieder-
hole: Eine fachliche Äußerung ist noch nicht möglich; sie
wäre verfrüht. Aber ich räume ein, dass dieser Entwurf in
einigen Bereichen bessere Lösungsansätze enthält und ei-
nige wenige gravierende Bedenken der Länder berück-
sichtigt. Das gilt zum Beispiel für das Einzelrichterele-
ment; andere Kollegen mögen das anders sehen.

Außerdem gibt es in diesem Gesetzentwurf, der heute
beraten wird, die Abteilung „Überraschungen“: Das Ab-
hilfeverfahren für Aufklärungsrügen hat seinen Weg aus
der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungs-
gerichts in den Bundestag gefunden. Ich meine, das ist gut
so, aber nur für das Bundesverfassungsgericht. Es löst die
Probleme der Justiz – der Amtsgerichte, der Landgerichte,
der Oberlandesgerichte – nicht.

Die wichtigste Frage heute lautet: Frau Bundesminis-
terin, ist das Ihr Entwurf oder ist es auch Ihr Entwurf? Was
gilt? Steht das Berufungsannahmeverfahren noch zur
Debatte oder nicht? Soll die Berufungsinstanz nicht mehr
strikt auf Fehlerkontrolle beschränkt sein oder überlegen
Sie sich das noch? Werden die Hinweispflichten des Ge-
richts erheblich oder nur reduziert erweitert? Worüber
wollen Sie mit uns reden? Wozu sollen wir Stellung neh-
men? Sind Sie an der Meinung der Länder, am fachlichen
Rat derer, die diese Reform in die tägliche gerichtliche
Praxis umsetzen sollen, überhaupt interessiert?

Frau Bundesministerin, eine Justizreform gegen die
Länder und fast alle Verbände kann und wird nicht gelin-
gen. Das Ergebnis wird jedenfalls keine große Reform, al-
lenfalls ein großes Desaster mit viel Verärgerung, Verun-
sicherung und Verlust von Vertrauen unserer Bürger in
den Rechtsstaat sein. Eine Justizreform, die zu mehr Auf-
wand führt, ohne die Aussicht auf raschere, bessere Ent-
scheidungen mit noch mehr Akzeptanz, dient nicht dem
Rechtsfrieden; sie schadet ihm.

Unsere Justiz in Deutschland, auch in den neuen Län-
dern, arbeitet effektiver und besser, als ihre Kritiker zu-
geben wollen und die Reformvorhaben der Bundesregie-
rung dies vermuten lassen. Wir sollten endlich gemeinsam
in den Blick nehmen, wo wirklich Veränderungsbedarf
besteht, und dann zu gemeinsamen Lösungen kommen –
der Bund, die Länder, die beteiligten Verbände und be-
rufsständischen Organisationen.

Lassen Sie uns also ab heute bei der Justizreform end-
lich miteinander und nicht übereinander reden. Dann hätte

dieser gesetzgeberische Überfall wenigstens einen positi-
ven Aspekt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513700
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3750 an den in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der SPD
Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugen-
vernehmungen im 1. Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages zwischen Untersu-
chungsausschussmitgliedern und dem Zeugen
Dr. Kohl

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Hans-Christian
Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Wir haben diese Aktuelle Stunde nicht nur deshalb
beantragt, weil wir der Meinung sind, dass sich der Deut-
sche Bundestag mit den Vorgängen im und um den Un-
tersuchungsausschuss und im Zusammenhang mit dessen
Arbeit beschäftigen sollte, sondern auch deshalb, weil wir
die Auffassung der Fraktionsführung der CDU/CSU und
der Parteiführung der CDU zu dem Verhalten ihrer Mit-
glieder im Untersuchungsausschuss und zur Vorbereitung
von Sitzungen des Untersuchungsausschusses in der Öf-
fentlichkeit diskutieren wollen.

Wir wollen mit Ihnen nicht darüber diskutieren, was
ein Abgeordneter normalerweise tun darf, ob er mit ande-
ren Abgeordneten reden darf, ob er mit der Bevölkerung
reden darf.


(Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das wissen wir alles, das ist selbstverständlich, darüber
braucht man nicht zu reden.

Aber, Herr Kollege Schmidt, wir wollen darüber reden,
ob es richtig ist, ob es zulässig ist und was für ein böser
Anschein damit verbunden ist, wenn sich die halbe Mann-
schaft der CDU/CSU im Untersuchungsausschuss in die-
sem Jahr jeweils einen Tag, einen Abend vor der Verneh-
mung wichtiger Zeugen mit dem Mittelpunkt der Arbeit
dieses Ausschusses, mit dem Zeugen Helmut Kohl, trifft
und ein- bis anderthalbstündige Gespräche führt. Sie ha-
ben sich an den Tagen vor der Vernehmung von Herrn
Weyrauch, vor der Vernehmung von Herrn Terlinden, vor
der Vernehmung von Frau Weber jeweils mit ihm getrof-
fen. Was haben Sie dort besprochen?




Minister Prof. Dr. Kurt Schelter (Brandenburg)

10998


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn Sie uns sagen, Sie hätten allgemein darüber ge-
redet, wie man terminieren könne oder ob man einer
Übertragung der Vernehmung bei Phoenix zustimmen
könne, Herr Schmidt, dann mag das stimmen. Aber es
kann nicht sein, dass Sie sich allein deswegen dort ge-
troffen haben; denn so viel Arbeitszeit haben auch Sie
nicht zur Verfügung.

Die zeitliche Nähe Ihrer Treffen mit Helmut Kohl zu
der Vernehmung aller wichtigen Zeugen im Ausschuss
und das Verhalten dieser Zeugen im Untersuchungsaus-
schuss, wo sie plötzlich eine Mauer des Schweigens auf-
gebaut und sich ganz anders verhalten haben als in zahl-
reichen Interviews mit der Presse, erwecken den bösen
Anschein, Herr Kollege Schmidt, dass bei diesen Treffen
mehr geschehen ist, als dass Sie sich über Termine und
eine Fernsehübertragung durch Phoenix unterhalten ha-
ben. Es legt den Verdacht nahe, dass dort Absprachen mit
Helmut Kohl über ein allgemeines Zeugenverhalten ge-
troffen worden sind und dass Ihre Arbeit im Untersu-
chungsausschuss und das Verhalten der Zeugen dort letzt-
lich durch den Zeugen Helmut Kohl gesteuert worden
sind. In alter Manier hat er dort die Regie geführt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie hätten schon im Untersuchungsausschuss Gelegen-
heit gehabt, sich dazu zu äußern. Heute sollten Sie sich
dazu äußern. Sie sollten sagen, ob Sie, Ihre Partei und Ihre
Fraktion das als zulässig ansehen und Sie die wichtige
Arbeit solcher Institutionen des deutschen Parlaments un-
terlaufen wollen, indem Sie die richtige und an der Wahr-
heit orientierte Aufklärungsarbeit des Untersuchungsaus-
schusses geradezu konterkarieren und kaputtmachen. Das
haben wir durch das Verhalten der Zeugen leider erleben
müssen.

Die heutige Aktuelle Stunde dient auch dazu, dass wir
noch einmal Stellung zu dem abenteuerlichen – gestern
habe ich gesagt: abwegigen; das entspricht ja dem
Sprachgebrauch des ehemaligen Bundeskanzlers im
Untersuchungsausschuss – Vorwurf an die neue Bundes-
regierung nehmen können, dass von ihr Akten vernichtet
worden seien,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aberwitzig!)


um dann später die Behauptung aufstellen zu können, die
alte Bundesregierung habe das getan. Das kann schon des-
halb nicht richtig sein, weil erstens die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen diesen Untersuchungsausschuss schon
lange vor dem Oktober 1999 in die Diskussion gebracht
und gefordert hat und weil zweitens – das ist doch das Ent-
scheidende – die Datenvernichtungen zeitlich zuordbar
sind, da unbestechliche Maschinen den Zeitpunkt aufge-
zeichnet haben.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Zum Thema!)


Alle Datenvernichtungen haben nach der Bundestagswahl
1998 und vor dem Auszug der alten Regierung aus dem
Kanzleramt stattgefunden. Damals sind in drei Nächten
zwei Drittel des gesamten Datenmaterials vernichtet wor-

den. Da kann man doch schlechterdings nicht behaupten,
das habe nicht die frühere Bundesregierung zu vertreten,
sondern das habe die Bundesregierung, die erst danach ins
Kanzleramt eingezogen ist, veranlasst oder durchgeführt.

Das ist völlig abenteuerlich, zeigt aber, dass der Zeuge
Dr. Kohl nicht nur Zeuge sein will, sondern das Gesche-
hen im und um den Untersuchungsausschuss und auch das
Verhalten der CDU/CSU-Fraktion und der CDU in die-
sem Lande aus seinem Abgeordnetenzimmer heraus maß-
geblich steuert.

Alle Beteuerungen von Frau Merkel und Herrn Merz,
dass da inzwischen eine gewisse Distanz eingetreten sei,
dass es sich um eine neue Partei, um eine neu formierte
Fraktion handele,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Kommen Sie langsam zum Thema!)


werden Lügen gestraft durch das Verhalten der Untersu-
chungsausschussmitglieder der eigenen Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513800
Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

lung, die wir heute Nacht gegen 23 Uhr im Untersu-
chungsausschuss treffen konnten, nämlich dass bereits
seit langem verabredet ist, dass Frau Merkel und Dr. Kohl
am Vorabend des 3. Oktober zum zehnjährigen Bestehen
des vereinten Deutschlands gemeinsam Reden halten
werden – so der Terminkalender von Frau Weber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411513900
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Eckart von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1411514000
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Mich wundert es
nicht, dass es dem Kollegen Ströbele nicht auf die Rechts-
lage ankommt. Es wundert mich auch nicht, dass er zum
Ende seines Beitrags auf das gekommen ist, was ihn wirk-
lich interessiert, nämlich nicht die Aufklärungsarbeit im
Untersuchungsausschuss, sondern die Diffamierung der
CDU.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will ein paar Worte zur Rechtslage sagen, auch

wenn, wie sich häufig gezeigt hat, Sie, Herr Ströbele, mit
diesem Rechtsstaat auf Kriegsfuß stehen und Sie sich
nicht zuletzt auf dem Anwaltstag dafür eingesetzt haben,
die verfassungsmäßigen Auskunftsverweigerungsrechte
einzuschränken. Ein Ausschluss des Kollegen Schmidt
aus dem Untersuchungsausschuss wäre ein Verstoß gegen
Art. 38 des Grundgesetzes. Untersuchungsausschüsse ar-
beiten nicht wie Gerichte auf der Grundlage richterlicher
Unabhängigkeit. Sie ermöglichen vielmehr eine par-
lamentarische Kontrolle und sind damit ein politisches In-
strument, bei dem die Mitglieder als Politiker und nicht
als Richter auftreten.




Hans-Christian Ströbele

10999


(C)



(D)



(A)



(B)


Das haben Sie in Ihrem Antrag, mit dem Sie den
Untersuchungsausschuss eingesetzt haben, selber be-
schlossen. Denn Sie haben in Ihrem Antrag die IPA-Re-
geln als Grundlage der Tätigkeit des Untersuchungsaus-
schusses akzeptiert. Dort steht in § 5 Abs. 3 ausdrücklich,
dass die Vorschriften der Strafprozessordnung über die
Ablehnung und Ausschließung von Richtern auf Aus-
schussmitglieder keine Anwendung finden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja auch gar nicht! Sie sollen ihn zurückziehen!)


Ihre Kritik ist nicht nur nicht konform mit der Rechts-
lage, sondern auch unlogisch und scheinheilig.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zu den Tatbeständen!)


Unlogisch ist sie deshalb, weil, gesetzt den Fall, es gäbe
die Möglichkeit einer Drehbuchaffäre,


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


also einer Absprache zwischen Ausschussmitgliedern und
Zeugen, was es unter der SPD-Mehrheit in Schleswig-
Holstein gegeben hat, wir dann, wie das in Schleswig-
Holstein der Fall war, die Verfahrensherrschaft bräuchten.
Die Verfahrensherrschaft hat man dann, wenn man im
Ausschuss die Mehrheit hat. Wie Sie aber wissen, ist die
CDU seit 1998 in der Opposition.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Gott sei Dank!)

Das heißt, das, was Sie uns vorwerfen, kann es logischer-
weise gar nicht geben, weil wir gar nicht die Verfahrens-
herrschaft haben.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist neu für Sie, dass Sie keine Verfahrensherrschaft haben! Daran müssen Sie sich noch gewöhnen!)


Ihre Kritik ist darüber hinaus scheinheilig, weil das,
was Sie unserem Obmann vorwerfen, von Ihnen selber
getan wird. Ihr Vorsitzender Neumann hat mehrfach mit
dem mit Haftbefehl gesuchten Zeugen Schreiber Kontakt
aufgenommen und mit ihm nicht nur Verfahrensfragen,
sondern auch inhaltliche Fragen besprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Ungeheurer Vorgang! – Widerspruch bei der SPD)


Ich will offen sagen: Ich habe nichts dagegen, wenn
wir uns bei der Einsetzung des nächsten Untersuchungs-
ausschusses darauf einigen, dass die Ausschussmitglieder
richterähnliche Verpflichtungen erhalten. Aber dann gilt
gleiches Recht für alle und nicht das, was Sie hier tun,
nämlich dass Sie auf der einen Seite die derzeit bestehen-
den Rechte selbstverständlich selber in Anspruch nehmen
und auf der anderen Seite unsere Kollegen diffamieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zum Thema!)


Es geht Ihnen überhaupt nicht um Aufklärung. Es geht
Ihnen auch nicht um ein faires und rechtsstaatliches Ver-
fahren. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass Ihr Aus-
schussvorsitzender im Dezember vergangenen Jahres
über die „Bild am Sonntag“ Ordnungsgeld und Beugehaft
für Helmut Kohl androht, ohne sein verfassungsmäßig
verbürgtes Auskunftsverweigerungsrecht anzuerkennen
und ohne ihm die Möglichkeit zu geben, in den nächsten
Wochen und Monaten überhaupt vor diesem Ausschuss
aufzutreten?


(Zurufe von der SPD: Aufhören!)

Wie wollen Sie überhaupt einen logischen Zusammen-

hang zwischen der illegalen Parteienfinanzierung

(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Informieren Sie sich doch erst einmal! Das stimmt doch alles gar nicht!)


und angeblicher Käuflichkeit von Regierungsentschei-
dungen herstellen, wenn Sie im Ausschuss überhaupt kein
Interesse daran zeigen, der Frage der angeblichen Käuf-
lichkeit nachzugehen?


(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch vom Kohl-Virus infiziert! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum lehnen Sie jeden Antrag der CDU/CSU dahin ge-
hend, diejenigen, die in der Regierung an verantwortli-
cher Stelle tätig waren, zu vernehmen, ab? Warum ver-
weigern Sie die Vernehmung von Helmut Kohl zu diesen
Fragen und geben ihm erst im Dezember dieses Jahres die
Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen? Warum werfen
Sie ihm die angeblich von ihm und dem ehemaligen
Minister Bohl zu verantwortende Löschung von Dateien
vor,


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Nicht angeblich! Tatsächlich! während Sie ihm gleichzeitig den Bericht des Sonderermittlers vorenthalten? (Anhaltende Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, was in diesem Be-
richt auch steht – dies hat Herr Hirsch gegenüber Herrn
Bohl zum Ausdruck gebracht hat –, nämlich dass Herr
Hirsch nicht erkennen kann, dass sich im Laufe der Un-
tersuchung eine Verantwortung seitens Herrn Bohl und
des Altbundeskanzlers Helmut Kohl für diese Datenlö-
schung nachweisen ließ?


(Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Der Herr Bohl hat das längst revidiert, Herr Kollege!)


Ich will Ihnen sagen, warum Sie das alles nicht tun: Ih-
nen ist in Wirklichkeit an Aufklärung nicht gelegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt die CDU! – Detlev von Larcher [SPD]: Das glaubt Ihnen noch nicht einmal Ihre Großmutter!)





Eckart von Klaeden
11000


(C)



(D)



(A)



(B)


Aus parteipolitischer Sicht habe ich für Ihr Verhalten
durchaus Verständnis. Wären Sie aufgrund einer Partei-
spendenaffäre in einer ähnlich schwierigen Lage, würden
wir es genauso machen. Darauf können Sie sich verlassen.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist endlich einmal ehrlich!)


Sie müssen aber doch wenigstens die Gesetze der Logik
einhalten. Wenn Sie also zwischen illegalen Spenden und
einer angeblichen Käuflichkeit einen Zusammenhang
herstellen wollen, dann müssen Sie doch zunächst einmal
die Käuflichkeit beweisen oder zumindest bei Ihrer Tätig-
keit im Untersuchungsausschuss den Willen an den Tag
legen, diesen Vorwürfen überhaupt nachzugehen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich nenne keine Namen, hat Herr Kohl gesagt!)


Nein, für Sie stand das Urteil bereits vor der Untersu-
chung fest.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! – Dr. Peter Danckert [SPD]: Die Zahlungen stehen fest!)


Für Sie stehen die Beweisergebnisse fest, ohne zuvor eine
Beweisaufnahme durchgeführt zu haben.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Es ist doch Geld geflossen!)


Das ist kein rechtsstaatliches Verfahren.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Damit schaden Sie nicht nur dem Ansehen des Untersu-
chungsausschusses, sondern dem des ganzen Parlaments.


(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Das ist auch so ein „brutalstmöglicher Aufklärer“!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514100
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Frank Hofmann.


Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1411514200
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr von Klaeden, es geht
nicht darum, hier Gesetze der Logik einzuhalten, sondern
darum, dass Sie Gesetze einhalten müssen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Unter dem Eindruck der Ausschusssitzung des gestri-
gen Abends muss ich hier noch einmal sagen: Herr
Dr. Kohl, nennen Sie die Namen der Spender!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Können Sie mir darin nicht zustimmen, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Haben wir in dem Punkt einmal widersprochen, Herr Hofmann?)


Ist das Ihre Art der Aufklärung?

Herr Dr. Kohl, was Sie sich selbst zugestehen wollen,
nämlich das Ehrenwort über das Gesetz zu stellen, müss-
ten Sie doch auch jedem Bürger der Bundesrepublik
Deutschland zugestehen, und das wäre für unsere
Rechtsordnung untragbar. Dies ist ein Skandal!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Zusammenarbeit zwischen den CDU/CSU-Mit-
gliedern im Untersuchungsausschuss und dem Zeugen
Helmut Kohl ist ein weiterer Skandal. Am Donnerstag
vergangener Woche wollte man die Treffen zwischen
Schmidt und Kohl noch vertuschen. Dann wurden sie
heruntergespielt. Auf Druck musste man schließlich zu-
geben: Die Treffen fanden systematisch statt, nämlich im-
mer vor wichtigen Zeugenaussagen, und dabei wur-
de – im Beisein von Mitarbeitern – über Inhalte des Un-
tersuchungsausschusses gesprochen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Trägt das zur Aufklärung durch den Untersuchungsaus-
schuss bei oder ist das nicht vielleicht doch Vertuschung?

Ob man die Pflichten eines Abgeordneten im Untersu-
chungsausschuss sinngemäß aus der Strafprozessordnung
ableitet oder aus den gewachsenen Verhaltensregeln für
jene Mitglieder, ist unwichtig. Fest steht: Wenn Herr
Schmidt jederzeit mit Herrn Kohl über Inhalte des Unter-
suchungsausschusses reden möchte, dann darf er nicht
Mitglied des Untersuchungsausschusses bleiben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dass die CDU/CSU ihre Pflichten im Untersuchungs-
ausschuss durchaus kennt, zeigt sich daran, dass der stell-
vertretende Ausschussvorsitzende, Herr Friedrich, es ab-
gelehnt hat, mit dem Zeugen Erich Riedl zu reden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Umso mehr verwundert es mich, dass er bei Helmut Kohl
antanzt.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Dr. Kohl!)


Lässt man den gestrigen Beitrag seitens der Union Re-
vue passieren, hat man wieder Steilvorlagen für das his-
torische Geschwätz des Zeugen Kohl.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Steht es Ihnen zu, von Geschwätz zu reden? Ich denke, das sind Aussagen!)


Zeigt sich bei Herrn Schmidt eigentlich Unrechtsbe-
wusstsein? Ja, vergangenen Donnerstag mussten Kohl
und Schmidt zugeben, dass es nicht nur Gespräche am
Rande des Plenums, sondern auch systematische Treffen
gab.


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Hat er doch eine Woche vorher gesagt! Geben Sie das doch einmal zu!)





Eckart von Klaeden

11001


(C)



(D)



(A)



(B)


Auf Nachfrage im Untersuchungsausschuss erklärte Kohl,
diese Treffen seien auf seinen Wunsch zustande gekom-
men. Aus dem Kalender von Frau Weber ergibt sich je-
doch, dass es sich um eine Art Jour fixe handelte, immer
terminiert vor wichtigen Zeugenaussagen. Herr Schmidt
musste eingestehen, dass die Treffen mit Helmut Kohl
auch auf seine Initiative hin zustande gekommen sind.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was heißt „eingestehen“?)


Hätte Herr Schmidt kein schlechtes Gewissen gehabt,
hätte er die Karten an diesem Donnerstag vollständig auf
den Tisch gelegt und hätte nicht rumgeeiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Evelyn Kenzler [PDS])


Herr Schmidt denkt und handelt wie ein „Kohlianer“.
Treffend wird er in der heutigen Ausgabe der „Süddeut-
schen Zeitung“ als Kleinausgabe von Helmut Kohl be-
zeichnet. Er gehört zu den Marionetten an den Fäden
Kohls und hält das System Kohl mit am Leben. Er be-
schädigt das Ansehen des Parlaments und des Untersu-
chungsausschusses und ist deshalb nicht weiter tragbar.
Eine Zusammenarbeit ist unzumutbar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die parlamentarische Kultur und die politische Hy-
giene erfordern,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dafür sind Sie der Garant!)


dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, son-
dern Konsequenzen zieht. Herr Merz und Frau Merkel,
ziehen Sie Konsequenzen! Herr Merz und Frau Merkel,
ziehen Sie Herrn Schmidt aus dem Untersuchungsaus-
schuss zurück!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und Herrn Kohl aus dem Bundestag!)


Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Fraktions-
spitze dies überhaupt nicht will. Sie wurde nach Aussage
von Herrn Schmidt über die Treffen informiert; er hat
Herrn Repnik informiert. Ist der Fraktionsvorsitzende
Merz auch informiert worden? Ist er vielleicht in diesen
Fällen nur ein vorgeschobener Posten im weiter funktio-
nierenden System Kohl?


(Lachen bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles „Kohlianer“!)


Herr Merz und Frau Merkel, wenn Sie sich vom Sys-
tem Kohl lösen wollen, dann können Sie jetzt die richti-
gen Zeichen setzen. Entsenden Sie ein neues Mitglied in
den Untersuchungsausschuss, das keine krummen Touren
macht, sondern tatsächlich aufklären will! Entsenden Sie
jemanden, der weder der Kumpanei noch der Komplizen-
schaft verdächtig ist! Entsenden Sie jemanden, der nicht
in die Fußstapfen Schmidts tritt, sondern auf eigenen
Füßen steht! Erweisen Sie dem Parlamentarismus, dem

im Grundgesetz verankerten Untersuchungsausschuss
Ihren Dienst!

Danke.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514300
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1411514400
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! In der Aufgeregtheit der letzten
Tage hat es einige retardierende Momente gegeben, bei
denen man den Eindruck gehabt hat – das war zum Bei-
spiel am Ende der Ausschusssitzung am letzten Donners-
tag oder auch heute Vormittag bei einer Diskussion zwi-
schen Herrn Schmidt, Herrn Wend und mir der Fall –, es
gebe in diesem Parlament noch ein Bewusstsein dafür,
dass dieser Untersuchungsausschuss auf eine ganz kriti-
sche Situation hinsteuert, nämlich eine Situation, die das
Institut Untersuchungsausschuss schlechthin infrage
stellt.


(Beifall der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.] sowie bei Abgeordneten der SPD)


So wie jetzt in dieser Aktuellen Stunde agiert wird, habe
ich allerdings nicht den Eindruck, dass dies allen klar ist.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, hören Sie sich draußen ein-

mal um, wie dieser Untersuchungsausschuss wahrgenom-
men wird. Er ist lange Zeit als inkompetent und erfolglos
wahrgenommen worden. Jetzt werden seine Mitglieder
als befangen wahrgenommen. Man merkt, dass die Er-
kenntnis noch nicht überall vorgedrungen ist, dass jetzt
eine Diskussion um das Selbstverständnis solcher Unter-
suchungsausschüsse einsetzen muss.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Bevölkerung erwartet von uns – dazu gibt das ge-
samte Parlament den Mitgliedern der Untersuchungsaus-
schüsse den Auftrag –, dass wir schwierige Sachverhalte,
deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, untersu-
chen, und zwar durchaus – das ist ja nicht verbo-
ten – von einer eigenen Position herkommend, aber mit
der Bereitschaft, am Ende zu akzeptieren, was die Unter-
suchung erbracht hat. Dazu gehört, dass man es nicht bei
Lippenbekenntnissen belässt, wenn man von der Bereit-
schaft zu umfassender Aufklärung spricht.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


– Vorsicht, Herr Schmidt, Sie klatschen zu früh. – Denn in
einer Befragung nur Stichworte für Monologe zu geben,
die am zweiten Donnerstag wortgleich wie am ersten
Donnerstag wiederholt werden, und dann immer noch zu
sagen, der Zeuge komme hier nicht zu Wort, das ist es
nicht.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– So war es gestern.




Frank Hofmann (Volkach)

11002


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir brauchen, wie gesagt, nicht Lippenbekenntnisse,
sondern die echte Bereitschaft zu umfassender Auf-
klärung. Aber wir brauchen auch die Bereitschaft und die
Souveränität, an einem Ausschusstag nach der Beweis-
aufnahme vor die Fernsehkameras zu treten und zu erklä-
ren, heute habe sich ein bestimmter Verdacht, der zum
Beispiel gegen die frühere Bundesregierung erhoben wor-
den sei, nicht oder noch nicht erwiesen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Auch diese Souveränität wird von Ausschussmitgliedern
verlangt; ich vermisse sie bei anderen.

Meine Damen und Herren, wir sind nicht blauäugig.
Wir wissen genau, dass das, was unsere Fraktionen er-
warten, in einem ziemlichen Gegensatz zur Erwartung der
Öffentlichkeit steht. Unsere Fraktionen – reden wir nicht
darum herum – wollen, dass das Ausschussergebnis so ist,
dass jeweils die eigene Fraktion möglichst ungeschoren
davonkommt und bei den anderen möglichst viel hängen
bleibt. Dazu sollen wir durch unsere Tätigkeit beitragen,
das ist die Erwartung, die an uns gestellt wird.


(Detlev von Larcher [SPD]: Nein, wir sollen aufklären!)


In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
Ich sage Ihnen dazu eines: Wer hier meint, dass ein

Untersuchungsausschuss ausschließlich ein politisches
Kampfinstrument ist, der legt die Hand an die Wurzel die-
ses Instituts.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn dann können Sie die Diskussion überhaupt nicht
mehr vermeiden, und diese Diskussion hat durch die ein-
drucksvolle Darlegung von Burkhard Hirsch in der letz-
ten Woche noch gewonnen.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich konnte dabei nicht verstehen, dass man, bevor man
den Bericht kannte, gesagt hat, Burkhard Hirsch sei nicht
unparteilich.

Diese Diskussion wird auf Folgendes hinauslaufen: Es
ist womöglich besser, solche schwierigen Sachverhalte
durch unabhängige Dritte, externe Untersuchungsführer
überprüfen zu lassen, als sie den Parlamentariern in die
Hand zu geben, wenn Sie sich dieses Instruments weiter-
hin so bedienen, wie das in den letzten Wochen auf allen
Seiten geschehen ist.

Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, dass hier Beson-
nenheit einkehrt und wir uns an einen Tisch setzen. Es
gibt dazu Gelegenheit, weil auf Antrag der F.D.P.-Frak-
tion und auf Antrag der Koalitionsfraktionen Gesetzent-
würfe über das Recht des Untersuchungsausschusses vor-
liegen. Im Zuge der Beratungen muss klargestellt wer-
den, dass die Ausschussmitglieder unabhängig und nicht
weisungsgebunden sind. Die Mitglieder müssen sich aber
auch so verhalten, Herr Kollege Schmidt, dass schon der

äußere Anschein vermieden wird, sie seien nicht mehr
unabhängig.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)


Es kommt nicht darauf an, was bei solchen Begegnungen
im Einzelnen genau besprochen wird. Die Grenzlinie ist
schon vorher überschritten. Wer das von außen beobach-
tet, kann nicht mehr glauben, dass ein solches Aus-
schussmitglied unbefangen ist.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wenn wir aus dieser Krise der Untersuchungsaus-
schüsse etwas lernen wollen, dann ist es höchste Zeit, an
die Gesetzgebung zu gehen und noch in diesem Jahr das
Untersuchungsausschussgesetz zu verabschieden, und
zwar mit den von uns vorgeschlagenen Ergänzungen, die
bisher in beiden Entwürfen nicht enthalten sind. Es wäre
etwas gewonnen, wenn wir uns für die Zukunft darauf ei-
nigen könnten, das Institut Untersuchungsausschuss so zu
gebrauchen, dass es in der Öffentlichkeit dem Parlament
an Ansehen zuträgt und nicht nimmt.

Das ist nicht blauäugig oder idealtypisch gedacht, das
ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514500
Für die PDS-Fraktion
spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1411514600
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die letzten beiden Wochen
waren für unseren Untersuchungsausschuss wirklich
ereignisreich, allerdings im negativen Sinne. Der von
der Bundesregierung eingesetzte Sonderermittler, Herr
Burkhard Hirsch, wies in seinem Bericht nach, dass Da-
tenlöschungen und Aktenvernichtungen in unglaubli-
chem Umfang im Bundeskanzleramt im Zusammenhang
mit dem Regierungswechsel vorgenommen wurden, dass
es zwischen der Einsetzung von Untersuchungs-
ausschüssen in der 12. und 13. Wahlperiode und der Ver-
nichtung sowie Manipulation von Akten einen unmittel-
baren zeitlichen sowie inhaltlichen Zusammenhang
gibt und dass Akten für die entscheidungsrelevanten
Zeiträume nicht mehr aufzufinden sind.

Das bestärkt mich in meiner Auffassung, dass es sich
hierbei nicht um einen losgelösten Vorgang der Aktenver-
nichtung zum Ende der Regierungszeit Kohl handelt, son-
dern dass die Klärung der immer noch offenen Fragen,
wer aus welchem Grund welche Akten vernichtet bzw.
welche Aktenbestände „geflöht“ – so die Ausdrucksweise
eines früheren Mitarbeiters im Kanzleramt – hat, eine
Schlüsselaufgabe zur Erfüllung unseres Untersuchungs-
auftrags ist.


(Beifall bei der PDS und der SPD)

Eigentlich reicht schon dieser Aktenvernichtungsskan-

dal. Aber die CDU sattelt noch eines drauf. Ich frage mich




Dr. Max Stadler

11003


(C)



(D)



(A)



(B)


wirklich ernsthaft: Was hat Sie geritten, quasi regel-
mäßige erweiterte Arbeitsgruppensitzungen Ihrer Aus-
schussmitglieder zusammen mit Helmut Kohl, einem der
wohl wichtigsten Zeugen, durchzuführen, und das auch
noch mit Zustimmung Ihrer Fraktionsführung?


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu der weitgehend geschlossenen Front von schwei-
genden und höchst vergesslichen Zeugen und zu dem Di-
lemma, dass wir uns mit zum Teil dürren Aktenfragmen-
ten herumschlagen müssen, kommt nun auch noch der
Verdacht der zielgerichteten Absprache von Zeugenver-
halten unter Beihilfe von CDU-Ausschussmitgliedern.

Herr Kollege Schmidt hat zwar in seiner gestrigen Ver-
nehmung als Zeuge vor dem Ausschuss erklärt, dass er
seine Rechte und Pflichten kenne und er keinerlei Ab-
sprachen mit Helmut Kohl im Hinblick auf dessen oder
das Verhalten anderer Zeugen getroffen habe. Er lieferte
aber keine plausible Erklärung dafür, dass er und weitere
seiner Ausschusskollegen sich jeweils zeitnah, das heißt
in der Regel einen Tag vor wichtigen Zeugenvernehmun-
gen, mit Helmut Kohl getroffen haben. Wenn es jeweils
nur um informatorische bzw. orientierende Gespräche zu
den Komplexen Leuna/Minol und Saudi-Arabien ging,
fragt man sich nach wie vor, warum man sich hierzu je-
weils einen Tag vor der Vernehmung von Zeugen zu ganz
anderen Themenkomplexen zusammengesetzt hat, und
dies in der für den Ausschuss kostbaren Vorbereitungs-
zeit.


(Beifall bei der PDS)

Ich wundere mich, dass niemand auf die Idee gekom-

men ist, die jeweiligen Themenkomplexe in Klausurta-
gungen abzuhandeln und hierzu auch noch einen größe-
ren Kreis von Mitgliedern der Fraktion einzuladen.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS)

Aber vielleicht bekommen wir Obleute aus den anderen
Fraktionen für Ihre nächsten informellen Treffen sogar
eine Einladung.

Der politische Anstand, lieber Kollege Schmidt, hätte
es aufgrund des dringenden Verdachts zielgerichteter
Zeugenabsprachen geboten, dass Sie als Obmann Ihrer
Fraktion im Ausschuss die entsprechenden Konsequenzen
ziehen; so sehr ich bedaure, Ihnen dies sagen zu müssen.


(Beifall bei der PDS)

Nach dem Verlauf des gestrigen Tages und insbesondere
auch dem Eingeständnis, dass diese intensiven Konsulta-
tionen mit Billigung der Fraktionsspitze stattgefunden
haben, ist dies jedoch kaum noch zu erwarten.

Der ganze Vorgang ist Ausdruck des Dilemmas, in dem
sich die CDU-Führung befindet. Einerseits will sie ihren
großen Altvorsitzenden retten, kann sich andererseits aber
nicht von ihm lösen. Ihr ist das Unbehagen über Helmut
Kohls uneinsichtige Haltung sehr anzumerken.

Es wird deshalb höchste Zeit, Verhaltensregeln bzw. ei-
nen Ehrenkodex für das Verhalten von Ausschussmitglie-
dern gegenüber Zeugen interfraktionell zu verabreden.

Ich halte die hierzu von der F.D.P.-Fraktion gemachten
Vorschläge für eine sinnvolle Diskussionsgrundlage, um
möglichst zügig zu einer Einigung zu kommen. In jedem
Fall ist eine Verständigung noch vor Verabschiedung des
Untersuchungsausschussgesetzes erforderlich.

Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung erlaubt:
Wenn wir jetzt nicht trotz aller Zuspitzung und parteipo-
litischem Geklapper der letzten beiden Wochen schleu-
nigst auf die Sach- und Arbeitsebene zurückkehren, lau-
fen wir Gefahr, uns immer weiter vom Untersuchungsge-
genstand zu entfernen und den letzten Kredit, den der
Ausschuss noch in der Öffentlichkeit besitzt, zu ver-
spielen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten deshalb trotz aller berechtigten Kritik die
heutige Debatte dazu nutzen, zu einem vernünftigen Ar-
beitsklima zurückzufinden, denn dieser Ausschuss hat ei-
nen wichtigen Auftrag zu erfüllen und darf nicht in erster
Linie dem politischen Selbstzweck dienen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514700
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! In dieser Debatte geht es um die politische Kultur in
diesem Land. Es geht um Lauterkeit und Integrität von
Politik und um Ehrenhaftigkeit von Politikern und Politi-
kerinnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Es geht um Moral und Politik. Es geht um den Umgang
mit der Verfassung und um die Achtung von Gesetzen,
also um den demokratischen Konsens. Es geht um die Zu-
kunft der Demokratie, denn sie basiert auf Glaubwürdig-
keit und Transparenz. Es geht aber auch um den Verweis
auf Ehrenworte, die höchst unehrenhaft sind, und das Be-
stehen darauf.

Wenn Politik in den Geruch kommt, korrupt zu sein,
wenn sie mit bemakeltem Geld beeinflusst wird, kommt
bemakelte, dubiose Politik heraus. Dies muss notwendi-
gerweise zu einem dramatischen Ansehensverlust führen,
der eine Bedrohung für die Demokratie ist und ihr sehr
großen Schaden zufügt. Dies war die Ausgangsposition
des Untersuchungsausschusses. Dies ist der Anfangsver-
dacht.

Ich erinnere an die Phase der öffentlichen Beteuerun-
gen der CDU/CSU, „rückhaltlos“ – ich kann das Wort ei-
gentlich nicht mehr hören – aufklären zu wollen. Man
wolle dazu beitragen, dass offene Fragen beantwortet und
objektive Verdachtsmomente entkräftet werden. Man er-
innere sich an die großen, hehren Worte und den Gestus




Dr. Evelyn Kenzler
11004


(C)



(D)



(A)



(B)


vom Neuanfang und von nachhaltiger Aufklärungsbereit-
schaft. Was ich in den letzten Tagen und Wochen im
Untersuchungsausschuss erleben musste, verkehrt diese
Ankündigungen in hohle Phrasen und ins pure Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wo, bitte schön, sind der Neuanfang und die Auf-
klärungsbereitschaft, wenn Dr. Kohl in einer Art von
selbstgerechtem Autismus in der Pose des Staatsmannes
erstarrt, wenn er sich selbst auf das historische Podest er-
hebt, um sich dann mit all seiner Halsstarrigkeit


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Altersstarrsinn!)


selber zu stürzen, wenn er verkündet: Ich denke gar nicht
daran, Namen zu nennen? – Das unehrenhafte Ehrenwort,
es bleibt die Richtschnur des Handelns und nicht Recht
und Gesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es gibt keine Spur von Unrechtsbewusstsein, sondern nur
Attacken auf den politischen Feind. In solchen Kategorien
denkt Dr. Kohl: Tiraden gegen die Presse, historische Ver-
gleiche, die wirklich jeder Beschreibung spotten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das System Kohl, es schlägt um sich: Vertuschen, Ver-
drängen, Verdecken, Vergessen.

Aber es ist eben nicht nur Helmut Kohl, sondern
auch – ich bedauere das sehr – Andreas Schmidt, der Ob-
mann der CDU/CSU-Fraktion, der dieses System, diese
Logik stützt und allerspätestens gestern gezeigt hat, was
er vom großen Meister alles gelernt hat.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Er war es, der Ausschusssitzungen mit Dr. Kohl kontinu-
ierlich, systematisch und akribisch vorbereitet hat. Er hat
also gelernt, dass Verhaltensnormen in einem Untersu-
chungsausschuss für ihn scheinbar nicht gelten, dass die
Pflicht der Abgeordneten, sich lauter und ehrenhaft zu
verhalten, für ihn scheinbar nicht gilt; denn das würde und
müsste bedeuten, Herr Schmidt, das Verbot der Kollabo-
ration


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Junge, Junge, Junge! Unglaublich!)


mit den Personen zu beachten, deren Verhalten Gegen-
stand der Untersuchungen ist.

Herr Schmidt, Sie haben gelernt, sich mit beachtlicher
Chuzpe uneinsichtig und unbelehrbar zu zeigen. Anstatt
gestern Einsicht walten zu lassen, haben Sie angekündigt,
dass Sie genauso weitermachen wie bisher. Ich muss Ih-
nen sagen, Herr Schmidt: Eine solche Frechheit macht
mich wirklich fast sprachlos.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber es ist mehr als freche Provokation, denn es bringt
den ganzen Ausschuss in Misskredit. Es ist eine beispiel-
lose Erosion, ein beispielloser Verfall der politischen Sit-
ten. Deswegen hat der Ausschuss beschlossen, die
CDU/CSU-Fraktion aufzufordern, Sie zurückzuziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wird sehr deutlich, dass Neuanfang nicht nur heißt,

Führungskräfte auszuwechseln und ansonsten Gras über
den Skandal wachsen zu lassen nach dem Motto: Die Zeit
läuft eh für uns. Wissen Sie was: Die Zeit läuft gegen die
Demokratie in Deutschland; das ist das Schlimme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Dazu trägt die CDU/CSU aktiv bei. Sie trägt dazu – das
bedauere ich am allermeisten – mit immer unappetit-
licheren und unanständigeren Mitteln bei. Ich finde es un-
anständig und unappetitlich und erbärmlich, wie Sie ver-
sucht haben, Burkhard Hirsch zu diskreditieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Burkhard Hirsch ist ohne jeden Zweifel – das sage ich
nicht, weil ich einmal Jungdemokratin war – eine der in-
tegersten Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutsch-
land. Was Sie mit dem Mittel der politischen Diskreditie-
rung versucht haben, soll vom eigenen Skandal ablenken,
der Vorstellungskräfte sprengt. Systematisch wurden Da-
ten, Akten vernichtet, manipuliert, wurde ein Anschlag
auf das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland ver-
übt. Es ist nicht nur Ihr Gedächtnis.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es ist auch das Gedächtnis meiner – Kinder habe ich
nicht – Neffen und Nichten und deren Kindern. Es handelt
sich um Akten, die Regierungshandeln nachvollziehbar
machen. Diese Vernichtung war keine Panne, sie war kein
Zufall und sie war kein Umzugsschwund, sondern sie war
System. Jetzt müssen Sie beantworten, warum genau die
Akten verschwunden sind, die exakt etwas mit dem Un-
tersuchungsgegenstand zu tun haben. Was dem Fass – ich
sage es jetzt als Schwäbin – de Bode endgültig naushaut,
ist, zu sagen, die neue Regierung sei für diese Vernichtung
verantwortlich, wie er es gestern getan hat. Aber es gibt ja
noch den gesunden Menschenverstand und da wird klar,
wie abenteuerlich eine solche Behauptung ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514800
Frau Kollegin Roth,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Letzter Satz: Ich fordere im Sinne der Demokratie
in diesem Land die neue CDU/CSU-Führung wirklich
und aufrichtig auf, sich nicht zurückzuhalten, nichts still-
schweigend zu billigen. Ich fordere Herrn Merz auf, von
dem „Ich muss mich schützend vor Kohl stellen“ abzu-
kehren. Beweisen Sie endlich, dass Moral und Politik kein




Claudia Roth (Augsburg)


11005


(C)



(D)



(A)



(B)


Widerspruch sind, sondern dass Moral in die Politik
gehört. Wenn sie sich widersprechen, dann kommt unmo-
ralische Politik heraus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411514900
Der nächste Redner in
der Debatte ist Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1411515000
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Tonart, Vokabular und Laut-
stärke meiner Vorrednerin zwingen mich jetzt, Folgendes
auszuführen: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit
einer gesetzlichen Regelung des Untersuchungsausschus-
ses oder eines Ehrenkodexes muss ich sagen, dass ich den
größten Ehrabschneider dieses Hauses, den früheren Ter-
roristenanwalt – und nicht nur Terroristenanwalt –


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den denkbar schlechtesten Fürsprecher für die Forderung eines irgendwie gearteten Ehrenkodexes halte, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Das ist unglaublich! Schämen Sie sich! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin, haben Sie eine Valiumspritze?)


Das war die Provokation und die Antwort. Ich kann mich
nämlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Ströbele
seinen Kriegspfad noch nicht verlassen hat.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was darf der eigentlich alles sagen?)


In meinem bisherigen politischen Leben bin ich davon
ausgegangen, dass die politisch Andersdenkenden Kon-
kurrenten, allenfalls Gegner, aber jedenfalls keine Feinde
sind.


(Zurufe von der SPD: Aufhören!)

Diese an einen Vernichtungsfeldzug grenzende Kampa-
gne, Herr Ströbele,


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


hat mich eines anderen, aber leider nicht eines Besseren
belehrt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr davon, wir wollen mehr hören! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiter!)


Damit auf den groben Klotz der Frau Roth ein grober
Keil kommt, will ich zu dem Teil der Rede kommen, die
ich gehalten hätte, wenn Frau Roth nicht diese Töne an-
geschlagen hätte.


(Detlev von Larcher [SPD]: Zugabe!)


Als ehemaliger Richter eines Obergerichts in Hessen
muss ich sagen: Ich kann nur den Kopf darüber schütteln,
wie einige – je nachdem, wie es ihnen passt – den Unter-
suchungsausschuss in die Nähe eines Gerichtsverfahrens
rücken. Weder die objektiven Kriterien – faires Verfahren,
Beweislast, rechtsstaatliche Grundsätze – noch die sub-
jektiven Voraussetzungen, die an ein Mitglied zu stellen
sind – Herr Ströbele, dazu gehört unter anderem auch der
Mangel an rechtskräftiger Verurteilung – dienen dazu,
dieses Verfahren wie ein Gerichtsverfahren zu führen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso reden Sie denn mit einem Terroristen? – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon die IPA-Regeln gesehen, was da drinsteht?)


Herr Stadler, ich gebe Ihnen Recht: Es handelt
sich um eine gewisse Zwitterstellung. Nur, der Herr
Neumann ist mitnichten Vorsitzender einer Schwurge-
richtskammer, die Mitglieder des Ausschusses sind mit-
nichten Geschworene und Herr Kohl ist in diesem Ver-
fahren auch nicht der Angeklagte.


(Detlev von Larcher [SPD]: Machen Sie weiter so!)


Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie schon diese hohen Kau-
telen fordern, muss natürlich auch das Maß gleich sein.
Nachdem mich die Vorrednerin provoziert hat, Herrn
Ströbele aufs Korn zu nehmen, will ich einmal auf Herrn
Neumann zu sprechen kommen:


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie doch einmal auf sich zu sprechen! – Susanne Kastner [SPD]: Ich würde mich als CDU/CSU schämen für eine solche Rede!)


Wie ist eigentlich das Telefongespräch zwischen ihm und
einem der schillerndsten Figuren in diesem Komplex,
nämlich Herrn Schreiber, zu bewerten?


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Darüber gibt es Vermerke!)


Wenn der Herr Neumann einen entscheidungserheblichen
Unterschied darin sieht, dass nicht er den Herrn Schreiber
angerufen habe, sondern mit der Bitte zurückzurufen Herr
Schreiber ihn, ist das eine groteske Einlassung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Herr Schäuble hat von der schillernden Figur 100 000 DM genommen!)


Wenn die Konsequenz eines Gesprächs wie des Ge-
sprächs von Herrn Schmidt mit Herrn Kohl ist, dass man
Herrn Schmidt als Zeuge benennt, dann muss sich der
Herr Neumann auch als Zeuge benennen lassen.
Das geht nicht anders, sonst wird hier mit zweierlei Maß
gemessen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Allein die Einlassung, er habe offenkundige Tatsachen

genannt, ist eine vorweggenommene Beweiswürdigung,




Claudia Roth (Augsburg)

11006


(C)



(D)



(A)



(B)


die hier nicht zulässig ist. Herr Ströbele, Sie stigmatisie-
ren jeden Ihrer politischen Gegner und verdächtigen ihn,
er habe als mittelbarer Zeuge von den Spendernamen
Kenntnis erhalten. Wer kennt denn eigentlich den Inhalt
des Gespräches zwischen Herrn Neumann und Herrn
Schreiber?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat dies im Gegensatz zu Herrn Schmidt mitgeteilt!)


Ich will mir nicht die Diktion von Herrn Ströbele zu Ei-
gen machen und mich nicht mit Ihnen gemein machen, in-
dem ich den Vorwurf erhebe, hier würde eine Drehbuch-
legende geschrieben. Wenn ich Ihre sophistische Art an
den Tag legen würde, müsste ich sagen, Sie hätten genug
Anlass gegeben.

Wie ist zum Beispiel das Schreiben von Holzer an den
früheren Bundeskanzler bereits am 27. September 1999
zum „Spiegel“ gelangt, obwohl erst am 13. Oktober der
Kollege Beucher in seiner Anfrage vermeintlich den An-
lass zur Suche gegeben hat? Ich werde nicht behaupten,
dass dort Regie geführt wurde und der Regisseur im
Kanzleramt saß.


(Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD])

Ich werde mich nicht mit ähnlich verleumderischen Ar-
gumenten oder in der gleichen Tonlage wie Sie hier prä-
sentieren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1411515100
Herr Kollege Gehb,
Sie haben das Stichwort „Tonlage“ gegeben. Bei allem
Verständnis, dass der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde
manchmal das Temperament durchgehen lässt, muss ich
darauf hinweisen, dass dies dort seine Grenze findet, wo
Kolleginnen und Kollegen beleidigt werden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich möchte zumindest den Ausdruck „Ehrabschneider“
zurückweisen. Dies ist kein Ordnungsruf, aber ich möchte
Sie darauf verweisen, dass ein solcher Umgang mit Kol-
leginnen und Kollegen nicht dem Stile des Hauses ange-
messen ist.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich erteile jetzt dem Kollegen Rainer Wend für die
SPD-Fraktion das Wort.


Dr. Rainer Wend (SPD):
Rede ID: ID1411515200
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr von Klaeden, ich
muss Ihnen vorab eines ganz deutlich sagen:


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Was Sie hier vorgeführt haben, war nicht die von Ihnen
immer wieder beschworene brutalstmögliche Aufklärung,
sondern vielmehr die brutalstmögliche Verteidigung des

Systems Kohl, was ich in dieser Situation für unange-
bracht halte.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen etwas Weiteres
sagen: Wenn Sie als jüngere Führungskraft in der CDU
nicht kapieren, dass Sie auf diesem Weg einhalten und
umkehren müssen, dann werden Sie Ihre Partei ins Ver-
derben führen, und daran kann niemand in unserem Land
ein Interesse haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich muss Ihnen deutlich sagen – Herr Repnik ist leider
gerade herausgegangen –: Nach dem, was Herr Gehb hier
geboten hat, hätte sich die CDU einen Gefallen getan,
wenn sie ihn nicht als Redner nominiert hätte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Er hat nicht nur andere Parlamentarier beleidigt. Wer in
unserem Lande angesichts der Tatsache, dass die CDU
Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank geführt
hat, Unterlagen in einem Safe in der Schweiz gelagert und
die Stiftung Norfolk in Liechtenstein gegründet hat, uns
einen Vernichtungsfeldzug vorwirft, hat jedes Maß an
Realitätssinn verloren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Weder Herr von Klaeden noch Herr Gehb haben ver-
standen, dass ich Herrn Schmidt nicht vorwerfe, er habe
mit Kohl kollaborierend den Untersuchungsausschuss in
die Irre führen wollen.


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Das will ich ja auch nicht!)


Ich werfe ihm Folgendes vor: Wer sich am Vorabend der
Zeugenvernehmung von Herrn Weyrauch, der für die
CDU Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank an-
gelegt hat, mit Herrn Kohl trifft, wer sich am Vorabend
der Vernehmung von Herrn Terlinden, der das Geld von
Herrn Kohl physisch entgegengenommen und an Herrn
Weyrauch weitergeleitet hat, aber vor dem Ausschuss
schweigt, mit Herrn Kohl trifft und wer dann zwei Tage
vor der Vernehmung Kohls mit diesem Termine in seinem
Büro vereinbart und sich von der Zeugin Weber den Kaf-
fee servieren lässt – wie Sie es uns noch nett geschildert
haben –, der erweckt den Eindruck, er sei als Mitglied des
Untersuchungsausschusses nicht mehr unabhängig.

Sie tun etwas, was ich schlimmer finde: Sie laufen Ge-
fahr, im System Kohl wiederum von Ihrem früheren Ma-
tador missbraucht zu werden. Kohl baut doch wieder ein
Netz von Abhängigkeiten auf. Das ist ein Netz von Kum-
paneien. Das ist ein Versuch, um am Ende Frau Merkel
und Herrn Merz wieder in eine Loyalität mit ihm zu zwin-
gen, um zu verhindern, dass die CDU den endgültigen




Dr. Jürgen Gehb

11007


(C)



(D)



(A)



(B)


Bruch mit ihm vollzieht, Herr Schmidt. Vollziehen Sie
den Bruch und machen Sie keine Kumpanei mit Kohl!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe vor einer halben Stunde eine Tickermeldung
bekommen, in der es heißt:

Mehr als die Hälfte (51 Prozent) der Deutschen ist
der Meinung, dass die Politik der Regierung von Alt-
Bundeskanzler Helmut Kohl ... käuflich war.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nur 38 Prozent aller Befragten glauben, dass die
einstige Regierung bei ihren Entscheidungen nicht
bestechlich war, ...

Ich sage Ihnen heute eines: So lange Sie nicht auch über
gerichtliche Schritte Helmut Kohl zwingen, die Namen
der Spender bekannt zu geben, solange Sie die Geheim-
nisse um die Safes in der Schweiz, um die Stiftungen in
Liechtenstein und die Schwarzkonten einer Frankfurter
Privatbank nicht aufklären können, so lange werden Sie
den Ruf nicht los, dass Ihre Regierung bestechlich war,
meine Damen und Herren. Das ist Ihre Aufgabe.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Deshalb habe ich die dringende Bitte an Ihre Partei-
vorsitzende, Frau Merkel, und an Ihren Fraktionsvorsit-
zenden, Herrn Merz, dafür zu sorgen, dass Sie in Zukunft
in diesem Untersuchungsausschuss einen anderen Weg
gehen, Herr Schmidt. Verstehen Sie Ihre Hauptaufgabe im
Untersuchungsausschuss nicht darin, politisch gegen die
Sozialdemokratie zu kämpfen. Kämpfen Sie mit uns ge-
meinsam dafür, dass der dunkle Schleier über dem System
Kohl gelüftet wird. Dann hätten wir alle gemeinsam etwas
für unser Parlament und für die Arbeit im Untersu-
chungsausschuss geleistet.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411515300
Der Kollege Bötsch
hat seine Rede, die er jetzt halten wollte, zu Protokoll ge-
geben.1) Ob dies in der Aktuellen Stunde möglich ist, lasse
ich heute dahingestellt sein, weil wir alle in die Sommer-
pause gehen wollen.

Deswegen erteile ich jetzt dem Kollegen Cem Özdemir
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411515400
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den Gegen-
stand der heutigen Diskussion stand in der „Süddeutschen
Zeitung“ vom gestrigen Tage von Herbert Riehl-Heyse im
Feuilleton:

Das Parlament gibt sich in solchen Momenten auf –
und es ist von großer innerer Logik, dass das im
Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Ära Kohl
so deutlich geworden ist. Helmut Kohl hat – als er

sein System erst einmal etabliert hatte – nur noch we-
nig Verständnis für die Notwendigkeit und die
Schönheit der Gewaltenteilung gehabt. In seinen
Kabinettssitzungen saßen kunterbunt unter die
Minister gemischt die Anführer und Einpeitscher der
Parlamentsfraktionen; von seinem Kanzleramt aus
wurde derart ungeniert die Partei regiert, dass sich
die Beamten, nachdem vor der Machtübergabe näch-
tens noch schnell die Festplatten gesäubert worden
waren, sogar noch darauf berufen haben, es habe sich
vor allem um CDU-Interna gehandelt. Als hätten die
etwas in der Regierungszentrale verloren.

Meine Damen und Herren, hier ist in vortrefflicher Weise
beschrieben worden, was wir heute als System Kohl be-
zeichnen und was Gott sei Dank der Vergangenheit an-
gehören wird.

Meine Damen und Herren, von diesem System
Kohl – ich will das ohne Polemik sagen – haben Sie in
zum Teil sehr schwieriger Weise sich zu lösen versucht.
Sie haben Ihre gesamte Parteispitze, Ihre gesamte Frakti-
onsspitze ausgewechselt, nachdem in Bruchteilen deut-
lich geworden ist, was als System Kohl bezeichnet wird.
Dafür haben Ihnen viele Kollegen aus dem Hause Respekt
gezollt, insbesondere der neuen Parteivorsitzenden. Ich
erinnere an den Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ – er war in Ihren Reihen nicht unumstritten –
über die Abrechnung mit dem Ehrenvorsitzenden, den Sie
mittlerweile verloren haben.

Meine Damen und Herren, die Berichte, die wir jetzt
aus dem Untersuchungsausschuss bekommen und was
wir in diesen Tagen hören, ist nichts anderes als die Ex-
humierung des Altkanzlers, die gegenwärtig in Vorberei-
tung ist. Der Altkanzler soll als Denkmal und Symbol
wieder auferstehen. Die neue Unionsführung schafft es
gerade nicht, die Nabelschnur zu kappen. Sie laufen
herum wie geprügelte Kinder, die zwar über ihren Alten
schimpfen und jammern, sich aber trotzdem nicht von ihm
lösen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)


Frau Merkel und Herr Merz agieren ein bisschen so wie
Flugschüler, die zwar eifrig am Steuer drehen, sich dann
aber bei Turbulenzen darauf verlassen, dass der alte Leh-
rer noch immer den Kurs vorgibt und weiß, was richtig ist.

Herr Kollege Schmidt, Sie setzen Ihr eigenes Fehlver-
halten bewusst ein, den Ausschuss zu beschädigen und da-
mit das ganze Parlament und sein Ansehen zu demontie-
ren. Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen ist eines
der zentralen Rechte des Parlaments. Sie sind ein Teil des
wiedererstarkten Systems Kohl. Herr Schmidt, Sie kön-
nen es drehen und wenden, wie Sie wollen: Nach Ihrem
Treffen mit dem Altkanzler haben Sie Ihre Glaubwürdig-
keit irreparabel beschädigt. Das allein wäre vielleicht
noch verkraftbar. Aber für die CDU, glaube ich, kommt
das einer Katastrophe gleich. Schaden haben nicht nur die
Union und Herr Schmidt genommen. Schaden nehmen
wir alle: Schaden nimmt das Ansehen des Parlaments;
Schaden nimmt das Ansehen der Politik; Schaden nimmt
das Ansehen jedes Politikers, der sich für Ziele und In-




Dr. RainerWend
11008


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 5

halte engagiert; denn wir alle setzen uns dem Verdacht
aus, dass das, was das System Kohl war, für uns alle gilt.
Deshalb appelliere ich: Gehen Sie weiter auf dem Weg,
den Sie schon einmal eingeschlagen hatten! Die Union
war schon einmal weiter.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habe ich meine Zweifel!)


Gegenwärtig laufen Sie mit Siebenmeilenstiefeln dorthin
zurück, wo Sie angefangen haben, die Ära Kohl aufzuar-
beiten.

Machen wir uns für den Bruchteil einer Sekunde – län-
ger hält man es nämlich nicht aus – einmal den Spaß, uns
vorzustellen, was eigentlich passiert wäre, wenn es keinen
Regierungswechsel gegeben hätte und wenn das, was wir
heute wissen, aufgedeckt worden wäre. Ich glaube, wir
hätten es mit einer Staatskrise zu tun. Ich weiß, wovon ich
rede. Stellen Sie sich vor: Helmut Kohl wäre noch immer
Kanzler und die Union wäre, so wie sie sich gegenwärtig
präsentiert, die größte Regierungsfraktion und müsste das
alles aufarbeiten.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Dann wäre es ja nicht herausgekommen!)


Wir haben inzwischen gesehen, dass die Union es noch
nicht einmal schafft, sich vom Altkanzler loszulösen. Um
wie viel schwerer wäre es Ihnen gefallen, sich von einem
Kanzler zu lösen, der noch regiert hätte? Deshalb kann
man froh sein, dass es einen Regierungswechsel gegeben
hat, der uns die Chance bietet, alles aufzuarbeiten.

Vernunft wird bei Ihnen zunehmend durch die Defi-
nition von Gefolgschaft ersetzt. Es wird nur noch gefragt:
Bist du für oder bist du gegen Dr. Kohl? Es steht nicht
mehr die Frage im Mittelpunkt: Was ist eigentlich die
Wahrheit? Aber mit der Beantwortung dieser Frage soll-
ten wir uns eigentlich beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Union ist – ich glaube, ich spreche für die Mehr-
heit in diesem Hause – bedauerlicherweise nicht bereit
bzw. noch nicht bereit – ich hoffe, dass sich die Bereit-
schaft noch einstellen wird –, aus der Sackgasse des
Schweigens auszubrechen, in die sie sich hat führen las-
sen. Sie zahlen dafür einen sehr hohen Preis oder – wie es
von Brauchitsch im Titel seiner Memoiren genannt – den
Preis des Schweigens.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411515500
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz,
CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1411515600
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den
bisherigen Verlauf der Aktuellen Stunde Revue passieren
lässt, dann wird das evident, was mein Eindruck – ich

gehöre dem Untersuchungsausschuss nicht an – vom Un-
tersuchungsausschuss ist: Er ist längst und ausschließlich
ein politisches Kampfinstrument geworden.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ja hier nicht im Ausschuss!)


Er ist längst nicht mehr das Institut – ich nehme das auf,
was Herr Stadler gesagt hat – einer parlamentarisch-
rechtsstaatlichen demokratischen Kontrolle zur Auf-
klärung von bestimmten Missständen oder Zuständen.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Für Ihren Teil gilt das!)


Hier werden im Grunde systematisch Kampfstrategien
gefahren. Dies setzt sich heute hier eindeutig fort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Von wem denn?)


Der Großteil der Reden, die heute hier gehalten worden
sind, besteht aus nichts anderem als aus der Wiederholung
bestimmter Urteile oder Vorverurteilungen, nur mit dem
Unterschied – das ist offenkundig der formale Ansatz-
punkt für diese Debatte –, dass man jetzt ein neues Opfer
braucht. Das ist der Kollege Schmidt,


(Detlev von Larcher [SPD]: Guckt euch mal das Opfer an! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist schon abenteuerlich, Täter und Opfer zu vertauschen!)


den man jetzt auch wegen irgendwelcher aus der Luft ge-
griffenen Dinge möglichst schnell verurteilen möchte.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Finden Sie das in Ordnung, Herr Scholz?)


Herr Hofmann hat Herrn Schmidt – Verzeihung, Frau Prä-
sidentin, ich wünschte mir, dass Ihre Vorgängerin das auf-
gegriffen hätte – wörtlich als „Komplizen“ bezeichnet.
Komplize wovon?


(Zurufe von der SPD: Von Kohl!)

Es gibt bisher keine Erkenntnisse, die in irgendeiner
Weise eine Verurteilung zulassen. Das Wort „Kollabora-
teur“ – was ist denn das für ein Begriff? – haben Sie
ebenfalls gegenüber Herrn Schmidt benutzt. Ist das Ihr
Stil,


(Detlev von Larcher [SPD]: Was ist das für ein Stil, die Namen zu verschweigen?)


mit dem Sie das in der Tat schwierige, diffizile Feld eines
Untersuchungsausschusses bearbeiten?


(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Reden Sie über die Namen! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal was zu den Sachverhalten, Herr Scholz!)


Sie setzen hier nichts anderes fort als das, was Sie im
Untersuchungsausschuss bisher getan haben.

Ich unterstreiche erneut das, was Herr Stadler gesagt
hat: Der Untersuchungsausschuss ist ein wichtiges Insti-
tut. Ein Untersuchungsausschuss hat sich aber an rechts-
staatliche Verfahren zu halten. Es ist nicht gut, dass ein




Cem Özdemir

11009


(C)



(D)



(A)



(B)


Untersuchungsausschuss nach dem sich inzwischen stän-
dig wiederholenden Szenario abläuft: Eine Behauptung
wird in den Raum gestellt, anschließend kommt der große
öffentliche Auftritt im Fernsehen – die Verdächtigung –
und dann muss sich irgendjemand exkulpieren. Das hat
nichts mehr mit dem Prinzip eines objektiven Verfahrens,
bei dem es um Zeugenvernehmung geht, zu tun.


(Detlev von Larcher [SPD]: Sie verschleiern hier ja nur! Hören Sie doch auf!)


Die Strategie hinter der Diffamierung besteht darin, be-
stimmte Personen in einen Rechtfertigungs-, einen Ex-
kulpationszwang zu versetzen.


(Detlev von Larcher [SPD]: Darum geht es Ihnen doch gar nicht! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zu den Fakten!)


Genau das gleiche Spiel veranstalten Sie jetzt mit dem
Kollegen Schmidt und anderen Kollegen meiner Fraktion.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das alles in Ordnung, was die gemacht haben?)


Es ist absolut legal und legitim – ich benutze sehr bewusst
beide Worte –, dass in einer Situation wie der von Helmut
Kohl – er wollte vor Weihnachten aussagen; das wollen
Sie nicht; lieber fahren Sie die Szenarien mit immer neuen
Verdächtigungen – selbstverständlich auch ein Stück Für-
sorge und Gewährleistung von rechtlichem Gehör stattge-
funden hat.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja nicht zu glauben!)


Wenn ich etwas aus diesem Untersuchungsausschuss
höre, dann frage ich mich manchmal: Hat man eigentlich
den Begriff des rechtlichen Gehörs noch im Sinn? Hat
man das verstanden? Zu einem Untersuchungsverfahren
gehört auch rechtliches Gehör!


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: „Gehör“ ja, aber es sagt keiner etwas! Das ist das Problem! – Detlev von Larcher [SPD]: Wer soll Ihnen noch etwas glauben nach dieser Rede?)


Das wird systematisch missachtet. Daher bleibt einer
Fraktion wie der Union, die insgesamt vielfältig diskrimi-
niert und diffamiert wird, gar nichts anderes übrig, als
dass sie ihre Chancengleichheit zu wahren sucht.


(Detlev von Larcher [SPD]: Klären Sie doch selber auf!)


Es gehört sich so, dass sie sich informiert und verständigt.
Das ist selbstverständlich.

Wenn Sie Mitglieder des Untersuchungsausschusses in
den Zeugenstatus erheben und sie damit, genau genom-
men, neutralisieren wollen – nichts anderes ist das –, dann
bedenken Sie bitte – das ist hier zu Recht angesprochen
worden –, dass das Recht und die Pflicht für alle gelten.


(Detlev von Larcher [SPD]: Klären Sie doch die Wahrheit auf! Dann hört das alles auf!)


Sie alle, die Sie entsprechende Gespräche geführt haben,
werden dann im Zeugenstand sein. Ich erinnere an das Ge-
spräch mit dem unsäglichen Herrn Schreiber.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Herr Schäuble hat von Schreiber Spenden bekommen!)


Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle auf, end-
lich dafür zu sorgen, dass dieser Herr Schreiber ausgelie-
fert wird, damit er endlich nach Deutschland kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja nicht zu glauben! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts zur Sache, Herr Scholz!)


Wenn das geschieht, können Sie ihn im Untersuchungs-
ausschuss vernehmen und dann müssen Sie nicht telefo-
nieren. Das ist viel wichtiger. Aus meiner Sicht ist das das
Entscheidende.

Ein Schlusswort. Wenn Sie das Untersuchungsverfah-
ren in dieser Art, wie es heute im Plenum geschieht, fort-
setzen – weitere Diffamierungen, Verdächtigungen und
Ähnliches –, dann droht in der Tat das, was der Kollege
Stadler mit sehr berechtigter Ernsthaftigkeit zum Aus-
druck gebracht hat.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411515700
Herr Kollege, wir
sind in der Aktuellen Stunde. Kommen Sie bitte um
Schluss!


Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1411515800
Das wichtige parla-
mentarische – natürlich immer umkämpfte – Institut Un-
tersuchungsausschuss droht in Gefahr zu geraten. Das
sollten Sie sich immer vor Augen halten.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts zur Sache, Herr Scholz! Ich würde gern einmal wissen, ob das gut oder schlecht war, was Herr Schmidt gemacht hat!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411515900
Ich erteile nun dem
Kollegen Peter Danckert, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1411516000
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scholz,
Sie haben eben davon gesprochen, dass es um Diffamie-
rungen und Verdächtigungen geht. Ich frage Sie: Was ist
denn mit den Millionen, mit den Schwarzgeldern? Han-
delt es sich dabei um Verdächtigungen oder um Fakten?
Wir wissen ja inzwischen, dass es sich um Tatsachen han-
delt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Scholz, was ist mit der Millionenspende, die Herr
Schreiber Herrn Kiep und damit der CDU gegeben hat?
Sind das Verdächtigungen? Was ist mit den 100 000 DM,




Dr. Rupert Scholz
11010


(C)



(D)



(A)



(B)


die Herr Schäuble bekommen hat? Handelt es sich um
Verdächtigungen oder um Tatsachen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Rupert Scholz [CDU/ CSU]: Schon wieder wird verdächtigt!)


Wir versuchen im Untersuchungsausschuss, die Tatsa-
chen, die uns bekannt sind, mit dem Untersuchungsauf-
trag in Einklang zu bringen. Wir werden sehen, was am
Schluss herauskommt. Diese Punkte sind knallharte Fak-
ten und keine Verdächtigungen.

Nun zu dem, was uns eigentlich veranlasst hat, heute
diese Aktuelle Stunde durchzuführen. Herr Kollege
Schmidt, ich sage es ganz freimütig, auch wenn ich damit
teilweise etwas anderes sage als die Kollegen. Wenn es
nur um Ihre fünf bis acht Besuche bei Herrn Kohl gegan-
gen wäre, dann hätte ich gesagt, das war ein grober Feh-
ler – das habe ich Ihnen gesagt –, aber das hätte diese Ak-
tuelle Stunde nicht erfordert.

Wir müssen das aber im Zusammenhang mit aktuellen
Ereignissen sehen. Uns liegen, wie Sie wissen, die Unter-
lagen der Staatsanwaltschaft Bonn vor. Darunter befindet
sich ein Papier – Sie wissen, Kommissar Zufall hilft uns
da weiter – von Herrn Lüthje, nicht von uns. In diesem
eindrucksvollen Papier berichtet er von einem Drehbuch,
das 1984 und 1986 zur Rettung von Herrn Kohl erstellt
worden ist. Mit Falschaussagen hat man ihn damals vor
dem Verlust der Kanzlerschaft gerettet. Das sind die Fak-
ten, die sich aus diesem Papier ergeben.

Aufgrund der vielen Andeutungen, die Zeugen ge-
macht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es
immer wieder Absprachen gegeben hat.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: VS-Papier! – Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: VSPapier! Sie haben mit dem Verteidigungsministerium gekungelt!)


Damit haben Sie allerdings ein Problem bekommen, da
auch Sie jetzt den Verdacht hervorgerufen haben, an ei-
nem weiteren Drehbuch mitzuwirken. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Sie haben zusammen mit dem Verteidigungsministerium ein Drehbuch geschrieben! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Verschlusssachen werden plötzlich zu öffentlichen Sachen!)


– Regen Sie sich einmal ab, Herr Schmidt! Sie sind doch
derjenige, der das hier ausgelöst hat.

Auch wenn Sie nicht in richterlicher Funktion tätig ge-
wesen sind, müssten Sie meines Erachtens als An-
walt – nicht als Abgeordneter – so viel Sachverstand ha-
ben, um zu begreifen, dass Sie den bösen Schein vermei-
den müssen.


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Sagen Sie etwas zu Ihrem Drehbuch!)


Den haben Sie doch zumindest durch Ihre Aktivitäten im
Umfeld von Herrn Kohl hervorgerufen. Jemand sagte so-

gar: als Marionette von Herrn Kohl. Diesen Ausdruck
möchte ich gar nicht übernehmen, er ist aus der Zeitung.
Aber durch Ihre ständigen Besuche bei Herrn Kohl – man
hat fast den Eindruck, dass Sie pflichtbewusst dort hinge-
gangen sind – haben Sie einen bösen Schein hervor-
gerufen.

Wenn Sie das wenigstens noch eingeräumt hätten, dann
hätten wir ja einen Weg gefunden, um gemeinsam mitei-
nander neue Verfahrensregeln zu vereinbaren. Mich hat
aber, ehrlich gesagt, betroffen gemacht, dass Sie darin
noch nicht einmal einen Fehler gesehen haben und kein
Wort dazu gesagt haben. Das hätte Ihnen dann auch kei-
ner übel genommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


In dem Moment, in dem Sie gesagt hätten: „Ich bekenne,
das war eine unbedachte Sache; ich glaubte, ich hätte et-
was Richtiges gemacht, aber ich sehe die fatale öffentli-
che Wirkung“, wären wir wieder gemeinsam im Boot
gewesen. Das ist jedenfalls meine Meinung.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie die Bekanntgabe von Spendern! Boykottaufruf zum Kauf oder Ausschluss aus der Partei! – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Euch fehlt das Unrechtsbewusstsein!)


Ich glaube, auch den Kollegen Stadler hat es unange-
nehm berührt, dass Sie bis zum heutigen Tage sagen: Das
war richtig und – jetzt kommt’s – das mache ich weiter so.

Wir sind alle aufgerufen, darüber nachzudenken, ob
wir die Verfahrensregeln nicht so eindeutig gestalten, dass
Sie gar nicht mehr in die Versuchung kommen, so zu han-
deln, wie Sie gehandelt haben. Das bedeutet, dass wir un-
sere Regeln verändern müssen und wirklich ein vernünf-
tiges Untersuchungsausschussgesetz zustande bringen
müssen, bei dem solche Dinge nicht mehr möglich sind.
Ich finde, das ist unabweisbar.

Auch wenn Sie, Herr Schmidt, an dieser Stelle nicht
das Amt eines Richters bekleidet haben, so sind Sie doch
auch nicht der Rechtsberater von Herrn Kohl. Es muss Ih-
nen doch einleuchten, dass Sie hier eine neutrale, zurück-
haltende Position einnehmen müssen und dass Sie die in
dem Moment verlassen, sobald Sie den Zeugen perma-
nent besuchen.

Es gibt hier für uns ja auch Regeln – Herr Scholz wird
mir das bestätigen –, die sich nicht nur aus der unmittel-
baren Anwendung der StPO ergeben, sondern auch aus
den IPA-Regeln, die besagen, dass die Zeugen unabhän-
gig voneinander nacheinander zu hören sind. Was macht
es für einen Sinn, wenn Sie regelmäßig den Hauptzeugen
über das, was abgelaufen ist, informieren? Es geht dabei
doch gar nicht um Zeugenbeeinflussung, sondern um
Informationen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das geht auch per Telefon! – Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Das ist eine öffentliche Sitzung!)





Dr. Peter Danckert

11011


(C)



(D)



(A)



(B)


– Eine öffentliche Sitzung? Dann können wir es gleich so
machen, Herr Schmidt, dass wir alle Zeugen in den Zu-
schauerraum bitten, damit sie dort Platz nehmen und alles
hören können.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie wollten das doch im Fernsehen übertragen!)


Gerade das soll durch die Übernahme der IPA-Regeln und
die unmittelbare Anwendung der Strafprozessordnung
unterbunden werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411516100
Herr Kollege, denken
Sie an die Redezeit. Ihre fünf Minuten sind vorbei.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1411516200
Ich komme zum Schluss.
Ich meine, dass wir aufgrund des von Ihnen zu verant-
wortenden Vorfalls aufgerufen sind – und zwar schnell;
ich sage: noch in diesem Jahr, möglicherweise noch für
das laufende Verfahren –, gemeinsam ein straffes, korrek-
tes und vor allen Dingen auch scharfes Untersuchungs-
ausschussgesetz zu schaffen; denn die bisherigen Re-
gelungen dienen nur der Verunklarung und der Verhinde-
rung der Aufklärung. Ich glaube, wir alle haben ein
Interesse daran – auch Sie müssten letztlich ein Interesse
daran haben –, dass dieser ungeheuerliche Verdacht –
mehr als ein Verdacht ist es im Moment ja noch nicht –


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!)

aufgeklärt wird,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir sind sehr dafür!)


aber so, dass alle mitwirken und dass die Zeugen zur
Wahrheitsfindung beitragen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wirken Sie mit!)


Sie sollten sich nicht wie Herr Kohl verhalten, der jedes
Mal gebetsmühlenartig das wiederholt, was wir schon
lange zuvor von ihm gehört haben.

Herr Schmidt, insofern bedaure ich Sie wegen Ihrer
sechs Besuche bei Herrn Kohl. Sie haben wahrscheinlich
immer dasselbe gehört, nämlich das, was wir gestern und
auch vor acht Tagen gehört haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411516300
Als letztem Redner
erteile ich dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher von
der SPD-Fraktion das Wort.


Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1411516400
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! „Tatort Kanzleramt“, ich greife die-
ses Wort von Herrn Kohl auf, das er gestern als ziemlich
wirren Vorwurf gegen die Bundesregierung erhoben hat.
Während bei mir die Entscheidung der FIFAam gestrigen
Tag, die Weltmeisterschaft nach Deutschland zu verge-

ben, Freude ausgelöst hat, hat der Freudentaumel bei
Herrn Kohl in der anschließenden Vernehmung offen-
sichtlich einiges durcheinander gebracht.

Da setzt er doch mit unglaublicher Unverfrorenheit die
Behauptung in die Welt, das Kanzleramt unter Gerhard
Schröder habe mit der Aktensuche im Oktober 1999 ge-
zielt diesen Untersuchungsausschuss vorbereitet. Er be-
zieht sich dabei auf ein Papier, das genau das Gegenteil
aussagt: Die Aktivitäten des Kanzleramtes im Oktober be-
zogen sich nämlich auf eine Anfrage von mir. Ich habe
mich dabei tatsächlich auf einen Untersuchungsausschuss
bezogen. An Herrn Kohl und seine Helfershelfer gerich-
tet, sage ich: Dieser Untersuchungsausschuss hieß „Ver-
untreutes DDR-Vermögen“ und existierte in der vorigen
Legislaturperiode.

Herr Gehb, man gebe Ihnen Verstand und vielleicht
auch eine Brille!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fragen an die Bundesregierung nach den ver-
schwundenen Leuna-Akten waren nämlich von Ende
September 1999. Erst danach erschien der „Spiegel“-Be-
richt. Erst nachdem ich die Fragen an die Bundesregie-
rung gestellt hatte, konnte sie mit der Suche beginnen, die
ja bekanntermaßen in einem Desaster endete.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich habe doch gar nichts unterstellt!)


– Das einzige, was wir von Ihrem Schreien verstanden ha-
ben, war die Angabe 13. Oktober. – Im Untersuchungs-
ausschuss haben wir das gestern klarstellen können.
Helmut Kohl hat dann seine noch eine Stunde zuvor zu-
sammenfantasierten Vorwürfe gegen die heutige Bundes-
regierung kleinlaut relativiert.

„Tatort Kanzleramt“, dieser Begriff passt aber tatsäch-
lich wie die Faust aufs Auge. Nur: Die Tatzeit liegt in den
Jahren 1998, 1997 und auch in den Jahren zuvor, also in
den Jahren vor dem Regierungswechsel.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Genau, in den Jahren davor!)


Der Hirsch-Bericht beweist, wie es im Kanzleramt unter
Kohl zugegangen ist. So schlimm ist es da zugegangen,
dass der Staatsanwalt jetzt tätig werden muss. Mit krimi-
neller Energie wurden unter Kohls und Bohls Verantwor-
tung Computerdaten gelöscht, Akten manipuliert und me-
terweise Unterlagen beseitigt.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist eine neue Behauptung! Haben Sie schon einmal etwas von rechtlichem Gehör gehört?)


– Herr Scholz, diesen Vorwurf können Sie an dieser Stelle
nicht schönreden. Das ist Fakt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Herrn Schmidt muss ich an dieser Stelle sagen: Ihre
Treffen mit Herrn Kohl haben zumindest bewirkt, dass
sich das gestörte Verhältnis des Herrn Kohl zur Realität




Dr. Peter Danckert
11012


(C)



(D)



(A)



(B)


auf Sie übertragen hat. Da laufen Sie seit Monaten immer
mit der gleichen Behauptung durch das Land, von den
verschwundenen Akten im Kanzleramt seien im Bundes-
tag Kopien vorhanden.


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Ja, sicher!)


Herr Schmidt, ich befürchte, Sie kriegen es einfach nicht
in den Kopf, weil Sie es nicht wahrhaben wollen. Wir re-
den hier nicht von der Vernichtung von sechs Ordnern mit
Originalen,


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Doch!)


die zum Teil in Kopie vorliegen. Es geht hier um Akten in
einer Größenordnung zwischen 50 und 100 Ordnern, die
allein im Bereich Leuna vollständig beseitigt worden
sind.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Hört! Hört!)


Herr Schmidt, dem Deutschlandfunk haben Sie am
30. Juni gesagt, Sie hätten mit Herrn Kohl strategische
Fragen abgestimmt. Übrigens seltsam, dass Sie das ges-
tern im Untersuchungsausschuss nicht wiederholt haben.
Aber unabhängig davon: Ich glaube Ihnen das insoweit,
als Herr Kohl Ihnen die Strategie vorgibt. Die unver-
schämte Art und Weise, wie Sie Burkhard Hirsch denun-
zieren,


(Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]: Was habe ich denn gesagt?)


egal ob Sie selbst oder Herr Repnik oder sonst einer aus
Kohls Komplizenschaft, ist auf Kohls Mist gewachsen.
Kein anderer als Herr Kohl hat diese ekelhafte Diffamie-
rungskampagne bei dem Treffen der CDU-Ausschussmit-
glieder am 26. Juni vorgegeben. Am 27. Juni schicken Sie
Herrn Repnik in die Bütt, am 28. Juni steht es in der Zei-
tung und am 29. Juni wiederholt Herr Kohl diesen Mist im
Ausschuss noch einmal. Mir zeigt das deutlich, dass Ihre
so genannte neue CDU nach wie vor vom Alten regiert
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber abgesehen von der richtigen Kritik meiner Vor-
redner an Ihrer Verhaltensweise als Obmann, abgesehen
von Ihren unglaubwürdigen Aussagen gestern im Unter-
suchungsausschuss, abgesehen von der dreisten Absicht,
diese Stillosigkeit fortzusetzen, frage ich Sie, Herr
Schmidt, und die Kolleginnen und Kollegen der CDU-
Fraktion: Wie lange dauert es eigentlich noch, bis die Ära
Kohl bei Ihnen beendet ist? Ich sage Ihnen: Ganz
Deutschland wartet darauf. Die Bevölkerung hat sich
nämlich in Sachen Kohl längst entschieden. Ich lese Ihnen
einmal die Ergebnisse der Umfrage eines Fernsehsenders
vom heutigen Tage vor.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411516500
Aber das muss kurz
sein, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.


(Heiterkeit)



Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1411516600
Dann, Frau Präsi-
dentin, erwähne ich nur die zwei wichtigsten Aussagen.

Fast drei Viertel der Deutschen, nämlich 74 Prozent,
kritisieren das Verhalten von Herrn Kohl vor dem Unter-
suchungsausschuss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


74 Prozent der Deutschen vertreten zudem die Auffas-
sung, Herr Kohl habe durch sein Verhalten als Bundes-
kanzler den Amtseid verletzt. Ich habe dem nichts mehr
hinzuzufügen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411516700
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
23 a) Zweite und dritte Beratung des von den Ab-

geordneten Alfred Hartenbach, Hermann

(Hildesheim)

tion der SPD sowie den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Rechts an Grundstücken in den neuen Län-

(Grundstücksrechtsänderungsgesetz – GrundRÄndG)

– Drucksache 14/3508 –

(Erste Beratung 109. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 14/3824 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
Luther, Andrea Voßhoff und der Fraktion der
CDU/CSU
Entschädigungspflicht nach dem Vermö-
gensgesetz bei Einziehung von beweglichen
Sachen regeln
– Drucksache 14/1003, 14/3824 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler




Friedhelm Julius Beucher

11013


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto-
koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungs-
gesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungenen? – Gegen die
Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist dieser Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU zur Regelung der Entschädigungs-
pflicht nach dem Vermögensgesetz bei Einziehung von
beweglichen Sachen, Drucksache 14/3824. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1003 für erle-
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Einstimmige Erledigungserklärung. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung und Ergänzung vermögensechtli-

(Vermögensrechtsergänzungsgesetz – VermRErgG)

– Drucksache 14/1932 –

(Erste Beratung 69. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-

ausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/3802 –
Berichterstattung:
Abgeordete Dr. Michael Luther
Reinhard Schultz (Everswinkel)



(8. Ausschuss)

– Drucksache 14/3803 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel

Es liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS sowie ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto-
koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Vermögens-
rechtsergänzungsgesetzes in der Ausschussfassug, Druck-
sachen 14/1932 und 14/3802. Dazu liegen zwei Ände-
rungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wir
kommen zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/3826. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Gegenprobe! – Gegen die Stimmen
von F.D.P. und CDU/CSU ist dieser Antrag abgelehnt.

Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/3827. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Gegenprobe! – Der Antrag ist gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.

Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
F.D.P. in zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
von PDS, CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache
14/3836. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
24 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-

tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwer-
behinderter
– Drucksache 14/3372 –

(Erste Beratung 106. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit Schwerbehinderter (SchwbBAG)

– Drucksache 14/3645 –

(Erste Beratung 111. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung

(11. Ausschuss)

– Drucksache 14/3799 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und So-
zialordnung (11. Ausschuss) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung




Vizepräsidentin Anke Fuchs
11014


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6 1) Anlage 7

Bericht der Bundesregierung über die Be-
schäftigung Schwerbehinderter im öffentli-
chen Dienst
– Drucksachen 14/2415, 14/3799 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte

Zu diesem Gesetzentwurf liegen vier Änderungsan-
träge der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1411516800
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Schwerbe-
hindertengesetz wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft
treten. Darauf sind wir stolz. Wir sind in dieser wichtigen
Frage miteinander zu einem Konsens gekommen, der in
seiner Breite alle gesellschaftlichen Gruppen und Ver-
bände einschließt, die den Willen bekunden, 50 000 ar-
beitslose schwerbehinderte Mitbürger in Arbeit zu brin-
gen – ein hoher Anspruch, für den wir Lösungen gefun-
den haben.

Wir alle wissen: Menschen mit Behinderungen haben
es nicht nur schwerer; sie sind im Alltag auch massiv be-
nachteiligt und noch immer Diskriminierungen ausge-
setzt. Für Menschen mit Behinderungen ist es kaum mög-
lich, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Von Chan-
cengleichheit kann hier nicht gesprochen werden.
Behinderte Mitbürger und Mitbürgerinnen sprechen von
sozialer Ungerechtigkeit und sie haben Recht.

Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache.
Sie wollen keine Almosen, sondern Chancengleichheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Tatsache, dass wir, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Ver-
bände und Regierungsparteien, uns zusammengesetzt ha-
ben, zeigt, dass wir alle erkannt haben, dass es unsere
Pflicht ist, zu handeln, und das Ergebnis ist gut.

Die öffentliche Anhörung zu dem vorliegenden Ge-
setzentwurf am 7. Juni war von der Zustimmung aller Sei-
ten geprägt. Den Kollegen und Kolleginnen von der Op-
position war die Einmütigkeit aller Beteiligten während
der Anhörung schon richtig unheimlich. Ja, man hat Hoff-
nung und diese Hoffnung darf nicht enttäuscht werden.
Wir werden das auch nicht tun.

Die Änderungswünsche und Hinweise der Beteiligten
in der Anhörung wurden ernst genommen. Wir haben so-
fort reagiert:

Erstens. Auch in Betrieben, die keine Schwerbehinder-
tenvertretung haben, sind jetzt Integrationsvereinbarun-
gen möglich.

Zweitens. Wir haben deutlich gemacht, dass sich die
Integrationsfachdienste für die betriebliche Ausbildung
einsetzen können.

Drittens. Durch eine Ergänzung des § 37 b des
Schwerbehindertengesetzes haben wir klargestellt, dass
die Schwerbehinderten, also die Betroffenen, in die Auf-
gaben der Integrationsfachdienste explizit mit einbezogen
werden.

Viertens. Wir haben auf die Bedenken des Vertreters
der Integrationsprojekte, Herrn Stadler, bei den Vermitt-
lungsversuchen Schwerbehinderter – laut Gesetz – an
letzter Stelle zu stehen, reagiert, indem wir in § 53 a des
Schwerbehindertengesetzes eine Ergänzung vorgenom-
men haben.

Fünftens. Wir haben – da richte ich mich ausdrücklich
an die Opposition, um Wiederholungen, Vorwürfe und die
damit verbundenen Unsicherheiten zu vermeiden – auch
die letzten Zweifler überzeugt, dass die Förderung der
Werkstätten für Behinderte mit In-Kraft-Treten des Ge-
setzes ohne jede Einschränkung fortgesetzt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein ganz besonders wichtiger Punkt ist: Schwerbehin-
derte, die an einer AB-Maßnahme teilnehmen, haben An-
spruch auf Arbeitsassistenz. Ein kleines Beispiel dazu:
Ich habe vorhin mit meiner Freundin Gudrun Hesse tele-
foniert. Sie ist – leider – schwerbehindert und hat zurzeit
die Möglichkeit, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen.
Dieser Frau täte es gut, wenn sie jetzt in Form von Ar-
beitsassistenz eine Unterstützung hätte. So könnte sie ihre
Arbeit mit Sicherheit noch leichter meistern. Ihr schwer-
behinderter Mann Martin, Rollstuhlfahrer, hochgradig en-
gagiert und ehrenamtlich tätig, hat jetzt wieder Chancen
auf dem ersten Arbeitsmarkt. Erst das Recht auf Teilzeit-
arbeit und Arbeitsassistenz macht dies möglich. Aber er
sagt ganz deutlich: Dies hätte schon viel früher kommen
müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ein weiteres, mir persönlich
besonders wichtiges Anliegen konnten wir in der Aus-
schusssitzung am 28. Juni dieses Jahres klären. Laut § 14
Abs. 4 des Schwerbehindertengesetzes werden auch
Behinderte, die ihren Erziehungspflichten nachkommen
müssen, einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung ha-
ben. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt hin zur Inte-
gration schwerbehinderter Frauen. Ich denke, das sehen
alle hier im Raum genauso. Der Anspruch auf Teilzeitar-
beit wird zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen.

Dies gilt auch für die Arbeitsassistenz. Das kam in der
entsprechenden Anhörung zu diesem Thema besonders
zum Ausdruck. Zusammen mit den Integrationsfach-
diensten und speziellen Stellen der Arbeitsämter wird es
jetzt möglich sein, auch Langzeitarbeitslose, Schwerbe-
hinderte und Behinderte, die aufgrund besonders schwe-
rer Benachteiligung von der Teilhabe am gesellschaftli-
chen Leben ausgeschlossen sind, vermehrt in die reale Ar-
beitswelt zu integrieren. Arbeit gibt nicht nur materielle
Sicherheit. Arbeit gibt Lebensgefühl, Miteinander, Aner-
kennung und vor allem Selbstbestimmung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Vizepräsidentin Anke Fuchs

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(D)



(A)



(B)


Wir werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes vor al-
lem die Integrationsprojekte intensiv unterstützen. Das
heißt: Sobald wir erste Erfahrungen im Hinblick auf die
konkrete Förderung gesammelt haben, werden wir die
entsprechenden Bestimmungen konkretisieren, um direkt
auf die Ansprüche dieser Projekte zu reagieren, damit die
Förderung nicht irgendwo versandet. Sie muss vielmehr
greifen.

Unser Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir ge-
meinsam offensiv an die Öffentlichkeit treten. Dazu for-
dere ich alle auf: die Verbände, die Arbeitgeber, die Ge-
werkschaften, die Politik – hiermit schließe ich die Op-
position ein – und besonders die Medien. Denn auch
behinderte Menschen lesen Zeitung, sehen fern, haben
Computer und surfen im Internet. Auch sie sind Kunden.
Man sollte einmal für diese Kunden eine kostenlose Wer-
bung schalten. Der Impuls für diese Kampagne könnte
schon von dieser Bundestagsdebatte ausgehen.

Ich wiederhole: Es ist eine Herausforderung an unsere
Zivilgesellschaft, soziale Gerechtigkeit für behinderte
Mitbürger herzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411516900
Das Wort hat nun die
Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1411517000
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon
nach recht kurzer Beratungszeit können wir heute die
zweite und dritte Lesung des Entwurfes eines Gesetzes
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
vornehmen. Da dieses Gesetz schon zum 1. Oktober die-
ses Jahres in Kraft treten soll, ist eine zügige Beratung
verordnet worden. Jedoch müsste sich inzwischen herum-
gesprochen haben, dass die Qualität eines Gesetzes nicht
unbedingt von der Geschwindigkeit des Gesetzgebungs-
verfahrens abhängt. Im Gegenteil! Das zeigt sich auch in
diesem Fall.

Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion verliefen die
Beratungen sehr enttäuschend. Das halte ich für umso ver-
wunderlicher, als wir von Anbeginn an deutlich gemacht
haben, dass wir hier ein gemeinsames Anliegen haben und
zu Gemeinsamkeiten gelangen wollen, und Gesprächsbe-
reitschaft signalisiert hatten.

In dem Ziel, das wir erreichen wollen – auch in den
konkreten Punkten, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf auf-
gegriffen haben –, besteht eine große Übereinstimmung.
An erster Stelle zu nennen ist, dass für uns alle eine bei
den Schwerbehinderten bestehende Arbeitslosenquote
von 18 Prozent unakzeptabel und viel zu hoch ist und dass
wir deshalb Wege finden müssen, diese hohe Zahl abzu-
bauen. Wie dringend das ist, zeigt im Übrigen der Bericht
der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbe-
hinderter im öffentlichen Dienst für das Jahr 1998, der
heute auch zur Beratung ansteht. Denn prozentual gese-
hen ist ihre Einstellungsquote durch die Reduzierung der
Stellen im öffentlichen Dienst und die erhöhten Abgänge
wieder gesunken; sie beträgt jetzt 2,9 Prozent. Wir haben

es also mit einer Verschlechterung der Situation zu tun.
Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht selbst, dass
sich mit der bestehenden Einstellungspraxis die Schwer-
behindertenquote im öffentlichen Dienst auf Bundes-
ebene auf mittlere Sicht nicht halten lassen wird.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist ein Skandal!)

Dabei haben eigentlich alle Fraktionen in den letzten De-
batten zu diesem Thema deutlich gemacht, dass der öf-
fentliche Dienst eine Vorreiterfunktion hat. Wenn wir von
anderen etwas verlangen, müssen wir Vorbild sein. Des-
halb haben wir hier eine gewisse Bringschuld.

Neben der grundsätzlichen Übereinstimmung in dem
Ziel, die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten zu
senken, sind wir uns auch über den Handlungsbedarf in
den Bereichen einig, die Sie in diesem Gesetzentwurf an-
gesprochen haben. Unsere Ablehnung dieses Entwurfs ist
vor allem in der Art und Weise begründet, wie Sie diese
Regelungsbereiche ausgestaltet haben. Ich möchte dies
im Einzelnen benennen.

Ich beginne mit der Ausgleichsabgabe: Schon in der
ersten Lesung habe ich deutlich gemacht, dass ich der
Meinung bin, durch eine differenzierte Gestaltung der
Ausgleichsabgabe eine Lenkungswirkung – soweit dies
dadurch überhaupt möglich ist – erreichen zu können. Da-
bei ist aber wichtig, zu beachten, wer wie belastet wird.

Nun hat das Bundesarbeitsministerium mir freundli-
cherweise eine Schätzung darüber zur Verfügung gestellt,
wie sich die Veränderungen auswirken werden. Danach
werden Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten – das sind
also die kleineren Betriebe – ein wenig entlastet; sie wer-
den künftig nicht mehr 35,7 Prozent, sondern nur noch
34,5 Prozent der Ausgleichsabgabe tragen. Aber bei Be-
trieben, die zwischen 100 und 300 Beschäftigte haben,
also bei dem klassischen Mittelstand, sieht das ganz an-
ders aus: Statt 18,2 Prozent werden sie künftig 23,1 Pro-
zent der Ausgleichsabgabe erbringen müssen. Demge-
genüber werden die großen Unternehmen großzügig ent-
lastet: Unternehmen mit mehr als 100 000 Beschäftigten
beispielsweise tragen statt 3,1 Prozent nur noch 1,2 Pro-
zent zur Ausgleichsabgabe bei.

Natürlich kann man argumentieren, die Betriebe mit ei-
ner Beschäftigtenzahl zwischen 100 und 300 hätten ihre
Beschäftigungspflicht nicht erfüllt. Allerdings stellt sich
meines Erachtens eher die Frage, ob, wenn dies bei den
mittelständischen Unternehmen besonders auffällig ist,
eine stärkere Belastung ausgerechnet dieser Betriebe zum
gewünschten Ziel führt oder ob nicht ganz andere Gründe
vorliegen, warum die Beschäftigungsquote nicht erfüllt
wird. Man muss sich fragen, ob man nicht durch gezielte
Maßnahmen eine größere Effizienz der Einstellungen
hätte erreichen können.

Die Bundesregierung erwartet durch diese Neurege-
lung Mehreinnahmen in Höhe von 380Millionen DM. Da
aber die kleinen und die großen Unternehmen entlastet
werden, beträgt die Belastung des klassischen Mittelstan-
des deutlich mehr als 380 Millionen DM. Das finde ich
schon ziemlich happig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Silvia Schmidt (Eisleben)

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(D)



(A)



(B)


Die Bundesregierung hat sich in diesem Punkt lange
gewunden. Noch bei der ersten öffentlichen Aussprache
zu diesem Thema, in der Fragestunde, war von der Bun-
desregierung zu hören, dass eigentlich keine Mehreinnah-
men erwartet werden. Das ist auch nicht unser Ziel; denn
wir wollen eine Veränderung der Einstellungspraxis er-
reichen. Es gab aber generell lange Zeit Stillschweigen
dazu – sicherlich, um die Wirtschaft nicht zu ver-
schrecken, um sie im Boot zu haben; das kann ich auch
nachvollziehen. Nur musste man irgendwann erklären,
wie man den größeren Leistungskatalog, den dieser Ge-
setzentwurf beinhaltet, finanzieren will. Daher rühren
auch die berechtigten Ängste der Werkstätten und der Be-
treiber von Wohnheimen für Behinderte, hinten herun-
terzufallen und geringer gefördert zu werden. Frau
Schmidt, Sie haben deshalb versucht, diese Ängste auszu-
räumen.

Ich konnte diese Ängste sehr gut nachvollziehen und
für mich sind sie auch noch nicht vollständig ausgeräumt.
Wir werden sehen, wie sich die Einnahmen gestalten. Ich
kann nur hoffen, dass an den Bekräftigungen, es werde
sich an der Förderpraxis für Werkstätten und Wohnheime
nichts ändern, festgehalten wird.

Es ist generell nicht einzusehen, dass diese erwarteten
Mehreinnahmen aus der Augleichsabgabe über die Bun-
desanstalt für Arbeit fast ausschließlich an den Bund
fließen sollen. Ich habe das Gefühl, dass noch immer der
Irrglaube vorhanden ist, die zentrale starke Hand werde es
schon richten; denn sie kann es besser. Sie sollten statt-
dessen auf Dezentralisierung setzen, weil vor Ort, wie
sich immer wieder zeigt, besser entschieden werden kann.
Ich verstehe gar nicht, warum hier die Länder so aus der
Pflicht genommen werden und warum sie nicht mehr Mit-
tel aus der Ausgleichsabgabe erhalten, um viel gezielter
entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nein, sie werden vom Gesetzgebungsverfahren ausge-
schlossen und damit werden ihnen auch die finanziellen
Mittel vorenthalten.

Das kann aber auch damit zu tun haben – damit komme
ich zu einem zweiten großen Bereich, der in unseren Au-
gen in diesem Gesetz vollkommen fehlgeleitet ist –, dass
mit aller Macht versucht wurde, dieses Gesetz zustim-
mungsfrei auszugestalten. Meine sehr verehrten Kolle-
ginnen und Kollegen, ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich
kenne bis heute noch nicht den Grund, warum die Länder
letztendlich ausgestiegen sind. Es muss ja einen Grund
dafür geben, warum es nicht möglich war, sich zu einigen.
Ganz sicher lag es nicht daran, dass nicht auch die Länder
ein Interesse daran hätten, die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten zu senken.

Die fatale Folge ist, dass dieses Gesetz dadurch ein
Torso bleibt. Um sich die Zustimmungsfreiheit zu er-
kaufen, mussten Sie alle Regelungsbereiche, die die
Hauptfürsorgestellen betreffen, außen vor lassen, obwohl
diese vor Ort für die berufliche Eingliederung der
Schwerbehinderten zuständig sind. Das führt nun zu dem
Versäumnis, dass die Strukturen – im Blick darauf, dass
ein SGB IX eine bessere Verzahnung zur beruflichen Re-

habilitation schaffen soll – nicht vorausschauend anders
gestaltet werden. Eine solche Verzahnung wird jetzt
blockiert. Ohne eine gesetzliche Grundlage wird jetzt
mühsam versucht werden müssen, die Zusammenarbeit
zwischen Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämtern mit
Vereinbarungen zu regeln. Das ist unbefriedigend, weil es
zu Unklarheit und Unverbindlichkeit führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ebenso führt zu Unklarheit und Unverbindlichkeit,

dass vieles von dem, was in diesem Gesetz hätte geregelt
werden müssen, auf Rechtsverordnungen verschoben
wurde. Wir sind sehr für einen Rechtsanspruch auf Ar-
beitsassistenz. Wir sind sehr dafür, dass Integrationsfach-
dienste eingerichtet werden und über eine institutionelle
Förderung abgesichert werden. Das gilt auch für Integra-
tionsbetriebe, -unternehmen und -projekte. Aber entschei-
dend sind doch die Rahmenbedingungen: Welche Förder-
voraussetzungen müssen geschaffen werden, wie lange
erhält man die Förderung, wer wird gefördert? Hier auf
Rechtsverordnungen zu verweisen entzieht uns jegliche
parlamentarische Mitberatung. Das widerspricht meinem
parlamentarischen Selbstverständnis. Dies kann ich nicht
nachvollziehen, zumal es auch Unsicherheit für die Stel-
len schafft, die künftig Bewilligungen aussprechen sollen.
Da die Verordnungen noch nicht vorliegen, verfügen sie
über keinerlei Rahmenregelungen.

In diesem Punkt verblüffte mich die Anhörung sehr. Ich
hatte den Eindruck, bei den bei der Anhörung vertretenen
Verbänden herrsche das Prinzip Hoffnung vor.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ja, genau!)


Sie sagten, sie hätten es sich zwar anders gewünscht, aber
es kämen ja noch Rechtsverordnungen, die es dann schon
richteten. Hier kann ich nur die Frage stellen, wann
Rechtsverordnungen jemals mehr Spielräume ermöglicht
hätten. Verordnungen dienen dazu, Grenzen zu setzen und
zu bestimmen, wie es gemacht werden muss.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die werden alle noch ihr blaues Wunder erleben!)


Ich weiß nicht, was bei den Vorgesprächen im Einzelnen
passiert ist. Ich befürchte jedenfalls, dass hier eher Res-
triktionen eingeführt werden, denen wir dann ausgeliefert
sein werden. Am Ende werden wir nur die Beschwerde-
briefe freundlich beantworten dürfen.

Die Tatsache, dass grundsätzlich nur ein Integrations-
fachdienst pro Arbeitsamtsbezirk bestehen bleiben soll,
hatte ich schon in der ersten Lesung kritisiert. Die Stel-
lungnahmen der Fachverbände bestärken mich in dieser
Kritik. Auch da sehe ich im Moment noch keine befriedi-
gende Regelung, wie man schon bestehende Fachdienste
zusammenschließen kann, ohne dass dabei der eine oder
andere unter die Räder kommt.

Zusammenfassend halte ich fest, dass wir trotz der
Übereinstimmungen in der Zielsetzung aus den genann-
ten Gründen dem Gesetzentwurf nicht zustimmen kön-
nen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, ich hoffe sehr, dass wir bei der Beratung
des SGB IX eine andere Form wählen. Dort sollte es




Claudia Nolte

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möglich sein, gemeinsam für schwerbehinderte Men-
schen etwas Gutes zu erreichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411517100
Jetzt hat die Kollegin
Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Liebe Frau Nolte, nein, das Gesetz ist kein
Torso, sondern es ist etwas, was wir, glaube ich, dringend
brauchen. Wir brauchen dieses Gesetz, weil es vor allem
um eines geht: um Integration. Dieses Gesetz ist so et-
was wie ein Vorschaltgesetz zum SGB IX, in dem wir klar
darüber sprechen wollen, was Integration insgesamt be-
deutet: Sie bedeutet Beteiligung, sie bedeutet Teilhabe
und vor allem Chancengleichheit. Gleich sein bedeutet
nach unserer Auffassung – das ist so etwas wie eine Phi-
losophie –, verschieden sein zu dürfen und trotzdem die
gleichen Möglichkeiten zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was wir in diesem Gesetz vorab regeln, betrifft den Ar-
beitsmarkt. Es geht um die Teilhabe am Arbeitsmarkt
und natürlich auch um ein Stück Teilhabe am normalen
Leben. 8 Prozent der Wohnbevölkerung sind schwer-
behindert, das sind 6,6 Millionen Menschen. Davon ste-
hen 1,1 Millionen Menschen dem Arbeitsmarkt zur Ver-
fügung.

Mit dem vorliegenden Gesetz sagen wir: Wir wollen
zusätzlich 50 000 Menschen in Arbeit bringen. Wir wol-
len sie nicht in Beschäftigung, sondern in Arbeit bringen,
und das ist ein qualitativer Unterschied – auch zur Politik
der alten Regierung. Es ist ein Unterschied, weil es um
selbstbestimmte Arbeit geht, weil es um das Recht auf Ar-
beitsassistenz geht, weil es darum geht, das Recht zu ha-
ben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, und weil es
darum geht, eine neue Arbeitsplatzqualität über die Werk-
stätten hinaus, deren Existenzberechtigung ich nicht in
Frage stellen möchte – wir brauchen aber etwas Zusätzli-
ches, wir brauchen etwas qualitativ anderes –, zu ver-
wirklichen.

Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen Integrati-
onsfirmen, die eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt dar-
stellen und die tatsächlich Integration in diesem Zusam-
menhang herstellen. Aus diesem Grund legen wir den
Gesetzentwurf vor. Wir wollen das Gesetz gemeinsam mit
denjenigen Kräften, die darauf Einfluss haben, nämlich
mit den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Inte-
ressenverbänden, machen. Ich finde es, ehrlich gesagt,
schade, dass sich die Union nicht entscheiden kann, hier
zuzustimmen, obwohl wir doch in so vielen Zielen an-
geblich übereinstimmen.

Das Problem, wie wir die Arbeitslosigkeit bekämp-
fen wollen, sind wir mit differenzierten Möglichkeiten
angegangen. Ich glaube, es ist diese Differenzierung, die
am Ende zum Erfolg führen wird. Denn es geht nicht mehr

darum, nur ein Instrument zu haben, wie das bisher der
Fall gewesen ist. Stattdessen spielen jetzt viele Instru-
mente eine Rolle: Integrationsfirmen, Integrationsfach-
dienste, die Werkstätten für Behinderte und andere, vor al-
lem das Recht auf Arbeitsassistenz. Ich glaube, hier haben
wir einen riesigen gesellschaftlichen Fortschritt erreicht.
Hier haben wir eine Vorwegnahme dessen, was im
SGB IX die Grundansage ist. Die Grundansage heißt
nämlich: Es geht nicht darum, etwas für jemanden zu re-
geln, sondern es geht darum, Menschen zu befähigen, für
sich selbst regeln zu können, was ihr Leben und ihre Ar-
beitswelt betrifft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten be-
trägt immer noch 17,4 Prozent. Das ist eine Herausforde-
rung für uns. Wir haben gesagt: Wenn das, was wir hier
machen, nicht funktioniert, dann müssen wieder andere
Wege beschritten werden. Wir wollen aber die Gemein-
samkeit mit den Arbeitgebern und Gewerkschaften in der
Tat herstellen und das tun wir hiermit auch.

Ich möchte noch zwei Sätze zu den Änderungsanträgen
der PDS sagen. Bei dem Punkt, der die Arbeitsassistenz
betrifft, befinden wir uns in Übereinstimmung. Ich
glaube, wir haben im Bereich der Ausgestaltung das ge-
macht, was möglich war. Ich setze sehr auf dieses Instru-
ment. Ich rechne damit, dass wir dieses Instrument be-
kommen, dass wir es stark machen und dass es vielen
Menschen mit Handicap tatsächlich zur selbstbestimmten
Arbeit verhelfen wird.

In der Frage der Erhöhung der Ausgleichsabgabe ha-
ben wir uns etwas anders entschieden. Wir haben uns
dafür entschieden zu differenzieren. Wir halten das für
sinnvoll und meinen, dass man Unternehmen, die
Schwerbehinderte beschäftigen, nicht genauso behandeln
kann wie Unternehmen, die sich dem völlig verweigern.
Deswegen haben wir uns für die Differenzierung ent-
schieden.

Die einfache Erhöhung der Abgabe halten wir nicht für
sinnvoll, weil wir die Arbeitgeber mit im Boot haben wol-
len. Auch das ist für die gesellschaftliche Frage ganz ent-
scheidend, weil Integration nur dann funktioniert, wenn
alle mitmachen. Wenn Integration funktionieren soll,
kann man nicht sagen: Wir tun etwas für euch im Sinne ei-
ner Minderheit; denn das bringt uns sehr viel weniger, als
wenn klar ist: Alle machen mit. Das haben wir mit diesem
Gesetzentwurf versucht. Dies werden wir auch weiterhin
versuchen, wenn wir die Reise antreten, um mit dem
SGB IX ein großes Gesetz zu machen, das Auswirkungen
auf alle Lebensbereiche hat.

Ich glaube, es ist gut, dass wir hier einen ersten Schritt
gemacht haben. Die Anhörung hat nicht gezeigt, dass es
um das Prinzip Hoffnung geht, sondern die Anhörung hat
gezeigt, dass Menschen mit Handicap zum ersten Mal auf
tatsächliche Integration hoffen können. Das ist der Unter-
schied.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Claudia Nolte
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Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411517200
Jetzt hat die Kollegin
Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1411517300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Koalition, die
den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeits-
losigkeit Schwerbehinderter vorgelegt hat, teilen wir si-
cherlich die Zielsetzung. Wir wollen selbstverständlich
die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter den
Schwerbehinderten spürbar abbauen. Der Gesetzentwurf
nennt als Zielvorgabe eine Verringerung um 25 Prozent
bis Oktober 2002. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber es ist
immer gut, sich ehrgeizige Ziele zu setzen.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob mit die-
sem Gesetzentwurf der richtige Weg eingeschlagen wird.
Hier müssen wir leider feststellen, dass Sie bedauerli-
cherweise nicht alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen
haben, die in diesem Zusammenhang geprüft werden
müssen. So waren Sie zum Beispiel nicht bereit, über Ver-
änderungen im Bereich des besonderen Kündigungs-
schutzes oder des Sonderurlaubs zu sprechen oder über
diese Fragen überhaupt nur nachzudenken, obwohl von-
seiten der BDA und auch des Zentralverbandes des Deut-
schen Handwerks auf die einstellungshemmende Wir-
kung dieser Regelungen hingewiesen worden ist.

Den Ansatz, Schwerbehinderten verstärkt die Mög-
lichkeit einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt
zu eröffnen, teilen wir selbstverständlich. Es ist durchaus
nicht so, Frau Göring-Eckardt, als seien Sie die Ersten, die
sich dies zum Ziel gesetzt hätten. Wenn Sie sich die vor-
handenen Instrumente ansehen, sehen Sie schon, dass es
seit langer Zeit besondere Integrationshilfen für Schwer-
behinderte auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt.

Richtig ist, dass mit den Arbeitsassistenzen sicherlich
noch ein weiterer zusätzlicher Schritt gemacht wird. Wir
halten es für durchaus positiv, einen solchen Schritt zu
machen, allerdings nur dann, wenn eine vernünftige Um-
setzung per Verordnung folgt. Es ist bedauerlich, dass
über die Ausgestaltung dieser Verordnung bisher so wenig
bekannt ist. Es ist alles offen. Ebenso wie die Betroffenen
warten wir gespannt auf die Vorstellungen der Bundesre-
gierung zu diesem Punkt. In der Hoffnung, den Prozess et-
was zu beschleunigen, haben wir dazu eine Kleine An-
frage eingebracht; denn ein Gesetz ohne Ausführungsbe-
stimmungen ist zunächst ein zahnloser Tiger.

Die Klärung dieser Frage ist auch entscheidend, um
den Finanzbedarf beziffern zu können. In dieses Gesetz
ist eine Reihe von sinnvollen Dingen geschrieben worden,
aber alles das kostet Geld. Gleichzeitig – das hat die Bun-
desregierung wiederholt erklärt – gehen Sie davon aus,
dass das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe konstant
bleibt. Das heißt, Sie wollen auf der einen Seite zusätzli-
che Dinge finanzieren, geben aber auf der anderen Seite
in Gesprächen mit den Werkstätten für Behinderte, die
bisher den größten Finanzbedarf aus der Ausgleichsab-
gabe hatten, Finanzierungszusagen, die Sie nicht einhal-
ten können, wenn Sie das Geld für andere Dinge ausge-
ben wollen. Dies ist nach Adam Riese so; das können wir
auch nicht durch Beschluss im Bundestag außer Kraft set-
zen Deswegen werden Sie uns auch nicht daran hindern
können, weiterhin misstrauisch zu bleiben.

Es ist auf der einen Seite zweifellos sinnvoll, die Inte-
gration von so vielen Schwerbehinderten wie irgend mög-
lich in den ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Auf der an-
deren Seite ist völlig klar, dass in den Werkstätten für Be-
hinderte viele arbeiten, für die in diesen Werkstätten eine
sehr viel bessere Förderung erfolgt, als es auf dem ersten
Arbeitsmarkt je möglich wäre.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Deswegen ist Ihr Misstrauen gegenüber den Werkstätten
für Behinderte in meinen Augen völlig verfehlt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zusammen mit der offenen Finanzierungsfrage führt
uns dies bedauerlicherweise dazu, dass wir dieses Gesetz
ablehnen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411517400
Jetzt hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert, PDS, das Wort.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411517500
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäs-
te auf der Tribüne! Ich finde es schon ziemlich lustig, was
hier heute passiert. Da will die Regierungskoalition ein
Gesetz verabschieden, über das sie sich eigentlich freuen
sollte – jedenfalls habe ich Frau Schmidt so verstanden;
auch Frau Göring-Eckardt sagte, wir bräuchten ein sol-
ches Gesetz –, Sie reden hier aber alle so getragen, als
wäre es eine Beerdigung.


(Zustimmung bei der PDS)

Vielleicht ist es auch eine – und das ist meine Befürch-
tung.

Wir brauchen ein Gesetz, das 50 000 schwerbehinderte
Menschen in Arbeit bringt. Aber, Frau Göring-Eckardt,
warum genügt es Ihnen dann – so haben Sie es in das Ge-
setz geschrieben –, dass nach zwei Jahren 25 Prozent we-
niger schwerbehinderte Arbeitslose in der Statistik ver-
zeichnet sein müssen? Sie wissen so gut wie ich, dass in
dieser Zeit etliche Tausende über die Erwerbsunfähig-
keitsrente aus der Statistik herausfallen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Da hat er sogar Recht!)


Sie wissen so gut wie ich, dass in dieser Zeit etliche Tau-
sende in Ruhestand gehen und in der Statistik nicht mehr
auftauchen. Sie erfüllen Ihre Quote, ohne dass ein einzi-
ger Schwerbehinderter Arbeit bekommt. Das kann nicht
sein.


(Beifall bei der PDS und der F.D.P. – Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


Ich bin ja froh, dass eine Koalition regiert, die sich die-
sem Thema widmet. Das ist ein Wert an sich. Herr Haack,
in diesem Punkt alle Achtung auch von mir für Ihre
Bemühungen. Aber was hier vorliegt, ist wirklich alles






(C)



(D)



(A)



(B)


andere als ein Grund, sich zu freuen. Ich will das aus-
drücklich sagen.

Ich bin auch ein bisschen traurig, Frau Nolte, dass Sie
hier zwar sagen, wie wichtig das alles ist, dass von Ihrer
Riesenfraktion insgesamt aber nur vier Mitglieder anwe-
send sind. Wie Sie sehen können, ist die kleine PDS-Frak-
tion stärker vertreten. Wir könnten Sie glatt überstimmen.
Man muss der Öffentlichkeit zumindest einmal mitteilen,
dass die Meinung, die Sie, Frau Nolte, hier vorgetragen
haben, offensichtlich nicht die Meinung Ihrer Fraktion ist.
Aber vielleicht ändert sich das noch; das kann auch nicht
schaden.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Es geht um die Qualität der Argumente, nicht um die Quantität der hier Anwesenden!)


– Ja, allerdings muss man die Argumente auch ein biss-
chen durch Anwesenheit im Plenum untermauern.

Lassen Sie uns zur Sache kommen. Besonders positiv
wäre es, wenn es endlich einen Rechtsanspruch auf Ar-
beitsassistenz gäbe; das könnte wirklich etwas Gutes
sein. Aber Sie lehnen es ab – jedenfalls haben Sie das an-
gekündigt –, unsere Kriterien für die Arbeitsassistenz in
das Gesetz hineinzuschreiben. Frau Nolte hat völlig
Recht: Die Verordnungsermächtigung kann nur dazu
führen, dass aus der notwendigen Arbeitsassistenz, die Sie
apostrophieren, eine Miniarbeitsassistenz wird. Wir schla-
gen vor: Macht aus der notwendigen eine bedarfs-
deckende Arbeitsassistenz laut Gesetz. Dann könnten wir
uns nach unseren Kriterien richten. Dann hätten die Men-
schen mit Behinderungen vom ersten Tage an eine Hand-
habe, wann sie diesen Rechtsanspruch überhaupt geltend
machen können. Wenn wir den Klageweg beschreiten
wollten, würde das drei oder fünf Jahre dauern.

Frau Schmidt, Sie haben eben Bekannte angeführt, die
auf Arbeitsassistenz warten. Das Gesetz nützt ihnen
nichts, wenn es keine Kriterien für den Rechtsanspruch
auf Arbeitsassistenz gibt.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Deswegen mache ich dann gar nichts, oder was?)


Deshalb ist es notwendig, das per Gesetz festzulegen.
Noch ein Wort. Sie haben eigentlich nur schwerbehin-

derte Frauen berücksichtigen wollen. Wir haben vorge-
schlagen: Berücksichtigt sie bevorzugt. Danach haben Sie
„besonders berücksichtigen“ daraus gemacht. Ich muss
anerkennen – und dafür bin ich dankbar –, dass Sie auch
unsere Vorschläge zumindest teilweise aufgreifen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411517600
Herr Kollege, ich
muss Sie leider auf die Redezeit aufmerksam machen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1411517700
Frau Präsidentin, ich bitte um
Entschuldigung, dass ich nicht auf die Uhr geschaut habe.

Ich will nur sagen: Ich wäre froh, wenn wir gemein-
sam – Sie wissen, dass ich da auf Ihrer Seite stehe – einen
Schritt in eine vernünftige Richtung gehen könnten. Dies-

mal ist die Sache so ambivalent, dass sich die PDS ent-
halten wird. Ich hoffe, dass wir in Zukunft gemeinsam
voranschreiten können.

Danke schön für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411517800
Nun erteile ich dem
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der
Behinderten, Karl-Hermann Haack, das Wort.


Karl Hermann Haack (SPD):
Rede ID: ID1411517900
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
wurde von Frau Nolte gesagt, dieses Gesetz sei schnell ge-
macht worden, es hätte langsamer und gründlicher bera-
ten werden müssen. Frau Nolte, wir haben aus 16 Jahren
Helmut Kohl 180 000 Arbeitslose im Schwerbehinderten-
bereich geerbt.


(Beifall bei der SPD – Peter Hintze [CDU/ CSU]: Das ist ja unglaublich!)


Wir haben uns im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vor-
genommen, auch in diesem Bereich einen Beitrag zu leis-
ten.

Dieses Gesetz, welches aus Ihrer Sicht zu schnell ge-
macht worden ist, ist ein erster Erfolg des Bündnisses für
Arbeit. Denn es ist zwischen Regierung, Arbeitgebern,
Arbeitnehmern und Behindertenverbänden verhandelt
worden. Wir haben uns dort verständigt. Die Eckdaten,
die diesem Gesetz zugrunde gelegt sind, stellen einen
Konsens gesellschaftlicher Gruppen dar. Deswegen mei-
nen wir, dass wir recht gehandelt haben. Wir unternehmen
mit diesem Gesetz einen Versuch, zukünftig 50 000 Men-
schen – das sind 25 Prozent derer, die arbeitslos sind – in
Arbeit zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu mäkeln, dass man aus der Statistik aus diesem oder je-
nem Grund schwerbehinderte Arbeitslose herausstreicht,
halte ich für müßig.

Ich will Ihnen darlegen, warum ich glaube, dass dieses
Gesetz erfolgreich sein wird. Wir haben in den letzten Jah-
ren mit einer gemeinsamen Initiative von Arbeitgebern,
Arbeitnehmern und anderen gesellschaftlichen Gruppen
erreicht, dass junge Menschen in Ausbildungsverbünde
gekommen sind bzw. Ausbildungsplätze bekommen ha-
ben, mit dem Erfolg, dass wir alljährlich sagen können:
Die Bilanz ist relativ positiv.

Wir haben in dem Programm JUMP– Junge Menschen
in Arbeit, Ausbildung und Beruf des Bundesarbeitsminis-
ters erreicht, dass 200 000 junge Leute heute in Ausbil-
dungsverbünden sind, ihre Schulabschlüsse nachmachen
können bzw. Traineemaßnahmen absolvieren. Diese
Maßnahmen sind Ausdruck von Konsenspolitik dieser
neuen rot-grünen Regierung.

Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir
zum Frühherbst dieses Jahres eine Kampagne starten. Wir




Dr. Ilja Seifert
11020


(C)



(D)



(A)



(B)


glauben, wir werden erreichen, dass Menschen mit Be-
hinderungen in Arbeit kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Einen weiteren wichtigen Punkt der öffentlichen De-
batte möchte ich hier aufgreifen. Frau Schwaetzer, Sie ha-
ben gesagt, wir hätten gegenüber den Werkstätten ein
Misstrauen. Das ist eine Kampagne, die läuft. Sie hängt
damit zusammen, dass die Länder Baden-Württemberg
und Bayern im Bundesrat einen Antrag eingebracht haben
mit der Zielsetzung, zu einer Neuverteilung der Aus-
gleichsabgabe zugunsten der Werkstätten zu kommen.

Wir ziehen mit der Etablierung der Integrationsfach-
dienste und Integrationsfirmen die Konsequenzen da-
raus, dass in 16 Bundesländern erfolgreich Versuche ge-
laufen sind. Wir sagen: Bevor wir die Berichte über diese
Integrationsfachdienste, über diese Integrationsfachfir-
men endgültig abwarten, werden wir sie jetzt schon in die-
ses Vorschaltgesetz „Neue Arbeit für Menschen mit Be-
hinderungen“ aufnehmen.

Sie wissen genauso gut wie ich – es ist im Ausschuss
hinreichend gesagt worden –, dass es Spitzengespräche
gegeben hat. Dafür bin ich dem Minister mit seinen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar. Es waren Spit-
zengespräche mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Werkstätten auf der einen Seite und auf der anderen Seite
mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsfach-
dienste. Wir haben uns auf meinen Vorschlag hin darüber
verständigt, dass wir den gesamten Bereich einer kriti-
schen Überprüfung unterziehen unter der Fragestellung:
Was sind zukünftig die Aufgaben der Werkstätten? Was
sind zukünftig die Aufgaben der Integrationsfachdienste?
Welche Brückenfunktionen müssen Integrationsfachdien-
ste haben, um Menschen von dem zweiten in den ersten
Arbeitsmarkt überzuleiten? Das Ziel dieser Untersuchung
ist, das Kästchendenken zur Seite zu schieben und ein fle-
xibles, durchgängiges System zu organisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt, der von Herrn Seifert und auch von
anderen Kollegen angesprochen wurde, ist das Recht auf
Arbeitsassistenz. Ich möchte Ihnen unseren qualitativen
Sprung an diesem Punkt deutlich machen: Wir haben
Art. 3 des Grundgesetzes 1994 um die Bestimmung er-
gänzt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benach-
teiligt werden dürfen. Wir haben daraus die Konsequenz
gezogen, die Integration zu ermöglichen. Somit darf das
Recht auf Arbeitsassistenz nicht mehr in die Beliebigkeit
der Entscheidung der Hauptfürsorgestelle gestellt wer-
den. Es darf nicht sein, dass sich ein Mensch mit Behin-
derung vor dem Mitarbeiter der Hauptfürsorgestelle in der
Hoffnung „inszenieren“ muss, je besser er seine Behinde-
rung vorführe, desto eher werde er Arbeitsassistenz finan-
ziert bekommen.

Menschen mit Behinderung nicht zu benachteiligen
bedeutet, sie zu integrieren. Es bedeutet, dass sie auf dem
ersten Arbeitsmarkt eine Chance haben müssen. Deshalb
schaffen wir jetzt einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassis-
tenz. Die Begründung dafür, dass wir das Gesetz

„zustimmungsfrei“ formuliert haben, ist ganz einfach:
Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben ver-
sucht, diese neue Konzeption zur Reform des Schwerbe-
hindertenrechtes zu einer Verhandlungsmasse der
Neuaufteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und
Ländern zu machen. Die Länder wollen ihren Anteil deut-
lich erhöhen und damit die Gestaltungsaufgabe des Bun-
des entsprechend beschneiden.

Insofern habe ich volles Verständnis, dass diese Bun-
desregierung vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
182 314 schwerbehinderte Menschen arbeitslos sind, ver-
suchen will, diesen Missstand möglichst schnell zu än-
dern. Ich trage es auch politisch mit, dass die Bundesre-
gierung dies mit einem neuen Instrumentarium versucht
und darauf verzichtet, lange strategische Verhandlungen
mit den Ländern zu führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte die Notwendigkeit der Hilfe für arbeitslose
Schwerbehinderte für wichtiger als das Feilschen mit
Frau Stamm oder anderen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meinen
Dank an die Träger der Werkstätten ausdrücken, die nach
diesen Gesprächen in einer hervorragenden Arbeit mit uns
kommuniziert haben. Ich darf Ihnen, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren von der Opposition, sagen: Im
Rahmen der Beratungen über das SGB IX werden wir
auch mit Ihnen das Gespräch suchen. Herr Seehofer als
Ihr sozialpolitischer Sprecher hat einen entsprechenden
Brief verfasst. Wir werden nach der Verabschiedung die-
ses Gesetzes, nachdem wir uns auch mit den Ländern über
die Grundzüge des SGB IX verständigt haben, auf Sie zu-
kommen und versuchen, mit Ihnen gemeinsam zu einem
Ergebnis zu kommen. Insofern bitte ich noch um etwas
Geduld.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung hat
der Kollege Dr. Seifert eine Erklärung nach § 31 der Ge-
schäftsordnung zu Protokoll gegeben1).

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in der
Ausschussfassung, Drucksachen 14/3372, 14/3645 und
14/3799. Dazu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion
der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3837? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Gegen die Stimmen der PDS ist dieser Antrag abgelehnt.




Karl Hermann Haack (Extertal)


11021


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4

Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3839? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Auch dieser Antrag ist abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3840? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Auch dieser Antrag ist abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3841? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist auch dieser Antrag abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei
Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Stimmenthal-
tung der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der
Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehin-
derter im öffentlichen Dienst, Drucksache 14/3799. Der
Ausschuss empfiehlt etwas Sensationelles, meine Damen
und Herren, nämlich unter Buchstabe b seiner Beschluss-
fassung, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksa-
che 14/2415 zur Kenntnis zu nehmen. Wer möchte dieser
Beschlussempfehlung folgen? – Damit haben wir den Be-
richt mit einem einstimmigen Beschluss des Deutschen
Bundestages zur Kenntnis genommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Anlgelegenheiten
der Europäischen Union (22. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Prof. Dr.

Jürgen Meyer (Ulm); Joachim Poß, Günter
Gloser, weiterer Abgordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Christian
Sterzing, Volker Beck (Köln), Rita Grießhaber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Charta der Grundrechte der Europäischen
Union

– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,
Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU
Die Rechte der Bürger stärken – Für eine
bürgernahe Charta der Grundrechte der
Europäischen Union

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der F.D.P.

Verbindlichkeit der europäischen Grund-
rechtecharta und Beitritt der Europäischen
Union zur europäischen Menschenrechts-
konvention

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion PDS
Für eine rechtsverbindliche europäische
Grundrechtecharta

– Drucksachen 14/3387, 14/3368, 14/3322,
14/3513, 14/3800 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Peter Altmaier
Claudia Roth (Augsburg)

Sabine Leutheuser-Schnarrenberger
Klaus Grehn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.


Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1411518100
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die
Debatte über die europäische Grundrechtecharta mit zwei
Vorbemerkungen beginnen.

In der letzten Sitzung des Konvents in Brüssel hat das
Präsidium mitgeteilt, dass Roman Herzog den Vorsitz des
Konvents demnächst wieder übernehmen wird.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir alle wissen, dass er wegen der schweren Erkrankung
seiner Frau den Vorsitz im Konvent niedergelegt hatte.
Die Rückkehr von Roman Herzog ist vom Konvent und,
wie ich sehe, auch von Ihnen sehr positiv aufgenommen
worden. Roman Herzog gelingt es, mit seiner Kompetenz
und seinem Ansehen, auch widerstreitende Gruppen im
Konvent zusammenzuführen und das Projekt der Grund-
rechtecharta zum Erfolg zu führen.

Meine zweite Vorbemerkung gilt der Rede von Präsi-
dent Chirac, die er im Deutschen Bundestag gehalten hat.
Ich fand es sehr erfreulich, dass Präsident Chirac deutlich
gemacht hat, dass es auch bei der Grundrechtecharta da-
rum geht, mehr Demokratie in Europa zu wagen. Dies
spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Kon-
vents wider, denn drei Viertel der Mitglieder dieses Gre-
miums sind Parlamentarier. Es ist ein Signal für mehr
Demokratie, wenn eine Weichenstellung in Richtung ei-
ner Konkretisierung der Werteordnung in Europa durch
ein solches Gremium vorgenommen wird. Deshalb soll-
ten wir alle dazu beitragen, das Projekt zum Erfolg zu
führen.

Weil wir in früheren Debatten und auch in der Debatte
im Mai in diesem Hause ein hohes Maß an Konsens fest-
gestellt hatten, habe ich seinerzeit vorgeschlagen, nach-
dem die Anträge der Koalitionsfraktionen einerseits und




Vizepräsidentin Anke Fuchs
11022


(C)



(D)



(A)



(B)


der Oppositionsfraktionen andererseits vorgelegt worden
waren, diese zu einer gemeinsamen Entschließung zu-
sammenzufassen. Die fast zweimonatigen Bemühungen
nach der letzten Debatte schienen erfolgreich zu sein. Lei-
der ist es heute doch nicht möglich, eine gemeinsame Ent-
schließung zu verabschieden.

Bevor ich dazu eine Bemerkung mache, möchte ich
aber feststellen, dass alle Fraktionen in diesem Parlament
in zahlreichen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Wir
sind uns darin einig, dass die Arbeiten des Konvents zur
Erarbeitung der Grundrechtecharta weiter unterstützt
werden. Wir sind uns einig darin, dass die Bedeutung der
Grundrechtecharta auch in der deutschen Öffentlichkeit
erkannt und gewürdigt und darüber eine breite gesell-
schaftliche Debatte geführt werden sollte.

Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, für
den Beitritt der Europäischen Union zur europäischen
Menschenrechtskonvention einzutreten. Wir sind uns ei-
nig darin, dass der Konvent fortschrittliche und für die
europäische Integration zentrale Grundrechte formulieren
sollte, wozu insbesondere ein Diskriminierungsverbot,
ein aktives Gleichstellungsgebot sowie kulturelle Grund-
rechte gehören. Wir sind uns auch einig darin, dass die
Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten un-
ter Berücksichtigung der europäischen Sozialcharta und
der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der
Arbeitnehmer in die Charta unterstützt werden sollte. Und
ich denke, wir sind uns einig darüber, dass sich die Bun-
desregierung im Europäischen Rat für die Rechts-
verbindlichkeit der Grundrechtecharta mit individueller
Klagemöglichkeit einsetzen sollte.

Nun werden manche mit Recht fragen: Warum legen
die Fraktionen des Deutschen Bundestages angesichts
von so viel Einigkeit nicht eine gemeinsame Entschlie-
ßung vor? Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, so
etwas wie einen Einheitsbrei herzustellen oder abstrakte
Formulierungen, die letztlich wenig aussagen, zu Papier
zu bringen. Aber die Substanz dessen, was uns verbindet,
ist so groß, dass die Frage, warum es nicht zu einer ge-
meinsamen Entschließung gekommen ist, tatsächlich
schwer zu beantworten ist.

Die Ablehnung kam Anfang dieser Woche – für viele
von uns überraschend – aus der CDU/CSU-Fraktion. Ich
habe natürlich versucht, rational nachzuvollziehen, wo-
rauf sich diese Ablehnung gründet, und festzustellen, ob
diese Ablehnung vielleicht nur ein Mittel ist, Profil auf ei-
nem ungeeigneten Feld der Auseinandersetzung zu zei-
gen. Es wurde auf nicht zuzudeckende Meinungsunter-
schiede – es hat ja keinen Sinn, darum herumzureden –
bezüglich des Grundrechts auf Asyl hingewiesen. Wir
hatten uns aber ursprünglich darauf verständigt, dass wir
uns dem Bekenntnis des Europäischen Rates von Tam-
pere, dem künftigen europäischen Asylrecht die Genfer
Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfas-
send zugrunde zu legen, anschließen wollten.

Nun bin ich der Auffassung, dass die auf nationaler
Ebene sicherlich notwendige Auseinandersetzung um das
von der CDU/CSU-Fraktion gewünschte lediglich institu-
tionelle Asylrecht und das von uns weiterhin für richtig
gehaltene einklagbare individuelle Grundrecht auf Asyl
auch geführt werden muss. Aber jetzt geht es um den Kon-

vent in Brüssel. Ich finde, man sollte die Auseinander-
setzung, die auf nationaler Ebene zu führen ist, vor allem
dann nicht nach Brüssel verlagern, wenn man sie nicht
gewinnen kann; denn für eine Grundgesetzänderung gibt
es keine Mehrheit.

Außerdem werden wir in die Grundrechtecharta hi-
neinschreiben, dass durch sie in keinem Fall das Niveau
weiter gehender nationaler Grundrechte gesenkt werden
darf. Darauf haben wir uns verständigt. Das betrifft übri-
gens nicht nur ein einzelnes Grundrecht. Diese Forderung
wurde von Delegierten verschiedener Länder erhoben.
Die Finnen sind zum Beispiel in Sorge, dass das Niveau
ihrer hochmodernen Verfassung durch die Grundrechte-
charta gesenkt werden könnte. Dies darf nicht geschehen.
Deshalb sind wir der Auffassung – mit den eben skizzier-
ten Folgen für das deutsche Asylrecht –, dass durch die
Grundrechtecharta der hohe Grundrechtsstandard der na-
tionalen Verfassungen in keinem Fall gesenkt werden
darf. Warum also streiten wir im Zusammenhang mit der
Charta dann über diesen Punkt?

Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in den nächsten
zwei Wochen im Konvent sehr intensiv beschäftigen wer-
den, sind die sozialen Grundrechte. Wir hatten uns ei-
gentlich darauf verständigt, klarzustellen: Es ist an der
Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und
Universalität der Menschenrechte auch dadurch zu doku-
mentieren, dass – dem Auftrag von Köln entsprechend –
die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in
die Charta finden. Warum streiten wir also darüber? Im
Konvent besteht Einigkeit darüber, dass durch die Grund-
rechtecharta die Kompetenzen der EU-Organe nicht er-
weitert werden können.

Ich bin der Auffassung, wir sollten gemeinsam überle-
gen, ob die bevorstehende Debatte im Konvent in Brüssel
nicht auch von uns unterstützt werden sollte. Es ist offen-
sichtlich, dass es Streit über die sozialen Grundrechte
gibt. Wer wollte das in Abrede stellen? Es ist auch offen-
sichtlich, dass einige Länder großen Wert darauf legen,
eine riesengroße Zahl an sozialen Grundrechten zu for-
mulieren. Wir sind dagegen der Auffassung – ich habe das
eben als gemeinsame Auffassung dargestellt –, dass man
nur Grundrechte formulieren sollte, die auch einklagbar
sind. Deshalb werbe ich um die Unterstützung für den
Versuch – den ich gemeinsam mit dem Delegierten der
französischen Regierung, Herrn Braibant, unternommen
habe – hier einen Mittelweg zu finden. Roman Herzog
hat, als die Debatten im Konvent sehr streitig ausgetragen
wurden, ausdrücklich aufgefordert, einen solchen Mittel-
weg zu finden.

Der Mittelweg besteht darin, dass wir – das ist die erste
Säule – in die Präambel der Charta und in die Überschrift
des Kapitels über die sozialen Grundrechte den Grundsatz
der Solidarität hineinschreiben, dass wir – das ist die
zweite Säule – in acht Artikeln, gruppiert um die Elemente
Arbeit, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die
Respektierung und den Schutz sozialer Grundrechte hi-
neinschreiben und dass wir – das ist die dritte Säule –
deutlich machen: Es wird auch künftig Konventionen mit
neuen – auch sozialen – Grundrechten geben. Diese sind,
wenn alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, Grundlage
der Auslegung und Anwendung der Charta.




Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)


11023


(C)



(D)



(A)



(B)


Um deutlich zu machen, dass wir uns eigentlich ver-
ständigen könnten, will ich einmal die drei Sätze vorlesen,
die Herr Braibant und ich in Bezug auf das Recht derAr-
beit vorgeschlagen haben. Ich wüsste gerne, ob irgend-je-
mand in diesem Raum ist, der dem nicht zustimmt. Wir
formulieren da:

Jeder hat das Recht, zu arbeiten, und das Recht auf
Schutz seines Arbeitsplatzes. Insbesondere hat jeder
das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszu-
üben, sowie das Recht auf freien Zugang zu unent-
geltlicher Arbeitsvermittlung. Jeder hat Anspruch auf
Schutz vor ungerechtfertigter oder missbräuchlicher
Entlassung.

Wer kann denn gegen ein so formuliertes soziales Grund-
recht der Arbeit sein?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe gehört, dass die Debatte in der CDU/CSU-
Fraktion letztlich deshalb zum Nein zu einer gemeinsa-
men Entschließung führte, weil man sich über die Auf-
nahme eines kleinen Satzes nicht einig geworden sei. Wir
hatten im Entwurf der gemeinsamen Entschließung fol-
genden Satz vorgesehen:

Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlecht-
liche Paare nicht benachteiligt werden dürfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von

der CDU/CSU-Fraktion – mir ist schon klar, dass ich ei-
gentlich diejenigen ansprechen müsste, die nicht da
sind –, gegen diesen Satz?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herr Altmaier wird das gleich in vernichtender Deutlichkeit klarmachen!)


Ich will Ihnen einmal in Gegenüberstellung zu diesem
ganz bescheidenen kurzen Satz in Erinnerung rufen, was
Sie vor kurzem auf Ihrem Parteitag zu diesem Thema be-
schlossen haben, Frau Merkel hat es sehr unterstützt, – ich
zitiere aus Ihrem Parteitagsbeschluss –:

Wir respektieren die Entscheidung von Menschen,
die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Le-
bensentwurf zu verwirklichen suchen.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir anerkennen, dass auch in solchen Beziehungen
Werte gelebt werden können, die für unsere Gesell-
schaft grundlegend sind. Dies gilt für nicht eheliche
Partnerschaften zwischen Frauen und Männern; dies
gilt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen jede
Form von Diskriminierung.


(Beifall im ganzen Hause)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genau dies hatten

wir für unsere gemeinsame Entschließung vorgesehen.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schreiben Sie das in die Charta und wir stimmen zu!)


Mir ist klar, dass Sie in Ihrer Fraktion dafür gekämpft
haben und sich letztlich gegenüber Ihren CSU-Kollegen
nicht durchgesetzt haben. Ich bitte Sie dringend, dieses
Problem zu lösen und nicht zuzulassen, dass das, was Frau
Merkel zu diesem Thema gesagt und durchgesetzt hat,
von Herrn Stoiber wieder aus dem Gefecht gezogen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir stehen ja gar nicht im Gefecht! Nicht so martialisch!)


Ich habe sehr genau beobachtet, dass Sie in unserer
letzten Debatte am 18. Mai irritiert reagierten, als der
CSU-Kollege Dr. Müller zu der Bedingung für die Rati-
fizierung der Charta sagte:

Wir wollen keine Kompetenzausweitung, sondern
erwarten Kompetenzbeschränkungen.

Wie kann man so etwas von der Grundrechtecharta, die
sich mit der Kompetenzfrage bekanntlich nicht zu befas-
sen hat, überhaupt erwarten? Kommen Sie zu einer ver-
nünftigen Einigung mit den CSU-Kollegen in Ihrer Frak-
tion! Wenn das geschehen ist, dann legen wir – das ist
meine Überzeugung – wieder gemeinsame Entschließun-
gen vor. Die Grundlage dafür ist breit genug.

Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Es geht bei der
Grundrechtecharta um die Identität der Europäer, die ihre
Werteordnung, an die sie gebunden sind, deutlich machen
sollten. Genauso wichtig ist: Es geht um die Kontrolle von
Machtausübung durch die EU-Organe in Brüssel.


(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Das ist der Kern!)


Dass wir dafür gemeinsam eintreten, das sollte künftig
wieder deutlicher werden, als es heute durch Mehrheits-
entscheidungen über einen Antrag der Koalition deutlich
werden kann. Überlegen Sie bitte, ob Taktik nicht manch-
mal Übertaktieren – Taktik wird über die Sache gestellt –
bedeutet.

Ich werde mich jedenfalls durch die Abstimmungen,
die heute leider nicht im Konsens erfolgen werden, nicht
davon abhalten lassen, auch mit den Europapolitikern der
Oppositionsfraktionen, die für eine gemeinsame Ent-
schließung gekämpft haben und denen es in erster Linie
um die Sache und nicht um parteitaktischen Vorteil geht,
weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518200
Eine Kurzinterven-
tion? – Bitte, Herr Kollege Hintze, wenn es denn sein
muss.


(Widerspruch bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: So wichtig ist uns Europa!)





Prof. Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

11024


(C)



(D)



(A)



(B)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1411518300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Sie um diese Stunde noch
im Deutschen Bundestag sind! Der Beitrag des Kollegen
Professor Meyer erfordert doch eine kurze, friedliche
Klarstellung.

Sie haben unseren Parteitagsbeschluss ausgesprochen
zutreffend zitiert und auch ausgesprochen zutreffend fest-
gestellt, dass für CDU und CSU die Wahl der persönli-
chen Lebensform zur Bestimmungsfreiheit jedes einzel-
nen Menschen gehört. Sie haben dann fälschlicherweise
mit Blick auf die Grundrechtecharta den Eindruck er-
weckt, dies sei nicht mehr unsere Auffassung. Richtig ist,
dass wir bei der Gesamtwürdigung des Antrages, der hier
gemeinsam eingebracht werden sollte, zu der Auffassung
kamen, dass die Gewichte insbesondere durch die ge-
wählten Formulierungen zwischen dem von uns allen hof-
fentlich für richtig gehaltenen Schutz von Ehe und Fami-
lie auf der einen Seite und der Wahlfreiheit der persönli-
chen Lebensform auf der anderen Seite ein bisschen
ungleich verteilt waren. Deswegen erschien es uns richti-
ger, die Vorstellungen unserer Fraktion in der Form eines
eigenen Antrages einzubringen.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das alles wegen eines Satzes!)


Im Übrigen sollten wir uns auch in Zukunft nicht den
Weg zu gemeinsamen Vorhaben dadurch verstellen, dass
in Plenardebatten eklektisch aus der Entstehungsge-
schichte eines gemeinsamen Antragsversuches berichtet
wird. Sie wissen ja, dass dieser gemeinsame Antrag ver-
schiedene Ecken und Kanten hatte und noch andere
Aspekte berührte. Wenn Sie ein Interesse daran haben,
dass wir in Zukunft europapolitische Projekte gemeinsam
betreiben, dann bitte ich Sie doch, hier nicht einseitig im
Plenum Dinge zu zitieren,


(Unruhe bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


die viele Kolleginnen und Kollegen nicht mitverfolgen
konnten, und nicht unruhig zu werden, wenn man einmal
versucht, das kurz klarzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518400
Nun sind wir ge-
spannt auf die Rede des Kollegen Peter Altmaier, dem ich
nun das Wort erteile.


Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1411518500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Konvent zur Erarbeitung der
Grundrechtecharta beschäftigt sich seit ungefähr einem
halben Jahr mit diesem Thema. Dabei zeigt sich immer
mehr, dass dieses Projekt zu Anfang unterschätzt wurde.
Es ist ein großes, ein richtiges und möglicherweise auch
ein historisches Projekt der europäischen Integration.
Wir sind aber noch weit davon entfernt, es als gelungenes
Projekt bezeichnen zu können. Dieses Projekt kann schei-
tern: Es kann auf den letzten Metern im Konvent selber
scheitern, es kann scheitern, wenn es in Nizza nicht feier-
lich proklamiert wird, weil es keinen Konsens zwischen
den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Europäischen

Parlament gibt, und es wäre de facto auch gescheitert,
wenn es nicht irgendwann einmal als verbindlich in die
europäischen Verträge übernommen würde. Aus unserer
Sicht wäre das schade. Die Charta wäre dann nämlich das
Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Deshalb meine
ich, dass wir bei dieser Debatte, die wir heute und in den
nächsten Wochen führen, bei allen Unterschieden in der
Sache deutlich machen müssen, dass uns daran gelegen
ist, einen Konsens über die grundlegenden Fragen im Zu-
sammenhang mit der Charta zustande zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lieber Kollege Meyer, ich glaube nicht, dass es uns

weiterführt, wenn wir uns gegenseitig taktische Motive
unterstellen oder unterstellen, dass wir vorsätzlich ge-
meinsame Anträge nicht hätten zustande kommen lassen.
Sie wissen doch ganz genau, dass jeder hier in diesem
Haus, dass CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die
Grünen von Anfang an dieses Projekt einer europäischen
Grundrechtecharta gemeinsam mitgetragen und unter-
stützt haben. Gerade auch Kollegen aus der CDU/CSU, in
erster Linie Professor Roman Herzog, der ehemalige
Bundespräsident, aber auch der Kollege Gnauck, der den
Bundesrat im Konvent vertritt, und meine Wenigkeit als
Stellvertreter, haben ihren Beitrag dazu erbracht, dass die
Arbeiten so weit gediehen sind. Wir arbeiten doch kon-
struktiv und sachlich zusammen. Und deshalb bin ich der
Auffassung, dass wir die heutige Debatte über unter-
schiedliche Anträge in der gebotenen Sachlichkeit führen
sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass wir einen ge-

meinsamen Antrag zustande bringen. Wir waren auch
sehr weit gediehen; es hat uns zum Schluss nicht mehr
sehr viel getrennt. Eine Situation war erreicht, in der man
sich die Frage stellen konnte, ob dieser Antrag gerade
noch annehmbar ist oder ob er gerade nicht mehr kon-
sensfähig ist. Wir haben uns letzen Endes nach langen
Diskussionen, in denen wir es uns nicht einfach gemacht
haben, dafür entschieden, streitig über die einzelnen An-
träge abzustimmen, weil wir glauben, dass es unter Um-
ständen sogar besser sein kann – wenn also klar ist, dass
es nicht um eine grundsätzliche Haltung zur Charta geht,
aber um einzelne Rechte, die aufgenommen werden sol-
len und über die diskutiert werden muss –, wenn die un-
terschiedlichen Auffassungen, die es in inhaltlichen Fra-
gen gibt, in diesem Hohen Haus auch zum Ausdruck
kommen.

Wir schulden der Öffentlichkeit auch ein gewisses Maß
an Ehrlichkeit. Wir dürfen nicht jeden Unterschied mit
Worten von großer Einigkeit zudecken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Und deshalb frage ich mich, ob wir mit dem, was wir ge-
meinsam formuliert hatten, nicht einfach auch der Versu-
chung erlegen sind, mit schönen Worten eine Einigkeit
vorzutäuschen, die in der Sache in dieser Form gar nicht
besteht.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will dazu drei Beispiele nennen. Das erste Beispiel
betrifft die so genannten wirtschaftlichen und sozialen
Rechte. Wir unterscheiden uns doch überhaupt nicht
darin, dass wir das, was wir als europäisches Sozialmodell
bezeichnen, dass wir die Sozialstaatsverpflichtung, wie
wir sie aus dem Grundgesetz kennen, auch in dieser
Grundrechtecharta deutlich zum Ausdruck bringen wol-
len. Aber ich meine, man muss den Menschen schon klar
sagen, was man mit den einzelnen Vorschriften konkret
erreichen will. Wenn wir in die Charta Vorschriften über
ein faires Verfahren, über eine ordnungsgemäße Verwal-
tung und über einen Zugang zu Informationen aufneh-
men, dann handelt es sich um ganz konkrete Rechte, die
der Bürger gegenüber den europäischen Institutionen ein-
klagen kann. Das heißt, wir verbessern seine Rechtsposi-
tion. Wir geben dem Bürger etwas an die Hand, sodass er
zum Beispiel künftig in Brüssel bei der Europäischen
Kommission Akten für bestimmte Bereiche einsehen
kann.

Ähnliche Fragen müssen wir auch in Bezug auf die so-
zialen Grundrechte beantworten. Was soll sich nach Ihrer
Auffassung für die Bürger in Europa mit der Aufnahme
dieser sozialen Grundrechte ändern? Sind es nur unver-
bindliche Zielbestimmungen, die nichts ändern? Wollen
Sie, dass diese Rechte einklagbar sind? Was bedeutet das?
Sie haben gesagt, es solle keine neuen Kompetenzen
geben.

Sie haben in Ihrem Antrag ein Recht auf Zugang zu
Leistungen der Gesundheitsfürsorge – damit ist die Kran-
kenversicherung gemeint – gefordert. In jedem Mit-
gliedsland gibt es dieses Recht. Bedeutet das aber in Zu-
kunft auch, dass jemand den Europäischen Gerichtshof
anrufen kann, weil er der Auffassung ist, dass die Warte-
listen in Großbritannien oder die rot-grüne Reform im Ge-
sundheitswesen die Einlösung genau dieses Anspruchs
unmöglich machen? Das würde nämlich bedeuten, dass
wir im nationalen Bereich zwar weiterhin für die Sozial-
politik zuständig sind, dass aber der Europäische Ge-
richtshof in Luxemburg darüber entscheidet, wie diese
Zuständigkeit ausgeübt wird.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte weder die
Wartelisten in Großbritannien noch die rot-grüne Budge-
tierung im Gesundheitswesen für wegweisende Erfindun-
gen des 21. Jahrhunderts. Aber ich möchte, dass wir die
politische Debatte über diese Themen im Deutschen Bun-
destag führen und dass entsprechende Fragen nicht durch
Richterrecht in Luxemburg entschieden werden.

Wir müssen uns die entsprechenden Fragen auch beim
Thema Asyl stellen. Was wollen wir zu diesem Thema in
die Charta aufnehmen? Wir haben mit unserem Antrag
deutlich gemacht – das wird die Kollegin Roth wahr-
scheinlich als nicht akzeptabel empfinden –, dass wir die
Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt, aber als
Institutsgarantie und eben nicht als Individualanspruch
wollen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine eingeschränkte Interpretation!)


Wir wollen dies aus folgendem Grund, Frau Kollegin
Roth: Wenn wir jetzt in diese Charta hineinschreiben wür-
den, es gibt einen Individualanspruch auf Asyl, würde das
bedeuten, dass die Debatte über eine künftige europäische
Harmonisierung des Asylrechts beendet ist, weil es sich
nämlich um einen Mindeststandard handelt, der niemals
mehr unterschritten werden kann. Ich sage Ihnen deshalb:
Es wird im Konvent keinen Konsens über diese Frage ge-
ben. Es wird auch keine Chance geben, dass eine solche
Charta jemals rechtsverbindlich wird, wenn Sie darauf
bestehen, die hohen Standards des deutschen Grundgeset-
zes dort festzuschreiben. Bei der Charta geht es um
Mindeststandards. Deshalb kann es nur darum geben,
dass wir in dieser Charta eine Institutsgarantie auf Asyl
festschreiben und unser Bekenntnis zur Genfer Flücht-
lingskonvention deutlich machen. Es muss dann im Rah-
men des Tampere-Prozesses darüber diskutiert werden,
wie ein harmonisiertes europäisches Asylrecht auszu-
sehen hat.

Nun frage ich Sie, Herr Kollege Meyer: Was bezweckt
denn Ihr Antrag? Wollen Sie mit Ihrem Antrag die Insti-
tutsgarantie, wie das Ihr Innenminister bei jeder Gelegen-
heit propagiert? Wollen Sie das Individualgrundrecht fest-
schreiben mit dem Ergebnis, dass Herr Schily gar nicht
mehr nach Brüssel fahren muss, weil die von ihm einge-
forderte Harmonisierung gar nicht mehr möglich ist? Das
wird aus Ihrem Antrag nicht klar. Deshalb meine ich: Sie
schulden Ihren eigenen Wählerinnen und Wählern, der
Öffentlichkeit sowie den NGOs Auskunft darüber, was
Sie mit dieser Charta im Einzelnen erreichen wollen. Das
wird in diesem Antrag nicht klar.

Ein drittes Beispiel, meine Damen und Herren. Wir ha-
ben uns in der Tat bis zum Schluss darüber gestritten, ob
in diese Charta ein Verbot der Benachteiligung von
gleichgeschlechtlichen Paaren aufgenommen werden
soll. Heute Morgen haben wir im Bundestag über eine ent-
sprechende gesetzliche Regelung in Deutschland debat-
tiert. Ich denke, dass meine Fraktion deutlich gemacht hat,
dass sie in diesem Bereich Diskussionsbedarf sieht und
dass man wirklich darüber nachdenken muss, was man an
der gegenwärtigen Rechtslage ändern muss. Die Frage ist
nur, wo wir diese Diskussion führen. Wollen Sie wirklich,
dass wir entscheidende Teile des deutschen Familien-
rechts auf europäischer Ebene harmonisieren?

Sie haben in Ihrem Antrag die Freiheit der Wahl des
Statuts für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Das
heißt, dass es in Zukunft in jedem Mitgliedsland möglich
sein muss, dass man eine eingetragene Partnerschaft in
Anspruch nehmen kann. So habe ich Ihren Antrag ver-
standen, so verstehen es viele draußen. Wenn das nicht so
gemeint ist, müssen Sie das sagen. Ich finde, es ist nicht
richtig, Erwartungen zu wecken, die man nachher nicht
einlösen kann.

Meine Damen und Herren, wenn wir über das Zustan-
dekommen einer solchen Charta sprechen, gehört auch
dazu, dass wir uns darüber klar werden, dass in Europa
solche Entscheidungen nur funktionieren, wenn man zum
Kompromiss bereit ist. Wir haben eine unglaublich viel-
fältige politische Landschaft in Europa, unterschiedliche
politische Kulturen, unterschiedliche Grundrechtstradi-




Peter Altmaier
11026


(C)



(D)



(A)



(B)


tionen. Wenn Sie jede Debatte mit der Erklärung begin-
nen, Sie seien für eine Charta, Sie seien dafür, dass dieses
und jenes geregelt werde, dies dürfe aber nicht dazu
führen, dass die deutschen Rechtsstandards unterschritten
würden, werden wir, wenn jeder dies für sich in Anspruch
nimmt, niemals zu einem Ergebnis kommen. Diese Charta
wird im September nur dann zum Erfolg kommen, wenn
es bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromiss-
bereitschaft gibt.

Wir müssen zum Beispiel auch über neue Rechte dis-
kutieren, die wir in diese Charta hineinschreiben. Wir hat-
ten uns in dem gemeinsamen Antrag zu dem Informati-
onszugangsanspruch bekannt. Ich halte das für ganz wich-
tig. Das tragen wir mit. Wir haben uns auch dazu bekannt,
dass wir im Bereich des Datenschutzes, im Bereich der
Gen- und Biotechnologie Regelungen aufnehmen.

Aber nun frage ich Sie: Warum war es denn so schwie-
rig, mit Ihnen über ein Verbot der Vertreibung, über ein
Grundrecht auf Heimat zu reden? Das war mit der Koali-
tion nicht zu machen. Ich verstehe ja, dass viele sagen, die
Debatte sei historisch belastet, aber angesichts der Ver-
treibungen, die im ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien,
im Kosovo bis in die allerjüngste Zeit stattgefunden ha-
ben und möglicherweise in anderen Teilen Europas noch
stattfinden werden, was niemand von uns hofft, müssen
wir uns doch der Frage stellen, wie wir damit umgehen.
Dann kann es doch nicht verboten sein, darüber nachzu-
denken, ob in dieser Charta erstens ein Recht auf Minder-
heitenschutz und zweitens ein Vertreibungsverbot deut-
lich sichtbar verankert werden sollen.

Meine Damen und Herren, ich bin optimistisch, dass
wir es schaffen werden, in der verbleibenden Zeit und mit
einer lebhafter werdenden innerstaatlichen Debatte – das
ist ganz normal – dazu zu kommen, dass die europäische
Charta, die wir hoffentlich im September im Konvent ver-
abschieden werden, einen Schritt nach vorn bedeutet,
auch wenn sie nicht alle Erwartungen und sicherlich nicht
jede einzelne Wunschvorstellung in Bezug auf konkrete
Rechte erfüllt. Wichtig ist aber, dass wir uns diesen
Bemühungen unterziehen. Die Diskussion, die nun in
Gang gekommen ist, die auch von Joschka Fischer und
von dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac
aufgegriffen worden ist, zeigt, dass diese Grundrechte-
chartadiskussion im Umfeld einer generellen Debatte
über die Zukunft der Europäischen Union bis hin zur
Frage einer europäischen Verfassung und der Finalität der
europäischen Integration stattfindet.

Ich meine, das lohnt die Mühe, auch in Zukunft an ei-
ner gemeinsamen Position nicht in jeder einzelnen Frage,
aber im Hinblick auf das große Ziel der Charta festzu-
halten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518600
Jetzt hat die Kollegin
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! In der Tat ist die Grundrechtecharta im Rahmen der
Diskussion über eine europäische Verfassung sicher ein
ganz wichtiger Aspekt des verfassunggebenden Prozes-
ses. Ich habe immer Angst, von „Verfassung“ zu sprechen,


(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Warum das denn?)


weil ich weiß, wie unterschiedlich der Begriff „Verfas-
sung“ in Europa verstanden wird. Deshalb halte ich es für
besser, vom „verfassunggebenden Prozess“ zu sprechen,
da sich in diesem Begriff unterschiedliche Traditionen
vereinen können.

Über die Notwendigkeit einer Grundrechtecharta be-
steht in diesem Hause sicher ein großer Konsens. Ich
denke, es ist unstrittig, dass die Entwicklung der Wirt-
schaftsgemeinschaft hin zur politischen Union einer
Flankierung durch einen effektiven Grundrechtsschutz
bedarf, dass die Europäische Union endlich ein bürger-
rechtliches Fundament braucht und dass dieser Grund-
rechtsschutz nicht nur im Bereich der Asyl- und Migrati-
onspolitik sowie im Bereich der polizeilichen Zusam-
menarbeit notwendig ist, in dem es große schwarze
Demokratielöcher gibt, sondern auch in der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso gibt es im Be-
reich der Sozialunion einen Nachholbedarf an Grund-
rechten.

Die Grundrechtecharta stärkt zudem die Idee einer
Unionsbürgerschaft; denn die Handlungsmöglichkeiten
der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger werden sich er-
weitern. Wir haben in diesem Zusammenhang immer da-
rauf bestanden, dass es nicht zu unterschiedlichen Grund-
rechtsstandards kommen darf, dass es nicht innerhalb der
Europäischen Union Menschen mit unterschiedlichen
Rechten geben darf. Deswegen plädiere ich eindringlich
dafür, die Unterscheidung zwischen Unionsbürgerinnen
und Unionsbürgern und anderen Bürgern nicht in der
Charta der Grundrechte, die für alle Menschen gelten soll,
zu vertiefen.

Man kann sagen, dass die bisherigen Arbeiten des Kon-
vents sehr ermutigend waren, wenn es auch noch viele
Dinge zu kritisieren gibt und noch ein großer Verbesse-
rungsbedarf besteht. Ich glaube, das Forum des Konvents
ist ein gutes neues Mittel zur Förderung der europäischen
Integration. Ich denke auch, dass durch eine erfolgreiche
Arbeit des Konvents die bisherige alleinige Herrschaft der
Regierungskonferenzen um etwas sehr Positives ergänzt
wird.

Warum kein gemeinsamer Konsens auf dem Tisch
liegt, haben schon meine Vorredner ausführlich geschil-
dert. Auch ich bin der Meinung, dass es, wenn es keinen
Konsens geben konnte, besser ist, dass die unterschiedli-
chen Positionen dargestellt werden. Ich denke, das ist
sinnvoller als ein entleerter Kompromiss. So war zumin-
dest unsere Meinung im Menschenrechtsausschuss, der
beratend an der Grundrechtecharta mitwirkt.

Ich möchte ein paar Sätze zu meiner Kritik an den An-
trägen der anderen Fraktionen sagen. Ich finde viele
Punkte im Antrag der F.D.P.-Fraktion sehr gut. Aus




Peter Altmaier

11027


(C)



(D)



(A)



(B)


meiner Sicht ist jedoch der Bereich der wirtschaftlichen
und sozialen Grundrechte bei Ihnen zu stark einge-
schränkt. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise fallen
Sie, glaube ich, sogar hinter die großen UNO-Pakte und
die Forderungen der Wiener Menschenrechtskonferenz
und des Kopenhagen-5-Prozesses zurück.

Zu dem Antrag derUnion: Ich bin froh, Herr Altmaier
und Herr Hintze, dass Sie sich eindeutig zu der Notwen-
digkeit einer Grundrechtecharta bekannt haben. In der
Union gibt es sicher auch andere Positionen; von daher ist
das zu begrüßen. In Ihrem Antrag gibt es im Wesentlichen
drei Punkte, mit denen ich große Probleme habe.
Zunächst habe ich große Schwierigkeiten damit, dass Sie
in der Charta die christlich-abendländische Tradition Eu-
ropas festschreiben wollen.


(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Das europäische Menschenbild!)


Für mich ist das ein Anachronismus. Wie um alles in der
Welt wollen Sie zum Beispiel dem Beitrittskandidaten
Türkei die Möglichkeit geben, sich in einem solchen ge-
meinsamen europäischen Raum wiederzufinden?


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist eine gute Frage!)


– Ich weiß. – Ich gehe davon aus, dass damit klar ist, dass
Sie die Türkei nicht als Teil dieser Europäischen Union
wahrnehmen wollen; denn sonst würden Sie sich nicht auf
die christlich-abendländische Tradition beschränken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)


Darüber würde ich gerne eine ausführliche Debatte mit
Ihnen führen.

Ferner glaube ich, dass auch bei Ihnen der Grundsatz
der Unteilbarkeit der Menschenrechte eingeschränkt
wird. Unteilbarkeit heißt ja, dass politisch-bürgerliche
Freiheitsrechte in Verbindung mit den sozialen, wirt-
schaftlichen und kulturellen Rechten zwei Seiten einer
Medaille sind. Wenn Sie nun aber in Ihrem Antrag schrei-
ben, dass es in erster Linie um die klassischen Freiheits-
und Verfahrensrechte geht, dann etablieren Sie eine Hie-
rarchie, wodurch die Unteilbarkeit in ein Ungleichge-
wicht gerät. Das ist mein Kritikpunkt.

Herr Altmaier, Sie haben es natürlich angesprochen:
Ich bin tatsächlich ganz anderer Auffassung als Sie, was
das Asylrecht angeht. Angesichts dessen, dass Sie von
der Notwendigkeit der Kompromissfindung sprechen,
muss ich unterstellen, dass die Europäische Union ein
Stück weit dazu dienen soll, das Asylrecht auf niedrigem
Niveau zu harmonisieren. Seit vielen Jahren wird immer
wieder versucht, Europa dazu zu benutzen, Unliebsames
aus dem eigenen Land wegzuharmonisieren. Sie haben
sich ja nicht einmal bereit erklärt, den Beschluss von
Tampere zu übernehmen, in dem von einem uneinge-
schränkten und allumfassenden Bezug auf die Genfer
Flüchtlingskonvention gesprochen wird, wobei ich die
Genfer Flüchtlingskonvention in der Tat ganz anders in-
terpretiere.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518700
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Entschuldigen Sie, ich bin etwas langsam, weil ich
allmählich wirklich müde werde.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518800
Das verstehe ich an-
gesichts dessen, dass wir beide hier wirklich lange geses-
sen haben.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Deswegen möchte ich das Ganze auch nicht wei-
ter in die Länge ziehen.– Ich wünsche unseren Männern,
die im Konvent arbeiten, viel Kraft. Sie werden von uns
noch viele gute Vorschläge bekommen. Herr Altmaier, da
hoffe ich auch auf Sie. Bei Herrn Meyer bin ich mir sehr
sicher. Uns wünsche ich ein paar schöne Sommertage. –
Vielen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411518900
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1411519000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Projekt europäische Grundrechtecharta wirkt auf mich
elektrisierend. Das macht mich munter und überhaupt
nicht müde.


(Beifall im ganzen Hause)

Deshalb bin ich froh, dass wir heute die Gelegenheit ha-
ben, nicht zum letzten, sondern erst zum zweiten Mal über
dieses meiner Meinung nach wichtigste Projekt im Rah-
men des derzeitigen europäischen Integrationsprozesses
zu diskutieren.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Hängen wir noch ein Stündchen dran!)


Die F.D.P. bekennt sich uneingeschränkt zur europä-
ischen Grundrechtecharta,


(Beifall bei der F.D.P.)

die im Rahmen der Integration und des Verfassung-
gebungsprozesses in der Europäischen Union ein wesent-
liches Projekt ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Prof. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD])


Selbstverständlich muss die Wirtschafts- und Währungs-
union ergänzt und zu einer europäischen Wertegemein-
schaft weiterentwickelt werden. Kann man das besser
machen als mit einer klar, verständlich und präzise for-
mulierten europäischen Grundrechtecharta?

Deshalb ist für die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-
land ganz eindeutig, Herr Meyer: Der Deutsche Bundes-
tag ist für dieses Projekt. Aber es gibt unterschiedliche




Claudia Roth (Augsburg)

11028


(C)



(D)



(A)



(B)


Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen. Ich finde
es richtig und gut, wenn diese hier herausgearbeitet wer-
den, wenn aber auch deutlich wird: Wir verfolgen letzt-
endlich – ich hoffe, darin sind wir uns einig – dieselbe
Zielrichtung. Diese ist gerade durch die hier im Hohen
Hause von Staatspräsident Chirac gehaltene Rede – Herr
Meyer, Sie haben es erwähnt – klarer geworden. Er hat das
enttabuisiert, was ein bisschen wie Mehltau auf vielen,
auch auf den Mitgliedern im Konvent, lag. Es musste
nämlich einmal deutlich ausgesprochen werden, dass wir
dieses Grundrechteprojekt in den langfristig angelegten
Verfassunggebungsprozess der Europäischen Union ein-
ordnen müssen, wobei wir als Liberale am Ende eine Fö-
deration anstreben und die Grundrechtecharta in diesen
Prozess eine ganz wichtige Dynamik hineinbringen muss.


(Beifall bei der F.D.P.)

Denn diese Charta muss ein großes Defizit beseitigen.

Sie muss das Defizit beseitigen, dass wir heute einen nicht
unwesentlich großen Raum europäischen Handelns ha-
ben, in dem sich eben nicht an Grundrechten orientiert
werden muss.

Wir bekommen immer mehr europäische Organe:
Wir haben Europol, die Betrugsbekämpfungseinheit, eine
handlungsfähige Kommission – dies wurde von uns allen
gefordert –, die wir noch handlungsfähiger machen wol-
len. Wir wollen auch das Parlament stärken und entschei-
dungskräftiger machen und dem Rat mehr Mehrheitsent-
scheidungen zugestehen, damit der Prozess vorangeht.
Es kann aber doch nicht sein, dass die Ausübung ge-
meinschaftlicher Gewalt weiterentwickelt wird, ohne dies
mit der Ausgestaltung einer Grundrechtecharta zu verbin-
den,


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])


auf die sich nicht nur die Bürger der Europäischen Union,
sondern auch die Bürger, die sich in der Europäischen
Union aufhalten, berufen können.

Wir sind mit Sicherheit alle der Meinung, dass wir hier
differenzieren müssen: Wenn es um die politische Partizi-
pation geht, gilt dies natürlich nur für die Bürger der Eu-
ropäischen Union. Geht es aber zum Beispiel um selbst-
verständliche Menschenrechte, gilt dies für jeden Bürger,
der sich in der Europäischen Union aufhält.

Wir als Liberale wollen eine Grundrechtecharta, die
diesen Namen auch verdient. Grundlage muss die euro-
päische Menschenrechtskonvention mit den klassischen
Freiheitsrechten sein; darüber brauchen wir hier kein
Wort zu verlieren. Aber was will man darüber hinaus in
der Grundrechtecharta verankert wissen? Hier gibt es
natürlich Unterschiede – im Verständnis, vielleicht auch
nur in der Formulierung, was natürlich juristisch eine an-
dere Bewertung zur Folge haben kann.

Neben den klassischen Freiheitsrechten auf der Grund-
lage der europäischen Menschenrechtskonvention ist für
uns Liberale das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung hinsichtlich der Verwendung personenbezogener
Daten auf europäischer Ebene unverzichtbar. Es geht da-
rum, wie man besser Kontrolle über das ausüben kann,
was häufig noch immer in nicht nachvollziehbarer Weise

in den europäischen Gremien passiert. Wir wollen auf
europäischer Ebene ein Recht auf Asyl und den Schutz
vor Abschiebung bei Gefahr der politischen Verfolgung
im Heimatland, der Gefahr für Leib und Leben.

Wie aber kann das Endprodukt aussehen, wenn man
nicht ehrgeizig an ein Projekt herangeht, sondern die Ge-
setze immer nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen
Nenners formuliert?


(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] und des Abg. Prof. Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD])


Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, uns ambitioniert den Zie-
len zu stellen und ehrgeizig zu formulieren, und zwar in
einer Auseinandersetzung, durch die den Bürgerinnen und
Bürgern in Deutschland deutlich wird, was wir im Rah-
men der Entwicklung der Europäischen Union für sie er-
reichen wollen.

Durch das Projekt der europäischen Grundrechtecharta
wollen wir mehr europäisches Bewusstsein und mehr
Identität mit Europa schaffen. Das gelingt uns aber nicht,
wenn wir nur miteinander diskutieren. Es muss vielmehr
eine öffentliche Diskussion stattfinden. Wir müssen den
Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass sie sich
auf diese Grundrechte berufen und sie letztendlich auch
einklagen können.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb ist ganz entscheidend, dass diese Charta, wenn
sie denn diesen Anforderungen grundsätzlich genügt, ver-
bindlich ist.

Sollte es aufgrund der verschiedenen Interessen im
Konvent – dort schlagen sich die unterschiedlichen Mei-
nungen der Mitgliedstaaten nieder – nicht zu einer Ver-
bindlichkeitserklärung, sondern, was im Moment wahr-
scheinlicher ist, nur zu einer Deklaration, also einer un-
verbindlichen Erklärung, kommen, muss – das ist die
Meinung der F.D.P.-Bundestagsfraktion – der Meinungs-
bildungsprozess sehr engagiert weitergeführt werden. Wir
können den Bürgern nicht sagen: Es ist etwas deklariert
worden; das müsst ihr hinnehmen. Wir wissen aber nicht,
wann dies einen verbindlichen Charakter bekommt. – Wir
müssen sie vielmehr zur Teilhabe an diesem Prozess auf-
fordern. Und wenn es dann zur Ratifikation der Charta
kommt, dann – das kann ich für die Liberalen sagen – un-
ter Partizipation der Bürger. Wir wollen, dass dies in
Deutschland im Rahmen eines Referendums geschieht.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dies wurde in der Vergangenheit vielleicht versäumt. Wir
sollten dieses Instrument aber nutzen, auch wenn es damit
zum ersten Mal auf europäischer Ebene Anwendung
findet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)





Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

11029


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411519100
Ich gebe bekannt,
dass der Kollege Dr. Klaus Grehn seine Rede für die PDS-
Fraktion zu Protokoll gegeben hat.1)

Nun hat Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Aus-
wärtigen Amt, das Wort.

D
Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1411519200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Schon jetzt lässt sich die Feststellung treffen, dass
der Weg richtig ist, den der Europäische Rat für die Erar-
beitung einer Grundrechtecharta gewählt hat. Er hat da-
mit nämlich überwiegend Vertreter von Parlamenten be-
auftragt. Hier wird mit einer für mich erstaunlichen Effi-
zienz gearbeitet.


(Heiterkeit – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Was heißt „erstaunlich“? – Rolf Kutzmutz [PDS]: Das war immer so!)


– Jetzt mache ich noch eine unvorsichtige Bemerkung:
Mein Maßstab war eben der Ministerrat.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS sowie des Abg. Peter Altmaier [CDU/ CSU])


Mit einer erstaunlichen Effizienz hat dieses Gremium
die vorgegebenen ebenso wie die selbst gesteckten Ziele
erreicht. Dies ist sicherlich allen Mitgliedern zu verdan-
ken, die von den 15 Mitgliedsländern entsandt sind.
Aber ich möchte auf deutscher Seite Herrn Bundespräsi-
denten Professor Herzog in besonderer Weise danken,
ebenso Ihnen, Herr Kollege Meyer, Herr Kollege
Altmaier und Herr Kollege Gnauck.


(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU] und des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Für die Bundesregierung gibt es die klare Hoffnung,
dass es einen rechtsverbindlichen Wortlaut geben wird,
der zum geeigneten Zeitpunkt und im geeigneten Verfah-
ren in die Verträge übernommen werden kann. Sollte es
im Gegensatz zur derzeitigen Vorstellung nicht bereits in
Nizza dazu kommen, muss sehr schnell die Frage beant-
wortet werden, ob auf dem Weg der Vertragsratifizierung
oder eines Referendums das Ziel erreicht wird.

Die französische Regierung unterstützt uns Deutsche
in unserer Hoffnung. Wir haben mit ihr Einigkeit darüber
erzielt, wie diese deutsche Hoffnung, die an einklagbare
Grundrechte gekoppelt ist, mit der Formulierung von so-
zialen Grundrechten zu verbinden ist, die einen anderen
Verbindlichkeitsgrad hätten.

Herr Kollege Meyer, im Namen der Regierung danke
ich Ihnen für die Beiträge, die Sie in der Konventsarbeit
leisten, und vor allem für Ihre Zusammenarbeit mit dem
Vertreter der französischen Regierung.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Mit Herrn Altmaier!)


– Ihm habe ich auch schon gedankt. Aber mit dem fran-
zösischen Regierungsvertreter spricht nun wirklich Herr
Meyer. Im Übrigen, Herr Hintze, darf man Dank nicht be-
liebig machen, weil dann niemand mehr glaubt, dass ihm
wirklich gedankt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Hintze [CDU/CSU]: Ich hatte Ihrem Wort doch mehr Gewicht zugesprochen, Herr Zöpel!)


– Das verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht.
Was erwarten wir im Endergebnis von der Charta? Ers-

tens Rechte der Bürger der Europäischen Union im Zu-
sammenhang mit Rechtshandeln der Union selbst und mit
auf EU-Recht gestütztem Rechtshandeln der Staaten so-
wie die Möglichkeit, dass sie ihr Recht auch einklagen
können, und zweitens tatsächlich eine Wertegemein-
schaft. Die großen Verfassungen in Europa seit der Fran-
zösischen Revolution einschließlich des deutschen Grund-
gesetzes haben nach und nach eine Wertegemeinschaft,
zuerst in den Nationalstaaten – diese immer mehr zusam-
menführend –, geschaffen. Wenn wir uns einig sind, dass
all diesen Verfassungen Ideen der Aufklärung zugrunde
liegen, und wenn am Ende der Entwicklung eine Verfas-
sung steht, die für ganz Europa die Prinzipien der Auf-
klärung auch rechtlich stärker durchsetzbar machen, so-
weit sie die Rechte des einzelnen Bürgers betreffen, wer-
den wir einen Meilenstein europäischer Geschichte
erreicht haben. Alle, die daran mitgewirkt haben, dürfen
dann darauf stolz sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411519300
Für den Bundesrat
spricht Minister Gnauck aus dem Lande Thüringen.

Jürgen Gnauck, Minister (Thüringen) (von der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich
meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie,
Frau Präsidentin, das Thema als spannend bezeichnet ha-
ben und dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger von
„elektrisierend“ gesprochen hat. Daher möchte ich mich
zu dieser späten Stunde bemühen, einige neue Gedanken
beizutragen.

Ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass der Deutsche
Bundestag noch vor der Sommerpause Gelegenheit
nimmt, dieses wichtige Thema zu diskutieren. Auch der
Bundesrat wird sich in seiner letzten Sitzung vor der Som-
merpause in Bonn nächste Woche Freitag mit einem Ent-
schließungsantrag befassen. Ich denke, dass die Diskus-
sion am heutigen Nachmittag anschaulich gemacht hat,
dass man sich im Grundsatz zwar einig ist, dass aber der
Teufel ganz offensichtlich im Detail steckt. Denn wenn es
an das Eingemachte geht, liegen die Auffassungen ganz
offensichtlich ein Stück weit auseinander.

Im Konvent – das ist bereits angesprochen worden; ich
danke insbesondere dem Kollegen Meyer und dem Kolle-






(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 8

gen Altmaier, dass sie durch ihre sachkundigen Beiträge
daran mitarbeiten, das Projekt zum Erfolg zu machen –,
zeichnet sich ein Konsens ab.

Nachdem wir leider heute auch sehr viel Trennendes
gehört haben, will ich Ihnen sagen, was die deutschen
Länder im Konvent verbindet. Wir sind der festen Über-
zeugung, dass keinerlei neue Kompetenzen auf die Eu-
ropäische Union übertragen werden dürfen. Das ist – ich
werde gleich noch darauf eingehen – die Conditio sine
qua non. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, die heute
schon in einigen Beiträgen anklangen und die ich noch
einmal kurz anreißen möchte:

Der langjährige deutsche Richter am Europäischen Ge-
richtshof Hirsch wies darauf hin, dass wir darauf achten
müssen, dass nicht eine so genannte kompetenzansau-
gende Wirkung dann zum Tragen kommt, wenn wir die
Charta ratifizieren und in die Verträge überführen. Das ist
ein juristischer Begriff, ich bitte um Nachsicht, ich habe
nicht das Copyright auf ihn. Wir müssen aufpassen, dass
dieses Risiko nicht durch das europäische System eintritt.

Mein zweiter Gedanke wurde auch von einem aner-
kannten Europarechtler, Professor Huber aus Jena, betont.
Wir müssen darauf achten, dass die verbindliche Charta
nicht zu dem Problem führt, das wir im Verhältnis von
Bundesverfassungsgericht zu Landesverfassungsgerich-
ten schon einmal festgestellt haben, dass nämlich die so
genannte unitarisierende Wirkung dann eintritt, wenn
wir einen verbindlichen Grundrechtekatalog bekommen.

Ich denke daran, dass die nationalen Gerichte, insbe-
sondere durch verschiedene Entscheidungen des Europä-
ischen Gerichtshofs, bereits heute ein Stück ihrer Bedeu-
tung verloren haben. Ich habe mir einmal vorgestellt, was
passiert wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht das
Bundeswehrurteil gefällt hätte. Allein deswegen, weil das
Urteil vom Europäischen Gerichtshof gefällt worden ist,
ist das ganz offensichtlich – zu meiner Überraschung – in
der Bundesrepublik Deutschland als völlig natürlich hin-
genommen worden.

Es ist Aufgabe – auch das klang in verschiedenen
Beiträgen bereits an –, das zusammenzutragen, was ge-
meinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandard ist. Das
soll kodifiziert, konkretisiert und vielleicht auch – das ist
noch ein Streitpunkt – aktualisiert werden. Dabei muss
man sich auf der Grundlage der europäischen Menschen-
rechtskonvention auseinander setzen und das, was nach
meiner Meinung vom Status quo her gemeinsame Verfas-
sungsüberlieferung ist, zusammentragen.

Die meisten Mitglieder im Konvent, vielleicht nicht
alle, sind dabei durchaus aufgeschlossen gegenüber den
so genannten modernen Grundrechten. Das klang auch
hier heute Nachmittag bereits an. Dinge, die für uns völ-
lig selbstverständlich sind, weil sie in anderen Gesetzen
geregelt sind, stoßen insbesondere in nordeuropäischen
Staaten auf helle Begeisterung. So wird vom Recht auf
eine ordnungsgemäße Verwaltung gesprochen –, was für
uns völlig selbstverständlich ist.

Auch weitere Punkte, die in der Diskussion streitig
sind, könnten in der Charta durchaus auftauchen. Ich

denke an die Bereiche Gentechnologie und Informations-
technik.

Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der bisher noch
nicht von den Rednern vorgetragen worden ist. Das ist die
Frage der Grundrechtseinschränkungen. Da geht man
im Konvent einen anderen Weg, als wir ihn aufgrund un-
serer Verfassungstradition her kennen. Man versucht,
über allgemeine beschränkende Regelungen quasi etwas
vor die Klammer zu ziehen, was sonst in unserem Grund-
gesetz in einzelnen Grundrechten selbst geregelt worden
ist. Bis jetzt scheint es – Kollege Meyer und Kollege
Altmaier betrachten es auch mit großer Spannung – zu ge-
lingen und wir hoffen, dass über eine so genannte Quer-
schnittsbestimmung keine Kompetenzerweiterung droht.

Einen weiteren Punkt will ich betonen: Der Europä-
ische Gerichtshof betreibt bereits seit einigen Jahren
eine durchaus europarechts- und grundrechtsfreundliche
Rechtsprechung. Wenn man aber in die Entscheidungen
hineinschaut, muss man feststellen, dass immer dann,
wenn es um die europäischen Organe gegangen ist, Ein-
griffe als gerechtfertigt bezeichnet worden sind.

Ich wünsche mir von der Charta, dass sie, wenn sie
denn verbindlich wird, dazu beitragen kann, die Schran-
ken transparenter zu machen, und dass sie zulässt, dass
nicht alle Eingriffe auch tatsächlich gerechtfertigt sein
werden, wie es momentan nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes der Fall ist.

Wenn es nicht so spät und meine Redezeit nicht be-
grenzt wäre, würde ich mich noch breit über die sozialen
Rechte auslassen. Es ist meine Überzeugung – das gehört
zu dem Mandat von Köln –, dass die Charta auch insoweit
keine großen Programmsätze enthalten sollte. Wer die
Diskussion verfolgt hat, weiß, dass es im Präsidium am
Anfang durchaus andere Vorstellungen gab.

Anhand der Ausführungen des Kollegen Meyer will
ich aber noch einmal eines betonen: Die deutschen Län-
der werden die von Ihnen so bezeichnete erste Säule si-
cherlich mittragen. Das ergeben die bisherigen Ab-
stimmungen. Das heißt, wir werden nicht über den
Grundsatz der Solidarität streiten. Ob es so weitergeht,
werden die Koordinierungen und auch Ihre Vorstellungen
der nächsten Wochen zeigen.

Die wesentliche Frage darf der Konvent – da wird
Roman Herzog hoffentlich eine wesentliche Rolle spie-
len; ich freue mich, wenn er an die Spitze des Konvents
zurückkehrt – nicht entscheiden, nämlich: Wird die
Charta eines Tages rechtsverbindlich werden?

Zur Klarstellung möchte ich noch eines sagen: Zu ei-
ner Proklamation der Charta wird es aller Voraussicht
nach dann kommen, wenn man einen für alle Seiten zu-
stimmungsfähigen Entwurf hat. Das heißt, wir werden
nicht über eine Proklamation oder über eine Deklaration
streiten. Wir werden aber sehr wohl darüber streiten – je
nach Inhalt –, ob es zu einer Überführung in die europä-
ischen Verträge kommt oder nicht. Da haben sich die deut-
schen Länder heute bewusst noch nicht festgelegt. Bevor
sie sich entscheiden, wollen sie wissen, was in dieser
Wundertüte – wenn ich den Vergleich wagen darf – ent-
halten sein wird.




Minister Jürgen Gnauck (Thüringen)


11031


(C)



(D)



(A)



(B)


In der „Zeit“ wurde gefragt: Was wird aus der
„Wertegemeinschaft Europa im Labor“? Wird tatsächlich
eine Volksausgabe der Grundrechte daraus, wie man es
sich im Zuge der Mandate von Köln und Tampere vorge-
stellt hat? Ich bin hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass
die deutschen Länder ihren Beitrag dazu leisten werden.

Ich hoffe, ich habe die mir zugedachte Redezeit nicht
überschritten, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche Ihnen schöne Sommerferien.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411519400
Sie haben Ihre Rede-
zeit nicht überschritten, Herr Gnauck; das zu Ihrer Be-
ruhigung.

Als letzter Redner in dieser Debatte hat Christian
Sterzing das Wort.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1411519500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum
Schluss dieser Debatte möchte ich nur noch einige Rand-
bemerkungen machen. Ein Ziel dieses Grundrechtechar-
taprozesses war, von Anfang an Transparenz zu schaffen
und Partizipation herbeizuführen. Ich ziehe eine kurze
Zwischenbilanz und sage im Hinblick auf die Transpa-
renz: Hier ist ein hoher Grad an Durchsichtigkeit, an Of-
fenheit erreicht worden, der wirklich Schule machen
sollte.

Zum Thema Partizipation: Auch hier sind vom Kon-
vent neue Wege beschritten worden; es wurde vorhin
schon einmal darauf hingewiesen: In vielen gesellschaft-
lichen Bereichen sind Gruppen, Institutionen, Nicht-
regierungsorganisationen aktiv geworden und haben sich
an diesem Prozess beteiligt. Ich glaube, diese Partizipa-
tion zivilgesellschaftlicher Kräfte hat Vorbildcharakter.

Ein kleines Beispiel haben wir hier im Bundestag er-
lebt – ich weise in diesem Zusammenhang auf den verän-
derten Antrag der Koalitionsfraktionen hin –, nämlich
dass die Enquete-Kommission einen spezifischen Beitrag
zum Thema „Herausforderungen der Biotechnologie“ ge-
leistet hat. Hier hat vielleicht so etwas wie Elektrisierung
durch den Grundrechtechartaprozess stattgefunden; denn
die Enquete-Kommission hat sich gleich zu Beginn ihrer
Arbeit darauf gestürzt. Sicher, es gibt noch keine breite
gesellschaftliche Debatte. Die 350 Millionen EU-Bürger
diskutieren nicht von morgens bis abends über die Grund-
rechte. Wir müssen sehen, dass wir hier noch ein gutes
Stück Arbeit zu leisten haben.

Die zweite Randbemerkung betrifft den Zusammen-
hang mit der Verfassungsdebatte. Ich glaube, wir sind da
ein Stück weitergekommen. Die Grundrechtecharta wird
im Augenblick in einem anderen europapolitischen
Zusammenhang diskutiert als noch vor einigen Monaten.
Das hat mit der Rede des Außenministers zu tun; das hat
auch mit der Rede von Präsident Chirac hier im Bundes-
tag zu tun. Im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta
wird mittlerweile auch über eine Verfassung geredet. Ich
glaube, es ist wichtig, festzuhalten, dass die Debatte über

die Grundrechtecharta vor einem veränderten europapoli-
tischen Horizont stattfindet.

Aber die Situation hat sich auch tendenziell ver-
schlechtert. Es haben sicherlich alle das Signal von Feira
aufgenommen, dass es wohl schwierig sein wird, zu einer
Grundrechtecharta zu kommen, die dann auch Teil der
Verträge wird. Insofern müssen wir uns von einer etwas
kurzfristigen Perspektive verabschieden und uns viel-
leicht auf eine mittelfristigere einrichten. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir auf dieses Signal von Feira auf keinen
Fall mit Resignation reagieren, sondern im Grunde wie-
der deutlich machen, wie lang der Atem sein muss, der
nötig ist, um diesen Prozess voranzutreiben. Dies bewei-
sen wir hier im Bundestag unter anderem natürlich da-
durch, dass wir am Freitag Nachmittag noch darüber de-
battieren. Aber dies macht auch deutlich, dass ein Rand-
problem des Grundrechtechartaprozesses weiter an
Bedeutung gewinnt, nämlich der geforderte Beitritt der
EU zur EMRK, zur europäischen Menschenrechtskon-
vention. Ich glaube, wir müssen dies als einen zentralen
Punkt im Blick behalten.

Zum Schluss will ich mein Bedauern zum Ausdruck
bringen, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag ge-
kommen ist. Ein Signal aus dem Bundestag wäre sicher-
lich wünschenswert gewesen. Der Geist war willig, die
Fraktion war schwach. Das müssen wir hinnehmen. Aber
wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir nicht das
letzte Mal über die Grundrechtecharta debattieren.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Bestimmt nicht!)

Bei der nächsten Debatte im Herbst werden die Differen-
zen angesichts einer konkreten Vorlage wahrscheinlich
steigen.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das hängt von der Vorlage ab!)


– Das hängt von der Vorlage ab.
Insofern werden sich die Meinungen ausdifferenzie-

ren. Wir werden darüber weiter angeregt diskutieren.
Ein spezifisches Grundrecht verdient zum Schluss Er-

wähnung, das Grundrecht auf Erholung. Ich wünsche Ih-
nen bei der Wahrnehmung dieses Grundrechts viel Erfolg.

Vielen Dank für Ihre besondere Geduld zu dieser
Stunde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1411519600
Dieses Grundrecht
sollte einvernehmlich in die europäische Grundrechte-
charta aufgenommen werden.

Da ich das Glück hatte, auch die Debatte im März als
Präsidentin verfolgen zu dürfen, war ich ein bisschen be-
trübt, dass die sich damals abzeichnende große Einigkeit
offensichtlich wieder ein wenig aufgelöst hat. Aber ich
tröste Sie alle, die Europäer und auch den Herrn Minister
aus Thüringen: Dies ist ein Prozess, in dem man sich nicht
durch Tagesschwierigkeiten vom Wege abbringen lassen




Minister Jürgen Gnauck (Thüringen)

11032


(C)



(D)



(A)



(B)


soll. Insofern danke ich Ihnen allen für die Diskussion.
Hier kommen wir sicherlich weiter.

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Be-

schlussempfehlungen des Ausschusses für die Angele-
genheiten der Europäischen Union auf Drucksa-
che 14/3800.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zur Charta der Grundrechte der
Europäischen Union auf Drucksache 14/3387 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Die Rechte der Bürger stärken – Für eine bür-
gernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
auf Drucksache 14/3368 abzulehnen. Wer folgt dieser Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Die Beschlussemp-
fehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom-
men.

Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit dem Titel „Verbindlichkeit der Europäischen Grund-
rechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention“ auf Druck-
sache 14/3322 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS ge-
gen die Stimmen der F.D.P. angenommen.

Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Für eine rechtsverbindliche Europäische

Grundrechtecharta“ auf Drucksache 14/3513 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Erika Simm, Joachim Stünker, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie
den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-
Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugs-
gesetzes
– Drucksache 14/3763 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Alle Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 14/3763 an den in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. – Es gibt
keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung. Um die Bemerkung

Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1411519700
Ich danke Ihnen
aufrichtig dafür, dass Sie so lange ausgeharrt haben. Ich
wünsche Ihnen erholsame, interessante, ruhige Ferien-
und Erholungstage – ohne Sondersitzung des Deutschen
Bundestages.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Dienstag, den 12. September 2000, 11 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.