Protokoll:
14108

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 108

  • date_rangeDatum: 8. Juni 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:57 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) und Hans-Otto Wilhelm (Mainz) . . . . . . . . . 10085 A Eintritt der Abgeordneten Ina Albowitz in den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10085 A Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 10085 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 10 . . . 10086 A Begrüßung des Außenministers der Repu- blik Ungarn, Dr. János Martonyi . . . . . . . . 10123 D Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD (zur GO) 10086 B Roland Claus PDS (zur GO) . . . . . . . . . . . . . 10087 A Jürgen Koppelin F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . . 10088 A Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD (zur GO) 10088 C Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung: Welt- konferenz zur Zukunft der Städte – URBAN 21 – in Berlin am 4. bis 6. Juli 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10088 D Reinhard Klimmt, Bundesminister BMVBW 10088 D Peter Götz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10094 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10096 C Dr. Uwe-Jens Rössel PDS . . . . . . . . . . . . . . . 10098 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10099 B Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . . 10099 D Christine Ostrowski PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 10101 A Angelika Mertens SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10103 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . . . . . . 10106 A Dr. Wilfried Maier, Senator der Stadtentwicklungs- behörde der Freien und Hansestadt Hamburg . . . . 10107 C Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 10109 A Rita Streb-Hesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10110 B Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10111 D Hans-Günter Bruckmann SPD . . . . . . . . . . . . 10113 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10114 D Frank Hempel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10116 B Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Innere Reform der Europäischen Union – Stand der Regierungskonferenz – Stabilität des Euro – Haltung zu Ös- terreich (Drucksache 14/3377) . . . . . . . . . . . . . 10117 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun (Augs- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Beziehungen zu Ös- terreich normalisieren (Drucksache 14/3187) . . . . . . . . . . . . . 10117 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Hermann Bachmaier, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Plenarprotokoll 14/108 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 108. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 I n h a l t : Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäischer Rat in Feira – Europa ent- schlossen voranbringen (Drucksache 14/3514) . . . . . . . . . . . . . . . . 10117 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10117 D Günter Gloser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10121 A Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . . . . . . . 10124 A Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10125 C Uwe Hiksch PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10127 C Michael Roth (Heringen) SPD . . . . . . . . . . . . 10128 D Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10130 D Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 10134 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . . 10136 C Dr. Werner Hoyer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 10138 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10139 D Lothar Mark SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10141 A Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10143 A Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10143 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10145 B Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 10146 A Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . . . . 10147 D Tagesordnungspunkt 26: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- tung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Drucksache 14/3459) . . . . . . . . . . . . . 10151 A b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gerätesi- cherheitsgesetzes und des Chemi- kaliengesetzes (Drucksache 14/3491) . . . . . . . . . . . . . 10151 B c) Antrag der Abgeordneten Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Keine Lieferung von Panzern und anderen Rüstungsgütern und Lizen- zen an die Türkei (Drucksache 14/3004) . . . . . . . . . . . . . 10151 B d) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsför- derungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze der Berufsausbil- dungsbeihilfe (Drucksache 14/2424) . . . . . . . . . . . . . 10151 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 26) a) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Margareta Wolf (Frankfurt), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Sicherung der natio- nalen Buchpreisbindung (Drucksache 14/3509) . . . . . . . . . . . . . 10151 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion PDS: Für eine rechtsverbindliche Europäische Grund- rechtecharta (Drucksache 14/3513) . . . . . . . . . . . . . 10151 C Tagesordnungspunkt 27: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rotterdamer Übereinkom- men über das Verfahren der vorheri- gen Zustimmung nach Inkenntnisset- zung für bestimmte gefährliche Che- mikalien sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im in- ternationalen Handel vom 10. Sep- tember 1998 (Drucksachen 14/2919, 14/3400) . . . . 10151 D b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Zivildienstvertrauensmann- Gesetzes (Erstes Zivildienstvertrau- ensmann-Änderungsgesetz) (Drucksachen 14/2698, 14/3524) . . . . 10152 A c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Melderechtsrahmengesetzes (Drucksachen 14/2577,14/3473) . . . . 10152 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000II d) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie: Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bun- des „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr 1998 (Drucksachen 14/2484, 14/3344) . . . . 10152 C e) Bericht des Ausschusses für die Ange- legenheiten der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsord- nung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Schutz der finanzi- ellen Interessen der Gemeinschaft und Betrugsbekämpfung – Jahresbe- richt 1998 (Drucksachen 14/3428 Nr. 3.1, 14/3474) 10152 D f – k) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 161, 162, 163, 164, 165, 166 zu Petitionen (Drucksachen 14/3403, 14/3404, 14/3405, 14/3406, 14/3407, 14/3408) . . . . . . . . 10153 A Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer in- ternationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) und des Sicherheitsrates der Ver- einten Nationen vom 10. Juni 1999 (Drucksachen 14/3453, 14/3550) . . . . . . . 10153 C Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 10153 D Karl Lamers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 10155 B Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg . . 10156 B Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10158 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg . . 10158 C Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10158 D Dr. Werner Hoyer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 10159 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10160 C Dr. Eberhard Brecht SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10161 C Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10162 A Prof. Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . 10162 C Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU . . . 10163 D Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10165 A Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 10166 A Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 10167 A Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10169 A Zusatztagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung des Vermittlungsaus- schusses zum Strafverfahrensänderungs- gesetz 1999 (Drucksache 14/3525) . . . . . . . . . . . . . . . . 10167 B Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung des Vermittlungsaus- schusses zum Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordneten- gesetzes (Drucksache 14/3526) . . . . . . . . . . . . . . . . 10167 B Zusatztagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung des Vermittlungs- ausschusses zum Gesetz über Fern- absatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstel- lung von Vorschriften auf Euro (Drucksache 14/3527) . . . . . . . . . . . . . . . . 10167 B Zusatztagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung des Vermittlungs- ausschusses zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen (Drucksache 14/3528) . . . . . . . . . . . . . . . . 10167 C Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . . . . . . 10167 C Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . . 10171 B Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10172 C Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10173 B Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10174 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zur Zukunft der Bundes- druckerei und der mit ihrem Betrieb verbundenen hoheitlichen Aufgaben . . 10175 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10175 C Hans Georg Wagner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10176 B Manfred Kolbe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10177 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10178 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 III Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 10179 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10180 B Siegfried Helias CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10181 C Siegrun Klemmer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10182 B Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10183 A Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10184 A Hans Jochen Henke CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10184 D Jörg-Otto Spiller SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10185 D Hansjürgen Doss CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10186 C Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . . . . . . . . . . 10187 B Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Neuregelung der angemessenen Eigen- kapitalausstattung von Kreditinstituten und der Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU (Drucksache 14/3523) . . . . . . . . . . . . . . . . 10188 A Klaus Lennartz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10188 B Leo Dautzenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10190 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10191 B Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10192 C Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10193 B Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . . . . . . . . . 10194 A Hans Michelbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 10195 D Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirt- schafts- und Tourismusstandort Deutsch- land nutzen (Drucksache 14/3374) . . . . . . . . . . . . . . . . 10197 B Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10197 C Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10198 C Birgit Roth (Speyer) SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10199 A Walter Hirche F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10200 D Dr. Erika Schuchardt CDU/CSU . . . . . . . . 10201 D Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10202 B Rosel Neuhäuser PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10204 A Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10204 D Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 10206 A Dr. Erika Schuchardt CDU/CSU . . . . . . . . 10207 C Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 10208 B Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Lilo Friedrich (Mettmann), Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion SPD sowie der Abgeordneten Cem Özdemir, Marieluise Beck (Bremen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Migrati- onsbericht (Drucksachen 14/1550, 14/2389) . . . . . . . 10209 C Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Rechtsextremismus entschlos- sen bekämpfen (Drucksache 14/3106) . . . . . . . . . . . . . 10210 A b) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes (Drucksache 14/3309) . . . . . . . . . . . . . 10210 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Ute Vogt (Pforz- heim), Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeord- neten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich- keit, Antisemitismus und Gewalt (Drucksache 14/3516) . . . . . . . . . . . . . . . . 10210 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Karl Lamers, Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Für eine gemeinsame europäische Position in der Frage der Raketenabwehr (National Missile Defense) (Drucksache 14/3378) . . . . . . . . . . . . . . . . 10210 B Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Ingrid Becker- Inglau, Adelheid Tröscher, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000IV Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Sondergeneral- versammlung der Vereinten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf – Welt- sozialgipfel (Kopenhagen + 5) (Drucksache 14/3515) . . . . . . . . . . . . . . . . 10210 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- mendingen), Klaus-Jürgen Hedrich, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für sozia- le Entwicklung in Genf (Kopenhagen + 5)(Drucksache 14/3504) . . . . . . . . . . . . . . . . 10210 C Ingrid Becker-Inglau SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10210 D Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 10212 D Dr. Uschi Eid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10214 B Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 10214 D Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10215 B Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 10216 D Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10218 A Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10218 C Dr. Ralf Brauksiepe CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10219 D Tagesordnungspunkt 13: Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht derBundesregierung überMaß-nahmen zur Förderung des Radver-kehrs(Drucksache 14/3445) . . . . . . . . . . . . . . . . 10221 B Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse(Drucksache 14/3292) . . . . . . . . . . . . . . . . 10221 B Tagesordnungspunkt 15: a) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China – zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion CDU/CSU: Menschenrechte in der Volksrepublik China (Drucksachen 14/661, 14/2694, 14/3501) 10221 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Schnarrenberger,Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Für eine China-Resolution der VN-Menschenrechtskommission (Drucksachen 14/2915, 14/3517) . . . . 10221 D Volker Neumann (Bramsche) SPD . . . . . . . . . 10222 A Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU . 10223 C Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10225 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. . 10226 B Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10227 B Dr. Ludger Volmer, Staatsminister AA . . . . . . 10227 D Tagesordnungspunkt 16: Antrag des Bundesministeriums der Finan- zen: Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 – Vorlage derHaushaltsrechnung und Vermögens- rechnung des Bundes (Jahresrechnung 1999) (Drucksache 14/3141) . . . . . . . . . . . . . . . . 10229 B Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- zes zur Privatisierung und Reorga- nisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) (Drucksachen 14/1993, 14/2933) . . . . . . . 10229 C Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10229 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10231 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10233 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 V Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Jürgen Koppelin (F.D.P.) zur namentlichen Ab- stimmung über den Antrag der Bundesregie- rung zur Fortsetzung der deutschen Beteili- gung an einer internationalen Sicherheitsprä- senz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Frie- densregelung für das Kosovo auf der Grundla- ge der Resolution 1244 (1999) des Sicher- heitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 (Drucksachen 14/3454, 14/3550) (Zusatz- tagesordnungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10234 A Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU) zur nament- lichen Abstimmung über den Antrag der Bun- desregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicher- heitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlings- rückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Si- cherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 (Drucksachen 14/3454, 14/3550) (Zusatztagesordnungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . 10234 B Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Thomas Dörflinger (CDU/CSU) zur namentli- chen Abstimmung über den Antrag der Bun- desregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicher- heitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlings- rückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Si- cherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 (Drucksachen 14/3454, 14/3550) (Zusatztagesordnungspunkt 9) . . . . . . . . . . . 10234 C Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deut- schen Beteiligung an einer internationalen Si- cherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleis- tung eines sicheren Umfeldes für die Flücht- lingsrückkehr und zur miliärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Si- cherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 (Drucksachen 14/3454, 14/3550) (Zusatztagesordnungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . 10235 A Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand be- fristeter Arbeitsverhältnisse (Tagesordnungs- punkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10235 B Olaf Scholz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10235 B Brigitte Baumeister CDU/CSU . . . . . . . . . . . 10237 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10238 B Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 10239 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 10239 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Berichts: Migrationsbericht (Tagesordnungs- punkt 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10240 C Lilo Friedrich (Mettmann) SPD . . . . . . . . . . . 10240 C Thomas Strobl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10241 B Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10243 B Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 10244 B Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10244 D Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staats- sekretärin BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10245 B Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen; gegen Rechtsextremismus, Frem- denfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt sowie Entwurf eines ... Strafrechtsänderungs- gesetzes (Tagesordnungspunkt 9 a und b und Zusatztagesordnungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . 10246 A Hans-Peter Kemper SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10246 B Sebastian Edathy SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10247 B Ute Vogt (Pforzheim) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 10248 A Volker Kauder CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 10249 A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10252 D Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 10253 D Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10254 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 VII Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine gemeinsame europäische Position in der Frage der Raketenabwehr (National Missile Defense) (Tagesordnungs- punkt 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10255 C Uta Zapf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10255 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 10257 A Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU . . . . . . 10257 D Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . 10258 B Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10259 A Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 10259 D Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Förderung des Radver- kehrs (Tagesordnungspunkt 13) . . . . . . . . . . . 10260 C Heide Mattischeck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10260 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 10261 B Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10262 C Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . . . . . . . . 10263 D Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10264 A Kurt Bodewig, Parl.Staatssekretär BMVBW 10264 D Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 – Vorlage der Haus- haltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung 1999) (Tagesordnungs- punkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10265 D Hans Georg Wagner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10265 D Josef Hollerith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 10267 B Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10268 B Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10268 D Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 10269 A Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisati- on des volkseigenen Vermögens (Treuhandge- setz) (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . 10269 C Christel Deichmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 10269 C Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . . 10270 B Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 10271 A Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10272 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10231 (C)(A) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10233 (C) (D) (A) (B) Adler, Brigitte SPD 08.06.2000 Andres, Gerd SPD 08.06.2000 Binding (Heidelberg), SPD 08.06.2000 Lothar Bläss, Petra PDS 08.06.2000 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 08.06.2000 Braun (Augsburg), F.D.P. 08.06.2000 Hildebrecht Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 08.06.2000** Klaus Bulmahn, Edelgard SPD 08.06.2000 Carstensen CDU/CSU 08.06.2000 (Nordstrand), Peter H. Catenhusen, SPD 08.06.2000 Wolf-Michael Eichhorn, Maria CDU/CSU 08.06.2000 Fischer (Homburg), SPD 08.06.2000 Lothar Gebhardt, Fred PDS 08.06.2000 Haack (Extertal), SPD 08.06.2000** Karl Hermann Hanewinckel, Christel SPD 08.06.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 08.06.2000 DIE GRÜNEN Dr. Hornhues, CDU/CSU 08.06.2000 Karl-Heinz Hornung, Siegfried CDU/CSU 08.06.2000** Imhof, Barbara SPD 08.06.2000 Irmer, Ulrich F.D.P. 08.06.2000** Jäger, Renate SPD 08.06.2000** Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 08.06.2000 Kolbow, Walter SPD 08.06.2000 Lehn, Waltraud SPD 08.06.2000 Lenke, Ina F.D.P. 08.06.2000 Lintner, Eduard CDU/CSU 08.06.2000** Maaß, (Wilhelmshaven) CDU/CSU 08.06.2000** Erich Müller (Berlin), PDS 08.06.2000* Manfred Müller (Zittau), SPD 08.06.2000 Christian Neumann (Gotha), SPD 08.06.2000** Gerhard Ost, Friedhelm CDU/CSU 08.06.2000 Reinhardt, Erika CDU/CSU 08.06.2000 Scheffler, Siegfried SPD 08.06.2000 Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 90/ 08.06.2000 Irmingard DIE GRÜNEN Schily, Otto SPD 08.06.2000 Schloten, Dieter SPD 08.06.2000** Schmidt (Aachen), SPD 08.06.2000 Ulla Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 08.06.2000** Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 08.06.2000** Dr. Struck, Peter SPD 08.06.2000 Violka, Simone SPD 08.06.2000 Voß, Sylvia BÜNDNIS 90/ 08.06.2000 DIE GRÜNEN Widmann-Mauz, CDU/CSU 08.06.2000 Annette Wieczorek-Zeul, SPD 08.06.2000 Heidemarie Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 08.06.2000 Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 08.06.2000 Margareta DIE GRÜNEN Wolff (Zielitz), SPD 08.06.2000 Waltraud Zierer, Benno CDU/CSU 08.06.2000** * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Jürgen Koppelin (F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheits- präsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines si- cheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zurmilitärischen Absicherung der Friedens- regelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 – Druck- sachen 14/3454 und 14/3550 (Zusatztagesord- nungspunkt 9) Ich werde dem Antrag der Bundesregierung nicht zu- stimmen. Es hat bisher keine Antwort der Bundesregierung auf die Frage nach der tatsächlichen Notwendigkeit der Bom- bardierung Jugoslawiens gegeben. Die Bundesregierung weicht ebenfalls der Beantwortung aus, wie lange der Ein- satz der Bundeswehr wirklich dauern soll. Ich kann auch keine intensiven Bemühungen der Außenpolitik erkennen, die zu einem Ende des Einsatzes im Kosovo führen könnten, denn alle in Betracht kom- menden Staaten müssten sich ständig um eine baldige Lö- sung des Konflikts bemühen, damit der militärische Ein- satz beendet werden kann. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortset- zung der deutschen Beteiligung an einer interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge- währleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absi- cherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und 14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9) Aus meiner Sicht ist es nicht vertretbar, die Entsendung deutscher Soldaten auf unbeschränkte Zeit zu verlängern. Solange weiterhin kein klares Ziel für die entsendeten Truppen besteht, bzw. das Erreichen dieses Ziels in unab- sehbarer Ferne liegt, darf es keinen zeitlich unbegrenzten Auftrag geben. Mit dem Einsatz der internationalen Schutztruppe hat es im Kosovo bisher keinen dauerhaften und sicheren Frieden gegeben. Ethnische Minderheiten – egal welcher Zugehörigkeit – sind weiterhin gefährdet. Vielfach wer- den sie weiterhin von den jeweiligen Mehrheiten in den verschiedenen Regionen verfolgt oder marginalisiert. Solange der Zeitplan für die Stationierung im Kosovo weiterhin unklar bleibt, besteht für die internationale Schutztruppe die Gefahr, dass sie mit zunehmender Dauer von der autochthonen Bevölkerung als Besatzungsmacht angesehen wird und damit unter Umständen zur Ziel- scheibe massiver Ausschreitungen wird. Diese Gefahr wird durch die zunehmende Zerstrittenheit der ehemali- gen Bürgerkriegsparteien noch verstärkt. Dass weiterhin Hilfe zur Befriedung des Kosovos und für die dort ansässige Bevölkerung notwendig ist, steht außer Frage. Da die Ansätze zur Lösung der aufgezählten Probleme in den vorliegenden Anträgen meines Erachtens jedoch unzureichend sind, werde ich mich bei der na- mentlichen Abstimmung enthalten. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Thomas Dörflinger (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortset- zung der deutschen Beteiligung an einer interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge- währleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absi- cherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und 14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9) Dem Antrag der Bundesregierung, die deutsche Beteili- gung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo unbefristet fortzusetzen, werde ich unter Zurückstel- lung deutlicher Bedenken zustimmen. Es ist unstreitig, dass die Bundeswehr bisher einen be- grüßenswerten Beitrag zur internationalen Präsenz im Kosovo geleistet hat und dieser auch in der Zukunft fort- setzen soll. Zur Sicherheit unserer Soldaten und im Sinne einer kontinuierlichen Überprüfung der geopolitischen Lage im Kosovo hätte jedoch an der Praxis festgehalten werden müssen, dass der Deutsche Bundestag das Man- dat der Bundeswehr im Kosovo nach Ablauf eines Jahres neu berät und gegebenenfalls erneut verlängert. Die Absicht der Bundesregierung, das Mandat der Bundeswehr nunmehr unbefristet zu verlängern, ent- springt rein parteipolitischem Kalkül. Es soll vermieden werden, dass sich die Koalitionsfraktionen erneut einer vermutlich schwierigen Debatte innerhalb der eigenen Parteien stellen müssen. So wird Parteitaktik über Sicher- heitsinteressen gestellt. Gleichzeitig ist es mehr als bedenklich, wenn die Bun- desregierung die Bundeswehrreform nicht abgeschlossen, ja deren Umsetzung noch nicht einmal begonnen hat, gleichzeitig aber den Streitkräften zeitlich nicht befristete Aufgaben zuweisen will. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10234 (C) (D) (A) (B) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortset- zung der deutschen Beteiligung an einer interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge- währleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Ab- sicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und 14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9) Zum Antrag der Bundesregierung erkläre ich: Heute entscheiden wir im Prinzip über einen unbefristeten Frie- densdienst in der „Waffenstillstands-Region“ Kosovo. Damit stellt das Parlament der Regierung einen Freibrief in einer existenziellen Entscheidung für unser Land und unsere Soldaten aus. Das darf nicht sein! Das Parlament muss in einer solchen Beschlussfassung als entscheiden- des Verfassungsorgan Vorrang behalten. Abgesehen davon zwingt nur eine Befristung alle Ver- antwortlichen, baldmöglichst zu einer politischen Ver- handlungslösung zu kommen. Bisher wurde keine Stabi- lität in der Balkanregion erreicht. Das serbische Militär wurde nicht zerschlagen. Milosevic als Diktator wurde nicht entmachtet. Im Gegenteil: Fast alle Experten und die Besucher vor Ort teilen mit, dass das unkalkulierbare Ri- siko für unsere Soldaten und unsere Verbündeten noch ge- wachsen ist. Wann endlich setzen die verantwortlichen Regierungen einen Schlusstermin für den Einsatz der Friedenstruppen? Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse (Tagesordnungspunkt 7) Olaf Scholz (SPD): Das arbeitsrechtliche Beschäfti- gungsförderungsgesetz war eines der ersten Gesetze der 1998 abgewählten Koalition, das die arbeitsrechtliche Verfassung unseres Landes geändert hat. Mit diesem Ge- setz sind viele Hoffnungen aufseiten der neoliberalen Kri- tiker des deutschen Kündigungsschutzes verbunden ge- wesen und mindestens gleich große Befürchtungen etwa auf der Seite der Gewerkschaften. Das kann man verstehen. Das Arbeitsrecht kennt, ab- gesehen von einigen tarifvertraglichen Bestimmungen, praktisch keine kodifizierten Regelungen über die Zuläs- sigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen. Lediglich im § 620 des Bürgerlichen Gesetzbuches findet sich eine Regelung, und die ist ziemlich schlicht. Es heißt dort, das Dienstverhältnis endigt mit dem Ablauf der Zeit, für die es eingegangen ist. Als Alternative wird geregelt, dass, wenn die Dauer des Dienstverhältnisses weder bestimmt noch aus der Beschaffenheit oder dem Zweck der Dienste zu entnehmen ist, das Arbeitsverhältnis unter der Einhal- tung von Fristen gekündigt werden kann. Ob ein Arbeitsverhältnis also befristet werden kann oder nicht, regelt die zentrale Bestimmung des Bürgerli- chen Gesetzbuches nicht. Die Rechtsprechung hat aber schon früh begonnen festzulegen, wann von der Möglich- keit der Befristung Gebrauch gemacht werden kann. Das war und ist auch nötig. Denn wenn es in das Belieben der Vertragsparteien gestellt bleibt, wie es der Text des Bür- gerlichen Gesetzbuches ja nahelegt, ob sie einen befriste- ten oder einen unbefristeten Vertrag abschließen, dann wird, weil das Kündigungsschutzgesetz die Kündigung von Arbeitsverträgen erschwert, sicherlich zur Maximie- rung der eigenen Vorteile von manchem Arbeitgeber stets auf die Möglichkeit der Befristung zurückgegriffen. Die Gefahr, dass man bei einer vollständigen Entscheidungs- freiheit der Parteien des Arbeitsverhältnisses am Ende nur noch befristete Arbeitsverträge hätte, ist jedenfalls nicht gering. Die Machtbalance zwischen einzelnen Arbeitneh- mern und den Unternehmen ist jedenfalls nicht so, dass man davon ausgehen kann, dass hier von der Position Gleicher aus verhandelt würde. Deshalb hat die Rechtsprechung argumentiert, ein Ar- beitsverhältnis könne nur dann befristet werden, wenn ein verständiger Arbeitgeber in dem jeweilig konkreten Fall von der Möglichkeit der Befristung Gebrauch gemacht hätte. Aufbauend auf dieses Argument sind dann sachliche Gründe für eine Befristung von der Rechtsprechung er- kannt worden. Auf der Basis waren Befristungen immer zulässig, etwa zur Schwangerschaftsvertretung, zur Ver- tretung von Kranken oder bei befristeten Beschäftigungs- bedarfen. Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat 1985 diese Systematik durchbrochen, indem es zugelassen hat, dass ein Arbeitsverhältnis auch ohne sachlichen Grund befris- tet werden kann. Mittlerweile ist das 24 Monate zulässig und die Befristung kann bis zu dreimal verlängert werden. Das war also vor dem Hintergrund einer langen Recht- sprechungstradition ein wirklicher Eingriff. Man musste auch befürchten, dass zahlreich davon Gebrauch gemacht werden würde. Schauen wir uns heute die Realität nüchtern an, kann man nicht feststellen, dass die Arbeitgeber in besonders großem Umfang von den Möglichkeiten des Beschäfti- gungsförderungsgesetzes Gebrauch gemacht haben. In Westdeutschland ist seit 1985 die Zahl der befristet Be- schäftigten von 1,1 Millionen auf 1,5 Millionen Beschäf- tigte gestiegen. In Ostdeutschland pendelt die Zahl zwi- schen 600 000 und 800 000. Im Bundesgebiet sind es seit der Vereinigung mithin durchschnittlich 2 Millionen Menschen, die befristet beschäftigt werden. Eine ge- nauere Untersuchung der Infratest-Sozialforschung hat für 1992 ermittelt, dass von allen Befristungen etwa 10 Prozent nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz und damit ohne einen sachlichen Grund erfolgt sind. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10235 (C) (D) (A) (B) Wir sollten nicht an den einzelnen Zahlen kleben und uns wechselseitig nachweisen, ob sie nun auf das Komma genau zutreffend sind. Deutlich ist aber doch, dass die große Hoffnung der neoliberalen Ideologen nicht einge- troffen ist. Es gibt viel mehr verständige Arbeitgeber als die F.D.P. sich wünscht. Die meisten Unternehmen haben von der Möglichkeit der Befristung ohne sachlichen Grund keinen Gebrauch gemacht. Umgekehrt muss des- halb auch festgestellt werden, dass die befürchtete Ero- sion des normalen, unbefristeten Arbeitsverhältnisses nicht eingetreten ist. Die Zahlen, die ich vorgetragen habe, machen deutlich: Auch in Zukunft ist es möglich zuzulassen, dass in einem bestimmten Rahmen Arbeitsverhältnisse befristet abge- schlossen werden, ohne dass dafür von den Unternehmen ein sachlicher Grund nachgewiesen werden muss. Das ist keine Gefahr für unsere arbeitsrechtliche Verfassung. Gleichwohl ist die Frage natürlich berechtigt, ob es Sinn macht, an diesem Gesetz festzuhalten. Auch dazu lohnt es sich, differenziert und nicht pauschal zu argu- mentieren. Ein wichtiges Argument für das Gesetz zur Beschäfti- gungsförderung – daher stammt ja auch der eigenwillige Name – ist die Unterstellung gewesen, dass mit dem Ab- bau von arbeitsrechtlichen Schutzregelungen die Hem- mung der Arbeitgeber, Arbeitnehmer einzustellen, sinkt und mehr Menschen Beschäftigung finden. Das ist schon durch leichtes Nachdenken als Illusion zu beschreiben. Kaum ein Unternehmen wird darauf verzichten, die Zahl seiner Beschäftigten im Bedarfsfalle zu vermehren, nur weil es sich vor dem arbeitsrechtlichen Kündigungs- schutz fürchtet. Mögliche Gewinne sollen von einem funktionierenden Unternehmen auch gemacht werden und so entscheiden sich ja auch die meisten. Das, was ei- nem klares Denken sagt, hat mittlerweile die Statistik er- wiesen. Mit unterschiedlichen Zahlen wird operiert: Mehr als 50 000 neue Arbeitsplätze unterstellen nicht einmal die striktesten Befürworter des Gesetzes von 1985. Es muss also andere Gründe geben. Meines Erachtens sind es vor allem zwei: Erstens. Existenzgründer wollen sich sicher nicht auf die Komplikationen eines Kündigungsschutzprozesses einlassen. Es kann helfen, dass sie ihre Anfangssituation dadurch erleichtern, dass sie zunächst mit befristeten Be- schäftigungsverhältnissen arbeiten. Dadurch kann es dann tatsächlich zu einer positiven Bilanz für die Be- schäftigung kommen, weil Arbeitsplätze in neuen Unter- nehmen neu entstehen. Hilfreich kann die einfache Befri- stung durch das Beschäftigungsförderungsgesetz ohne ei- nen sachlichen Grund auch in den Fällen sein, in denen bei einer schwankenden Auftragslage oder plötzlicher Ex- pansion Neueinstellungen erforderlich sind. Zweitens. Für die Beschäftigten, die große Schwierig- keiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden, weil der Ver- lauf ihrer bisherigen Erwerbsbiographie, ihre geringe be- rufliche Qualifikation oder lang anhaltende Arbeitslosig- keit viele Arbeitgeber davon abhalten, sie einzustellen, kann die den Arbeitgebern eingeräumte, erleichterte Mög- lichkeit der Befristung eines Arbeitsvertrages eine Chance sein. Manche Arbeitgeber scheuen sich, in einer solchen Situation eine Einstellung vorzunehmen, wenn bei der Beendigung der Beschäftigung die Risiken eines Kündigungsschutzprozesses drohen. Hier erhalten man- che Arbeitnehmer die Chance, in der betrieblichen Praxis ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und dadurch auch ein Dauerarbeitsverhältnis zu erhalten. Beide von mir genannten Gründe sprechen dafür, auch in Zukunft die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne sachlichen Grund in einem begrenzten Rahmen zuzulas- sen. Der von der CDU hier vorgeschlagene Weg einer bloßen Entfristung des geltenden Gesetzes ist aber nicht eine geeignete Vorgehensweise. Vielmehr legen die Er- fahrungen der Vergangenheit auch nahe, die Miss- brauchsfälle zu beseitigen, die sich mit der bisherigen Pra- xis des Beschäftigungsförderungsgesetzes eingeschlichen haben. Das Beschäftigungsförderungsgesetz erlaubt die Be- fristung eines Arbeitsvertrages bis zur Höchstdauer von zwei Jahren bzw. eine höchstens dreimalige Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrages innerhalb dieses Zeitrau- mes. In keinem Falle kann es hingenommen werden, wenn auch weit über diesen Zeitraum hinaus Kettenar- beitsverträge mit befristet Beschäftigten abgeschlossen werden. Es gibt Fälle, in denen Menschen 6, 8 oder 10 Jahre immer wieder neue befristete Beschäftigungsver- hältnisse bei ein und demselben Arbeitgeber erhalten. Diese Praxis muss unterbunden werden. Eigentlich ver- sucht das Beschäftigungsförderungsgesetz das auch. Eine Befristung des Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen Grund ist nämlich dann unwirksam und unzulässig, wenn zu einem vorhergehenden, unbefristeten Arbeitsvertrag oder zu einem vorhergehenden, befristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein Zusammenhang besteht. Das Gesetz ist aber nicht präzise. Zulässig ist nach der Ge- setzeslage der Anschluss einer Befristung ohne sachli- chen Grund an eine Befristung, für die ein sachlicher Grund vorgelegen hat, zum Beispiel an eine Schwanger- schaftsvertretung. Im fröhlichen Wechsel zwischen Be- fristung mit sachlichem Grund und ohne sachlichen Grund können daher diese unerwünschten Befristungs- ketten entstehen. Das ist etwas, was die EU-Richtlinie, die dieses Thema behandelt, untersagt. Wir haben also allen Anlass, dieser Praxis ein Ende zu setzen und festzulegen, dass eine Befristung ohne sachlichen Grund unzulässig ist im Anschluss an einen unbefristeten Arbeitsvertrag oder an jede Art eines befristeten Arbeitsvertrages, auch wenn es eine Sachbefristung war. Nachgedacht werden muss sicherlich auch, ob die bis- herige Regelung, dass ein sachlicher Zusammenhang zwi- schen befristeter Beschäftigung und Vorbeschäftigung an- zunehmen ist, wenn zwischen ihnen weniger als 4 Monate liegen, sachgerecht ist oder ob dort ein längerer Zeitraum festzulegen ist der zwischen den einzelnen Beschäftigun- gen vergehen muss, bevor von der Möglichkeit einer Be- fristung nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz bei einem früheren Arbeitnehmer Gebrauch gemacht werden kann. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10236 (C) (D) (A) (B) Es gibt einen weiteren Missbrauchsfall. Die Mehrheit der Unternehmer entspricht dem vom Bundesarbeitsge- richt geprägten Bild eines verständigen Unternehmers oder verständigen Arbeitgebers und hat eben in der Mehr- zahl der Fälle nicht von der Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverhältnisse Gebrauch gemacht. Man- che aber nutzen das Gesetz ziemlich schamlos aus. Es gibt Unternehmen, in denen ein Teil der Beschäftigten niemals länger als die nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz möglichen 2 Jahre beschäftigt wird. Spätestens nach 2 Jahren müssen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin- nen aus dem Unternehmen ausscheiden, weil sie dann keine weitere Verlängerung durch einen neuen befristeten Arbeitsvertrag erhalten und auch keinen unbefristeten. Es darf nicht sein, dass in unseren Unternehmen Beleg- schaftsteile strukturell nur befristet beschäftigt werden. Ein verständiger Arbeitgeber würde nicht so entscheiden. Ein verständiger Gesetzgeber muss diesem Missbrauch einen Riegel vorschieben und das kann sinnvollerweise geschehen, indem den Betriebsräten eine Form der Miss- brauchskontrolle eingeräumt wird. Deren Details sind si- cherlich noch zu finden, aber es gibt genügend Ansatz- punkte für eine solche Missbrauchskontrolle. Ein solcher Ansatzpunkt könnte sein, dass dem Betriebsrat die Mög- lichkeit eingeräumt wird, bei Neueinstellungen dafür Sorge zu tragen, dass befristet beschäftigte Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer nicht übergangen werden und ausscheiden müssen und dann durch neue befristet Be- schäftigte ersetzt werden. Ich fasse zusammen: Das Beschäftigungsförderungs- gesetz ist nicht der neoliberale Sprengsatz für die Ar- beitsrechtsverfassung unseres Landes geworden. Befür- worter der Gesetzesnovelle von 1985 und ihre Kritiker ha- ben sich gleichermaßen geirrt. Es ist aber ein mögliches Instrument, um den Übergang in Beschäftigung für Ar- beitnehmer mit komplizierten Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und um insbesondere Existenzgründern eine nötige Flexibilität in ihren Hand- lungsoptionen zur Verfügung zu stellen. Nötig ist also eine behutsame Reform des Beschäftigungsförderungsge- setzes. Der Antrag, den die CDU hier stellt, ist dafür zu schlicht. Wir werden eine bessere Vorlage zur richtigen Zeit dem Deutschen Bundestag zuleiten. Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Die arbeitsmarkt- politisch notwendige Möglichkeit des Abschlusses befris- teter Arbeitsverträge läuft aufgrund der in § 1 Abs. 6 des Gesetzes über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäf- tigungsförderung (BeschFG) am 31. Dezember 2000 aus. Mir ist zwar bekannt, dass die Bundesregierung im Zu- sammenhang mit der Umsetzung der EU-Richtlinie über befristete Arbeitsverträge vom 28. Juni 1999 noch in die- sem Jahr eine Novelle des BeschFGes plant. Allerdings ist wohl noch nicht entschieden, ob § 1 BeschFG unverändert verlängert bzw. entfristet wird. Sollte das Gesetz auslaufen, hätte dies fatale Folgen und würde zu negativen Beschäftigungseffekten und – da- mit verbunden – zu Beitragsausfällen bei den Sozialversi- cherungsträgern führen. Es ist daher dringend geboten, die bisher bestehende Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge, wie sie die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in vorliegen- dem Gesetzentwurf fordert, beizubehalten. Einzelne Äußerungen von Vertretern von SPD und Grünen lassen durchaus die Hoffnung zu, dass es hier zu einer vernünftigen Einigung kommen kann. So spricht sich nicht nur der Ministerpräsident von Niedersachsen, Sigmar Gabriel („Bild“-Zeitung vom 20. April 2000), dafür aus, das Gesetz zu verlängern. Auch die Kollegen Dückert und Wolf von Bündnis 90/ DIE GRÜNEN haben sich in einem Arbeitspapier vom 15. Mai 2000 dafür ausgesprochen, dieses wichtige In- strument der Flexibilisierung beizubehalten und dauerhaft im Arbeitsrecht zu verankern. Unisono sind sie hier der Ansicht der Arbeitgeberver- bände und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, denn es ist nicht zu leugnen, dass die Möglichkeit, „Arbeitsverhält- nisse auf Zeit“ abzuschließen, eines der erfolgreichsten arbeitsmarktpolitischen Instrumente der vergangenen zwei Jahrzehnte ist. Bereits 1985 wurde durch die Liberalisierung des Kün- digungsschutzes mehr Flexibilität bei der Einstellung von Mitarbeitern geschaffen. Seither ist es möglich, ohne An- gabe eines sachlichen Grundes, ein bis zu 2 Jahren befris- tetes Beschäftigungsverhältnis abzuschließen. Diese zunächst befristete Regelung wurde mehrfach verlängert und gilt nun bis zum 31. Dezember 2000. Den Verlängerungen lagen die Ergebnisse wissen- schaftlicher Untersuchungen aus den Jahren 1987/1988 (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Infratest Sozialforschung München) und 1992/1993 (Infratest Sozialforschung München) zugrunde. Danach haben sich befristete Arbeitsverhältnisse nach dem BeschFG als wirksame Instrumente zur Förderung von Neueinstellungen erwiesen. Die Untersuchungsergebnisse lassen sich wie folgt zu- sammenfassen: Erstens. Befristete Arbeitsverträge nach dem BeschFG haben sich als Brücke zu Dauerarbeitsverhältnissen be- währt: Die Übernahmequote beträgt 50 Prozent. Mit an- deren Worten: Für die Hälfte aller Arbeitnehmer mit ei- nem befristeten Arbeitsvertrag war diese Form die Mög- lichkeit, den Arbeitgeber von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen und eine dauerhafte Anstellung zu erhalten. Zweitens. Die Erleichterungen beim Abschluss befri- steter Arbeitsverträge haben nicht zu einem Ersatz unbe- fristeter Neueinstellungen geführt, wie dies ursprünglich befürchtet worden war. Die Befristungsquote ist seit 1985 nahezu konstant geblieben und bewegte sich 1994 im Be- reich von 5 bis 6 Prozent. Drittens. Durch die Befristungsmöglichkeiten wurden zusätzliche Beschäftigungszuwächse erzielt. Die Anzahl der zusätzlich geschaffenen Dauerarbeitsplätze in der Pri- vatwirtschaft lag im Jahr 1992 zwischen 20 000 und 45 000. Darüber hinaus entstanden indirekte Beschäfti- gungseffekte dadurch, dass die Betriebe aufgrund der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10237 (C) (D) (A) (B) durch das BeschFG gesicherten Rechtsgrundlage Einstel- lungen vorgenommen haben, die sie sonst unterlassen hät- ten. Dies betraf im Jahr 1992 zwischen 130 000 und 260 000 Neueinstellungen in der Privatwirtschaft. Viertens. Befristete Arbeitsverträge nach dem BeschFG haben sich nicht nachteilig auf die Arbeitsbe- dingungen und das berufliche Fortkommen der Arbeit- nehmer ausgewirkt. Es bleibt festzuhalten, dass die Einführung dieser Ar- beitsverhältnisse zu positiven Ergebnissen auf dem Ar- beitsmarkt geführt hat. Die Befristung von Arbeitsver- hältnissen hat die Bereitschaft der Unternehmen erhöht, neue Mitarbeiter einzustellen, besonders weil bei anzie- hender Auftragslage rasch zusätzliche Arbeitskräfte ein- gestellt werden können. Ohne Rückgriff auf teure Über- stunden können die Unternehmen kurz- oder mittelfri- stige Arbeitsspitzen auffangen und Fehlzeiten von Mitarbeitern überbrücken. Darüber hinaus geben befristete Einstellungen Exis- tenzgründern die Chance, flexibel die oftmals schwierige und unübersichtliche Startphase zu bewältigen. Gerade vor dem Hintergrund unseres überregulierten Arbeits- rechtes senkt die Möglichkeit, einen Mitarbeiter zunächst befristet beschäftigen zu können, auch psychologische Barrieren. Die Befristung hat im Ergebnis nicht nur kurzfristige, sondern vor allem auch nachhaltige Wirkungen, weil be- fristete Arbeitsverhältnisse sehr oft in unbefristete mün- den. Da auch in den meisten anderen Staaten der EU die Be- fristung von Arbeitsverträgen ohne besondere Vorausset- zung zulässig ist, wäre eine nationale Verschlechterung der Rechtslage sowohl arbeitsmarktpolitisch als auch wettbewerbspolitisch nicht akzeptabel. Im Übrigen lässt auch die EU-Richtlinie die erstmalige Befristung unein- geschränkt zu. Im Interesse der Beschäftigungssicherung und -förde- rung sowie der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- schaft sollte baldmöglichst über die Verlängerung bzw. Entfristung des § 1 BeschFG entschieden werden, um im Interesse der Arbeitslosen den Unternehmen Rechtssi- cherheit bei ihren Personalplanungen zu geben. Ich fordere daher die Mitglieder der Regierungsfrak- tionen auf, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In unserer Arbeitsgesellschaft ist es für jemanden, der ein- mal arbeitslos ist, sehr schwer, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Ein Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik ist es des- halb, die Integration von Arbeitslosen in den ersten Ar- beitsmarkt durch vielfältige Strukturen zu fördern. Es geht uns darum, die Übergänge von Phasen der Arbeitslo- sigkeit, abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit, Qualifizierung und Familienarbeit zu erleichtern und zu- sätzliche Beschäftigung zu schaffen. Die Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverhältnissen und zum Beispiel auch die Möglichkeiten zur Zeitarbeit sind sinnvolle In- strumente zur Flexibilisierung bei der Einstellung von Mitarbeitern. Aber sie bedürfen auch der Regelungen zur Abgrenzung gegen Willkür. Die Befristung von Arbeitsverträgen ist ohne Angabe eines sachlichen Grundes bis zu 24 Monaten möglich. 1992 wurde jede dritte Neueinstellung befristet abge- schlossen. Die Hälfte der Arbeitnehmer wurde nach Ab- lauf der Befristung in ein dauerhaftes Beschäftigungsver- hältnis übernommen. Wesentliche Gründe für die Befris- tung waren aus Sicht der Arbeitgeber die Möglichkeit der Neueinstellung trotz Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung, kündigungsschutzbedingte Schwierigkei- ten im Falle einer Entlassung und die längere Erpro- bungsphase. Eine deutliche Erhöhung der Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse, wie von manchen Sozialpolitikern befürchtet worden war, ist nicht eingetreten. Der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse am Bestand der Be- schäftigung bewegte sich von 1985 bis 1994 im Bereich von 5 bis 6 Prozent. Diese Erfahrungen liegen im guten europäischen Mit- telfeld. Die Möglichkeiten zur Befristung ohne sachlichen Grund sollten auch in der Bundesrepublik erhalten blei- ben. Allerdings – das erkennen wir ausdrücklich an – gibt es Diskussionsbedarf über die Ausgestaltung der Rege- lungen. Die vorliegenden Erfahrungen werden auf Ar- beitgeberseite, Arbeitnehmerseite, bei den Arbeitsrecht- lern und bei den Gerichten sehr unterschiedlich bewertet werden. Darum hat sich das Bündnis für Arbeit die Dis- kussion um die Befristung vorgenommen, und aus diesem Grunde wird im BMAan einem Vorschlag gearbeitet. Wir sollten vor einer endgültigen Entscheidung diese Diskus- sionsprozesse abwarten. Die CDU/CSU sollte deshalb ihren Antrag zurückziehen. Es ist unbestreitbar, dass es in der Praxis der Befristung Schwierigkeiten gibt. Es gibt „Befristungsbiographien“ bei Arbeitnehmern, die weit über 24 Monate hinausgehen. Es gibt aufseiten der Arbeitgeber Unsicherheiten über die Rechtsfolge einer nach gültigem Recht unzulässigen oder in der Form ungenügenden Befristung. Es ist deshalb zu klären, ob zum Beispiel mit einem vom Gesetzgeber zu definierenden, nicht abschließenden „Katalog“ mehr Klarheit für alle Beteiligten und für die Gerichte geschaf- fen werden kann oder ob es ausreichend ist, dass die Ta- rifvertragsparteien die vorhandenen Möglichkeiten aus- schöpfen. Rechtsunsicherheit besteht heute insbesondere für Ar- beitgeber, wenn es um die Frage geht, ob die Wiederho- lung einer Befristung mit einem Arbeitnehmer möglich ist, zum Beispiel wenn die vorhergehende Befristung sachlich begründet war. Ein Katalog von Befristungs- gründen in Anlehnung an die Rechtssprechung könnte hier hilfreich sein. Dies ist zu diskutieren. Diese Fragen sind noch in der Diskussion, auch im Bündnis für Arbeit. Ich gehe davon aus, dass es einen abschließenden Ka- talog für Befristungsgründe nicht geben kann. Befristun- gen ohne sachlichen Grund bis zu 24 Monaten sind sicher auch für die Zukunft nötig. Die genauen Regeln sind noch in der Debatte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10238 (C) (D) (A) (B) Dr. Heinrich Leonhard Kolb (F.D.P.): Uns liegt heute ein durchaus fortschrittlicher Antrag der Union aus dem Bereich des Arbeitsrechts vor. Ich muss zugeben, dass der Wegfall der Befristung des Teils des Beschäfti- gungsförderungsgesetzes, der die Befristung von Arbeits- verträgen beinhaltet, durchaus einen gewissen Charme hat. Ich erinnere mich auch an entsprechende Vorschläge meiner geschätzten Kollegin Margareta Wolf in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu diesem Thema, die die Union hier offenbar aufgegriffen hat. Ich bin gespannt, wie die Grünen sich im Verlauf der Beratungen zu den dann auf dem Tisch liegenden Vorschlägen verhalten wer- den. Die Stunde des Umfallens wird kommen, da bin ich mir sicher; das haben Sie ja in letzter Zeit oft geübt! Die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen schafft in der Praxis dauerhafte Arbeitsplätze und ermög- licht gerade jungen Berufseinsteigern die Chance, ins Er- werbsleben einzutreten. Befristete Arbeitsverträge bedeuten auch, dass diese Menschen zumindest für einen gewissen Zeitraum nicht mehr abhängig von der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe waren, dass sie mit eigener Arbeit selbstständig ihren Le- bensunterhalt verdienen konnten. In diesem Zeitraum waren diese Menschen auch Steuer- und Sozialversiche- rungsbeitragszahler und nicht Empfänger von Transfer- leistungen. Nun sind bei weitem nicht alle befristeten Arbeitsver- träge in unbefristete Arbeitsverhältnisse umgewandelt. Man mag es bedauern, dass rund 44 Prozent der neu ein- gestellten Menschen ihren Arbeitsplatz nicht auf Dauer behalten konnten. Nur: Ohne die Möglichkeit der Befris- tung von Arbeitsverträgen hätten sie in diesem Zeitraum gar keinen Arbeitsplatz gehabt und die angefallene Arbeit wäre vermutlich über Überstunden durch die vorhandene Belegschaft erledigt worden. Da bin ich doch eher dafür, jemanden befristet einzustellen. Die Konjunktur richtet sich nicht nach dem deutschen Arbeitsrecht und sie wird es Gott sei Dank niemals tun. Weil dies so ist, muss sich ein Unternehmer sehr genau überlegen, ob sich die gute Auftragslage fortsetzen wird, und vor allen Dingen, wie lange er einen zusätzlichen Mit- arbeiter finanzieren kann. Respice finem, bedenke das Ende. Das ist ein sehr guter Leitsatz für einen verantwor- tungsvollen Unternehmer. In einer Entscheidungssitua- tion unter Unsicherheit wird er vor die Wahl gestellt, ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis nach dem deutschen Ar- beitsrecht zu begründen oder die Mehrarbeit durch Über- stunden zu erledigen. Die Möglichkeit der Befristung ei- nes Arbeitsverhältnisses schafft hier einen Weg, Unsi- cherheit zu reduzieren und ein neues Arbeitsverhältnis entstehen zu lassen. Wie die Erfahrungen zeigen, gehen die deutschen Ar- beitgeber sehr verantwortungsbewusst mit dem Mittel der Befristung um. Deutschland liegt beim Anteil der befri- steten Arbeitsverhältnisse an der Gesamtheit in Europa mit 12,3 Prozent im Mittelfeld. Vorn sind die Spanier mit 32,9 Prozent, am Ende finden wir England mit 7,1 Pro- zent. Im Übrigen ist es sogar so, dass es in England kein- erlei Einschränkungen für die Befristung von Arbeitsver- hältnissen gibt, ebenso wenig in Irland, das ebenfalls nur einen Anteil von 9,4 Prozent aufweist. Beide Länder ha- ben auch eine wesentlich geringere Arbeitslosenquote als wir, sogar stark rückläufig – und das nicht nur aufgrund einer günstigen demographischen Entwicklung. Es scheint also irgendetwas dran zu sein an den positiven Wirkungen einer Befristung. Wie sieht denn die Lebenswirklichkeit – und damit auch die Berufswirklichkeit – in Deutschland aus? Die Zeiten, in denen Arbeitnehmer auf Ewigkeiten beim glei- chen Arbeitgeber tätig war und seine Arbeitsstelle dann an seinen Sohn weitergegeben hat, sind doch vorbei. Ge- rade von Berufseinsteigern werden befristete Arbeitsver- träge sehr häufig genutzt. 20 Prozent der jungen Arbeit- nehmer – ohne Azubis – wählen diese Form des Berufs- einstiegs. So können beide Seiten sich erst einmal etwas länger als für die Dauer der Probezeit beschnuppern. Viele Arbeitsplätze würden ohne die Befristung erst gar nicht angeboten und die Jugendarbeitslosigkeit würde damit noch höher. Auf der anderen Seite haben wir gerade in der New Economy Menschen, die an festen Arbeitsplätzen gar nicht interessiert sind, die projektbezogen arbeiten, die permanent zwischen Selbstständigkeit und Arbeitneh- mereigenschaft wechseln – sofern Rot-Grün sie nicht schon in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis „reingeriestert“ hat. Für diese Frauen und Männer bieten befristete Ar- beitsverhältnisse eine hervorragende Möglichkeit, abge- sichert an einem Projekt zu arbeiten, ohne die eigene Un- abhängigkeit zu verlieren. Hier bin ich an dem Punkt, bei dem ich Kritik am Vor- schlag der Union üben muss: Ihr Vorschlag greift einfach zu kurz. Sie zementieren damit nur die Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis innerhalb von zwei Jahren maximal dreimal zu verlängern. Wirklich innovativ ist das nicht. Ich halte eine Verlängerung des Zeitraumes auf vier Jahre für durchaus sinnvoll, denke aber auch über weiter gehende Schritte nach. Wir werden im Zuge der Beratun- gen unsere Vorschläge auf den Tisch legen, um aus die- sem schwarzen, etwas asthmatischen beschäftigungspoli- tischen Vehikel einen modernen und flotten Flitzer mit blau-gelbem Turbo für den Arbeitsmarkt zu machen. Frau Wolf und die Grünen sind zur Mitarbeit selbst- verständlich herzlichst eingeladen! Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): 15 Jahre gibt es nun schon die Möglichkeit, Arbeitsverhältnisse zu befristen – beschäftigungsfördernd sollte das wirken. Aber noch nie waren die Arbeitslosenzahlen so hoch wie in den vergan- genen 15 Jahren. Das so genannte Beschäftigungsförde- rungsgesetz war schon damals falsch, und es gibt keinen Grund, diese immer wieder verlängerte Regelung nun für alle Ewigkeit festzuschreiben. Die einzigen, die davon profitieren, sind die Arbeitgeber: Sie wären weiter in der Lage, Arbeitnehmer, die sie eigentlich dauerhaft benöti- gen, nur vorübergehend einzustellen. Und das ist dann nichts anderes als die Verlängerung der Probezeit von Neueingestellten auf bis zu zwei Jahre. Fragen Sie doch einmal die Betriebsräte der Bäckereikette Kamps oder die wenigen, die es bei McDonalds gibt: Sie werden Ihnen genau das bestätigen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10239 (C) (D) (A) (B) Die CDU/CSU behauptet in ihrem Gesetzentwurf, die Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverträgen habe sich als eines der erfolgreichsten arbeitsmarktpolitischen Instrumente erwiesen. Ja, wo sind sie denn, die Arbeits- plätze, die es sonst nicht gegeben hätte? Die Befristung führt doch in Wahrheit nicht zu mehr Jobs, sondern dazu, dass die Arbeitgeber sich die neuen Kolleginnen und Kol- legen in den ersten ein bis zwei Jahren völlig gefügig ma- chen können, wie es die NGG formuliert, die übrigens die ersatzlose Streichung der Befristung fordert. Mit der Befristungsregelung werden außerdem gerade die Chancen von jungen Menschen beschnitten und nicht befördert. 1998 waren über 40 Prozent der befristet be- schäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwi- schen 15 und 19 Jahre alt und die zweitgrößte Gruppe der Betroffenen waren die 20- bis 24-Jährigen. Mit der Befris- tung spalten Sie die Belegschaften in solche mit relativ si- cheren, dauerhaften Arbeitsplätzen und solche mit vorü- bergehenden Jobs. Dies höhlt die Solidarität aus und pro- duziert Duckmäuser, die sich dreimal überlegen, ob sie für ihre Rechte kämpfen, wenn damit eine Verlängerung des Arbeitsvertrags auf dem Spiel steht. Von diesen Arbeitsverhältnissen gibt es immer mehr. Seit Beginn der 90er-Jahre ist jede dritte Neueinstellung befristet und nach DGB-Angaben hatten 1999 2,8 Milli- onen Menschen – das sind rund 9 Prozent – einen befris- teten Arbeitsvertrag. Auch hier hat der Osten mal wieder den Kürzeren gezogen; denn in den neuen Ländern waren 14 Prozent der Beschäftigten betroffen, in den alten Län- dern 8 Prozent. Es ist nicht so, dass die Menschen befristet arbeiten wollen; das sind tatsächlich nur 3 Prozent. Mehr als ein Fünftel der befristet Beschäftigten gibt an, befristet zu ar- beiten, weil keine andere Chance auf einen Job besteht. Sie werden also schlicht in die Befristung gezwungen. Das heißt, sie leben in ökonomischer und sozialer Unsi- cherheit und können nicht langfristig planen; denn in ei- nem befristeten Job wird der Kündigungsschutz zur Farce, wie der IG-Metall-Vize Jürgen Peters zu Recht be- merkt. Die Hans-Böckler-Stiftung hat 2 000 Betriebsräte be- fragt. Ergebnis: Der Anteil der auf Dauer beschäftigten Arbeiter und Angestellten ist nach Angaben knapp der Hälfte der befragten Betriebsräte in den vergangenen vier Jahren drastisch gesunken, während die Zahl der befriste- ten Jobs steigt. Das ist doch der klassische Drehtüreffekt. Unbefristete Arbeitsverhältnisse werden durch befristete ersetzt. Im Übrigen: Wenn diese Regelung am Jahresende ausläuft, ist die befristete Einstellung ebenso möglich, wie andere Formen der Flexibilität, um die es Ihnen ja ausschließlich geht, wenn es dafür sachliche Gründe, wie zum Beispiel eine unsichere Auftragslage des Unterneh- mens, gibt. Darauf weisen Sie sogar in Ihrem Gesetzent- wurf hin. Auch Mutterschafts-, Erziehungsurlaubs- und Krankheitsvertretungen sind weiterhin möglich. Und weil es diese Möglichkeiten gibt, ist es sinnvoller, die Befri- stung auslaufen zu lassen und gesetzliche Rahmenrege- lungen zum Schutz der Beschäftigten zu schaffen, die konkrete Ausgestaltung aber den jeweiligen Tarifparteien zu überlassen, so wie es der DGB vorgeschlagen hat. Dass die CDU einen solchen Gesetzentwurf vorlegt und Herr Hundt und Herr Göhner ihn auf das Schärfste begrüßen und sogar Leiharbeitsfirmen das Recht zugeste- hen wollen, befristet einzustellen, das kann ich ja noch nachvollziehen. Dass aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Sie 1996 gegen die Befris- tung gestimmt haben, heute eine unbefristete Verlänge- rung der bestehenden Regelung für „unbedingt ange- zeigt“ halten, wie die Kollegin Wolf sich zitieren lässt, zeigt ganz deutlich: Sie sind längst in der Mitte der Ge- sellschaft angekommen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung des Berichts: Migrationbericht (Tagesordnungspunkt 8) Lilo Friedrich (Mettmann) (SPD): Wie wichtig die Fragen der Zu- und Einwanderung in Deutschland sind, zeigt sich täglich. Die aktuelle Diskussion um die Green Card, die Reaktionen auf die viel beachtete und, wie ich meine, sehr beachtenswerte Rede von Bundespräsident Johannes Rau sind hierfür nur einige Beispiele. Deutlich wird dabei immer: Migrationspolitik und In- tegration sind die zentralen Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, ist längst zu einer Tatsache geworden, die sich nicht mehr ändern wird. Wer sich weigert, dies anzuerkennen, schürt gefährliche Stimmungen in der Bevölkerung. Wir werden auch zukünftig mit der Zuwanderung von Arbeitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern, Aussiedlern und Flüchtlingen leben, und zwar aus gutem Grund: Wir sind auf Zuwanderung angewiesen – aus wirt- schaftlichen und demographischen, aber auch aus sozia- len und kulturellen Gründen. Unser Land wird nicht nur durch „Multikulti“ und Vielfalt bereichert. Menschen aus anderen Ländern gründen in Deutschland Betriebe, bieten Arbeits- und Ausbildungsplätze an. Sie zahlen Einkom- mensteuer und Mehrwertsteuer. Sie leisten Beiträge zur Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Damit trägt die ausländische Bevölkerung dazu bei, dass wir Wohlstand erwirtschaften und soziale Sicherheit finanzie- ren können. Doch das Zusammenleben fällt Menschen unter- schiedlicher Herkunft nicht immer leicht. Es gibt Ängste und Unsicherheiten bei der Begegnung mit Menschen und Lebensweisen, die wir nicht kennen. Es stellt sich die Frage, wie ein besserer Umgang miteinander gestaltet werden kann. Deshalb muss die Integrationsbereitschaft von Einhei- mischen und Zuwanderern gefördert und unterstützt wer- den. Je besser die notwendige Integration gelingt, desto größer wird auch die Aufnahmebereitschaft werden. Für eine gelungene Integration brauchen wir ein gesellschaft- liches Klima, das eine sachliche Diskussion ermöglicht und Ängste vor einer vermeintlich überhöhten Zuwande- rung nimmt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10240 (C) (D) (A) (B) Leider wird die Diskussion um Zu- und Einwanderung hierzulande jedoch oft sehr aufgeregt und wenig sachlich geführt. Häufig führen wir Scheindebatten, statt uns mit dem Thema des Zusammenlebens differenziert und in an- gemessener Weise zu beschäftigen. Daher ist es wichtig, die Daten und Fakten der Migra- tion genau zu kennen. Erst auf der Grundlage gesicherter Zahlen können wir die Entscheidungsfindung zu den The- men Zuwanderung und Integration sinnvoll voranbrin- gen. Was wir brauchen, ist aktuelles, vollständiges und zugleich detailliertes statistisches Material. Die bislang erstellten Statistiken erfüllen diese Anforderungen nur teilweise. Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir deshalb die Bundesregierung auf, jährlich einen Migrationsbericht vorzulegen, der unter Einbeziehung aller Zuwanderungs- gruppen einen umfassenden Überblick über die jährliche Entwicklung und die Ursachen der Zu- und Abwanderung gibt. Wir alle brauchen einen solchen regelmäßigen Be- richt. Auch von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und anderen Organisationen wird dies seit langem gefor- dert. Dieser Bericht soll informieren über den Zu- und Fort- zug von Deutschen und Ausländern und die Binnenwan- derung innerhalb der Europäischen Union. Darüber hi- naus soll er präzise Daten liefern über die Anzahl der sich in Deutschland aufhaltenden Flüchtlinge und über den Zuzug von Aussiedlern. Ebenso gefordert sind Angaben zur Anzahl der Werkvertrags-, Gast- und Saisonarbeit- nehmer, der Grenzgänger sowie der ausländischen Stu- dierenden. Die Statistik soll auch Auskunft geben über die Anzahl der Asylanträge, aufgegliedert nach Herkunftsland, Ge- schlecht und Alter und über die Gesamtzahl der unan- fechtbaren positiven Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nach Her- kunftsländern. Dabei sind auch Anerkennungen aufgrund gerichtlicher Verpflichtungen aufzuführen. Nicht zuletzt brauchen wir Angaben zur Anzahl der Ausweisungen und Abschiebungen. Mit Hilfe einer solchen jährlichen Migrationsstatistik wird uns eine Entscheidungsgrundlage für ein problem- orientiertes und vorausschauendes Handeln gegeben. Die Diskussion um Zuwanderung und Integration kann dann endlich versachlicht werden. Welche möglichen Konsequenzen aufgrund der aufzu- zeigenden Entwicklungen und Zahlenangaben zu ziehen sind, sollte meines Erachtens erst dann entschieden wer- den, wenn über die Situationsbeschreibung, die Zielvor- gaben einer Migrations- und Integrationspolitik und über die Wirkung von Maßnahmen Einigkeit besteht. Hierzu brauchen wir eine offene Diskussion und einen breiten Konsens. Um den Weg dahin beschreiten zu können, ap- pelliere ich an alle Fraktionen des Deutschen Bundesta- ges, unserem Antrag zuzustimmen. Thomas Strobl (CDU/CSU): Zuwanderung ist ein Thema, das uns in der Vergangenheit immer wieder be- schäftigt hat und das uns auch in Zukunft wieder verstärkt beschäftigen wird. Es ist ein Thema, das sicherlich oft Ge- genstand überaus ideologisierter Debatten war. Dies ist möglicherweise angesichts unserer jüngeren Geschichte auch verständlich. Allerdings haben sich die Zeiten geändert. Wir haben weltweite Migrationsströme und zunehmende Einwande- rung in die wohlhabenden Industrienationen. Durch die rasch fortschreitende Globalisierung dringen immer mehr Probleme aus fernen Ländern in unser Bewusstsein. Wir werden gezwungen, uns damit auseinander zu setzen. Wenn wir alle durch ein großes Internet vernetzt sind, dann müssen uns zum Beispiel die politischen und recht- lichen Verhältnisse in Entwicklungsländern eben ver- stärkt interessieren, wenn wir erreichen wollen, dass sich dort nicht Hacker niederlassen und unbehelligt weltweit Milliardenschäden in unserer Wirtschaft anrichten, indem sie Computerviren durch das Netz schicken. Also müssen wir uns, ob es uns passt oder nicht, gewaltig umstellen. Einmal von der Frage abgesehen, ob es uns mit einem ständig geringer werdenden Potenzial an jungen Men- schen gelingen kann, unseren hohen technologischen Standard zu erhalten und immer wieder an der Spitze der Innovation zu sein, müssen wir uns natürlich auch der Frage stellen, wie unser Lebensstandard und die Sozial- standards in unserem Land gehalten werden können bzw. was wir ändern müssen und wie wir uns an die sich ver- ändernde Situation anpassen müssen. Nun wird immer wieder vorgebracht, dass die Delle in unserer Bevölkerungsentwicklung durch verstärkte Ein- wanderung begradigt werden könne. Das ist zunächst ein bestechend logischer Gedanke: Wir gleichen einfach un- sere eigenen Geburtendefizite durch die Förderung von Zuwanderung in unser Land aus, durch Zuwanderung aus Gesellschaften, die ohnehin Probleme mit Überbevölke- rung haben. Diese Annahme setzt aber voraus, dass es uns gelingt, eine Einwanderung zu fördern, die das zu leisten vermag, was wir benötigten, um sozusagen bevölkerungspolitisch einigermaßen die von mir genannten Ziele zu erreichen. Es müssten also Familien sein, die wesentlich mehr Kinder als deutsche Familien bekommen. Dies ist bei Ein- wanderern, nach allem was wir heute wissen, nur in der ersten Generation der Fall. Schon in der zweiten Genera- tion, bei den schon hier geborenen oder aufgewachsenen Söhnen und Töchtern, ist dies nicht mehr so. Zumindest diesbezüglich geht die Assimilierung relativ schnell. Also kurz und gut: Wir bräuchten eine Einwanderung, die nicht nur bezüglich der Zahl unser Vorstellungsver- mögen vollkommen übersteigt; vielmehr müssten es auch noch solche Einwanderer sein, die jung, kinderreich, gut ausgebildet und integrationswillig sind. Warum trage ich ihnen das alles vor? Ich trage das vor, weil ich denke, dass es hohe Zeit ist, dass wir beim Thema Zuwanderung und Ausländerpolitik nüchtern und sach- lich mit Zahlen argumentieren, um uns nicht in Wolken- kuckucksheimen naiver Zuwanderungseuphorie, wie sie Rot-Grün nach wie vor pflegt, zu verlieren. Der Migrationsbericht, meine Damen und Herren von Rot-Grün, zeigt ganz deutlich, dass sie noch immer nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10241 (C) (D) (A) (B) bereit sind, anzuerkennen, dass es beim Thema Zuwande- rung schon lange nicht mehr um ein Feld der masochis- tisch angehauchten Selbstbefriedigung linker Moralapo- stel gegen den Faschismus geht; vielmehr geht es darum, zu einer klaren Definition unserer deutschen Interessen zu kommen. Dazu brauchen wir eine umfassende Statistik, die als Grundlage für eine solche Definition dienen kann. Soweit herrscht im Übrigen in diesem Haus grundsätzli- cher Konsens. Auch konstatieren wir mit großem Interesse und er- kennen wir als Fortschritt bei Rot-Grün an, dass zumin- dest Teile der Koalition zwischenzeitlich bereit sind, an- zuerkennen, dass es unerlässlich für das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in unserem Land ist, dass wir viel mehr darauf achten, dass diejenigen, die zu uns kommen, in unserer Gesellschaft integriert werden müs- sen und dass dies natürlich nicht nur eine Bringschuld der Deutschen ist, sondern dass auf der anderen Seite auch In- tegrationsbereitschaft und -willen aufseiten der ausländi- schen Mitbürger vorhanden sein müssen. Also erkennen wir an, dass es sogar bei dieser rot-grünen Regierung Fort- schritte gibt, die uns nicht verborgen geblieben sind. Auch wir müssen uns im Übrigen bei dem Thema Zu- wanderung von alten Grundsätzen verabschieden. Wir wissen das und haben es zum Teil ja auch schon getan. Ich denke, es besteht ganz ohne Zweifel auch die Chance, in Deutschland auf einen Konsens in dieser wichtigen poli- tischen Frage hinzuarbeiten. Dazu ist es aber – ich wie- derhole mich – unerlässlich, dass wir klar und unvorein- genommen eine Statistik erstellen, die uns alle In- formationen liefert, die für die Definition einer Zuwande- rungspolitik überhaupt grundlegend sind. Schon hier, meine Damen und Herren von Rot-Grün, scheitert ein ver- nünftiger politischer Ansatz an ihrer ideologischen Sicht- weise, die sie beim Thema Zuwanderung nach wie vor ha- ben. Wir haben immer gesagt: Ein solcher Bericht macht nur dann Sinn, wenn wir alles schonungslos darin unter- bringen, auch Daten und Fakten, die manchem mögli- cherweise nicht so ganz ins politische Konzept passen. Also konkret reicht es eben nicht, nur aufzulisten, wer al- les in unser Land kommt und wer möglicherweise auch wieder geht. Es ist auch zwingend notwendig, dass wir untersuchen und öffentlich machen, was die Menschen, wenn sie bei uns sind, tun. Wie viele haben Arbeit? Welche Altersgruppen und Nationalitäten sind unter-, aber auch überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit gezeichnet? Was bringen Ausländer in die Sozialsysteme ein? Wie hoch sind die Belastungen für unsere sozialen Systeme? Wie hoch sind die Kosten für Gerichtsbarkeit und Verwaltung, für die Abwicklung der verschiedenen Anerkennungsverfahren und der darin enthaltenen Rechtsmittel? Dies alles sollte benannt sein, nach Altersgruppen und Nationalität. Dies haben CDU/CSU bei den Ausschussberatungen immer wieder angemahnt. Wir haben es beantragt und es wurde mit der Mehrheit von Rot-Grün abgelehnt. Heute liegt uns ein An- trag vor, der einen Migrationsbericht vorsieht, der darüber keinerlei Informationen enthalten soll. Schon heute wissen wir, dass zurzeit jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen von außerhalb der EU in die EU einströmen. Wir wissen ferner, dass ein sehr hoher Pro- zentsatz davon nach Deutschland will und auch kommt. Wir wissen auch, dass es sich dabei eben in der Mehrheit nicht um wohlgenährte, hoch qualifizierte, junge und kin- derreiche Einwanderer handelt. Wenn wir diese Erkennt- nis haben, dann müssen wir diese doch auch aussprechen können. Durch den Familiennachzug sind Personen nach Deutschland gekommen, die nicht oder nur sehr kurze Zeit noch in die deutschen Sozialversicherungssysteme einbezahlt haben. Dennoch erhalten auch sie Hilfe in be- sonderen Lebenslagen, zum Beispiel bei Krankheit, aus der Sozialversicherung und aus der Sozialhilfe. Die Zahl der ausländischen Sozialhilfeempfänger stieg dabei stän- dig an, nämlich von 200 000 1985 auf 800 000 1992. Seit 1994 kommen dazu auch noch die Leitungsempfänger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dies sind doch Fakten, die in einen umfassenden Immigrationsbericht hineingehören. Wie können wir denn ernsthaft darüber diskutieren, Zuwanderung zu kanalisieren und zu be- grenzen, wenn wir schon bei der Bestandsaufnahme so tun, als sei die einzige Triebfeder vieler Einwanderer, die wundervollen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, die die schrödersche Green Card bietet. Nun frage ich Sie: Wie sollen wir denn seriös über die Frage der Zuwanderung in Zukunft diskutieren und ent- scheiden, wenn sie uns und der deutschen Öffentlichkeit die dafür entscheidenden Informationen vorenthalten wollen? Meine Damen und Herren von Rot-Grün, dies sind Informationen, die alle ehrlichen Steuer- und Bei- tragszahler, übrigens nicht nur die deutschen, wissen soll- ten. Es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit einer Bundesregierung, die einen Immigrationsbericht verfasst, auch diese Informationen darin aufzuführen und nicht schon wieder von vornherein Tabuzonen zu errichten, die allenfalls notwendig sind, um ein naives und falsches Weltbild aufrechtzuerhalten. Glauben sie denn im Ernst, meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie kommen um diesen wichtigen Teil der Bestandsaufnahme herum. Sie müssen einfach akzeptie- ren, dass Ausländer, nur weil sie Ausländer sind, nicht grundsätzlich besser sind als unsere deutschen Lands- leute. Der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit formulierte einmal in eindrucksvoller Eindeutigkeit: Ich bin ja kein blinder Apologet der Einwanderungs- gesellschaft. Ich möchte überhaupt weg von dieser verbohrten Ideologie, die lautet: Es ist einfach toll, wenn wir mehr Ausländer haben. Warum soll ein Ausländer besser sein als ein Deutscher? Der Berater Cohn-Bendits für multikulturelle Fragen, Thomas Schmid – auch er ein Grüner –, kritisiert die schönfärberischen Versprechungen einer „heilen Welt“, die die, wie er sie nennt, naiven Vertreter einer multikul- turellen Gesellschaft verbreiten. Schmid wörtlich: Schaut man sich die Dokumente des rot-grünen Kon- senses an, so erscheint die multikulturelle Gesell- schaft eher als ein Garten Eden – ein friedliches Ne- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10242 (C) (D) (A) (B) ben- und Miteinander der verschiedensten Nationa- litäten und Ethnien, ein einziges großes Straßenfest, auf dem alle miteinander reden, feiern, essen trinken, und tanzen, ein großer linker Ringelpietz mit Anfas- sen. Schmid geht noch weiter, indem er sagt: Es handelt sich bei der rot-grünen Ausländer- und Zuwanderungspolitik um eine biedermeierliche Latzhoseninvasion von unerträglicher Blauäugig- keit, gutem Willen und sonst gar nichts. Diese Einstellung zeigt sich im Übrigen auch bei der Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers. Wenn wir dem Gedanken, der darin enthalten ist, wirklich ernsthaft näher treten wollen: „Wir wollen Einwanderung, aber kontrol- liert vor allem wollen wir auch Kriterien aufstellen, wer zu uns kommt“, dann können wir das ernsthaft doch nur tun, wenn wir zumindest einmal eine klare Bestandsauf- nahme machen, wer zu uns kommt und was die, die jetzt schon da sind, uns nützen oder eben auch kosten. Dies ist dann auch nur der Anfang. Wenn sie eine neue Zuwande- rungspolitik wollen, meine Damen und Herren von Rot- Grün – ich sage ihnen nochmals für die CDU/CSU: Wir sind bereit darüber zu sprechen – dann kann dies nur funk- tionieren, wenn alles auf den Prüfstand kommt. Der Bevölkerungswissenschaftler Professor Dr. Joseph Schmid von der Universität Bamberg hat in einem Artikel in der „FAZ“ vom 31. Mai diesen Jahres Folgendes aus- geführt: Ein Einwanderungsgesetz macht nur dann Sinn, wenn es nicht durch andere Gesetze und Verwaltungspra- xis ständig ausgebootet wird. Das heißt für Professor Schmid konkret. Die bestehende lockere Praxis in der Arbeitsmigra- tion und im Familiennachzug wie auch unsere Asyl- gesetzgebung müssen dann geändert werden, wenn wir erreichen wollen, das die Zuwanderung in unser Land in Zukunft durch uns verstärkt kontrolliert und auch selektiert werden kann. Großzügige Familien- zusammenführung, Staatsbürgerschaftsverleihung, Aufenthaltsduldung nach abgelehntem Asylantrag, hohe Arbeitslosenraten und hoher Sozialhilfeanteil der ausländischen Bevölkerung müssten dann in die Schranken verwiesen werden. Da Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, einen Bericht wollen, der die Folgen von Zu- wanderung für unsere Sozialsysteme tabuisiert und Ana- lysen über die Probleme von Migration negiert, haben wir einen Alternativantrag gestellt. Einen Bericht, der die Wirklichkeit aus ideologischen Gründen ausblendet, lehnt die CDU/CSU-Fraktion ab. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Diskussion um Zu- und Einwanderung wird hierzulande oft sehr aufgeregt und wenig sachlich geführt. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, diese – für die Zu- kunft der Bundesrepublik so entscheidende – Debatte in den kommenden Monaten und Jahren ein wenig nüchter- ner zu führen. Daher gilt es, erst einmal die Fakten zu benennen. Und genau dies soll mit dem jährlichen Migrationsbericht ge- schehen. Das Amt der Ausländerbeauftragten hat bereits im letz- ten Jahr einen Migrations-Bericht vorgelegt, der die Zu- wanderung und Abwanderung in den Neunziger Jahren beschreibt. Die Zahlen belegen zweierlei: Wir haben es mit einer relevanten Einwanderung in die Bundesrepublik zu tun. Zur Panikmache besteht aber kein Grund: Sowohl die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, als auch die Zahl der Spätaussiedler liegt um ein Vielfaches niedriger als zu Beginn des letzten Jahrzehntes. Wir haben es aber auch mit einer hohen räumlichen Mobilität von Ausländern und Deutschen und mit Ab- wanderung und Zuwanderung zu tun, die nationale Gren- zen überschreitet. Hierauf muss sich Politik einstellen, sie muss gestalten. Wer sich weigert, die Tatsache der Einwanderung anzuer- kennen, gibt Gestaltungsmöglichkeiten unnötig aus der Hand. In der Regelung der zukünftigen Zuwanderung und in der Integration der Einwanderer liegen zentrale Zu- kunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Und ich danke un- serem Bundespräsidenten, dass er nüchtern und sachlich die vor uns liegenden Aufgaben beschrieben hat. Eine Industrienation in der Mitte Europas wird auch weiterhin mit Zuwanderung und Abwanderung von Ar- beitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern, Aus- siedlern und Flüchtlingen leben. Wir werden uns der Mi- gration nicht entziehen können. Sie ist aus wirtschaftli- chen und demographischen, aber – auf sie angewiesen – auch in einer sich globalisierenden Welt aus sozialen und kulturellen Gründen. Ich begrüße es daher, wenn sich etwa der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf für eine gezielte Ein- wanderung ausspricht, um die Innovationsfähigkeit des Landes zu erhalten. Oder die Aufhebung des Arbeitsver- botes für Flüchtlinge fordert. Es ist richtig, dass wir eine Gesamtkonzeption der Zu- wanderungspolitik im nationalen wie im europäischen Rahmen brauchen. Wir brauchen eine Konzeption, die den humanitären Verpflichtungen und den wirtschaftli- chen und demographischen Erfordernissen gleicher- maßen gerecht wird. Wie Sie, meine Damen und Herren von der Union, al- lerdings die Stirn haben können, jetzt von einer solchen Gesamtkonzeption zu reden, nachdem Sie 16 Jahre lang genau diese verhindert haben, bleibt mir unverständlich. Bis zum heutigen Tag leiden wir darunter, dass sie jah- relang das Faktum der Einwanderung negiert haben, ob- wohl sie real da war. Trotz Konsequenzen für die Politik. Keine systematische Gestalt, sondern Gestrüpp. Sie ha- ben doch in der Vergangenheit den Begriff „Einwande- rungsgesetz“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Sie haben eine integrationspolitische Wüste und ein mi- grationpolitisches Chaos hinterlassen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10243 (C) (D) (A) (B) Dieses Flickwerk müssen wir nun gänzlich neu zu- sammensetzen und vor allem ergänzen, sei es im Staats- angehörigkeitsrecht, sei es bei der Sprachförderung oder im Arbeitsgenehmigungsrecht. Hier sind wichtige Jahre vertan worden. Gesinnungs- wandel und Besserung gestehe ich ja jedem zu, allein mir fehlt der Glaube an ihre Ernsthaftigkeit. Sie nutzen die Debatte um die Zukunftsaufgaben Integration und Zu- wanderungsregulierung lediglich dazu, am Asylrecht zu sägen. Ihre Vorschläge ignorieren beharrlich die völkerrecht- lichen Einbindungen der Bundesrepublik, den europä- ischen Konsens und verkennen, das der Gipfel von Tam- pere sich klar und deutlich für Genfer Flüchtlings- konvention als Grundlage der europäischen Asylrechthar- monisierung ausgesprochen hat. Ihre Vorschläge bleiben dem Gedanken der Abschottung verhaftet. Die anstehen- den Gestaltungsaufgaben werden ignoriert. Wir stehen erst am Beginn der Diskussion um eine mo- derne Einwanderungs- und Integrationspolitik, und zwar in der Bevölkerung auch in der Politik. Wir sollten diese Diskussion gelassen führen, und zwar sachlich und auf der Grundlage gesicherter Zahlen und Daten. Dass diese zur Zeit noch nicht für alle migrations- relevanten Bereiche erhoben werden, hat der von uns vor- gelegte Bericht deutlich gemacht. Diese Lücken können hoffentlich mit dem vom Bundestag georderten jährlichen Migrationsbericht geschlossen werden. Denn wir sind auf gesichertes Zahlenmaterial als Grundlage für migrationspolitische Entscheidungen an- gewiesen. Eine Politik des trial and error können wir uns in der Migrationspolitik nicht weiter erlauben (zum Bei- spiel 1973/Anwerberstopp). Wir werden Wege finden müssen, wie wir die Zuwan- derung sozial gestalten und mit ausreichenden Integra- tionangeboten verknüpfen. Mit der Neukonzeption der Sprachförderung sind wir da auf dem richtigen Weg. Vor allem aber brauchen wir ein gesellschaftliches Klima, das eine sachliche Diskus- sion ermöglicht und Ängste vor vermeintlich überhöhter Zuwanderung nimmt. Ich hoffe, dass der Migrationsbericht künftig einen Beitrag dazu leisten wird. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Der vorliegende Antrag der Koalition zielt auf die regelmäßige, das heißt, jährliche Vorlage eines Berichtes der Bundesregierung an das Parlament, der Auskunft über Umfang und Folgen von Zu- und Abwanderungen in Deutschland geben soll. Die F.D.P. hat diesem Antrag in den Ausschüssen zugestimmt; denn wir teilen die Beurteilung, wonach ein unabweisba- rer Bedarf nach einer Zusammenfassung der relevanten statistischen Angaben zu Migrationsfragen besteht. Wir teilen ebenfalls die Auffassung, dass ein solcher Bericht als Entscheidungsgrundlage für ein problemorientiertes und vorausschauendes Handeln der Politik von Bedeu- tung ist. Genau hier ist aber der springende Punkt: Mit Berich- ten allein ist es nicht getan. Die Koalition ist kurz vor der Halbzeit. Bei den brennenden Themen Bildung, Steuern, Rente und eben auch Zuwanderung sind jetzt Konzepti- onen gefragt und nicht nur Berichte. Sie können nicht im- mer nur von der Hand in den Mund leben, indem Sie je- weils vom tagesaktuellen Bedarf bestimmt kurzfristige Anwerbeaktionen starten, wie in der derzeitigen Situation der IT-Branche geschehen. Es muss analysiert werden, welche Art Arbeitskräfte unsere Gesellschaft mittel- und langfristig benötigt, gleichzeitig muss aber die gesetzliche Grundlage für ihre Zuwanderung geschaffen werden. Dies lehnt die Koalition, dies lehnt übrigens auch die CDU/CSU ab. Sie haben den Entwurf eines Zuwande- rungsbegrenzungs- und -steuerungsgesetzes, den die F.D.P.-Fraktion vorgelegt hatte, gemeinschaftlich abge- lehnt, obwohl die politische Notwendigkeit einer solchen gesetzlichen Grundlage weithin anerkannt ist, übrigens vielfach auch innerhalb Ihrer Parteien und Fraktionen. Ich erneuere hier das Angebot, das ich gegenüber der Kollegin Beck bereits am 11. Mai gemacht habe, die den Eindruck erweckt hatte, dass sie sich nur an der Be- zeichnung unseres Gesetzes störe. Ich sage Ihnen hier nochmals: Wenn Sie bereit sind, unserem Gesetzentwurf zu folgen, können Sie sich den Namen des Kindes aussu- chen. Aber mit Berichten allein, mit kurzatmigen Green- Card-Initiativen auf der rot-grünen oder mit populisti- schen Kinder-statt-Inder-Kampagnen auf der schwarzen Seite lösen Sie nicht die Probleme dieses Landes, sondern verschlimmern sie. Dies ist keine verantwortungsvolle Politik. Ulla Jelpke (PDS): Eine Versachlichung der Debatte um Migration und Asyl ist dringend erforderlich. Wir hof- fen, dass der Migrationsbericht einen Beitrag dazu leistet. Wir stimmen deshalb auch dem hier vorliegenden Antrag zu. Wie inhuman und undemokratisch die Politik in diesen Fragen derzeit noch immer ist, dafür möchte ich ein paar Beispiele nennen: Erstes Beispiel. Die Bundesregierung weigert sich, eine Vorlage der EU-Kommission zur Neuordnung des Familiennachzugs in der EU zu akzeptieren. Die EU will, dass alle Menschen beim Familiennachzug gleichberech- tigt sind. Herr Schily erklärt, der Spielraum seiner Politik werde dadurch zu eng. Herr Schily, wer Gestaltungspiel- raum auf Kosten von Menschenrechten will, der zeigt da- mit ein gestörtes Verhältnis zu Menschenrechten. Zweites Beispiel. Heute lese ich in der Presse, dass in Berlin die Anträge auf Einbürgerung nicht zu-, sondern abnehmen. Das bestätigt die Sorgen, die wir nach Ihrem faulen Kompromiss beim Staatsbürgerschaftsrecht nach der Kampagne der CDU/CSU in Hessen hatten. Auf die- sem Gebiet gibt es offenbar keinen Fortschritt. Ich kann Ihnen weitere Beispiele aufzählen für ihre fa- tale Politik. Sie halten die UN-Konvention über die Rechte der Kinder nicht ein. Sie lehnen die UN-Konven- tion für Wanderarbeit ab, weil diese Konvention gleiche Rechte für Wanderarbeiter fordert. Sie ratifizieren die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10244 (C) (D) (A) (B) Konvention des Europarats zur Staatsbürgerschaft nicht, weil diese Konvention die doppelte Staatsbürgerschaft er- laubt. Frauenspezifische Fluchtgründe werden in diesem Land noch immer nicht anerkannt, nicht staatliche Verfol- gung gilt nicht als Asylgrund. Das alles zeigt: bei Men- schenrechten und Gleichberechtigung steht diese Regie- rung auch international weiter auf der Bremse. Ein paar Sätze zur CDU/CSU. Ihre angebliche Kosten- Nutzen-Rechnung für die Sozialversicherung ist miese Stimmungsmache. Ich will Ihnen drei Gründe nennen: Erstens. 30 Jahre lang haben Millionen so genannte Gast- arbeiter ihre Beiträge in die Sozialversicherungen gezahlt und damit vor allem die Rentenkassen subventioniert. Jetzt werden diese Menschen älter, häufiger krank und sie werden von Entlassungen stärker getroffen. Jetzt auf ein- mal wollen sie eine Nutzen- und Kosten-Rechnung auf- machen. Sie wissen genau, wie so eine Rechnung bei al- ten Menschen aussieht! Natürlich zahlen ältere Leute we- niger in die Sozialversicherung. Das nennen wir Solidarität zwischen Generationen. Nur bei Ausländern soll das nicht gelten. Da wollen sie miese fremdenfeindli- che Stimmung machen, übrigens genauso wie die Rechts- radikalen. Zweitens. Flüchtlinge haben bei uns Arbeitsverbot. Auch Migrantinnen und Migranten aus Nicht-EU-Län- dern wie die Türkei sind auf dem Arbeitsmarkt nicht gleichberechtigt. Statt diese Diskriminierung aufzuheben, wollen sie diesen Menschen jetzt persönlich zum Vorwurf machen, dass sie arbeitslos sind. Ich finde es auch bezeichnend, dass bei Ihrem Antrag fehlt, wie viele Steuern diese Menschen zahlen. Warum soll davon nicht gesprochen werden? Etwa weil Sie dann auf das Problem stoßen, dass Menschen, die Steuern zah- len, keine demokratischen Rechte haben? Ich bin mir si- cher: Wenn die Steuern von Migrantinnen und Migranten erfasst würden, käme eine alte Wahrheit heraus: dass nämlich die so genannten kleinen Leute, also auch Mi- grantinnen, Migranten und Flüchtlinge, diesen Staat fi- nanzieren, während Reiche und Industrie kaum etwas zahlen, aber Milliarden aus dem Staatshaushalt einstrei- chen. Das passt natürlich nicht zu ihrer miesen Stimmungs- mache und deshalb tauchen diese Probleme in Ihren An- trag nicht auf. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä- rin beim Bundesminister des Inneren: Wenn Demoskopen Bundesbürger danach fragen, wie viele Ausländer denn wohl in ihrer Stadt oder Region leben, weichen die Ant- worten oft geradezu abenteuerlich weit von der Realität ab. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern mit ver- schwindend geringem Migrantenanteil nennen Befragte manchmal fünf bis zehnfach überhöhte Zahlen. In kaum einem anderen Bereich der Politik wird so viel missver- standen, fehlgedeutet, durcheinandergewirbelt oder ge- zielt desinformiert wie in der Migrationspolitik. Deshalb kann man gar nicht genug aufklären und differenzieren. Sachinformation und solide Daten sind unsere wich- tigste Waffe gegen Angstmacherei. Deshalb begrüßt die Bundesregierung die Forderung der Koalitionsfraktionen zur Vorlage eines Migrationsberichtes, der Jahr für Jahr aktualisiert werden soll. Natürlich gibt es bereits den aus- führlichen Bericht der Ausländerbeauftragten, der gewiss für alle in der Migrationspolitik Tätigen und an der Mi- grationspolitik Interessierten eine wertvolle Grundlage liefert. Er befasst sich mit der gesamten Situation der Ein- wanderer einschließlich der sozialen Lage, der gesund- heitlichen Versorgung, des Bildungsstandes und der Aus- bildungschancen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Migrationsbericht aber soll sich ganz auf die Wan- derungsbewegungen konzentrieren; auch die oft vernach- lässigte Ab-, Aus- und Weiterwanderung berücksichtigen, insgesamt kürzer und knapper gefasst sein, kurz: ein leicht handhabbares Nachschlagewerk, nützlich für aktuelle De- batten und Gesetzesinitiativen – aber auch für eine breite Öffentlichkeit. Die Bundesregierung wird die wesentli- chen Ergebnisse des Migrationsberichts deshalb auch in anschaulicher Form, salopp ausgedrückt, „unter die Leute bringen“. Das kann gewiss auch erhitzte Gemüter beruhi- gen, was der allgemeinen Debatte um Zuwanderung nur gut tut. Gut getan hat uns ja auch die so genannte Green-Card- Inititiative der Bundesregierung. Es ist vielen in diesem Lande endlich klar geworden, dass es – zumindest in be- stimmten Bereichen – eine gewollte und gewünschte Mi- gration gibt und dass hoch qualifizierte Ankömmlinge bei uns keineswegs die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärfen, sondern – im Gegenteil – dringend gebraucht werden und ihrerseits weitere Arbeitsplätze sichern und neue schaffen. Zugleich sage ich aber ebenso deutlich: Die Anwerbung der Computerspezialisten ist von der Ar- beit an einem Zuwanderungsgesetz strikt zu trennen. Für die Planung eines Zuwanderungsgesetzes brau- chen wir eine langfristige Perspektive, eine sorgfältige Aufklärungs- und Argumentationshilfe für die Bürger im Interesse eines breiten Konsenses – und Antworten auf die Frage, welche Wanderungsbewegungen etwa aus der Um- setzung der EU-Richtlinie zur Familienzusammen- führung und der Erweiterung der Union vor allem in den mittelosteuropäischen Raum hinein entstehen können. Auch dafür kann der Migrationsbericht ein solides Zah- len- und Daten-Polster liefern. Eine Mahnung möchte ich in diese Debatte einbringen. Es mag ja für Kenner spannend sein, den Kurswechsel der Union vom kräftigen Nein zum drängenden Ja zu einem Zuwanderungsgesetz zu beobachten. Nur missfällt mir zweierlei. Erstens die Sprache: Es schleicht sich eine Wortwahl ein, in der viel geredet wird von Zuwanderern, die uns nützen – und Asylbewerbern oder Flüchtlingen, die angeblich eher eine Last sind. Ich weiß sehr wohl, dass vorwiegend wirtschaftlich bedingte, gesteuerte Zuwande- rung mit bestimmten Quoten sich an den Interessen des Aufnahmelandes orientiert. Das ist überall in den klassi- schen Einwanderungsländern der Fall. Aber es gibt eben auch die humanitäre Pflicht des Staates, politisch Ver- folgten und Opfern von Bürgerkriegen Zuflucht zu ge- währen. Diese Pflicht kann – und das ist der zweite Punkt meiner Kritik – nicht zum Tauschobjekt degradiert wer- den. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zur Migrati- onspolitik beide Arten des Zugangs nach Deutschland ge- nannt: diejenige für Menschen, die uns brauchen – und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10245 (C) (D) (A) (B) diejenige für Menschen, die wir brauchen. Beide gegen- einander aufzurechnen ist weder möglich noch vertretbar. Zahlen und Fakten zur Migration sind ein wichtiges Mittel gegen Angst und Unsicherheit. Damit sind sie auch ein Beitrag zur Integration im Sinne eines besseren Ein- vernehmens von deutschen und nichtdeutschen Bürgern. Da es gleich anschließend um die Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Ausländerfeindlichkeit gehen wird, liefere ich gleich noch eine weitere, wichtige Zahl dazu: Für Integration und Reintegration, interkulturelles Lernen, Information und Dokumentation, Maßnahmen gegen Gewalt und Kriminalität sowie für Beratung und Eingliederung geben die zuständigen Ressorts der Bun- desregierung – das sind ihrer sechs – allein in diesem Jahr 393 Millionen DM aus. Auch das ist sicherlich gut zu wis- sen! Die Bundesregierung nimmt gern den Antrag für den Migrationsbericht an und wertet ihn als Signal der neuen Sachlichkeit. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung der Anträge: – Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen; – Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich- keit, Antisemitismus und Gewalt sowie Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetz (... StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 9 a und b und Zusatztagesordnungspunkt 6) Hans-Peter Kemper (SPD):Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti- semitismus gehört zu den wichtigsten innenpolitischen Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Extremistische Ak- tivitäten und die damit einhergehende Gewaltbereitschaft sind längst keine zu vernachlässigenden Randprobleme unserer Gesellschaft mehr. Die Zahl der rechtsextremis- tisch motivierten Gewalttaten ist im vergangenen Jahr er- neut angestiegen, auch wenn die Zahl der Mitglieder rechtsextremer Parteien und Organisationen leicht rück- läufig ist. Deswegen ist es gut, dass heute, wenn auch aus verschiedenen Sichtweisen, die einzelnen Fraktionen über dieses Thema diskutieren. Die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Thema ist, so glaube ich, völlig unumstritten. Wer von uns hat nicht noch das Bild, das Anfang des Jahres durch die Weltpresse ging, als Neonazi grölend durchs Brandenbur- ger Tor marschierten – wir erinnern und alle an die Hetz- jagd auf einen Asylbewerber in Guben – oder die Schän- dung des jüdischen Friedhofes in Weissensee vor Augen? Es stimmt etwas nicht in unserem Staatswesen, wenn die Synagoge in der Oranienburger Straße einer Festung gleicht und aus Furcht unserer jüdischen Mitbürger vor Anschlägen Sicherheitskontrollen größten Ausmaßes durchgeführt werden. Diese rechtsextremen Gewalttaten sind zutiefst verabscheuenswürdig. Rechtsextreme Gewalt ist aber nur eine Seite des Pro- blems. Auch die latente Ablehnung von Minderheiten und Menschen anderer Herkunft und anderen Aussehens stellt eine Gefahr für friedliches Miteinander dar und bietet erst den Nährboden, auf dem rechtsextremes Handeln leider zu gut gedeiht. Ich weiß genau wovon ich hier spreche, werde ich doch häufig in meinem allernächsten Umfeld mit dieser Ablehnung konfrontiert. Mich überkommt die kalte Wut, wenn ich sehe, wie bestimmte konservative Po- litiker mit diesem sensiblen Thema umgehen. Elefanten im Porzellanladen sind dagegen leichtfüßige Gazellen. Die Bundesregierung hatte ein Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt – an- gekündigt und am 23. Mai dieses Jahres wurde dieses Bündnis unter der Schirmherrschaft von Innenminister Otto Schily mit einer Auftaktveranstaltung ins Leben ge- rufen. Ich denke, das ist der richtige Ansatz; denn es geht um mehr als um Gewalttaten kahlgeschorener Dumm- köpfe. Es geht um mehr Toleranz in unserer Gesellschaft. Und es geht um Integration und um die Verhinderung von Diskriminierung. Ich bin deshalb dem Bundespräsidenten Johannes Rau sehr dankbar für seine bewegende Rede zur Notwendigkeit der Integration. Das wird das Thema der nächsten Jahre werden. Wir müssen hier insbesondere bei den jungen Menschen ansetzen, ihnen Hilfen geben und sie zu Toleranz und einem friedlichen Miteinander be- fähigen. Nur so kann es gelingen. Es wird aber nur gelin- gen, wenn wir alle geschlossen daran arbeiten. Insofern ist es durchaus begrüßenswert, dass auch die FDP ihren An- trag auf die gleiche Basis stellt. Die PDS macht es sich da etwas leichter: Sie will ein- fach das Strafrecht verschärfen, ohne die Wurzeln dieses Übels anzugreifen. Und die große Oppositionspartei? Sie sagt zurzeit nichts. Sie ist hier noch mit Vergangenheits- bewältigung beschäftigt. Sie übt sich in Schadensbegren- zung in Sachen „Kinder statt Inder“ und doppelte Staats- bürgerschaft. Da bin ich bei einem wichtigen Thema. Wenn Ministerpräsidenten oder Möchtegernministerprä- sidenten so mit dem Problem umgehen, wie es Herr Koch in Hessen und Herr Rüttgers in Nordrhein-Westfalen ei- nes vermeintlichen Vorteiles im Wahlkampf wegen getan haben, braucht sich niemand über fehlende Integrations- bereitschaft in der Bevölkerung zu wundern. Sie sind si- cher nicht Täter oder Rechtsradikale, aber sie sind Vorla- gengeber. Sie liefern rechtsradikalen Dummköpfen die Argumente und vermeintliche Rechtfertigungen. Sie schüren Fremdenangst und Konkurrenzdenken zwischen Deutschen und Ausländern und schaden damit erheblich den dringend erforderlichen Integrationsbemühungen. So wurde die dämliche Rüttgersparole „Kinder statt Inder“ in Nordrhein-Westfalen denn auch begierig von den Repu- blikanern aufgegriffen. Dieser Slogan war dann auf vielen Republikaner-Plakaten zu lesen, mit denen sie ganze Städte zugepflastert haben. Die Menschen in NRWwaren aber nicht so dumm, wie Herr Rüttgers gedacht hat. Sie haben es gemerkt und mit ihrer Stimmabgabe Rüttgers und seinen schändlichen Parolen eine deutliche Abfuhr erteilt. Ich halte das für ein gutes Signal der Menschen in NRW. Sie zeigen, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist und die Gesellschaft sich auch in dieser Frage weiterent- wickelt hat. Ich hoffe nur, dass nun auch der letzte Politi- ker diese Signale verstanden hat. Wir wollen erreichen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10246 (C) (D) (A) (B) dass die Verurteilung von Rechtsextremismus, Fremden- feindlichkeit, Antisemitismus und damit verbundenen Gewalttaten kein Lippenbekenntnis bleibt, sondern in die Praxis umgesetzt wird. Wir wollen Zuwanderung steuern und uns massiv für die Integration der hier lebenden Aus- länderinnen und Ausländer einsetzen. Dazu gehört auch die Neugestaltung des Arbeitserlaubnisrechts für Asylbe- werberinnen und -bewerber. Wir brauchen einen verbesserten Schutz potentieller Opfer rechtsextremer Straf- und Gewalttaten. Dazu zählen wir in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen die Schaffung von Anlaufstellen, die kon- krete rechtliche und soziale Unterstützung bieten. Die so- zialen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin- gungen, die Rechtsextremismus und Gewalt begünstigen, müssen wir ändern. Und hier sind wir mit unserem So- fortprogramm zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit, mit dem Programm der Familienministerin „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunk- ten“ das der Tatsache Rechnung trägt, dass Kinder und Ju- gendliche in sozialen Brennpunkten stärkeren Gefährdun- gen ausgesetzt sind als in sozial gut strukturierten Umfel- dern, mit dem Aktionsprogramm für eine gewaltfreie Konfliktbewältigung und mit den Bemühungen des In- nen- und Justizministeriums um eine verbesserte Verfol- gung rassistischer Straftaten im Internet sowohl auf na- tionaler, als auch auf europäischer und internationaler Ebene sicherlich auf dem richtigen Weg. Wir brauchen eine aktive, engagierte Jugendarbeit, die sowohl den Schutz demokratisch orientierter Jugendli- cher gewährleistet, aber auch Jugendliche betreut, die durch rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemiti- sche Taten auffallen oder damit sympathisieren. Die beste Prävention gegen das Entstehen rechtsextremen Gedan- kengutes ist immer noch eine engagierte Sozialarbeit im Zusammenwirken mit dem Zeigen von Zivilcourage und dem Entgegentreten rechtsextremistischer Propaganda. Sicherlich kann die Politik nur die Rahmenbedingungen für ein gewalt- und vorurteilsfreies Miteinander vorge- ben. Um diese mit Leben zu erfüllen, ist jeder Einzelne von uns gefordert: als Politiker, als Eltern, in Schule und Betrieb. Wir brauchen politische Vorbilder, die mutig den Weg zeigen, und die heißen nun mal nicht Rüttgers und Koch. Sebastian Edathy, (SPD):Wir sollten als Parlament den falschen Eindruck vermeiden, dass Fragen der gesell- schaftlichen Entwicklung unseres Landes weniger wich- tig sind als etwa Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung. Das Thema Rechtsextremismus ist mitnichten ein Randthema. Es ist kein Thema, dem wir gewissermaßen hin und wieder einen Blick schenken könnten, um dann – ganz wörtlich gesprochen – zur Tagesordnung zurückzu- kehren. Wir tun gut daran, uns klar darüber zu werden, dass Rechtsextremismus nicht eine Art exotisches Phäno- men ist, sondern eine ganz konkrete Herausforderung die- ser Gesellschaft. Ich hatte gestern ein Gespräch mit dem Leiter eines Ju- gendvereins in Brandenburg, der seit Jahren einen inter- nationalen Jugendaustausch organisiert. Dieser Mann sagte mir, 90 Prozent der jungen Deutschen, mit denen er vor Ort zu tun habe, seien gedanklich rechts orientiert. Dann erzählte er mir von seiner Arbeit in den letzten Jah- ren und sagte: „Wissen Sie, unsere Jugendlichen sind im- mer noch rechts; aber es ist schon ein Erfolg, dass mitt- lerweile unsere ausländischen Gäste nicht mehr körper- lich bedroht werden.“ In den Medien spielt das Thema Rechtsextremismus meist dann eine Rolle, wenn es zu Gewalt kommt. Seien wir ehrlich: Auch viele von uns Parlamentariern werden oft erst dann hellhörig, wenn neue Nachrichten von Übergriffen, Attacken oder Anschlägen auf Fremde oder vermeintlich Fremde die Runde machen. Rechtsex- tremismus erschöpft sich aber eben nicht in rechts- extremistischer Gewalt. Der demokratische Staat ist nicht erst dann gefordert und herausgefordert, wenn das Gewaltmonopol infrage gestellt wird. Demokraten dürfen nicht erst angesichts po- litisch motivierter Gewalttaten aufmerksam werden. Wer andere verächtlich macht, wer die Würde des Menschen allein schon verbal antastet, wer das eine Leben für wert- voller als ein anderes hält, der stellt die Grundlagen unse- res Gemeinwesens infrage. Die Bewahrung unserer Demokratie verlangt eine stän- dige Wachsamkeit, die wir erbringen müssen, weil zivili- satorische Errungenschaften keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer wieder vergegenwärtigt werden müssen. Jede neue Generation muss sie sich aneignen. Zi- vilisiertes und demokratisches Verhalten wird nicht ver- erbt, sondern es muss gelernt werden. Es muss übrigens nicht zuletzt auch vorgelebt werden. Insofern ist der Ansatz sowohl des von meiner eigenen Fraktion vorgelegten Antrages als auch des F.D.P.-Antra- ges richtig, weil es eben nicht nur darum gehen kann, ei- ner in Wort und Tat Ausdruck findenden rechtsextremisti- schen Gesinnung zu begegnen, sondern weil es mindes- tens genau so wichtig ist, alles dafür zu tun, das Entstehen einer solchen Gesinnung zu verhindern. Es gab und gibt seit Monaten eine öffentliche Debatte darüber, ob in der Bundeshauptstadt Berlin das Demon- strationsrecht verschärft werden sollte, ob etwa an be- stimmten Plätzen und Orten eine Demonstration unzuläs- sig sein sollte. Es wird wohl niemanden in diesem Haus geben, der nicht entsetzt darüber ist, wenn, wie un- längst geschehen, im Rahmen einer NPD-Demonstration Stiefelträger durch das Brandenburger Tor marschieren und junge Männer mit kurzen Haaren am Gelände des ge- planten Denkmals für die ermordeten Juden Europas vor- beilaufen und dabei rufen: „Heil Euch“. Das ist wirklich schwer zu ertragenen, übrigens nicht so sehr, weil dadurch das Ansehen unseres Landes im Ausland leidet, sondern weil es für uns selbst beschämend ist, dass es Mitbürger gibt, die so etwas tun, die höhnend durch die Straßen ziehen und für Intoleranz und Ausgren- zung demonstrieren. Dem eigentlichen Problem begegnen wir dabei mit ei- ner Debatte über das Demonstrationsrecht mit Sicherheit nicht. Eine solche Debatte muss zwangsläufig oberfläch- lich bleiben. Denn das Problem ist nicht das Demonstrie- ren einer extremen Gesinnung, sondern das Haben einer extremen Gesinnung. Zu glauben, ein Problem wäre nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10247 (C) (D) (A) (B) da, weil man es nicht sieht, weil es sich nicht manifestiert, das ist ein Irrglaube. Ich will, dass wir irgendwann feststellen können, dass es keine Demonstrationen von Rechtsextremisten mehr gibt. Aber ich will, dass der Grund dafür nicht ist, dass solche Demonstrationen verboten sind, sondern dass sie nicht stattfinden, weil niemand zu solchen Demonstratio- nen hingeht. Solange das nicht so ist, müssen wir – so schwer es ist – solche Demonstrationen nach meiner Überzeugung ertragen. Es ist vielleicht auch nicht so ver- kehrt, dass wir jenseits der Bonner Beschaulichkeit in Berlin mit diesem Stück Realität konfrontiert sind, um nicht zu vergessen, wie sehr wir gefordert sind. Das Wegdrücken eines Problems, das Wegschauen trägt nicht zur Lösung eines Problems bei. Das gilt auch dafür, dass wir die Probleme in den neuen Ländern nicht kleinreden, weil es vermeintlich rufschädi- gend ist. Rechtsextremismus ist kein spezifisch ostdeut- sches Problem, aber ist in den neuen Ländern insbeson- dere aufgrund höherer sozialer Probleme vergleichsweise stark ausgeprägt. Das müssen wir thematisieren. Unser Antrag tut dies. Ich wünsche uns eine gute und konstruktive Beratung der vorliegenden Anträge in den Ausschüssen. Ute Vogt (SPD): „Ohne Angst und Träumereien: Ge- meinsam in Deutschland leben“. – Unter dieser Über- schrift hat Bundespräsident Johannes Raum am 12. Mai eine beeindruckende und wegweisende Rede gehalten. Ohne Angst zu leben – dieses Recht muss unsere Demo- kratie für die Menschen in unserem Land erreichen. Und ohne Träumereien müssen wir diese Aufgaben angehen. Rechtsextremismus setzt auf die Ängste der Bevölke- rung. Gezielt werden Menschen diffamiert, ausgegrenzt und zu Sündenböcken abgestempelt. Manche Rechtsex- treme schrecken noch nicht einmal davor zurück, Men- schen zu bedrohen oder ihnen gar Gewalt anzutun. Wir wollen mit unserer Initiative im Deutschen Bun- destag ein deutliches Signal setzen: für Toleranz und Mit- einander, für Demokratie und für Schutz und Hilfe für Opfer rechtsextremer Angriffe. Ich hoffe, dass wir uns hier im Hause einig sind, dass sich dieses Thema nicht zum Parteienstreit eignet. Bekämpfung von Rechts- extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie braucht den Einsatz aller demokratischen Kräfte, im Parlament genauso wie in der Bevölkerung. Als Abgeordnete haben wir dabei eine Vorbildfunk- tion. Es ist eine erschreckende Entwicklung, dass häufig gerade junge Täter in der Überzeugung handeln, dass rechtsextreme Aktionen insgeheim Zustimmung finden. Dieses Bewusstsein wird überall dort verstärkt, wo man rechtsextreme Entwicklungen verharmlost und diesen nicht eindeutig entgegentritt. Wir haben dabei übrigens genauso die Verpflichtung, nicht selbst dazu beizutragen, dass Vorurteile verstärkt und Ängste gegen Menschen an- derer Herkunft, Hautfarbe oder Religion geschürt werden. Dies sage ich gerade auch in die Richtung derer, die in Wahlkämpfen oft sehr leichtfertig der Versuchung nach- gegeben haben, Themen wie Zuwanderung oder Asyl- recht zur Stimmungsmache zu nutzen. Ich will dies hier nicht weiter vertiefen, weil es uns mit unserem Antrag darum geht, Gemeinsamkeiten herzustel- len: eine gemeinsame, klare Absage an Diskriminierung und Gewalt, ein gemeinsames Zeichen an die Bundesre- gierung, dass der Bundestag sie bei ihrem Engagement in diesem Themenfeld unterstützt. Rechtsextremismus hat viele Ursachen. Es wäre ein Trugschluss, wenn wir davon ausgehen würden, dass sich vor allem sozial Benachteiligte aus Frust und Angst rechtsextremen Ideologien zuwenden. Das Spektrum ist viel breiter, sehr unterschiedlich und reicht bis hinein in Universitäten. Daher brauchen wir auch ganz unter- schiedliche Maßnahmen, um Rechtsextremismus zu be- kämpfen. Das eine ist der Einsatz für Demokratie, das Werben für Toleranz und Verständnis und die Stärkung der Zivilcou- rage. Hier sind wir gefragt, weil wir durch unsere Mög- lichkeiten, uns öffentlich zu äußern, maßgeblich daran mitwirken, welche Stimmung im Land herrscht. Die Rede von Johannes Rau, die ich eingangs bereits erwähnt habe, gibt uns den Auftrag, vorhandene Ängste und bestehende Fremdheit nicht wegzudiskutieren. Aber sie gibt uns ebenso den Auftrag, verbindend zu wirken und für Ver- ständigung und Integration zu sorgen. Dabei allein kann es jedoch nicht bleiben. Denn ebenso wichtig wie das eigene Verhalten und die Appelle und die Ermutigung zur Zivilcourage: sind die konkreten Maßnahmen. Sie sind nicht einfach darzustellen, denn es sind viele verschiedene Bausteine, die zusammenwirken. Es sind Maßnahmen, die jungen Menschen eine Zu- kunftsperspektive eröffnen: Das „Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit“ gehört hier genauso dazu wie das Programm für die „Entwicklung und Chan- cen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“. Es sind Initiativen wie das Bündnis „Für Demokratie und Tole- ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ und direkte För- derprogramme, mit denen Modelle in Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen nach den Bedürfnissen vor Ort gestaltet werden. Ebenso gehören dazu Anstrengun- gen zur Integration von Menschen, die aus anderen Län- dern zu uns kommen oder auch Investitionen in politische Bildung und Hilfen für Jugendarbeit. Die Liste ließe sich um einiges verlängern. Die Bun- desregierung hat in vielen Bereichen und in fast allen Mi- nisterien bereits wichtige Aktivitäten vorzuweisen. Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute ein- bringen, möchte an diese Arbeit anknüpfen. Wir haben be- wusst auf einen langen analytischen Teil verzichtet und uns auf klare Forderungen beschränkt. Auch im Antrag der F.D.P. sehe ich Ansätze, die ich tei- len kann. Mir greift er allerdings in vielen Bereichen zu kurz, so wird er zum Beispiel den wichtigen Bereichen Prävention und Ursachenbekämpfung nicht gerecht. Aber vielleicht gelingt es uns im Verlauf der Beratungen in den Ausschüssen, hier eine gemeinsame Linie zu finden. Ich habe hier nur einige wenige Aspekte zur Sprache bringen können. Das Thema ist aus meiner Sicht sehr zen- tral, auch für die weitere Entwicklung der Demokratie. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10248 (C) (D) (A) (B) Es ist ein Thema, das nicht nur uns, sondern auch viele andere Länder in Europa und darüber hinaus beschäftigt. Es ist notwendig, dass wir uns in den Ausschüssen die Zeit nehmen, um hierzu eingehend zu beraten. Es ist unerläss- lich, dass wir es nicht bei Appellen belassen, sondern selbst handeln. Und ich würde mich freuen, wenn es uns gelingen würde, unsere Initiativen „Gegen Rechtsextre- mismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ge- walt“ in der zweiten und dritten Lesung zu einer Zeit zu beraten, bei der auch gewährleistet ist, dass die Botschaft des Deutschen Bundestages die Bevölkerung erreicht. Volker Kauder (CDU/CSU): In den letzten 50 Jahren hat sich in Deutschland eine Gesellschaft entwickelt, die von einem hohen Maß an Toleranz und individueller Frei- heit, an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. Doch trotz all dieser Errungenschaften, derer wir uns heute erfreuen können und von denen man anfangs nicht zu träumen gewagt hatte, fällt doch leider ein dunkler Schatten auf unser Land. Ausländerfeindliche Übergriffe, Antisemitismus, rechtsextremistische Vorgänge aller Art ereignen sich in der Bundesrepublik Deutschland in Besorgnis erregender Zahl. Wie hoch die Anzahl strafrechtlich relevanter Vor- gänge mit rechtsextremistischem Hintergrund auch genau sein mag, sie ist inakzeptabel hoch. Rechtsextremistische Vorgänge müssen uns hier in Deutschland mehr aufschrecken als die Menschen in an- deren Ländern Europas. Sie müssen uns stärker berühren, denn wir alleine hatten als dunkelste Zeit unserer Ge- schichte den todbringenden Nationalsozialismus! Aus dieser schlimmen Zeit müssen wir gelernt haben, wohin Rechtsextremismus führen kann. Mag auch der ak- tuelle Verfassungsschutzbericht einen leichten Rückgang des rechtsextremistischen Personenpotenzials registriert haben, so darf uns das nicht dazu veranlassen, das Pro- blem auf die leichte Schulter zu nehmen. Hinweise, dass rechtsextremistische Straftaten bei uns keinen größeren Umfang hätten als in anderen Ländern, dürfen uns nicht beruhigen, mögen sie auch zutreffen. Die Extremisten von rechts und links, die Fundamen- talisten und ideologisch Verblendeten greifen unsere de- mokratische Gesellschaft an. Ob sie für die Demokratie zur wirklichen Gefahr werden können, hängt aber davon ab, wie entschlossen sich die demokratische Gesellschaft zur Wehr setzt. Wir brauchen vor dem Extremismus keine Angst zu haben, solange wir die Sicherung der wehrhaf- ten Demokratie als unsere tägliche Aufgabe betrachten: Man muss dem Extremismus unmissverständlich und ent- schlossen entgegentreten. Ich denke, dass wir den Rechtsextremen tatsächlich zuviel Bedeutung zumessen, ja, ihnen sogar zuviel zwei- felhafte Ehre zukommen lassen würden, wenn wir ihnen zutrauten, aus eigener Kraft diese Gesellschaft zerstören zu können. Man muss sich fragen, ob es denn die richtige Strategie ist, diese Leute auch noch dadurch zu ermutigen, dass man in ihnen eine Gefahr für die Demokratie sieht, ob es nicht vielmehr klüger wäre, ihnen klarzumachen, dass ihre Versuche gänzlich wirkungslos bleiben werden! Sie dürfen gar nicht erst in die Lage versetzt werden, eine Gefahr für uns darzustellen. Eine solche Stärke könn- ten sie nämlich nur erreichen, wenn wir unaufmerksam und schwach werden würden. Der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die Parlamente und Regierun- gen der Länder sind aber wachsam. Der Verfassungsschutz erfüllt seine Aufgabe zu unse- rer vollen Zufriedenheit. Spätestens hier, muss übrigens jeder Verständige überdeutlich erkennen, welch grundfalsche Entscheidung es wäre, den Verfassungsschutz – dieses wirksame Instru- ment im Kampf gegen den Rechtsextremismus – abzu- schaffen, so wie die Grünen das verlangen. Rechtsextremismus wird in Deutschland nicht tole- riert! Selbstverständlich ist es jetzt erforderlich, dass die ex- tremistischen Gewalttaten der vergangenen Monate – wie es sich für unseren Rechtsstaat ziemt – schnellstens und umfassend aufgeklärt werden. Schuldige Straftäter müs- sen ihre gerechte Strafe erhalten. Der Verfassungsschutz muss weiter beobachten, was vor sich geht. Entschlosse- nes Vorgehen ist gefragt, auch im Hinblick auf die kriti- schen Blicke des Auslandes. Zur überzeugenden Bekämpfung des Rechtsextremis- mus gehört auch, vor anderen Formen des Extremismus nicht die Augen zu verschließen. Auch wenn die Gefahr, die uns vom Kommunismus droht, zurzeit recht klein er- scheint, dürfen wir nicht auf dem linken Auge blind wer- den. Extremistische Gruppen aus dem Ausland dürfen bei uns ebenso keine Chance haben, unser Land darf für sie nicht zum Aufmarschgebiet werden. Weder Rechtsextreme noch Linksextreme, noch ex- tremistische Gruppen von Ausländern dürfen den Ein- druck bekommen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland von uns nicht wachsam – und vor allem wirksam – verteidigt wird. Wir sind wachsam und deshalb – das muss uns klar sein – rufen schon die kleinsten rechtsextremistischen Ak- tionen unsere besondere Aufmerksamkeit hervor. Ich denke, dass wir von der rechtsextremistischen Szene ein deutlich umfassenderes Bild als von allen an- deren Gruppen haben, die eine potenzielle Gefahr für un- sere Gesellschaftsordnung darstellen. Ganz unmissverständlich sage ich: So soll es bleiben! Zur Kultur des Erinnerns gehört auch, nicht zu ver- schweigen, was es an Rechtsradikalismus in Deutschland noch immer gibt. Und solange wir über alle Taten dieser wenigen Außen- seiter informiert sind – vom Körperverletzungsdelikt bis zur Schmiererei – können wir handeln und haben so auch die Gewissheit, dass unsere Demokratie nicht ernstlich in Gefahr ist. Eine wehrhafte Demokratie zu erhalten, wird uns umso leichter gelingen, wenn wir gegenüber uns selbst und auch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10249 (C) (D) (A) (B) öffentlich anerkennen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen für rechtsradikale Thesen und Handlungen in keiner Weise empfänglich ist. Umso mehr erfüllt uns mit Zorn, dass bei uns in Deutschland noch immer und immer wieder jüdische Gräber geschändet werden. Eine solche Tat ist abscheu- lich! Menschen, die so etwas tun, schänden sich aber auch selber. Ihnen müssen wir sagen, dass uns das nicht provo- ziert, sondern entrüstet und dass wir mit aller Schärfe da- gegen vorgehen. Roman Herzog hatte völlig Recht, als er sagte: Bei uns dürfen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen! Zum Raum für rechtsradikale Umtriebe zähle ich auch die Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Ich gebe zu, dass ich mich häufig ärgere, wenn diese Außenseiter durch die öffentlichen Diskussionen – vor allem auch durch Mel- dungen in Presse, Funk und Fernsehen – erst eine Chance erhalten, ihre extremen Parolen wirkungsvoll zu verbrei- ten. Es macht mich zornig, dass diese Außenseiter solch ein Forum geboten bekommen! Oftmals wünschte ich mir – und ich meine, dass ich hier für eine große Zahl unserer Mitbürger spreche –, dass wir diese Leute einfach unbeachtet lassen könnten. Den- noch, nach Abwägung aller Argumente, komme ich im- mer wieder zu dem Schluss, dass im Kampf gegen den po- litischen Extremismus nichts so wirksam ist wie eine gut informierte Öffentlichkeit. Sie ist das schärfste Schwert der Demokratie! Bei aller Wachsamkeit und der notwendigen Abwä- gung, welche Schritte zur Bekämpfung der einzelnen Ex- tremismusarten in Deutschland unternommen werden, dürfen wir nicht in blinden Aktionismus verfallen. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wir dürfen dieses ernste Thema nicht durch übertriebene Darstellungen in Misskredit bringen. Wer übertreibt, der riskiert, dass die Öffentlichkeit das Problem nicht mehr ernst nimmt. Lassen Sie uns also gemeinsam maßvoll darüber spre- chen, wie wir den Rechtsextremismus weiterhin entschie- den und erfolgreich in Schach halten können. Dazu gilt es zunächst, eine Bestandsaufnahme zu er- stellen, eine Bestandsaufnahme, die nicht schönt, nicht kaschiert, sondern ungeschminkt die Fakten auf den Tisch legt. Wenn ich hier ansetze, dann finde ich sofort einen ekla- tanten Widerspruch, sowohl im Verfassungsschutzbericht 1999 wie auch im F.D.P.-Antrag. Über den muss man of- fen und ehrlich reden. Auf der einen Seite, so heißt es im F.D.P.-Antrag, seien die Taten der Rechtsextremen nicht gleichmäßig über die Bundesrepublik Deutschland verteilt, sondern träten vor allem in den neuen Bundesländern auf. Auf der anderen Seite liest man dann aber, dass dem Eindruck entgegen- gewirkt werden müsse, als handele es sich bei den rechts- extremistischen Erscheinungsformen um ein Phänomen der neuen Bundesländer. Etwas verwaschen wird davon gesprochen, dass der Rechtsextremismus in den neuen Ländern jünger und in höherem Maße gewalttätig sei als in den alten Ländern. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht verkündet zwar ebenso, dass regionaler Schwerpunkt der Delikte weiter- hin das Gebiet der neuen Länder wäre. Wenn man aber weiterliest – im Kapitel über die Verteilung der Gewaltta- ten auf die Länder –, dann weist er die rechtsextrem ori- entierten Gewalttaten bezeichnenderweise in zwei Statis- tiken aus, die auf unterschiedlichen Ansätzen beruhen und auch zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Während bei einer Aufstellung der Taten je 100 000 Einwohner die neuen Bundesländer an der Spitze liegen, liegt in absoluten Zahlen gerechnet Nordrhein- Westfalen an der Spitze und Niedersachsen schon auf Platz vier. Auch bei den schlimmsten Delikten, denen mit Todes- folgen, spielten sich zwei in den alten Bundesländern und eines in den neuen ab. Die Verlage, die wesentlich für die Verbreitung rechter Propaganda verantwortlich sind – also Hauptverantwortliche für den rechten Ungeist –, ha- ben laut Verfassungsschutzbericht allesamt ihren Sitz in den alten Bundesländern. Natürlich weist die Rechnung je 100 000 Einwohner auf ein bestimmtes Potenzial hin. Das steht außer Frage. Doch wenn es uns tatsächlich auf die Verhinderung jeder einzelnen Tat ankommt – und nur das kann unser Ziel sein –, dann darf die absolute Zahl doch nicht völlig un- berücksichtigt bleiben. Nach 10 Jahren Einheit sind wir den Menschen in Deutschland und uns selbst eine ehrliche Antwort schul- dig. Von dieser Antwort hängt auch ganz entscheidend die Strategie zur Bekämpfung rechtsextremistischer Strafta- ten ab. Denn wenn es ein Phänomen der neuen Bundes- länder sein sollte, dann müssten ja ganz andere Schritte unternommen werden, als wenn es sich um ein gesamt- staatliches Problem handelte. Ja, in den neuen Ländern besteht wohl aktuell ein et- was deutlicherer Handlungsbedarf als in den alten Län- dern. Es gibt keinen Grund, dies zu leugnen. Wir können uns gefahrlos zu dieser Situation beken- nen, wenn wir uns unverzüglich der wichtigen Aufgabe widmen, das Demokratieverständnis in den neuen Län- dern noch weiter zu vertiefen. Ich betone das hier nur, weil ich den Eindruck habe, dass die F.D.P.-Fraktion die Frage für sich selbst so be- antwortet hat, dass es eine Angelegenheit der neuen Län- der ist, auch wenn man das nicht so offen aussprechen möchte. Anders kann ich mir einfach nicht erklären, dass der hier vorgeschlagene Maßnahmenkatalog fast ausschließ- lich die Jugendarbeit in den neuen Bundesländern betrifft. Ich muss Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich bin mir bei der Beantwortung der Frage bei weitem nicht so sicher wie die Kollegen von der F.D.P. Der Rechtsex- tremismus darf nicht zum Schwerpunktthema der neuen Länder gemacht werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10250 (C) (D) (A) (B) Außerdem darf es auch nicht zu einer Stigmatisierung der Menschen in den neuen Bundesländern kommen. Dies ist vor dem Hintergrund der absoluten Zahlen überhaupt nicht gerechtfertigt. Darüber hinaus ist es auch kontraproduktiv. In den neuen Bundesländern leben schließlich Milli- onen von Deutschen, die rechtes Gedankengut strikt ab- lehnen. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus in den neuen Ländern braucht das Mitmachen der Menschen dort. Dazu muss man sie ermutigen. Der Rechtsextremismus muss – meines Erachtens – mindestens als ein deutschlandweites, wenn nicht sogar als ein internationales Problem verstanden werden. Seine Bekämpfung ist aber auf jeden Fall eine gesamtstaatliche Aufgabe. Missstände an den extremen Rändern der Ge- sellschaft sind und bleiben Missstände. Sie müssen durch konsequentes Handeln auf allen Ebenen überwunden werden. Eine dieser Ebenen – das ist im Antrag der F.D.P. rich- tig ausgeführt – ist die Jugendarbeit. Besonders hervorhe- ben möchte ich hierbei Projekte der Bundeszentrale für politische Bildung, die weitreichenden Erfolg haben kön- nen. Auch Jugendaustauschprogramme – mit Ländern der Europäischen Union und den USA – scheinen mir hier sehr hilfreich zu sein. Sie sollten massiv gefördert wer- den. Genauso wichtig ist es, Bürgerinitiativen zu unter- stützen, die für die wehrhafte Demokratie eintreten und darüber informieren. Durch die im F.D.P.-Antrag genannten Mittel alleine kann das Ziel aber nicht erreicht werden. Die letzte Ebene – falls keine andere Wahl bleibt – ist das Strafgesetzbuch. Die Maßnahmen, die wir auf dieser Ebene ergreifen wollen, müssen einerseits unsere Gesellschaftsform wirk- sam schützen, andererseits aber auch immer so ausgelegt werden, dass sie dem Rechtsstaat und der Verhältnis- mäßigkeit nicht zuwiderlaufen. Ein Entwurf zur Verschärfung des Strafrechts liegt uns nun auf Vorschlag der PDS vor. Es gilt also, ihn auf Wirk- samkeit und Rechtsstaatlichkeit zu untersuchen. Der Antrag der PDS beruht auf dem Gedanken, be- stimmte szenetypische Äußerungen, die von rechtsextre- men Demonstranten zur Verherrlichung der NS-Zeit ver- wendet werden, zukünftig zu strafbarem Unrecht zu ma- chen. Der Sonderstraftatbestand sei notwendig, da die Äußerungen bisher nicht nach den §§ 86, 86 a und 130 StGB strafbar sind. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich hier erklären: Wir dürfen es nicht zulassen, dass Organisatio- nen des Nationalsozialismus verherrlicht werden. Deutschland besitzt seit vielen Jahren ein erprobtes und ausgeklügeltes Normengeflecht, was die Strafbarkeit von gegen die öffentliche Ordnung und den demokrati- schen Rechtsstaat gerichtete Taten angeht. Unsere Ent- schlossenheit, rechte Auswüchse nicht ungestraft zu las- sen, haben wir damit unter Beweis gestellt. In den vor uns liegenden Wochen werden wir nun ernsthaft prüfen müs- sen, ob konkrete Vorgänge der letzten Wochen neue Straftatbestände erfordern. In diese Prüfung muss natürlich einbezogen werden, ob mit dem Strafrecht erfolgreich bekämpft werden kann, was hauptsächlich politisch und gesellschaftlich bekämpft werden muss. Es muss genau beachtet werden, welche Grenzen die Grundrechte setzten. Bei den bisher bestehenden Normen handelt es sich um diffizile Abwägungen zwischen dem Verbot, für verfas- sungswidrige Ziele und Organisationen zu werben auf der einen und dem Art. 5 Grundgesetz auf der anderen Seite. Wir dürfen also keinesfalls leichtfertig sein, wenn wir Parolen verhindern wollen, die nicht während des Dritten Reiches als Parole mit spezifischer nationalsozialistischer Bedeutung gebraucht wurden und daher heute nicht nach § 86 a StGB und auch sonst nicht bei Strafe bedroht sind. Ich persönlich freue mich, dass ein Großteil der Be- völkerung solche Parolen ablehnt. Es ist mir aber sehr wichtig und ich betone mit Nachdruck, dass wir niemals leichtfertig in das Recht der freien Meinungsäußerung eingreifen dürfen. Demokratie lebt von der Meinungsfrei- heit. Und wir wissen ja alle: Meinungsfreiheit ist immer nur die Meinungsfreiheit des Andersdenkenden. Wer aber glaubt, dass er unter Berufung auf dieses Grundrecht dem Rechtsextremismus Vorschub leisten kann, der hat sich geirrt. Was ich damit sagen will, ist, dass wir vor allem sau- bere Definitionen benötigen, falls wir uns zu einem sol- chen Schritt entschließen sollten. Das gebietet schon das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde. Sollten wir uns entscheiden, eine solche Rechtsnorm zu schaffen, sehe ich also noch erhebliche Arbeit auf uns zukommen. Eine solche Norm müsste natürlich auch für alle Arten des verfassungsfeindlichen Extremismus in gleicher Weise gelten. Man sollte nicht der Frage ausweichen, ob man nicht die öffentliche Verherrlichung der PKK genauso behan- deln müsste wie die Verherrlichung bestimmter Orga- nisationen des Dritten Reiches. Man müsste also genau klären, welche Organisationen umfasst sein sollen und welche nicht. Vielleicht ist es sogar erforderlich, gesondert zu be- stimmen, was strafrechtlich unter dem Begriff der „Ver- herrlichung“ zu verstehen ist. Überdies müssen wir uns schon jetzt über eines im Kla- ren sein: Die Provokation durch Rechtsextremisten wird durch einen neuen § 86 b nicht unterbunden. Es ist zu er- warten, dass schon nach kurzer Zeit neue Parolen zu hören sein werden, die uns betroffen machen, die aber wieder nicht strafbar sein werden. Schon aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich für mich, dass der von der PDS vorgeschlagene Entwurf – so wie er hier steht – wohl nicht der richtige sein dürfte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10251 (C) (D) (A) (B) Meine Gedanken gehen zusätzlich noch in eine weitere Richtung. Ich denke, dass wir uns sehr genau überlegen sollten, ob wir etwas politisch kriminalisieren wollen, was eher im Schwerpunkt Dummheitsbekämpfung angesie- delt sein müsste. Wenn wir mit Mitteln des Strafrechts zu erreichen ver- suchen, was uns mit den anderen Mitteln der Politik nicht gelungen ist, wenn wir die Justiz anrufen, weil die Ju- gendpolitik, die Sozialpolitik, die Arbeitsmarktpolitik versagt haben, dann sollten wir immer darauf bedacht sein, dass wir nur auf diejenigen zielen, die die Vordenker menschenverachtender Thesen sind, die Rädelsführer, und nicht auf jene kleinen Mitläufer, die auf anderem Wege besser in unsere Gesellschaft zurückgeführt werden könnten. Viele junge Mitläufer, die bei den Rechtsextremisten landen, fühlen sich als Verlierer gesellschaftlicher Ent- wicklungen. Sie sind keine politischen Überzeugungstä- ter. Bei manchem habe ich den Eindruck, dass er die ex- tremistische Provokation als wirksames Mittel sieht, auf sich und seine besondere Situation aufmerksam zu ma- chen. Wenn wir hier vorschnell verurteilen, vergeben wir Chancen, diese jungen Leute ins demokratische Lager zurückzuholen. Damit ich nicht missverstanden werde: Natürlich müs- sen rechtsextremistische Äußerungen und Taten schärf- stens verurteilt und zurückgewiesen werden. Wir müssen aber auch Hilfe anbieten. Neue Lebenschancen und Hoff- nungen sind da oftmals geeignetere Mittel als das Straf- recht. Der wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Bundes- länder kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Das Gefühl gebraucht zu werden, ein geglücktes Leben führen zu können, macht für Rechtsextremismus weniger anfäl- lig. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist deshalb mit Ächtung, Verboten und Strafen allein nicht erfolg- reich zu gestalten. Dies ist im F.D.P.-Antrag durchaus richtig erkannt worden. Aber – und da sind wir uns sicher einig – wir brauchen vor allem Lebenschancen für diese anfälligen jungen Menschen. Den unbelehrbaren Rädelsführern müssen wir mit aller Schärfe und konsequent entgegentreten. Da bin ich all den mutigen Menschen in unserem Lande dankbar, die dies öffentlich tun. Die Unbelehrbaren müssen auch mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden, auch da sind wir uns einig. Gestatten Sie es mir, abschließend noch eine andere ge- dankliche Tür aufzustoßen. Eingangs sagte ich es schon: Ich meine, dass das Pro- blem des Rechtsextremismus durchaus auch ein interna- tionales ist. Ich spreche da von der Verfolgung extremistischer Ak- tivitäten im Internet, welches uns zeigt, dass nationale Maßnahmen alleine nicht weiterhelfen. Hier müssen wir unsere Arbeit auf einem ganz anderen Niveau betreiben als bisher. So wie wir die Kinderpornographie und andere Perversitäten im Internet bekämpfen, muss auch der Rechts- und Linksextremismus bekämpft werden. Hier sehe ich eine wesentliche Zukunftsaufgabe vor uns liegen. Die ersten notwendigen Ergänzungen im deutschen Strafrecht sind durch das Informations- und Kommunika- tionsdienstegesetz des Jahres 1997 vorgenommen wor- den. Nun muss eine neue Stufe der Zusammenarbeit mit den Ländern der Europäischen Union und den USAangestrebt werden. Dies gilt für einheitliche Strafnormen ebenso wie für die Durchführung von Rechtshilfeersuchen. Nur so ist ein wirksames Handeln zu bewerkstelligen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir auch auf dieser Ebene nochmals die einschlägigen Strafrechtsnormen im Hinblick auf die modernen Kommunikationstechnologien anpassen müssen. Es besteht auf diesem Feld regelmäßig der Anlass zur Kontrolle unserer Eingriffsmöglichkeiten. Die modernen Kommunikationstechnologien befinden sich mitten in einem revolutionären Umbruch. Wir stehen erst am Beginn des Internetzeitalters. Bekanntlich wird das Internet zur Begehung vielfältiger Straftaten mis- sbraucht. Auch die extremistischen Straftäter haben selbstverständlich vom ersten Tag an dieses neue Medium für ihre Machenschaften genutzt. Wir müssen also am Ball bleiben und uns fragen, ob unsere Mechanismen zur Bekämpfung des politischen Extremismus auf dem neue- sten Stand sind. Wir hier in Deutschland sollten vor allem eines ver- meiden: Wir sollten nicht arrogant sein und auf unseren zum Teil veralteten Methoden beharren, sondern offen sein und bestrebt zu lernen, gerade auch von unseren eu- ropäischen Partnern. Meine Damen und Herren, wir dürfen den Rechtsex- tremismus nicht auf die leichte Schulter nehmen, wir dür- fen uns aber auch nicht zu undurchdachten Schnellschüs- sen hinreißen lassen. Unsere Maßnahmen müssen ein wirksames Vorgehen ermöglichen und unser Vorgehen muss schnell und entschieden sein. Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir beraten heute ein Problem, auf das es keine einfachen Antworten gibt; denn Rechtsextremismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Besonders be- drückend sind das immense Ausmaß rechtsextremer Ge- walt, Überfälle auf Flüchtlinge, ausländische Mitbürger, auf Obdachlose, Andersdenkende, Punker, Homosexu- elle, Behinderte oder Menschen jüdischen Glaubens, die Schändungen jüdischer Friedhöfe. Gerade in den fünf neuen Ländern gibt es nun schon seit einiger Zeit Gebiete, in denen sich diese potenziellen Opfergruppen nicht mehr frei bewegen können, ohne um ihre Gesundheit oder gar ihr Leben fürchten zu müssen. Diesem Problem müssen wir uns stellen. Unser Ziel muss sein, in diesen Gebieten die volle Bewegungsfreiheit auch für Minderheiten und Gegner der Rechtsextremen wieder herzustellen. Rechtsextreme Gewalt ist leider kein isoliertes und iso- lierbares Problem. Die oft jugendlichen Gewalttäter wer- den durch eine massive Propaganda beeinflusst, die Hass Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10252 (C) (D) (A) (B) auf Minderheiten schürt und die von rechtsextremen und neonazistischen Organisationen ausgeht. Das geschieht zum Beispiel durch die Wahlkampagnen rechtsextremer Parteien, durch Konzertveranstaltungen mit Nazi-Bands oder im Internet. Dass diese Kampagnen bei vielen Men- schen ankommen, zeigen etwa die Wahlergebnisse rechts- extremer Parteien. Fremdenfeindliche Einstellungen, na- tionalvölkisches Bewusstsein und Gewaltakzeptanz sind keine vereinzelten Phänomene. In vielen Gegenden gehören sie schon zum Mainstream unter Jugendlichen. Wir müssen leider auch feststellen, dass viel zu viele Menschen der rechtsextremen Gewalt heimlich zustim- men oder ihr gleichgültig gegenüberstehen. Die Opfer der Rechtsextremen und Neonazis gehören allzu oft zu denje- nigen, die auch von der Gesellschaft ausgegrenzt und dis- kriminiert werden. Die Gewalttäter sehen das nicht selten als Legitimation, um zuzuschlagen. Aufgrund dieser ge- sellschaftlichen Dimension des Problems kann und will der Antrag der Regierungsfraktionen keine einfachen Antworten geben. Er kann nur der Anfang und nicht das Ende einer Diskussion sein. Aber er enthält eine Fülle von konkreten Maßnahmen und guten Anregungen, die wich- tige Schritte auf dem Weg zu einer Lösung des Problems darstellen. Wir treten dafür ein, dass die Bekämpfung rechtsextre- mer Straftaten und vor allem der Gewalttaten ein Schwer- punkt der Strafverfolgung werden muss. Wir wollen im Rahmen des geltenden Rechts ein möglichst zeitnahes Gerichtsverfahren. Das sind Maßnahmen, die der Gewalt folgen. Wichtiger ist uns jedoch, an den Ursachen anzu- setzen und dem gesellschaftlichen Anspruch der Bekämp- fung des Rechtsextremismus gerecht zu werden. Ich will hier Punkte aus dem Antrag hervorheben, die uns besonders wichtig sind: Das sind der bessere Schutz der Opfer, die Unterstützung von mit Rechtsextremen konfrontierten Stellen und eine andere Ausrichtung der Jugendarbeit. Erstens. Die Stärkung der Position, des Schutzes und der Rechte der potenziellen Opfer ist eine wichtige Komponente. Dem dienen die Modellprojekte für eine Opferberatung, die auch jenen Menschen Unter- stützung bieten sollen, die Angst vor weiteren Racheak- ten der Neonazis haben, die den Weg an die Öffentlich- keit scheuen oder die sich in unserem Rechtssystem nicht so gut auskennen. Dem dienen Maßnahmen der Integra- tion, die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeits- rechts und – als nächste Schritte – die Vorlage eines Anti- diskriminierungsgesetzes und die Neugestaltung der gegenwärtigen Praxis der Erteilung des Arbeitserlaubnis- rechts für Flüchtlinge. Über die Verbesserungen hinaus, die diese Maßnahmen konkret für die Menschen bedeu- ten, versuchen wir damit, Ausgrenzung zu vermindern und Minderheiten wieder aktiv in die Mitte der Gesell- schaft zu holen. Zweitens: Wir werden die Aufklärung, Ausbildung und Beratung der mit Rechtsextremen befassten Stellen ver- bessern. Neben Ignoranz und schweigender Zustimmung ist immer wieder auch festzustellen, dass Lehrer, Sozial- arbeiter, kommunale Stellen oder Initiativen mit dem konkreten Problem rechtsextremer Gewalt vor Ort über- fordert sind. Hier gibt es bereits Ansätze bei den mobilen Beratungsteams Brandenburg, deren gute Arbeit fortent- wickelt, verbreitert und gefördert werden soll. Damit komme ich zu dem dritten Punkt, auf den ich näher eingehen möchte. Sicher ist es richtig, junge Men- schen nicht aufzugeben, auch dann nicht, wenn sie in eine gewalttätige rechtsextreme Szene hineingerutscht sind. Da aber, wo sich Jugendsozialarbeit zu sehr auf diese Gruppen konzentriert, hat das in einigen Jugendzentren zu unhaltbaren Zuständen geführt: Neonazistischen Bands wurden Übungsräume zur Verfügung gestellt, Gruppie- rungen dieses Spektrums haben demokratisch orientierte Jugendszenen aus Zentren verdrängt und diese als Basis zur Rekrutierung weiterer Anhänger und als Ausgangs- punkt für rechtsextreme Überfälle genutzt. Es ist an der Zeit, diese so genannte Form der akzeptierenden Jugend- arbeit kritisch zu überprüfen und die notwendigen Kon- sequenzen zu ziehen. Vor allem müssen aber in denjeni- gen Gebieten, die von Rechtsextremen dominiert werden, geschützte Räume geschaffen werden, in denen sich de- mokratisch orientierte Jugendszenen aufhalten und ent- wickeln können, ohne dauernd irgendeiner Bedrohung ausgesetzt zu sein. Wir hoffen, mit diesen Maßnahmen die Zivilgesell- schaft aktiv unterstützen und Zivilcourage stärken zu kön- nen. Es kommt dabei auch darauf an, sich für die Werte der Demokratie, Toleranz und Solidarität zu engagieren, sich zu einer Gesellschaft aller hier lebender Menschen und der Vielfalt der kulturellen, religiösen oder sexuellen Minderheiten zu bekennen. Den vielen Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, möchte ich für ihre Arbeit danken. Aber gerade für die Politik ist es jenseits der Appelle an die Gesellschaft notwendig, das eigene Verhalten selbstkritisch zu hinterfragen. Der im- mer wieder festzustellende unsensible Umgang mit den Themen Flucht und Zuwanderung auch in diesem Hause trägt leider negativ zum gesellschaftlichen Klima bei. Hier können und müs sen wir die Vorbildfunktion der Po- litik ernstnehmen und selbst einen Beitrag zu mehr „Fair- ständnis“ leisten. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.):Am Gründon- nerstag diesen Jahres schleuderten zwei junge Männer, 17 und 18 Jahre alt, selbst gebaute Molotow-Cocktails gegen die Synagoge von Erfurt. Beide Täter waren bereits früher mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Beide waren den Behörden wegen des Zeigens verfassungsfeindlicher Symbole, wegen Sachbeschädigung und Körperverlet- zung bekannt; der eine Täter einschlägig vorbestraft; beide sollen die Tat begangen haben, um sich in der Szene einen Namen zu machen. Dieser Fall hat weit über die Grenzen Deutschlands hi- naus Aufsehen erregt. Aber nicht immer wird so breit über rechtsextremistische Straftaten berichtet. Man muss manchmal schon die hinteren Zeitungsseiten lesen, um beispielsweise zu erfahren, dass ein Tunesier von vier Männern in der Straßenbahn in Frankfurt/Oder geschla- gen worden ist; dass im Landkreis Ost-Vorpommern neun vietnamesische Jugendliche von rechtsextremen Schlä- gern überfallen wurden; dass ein 36-jähriger Iraner in der Leipziger Straßenbahn von einem Mann mit Springerstie- feln ins Gesicht getreten und mit einer Stange geschlagen worden ist; dass zwei Jugendliche in Frankfurt/Oder einen polnischen Studenten und wenige Stunden später Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10253 (C) (D) (A) (B) zwei afghanische Asylbewerber mit Knüppeln angegrif- fen haben; dass im brandenburgischen Belzig zwei junge Männer wegen des Brandanschlages auf ein vorwiegend von Vietnamesen bewohntes Haus verhaftet wurden. – Dies sind nur einige Beispiele, die sich zwischen dem 2. und 8. Mai dieses Jahres ereignet haben. Bereits an die- sem kurzen Zeitraum wird deutlich, dass es sich hier nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern dass wir es mit einem Phänomen von höchster gesellschaftlicher Bri- sanz zu tun haben. Die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder belegen dies. Sie belegen aber auch, dass die Taten nicht gleich- mäßig über die Bundesrepublik verteilt sind. Regionaler Schwerpunkt rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten und Konzentrationspunkt des Potenzials gewaltbereiter Rechtsextremisten sind die neuen Bundesländer. Der Rechtsextremismus dort ist jünger und in höherem Maße gewalttätiger und militanter als in den alten Ländern. Da- bei gilt es, an dieser Stelle zwei Punkte ausdrücklich fest- zuhalten: Bei den rechtsextremistischen Erscheinungsfor- men handelt es sich nicht um ein Phänomen ausschließ- lich der neuen Bundesländer. Auch in den alten Ländern besteht nicht der geringste Anlass zur Verharmlosung. Zum anderen geht es in diesem Zusammenhang nicht um irgendwelche regionalen Schuldzuweisungen oder Vor- würfe, sondern um die schlichte Feststellung, dass derar- tige Umtriebe eine Gefahr für unsere Demokratie, für un- sere Gesellschaft insgesamt darstellen. Deshalb ist es auch nicht damit getan, die Taten zu beklagen und in die üblichen Beschwörungsformeln einzustimmen, dass sich Derartiges nicht wiederholen dürfe. Wir müssen vielmehr an die Ursachen, an die Wurzeln des Problems herange- hen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass rechtsex- tremistische Straftäter die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen müssen. Aber wir müssen auch die präventiven Anstrengungen verstärken, um dieser fatalen Entwicklung Herr zu werden. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Ursachen für Rechtsextremismus vielfältig sind und auf Defizite in Ausbildung und Bildung, im Eltern- haus, in fehlender Infrastruktur für Jugendliche, im sozia- len Umfeld und gelegentlich auch auf Gedankenlosigkeit zurückzuführen sind. Ich will ausdrücklich die vielen Ini- tiativen auf lokaler und regionaler Ebene anerkennen, die von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen, kirchli- chen und staatlichen Einrichtungen ergriffen worden sind. Weniger vorzuweisen hat demgegenüber die Bundesre- gierung, deren groß angekündigtes „Bündnis für Demo- kratie und Toleranz“ bisher außer einer eher unglückli- chen und zu Recht kritisierten Veranstaltung am 23. Mai noch nicht viel zu Wege gebracht hat. Wir müssen uns vor allem klarmachen, dass die Ver- teidigung unserer demokratischen Gesellschaft etwas kostet. Mit Reden allein ist es nicht getan. Deshalb schlägt die F.D.P. in ihrem Antrag vor, beginnend mit dem Bun- deshaushalt 2001 einen jährlichen Betrag von mindestens 250 Millionen DM für Projekte zur Förderung der kom- munalen Jugendarbeit, insbesondere für politische Bil- dung, soziales Engagement und für kulturelle Arbeit in nichtstaatlichen Organisationen einzusetzen. Als Träger dieser Projekte sollen insbesondere nichtstaatliche Orga- nisationen in den neuen Bundesländern gefördert werden. Die Länder werden aufgefordert, diese Mittel um ge- meinsam mindestens 50 Millionen DM jährlich aufzu- stocken. Darüber hinaus wollen wir unter anderem im Rahmen von Städtepartnerschaften zwischen westdeut- schen und ostdeutschen Städten Programme für Prakti- kanten und Volontäre auf allen Ebenen der gewerblichen und beruflichen Ausbildung und Tätigkeit auflegen, durch die vor allem Jugendlichen und Berufsanfängern aus den neuen Bundesländern die Möglichkeit geboten wird, in industriellen und gewerblichen Unternehmen ihrer Wahl zu arbeiten oder an einem ihrer Berufsausbildung ent- sprechenden Lehrgang teilzunehmen. Ferner soll der Ju- gendaustausch mit Frankreich und anderen westlichen Ländern für die nächsten Jahre verstärkt Jugendlichen aus den neuen Bundesländern vorbehalten werden. Dadurch können wir den Horizont junger Menschen erweitern und sie aus einer Umgebung herausholen, in der sie glauben, ihre Anerkennung nur aus der Zugehörigkeit zu rechtsex- tremen Gruppen oder so genannten Kameradschaften zu erlangen. Ich hoffe sehr, dass wir in den Ausschussberatungen zu einem breiten Einvernehmen über konkrete Maßnahmen kommen und dass sinnvolle Projekte nicht an der not- wendigen Finanzierung scheitern. Denn wenn wir nicht bald und wirksam handeln, wird unsere Gesellschaft ei- nen viel höheren Preis zu bezahlen haben. Ulla Jelpke (PDS): Schon seit Jahren ist eigentlich vereinbart, über den Anstieg rechter Gewalttaten eine große Debatte im Bundestag zu führen. Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemi- tismus muss endlich ein Schwerpunkt der Arbeit der Bun- desregierung, des Bundestages, der Länderregierungen und der Kommunen sein. Auch der neueste Verfassungsschutzskandal in Thürin- gen gehört zu unserem Thema heute. Dass ein notorischer vorbestrafter rechtsextremistischer Führungskader auf den Gehaltslisten des thüringischen Verfassungsschutzes geführt wird, ist ein Skandal. Statt Rechtsextremisten zu bekämpfen, bevorzugen einige Schlapphüte in diesem Land, zumal in CDU-regierten Ländern, offenbar weiter eine Politik der Bagatellisierung und Verharmlosung. Mit unserem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgeset- zes wollen wir eine Lücke im Strafgesetz schließen. Wenn Rechtsextremisten bei uns – offensichtlich ermuntert durch Haider in Österreich – nationalsozialistische und verbrecherische Organisationen wie die SS und die Waf- fen-SS verherrlichen und dafür nicht verfolgt werden, dann muss der Gesetzgeber einschreiten. Sie alle wissen, was sich mit dem Namen der SS und der Waffen-SS ver- bindet – Massaker wie in Oradour und Lidice, Untaten, die in unseren europäischen Nachbarstaaten und auch bei uns unvergessen sind. In Köln hat die örtliche Presse entsetzt über diese Pa- rolen berichtet. Strafanzeigen wurden gestellt – vergeb- lich. Auch Interventionen aus der jüdischen Gemeinde halfen nichts. Am Ende sah das NRW-Justizministerium keine Möglichkeit, Strafverfahren gegen solche NS-Paro- len einzuleiten. Nicht anders waren die Erfahrungen in Magdeburg, in Elmshorn und anderen Städten. Noch grotesker war es in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10254 (C) (D) (A) (B) Berlin. Hier schritten Polizeibeamte, als sie diese Parolen hörten, sofort ein. Weil sie überzeugt waren, dass Strafta- ten vorliegen, stellten sie die Personalien der Leute fest. Trotzdem wurden am Ende die Ermittlungen eingestellt. Die NPD-Leute stellten sogar, wie ich von der Staatsan- waltschaft erfuhr, ihrerseits Strafanzeige gegen die Berli- ner Polizeibeamten wegen angeblicher „Freiheitsberau- bung“. Ich finde, diesem Spuk muss ein Ende bereitet werden. Diese Rechtslücke muss geschlossen werden. Die Ver- herrlichung verbotener nationalsozialistischer Organisa- tionen darf nicht länger straflos bleiben. Es gibt eine gute Parole, die ich zu diesem Thema auf antifaschistischen Aktionen in letzter Zeit gehört habe. Diese Parole lautet: „Faschismus ist keine Meinung, son- dern ein Verbrechen.“ So ist es. Es geht hier nicht um Mei- nungsfreiheit, sondern um die Verherrlichung von Verbre- chen. Dagegen müssen wir einschreiten. Ein paar Bemerkungen noch zu den anderen Anträgen: Ich lese mit Interesse, dass die F.D.P. jährlich 250 Milli- onen DM zur Förderung der kommunalen Jugendarbeit und der politischen Bildung ausgeben will. Auch die För- derung des internationalen Jugendaustauschs ist sicher richtig. Hier geschieht seit Jahren viel zu wenig. Ich finde aber, wir sollten solche Projekte insbesondere auch für Migrantinnen und Migranten einsetzen. Diese sind Hauptopfer der rechten Angriffe. Bekämpfung von Rechtsextremismus heißt auch: Hilfe, Unterstützung, So- lidarität mit Migrantinnen und Migranten und Flüchtlin- gen in diesem Land. Der Vorsitzende des Städte- und Ge- meindebundes hat kürzlich gefordert, endlich Integra- tionsprogramme nach niederländischem Vorbild in Städten und Gemeinden aus Bundesmitteln zu fördern. Ich finde, das sollten wir unterstützen. Zum Antrag der Regierungsparteien fällt mir nicht viel Gutes ein. Sie behaupten zum Beispiel, wir hätten ein mo- dernes Staatsbürgerschaftsrecht. Das stimmt doch nicht! Ihr neues Staatsbürgerrecht ist, wie alle Zahlen jetzt zei- gen, keine Erleichterung für die 8 Millionen Migrantinnen und Migranten bei uns. Im Gegenteil, diese Menschen werden wieder enttäuscht. Ihre Rechtlosigkeit, ihre Dis- kriminierung bleibt bestehen. Sie sagen weiter, sie woll- ten das Arbeitserlaubnisrecht für Asylbewerberinnen und Asylbewerber „neu gestalten“. Was heißt „neu gestalten“? Schaffen sie endlich das Arbeitsverbot für diese Men- schen ab! Ansonsten finde ich in Ihrem Antrag im We- sentlichen schöne Worte. Ich will noch ein Beispiel nennen: Sie fordern eine „zeitnahe Verfolgung“ rechtsextremistischer Taten durch die Gerichte. Sie wissen doch, dass ihre eigene Regierung noch nicht einmal diese Urteile erfasst! Seit Jahren frage ich jeden Monat nach diesen Urteilen und bekomme keine Ant- wort – weder von der alten Regierung noch von der neuen. So sieht die Wirklichkeit aus. Die Politik des Innenminis- ters zum Thema Rechtsextremismus ist eine Pleite, kon- stantes Nullniveau. Es ist genauso wie beim Bündnis für Toleranz, gegen Extremismus. Schöne Worte, aber keine Taten. Zivilcourage gegen Antisemitismus und Fremden- feindlichkeit erfordert noch immer auch Zivilcourage ge- gen staatliche Stellen, die diese Fremdenfeindlichkeit, die Antisemitismus und Rechtsextremismus bagatellisieren, wenn nicht sogar schützen und verteidigen. Das muss endlich aufhören. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Für eine gemeinsame europäische Position in der Frage der Raketen- abwehr (National Missile Defense) (Tagesord- nungspunkt 11) Uta Zapf (SPD): Mit ihrem Antrag spricht die CDU/CSU-Fraktion ein zentral wichtiges Thema der zukünftigen globalen Sicherheitspolitik an, das uns sicher lange Zeit intensiv beschäftigen wird, weil es europäische und deutsche Interessen vital betrifft aber darüber hinaus weltweit Bedeutung hat für das System nuklearer Abrüs- tung und das nukleare Nichtverbreitungsregime. Auch die Frage des Zusammenhaltens der Atlantischen Allianz ist betroffen. Der Vorwurf allerdings, die Bundesregierung habe eine Stellungnahme vermissen lassen, ist grotesk und der Op- positionsrolle geschuldet. Sowohl der Verteidigungsausschuss als auch der Aus- wärtige Ausschuss haben sich in mehreren ausführlichen Diskussionen aufgrund von Berichten der Bundesregie- rung mit dem Thema beschäftigt! Wenn es denn so einfach wäre, bei diesem komplexen Thema eine Position aus der Tasche zu zaubern! Hätte die Bundesregierung ohne eingehende Konsultationen mit den europäischen Ländern und ohne eingehende Konsul- tationen im Bündnis Stellung beziehen sollen? Und wie hätten Sie geschäumt, wenn ohne Befassung in den Fach- ausschüssen entschieden worden wäre? Worum geht es eigentlich? Vermutlich im Herbst will der amerikanische Präsident über die Aufstellung eines nationalen Raketenabwehrsystems in den USA entschei- den. Es ist möglich, dass die Entscheidung auch erst von einem neuen Präsidenten nach der Wahl gefällt wird. Zweck dieses Abwehrsystems ist es, alle 50 Staaten der USA vor feindlichen ballistischen (nuklearen) Raketen durch ein effektives Abfangsystem zu schützen. Der Aufbau soll in drei Phasen vor sich gehen. Phase 1 (bis 2005) soll in der Lage sein, einige einfache Raketen abfangen zu können, mittels 20 Interzeptoren, die in Alaska aufgebaut werden sollen. Phase 2 umfasst 100 Interzeptoren, die einige auch komplexere Sprengköpfe abfangen können sollen und Phase 3 soll mittels 200 – 250 Systemen an zwei Standor- ten einen Rundumschutz gegen feindliche Raketen aufge- baut haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10255 (C) (D) (A) (B) Diese Abfangsysteme richten sich gegen Angriffe von „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea, Iran und Irak. Zu- grunde liegt eine Bedrohungsanalyse, die besagt, dass ab 2005 diese Staaten in der Lage sein könnten, das Territo- rium der USA mit Massenvernichtungsmitteln anzugrei- fen. Präsident Clinton hat seine endgültige Entscheidung zur Aufstellung dieser Systeme von Bedingungen abhän- gig gemacht; 1. technische Machbarkeit des Systems, 2. Bezahlbarkeit des Systems, 3. Stichhaltigkeit der Bedrohungsanalyse und 4. die Auswirkungen auf Rüstungskontrollregime und die Beziehungen zu Russland. Hinzuzufügen wären auch die Auswirkungen auf die Partner der Allianz. Die ersten beiden Kriterien müssen uns nicht interes- sieren. Sie sind eine Angelegenheit der nationalen Ent- scheidung. Kriterium drei sollte uns interessieren, weil es auch für uns darauf ankommt, mögliche Gefahren zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Allerdings sage ich aus- drücklich, dass wir eine eigene Bewertung und realisti- sche Einschätzung der Risiken vornehmen müssen, ebenso auch eine vernünftige Analyse der Möglichkeiten der Eindämmung dieser Gefahren. Wir müssen die Alter- nativen zu einer Raketenabwehr sorgfältig prüfen. Dies ist umso wichtiger, als die Bedrohungsanalyse nicht einfach übernommen werden kann. Seriöse Wissenschaftler und Analysten in den USA halten sie für weit übertrieben und miotisch. Zwei Beispiele sollen dies erhellen: Nordkorea, ein bettelarmes Land, arbeitet an Trägertechnologie größerer Reichweite: die Taepo-Dong-1-Rakete. Sie ist primitiv und der den Westen überraschende Flugtest im August 1998 war auch nicht erfolgreich; die dritte Stufe versagte. Dennoch gilt dieser Versuch als Alarmsignal und Nord- korea als „Schurkenstaat“, der ein hohes zukünftiges Ri- siko darstellt. Die USA haben Nordkorea ein Moratorium für Raketentests „abgekauft“ und mit dem so genannten „KEDO“-Programm Nordkorea von der Produktion waf- fenfähigen spaltbaren Materials abgehalten. Zurzeit fin- det ein spannender politischer Annäherungsprozess Nord- koreas und Südkoreas statt, der eine Chance böte, Nord- korea in die internationale Staatengemeinschaft ein- zubinden. Beispiel Iran: Im Iran findet von innen her ein Reform- prozess statt, der ebenfalls die Chance der Einbindung Irans in die internationale Staatengemeinschaft eröffnet und einen „Schurkenstaat“ zum Partner wandeln könnte. Diese Prozesse gilt es zu unterstützen! Eine ganz andere und, wie ich meine, wesent- lich,größere Gefahr ist durch eine Raketenabwehr oh- nehin nicht zu bannen: die Gefahr des Terrorismus. Mas- senvernichtungswaffen zu Schiff, zu Land oder im Ruck- sack eingeschleppt, sind mit „Missile Defense“ nicht ab- zuwehren. Angriffe per Internet und Computer auf die sensible Infrastruktur hoch industrialisierter Staaten brau- chen andere Abwehrstrategien! Organisierte Kriminalität und Drogenhandel sowie illegaler Transfer von Klein- waffen unterhöhlen und destabilisieren zivile Kulturen und Demokratien in einem ungeheueren Ausmaß. Was wir brauchen ist eine Kooperation aller zivilisierten Staaten, ein globales Netzwerk der Abwehr dieser Gefahren! Am stärksten wiegen Punkt 4 und Punkt 5. Welche Fol- gen kann NMD, eine nationale Raketenabwehr, auf das strategische Gleichgewicht und das Rüstungskontrollre- gime haben? Welche Folgen für das Verhältnis zu Russ- land? Welche Folgen für die Allianz und die transatlanti- schen Beziehungen? Kernpunkt all dieser Überlegungen ist, dass ein solches Abwehrsystem das strategische Gleichgewicht stört. Der ABM-Vertrag, also jener Vertrag zwischen Russland und USA, der die gegenseitige Verwundbarkeit der früheren Kontrahenten des Ost-West-Konfliktes garantieren soll, gestattet jedem Land eine begrenzte Abwehrfähigkeit, die ihm seine „Zweitschlagsfähigkeit“ erhalten soll. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ garantierte die Ab- schreckung vor einem Angriff, weil jeder Protagonist ver- wundbar blieb. Eine nationale Raketenabwehr verletzt den ABM-Ver- trag. Wenn keine Einigung mit den Russen zu erzielen ist, werden die USA aus dem Vertrag austreten. Ob Einigung oder nicht – beide Versionen können schwer wiegende Folgen für die Nichtvertreibung von Massenvernichtungswaffen – insbesondere Nuklearwaf- fen – haben, das internationale System der Abrüstung und seine Weiterentwicklung erheblich stören oder gar zer- stören, das Verhältnis zu Russland in den Kalten Krieg zurückwerfen und zu einem weltweiten Rüstungswettlauf führen. China würde sich nuklearer Abrüstung völlig verwei- gern und die Modernisierung seiner nuklearer Waffensys- teme mit vermehrter Anstrengung vorantreiben. Indien und Pakistan würden sich in ihrem Schritt zur Atommacht bestätigt sehen und andere Länder des asiatisch-pazifi- schen Raumes könnten folgen. Auch im Nahen Osten könnten neue Nuklearwaffenstaaten entstehen. Das Worst-Case-Szenario heißt: totaler Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes. Unsere Aufgabe aber müsste sein, die wirksamen An- strengungen um weitere Abrüstung zu fördern. In unse- rem Interesse liegt es, mit Russland gemeinsame Sicher- heit zu organisieren. Die Reduzierung nuklearer Waffen in Start II und Start III sind im höchsten sicherheitspolitischen Interesse Eu- ropas. Auch wenn Russland und Europa in einen solchen Schutzschild einbezogen wären, wären die Wirkungen auf das weltweite Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Non- proliferationsregime unabsehbar. Wer wie die CDU/CSU sagt, wir müssen mit unseren Partnern, mit Russland und den USA, eine transatlanti- sche Initiative zur Bekämpfung der Proliferation auf den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10256 (C) (D) (A) (B) Weg bringen, muss dies bedenken. Bei Akzeptanz eines Abwehrsystems setzen wir den Nichtverbreibungsver- trag, die Chemiewaffenkonvention, das Atomteststoppab- kommen und alle anderen Abrüstungs- und Rüstungskon- trollvereinbarungen auf das Spiel. Die USA scheinen entschlossen, eine nationale Rake- tenabwehr zu installieren. Angesichts der möglichen Fol- gen scheinen mir die Überlegungen, ob dadurch Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen, fast belanglos. Mir scheint eher, dass wir uns mit Überlegungen zu einer europäischen Beteiligung auf den Weg begeben, unsere Sicherheit selbst zu unterminieren. Lassen Sie uns bei diesem komplexen Thema eine se- riöse Diskussion führen. Lassen Sie uns nach der besten Lösung suchen für uns und für die Zukunft unserer Kin- der. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Auf einmal kommt ein Thema in der öffentlichen Debatte unseres Landes hoch, das lange Zeit in Europa einfach ignoriert worden ist. Spätestens seit dem Beschluss des US-Kon- gresses, den Aufbau einer nationalen Raketenabwehr (NMD) durch ein Gesetz zu beschließen, spätestens seit Mitte letzten Jahres wäre Zeit gewesen, sich in Deutsch- land und Europa mit diesem Thema auseinander zu set- zen. Doch eine intensive Diskussion darüber hat nicht stattgefunden. Auch darin zeigt sich wieder eine politisch gefährliche Unart, die sich in letzter Zeit wie ein roter – genauer: rot- grüner – Faden durch unsere politische Landschaft zieht. Die unbeschwerte Leichtigkeit des Seins lässt es – genährt von einem Gemisch aus übertriebener Amerikaskepsis, Technologiefeindlichkeit und Unwilligkeit, strategisch zu denken – nicht zu, sich mit Themen intensiv zu beschäfti- gen, die dem politischen Common Sense zuwiderlaufen. Sozusagen als Krönung dieser Empfindlichkeit musste der deutsche Bundeskanzler den amerikanischen Präsi- denten bei den Gesprächen in Berlin auf die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs hinweisen. So recht hatte er aber nichts in der Tasche oder im Hinterkopf, was eine schlüs- sige deutsche Position zum amerikanischen Vorhaben der Raketenrüstung darstellen würde. Die geschickte Initiative des russischen Präsidenten Putin, mit einem Angebot zur gemeinsamen Entwicklung eines Raketenabwehrsystems Clinton in die diplomati- sche Defensive zu bringen, ist ein Meisterstück. Wie weit es tragen wird, wird sich zeigen. Kein Meisterstück ist da- gegen der Versuch unserer Regierung, Europa und das wichtigste mitteleuropäische Land aus dieser Diskussion herauszuhalten und stattdessen die Rolle des Oberbeden- kenträgers zu spielen. Wer nichts außer Bedenken vor- trägt, kann auch auf den Verlauf der Dinge nicht kon- struktiv einwirken. Es ist durchaus Skepsis hinsichtlich der Erfolgschan- cen, aber auch hinsichtlich der sicherheitspolitischen Aus- wirkungen des amerikanischen Projekts angebracht. Nicht angebracht ist es jedoch, sich der Realität dieses Projekts zu verweigern, die positiven Aspekte nicht auf- zunehmen und an ihrer Entfaltung nicht mitzuarbeiten. Wenn die in den letzten Wochen vielfach dargestellte Bedrohungsanalyse, wie sie der „Rahmsfeld-Report“, aber auch der Proliferationsbericht des BND ausführen, zutrifft, dann ist die Frage einer Abwehr gegen solche Be- drohungen legitim. Für uns Europäer ergeben sich vor allen drei wichtige Aspekte: Erstens. Wie können wir uns vor Bedrohungen, insbe- sondere der südlichen Peripherie unseres Kontinents, schützen? Zweitens. Wie können wir eine Abkoppelung innerhalb der NATO in Zonen unterschiedlicher Sicherheit verhin- dern? Drittens. Wie können wir Europäer unsere strategi- schen Interessen im Dialog mit Russland und den USA bewahren? Diesen Fragen muss man sich stellen. Bis heute ver- missen wir ein Konzept der Regierung, das auf diese Fra- gen Antwort gibt. Ein solches Konzept könnte mehrere Elemente beinhalten. Im Sinne einer Anti-Proliferations- Initiative sollte man darauf hinzuwirken, den strategi- schen Dialog zur effizienten Weiterentwicklung der ver- traglichen Rüstungskontrolle gemeinsam mit den USA nachhaltig zu unterstützen, gleichzeitig die Bereitschaft zur technologischen und militärischen Kooperation zu er- klären für den Fall, dass eine überzeugende Rüstungs- kontrolllösung nicht durchsetzbar sein sollte auf eine ein- heitliche europäische Position hinzuwirken und Russland in solche Überlegungen mit einzubeziehen. Wir Europäer können uns der Frage eines Schutzschir- mes vor Raketen, die auch unser Territorium potenziell bedrohen, nicht entziehen. Allein die Existenz solcher Waffen schränkt Europa in seiner politischen Handlungs- fähigkeit ein. Die damit verbundene Diskussion ist des- halb von zentraler Bedeutung für unsere Sicherheit. Diese Diskussion nicht angestoßen zu haben und – nachdem sie von uns angestoßen wurde – nicht angemessen führen zu wollen, ist ein strategischer Fehler der Sicherheitspolitik dieser rot-grünen Regierung. Ich fordere sie auf, meine Damen und Herren von der Koalition, dieses Versäumnis zu korrigieren. Stimmen auch Sie unserem Antrag zu! Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):Die ameri- kanischen Pläne einer nationalen Raketenabwehr haben eine sicherheitspolitische Diskussion ausgelöst, in der die europäischen NATO-Mitglieder bislang keine gemein- same Position gefunden haben, ja nicht einmal den Ver- such unternommen haben, ihre vitalen Interessen gemein- sam zu definieren. Wir sollten uns davor hüten, NMD und TMD als technologische Muskelspiele unserer amerika- nischen Verbündeten zu betrachten, mit denen sie als ein- zig verbliebene Großmacht ihre militärische Überlegen- heit dokumentieren wollen. Die Amerikaner haben eine intensive sicherheitspolitische Bedrohungsanalyse vorge- nommen. Sie betrachten Raketen mit größerer Reich- weite, die von Schwellenländern wie Iran, Pakistan, In- dien, Nordkorea oder auch Libyen entwickelt werden und eines Tages auch eingesetzt werden können, zu Recht als eine reale Gefahr. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10257 (C) (D) (A) (B) Wenn davon eine Bedrohung für den amerikanischen Kontinent ausgeht, dann gilt das umso mehr für Europa. Der Proliferationsbericht des Bundesnachrichtendienstes, der vor einigen Monaten erschienen ist, geht davon aus, dass der Irak schon in wenigen Jahren über Trägersys- teme verfügt, in deren Reichweite die Bundesrepublik Deutschland fast vollständig fällt. Deshalb müssten wir eigentlich sensibler als die Amerikaner für solche Ent- wicklungen sein, weil wir den genannten Ländern näher liegen. Die Debatte über ein Raketenabwehrsystem bringt sicherheitspolitisch eine neue Qualität, zu der die europä- ischen Partner eine einheitliche Position entwickeln müs- sen. Im Zeitalter des Kalten Krieges beruhte Sicherheit auf der gegenseitigen Abschreckung, das heißt auf dem stra- tegischen Gleichgewicht von Offensiv-Waffen. Diese si- cherheitspolitische Ordnung setzte bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Rationalität voraus. Die meisten Schwellenländer, von denen heute eine neue Form der Be- drohung ausgeht, sind aber politisch instabil und in ihrer politischen Führung unberechenbar. Deshalb wird in den Augen unserer amerikanischen Partner neben der Präven- tion und der Abschreckung auch die Verteidigungsfähig- keit gegen irrationale Formen der Aggression zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Sicherheitspolitik. Natürlich können wir innerhalb der NATO keine Zo- nen unterschiedlicher Sicherheit akzeptieren. Deshalb dürfen wir zu NMD nicht schweigen, wir müssen auf die Diskussion in Amerika einwirken und unsere Interessen artikulieren. Das heißt zuallererst: Wenn die Vereinigten Staaten ein Raketenabwehrsystem installieren, muss ein vergleichbarer Schutz für Europa entstehen, um die Bünd- niskohäsion zu wahren, die für Amerikas eigene Sicher- heit unverzichtbar ist. Es ist auch unser Interesse, einen Rüstungswettlauf in Asien zu vermeiden. Deshalb müssen wir uns als Europäer gemeinsam engagieren und die De- batte über NMD als Hebel für weltweite sicherheitspoliti- sche Absprachen nutzen. Dabei muss Europa eine aktive Rolle spielen und mit einer Stimme sprechen. Sonst wer- den wir sicherheitspolitisch marginalisiert. Wir fordern die Bundesregierung auf, mit unseren Partnern schnellst- möglich eine gemeinsame europäische Strategie in der Frage der Raketenabwehr zu entwickeln. Wir sind gegen eine kurzfristige Entscheidung des am- tierenden amerikanischen Präsidenten noch vor den Prä- sidentschaftswahlen im November. Dann müssen wir den Vereinigten Staaten aber umgehend signalisieren, dass wir uns an der Weiterentwicklung des Rüstungskontroll- regimes und an der Debatte über die neue Bedeutung der Verteidigung für die globale Sicherheitsordnung kon- struktiv beteiligen werden. Die Bundesregierung muss aktiv werden, damit wir in der Frage der Raketenabwehr nicht als sicherheitspolitische Verlierer dastehen. Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): In Sachen US- amerikanischer Pläne zu einem Nationalen Raketenab- wehrsystem hat sich die Bundesregierung zu spät positio- niert. Frühzeitig hätte sie unserem großen Bündnispartner USAihre Bedenken signalisieren müssen, nicht öffentlich und oberlehrerhaft, sondern diplomatisch geschickt, aber bestimmt. So hätte eine immer offensichtlicher werdende Verhärtung der Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika verhindert werden können. Außenminister Fischer ist eben nicht Genscher oder Kinkel, nicht einmal zu einer Miniaturausgabe reicht es. Zunächst ist es angebracht, zumindest zwei Ebenen der Betrachtung deutlich auseinander zu halten: Die erste ist eine militärische und – weil es sich um das Nationale Ra- ketenabwehrsystem handelt – eine zuvorderst US-ameri- kanische. Niemand – und dies umfasst ganz ausdrücklich auch den Deutschen Bundestag – kann unseren amerika- nischen Freunden und Partnern das Recht abschneiden, ein eigenes auf nationalen Sicherheitsperzeptionen ruhen- des Raketenabwehrsystem aufzubauen. Sehr wohl darf, ja geradezu muss es aber Aufgabe und wohlverstandene Ver- pflichtung von Partnern und insbesondere von Freunden sein, auf einige Punkte kritisch hinzuweisen und einen zu- sätzlichen, in unserer Konstellation eher europäischen Blickwinkel einzufügen. Damit komme ich nicht nur zur politischen Dimension des Projektes, sondern auch zu den dezidierten Versäum- nissen der gegenwärtigen, grünen Außenpolitik. Die wichtigsten Konsultationen müssen den NATO-Partnern, insbesondere den USA gelten. Denn in Europa darf es keine Zonen unterschiedlicher oder gar divergierender Si- cherheit geben. Die Entkopplung dieser Sicherheitszonen würde unweigerlich zu einer Schwächung der NATO und damit auch ihrer Glaubwürdigkeit nach außen führen. Unilaterale, mit den Bündnispartnern nicht abgestimmte und eher innenpolitisch orientierte Alleingänge können auch zu Einengungen der außenpolitischen Spielräume der Amerikaner selber führen. Hier müssen wir den Amerikanern auch verdeutlichen, dass die Abrüstungsprozesse der vergangenen Jahre zu fragil sind, um leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden. Lassen Sie mich nur an den ABM-Vertrag des Jahres 1972 oder die aktuelle Ratifizierung des START-II-Vertrages mit Präsident Putin erinnern. Für Deutschland muss es da- rum gehen, einerseits das Momentum der von Putin in die Diskussion gebrachten Vorschläge zu weltweiter Abrüs- tung zu nutzen und andererseits die zur Zeit stattfindende Diskussion zu einer wirklichen Zukunftsfähigkeit des ABM-Vertrages zu nutzen. Aber, Herr Minister Fischer: Da ist die Entfaltung von Initiativkraft und aktives Zugehen auf unsere Partner ge- fordert. Diplomatische Außenpolitik ist gefordert und nicht medienorientierte. Undifferenzierte Urteile über Schurkenstaaten - lassen Sie mich einräumen, dass ich schon von dem Begriff nicht viel halte - verstellen da eher den Blick auf eine realistische Einzelbetrachtung der be- troffenen Staaten. Es kann eben nicht im Interesse einer kohärenten Sicherheitsanalyse sein, den Irak, Libyen und Nordkorea in einem Atemzug zu nennen. Es ist vielmehr .die Aufgabe von Minister Fischer end- lich dafür zu sorgen, dass die EU mit Russland und unse- ren osteuropäischen Nachbarn in eine Analyse der poten- ziellen Bedrohungen der Sicherheit Europas eintritt. Die deutsch-französischen Konsultationen in Mainz morgen bieten da einen ersten, guten Anlass. Verschließen Sie also Ihre Augen nicht vor Risiken und Bedrohungen, die nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10258 (C) (D) (A) (B) so monströs daherkommen, wohl aber größte Gefahren- potenziale für ganze Zivilisationen in sich bergen können. Basispazifistische Bedenkenträgerei kann sich überaus gefährlich für unser Land auswirken. Zusammenfassend kann das gegenwärtige Vorgehen der Regierung nur als verspätet, zögerlich und der Kom- plexität des Problemfeldes nicht angemessen bezeichnet werden. Es ist höchste Zeit für die Bundesregierung, die die internationale Abrüstung zu einer ihrer höchsten außenpolitischen Prioritäten erklärt hat, endlich selbst ak- tives Engagement an den Tag zu legen. Dies setzt aller- dings voraus, dass der Außenminister zunächst selbst weiß, was er will. Heidi Lippmann (PDS): Die Auswirkungen, die die amerikanischen Planungen für den internationalen Welt- frieden haben können, sind kaum abschätzbar. Angesichts dessen sollten der Deutsche Bundestag und die Bundesre- gierung alles in ihrer Macht Stehende tun, um Druck auf die USA auszuüben, von ihren Plänen Abstand zu neh- men. Nicht nur würde der ABM-Vertrag zwischen Russland und den USAeinseitig aufgekündigt und seine Ergebnisse gefährdet, sondern Militärexperten gehen davon aus, dass NMD weltweit ein neues Wettrüsten zur Folge haben wird. Obwohl die diesjährige Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag ein in Ansätzen durchaus positives Ergebnis vorzuweisen hat, ist die Befürchtung, NMD würde den gesamten nuklearen Abrüstungsprozess nicht nur zum Stillstand bringen, sondern die Neuent- wicklung von Atomwaffen, konventionellen Waffensyste- men, aber auch Weiterentwicklungen im biologischen und chemischen Waffenbereich nach sich ziehen, mehr als be- rechtigt. Dass sich die amerikanischen Pläne weniger gegen die Staaten richten, die insbesondere von den Amerikanern als „Schurkenstaaten“ bezeichnet werden, sondern in ers- ter Linie gegen China und Russland, liegt auf der Hand. Die Wahrscheinlichkeit, dass – vorausgesetzt Nordkorea, der Iran, Irak oder andere so genannten Rogue-States ver- fügten tatsächlich über die technologischen Möglichkei- ten – einer dieser Staaten die USAmit Interkontinentalra- keten angreifen würde , ist überaus gering, denn jeder mi- litärische Angriff eines Staates gegen die USA wäre ein staatlicher Selbstmord. In einem Gespräch am Rande der UN-Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag Anfang Mai hat der chinesische Vertreter bereits die Konsequenzen Chinas aus der Er- richtung eines Raketenabwehrsystems der USA deutlich zum Ausdruck gebracht, nämlich die Entwicklung neuer Atombomben, neuer Atomwaffentests und der Wieder- einstieg in die Produktion von waffenfähigem Nuklear- material. Einer nuklearen Aufrüstung Chinas würde nicht nur Indien folgen, sondern natürlich auch Pakistan. Ange- sichts der Krisenstimmung in Asien und der vielfältigen ethnischen Konflikte wären die Folgen für die internatio- nale Sicherheit katastrophal. Der Einstieg in eine neue Rüstungsspirale würde auch dazu führen, dass der Menschheit nicht unbeträchtliche Ressourcen entzogen würden, die für die Bearbeitung der zunehmenden globalen Probleme benötigt werden. Milli- arden von Dollars, die in neue Waffen investiert werden, können nicht mehr für öffentliche Wohlfahrtsprogramme, für die Bekämpfung von Armut und Umweltkatastrophen aufgewandt werden. Diese Fehlleitung von Ressourcen trägt dazu bei, die Krisenpotenziale in der Welt zu ver- mehren, und damit steigt auch die Gefahr, dass bewaff- nete Konflikte zunehmen. Der auf rüstungspolitische Ant- worten fixierte Wunsch nach absoluter Sicherheit ver- schärft somit nur die Sicherheitsprobleme. Ein derartig konfrontativer Ansatz wird nicht dazu bei- tragen, die Probleme der Welt im 21. Jahrhundert zu lö- sen. Statt eines internationalen Wettrüstens ist verstärkte internationale Kooperation geboten, wenn die wirtschaft- lichen, sozialen, ökologischen und entwicklungspoliti- schen Fragen der Gegenwart und Zukunft angegangen werden sollen. Es geht in der Welt von heute und morgen um gemeinsame Sicherheit. Deshalb sollten die Vereinten Nationen gestärkt werden. Deshalb bedarf es eines Inte- ressensausgleichs zwischen den reicheren und den ärme- ren Nationen ebenso wie internationaler Vereinbarungen über die Reduzierung der Rüstungsgefahren. Der Versuch, sich mit dem Aufbau einer Raketenab- wehr „unangreifbar“ machen zu wollen, muss als der Ver- such der einzig verbliebenen Weltmacht interpretiert wer- den, jederzeit unilateral agieren zu können. Der Verlust an Einflussmöglichkeiten derjenigen, die keine oder nur we- nig Atomwaffen haben, wird diese zu neuen Rüstungs- programmen animieren, weil sie fürchten müssen, durch eine noch „unangreifbarer“ gewordene Macht noch stär- ker in ihren Einflussmöglichkeiten beschnitten zu wer- den. Die Welt wird durch diese Konfrontationspolitik nicht friedlicher und sicherer, im Gegenteil. Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie ge- genüber der Regierung der Vereinigten Staaten von Ame- rika die strikte Ablehnung des NMD-Vorhabens und der einseitigen Aufkündigung des ABM-Vertrags deutlich macht. Sie sollte sich bei den europäischen NATO-Part- nern und innerhalb der Europäischen Union für eine Ini- tiative gegen das NMD-Vorhaben und für das Festhalten am ABM-Vertrag einsetzen. Und die Bundesregierung sollte sich für neue nukleare und konventionelle Abrüs- tungsverhandlungen unter Einschluss der USA, der NATO, der EU, Russlands und Chinas einsetzen, mit dem Ziel weiterer vertraglicher Beschränkungen sämtlicher Bestände an Personal und Waffen aller Kategorien und ei- ner Verbesserung der Rüstungskontrollmechanismen. Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Das von amerikanischer Seite vorangetriebene Projekt einer nationalen Raketenabwehr ist in diesen Monaten Gegenstand intensiver Erörterungen innerhalb der NATO und in zahlreichen bilateralen Kontakten, zuletzt beim Besuch von US-Präsident Clinton in Deutschland. Die Bundesregierung hat hierzu eine klare Position: Es wäre illusionär und politisch deshalb falsch, den Verei- nigten Staaten das Recht zu bestreiten, die Maßnahmen zu treffen, die sie für die Gewährleistung ihrer Sicherheit für zwingend erforderlich halten. Es ist eine nationale Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10259 (C) (D) (A) (B) Entscheidung der USA, aber sie hat weitreichende inter- nationale Auswirkungen. Wir dürfen daher erwarten, dass die USA die vielfältigen Implikationen einer Entschei- dung über ein NMD-System für ihre Verbündeten ange- messen berücksichtigt. Aus Sicht der Bundesregierung kommt es auf drei Kernpunkte an: Erstens. Das dichte Netz nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung muss erhalten und gestärkt werden. Zweitens. Neue Rüstungswettläufe müssen vermieden werden. Drittens. Der Zusammenhalt des Atlantischen Bünd- nisses muss gewahrt bleiben. Eine Realisierung von NMD stünde im Widerspruch zu den geltenden Regelungen des ABM-Vertrags von 1972, der Raketenabwehrsysteme eng begrenzt. Eine einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die USA könnte unabsehbare Folgen für das gesamte Netzwerk der ver- traglichen Rüstungskontrolle haben, das gerade Europa einen großen Zugewinn an Sicherheit gebracht hat. Die europäischen Staaten sind nicht ABM-Vertragspartner, wären aber von einer solchen Entwicklung in erheblichem Maße betroffen. Wir begrüßen deshalb die jüngsten Ge- spräche zwischen den USA und Russland, insbesondere die Gemeinsame Erklärung über den Erhalt der strategi- schen Stabilität und die Vereinbarungen über weitere Schritte der Zusammenarbeit und zur Reduzierung nu- klearer Waffen. Entscheidende Fragen im Hinblick auf die auch von den USA angestrebte einvernehmliche Anpas- sung des ABM-Vertrags bleiben allerdings auch nach dem Gipfel in Moskau weiter offen. In den Vereinigten Staaten wächst die Aufmerksamkeit dafür, dass wichtige Nuklearstaaten das geplante NMD-System als gegen sich gerichtet empfinden. Ein neues Wettrüsten, etwa in Asien oder im Weltraum, oder eine Beschleunigung der Proliferation von Massenver- nichtungswaffen als Folge einer amerikanischen Statio- nierungsentscheidung würde weltweit weniger statt mehr Sicherheit schaffen. Zudem kann ein solches Raketenab- wehrsystem, selbst wenn es sich als technisch realisierbar erweisen sollte, nicht das gesamte Bedrohungsspektrum abdecken. Eine mögliche Entscheidung für ein NMD-System sollte deshalb nach Auffassung der Bundesregierung be- gleitet werden von einem starken Signal für nukleare Ab- rüstung – vor allem durch ein START-III-Abkommen – und von Initiativen zur Nichtverbreitung von Massenver- nichtungswaffen. Zu solchen Initiativen wird Europa sei- nen Beitrag leisten, aber auch die USA und Russland tra- gen hierfür maßgebliche Verantwortung. Für uns bleibt auch in Zukunft die Verhinderung der Proliferation durch politische und vertragliche Instrumente prioritär. All diese komplexen Fragen, die auch den Zusammen- halt des Bündnisses berühren, werden zwischen europä- ischen und amerikanischen Partnern offen und vertrau- ensvoll diskutiert. Vorrangiges Ziel bleibt unsere gemein- same Sicherheit innerhalb der Nordatlantischen Allianz. Eine Entscheidung des amerikanischen Präsidenten über eine Dislozierung des geplanten NMD-Systems ist noch nicht getroffen. Es ist auch nach dem russisch-amerikani- schen Gipfel nicht klar, wann sie getroffen werden wird. Die Bundesregierung wird die deutschen Sicherheits- interessen in enger Abstimmung mit ihren europäischen Partnern auch weiterhin nachdrücklich in den Meinungs- bildungsprozess auf beiden Seiten des Atlantik einbrin- gen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Förde- rung des Radverkehrs (Tagesordnungspunkt 13) Heide Mattischeck (SPD): Radfahrer und Radfahre- rinnen sind eine zähe Spezies: Trotz aller konzentrierten Bemühungen in den meisten deutschen Städten und Ge- meinden ist es noch nicht gelungen, Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen endgültig auszurotten. Im Gegenteil: Obwohl sie in den meisten Städten widrigste Umstände vorfinden, um sich im Straßenverkehr zu behaupten, wächst die Zahl der Radler und Radlerinnen. Das ist gut so. In unserer von Werbung geprägten und auf Außenwir- kung bedachten Zeit ist es auch gut festzustellen, dass das Image der Radler und Radlerinnen immer besser wird: Sie sind sportlich, dynamisch, körperbewusst, individualis- tisch, wendig. Sie bewegen sich energiesparend, umwelt- freundlich, leise. Leider verderben ein paar Rowdys das gute Image. Wer an den Wochenenden oder den späten Nachmitta- gen auf den Landstraßen unterwegs ist, dem begegnen im- mer häufiger drahtige Herren ab 50, die in den Trikots der berühmtesten Radsport-Förderer sich knackig und fit hal- ten. Wenn wir die gesamtwirtschaftlich positiven Effekte des Fahrradfahrens auflisten, dürfen wir gerade den letz- ten Punkt nicht unter den Tisch fallen lassen: eingesparte Kosten im Gesundheitssystem. Dazu kommen die klassi- schen positiven Faktoren des Radfahrens als Wirtschafts- faktor: Umsatzsteigerungen bei den Reiseveranstaltern, in der Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe und nicht zuletzt 8 Milliarden DM Umsatz bei Herstellern, Handel und Werkstätten. Vor diesem Hintergrund sollte man meinen, der Fahr- radverkehr würde auf allen Ebenen, von Bund, Ländern und Gemeinden, seit Jahren mit größtmöglichem Wohl- wollen und bester Förderung unterstützt. Das ist leider nicht der Fall. Umso mehr begrüße ich, dass jetzt die Bundesregie- rung eine Bestandsaufnahme vorgelegt hat zur Bedeutung und zur weiteren Förderung des Fahrradverkehrs. Autoverkehr ist schon heute ein perfektes System, wie eine Darstellung im Bericht der Bundesregierung zeigt. Vom Radverkehr heute zum „Radverkehr als System“ ist noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10260 (C) (D) (A) (B) Ich begrüße es deshalb sehr, dass die jetzige Bundesre- gierung trotz der besonderen Zuständigkeit der Kommu- nen bei Investitionen und anderen Infrastrukturmaßnah- men (Abstellplätze, Wegweisung usw.) auch die beson- dere Verantwortung des Bundes hervorhebt: Es gibt seit dem letzten Jahr einen Bund-Länder-Arbeitskreis, der auch den Sachverstand von Verbänden wie dem ADFC und dem VCD abfragt und mit einbezieht. Unser Ziel muss sein, in einer gemeinsamen Anstrengung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden das Fahrrad zu einem Be- standteil des gesamten Verkehrssystems zu machen. Es gibt noch viel zu tun: Es fehlen zum Beispiel Me- thoden zur standardisierten Potenzialabschätzung. Weit- gehend unerforscht sind auch die Voraussetzungen für die Nutzung/Nichtnutzung des Fahrrades vor allem als All- tagsverkehrsmittel. Der Hinweis auf Wetter und Topogra- phie reicht hier nicht aus. Das Wetter ist in Berlin nicht schlechter als in Münster, Berge sind hier nicht höher als in Erlangen. Deshalb wird die Bundesregierung einschlä- gige Forschungsprojekte ausschreiben. Eine Anhörung im Ausschuss im Herbst kann ebenfalls weitere Erkenntnisse bringen – besonders auch aus den Nachbarstaaten wie den Niederlanden und Dänemark. Lassen Sie mich noch zu drei Punkten speziell Stellung nehmen, erstens zu investiven Maßnahmen zur Verbesse- rung der Radwege: Der Bau von Radwegen an Bundes- straßen in der Baulast des Bundes muss fortgesetzt wer- den; denn wir wollen eine fahrradfreundliche Infrastruk- tur, die das Radfahren überall möglich macht. Allerdings liegt die Hauptlast bei Ländern und Kommunen. Wir wis- sen, dass man schon mit relativ geringem Aufwand viel für die Fahrradinfrastruktur erreichen kann. Zweitens zum Rechtsrahmen: Ohne Ge- und Verbote kommen wir leider nicht aus. Die StVO und die StVZO sind auch für den Fahrradverkehr von Bedeutung. Eine Öffnung von bestimmten Einbahnstraßen – Tempo-30- Zonen – als Dauerregelung würde ich für sehr gut halten. Drittens zur Verkehrssicherheit: Fahrradfahrer sind be- sonders unfallgefährdet (Kinder unter 15 Jahren, ältere Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen). Zwar sind die Unfallzahlen rückläufig. Dennoch bleibt auf der Tages- ordnung: Die Verbesserung der Verkehrssicherheit muss verstärkt werden. Der nächste Bericht des BMVBWzum Fahrradverkehr sollte dem psychologischen Aspekt des Knackigkeitsge- winns durch Fahrradfahren bei Herren über 50 mehr Auf- merksamkeit widmen. Das würde die öffentliche Auf- merksamkeit für den Bericht wahrscheinlich steigern und einen besseren Debattenplatz sichern. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Diese erste Bestandsaufnahme des Radverkehrs in Deutschland geht auf eine Initiative der CDU/CSU/F.D.P.-Bundes- regierung aus dem Jahr 1994 zurück. Seit der Zeit hat sich viel zur Förderung des Fahrradverkehrs getan. Bis dahin waren 6 200 km Radwege an Bundesstraßen fertigge- stellt: Die neue Schwerpunktbildung Anfang der 90er- Jahre hat dafür gesorgt, dass es jetzt, im Jahr 2000, 15 000 km Radweg an Bundesstrassen gibt. Seit der Zeit wurden die Mittel im GVFG auf 1 Milli- arde DM jährlich aufgestockt und die Fördermöglichkei- ten auch auf die Schaffung unter anderem von Bike-and- Ride-Anlagen erweitert. Seit der Zeit gilt für die DB AG die Regelmitnahme für Fahrräder. Sie betrug 1991 818 000 im Schienenpersonennahverkehr und verdop- pelte sich bis 1998 auf 1,6Millionen. In den Fernzügen ist sie von 200 000 Anfang der 90er-Jahre auf 600 000 im Jahr 1998 angestiegen. Seit der Zeit hat der Fahrradtourismus, bedingt auch durch verstärkte Initiativen der Länder und Gemeinden, zur Verdoppelung der Zahlen geführt, sodass zum Bei- spiel Schleswig-Holstein mit einem Marktanteil von 11 Prozent noch vor den Niederlanden mit 10 Prozent und Spanien mit 7,5 Prozent führend wurde. Die Bundesför- derung hat auch in anderen Bundesländern zu einem deut- lichen Zuwachs geführt. Seit der Zeit ist es zu einer grundlegenden Novellie- rung der StVO im Sinne von mehr Sicherheit für den Rad- verkehr gekommen. In 7 Punkten zum Radverkehr ist die StVO 1997 zu einer wirklichen Unfallverhütungs- vorschrift erweitert worden. Diese Maßnahmen haben mit dazu geführt, dass die Anzahl von Radfahrunfällen von 74 000 im Jahr 1993 auf 68 879 im Jahr 1998 verringert werden konnte. Aber es muss noch mehr getan werden. Fahrräder haben keine Knautschzone. Im Konflikt mit dem motorisierten Verkehr ist der Radler immer der Schwächere – im Verhältnis zum Fußgänger jedoch der Stärkere. Bei allen Überlegungen zur Förderung des Fahr- radverkehrs haben die Fragen der Verkehrssicherheit im Vordergrund zu stehen. Besonders Radfahrer im Kindes- alter (15 373 Kinder unter 15 Jahren waren im Jahr 1998 betroffen) und radfahrende Seniorinnen und Senioren (237, das heißt 37 Prozent aller getöteten Fahrradfahrer waren über 65 Jahre alt) sind hohen Unfallrisiken ausge- setzt. Fast 90 Prozent aller Fahrradunfälle geschehen in- nerorts. Die präventiven Verkehrssicherheitsmaßnahmen durch Kindergärten, Schulen und den Verkehrssicher- heitsverbänden bis hin zum ADFC haben ganz wesentlich zu einer größeren Sicherheitsorientierung beigetragen. Doch diese Herausforderung bleibt eine Daueraufgabe, nimmt man die Unfallentwicklung zum Maßstab. Mehr Attraktivität des Fahrradverkehrs, mehr Mobi- litätsraum für das Rad, mehr Schwerpunktsetzung für 60 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer in der Bun- desrepublik bleiben eine Aufgabenverantwortung für Bund, Länder und Kommunen gemeinsam, auch wenn in der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern der Fahrradverkehr seine verkehrspolitische Begleitung vor Ort haben muss. Ein nationales Fahrradforum mit Koor- dinierungs- und Orientierungsfunktionen als Bindeglied zwischen den verschiedenen Ebenen wäre ein geeigneter Schritt zu einer gesamtheitlichen Radverkehrspolitik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet, dass aus- gehend von der vorgelegten Bilanz noch in diesem Jahr folgende Maßnahmen und Initiativen von der Bundesre- gierung vorgenommen werden – dafür legt die Union ei- nen 10-Punkte-Plan vor –: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10261 (C) (D) (A) (B) Erstens. Wir brauchen ein mit den Bundesländern, den Städte-, Gemeinde- und Landkreisen abgestimmtes Ge- samtkonzept zur Förderung des Fahrradverkehrs in der Bundesrepublik. Zweitens. Wir sind für die Schaffung eines Deutschen Fahrradforums unter Einbeziehung der politischen wie gesellschaftlichen Verantwortungsträger aus diesem Be- reich. Drittens. Wir halten steuerpolitische Maßnahmen für die Förderung des Radverkehrs für sinnvoll, ähnlich wie sie derzeit in den Niederlanden bereits mit Erfolg prakti- ziert werden. Dazu gehört auch die Anhebung der Kilo- meterpauschale für radfahrende Pendler, die derzeit 14 Pfennig für Radfahrer und 70 Pfennig für Autofahrer beträgt. Viertens. Wir erwarten von der rot-grünen Bundesre- gierung ein mit allen abgestimmten Maßnahmenkatalog, wie das Unfallrisiko für Radfahrerinnen und Radfahrer weiter reduziert und das Sicherheitsniveau angehoben werden kann. Fünftens. Wir plädieren für eine erste Ideenskizze zur Schaffung eines bundesweiten Radwegenetzes, zu der auch eine Vereinheitlichung der Radverkehrsweisung gehören sollte. Sechstens. Wir bestehen auf der Rücknahme der Öko- steuer für den ÖPNV. Die starke Mehrkostenbelastung ist kontraproduktiv zur Absicht, auf dem Weg zur Arbeit oder Ausbildung im Umweltverbund eine umweltverträgliche Alternative zum Auto attraktiv zu gestalten. Siebtens. Wir sehen nicht ein, dass im Gegensatz zu den Vorjahren weniger für das GFVG ausgegeben wird und bleiben bei unserer Auffassung, jährlich 1 Milliarde DM zu investieren. Nur dann ist der Bau von Radwegen gesichert. Achtens. Wir regen eine Erweiterung der vorgesehenen zwei Bundesradtouren um vier weitere an, die wie zum Beispiel der Ostsee-Wanderweg eine touristische Bedeu- tung haben. Neuntens. Wir meinen, dass bei dem bereits erfreuli- chen Bestand an Radwegen und den vielen vernetzten Radwanderrouten der Fahrradtourismus zum Schwer- punktthema des Auslandsmarketing gemacht werden muss. Zehntens. Wir sehen noch wesentlichen Ausbauspiel- raum im Dienstleistungsangebot auf den Bahnhöfen und bei der DBAG, um auch hier die Umsteigepotenziale vom Auto auf das Rad noch mehr auszuschöpfen. Diese Maßnahmen sind notwendig, weil die Bundesre- gierung in ihren Vorstellungen zur Fahrradförderung bei Lippenbekenntnissen bleibt, nur in einem einzigen Punkt wirklich konkret wird. In Zukunft soll aus der beidspuri- gen Nutzung von Einbahnstraßen für Radfahrer ein Dau- errecht werden. Jedoch gibt es im Fahrradbericht keine Angaben zum Radwegeausbau, keine Hinweise zur Steu- erentlastung für Radfahrerinnen und Radfahrer, keine Perspektiven für den Fahrradtourismus in Deutschland, keine Mittelanhebung für die Verkehrssicherheit für Rad- ler. Im Gegenteil: Senkungen der Geldbeträge. Nein, diese Regierung hat keine ihrer Zusagen an Radfahrer vor der Wahl eingehalten. „Versprochen – gebrochen“ gilt lei- der auch hier. Dabei bietet der Radverkehr große Umsteigepoten- ziale, denn fast 50 Prozent aller Wege, die von Pendlern mit dem Auto zurückgelegt werden, sind kürzer als 5 km. Am Gesamtaufkommen in unserem Land beträgt der An- teil des Radverkehrs circa 12 Prozent, in den Niederlan- den dagegen über 27 Prozent. Wer gegen umweltbelas- tenden Verkehr ist, wer für Verkehrsvermeidung ist, der muss mehr auf das Fahrrad setzen. Holland und auch Dä- nemark zeigen, welche Ziele zu erreichen sind. Die Förderung des Radverkehrs in Deutschland ist von der von Union und FDP geführten Regierung beispielhaft und mit Konzept betrieben worden. Dieser Maßstab sollte auch in Zukunft gelten. Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fahrradfahren ist energiesparend und um- weltfreundlich, ja es ist schlichtweg ideal auf kurzen We- gen, in der Stadt und auf dem Land. Trotzdem ist das Fahr- rad in Deutschland bis heute ein bei weitem unterschätz- tes Verkehrsmittel – mit den Worten der Bundesregierung: „Der Verkehrsträger Fahrrad hat ein deutlich höheres Po- tenzial als sein derzeitiger Anteil am Gesamtpersonenver- kehr von 11 Prozent. Nach seriösen Schätzungen lassen sich in Ballungsgebieten bis zu 30 Prozent der Pkw-Fahr- ten auf den Radverkehr verlagern.“ Deshalb ist eine Fahrraddebatte im Bundestag gut und notwendig. Wir sollten nicht immer nur über Bahn und Auto debattieren. In den Niederlanden hat heute das Fahrrad einen Anteil von 27 Prozent an allen Wegen, in einzelnen Städten bis zu 55 Prozent. Werte, die zumindest bei günstiger Topo- graphie auch in Deutschland erreichbar sind! Die Fahr- radstadt Münster hat einen innerstädtischen Radverkehrs- anteil von über 40 Prozent. In Troisdorf nahm der Rad- verkehr durch ein Modellprojekt binnen acht Jahren um 30 Prozent zu. Halten wir also fest: Das Potenzial des Fahrrades als Alltags- und Freizeitverkehrsmittel wird massiv unter- schätzt. Noch bemerkenswerter sind indes einige finanzielle Fakten, auf welche die Bundesregierung ebenfalls in jüngster Zeit hingewiesen hat. Die Förderung des Rad- fahrens ist nämlich vergleichsweise preiswert. 1991 – lei- der gibt es keine neueren Zahlen – gaben die westdeut- schen Großstädte für den ÖPNV 110 bis 180 DM pro Ein- wohner und Jahr, für den motorisierten Straßenverkehr 60 bis 250 DM pro Einwohner und Jahr, für den Fahrradver- kehr einschließlich Zuschüsse in der Regel aber weniger als 5 DM pro Einwohner und Jahr. Gute Radverkehrsförderung erfordert also keine Un- summen. Eine Stadt, die bislang fast gar nichts für den Fahrrad- verkehr getan hat, kann bereits mit insgesamt 400 DM pro Einwohner und Jahr ausgesprochen fahrradfreundlich werden. Realistisch sind Investitionen in Jahresraten von 25 bis 50 DM pro Einwohner und Jahr. Selbst für eine Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10262 (C) (D) (A) (B) Stadt wie Berlin bedeutet das gerade einmal mindestens 80 Millionen DM pro Jahr – deutlich weniger als ein Ki- lometer U-Bahn-Tunnel kostet. Und selbstverständlich können Kommunen für den Radverkehr auch Mittel des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes in Anspruch nehmen, was aber bis heute leider kaum geschieht. Weni- ger als 2 Prozent der GFVG-Mittel fließen bislang zu- gunsten des Fahrrades. Radverkehr ist vorwiegend, aber nicht ausschließlich eine kommunale Angelegenheit: Das Fahrrad eignet sich besonders für kurze Wege und als Alternative zum Auto, bei dem mehr als 40 Prozent aller Fahrten bereits spätes- tens nach 5 Kilometern enden. Das Fahrrad als Alltags- verkehrsmittel muss man also vor allem innerstädtisch fördern. Das Fahrrad hat aber darüber hinaus auch eine große Bedeutung für Freizeit und Tourismus. Es ist – vor allem in Kombination mit der Bahn – das ideale Freizeitver- kehrsmittel, mit dem durchaus auch Entfernungen von mehreren Dutzend Kilometern am Wochenende oder mehreren Hundert Kilometern im Urlaub zurückgelegt werden können. Der Radfahrer stößt aber gerade auch hier auf große Hindernisse: Freizeitrouten sind nicht ausrei- chend miteinander vernetzt und fehlen in vielen Gegen- den immer noch. Die Beschilderung der vorhandenen Routen lässt of zu wünschen übrig. Während der Autofah- rer dank Vorgaben der StVO seit Jahrzehnten von einer hervorragenden Beschilderung profitiert, gibt es Ver- gleichbares im Radverkehr deutschlandweit praktisch nicht. Jede Radtour wird damit zur Suche nach dem rich- tigen Weg und mancher Unfall von Radfahrern auf für sie ungeeigneten Straßen könnte verhindert werden, wenn es flächendeckend sinnvoll konzipierte, gut ausgeschilderte Radverkehrsnetze gäbe. Der Fahrradbericht der Bundesregierung listet Nach- barstaaten auf, die den Radverkehr auch auf nationaler Ebene fördern. Nicht nur typische „Fahrradländer“ wie die Niederlande und Dänemark, sondern auch die Schweiz, Großbritannien und sogar Norwegen sind hier- bei zu nennen. Die Situation in Deutschland ist dagegen geprägt von einigen vorbildlichen Kommunen, denen ge- genüber die meisten Städte und Kreise keine systema- tische Radverkehrsförderung betreiben, von Ländern, die sich bis heute nicht auf eine einheitliche Wegweisung für Radfahrer einigen konnten, und vom Bund, der im Zeit- raum 1993 bis 1999 im Durchschnitt gerade einmal 120 Millionen DM jährlich für den Radwegebau an Bundes- straßen ausgegeben hat. Rot-Grün ist jetzt dabei, die Trendwende zugunsten des Fahrrades einzuleiten. Zunächst einmal wurde im März 1999 der erste Fahrradbericht einer deutschen Bun- desregierung veröffentlicht, nachdem er unter Verkehrs- minister Wissmann, längst fertig gestellt, monatelang nicht veröffentlicht worden war. Dieser Bericht, der unter Mitwirkung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, ADFC, entstanden ist, stellt eine bemerkenswert ehrliche Bestandsaufnahme dar und zeigt eine Fülle von Verbesse- rungsvorschlägen auf. SPD und Grüne waren sich daher einig, dass dieser Be- richt als offizielle Beratungsgrundlage ins Parlament und in die Ausschüsse gehört. Dort soll es noch in diesem Jahr eine Anhörung zum Thema Fahrradverkehr geben, bei der auch deutlich werden wird, dass Fahrradförderung nicht nur ein Anliegen der Verkehrspolitik ist, sondern auch sehr wichtig für weitere Bereiche ist: für den Umweltsek- tor, weil das Fahrrad umweltverträglichster Verkehrsträ- ger ohne Schadstoff- und CO2-Ausstoß ist und nur einenminimalen Flächenbedarf hat; für die Gesundheitspolitik, weil jede Radfahrt ein Beitrag für mehr Gesundheit und weniger Mittelbedarf der Krankenversicherungen ist; für die Wirtschaft: In den Niederlanden geben Radfahrer jährlich eine Milliarde Gulden für das Radfahren aus; Fahrradindustrie und Serviceeinrichtungen können erheb- lich profitieren. Die eingesparten Staukosten und vermie- denen Ausgaben für den öffentlichen Verkehr betragen in den Niederlanden jährlich rund 5 Milliarden Gulden. Und schließlich könnte auch der Tourismus erheblich profitie- ren, wobei Radfahrtourismus meist Inlandstourismus und als solcher schon heute ein wesentlicher Wachstumsfak- tor ist. Ziel einer Anhörung im Verkehrsausschuss unter Be- teiligung weiterer Ausschüsse sollte es sein, den Stellen- wert des Fahrrades in der Verkehrspolitik deutlich zu er- höhen und in Form eines nationalen Radverkehrsplans zu konkretisieren, in dem die verschiedensten Initiativen pro Fahrrad zusammengefasst werden: bei Öffentlichkeitsar- beit, Infrastruktur, Verkehrssicherheit, Raum- und Stadt- planung, Tourismus und als Wirtschaftsfaktor-Industrie, Serviceeinrichtungen. Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Der vorliegende Fahrradbericht der Bundesregierung soll dazu beitragen, dem Fahrrad als Verkehrsmittel die ihm gebührende Rolle zu verdeutlichen und der Politik die Gelegenheit zu ge- ben, diesen umweltfreundlichen Verkehrsträger angemes- sen zu fördern und sich über mögliche Verlagerungspo- tenziale zu seinen Gunsten klar zu werden. Vor diesem Hintergrund begrüßt die F.D.P.-Bundestagsfraktion die außerordentlich umfangreiche Darstellung von Daten und Fakten zum Fahrradverkehr, die das Verkehrs- und Bau- ministerium zusammengetragen hat. Es betrifft übrigens auch Daten und Fakten, die nicht in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Die F.D.P. verzeiht Ihnen auch die etwas einseitige lo- bende Darstellung der vergangenen rot-grünen Aktivitä- ten in Nordrhein-Westfalen. Die Bürger haben bei den Kommunalwahlen und bei der Landtagswahl gezeigt, was sie von der dortigen, gegen das Auto gerichteten Ver- kehrspolitik halten. Der Fahrradbericht ist allerdings aus der Sicht der Liberalen in mancher spannenden Frage nicht hinreichend aussagekräftig. Es fehlt leider völlig fundiertes Material zur Bewertung der Frage, welche Wirkung die in der vergangenen Wahlperiode weitgehend einvernehmlich verabschiedete Fahrradverordnung entfaltet hat. Der lapi- dare Hinweis, dass sich die Einbahnstraßenregelung nach Auffassung der Bundesregierung bewährt hat, ist schlicht und ergreifend unzureichend. Aussagen über Verlage- rungspotenziale zulasten anderer Verkehrsträger als dem motorisierten Individualverkehr fehlen völlig. Der Ab- schnitt über den Radtourismus verkürzt sich auf die schlichte Aussage, dass der Radtourismus mittlerweile in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10263 (C) (D) (A) (B) mehreren Regionen erhebliche wirtschaftliche Bedeutung habe. Das ist ja wohl eindeutig zu wenig Gewicht. Gerade im touristischen Freizeit- und Urlaubsverkehr liegt ein er- hebliches Potenzial. Die Zeit in dieser kurzen Debatte reicht nicht aus, um weitere Einzelheiten dieses Fahrradberichtes anzuspre- chen. Dies mag den Fachberatungen in den Ausschüssen vorbehalten bleiben. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird aktiv daran mitwirken, in den Fachberatungen den Bericht zu ergänzen und zu nutzen, um zumindest auf Bundese- bene die Rolle des Fahrrads im Verkehrsgeschehen durch konkrete Maßnahmen und Vorschläge stärken zu helfen. Der im Fahrradbericht unter Abschnitt IX. beschriebene Handlungsbedarf ist völlig substanzlos und muss drin- gend mit konkreten Maßnahmen in Bundeszuständigkeit aufgefüllt werden. Nur so bekommt der Fahrradbericht der Bundesregierung einen Sinn. Dr. Winfried Wolf (PDS): Gestatten Sie eine Annähe- rung an das Thema Radverkehr auf eine dreifach unge- wöhnliche Art: Zunächst der internationale Aspekt: Nach Angaben des Worldwatch Institute gibt es weltweit 900 Millionen Fahrräder – rund doppelt so viel wie Pkw. Zweitens der energiepolitische Ansatz. Der Weltum- radler Wolfgang Reiche hat die folgende Rechnung auf- gestellt: Um 1 Kilogramm Gewicht auf einem Fahrrad 1 Kilometer weit zu transportieren, werden lediglich 0,63 Joule oder 0,15 Kalorien benötigt ... Unter Vorgabe einer bestimmten Menge Energie kommt ein übliches Auto durchschnittlich 200 Meter weit – ein Fahrrad dagegen über 4,5 Kilometer oder 22-mal weiter. Drittens zum Thema Geschwindigkeit: Wir haben heute in den Ballungszentren beim PKW-Verkehr eine tagesdurchschnittliche Geschwindigkeit von rund 20 bis 25 km/h. Für Los Angeles wurde sogar eine solche von 17 km/h ermittelt. All das entspricht der Geschwindigkeit eines – zugegebenermaßen sportlichen – radelnden Men- schen. Wobei unser Täve noch schneller ist. Nähme man diese drei Ansatzpunkte ernst, dann müsste das Thema Radverkehr im Zentrum der interna- tionalen und nationalen Verkehrspolitik stehen. Der UN- Generalsekretär würde dann im Mountainbike die Um- welt-Gipfel besteigen. Die deutschen Richtlinien der Po- litik würden von einem „Kanzler aller Fahrräder“ bestimmt und nicht von „Schröders Road Show“. Der mächtigste Interessenverband in deutschen Landen wäre der ADFC und nicht der ADAC. Doch so ist es nicht. Auto und Flugzeug dominieren. Wir debattieren heute zum ers- ten Mal in einem deutschen Bundesparlament einen Be- richt zum Radverkehr. Die Verkehrsstatistik hat bis vor kurzem den gesamten nicht motorisierten Verkehr schlicht ignoriert und definierte Mobilität ausschließlich als motorisierte. Als Mannesmann vor einigen Jahren in Schweinfurt Fichtel und Sachs übernahm, wurde dort die Fahrradferti- gung abgestoßen mit der expliziten Begründung, diese passe nicht „zum Image eines großen Autozulieferers“. Schließlich findet diese Debatte zu einer Stunde statt, wo alle Medien und der ÖPNV abgeschaltet sind. All das hat zumindest auch mit der folgenden Statistik zu tun: Der addierte Umsatz der 100 größten Unterneh- men der Welt entfällt zu 60 Prozent auf die Bereiche Öl, Auto, Reifen und Flugzeuge. Daher die Absurdität eines PKW-Verkehrs, bei welchem – so der Bericht – 50 Pro- zent der PKW-Fahrten im Entfernungsbereich unter fünf Kilometern liegen und 10 Prozent sogar im Bereich unter 1 Kilometer stattfinden. Völlig richtig konstatiert da die Studie: Das Verlagerungspotenzial auf Rad – ich ergänze: und auf Füße und ÖPNV – ist hier gewaltig. Prima die Beispiele aus Münster, Troisdorf und Erlangen. Hübsch auch, wenigstens ein paar Blicke in andere Länder zu wer- fen, die uns auf diesem Gebiet oft weit voraus sind. Noch nicht erkennbar ist, dass der Bericht den Worten Taten folgen lassen würde. Es war doch kein Zufall, dass die erste verkehrspolitische Maßnahme von Herrn Klimmt darin bestand, die Bußgelder für Radfahrende drastisch zu erhöhen. Dazu schrieb die durchaus au- tofreundliche Berliner „Morgenpost“: Ein derart weltfremder Gedanke fällt keinem Satiri- ker ein. Er muss in einer Amststube geboren sein ... Radfahrer zu identifizieren ist mangels Kennzeichen schwierig. Sie dingfest zu machen für uniformierte Fußgänger schier unmöglich. Preschen demnächst Streifenwagen mit Rotlicht und Sirene durch die Menge, um Rad-Rüpeln Knöllchen zu überreichen? Doch Klimmt lässt Eichel & Co. nicht verkommen. Gestatten Sie mir auch einen ungewöhnlichen Schluss. Radfahren hat auch einen philosophischen Aspekt – dies war jedenfalls die Auffassung des Dramatikers Georg Kaiser im Jahr 1932: Längst bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der Menschheit das Fahrrad geschenkt ist als Aus- gleich für alle Plagen der Technik ... Das Fahrrad in- thronisiert die Privatperson. Es macht sie unabhän- gig von Hilfsmitteln. Der Radfahrer tritt zu – und dis- tanziert sich. Zweifellos ist er eine gefährliche Figur der Gegenwart ... Der Antivereinler. Der beschleu- nigte Individualist. Ein enteilendes, sattelfestes ICH. Kurt Bodewig, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Das Fahr- rad gewinnt als Freizeitsport und als Verkehrsmittel im- mer mehr an Bedeutung. Es ist heute aktueller denn je. Nicht nur in Deutschland und nicht erst seit den großen sportlichen Erfolgen des Teams Deutsche Telekom, son- dern weltweit nimmt der Fahrradverkehr deutlich zu. In den letzten Jahren ist ein wahrer Fahrrad-Boom zu ver- zeichnen. Statistisch gesehen besitzt fast jeder Bundesbürger ein Fahrrad; mehr als 75 Millionen Fahrräder gibt es in Deutschland. Fahrrad fahren ist gesund, umweltfreund- lich, kostengünstig und macht dazu auch noch Spaß. Und gerade für junge Menschen, die noch keinen Füh- rerschein besitzen, ist das Fahrrad häufig das wichtigste Fortbewegungsmittel. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10264 (C) (D) (A) (B) 35 Prozent der Fahrradfahrer benutzen den „Drahtesel“ in der Freizeit, 30 Prozent beim Einkauf und immerhin rund 35 Prozent bei Fahrten zur Arbeit und Ausbildung. Dies zeigt: Über Zweidrittel des Radverkehrs ist kein Freizeitverkehr. In günstigen Fällen sind Verlagerungen vom PKW auf das Fahrrad im Bereich von 10 – 30 Pro- zent durchaus möglich. Insbesondere im Kurzstreckenbereich bis drei Kilome- ter ist das Fahrrad geradezu das optimale Verkehrsmittel: Es benötigt wenig Raum, steht ohne Wartefrist zur ständi- gen Verfügung und bringt Sie direkt an Ihr Ziel, wobei die Suche nach einer geeigneten Parkfläche weitgehend ent- fällt. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in Bal- lungsräumen das Fahrrad für immer mehr Menschen zum beliebten Verkehrsmittel bei der Ausübung ihrer individu- ellen Mobilität wird. Die Bundesregierung wird mit Engagement dafür ein- treten, dass Radfahren in Deutschland noch beliebter wird. Ich denke hier zum Beispiel an die Anpassung der Verhaltensvorschriften zugunsten der Radfahrer, die För- derung von Radfahrausbildung und Verkehrserziehungs- projekten sowie die Entwicklung neuer Konzepte im Rah- men der Öffentlichkeitsarbeit. Wir treten für eine fahrrad- freundliche Verkehrsinfrastruktur ein, die den Radverkehr überall im Land möglich macht. Zu den Investitionen in Radwege: Zwischen 1981 und 1998 hat der Bund Radwege an Bundesstraßen von ins- gesamt 6350 km Länge in Höhe von rund 1,9 Milliarden DM gefördert. Ziel ist, rund 650 Kilometer – davon 150 Kilometer in den neuen Bundesländern – weiter auszu- bauen. Insgesamt werden in diesem Jahr etwa 15 000 Ki- lometer Fahrradwege an Bundesstraßen zur Verfügung stehen. Nun komme ich zu einem sehr wichtigen Bereich, der auch das Motto dieser Veranstaltung ist: die Sicherheit im Fahrradverkehr. Zur Erhöhung der Sicherheit des Fahr- radverkehrs entwickeln wir die Straßenverkehrsordnung weiter. Dabei soll der Radverkehr erleichtert und sicherer werden. Zur Verbesserung der integrierten Radverkehrs- infrastruktur wurden beispielsweise rechtliche und ver- kehrstechnische Maßnahmen umgesetzt. Die so genannte Radfahrernovelle von 1997 räumt Radfahrern erweiterte Rechte ein, wie zum Beispiel die Benutzung der Fahrbahn auf Sonderstreifen. Dennoch sollte nicht übersehen wer- den: Statistisch ist das Unfallrisiko eines Radfahrers min- destens um das doppelte höher als bei Fußgängern und PKW-Fahrern. Die Sicherheit des Radverkehrs ist deshalb ein wichtiger Bestandteil der Verkehrssicherheitsarbeit der Bundesregierung. In diesem Zusammenhang möchte ich aber darauf hin- weisen, dass auch Radfahrer Rücksicht auf andere Ver- kehrsteilnehmer nehmen müssen. Denn so wie beispiels- weise Autos ein Risiko für Radfahrer darstellen können, können unzweifelhaft auch Radler für Autofahrer eine Gefahr bedeuten. Des Weiteren erhalten wir häufig Schreiben von Bür- gerinnen und Bürgern, die sich über bedenkenloses Ver- halten von Radfahrern auf Gehwegen beschweren. Ich ap- pelliere deshalb an alle Freunde des Fahrrads: Benutzen Sie ihr Gefährt immer mit Bedacht und Rücksicht auf an- dere Verkehrsteilnehmer! Für zahlreiche Aufklärungskampagnen im Bereich der Verkehrssicherheit, die beispielsweise von Verkehrsver- bänden wie der Deutschen Verkehrswacht durchgeführt werden, stellen wir erhebliche finanzielle Mittel zur Ver- fügung. Allein in diesem Jahr werden wir insgesamt 22 Milli- onen DM für die Verkehrssicherheitsarbeit aufbringen. Wir sichern damit die Durchführung zahlreicher Auf- klärungsprojekte. Darüber hinaus arbeiten wir mit Unterstützung der Wissenschaft und den Verkehrssicherheitsverbänden an einem neuen Straßenverkehrssicherheitsprogramm 2000, das wir noch in diesem Jahr vorlegen wollen. Ein wichti- ger Bestandteil dieses Programms wird die Aufklärung sein. Ziel ist es, durch positive Motivation, gezielte Auf- klärung und wirksame Vermittlung des Gedankens von Fairness und Rücksichtnahme die Sicherheit im Straßen- verkehr nachhaltig zu verbessern. Dabei brauchen wir die Unterstützung aller Beteiligten in der Gesellschaft; die Verkehrssicherheit ist ein Thema, das uns alle angeht. Die Bundesregierung unterstützt die Förderung des Radverkehrs und leistet damit ihren Beitrag im Rahmen der genannten Maßnahmen. Wichtig ist uns dabei die ganzheitliche Betrachtung: Das Radverkehrssystem sollte in die regionalen Gesamtverkehrskonzepte unter Berück- sichtigung aller Verkehrsteilnehmer eingebunden werden. Langfristiges Ziel der Bundesregierung ist das Zusam- menspiel von Infrastruktur, Dienstleistungen, Informa- tion und Kommunikation. Wie im Bereich Straße und Schiene wird dieser Systemgedanke auch dem Fahrrad- verkehr neue Impulse geben für die bessere Ausschöp- fung des Potenzials und damit zur Erhaltung und Siche- rung der Gesamtmobilität beitragen. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 – Vorlage derHaushaltsrechnung und Vermögens- rechnung des Bundes (Jahresrechnung 1999) (Tagesordnungspunkt 16) Hans Georg Wagner (SPD): Das Bundesministe- rium der Finanzen hat die Jahresrechnung 1999 vorge- legt und Entlastung beantragt. Eine Entlastung kann ich namens der Koalition zwar formal jetzt noch nicht ertei- len, da die Beratungen im Rechungsprüfungsausschuss und Haushaltsausschuss abzuwarten sind. Ich kann und will aber der rot-grünen Koalition, der Bundesregierung und insbesondere dem Bundesministerium der Finanzen schon gerne jetzt Folgendes bescheinigen: Es ist gelun- gen, aus einer denkbar schlechten Ausgangslage heraus – nämlich dem Waigel-Entwurf für 1999 – mit dem ersten rot-grünen Haushalt im Jahr 1999 die Wende in der Finanz- und Haushaltspolitik einzuleiten und ei- nen wichtigen Schritt hin zur Sanierung der Bundesfi- nanzen zu tun. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10265 (C) (D) (A) (B) Es ist üblich, dass der Entlastungsantrag zur Jahres- rechnung jeweils ohne Debatte an den Haushaltsaus- schuss überwiesen wird, und es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet die CDU/CSU-Fraktion zur Jahresrechnung 1999 eine Debatte beantragt hat. Sie wollte uns damit wohl die Gelegenheit geben, nochmals die unsolide Haus- haltspolitik der zu Recht in die Opposition abgewählten Kohl/Waigel-Regierung zu geißeln. Wie sah denn das Er- gebnis Ihrer Haushaltspolitik in den letzten drei Jahren vor dem Regierungswechsel aus? 1996 lag die Nettokreditaufnahme mit 78,3 Milliar- den DM um sage und schreibe 17,3 Milliarden DM über der Summe der Investitionen von 61 Milliarden DM und damit der Verfassungsgrenze des Art. 115 des Grundge- setzes. Dieser Haushalt war schlicht verfassungswidrig. 1997 lag die Nettokreditaufnahme mit 63,7 Milliar- den DM wiederum deutlich über den Investitionsausga- ben von 56,4 Milliarden DM. Die Lücke wäre noch deut- lich größer gewesen, wenn nicht Privatisierungseinnah- men von rund 10 Milliarden DM zum Stopfen der Löcher eingesetzt worden wären. Im Haushaltsplan für 1998 schossen die veranschlag- ten Einmaleinnahmen aus Privatisierungen und ähnlichen Aktionen dann auf die Schwindel erregende Höhe von 34 Milliarden DM. Nur durch Verscherbeln von Bundes- vermögen in dieser exorbitanten Höhe konnte die Netto- kreditaufnahme im Plan in etwa auf die Höhe der Investi- tionsausgaben begrenzt werden. Und im Waigel-Entwurf für 1999 waren nicht nur wie- derum Einmaleinnahmen von rund 12 Milliarden DM veranschlagt, außerdem fehlten schlicht Veranschlagun- gen in einem Volumen von rund 10 Milliarden DM. Un- ser Kassensturz nach dem Regierungswechsel hatte ergeben, dass die abgewählte Regierung Haushaltsbe- lastungen in dieser Größenordnung entgegen allen ver- fassungsrechtlichen Regeln von Haushaltswahrheit und - klarheit unterschlagen hat. Die rot-grüne Bundesregierung hat aber nicht nur eine völlig unsolide Finanzierungsstruktur des Bundeshaus- halts als Erblast übernommen, sondern in der Anhäufung über die Jahre auch eine exorbitante Staatsverschuldung. 1982, bei Amtsantritt der Regierung Helmut Kohl, betru- gen die Schulden des Bundes 314 Milliarden DM. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, waren sie auf 600 Milli- arden DM gestiegen. Ende 1998 lagen sie bei fast 1,5 Bil- lionen DM – eine Steigerung auf das 2,5-fache gegen- über 1990 und das 5-fache gegenüber 1982. Dadurch waren fast ein Viertel der Steuereinnahmen, 82Milliarden DM, im Haushaltsplan 1999 allein für Zins- zahlungen gebunden. Der Bund muss für Zinszahlungen am Tag 225 Millionen DM ausgeben. Mit dem Geld von nur 3 Minuten Zinszahlungen des Bundes kann man schon ein Einfamilienhaus bezahlen. Die Trendwende hin zu einer soliden Finanzpolitik ist schon mit der Verabschiedung des Bundeshaushalts 1999 gelungen. Die Zuwachsrate der Ausgaben konnte auf 1,2 Prozent abgesenkt und die Nettokreditaufnahme auf 53,5 Milliarden begrenzt werden. Die SPD-Fraktion ist dem Bundesfinanzminister außerordentlich dankbar dafür, dass er es geschafft hat, den Plan nicht nur einzu- halten, sondern durch konsequente Sparanstrengungen im Vollzug besser als ursprünglich geplant abzuschließen. Die Neuverschuldung konnte auf 51,1 Milliarden DM reduziert werden. Das sind 2,4Milliarden DM weniger als veranschlagt und 5,3 Milliarden DM weniger als im Vor- jahr. Der erfolgreiche Jahresabschluss ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen. Diesen Weg sind wir mit dem Bundeshaushalt 2000 bei einer geplanten Nettokreditaufnahme von 49,5 Milli- arden DM konsequent weiter gegangen und werden die Neuverschuldung weiter Schritt für Schritt zurückführen. Ziel ist ein ausgeglichener Haushalt ohne Neuverschul- dung bis zum Jahr 2006. Die Sanierung der Staatsfinan- zen schafft wichtige Voraussetzungen zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung sowie für nachhaltige Steu- ersenkungen für die Bürger und die Wirtschaft. Diese Sa- nierung der Staatsfinanzen sind wir in etwas längerer Per- spektive der nächsten Generation schuldig, damit sie nicht mit einer zu hohen Hypothek bei der Lösung der aus dem demographischen Wandel resultierenden Probleme vor- belastet ist. Die CDU/CSU-Opposition hat bereits bei Vorlage des Jahresabschlusses für 1999 herumgekrittelt. Sie wollten schon Anfang diesen Jahres, als der Haushaltsabschluss für 1999 veröffentlicht wurde, die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen und haben falsche Behauptungen auf- gestellt. So beträgt die bereinigte Steigerungsrate des Haushalts 1999 lediglich 0,6 Prozent und nicht 6 Prozent, wie von Ihnen behauptet. Die Differenz beruht auf Sondereffek- ten, die noch teilweise von der alten Bundesregierung be- gründet worden waren. Diese Sondereffekte will ich Ih- nen auch gern nochmals darstellen, um Sie wenigstens jetzt auf den haushalterischen Tugendpfad von Wahrheit und Klarheit zurückzuführen: 6 Milliarden DM aufgrund der erstmalig ganzjährigen Wirkung des zusätzli- chen Rentenzuschusses, der aus der am 1. April 1998 in Kraft getretenen Umsatzsteuererhöhung finanziert wird, 9,1 Milliarden DM bei den Zuschüssen an die gesetzliche Rentenversicherung aufgrund der beschlossenen Entla- stungsmaßnahmen für die Rentenversicherung, die durch Einnahmen aus der Ökosteuerreform abgedeckt werden, 8,2 Milliarden DM aufgrund der erstmaligen Veranschla- gung der Ausgaben zur Abdeckung des Defizits der Post- unterstützungskassen, die durch Dividendeneinnahmen und durch Privatisierungserlöse aus dem Bereich der Postnachfolgeunternehmen finanziert wurden. Sie hatten diese Veranschlagung entgegen den Grundsätzen von Haushaltswahrheit und -klarheit unterlassen. Genauso fehlerhaft ist auch die von Ihnen erwähnte an- gebliche „Explosion“ der konsumtiven Ausgaben. Sie un- terschlagen dabei bewusst, dass der Rückgang der Inves- titionsausgaben von 58,2 Milliarden DM auf 56 Milliar- den DM glücklicherweise auf Minderausgaben bei den als investiv eingeordneten Gewährleistungen des Bundes be- ruht. Minderausgaben, die zwar als Investitionen zu bu- chen sind, aber der wirtschaftlichen Entwicklung wahr- lich nicht geschadet haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10266 (C) (D) (A) (B) Außerdem haben wir erstmals die von Ihnen bis dahin nicht befolgte Forderung des Bundesrechnungshofes rea- lisiert, die bislang pauschal als investiv gewerteten Aus- gaben für die Kostenerstattung für Strukturanpassungs- maßnahmen nach dem SGB III nach konsumtiven und investiven Ausgaben zu differenzieren. Hierdurch verrin- gert sich in der Tat das investive Volumen des Etats des Arbeitsministers um rund 1,1 Milliarden DM. Haushalts- klarheit und Haushaltswahrheit war bei Ihnen ja jahrelang unbekannt. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen weiteren schlichtweg falschen Punkt Ihrer Behauptungen hinwei- sen. Die Privatisierungseinnahmen sind 1999 gegenüber 1998 klar rückläufig und nicht etwa angestiegen. 1999 sind rund 13 Milliarden DM an Privatisierungserlösen für den Bundeshaushalt erzielt worden, und dies einschließ- lich des Forderungsverkaufs von Bahndarlehen. 1998 la- gen die vergleichbaren Einnahmen noch bei 25 Milliar- den DM. Und im Haushaltsplan für 2000 sinken die Privatisierungseinnahmen drastisch weiter auf 3,5 Milli- arden DM. Hier wird ein ganz klarer Trend deutlich, den auch Sie nicht leugnen können. Zu guter Letzt bleibt festzuhalten, dass wir mit dem erstmalig von uns zu verantwortenden Haushalt 1999 den Einstieg in eine finanzpolitische Wende vollzogen haben, zu der Sie überhaupt nicht mehr fähig waren und die wir mit den folgenden Haushalten und der von uns in der Fi- nanzplanung vorgegebenen Linie auch konsequent wei- terführen werden. Josef Hollerith (CDU/CSU): Ich erspare mir nicht, zu würdigen, dass die Arbeit im Rechnungsprüfungsaus- schuss sachlich erfolgt und das Klima menschlich ist. Dafür möchte ich den Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich danken. Namentlich danke ich der Vorsitzenden, der Kollegin Uta Titze-Stecher, für ihre menschlich ge- prägte Führung dieses Ausschusses. Es ist nicht von un- gefähr, dass allein im Rechnungsprüfungsausschuss im Unterschied zu allen anderen Ausschüssen nur ein Be- richterstatter für den gesamten Ausschuss zu einem Ta- gesordnungspunkt eingesetzt ist. Ich betone ausdrücklich, dass in diesem Ausschuss die Frage, wer auf der Opposi- tions- und wer auf der Regierungsbank sitzt, die geringste Rolle spielt und im Vordergrund die sachliche und quali- fizierte Arbeit steht, fernab jeder Polemik. Ich empfinde es auch als angenehm, dass sich dies im Wechsel von Re- gierung und Opposition nicht verändert hat. Dafür herzli- chen Dank an die Kolleginnen und Kollegen. Allein von der Zeit her wären die Abgeordneten nicht in der Lage, die qualifizierte Arbeit des Controlling zu leisten, wenn uns nicht ein hervorragender Apparat mit Argumenten, mit qualifizierten Analysen und mit Sachverstand dabei un- terstützte. Dies würdige ich in besonderer Weise und ver- binde die Würdigung mit einem ausdrücklichen Dank an Sie, Frau Präsidentin Dr. Hedda von Wedel. Wir schätzen Ihre Arbeit, und ich bitte Sie herzlich, unseren Dank, un- sere Würdigung und unsere Anerkennung auch Ihren Mit- arbeiterinnen und Mitarbeitern zu übermitteln. Allerdings muss ich jetzt zur politischen Bewertung des Haushaltsabschlusses 1999 kommen: Die Gesamtaus- gaben 1999 lagen um 26 Milliarden DM (+ 5,7 v. H.) höher als 1998: Es fand eine Aufblähung der Konsum- ausgaben statt, während bei den Investitionen ein dickes Minus steht (- 2,2 Milliarden DM gegenüber Soll 1999 und - 1,1 Milliarden DM gegenüber Ist 1998). Die Inves- titionsquote erreicht 1999 mit 11,6 v. H. Negativrekord und bis 2003 wird sie weiter auf 10,6 v. H. gesenkt. Das ist das Gegenteil von wachstums- und beschäftigungsför- dernder Politik. Die Rentenausgaben des Bundes lagen 1999 um 18 Milliarden DM höher als 1998. Der Anteil an den ge- samten Bundesausgaben ist auf 24,4 v. H. gewachsen (1998: 21,9 v. H.). Bis 2003 steigt der Anteil dramatisch auf über 30 v. H. an – ein gewaltiger Sprengsatz für den Bundeshaushalt. Die gesamtwirtschaftlichen Daten haben sich 1999 verschlechtert. Die Staatsquote ist gestiegen, die Steuer- quote ist auf 22,9 v. H. gestiegen (1998: 22,0 v. H.) und im Jahr 2004 verharrt sie mit 22,8 v. H. auf dem hohen Ni- veau. Die Abgabenquote ist gestiegen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit rot-grüner Poli- tik liegen Welten. Die Ausgaben für Bildung, Wissen- schaft und Forschung lagen 1999 um 541 Millionen DM niedriger als im Soll. Für den Mittelstand wurden 1999 nur 2,1 Milliarden DM ausgegeben, das waren 378 Milli- onen DM weniger als 1998. In unvertretbarer Weise wurde die deutsche Landwirt- schaft geschröpft. Der Finanzminister sprach schon im Januar von einem „erfolgreichen Jahresabschluss“. Sein Stolz auf 2,4 Milli- arden DM weniger Nettokreditaufnahme und rund 2,9 Milliarden DM weniger Gesamtausgaben ist aber bei bestem Willen nicht nachvollziehbar. Wer in einem Jahr, in dem die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland nur mit etwa 1,4 Prozent wächst, rund 6 Prozent höhere Bundesausgaben zu vermelden hat, sollte in Sack und Asche gehen und keine Jubeltöne anstimmen. Die Union hat von Anfang an die Explosion der kon- sumtiven Ausgaben im rot-grünen Haushalt 1999 kriti- siert. Der Haushaltsabschluss belegt den absoluten Tief- stand der Investitionen mit nur noch knapp 11,7 Prozent der Gesamtausgaben. Es ist kein Wunder, dass die Bun- desrepublik Deutschland beim Vergleich der Wachstums- raten der Industrienationen auf dem vorletzten Platz lan- det. Im rot-grünen Haushalt 1999 wurden die Reformen im Sozialbereich nicht weiter fortgesetzt; vielmehr wurden die konsumtiven Ausgaben insbesondere im Bereich der Alterssicherung um fast 30 Milliarden DM unverantwort- lich ausgeweitet; gleichzeitig wurden die Steuern für je- dermann kräftig erhöht – besonders durch die Einführung der so genannten Ökosteuer. Heute suchen viele rot-grüne Politiker die Verantwort- lichen für die hohen Benzinpreise bei den Mineralölkon- zernen und an den Finanzmärkten, die den Euro so unge- recht schlecht bewerten. Aber die schwache Stellung des Euro hat doch diese Regierung wesentlich mit verursacht. Denn die Ökosteuer steht für den von den Finanzmärkten durchschauten Versuch, die notwendigen Reformen in der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10267 (C) (D) (A) (B) Alterssicherung mit noch mehr Steuermilliarden wegzu- manipulieren. Die Ökosteuer ist das Symbol der Reform- unfähigkeit dieser Bundesregierung. Sie ist unmittelbar und mittelbar für rund zwei Drittel des Anstiegs der Sprit- preise verantwortlich. Rot-Grün setzt die Privatisierungspolitik der früheren Bundesregierung nicht nur bruchlos fort, sondern steigert sie nach. Die in den vergangenen Jahren vielfach erhobe- nen Vorwürfe rot-grüner Politiker, Waigel würde das „Ta- felsilber der Bundesrepublik Deutschland verscherbeln“, erweisen sich damit als platte und gezielte Propagan- dalüge. Zu Waigels Zeiten dienten die Privatisierungseinnah- men dazu, die harten Reform- und Konsolidierungsmaß- nahmen vor allem im Sozialbereich abzufedern, die sich aufgrund des demographischen und gesellschaftlichen Wandels in Deutschland, aber auch aufgrund der Globali- sierung als notwendig erwiesen. Rot-Grün hat damals die Reform- und Konsolidierungspolitik bösartig als soziale Demontage diffamiert und im Bundesrat total blockiert. Letzteres gilt auch für die Steuerreform. Heute dienen Privatisierungseinnahmen nicht mehr der zeitlich begrenzten Abfederung von Reform- und Konso- lidierungsmaßnahmen, sondern vielmehr der Finanzie- rung einer Ausweitung der sozial motivierten Konsum- ausgaben des Staates. Das Haushaltsdesaster ist für den Zeitpunkt absehbar, in dem ein „Verscherbeln von Tafel- silber“ – jetzt stimmt der Begriff – mangels Masse nicht mehr möglich ist. Wohlweislich hat die rot-grüne Bun- desregierung für diesen Fall die weiteren Stufen der Öko- steuer beschlossen. Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Jahresabschluss 1999 zeigt: Die Regierungskoali- tion hat mit ihrem Konsolidierungskurs einen grundle- genden Wandel in der Finanzpolitik eingeleitet. Die Neuverschuldung wurde auf 51,1 Milliarden DM redu- ziert. Das sind 2,4 Milliarden DM weniger als veran- schlagt und 5,3 Milliarden DM weniger als 1998. Diese Finanzpolitik des Bundes hat entscheidend dazu beigetra- gen, dass die gesamtstaatliche Defizitquote mit 1,1 Pro- zent ihren niedrigsten Wert seit 1989 erreichte. Hervorzuheben ist auch, dass die Neuverschuldung die Investitionsausgaben von 56 Milliarden DM um 4,9 Mil- liarden DM unterschreitet. Damit liegt sie deutlich unter der verfassungsrechtlichen Verschuldungsobergrenze des Art. 115 GG. In 1998 lag der Abstand nur bei 0,7 Milliar- den DM. In den zwei Jahren zuvor war die Neuverschul- dung sogar höher als die Investitionsausgaben: 1996 um 17,3 Milliarden DM und 1997 um 7,3 Milliarden DM. Der Jahresabschluss 1999 ist ein Erfolg der strikten Haushaltsdisziplin der Bundesregierung. Die Gesamtaus- gaben liegen mit 482,8 Milliarden DM um 2,9 Milliarden DM unter dem veranschlagten Soll. Bereinigt um die Son- dereffekte durch die erstmalige Veranschlagung von Zu- schüssen an die Rentenversicherung, die wir aus der Um- satzsteuer und der Ökosteuer gegenfinanziert haben, so- wie von Zuschüssen an die Post-Unterstützungskassen sind die Ausgaben nur um 0,6 Prozent gestiegen. Auch auf der Einnahmenseite lässt sich ein erster Kon- solidierungserfolg erkennen. Während 1998 noch Priva- tisierungserlöse in Höhe von 19,8 Milliarden DM zur Deckung von allgemeinen Ausgaben vereinnahmt wur- den, sind es 1999 nur noch 5,1 Milliarden DM. Die unsolide Politik der alten Bundesregierung, wachsende Strukturelle Deckungslücken durch zunehmende Erlöse aus Vermögensverwertungen auszugleichen, konnte und durfte nicht fortgeführt werden. Neben der soliden und sparsamen Haushaltsführung wurden im Haushaltsjahr 1999 grundlegende Reform- schritte im Steuer- und Abgabensystem und in den Struk- turen des Bundeshaushalts verwirklicht. Beispiele hier- für: eine Einkommensteuerreform mit Entlastungen für Arbeitnehmer, Familien und Mittelstand, ein erster Ein- stieg in die Ökosteuerreform, höhere Aufwendungen für die aktive Arbeitsmarktpolitik sowie für Bildung und For- schung und die Eingliederung von Schattenhaushalten der alten Bundesregierung in den Bundeshaushalt. Der erfolgreiche Jahresabschluss 1999 bildet eine so- lide Grundlage, um den von der Regierungskoalition ein- geschlagenen Konsolidierungskurs konsequent fortzuset- zen und 2006 einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorzulegen. Mit unserer soliden und nachhalti- gen Finanzpolitik schaffen wir die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung sowie für Bürgerin- nen, Bürger und Wirtschaft dauerhafte Steuerentlastun- gen. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Zur Debatte steht heute der Antrag des Bundesministeriums der Finanzen zur Ent- lastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999. Zu diesem Haushalt ist sicherlich mehr zu sagen, als es in den vorgesehenen dreieinhalb Minuten, die mir zur Ver- fügung stehen, möglich ist. Daher werde ich mich nur auf einige wesentliche Punkte beschränken. Erstens. Der Haushalt 1999 ist mit 482,8 Milliarden DM der größte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Lässt man Sondereffekte wie die erstmalige Veranschlagung von Zuschüssen an die Rentenversiche- rung und an die Postunterstützungskassen weg, dann be- deutet dies im Vergleich zum Jahr 1998 einen Anstieg in Höhe von rund 6 Prozent oder, in Zahlen ausgedrückt, von 25,9 Milliarden DM. Zweitens. Mit der Steigerung der Gesamtausgaben ein- her ging der Anstieg der konsumtiven Ausgaben. Hier er- folgte ein Aufwuchs von 6,8 Prozent bzw. 27,1 Milliarden DM. Den größten Anteil davon belegten die Sozialausga- ben sowie die Zinsausgaben. Sie erreichten zusammen 268 Milliarden DM oder 62,8 Prozent der konsumtiven Ausgaben. Drittens. Die Investitionsquote des Bundes ist im Haushaltsjahr 1999 auf 11,6 Prozent gesunken und be- deutet im Vergleich zum Haushaltsjahr 1998, in dem die Investitionsquote bei 12,5 Prozent lag, eine erhebliche Reduzierung. Dabei wurden die Investitionen durch eine rein buchmäßige Anhebung des Gewährleistungsrisikos um 1,4 Milliarden DM erhöht. Ohne diesen Faktor wären Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10268 (C) (D) (A) (B) die Investitionsausgaben in der Gesamtsumme noch nied- riger ausgefallen. Aber auch so hatten sie in 1999 mit 56 Milliarden DM den niedrigsten Stand seit Jahren. Viertens. Der Zuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit ist im Haushaltsvollzug um rund 3,7 Milliarden DM re- duziert worden und ist Ausdruck einer fehlgeleiteten po- litischen Einschätzung. Ich darf an dieser Stelle daran er- innern, dass es die F.D.P.-Bundestagsfraktion war, die im Zuge der Haushaltsberatung eine Absenkung des Titels gefordert hat. Dieser Antrag ist seinerzeit von Ihnen ab- gelehnt worden. Wäre man böswillig, könnte man die Auffassung vertreten, dass der Zuschuss an die Bundes- anstalt für Arbeit bewusst so hoch veranschlagt worden ist, um die „Pflege“ der Nettokreditaufnahme zu betreiben bzw. Spielräume für andere Mehrausgaben zu schaffen. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass der erste von Rot-Grün vorgelegte Haushalt nicht der große Wurf war. Gemessen an den angekündigten Reformen und beab- sichtigten Veränderungen muss man zu der Feststellung gelangen: Dem Haushalt 1999 mangelte es an Gestal- tungskraft und Veränderungswillen. Ihre eigene Unfähigkeit und Tatenlosigkeit versuchten Sie durch die Mär von den Haushaltslöchern und der Erb- last zu überdecken. Mit dem Haushalt 1999 wurde ein Jahr zur Weichenstellung für den Wirtschaftsstandort Deutschland verschenkt. Unternehmen und Bürger hatten nach Ihren vollmundigen Ankündigungen einiges erwar- ten können – Sie haben alle enttäuscht. Heidemarie Ehlert (PDS): Mit gewisser Verwunde- rung habe ich diesen Tagesordnungspunkt zur Kenntnis genommen. Obwohl die Bundesregierung für das Haus- haltsjahr 1998 noch nicht entlastet ist, soll heute bereits über die Entlastung für das Haushaltjahr 1999 diskutiert werden. Zwar wurde die Haushaltsrechnung und Vermögens- rechnung des Bundes für das Jahr 1999 dem Haushalts- ausschuss übergeben, allerdings liegen die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Jahresrechnung 1999 dem Deutschen Bundestag noch nicht vor. Offensichtlich will das Parlament schneller sein als der Bundesrech- nungshof. Es ist gut, wenn Aufgaben ernst genommen werden. Nur gehören zu einer sachbezogenen Debatte zur Jahreshaushaltsrechnung 1999 nun mal die Feststellun- gen des Bundesrechnungshofes. Noch ist dieser für die Prüfung der Jahreshaushaltsrechnung zuständig und ich warte bereits auf die kritischen Bemerkungen zum Um- gang der Verwaltung mit den Haushaltsmitteln des Bun- des. Noch immer ist die Verletzung von Haushaltsrecht ein Kavaliersdelikt. Es kann und sollte nicht bei kriti- schen Feststellungen zum Umgang mit Haushaltsmitteln bleiben. Konsequenzen und positive Veränderungen zur Durchsetzung von Haushaltsdisziplin, Haushaltsklarheit und -wahrheit müssen in allen Bundesministerien durch- gesetzt werden. Wer von den Bürgerinnen und Bürgern Sparsamkeit verlangt, muss bei sich selbst anfangen. Auch der sparsame und wirtschaftliche Umgang mit Haushaltsmitteln ist ein wichtiger Beitrag zur Haushalts- sanierung und zum Schuldenabbau. Insofern ist es zum gegenwärtigen Stand noch nicht möglich, sachkundig das Haushaltsjahr 1999 einzuschät- zen. Heute kann es nur um die Überweisung der Jahres- rechnung in den Haushaltsausschuss gehen und dieser stimme ich zu. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) (Tagesordnungspunkt 17) Christel Deichmann (SPD): Sehr intensiv haben wir uns in der Arbeitsgruppe innerhalb der SPD-Fraktion so- wie im Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder mit den Konfliktpunkten im zukünftigen Umgang mit dem Bodenreformland beschäftigt. Sicherlich ist die ge- samte Situation, die hier so bildhaft von der PDS be- schrieben wird, problematisch. Doch wenn wir von diesem Bild einmal in die Realität blicken, zeigt es sich, dass sich diese ganz anders darstellt. Zehn Jahre nach dem Mauerfall und nur wenige Monate von zehn Jahren deutscher Einheit entfernt ist der Weg sehr klar: Auf Dauer kann eine gewisse Stabilität und Si- cherheit in der Landwirtschaft nur durch Landerwerb ge- währleistet werden. Es ist ein Irrglaube der PDS, dass al- leine langfristige Pachtverträge genügend Zukunftssi- cherheit für die agrarischen Betriebe bieten. Das heißt, zum langfristigen soliden Fundament eines landwirt- schaftlichen Unternehmens zählt auch ein gewisser Ei- genanteil an den bewirtschafteten Flächen. Natürlich waren zu Beginn langfristige Pachtverträge sehr sinnvoll. Diese ermöglichten einen Einstieg in die neuen – durch die Wende so stark veränderten – Bedin- gungen. Es war auch sehr vernünftig, die ursprünglich für einen Zeitraum von acht bis zehn Jahren festgesetzten Pachtverträge zu verlängern. Die Verlängerung der Pachtverträge für landwirt- schaftliche Flächen, die im Eigentum der BVVG stehen, auf 18 Jahre ist ein Schritt in Richtung Sicherheit, den übrigens meine Fraktion schon in der vergangenen Legis- latur gefordert hat. Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit, wes- halb die Pacht- und Privatisierungsregelungen, wie sie in den Jahren zuvor gefunden wurden, von unserer Seite nicht infrage gestellt werden dürfen. Um Sicherheit vor allem für Investitionen zu geben und besonders die Be- triebe im Veredelungsbereich zu unterstützen, haben wir kurzfristig nach der Übernahme der Regierungsverant- wortung die entsprechenden Pachtverträge auf eine Lauf- zeit von 18 Jahren verlängert. Ein Großteil der Probleme stammen tatsächlich aus DDR-Zeiten – ein mir bekanntes Beispiel habe ich Ihnen schon während unserer letzten Debatte zu diesem Thema geschildert –; aber ich kann hier nur noch einmal wieder- holen: Diese Probleme aus der Vergangenheit lassen sich in den wenigsten Fällen reparieren. Niemand ist in der Lage, die Vergangenheit zu verändern. Das Einzige, was Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10269 (C) (D) (A) (B) wir in diesem Fall wirklich tun können, ist, einen für alle Beteiligten tragbaren Kompromiss zu finden. Diesen hat der Deutsche Bundestag in mühevoller Kleinarbeit in ei- nem langen und zähen Prozess mit der Verabschiedung der Flächenerwerbsverordnung und mit dem Entschädi- gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz seinerzeit gefun- den. Bitte, meine Damen und Herren von der PDS, haben Sie je bedacht, welches Fass ohne Boden Sie hier öffnen wollen? Es ist Ihnen wieder einmal gelungen, falsche Hoffnungen bei den Betroffenen zu wecken und sich selbst in ein besseres Licht zu setzen, als Sie es in Wahr- heit verdienen. Nur eine praktikable Lösung bieten Sie nicht an. Sehr bedauerlich! Im Gegenteil, der Gesetzent- wurf ist schon in einem erschreckenden Ausmaß wirk- lichkeitsfern. Vielleicht könnten mit Ihrem Gesetzentwurf tatsäch- lich einige Schäden in gewissen Grenzen gehalten wer- den; aber Sie tragen dann die Verantwortung dafür, dass an anderen Punkten neue Probleme und Konflikte entste- hen. Es sollte doch nicht unser Ziel als Abgeordnete sein, neue Konflikte zu schüren. Und in der Landwirtschaft gibt es wohl wesentlich Wichtigeres zu tun. Wir müssen doch dafür Sorge tragen, dass die Land- wirtschaft in Ostdeutschland als eine wichtige wirtschaft- liche Ebene der neuen Bundesländer ihren Stellenwert beibehält. Wenn Sie uns in der Begründung des vorlie- genden Gesetzentwurfes vorrechnen, dass das Bundesfi- nanzministerium durch langfristige Verpachtung höhere Einnahmen erzielt als durch Verkauf der Flächen, haben Sie eigentlich schon selber ein wichtiges Argument für die Unhaltbarkeit Ihres Vorschlages gegeben: Im Umkehr- schluss bedeutet dies nämlich, dass den Unternehmen durch laufende Zahlung des Pachtzinses langfristig mehr Geld entzogen wird als nötig. Und Landwirte rechnen in Generationen. Meine Fraktion wird zusammen mit unserem Koaliti- onspartner dafür sorgen, dass nach fast zehn Jahren deut- scher Einheit die Aufgabe der abschließenden Organisa- tion der Treuhand-Nachfolgeunternehmen erfolgreich durchgeführt wird. Wir werden diese Aufgabe in ange- messener Zeit und im dazu geeigneten Rahmen lösen. Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir nicht zustimmen. Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Die Partei des Demokratischen Sozialismus hat mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf zu ihren Wurzeln und zu den Prakti- ken der SED zurückgefunden. Die SED-Fortsetzungspar- tei bekennt sich damit endlich offen zur Enteignung, Ver- staatlichung, Zentralisierung und Dirigismus. Die PDS will offensichtlich die derzeit geplante Neufassung des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes für die Forderung instrumentalisieren, öffentliches Eigentum in den neuen Bundesländern künftig nicht mehr vorrangig zu verkaufen, sondern in öffentlicher Hand zu halten. Das Ziel wird deutlich definiert: Der Staat muss Eigentümer bleiben und darf allenfalls noch verpachten. Zwischen den Zeilen des Gesetzentwurfs sind die wah- ren Gründe zu erkennen: Vor einigen Monaten stellte Herr Gysi publikumswirksam die neuen Thesen der PDS vor. Auch dort werden Enteignung und Verstaatlichung als le- gitime Mittel gepriesen und im Gegenzug Misstrauen ge- genüber privatem Engagement gesät. In dem hier debat- tierten Gesetzentwurf wird genau diese Position vertreten. Wenn der Staat vom Prinzip her Grund und Boden oder Beteiligungen nicht mehr vorrangig privatisieren soll, werden längst überholte und in der Geschichte als un- tauglich erwiesene Mittel reaktiviert. Nicht erst seit dem Parteitag in Münster wissen wir, dass die PDS in dieser Bundesrepublik noch nicht ange- kommen ist. Bei der zunehmenden DDR-Verklärung auch in den Führungszirkeln der Partei bezweifle ich, dass ihr das in den nächsten 10 Jahren gelingen wird. Wer eine ganze Volkswirtschaft an den Rand des Abgrundes ge- führt hat, sollte nicht als Wirtschaftsspezialist auftreten und sich mit entsprechenden Vorschlägen wenigstens zurückhalten. Anliegen des Treuhandgesetzes war und ist, Vermögen nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu pri- vatisieren und zu verwerten. Es schreibt aus gutem Grunde vor, dass volkseigenes Vermögen in erster Linie zu privatisieren ist. Private Investoren sind langfristig stets bessere und effektivere Bewirtschafter von Gütern als der Staat, denn sie sind durch das investierte Kapital gezwungen, wirtschaftlich zu arbeiten. Bereits in der Präambel des Treuhandgesetzes wird festgestellt, dass nach den Erfahrungen der DDR vor al- lem die unternehmerische Tätigkeit des Staates so rasch und so weit wie möglich zurückgeführt werden soll. Diese ordnungspolitische Positionierung gilt auch für die Frage, ob die öffentliche Hand Grund und Boden als Eigentum hält und langfristig verpachtet oder direkt veräußert. Es gibt keinerlei stichhaltige Argumente dafür, auf Dauer Grund und Boden in staatlichem Besitz zu behal- ten. Die These der PDS, wonach die Vergabe von Nut- zungsrechten für die Einnahmesituation des Bundes lang- fristig vorteilhaft sei, ist eine typische Nebelkerze und durch keinerlei Fakten zu belegen. Langfristige Nut- zungsrechte mit entsprechenden Pachteinnahmen sind zwar geeignet, fortlaufende Zinszahlungen des Bundes abzusenken, doch ständige Unterhaltungs- oder sonstige Verwaltungskosten für den Bund als Eigentümer sind ebenfalls zu berücksichtigen. Bei einer Privatisierung mit den entsprechenden Ein- nahmen erhält der Bund hingegen die Möglichkeit, bereits seine Nettokreditaufnahme zu minimieren und damit künftige Zinszahlungen zu vermeiden, bevor sie überhaupt entstehen. Es gibt keine Alternative zur weite- ren Veräußerung vorhandener Vermögenswerte nach aus- gewogenen Kriterien, womit die Einnahmesituation der BVVG bzw. der BvS und mittelbar auch des Bundes ver- bessert werden kann. Der vorliegende Gesetzentwurf der PDS knüpft an die Novellierung des Entschädigungs- und Ausgleichsleis- tungsgesetzes an. Die Bundesregierung will – nach ent- sprechender Kritik der Brüsseler EU-Kommission – die Verbilligungsmöglichkeiten beim Landkauf einschränken Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10270 (C) (D) (A) (B) und schießt mit ihren Plänen deutlich über das vorgege- bene Ziel hinaus. Auch das muss noch debattiert werden. Doch bereits jetzt ist klar, dass die voraussichtlich mit der Novellierung einhergehenden höheren Kaufpreise kein Argument dafür sind, künftig Flächen nur noch zu verpachten, statt sie zu privatisieren. Für mich steht als primäres Ziel die weitere Förde- rung der Entwicklungsmöglichkeiten landwirtschaftli- cher Betriebe im Vordergrund. Dabei wird gerade in den neuen Ländern die Eigentumsbildung weiterhin unter- stützt. Dementsprechend müssen auch künftig die Ver- billigungsmöglichkeiten des EU-Rechts bei einem Ver- kauf ausgeschöpft und möglichst hohe Verbilligungs- möglichkeiten gewährt werden. In benachteiligten Gebieten waren beispielsweise Verbilligungssätze von 75 Prozent erlaubt, jetzt sind es immerhin noch 50 Pro- zent. Wenn solche Verbilligungsmöglichkeiten auch künftig ausgeschöpft werden, bedarf es keiner neuen gesetzlichen Schwerpunktsetzung zugunsten langfristiger Nutzungs- rechte. Davon unberührt bleibt neben der vorrangigen Privati- sierung auch eine Verpachtung an finanziell schwächere Betriebe weiterhin möglich. Dies hat die BVVG in ihrer Tätigkeit unter Beweis gestellt und damit gezeigt, dass Privatisierungsvorrang nicht in Widerspruch zu Verpach- tungsmöglichkeiten in begründeten Fällen steht. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die frei gewählte Volkskammer der DDR hat am 17. Juni 1990 das Treuhandgesetz beschlossen. Hierin heißt es: „Die Treuhandanstalt ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Sie dient der Privatisierung und Verwertung des volksei- genen Vermögens nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft“, § 2, Abs. 1. In § 1, Abs. 6 Treuhandge- setz heißt es in Bezug auf das landwirtschaftliche Eigen- tum: „Für die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens in der Land- und Forstwirt- schaft ist die Treuhandschaft so zu gestalten, dass den ökonomischen, ökologischen, strukturellen und eigen- tumsrechtlichen Besonderheiten dieses Bereiches Rech- nung getragen wird.“ Dies ist in den ersten Jahren nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach teilweise sehr kontrover- sen Diskussionen geschehen. Es wurden unter anderem gesetzliche Regelungen für die Anpassung der landwirt- schaftlichen Betriebe an die Rahmenbedingungen des EU-Binnenmarktes und zur Klärung des Eigentums an Grund und Boden sowie zur Zusammenführung von Bo- den- und Gebäudeeigentum erlassen. Zentral sind in die- sem Zusammenhang das Landwirtschaftsanpassungsge- setz, das Sachenrechtsbereinigungsgesetz sowie das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. Diese Gesetze wurden in den vergangenen Wahlperioden mehr- fach angepasst, um Problempunkte, die sich in der Praxis ergaben, auszuräumen. Aufgrund dieser differenzierten gesetzlichen Regelun- gen konnte den Erfordernissen der Landwirtschaft im schwierigen Umstrukturierungsprozess Rechnung getra- gen werden. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Landwirt- schaft nicht wie viele andere Wirtschaftszweige einfach „weggebrochen“ ist, sondern dass sie sich als leistungs- starker und wettbewerbsfähiger Sektor hat etablieren kön- nen. Allerdings konnten und können die betreffenden Ge- setze Unrecht aus der Vergangenheit nur sehr begrenzt heilen. Ich bin der Auffassung, dass dies durch ein Gesetz kaum zu leisten ist und dass es daher nur um einen Aus- gleich der verschiedenen Ansprüche geht. Die PDS problematisiert in ihrem Gesetzentwurf den hohen Anteil an Pachtflächen in den ostdeutschen Land- wirtschaftsbetrieben. Richtig ist die Feststellung, dass der Anteil von landwirtschaftlichen Pachtflächen in Deutsch- land allgemein ansteigt. Aber es handelt sich hierbei um einen Effekt des Strukturwandels nach dem Prinzip: Auf- gabe des Betriebes aus wirtschaftlichen oder Altersgrün- den und Verpachtung der Flächen an weiter wirtschaf- tende Interessenten, von privat an privat! Der Verbleib von land- und forstwirtschaftlichen Flächen in der öffent- lichen Hand ist nur in bestimmten Fällen sinnvoll, dann nämlich, wenn sich dadurch ein übergeordnetes gesell- schaftliches Ziel besser erreichen lässt, wie es etwa bei den Naturschutzflächen von gesamtstaatlicher Bedeutung aktuell diskutiert wird. Der Pachtflächenanteil landwirtschaftlicher Betriebe in den neuen Bundesländern übersteigt häufig 90 Prozent der bewirtschafteten Fläche. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Eckwerte vieler Betriebe wird sich daran auch kurzfristig nicht viel ändern. Deshalb hat der Päch- terschutz für uns Vorrang vor den kurzfristigen Interessen eines Erwerbers. Die Bundesregierung hat daher zu Be- ginn des vergangenen Jahres verfügt, dass die mit der BVVG abgeschlossenen langfristigen Pachtverträge auf 18 Jahre ausgeweitet werden können, wenn der jeweilige Betrieb dies wünscht. Damit wird den jetzt wirtschaften- den Betrieben eine aus unserer Sicht ausreichende Pla- nungssicherheit gegeben. Wer aus wirtschaftlichen Grün- den am vergünstigten Flächenerwerb nach EALG nicht teilnehmen kann oder will, der hat in der Regel die Mög- lichkeit, bis mindestens in das Jahr 2012 zu wirtschaften und zu disponieren, ob er Kaufoptionen wahrnehmen möchte oder nicht. Grundsätzlich bietet das Eigentum an der bewirtschaf- teten Fläche die zentrale Basis eines jeden landwirt- schaftlichen Betriebes. Die PDS fordert demgegenüber in ihrem Gesetzentwurf, aus der Not eine Tugend zu ma- chen, nach dem Motto: Weil „die Landwirtschaft sich im- mer stärker zu einer Pachtlandwirtschaft“ entwickelt, soll Pacht der Regelfall und Kauf die Ausnahme werden. Gleichzeitig liefern Sie, werte Kolleginnen und Kolle- gen von der PDS, aber das Gegenargument zu ihrer For- derung: Sie behaupten, es sei zum Vorteil der landwirt- schaftlichen Betriebe, wenn diese nicht kaufen, sondern langfristig pachten würden. Im nächsten Satz rechnen Sie dann aber vor, dass es ein Vorteil für den Fiskus wäre, wenn er nicht einmalige Verkaufserlöse, sondern langfris- tige Pachtzahlungen einnehmen könnte. Sie kalkulieren dabei Einnahmen für den Bund in Höhe von jährlich 200 Millionen DM. Ihnen scheint entgangen zu sein, dass Sie damit die Liquidität der Betriebe schwächen, dass Sie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10271 (C) (D) (A) (B) Finanzkraft aus den Betrieben abziehen, die Sie angeblich mit diesem Gesetzentwurf stärken wollen. Dieser innere Widerspruch Ihres Gesetzentwurfes lässt sich nicht auflösen. Es gibt im Treuhandgesetz keinen ein- zigen Hinweis darauf, dass mit „Privatisierung“ vom da- maligen Gesetzgeber etwas anderes gemeint gewesen sein könnte als die Herstellung bzw. Wiederherstellung von Privateigentum im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches an Grundstücken, Immobilien und Wirtschaftsgütern. Und ich sehe auch heute, zehn Jahre danach, keinen An- lass, diese Auffassung zu relativieren. Meine Fraktion wird daher der Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder folgen und den Gesetzentwurf ablehnen. Jürgen Türk (F.D.P.): Die PDS zeigt mit ihrem Ge- setzentwurf zur Änderung des Treuhandgesetzes einmal mehr, dass sie noch immer der sozialistischen Land- und Forstwirtschaft à la DDR verhaftet ist. Sie zielt mit ihrem Gesetzesänderungsvorschlag eindeutig darauf ab, mit al- len ihr zu Gebote stehenden Mitteln die weitere Privati- sierung von Bodenreformland in den neuen Bundeslän- dern zu verhindern. Nach ihren Vorstellungen sollten die Restbestände des Bodenreformlands in Staatsbesitz ver- bleiben und lediglich verpachtet werden. Mit ihrem Gesetzentwurf versucht die PDS, dies den anderen Parteien schmackhaft zu machen. So verweist sie darauf, dass die Pacht langfristig gesehen eine für den Staat stabil fließende Einnahmequelle wäre. Das aber ist stark zu bezweifeln. Denn, wie die PDS selbst in ihrem Gesetzentwurf hervorhebt, liegen die Rest- flächen „in ihrer Mehrheit in benachteiligten Gebieten“. Im Klartext heißt das, dass sie für Pächter nicht sehr verlockend sein dürften. Ihre Attraktivität wird im Rah- men von EU-Erweiterung und Globalisierung weiter sin- ken. Statt mit Einnahmen ist also am Ende viel eher damit zu rechnen, dass der Staat auf den Flächen sitzen bleibt und sie ihm nichts als Ausgaben bescheren. Zudem argumentiert die PDS, dass es manche land- wirtschaftliche Betriebe finanziell überfordern könnte, die von ihnen gepachteten Flächen zu kaufen, und Inves- titionen in für sie wichtige Bereiche verhindern würde. Diese Besorgnis ist offensichtlich aufgetaucht, seit die EU-Kommission im Dezember 1998 beanstandet hat, dass nicht nur Alteigentümer, sondern auch Neueinrichter und Nachfolger von landwirtschaftlichen Produktionsge- nossenschaften verbilligt Agrar- und Forstflächen in den neuen Bundesländern erwerben können. Die Regierungskoalition beschloss daraufhin eine No- vellierung des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungs- gesetzes, die zu einem Ansteigen der Kaufpreise um 20 bis 30 Prozent führt. Davon sind übrigens auch Altei- gentümer betroffen, was von der F.D.P. als bewusste Be- schneidung der Interessen der Alteigentümer angesehen wird. Grünen-Minister Trittin setzte dem noch eines drauf und will land- und forstwirtschaftlich genutzte naturrele- vante Flächen an Naturschutzverbände verschenken, wo- mit er Eigentumsrechte mit Füßen tritt. Außerdem duldet der mühsam mit der europäischen Kommission erreichte Kompromiss zum Flächenerwerbsprogramm noch nicht einmal das Herausnehmen eines einzigen Hektars aus der Privatisierung. Anstatt den Schutz des Eigentums weiter zu verletzen, sollte die Bundesregierung die bereits ein- getretenen Diskriminierungen beim Verkauf beseitigen. Das neue Bundesnaturschutzgesetz muss die bisherige Ausgleichsregelung und einen Vorrang für den Vertrags- naturschutz enthalten. Um auf den Vorschlag der PDS zurückzukommen: Wenn landwirtschaftliche Betriebe mit dem Kauf der von ihnen genutzten Flächen tatsächlich überfordert sein soll- ten, würde die Verpachtung auch aus Sicht der F.D.P. Sinn machen, aber nur dann. Ansonsten halten wir den Vorstoß der PDS für einen erneuten Versuch, bewährte marktwirt- schaftliche Grundlagen auszuhebeln. Es versteht sich von selbst, dass die F.D.P. dabei nicht mit von der Partie ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10272 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid), der
am 29. Mai seinen 65. Geburtstag feierte, sowie dem Kol-
legen Hans-Otto Wilhelm (Mainz), der am 5. Juni seinen
60. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Glück-
wünsche des Hauses aussprechen.


(Beifall)

Sodann teile ich mit, dass der Kollege Jürgen

W. Möllemann am 5. Juni 2000 auf seine Mitgliedschaft
im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als seine Nach-
folgerin hat die Abgeordnete Ina Albowitz am
6. Juni 2000


(Beifall)

– Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen wollte –


(Heiterkeit)

zu unserer Freude die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben. Ich begrüße die uns bereits aus früheren
Wahlperioden bestens bekannte Kollegin sehr herzlich.


(Beifall)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die

verbundene Tagesordnung dieser Woche um weitere Zu-
satzpunkte erweitert werden. Die Punkte entnehmen Sie
bitte der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste:


(siehe 107. Sitzung)


2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zu den steigenden Mineralöl-
preisen und der Forderung nach Verzicht auf die bzw. Aus-
setzung der Ökosteuer (siehe 107. Sitzung)


3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser,
Hermann Bachmaier, Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian
Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäischer
Rat in Feira – Europa entschlossen voranbringen – Druck-
sache 14/3514 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der

Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 26.)

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens,

Dr. Ditmar Staffelt, Hermann Bachmaier, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordne-
ten Dr. Antje Vollmer, Margareta Wolf (Frankfurt), Volker
Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreis-
bindung – Drucksache 14/3509 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn,
Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS: Für eine rechtsverbindliche Europä-
ische Grundrechtecharta – Drucksache 14/3513 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zur Zukunft der Bundesdruckerei
und der mit ihrem Betrieb verbundenen hoheitlichen Auf-
gaben

6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt (Pforzheim),
Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Annelie
Buntenbach, Cem Özdemir, Marieluise Beck (Bremen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE

10085


(C)



(D)



(A)



(B)


108. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000

Beginn: 9.00 Uhr

GRÜNEN: Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt – Drucksache 14/3516 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss


(Emmendingen)

Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Sondergene-
ralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung
der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung in
Genf (Kopenhagen plus Fünf) – Drucksache 14/3504 –

8. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Hilfe für durch
Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infi-
zierte Personen (Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG) – Drucksa-
chen 14/2958, 14/3282 – (Erste Beratung 95. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ge-
sundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 14/3538 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit
erforderlich – abgewichen werden.

Weiterhin ist Folgendes vereinbart worden: Die Bera-
tung des Tagesordnungspunktes 7, Fortbestand befristeter
Arbeitsverhältnisse, soll mit dem Tagesordnungspunkt
14, Weltausstellung EXPO 2000, getauscht werden. Ta-
gesordnungspunkt 10, Beratung der Beschlussempfeh-
lung und des Berichts „Bildung für eine nachhaltige Ent-
wicklung“, soll abgesetzt und schließlich sollen die Reden
zu Tagesordnungspunkt 16, Antrag des Bundesministeri-
ums der Finanzen zur Jahresrechnung 1999, zu Protokoll
gegeben werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen ein-
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
über einen Geschäftsordnungsantrag abstimmen.

Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die
heutige Tagesordnung um die Beratung von vier Be-
schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses zu er-
weitern und diese Beschlussempfehlungen unter Abwei-
chung von der Frist für den Beginn der Beratung heute zu
behandeln.

Das Wort hat der Kollege Wilhelm Schmidt für die
SPD-Bundestagsfraktion.


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410800100
Guten Morgen,
Herr Präsident! Guten Morgen, Frau Albowitz! Herzlich
willkommen! Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Es gibt wirklich noch angenehme Ereignisse zusätzlich zu
dem, was wir ohnehin in diesem Hause immer wieder po-
sitiv erleben. Ich rede nicht nur für die SPD-Fraktion, son-
dern in diesem Fall auch für die CDU/CSU-, die Grüne-
und die F.D.P.-Fraktion, wenn ich feststelle, dass es Sinn
macht und wichtig ist, dass wir die Ergebnisse des Ver-
mittlungsausschusses von gestern Abend heute hier im

Plenum behandeln, absegnen, dem Bundesrat überwei-
sen, damit er sie morgen behandeln kann. Wir wissen
dann alle, dass in den vier Komplexen, die behandelt wor-
den sind, nun Einigkeit herrscht und wir damit umgehen,
die Gesetze in Kraft setzen können.

Es geht darum, dass die PDS dieses Verfahren nicht für
angemessen hält und sich dagegen wehrt. Ich will darauf
hinweisen, dass ich mich gar nicht auf die Geschäftsord-
nung beziehen möchte. Mit Blick darauf ist die Sache
nicht ganz ausdiskutiert und rechtlich geklärt, ob wir un-
ter dem Aspekt der Fristeinrede die Möglichkeit hätten
oder nicht. Wir sind der Auffassung, wir können das tun.

Es ist im Übrigen in diesem Hause eine langjährige
Übung, mit den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses
eines Mittwochs am Donnerstag ins Plenum des Bundes-
tages zu gehen, damit am Freitag der Bundesrat darüber
beraten kann.
Das Entscheidende ist, dass wir alle gemeinsam den An-
spruch haben, dieses zügige Verfahren, wenn man sich in
diesem Gremium über die Grenzen von Parteien und
Fraktionen hinweg geeinigt hat und die Länder einbezie-
hen konnte, alsbald zu Ende zu bringen. So steht es je-
denfalls in der Geschäftsordnung des Bundestages und
dies halten wir für die tragende Regelung.

Ich kann andererseits verstehen, dass die PDS zum
wiederholten Mal darauf aufmerksam machen möchte,
dass sie nicht Mitglied im Vermittlungsausschuss ist. Dies
hat allerdings seine Grundlagen, und zwar in den gesetzli-
chen Bestimmungen und in der Geschäftsordnung des
Bundestags. Darüber haben wir mehrfach diskutiert, das
ist nicht unrechtmäßig, sondern ein ganz normaler Vor-
gang; denn nach d’Hondt hat die PDS keine Möglichkeit,
in das 16er-Gremium auf Bundestagsseite einzuziehen.

Ich will deswegen darauf aufmerksam machen, weil
ich finde, dass wir an dieser Stelle nicht noch einmal die
alten Schlachten führen müssen, nur damit die PDS ihre
Öffentlichkeit bekommt. Sie aber will die Geschäftsord-
nungsdebatte, nun soll sie sie auch haben.

Ich will darauf hinweisen, dass wir gestern – wir wer-
den das heute Mittag im Rahmen der normalen Tagesord-
nung beraten – nach langer Debatte – sie dauerte über
sechs Stunden – im Vermittlungsausschuss zu allen vier
Komplexen ein echtes Ergebnis zustande gebracht haben.
Ich finde das sehr ermutigend, auch für die Atmosphäre
und die Arbeit hier im Haus. Von daher ist es schon wich-
tig, dass wir auch der Öffentlichkeit die Ergebnisse prä-
sentieren und uns auf diese Weise selbst entsprechend bin-
den.

Ich finde es im Übrigen sehr spannend, dass die PDS
selbst durch ihren Vorsitzenden Gysi – Herr Gysi, ich
habe mir das heraussuchen lassen – am 26. Septem-
ber 1997 vehement Wert darauf gelegt hat, dass die da-
maligen Vermittlungsausschussergebnisse vom Tag zuvor
unverzüglich im Bundestag behandelt wurden. Warum
Sie heute, drei Jahre später, zu einer anderen Erkenntnis
kommen, bleibt mir verschlossen. Von daher sind Sie et-
was widersprüchlich, deshalb sollen Sie das auch begrün-
den. Ich empfehle das Protokoll der 193. Sitzung der
13. Legislaturperiode Ihrer Aufmerksamkeit.




Vizepräsident Rudolf Seiters
10086


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will, dass wir an dieser Stelle einig sind; denn mir
ist sehr wichtig, dass wir heute die Vermittlungsaus-
schussergebnisse behandeln. Ich bitte Sie um Ihre Zustim-
mung und sage das im Namen aller Fraktionen außer der
PDS.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800200
Das Wort hat nun für
die PDS-Fraktion der Kollege Roland Claus.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410800300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Schmidt hat schon angekün-
digt, dass ich namens der PDS-Fraktion diesem Antrag
widersprechen möchte. Ich denke, Sie haben sich mit ei-
ner Begrifflichkeit verraten, Herr Schmidt. Sie haben
nämlich vom „Absegnen“ der Beschlüsse des Vermitt-
lungsausschusses gesprochen.


(Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist auch der Sinn!)


Das macht kenntlich, um was es hier geht. Wir können im
Moment die Beschlüsse nämlich gar nicht als Drucksa-
chen des Bundestags vorfinden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gestern Abend an alle Fraktionen überwiesen!)


Nicht die PDS-Fraktion hat die Geschäftsordnungsde-
batte beantragt, sondern Sie haben das machen müssen,
weil nicht wir, sondern Sie von der bestehenden Ge-
schäftsordnung abweichen wollen. Wir wollen nur auf
den Sinn der Frist hinweisen. Die Geschäftsordnung ist
doch nicht ein undurchsichtiges Regelwerk. Wenn in der
Geschäftsordnung steht, die Abgeordneten sollen min-
destens einen Tag Zeit haben, sich mit einer Beschluss-
grundlage zu befassen, dann macht das in hohem Maße
Sinn.

Ich finde, es ist auch nicht richtig, an dieser Stelle zu
sagen, die PDS habe nur ein Eigeninteresse. Es geht uns
alle an, wenn wir bereit sind, über Dinge zu beschließen,
die überhaupt noch nicht vorliegen.


(Beifall bei der PDS)

Der Vermittlungsausschuss hat gestern Abend über so

spannende und sensible Themen wie das Stiftungsrecht
und das Abgeordnetengesetz befunden. Ich will Ihnen
jetzt das Problem nennen, das wir damit haben. Dass wir
nicht im Vermittlungsausschuss vertreten sind, haben wir
registrieren müssen. Hier sind wir Demokratinnen und
Demokraten genug, dass wir begreifen, dass in einem
16er-Gremium eine solche Regelung eintreten kann. Was
wir aber kritisieren, ist, dass Sie uns mit diesem Verfahren
jegliche Chance nehmen, uns überhaupt sachgerecht auf
eine Entscheidung vorzubereiten.


(Beifall bei der PDS)

Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, uns mit den In-
halten zu befassen.

Wenn man an der Kompromisssuche nicht beteiligt ist,
muss einem wenigstens die Möglichkeit eingeräumt wer-
den, das Nachvollziehen zu leisten. Das haben Sie an an-
deren Stellen auch schon akzeptiert.

Was haben wir nun beantragt? Wir haben in den Vor-
runden der heutigen Debatte lediglich beantragt, die Be-
schlussfassung von dem heutigen auf den morgigen Tag
zu verlegen. Dies ist nun nicht gerade ein sonderlich links-
radikaler Ansatz, den wir verfolgen.


(Beifall bei der PDS)

Da wundert es einen schon, wenn sich CDU und SPD

in dieser Sache so schrecklich einig sind. Die CDU hat vor
kurzem angekündigt, sie wolle eine inhaltliche Auseinan-
dersetzung mit der PDS suchen. Dies ist wohl längst ver-
gessen. Für die SPD ist es allerdings – so finde ich – ein
Rückfall hinter die eigenen Vorsätze bezüglich des Um-
ganges mit anderen Fraktionen dieses Hauses. Nun sagen
manche: Bei der SPD ist der Rückfall der Vorsatz. Ich bin
damit etwas vorsichtiger, aber ich finde, Sie lassen sich
den Umgang mit der PDS nach wie vor von der CDU vor-
schreiben, und das halten wir für kritikwürdig.

Nun steht es in der Macht Ihrer Mehrheit, die Ordnung
des Bundestages außer Kraft zu setzen, Wahrheiten und
Mehrheiten zu verwechseln. Das können Sie alles ma-
chen, Sie können aber nicht allen Ernstes erwarten, dass
wir das unwidersprochen hinnehmen. Deshalb werden
wir dagegen stimmen. Parlamentsrecht muss Parlaments-
recht bleiben, auch wenn es um die kleinste Fraktion geht.


(Beifall bei der PDS)

Nun wird die ganze Sache nicht besser, wenn Sie, Herr

Schmidt, sagen: Das ist langjährige Übung, das haben wir
schon oft gemacht. Selbstverständlich – wenn Sie Herrn
Gysi zitieren, wissen Sie das doch von uns – sind wir, wie
unser Vorsitzender, eine flexible Fraktion. Mit uns ist
manches zu machen. Aber das hängt von der Art und
Weise der Behandlung ab.

In dieser Woche gab es ein Beispiel für einen anderen
Umgang. Es gab einen recht kurzfristigen Antrag der Bun-
desregierung zum Kosovo. Wir hätten auch dort mit Fris-
ten operieren können. In diesem Fall hat sich der Bundes-
verteidigungsminister zu Vertreterinnen und Vertretern
unserer Fraktion bemüht. Wir sind in die Dinge einge-
weiht worden. Ich denke, daraus wird nicht gerade eine
langjährige Männerfreundschaft entstehen, denn wir sind
inhaltlich meilenweit auseinander, aber dies war eine an-
dere Art des Umgangs. Das ist das, was wir hier einkla-
gen. Ich sage Ihnen nochmals: Sie haben die Chance, das
zu tun, was Sie tun wollen, nämlich die Ordnung des Bun-
destages außer Kraft zu setzen. Im Moment haben Sie
aber auch noch die Chance, dies zu unterlassen.

Im Übrigen vermitteln Sie das Bild eines Wanderers im
Walde, der sich verirrt hat, aber mit leichter Uneinsichtig-
keit von sich gibt: Die Karte ist richtig, aber die Gegend
ist falsch.

Schönen Dank.

(Beifall bei der PDS)





Wilhelm Schmidt (Salzgitter)


10087


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800400
Wir kommen zur Ab-
stimmung. Wer stimmt für den Antrag der SPD? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stim-
men des Hauses mit der erforderlichen Mehrheit gegen
die Stimmen der PDS angenommen.

Gemäß § 29 Abs. 3 der Geschäftsordnung gebe ich dem
Kollegen Jürgen Koppelin das Wort.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1410800500
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich sage ausdrücklich, dass ich
nicht für meine Fraktion spreche. Ich möchte einige An-
merkungen zur heutigen Tagesordnung machen. Ich
finde es nicht in Ordnung, dass uns heute eine Tagesord-
nung mit einem voraussichtlichen Ende gegen 3 Uhr vor-
gelegt wird. Ich finde, dies ist eines Parlamentes nicht
würdig.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Kollege, wenn Sie so weiterreden, dauert es noch länger! – Heiterkeit)


– Ich kann das verstehen, aber Sie sind wahrscheinlich
heute die Frühschicht für Ihre Fraktion und die anderen
nachher sind die Spätschicht. Ich jedoch denke auch an
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses und
unseres Parlaments, die ebenfalls so lange hier arbeiten
und präsent sein müssen. Dies entspricht nicht der Für-
sorgepflicht des Ältestenrates gegenüber diesen Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern. Vor diesem Hintergrund finde
ich es nicht in Ordnung, dass wir eine so lange Tagesord-
nung haben.


(Beifall des Abg. Peter Dreßen [SPD])

Aber der Grund dafür, dass ich mich gemeldet habe, ist

etwas, worüber ich mich sehr ärgere. Dazu möchte ich
auch einen Antrag stellen. Nun ist es bereits zum zweiten
Mal innerhalb kürzester Zeit der Fall, dass wir das Thema
„Menschenrechtsverletzungen in China“ zur späten
Nachtstunde diskutieren. Es war vorgesehen – man stelle
sich das einmal vor –, dieses wichtige Thema um etwa
1.30 Uhr heute Nacht zu beraten. Nach Rücksprache mit
der Kollegin, die für unsere Fraktion sprechen wird, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, kann ich Ihnen ankündi-
gen: Wir werden die Rede nicht zu Protokoll geben.

Früher, als Sie, Rot-Grün, in der Opposition waren,
wäre dieses Thema sicherlich niemals in den Nachtstun-
den diskutiert worden. Seitdem Sie in der Regierung sind,
drücken Sie es in die späten Nachtstunden hinein. Das
finde ich nicht in Ordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Herr Präsident, daher beantrage ich, die Haltung der

Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in
China im Anschluss an den ersten Tagesordnungspunkt,
den wir heute behandeln, nämlich die Weltkonferenz zur
Zukunft der Städte, zu diskutieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800600
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Wilhelm Schmidt.


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410800700
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bin schon etwas verwun-
dert über den Antrag des Kollegen Koppelin, unabhängig
davon, dass ich jetzt nicht sicher einschätzen kann, ob er
die volle Rückendeckung seiner Fraktion hat. Das ist of-
fensichtlich nicht der Fall, wie ich durch die Kopfbewe-
gungen auf der F.D.P.-Seite erkennen kann.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Er wollte mal seinem Ärger Luft machen!)


Ich will nur darauf hinweisen, dass wir im Kreis der
Geschäftsführer der Fraktionen und dann im Ältestenrat
alle gemeinsam – durch die entsprechenden Vertreterin-
nen und Vertreter aller Fraktionen – die Tagesordnung be-
schließen. Was diesen Punkt angeht, Herr Koppelin, hat
sich kein Widerspruch gezeigt, sodass ich nur sagen kann:
Im Einvernehmen zwischen allen Fraktionen war nichts
anderes möglich, als den Tagesordnungspunkt betreffend
die Menschenrechte in China an der Stelle, die Sie eben
bezeichnet haben, zu platzieren.

Ich will das nur noch einmal der Ordnung halber fest-
gestellt haben. Von daher kann ich Ihren Widerspruch nur
als persönlichen empfinden. Den respektiere ich; aber
mehr ist an der Stelle nicht zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800800
Ich lasse über den
Antrag abstimmen. Wer für den Antrag des Kollegen
Koppelin ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegen-
probe! – Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Weltkonferenz zur Zukunft der Städte – Ur-
ban 21 – in Berlin am 4. bis 6. Juli 2000

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließ-
ungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen Reinhard Klimmt.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen: Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Deutschland ist in diesem Jahr
Gastgeber für die Welt, zum einen auf der EXPO, die ich
übrigens schon zweimal mit Gästen aus anderen Ländern
besuchen konnte. Sie ist mit Sicherheit besser als der Ruf,
der augenblicklich verbreitet wird. Ich kann Sie also nur
dazu ermutigen, hinzugehen, sich die EXPO zusammen






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mit den anderen Menschen, die aus allen Teilen der Welt
zu uns kommen, anzuschauen. Sie ist einen Besuch wert.

Wir richten zum anderen vom 4. bis 6. Juli 2000 im
Zusammenhang mit der EXPO die Weltkonferenz zur Zu-
kunft der Städte – Urban 21 – aus. Zur Eröffnung werden
der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan,
das für Stadtentwicklung zuständige Mitglied der Euro-
päischen Kommission Michel Barnier und Bundeskanzler
Gerhard Schröder sprechen. Mit dieser Konferenz wird
der internationale Dialog über Umwelt und Entwick-
lung – die Stichworte „Rio 1992“ und „Habitat II 1996“
sind Ihnen bekannt –, der Dialog über die Probleme der
Städte weiter fortgesetzt.

Urban 21 wurde gründlich vorbereitet. Dies gilt so-
wohl für die alte als auch für die neue Bundesregierung.
Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich Klaus Töpfer
danken, der den Anstoß für diese Konferenz gegeben hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der F.D.P. und der Abg. Christine Ostrowski [PDS])


Der Konferenz gingen vier regionale Vorbereitungs-
konferenzen voraus – in Brasilien, in Singapur, in Süd-
afrika und in Deutschland –, die in den verschiedenen Tei-
len der Welt unterschiedliche Probleme repräsentierten.

Eingebunden in den Urban-Prozess sind übrigens auch
die „Global Parliamentarians on Habitat“. Beteiligt an
dieser Gruppe ist ja auch der Deutsche Bundestag; ver-
antwortlich führend ist das Mitglied des Bundestages
Peter Götz. Auch ihm und allen seinen Mitstreiterinnen
und Mitstreitern möchte ich herzlich für das danken, was
sie zur Vorbereitung dieser Konferenz geleistet haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Grundlage für die Diskussion auf der Weltkonferenz
wird der Bericht der eingesetzten Weltkommission sein.
An den Sitzungen der Kommission, die mehrfach stattge-
funden haben, hat auch Franz Müntefering teilgenom-
men. Ich hatte die Ehre, an der letzten Sitzung, auf der wir
die Arbeitsergebnisse zusammengefasst haben, teilzuneh-
men. Ich werde sie Ihnen kurz darstellen.

Aber zunächst eine allgemeine Vorbemerkung. Der
Bericht belegt deutlich, wie sehr die Welt zu einer städti-
schen Welt geworden ist. Dieser Prozess der Verstädte-
rung hält an. Die Frage, wie die Städte auch in Zukunft le-
bensfähig bleiben, gehört für uns alle – das gilt welt-
weit – zu den dringendsten Herausforderungen der Poli-
tik.

Wir sehen mit Sorge, wie massiv die Weltbevölkerung
vor allem in den Städten wächst. Wir erwarten, dass im
Jahre 2025 fast 100 städtische Ballungsräume mehr als
5 Millionen Einwohner haben werden und dass es Mega-
cities mit bis zu 30 Millionen Einwohnern geben wird.
Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung werden dann in den
Städten leben; zurzeit sind es bereits 50 Prozent. Daher
gibt uns der Weltbericht konkrete Aufgaben, mit denen
wir uns auseinander setzen müssen, wenn wir dieses Pro-
blem bewältigen wollen.

Erstens. Wir müssen darauf achten, dass die zuneh-
mende Zersiedelung nicht weitergeht. Der Raum, auf
dem wir leben, wird immer knapper, auch wenn wir beim
Überfliegen unseres Landes sehr viele Freiflächen fest-
stellen können. Diese Zersiedelung ist eines der Pro-
bleme, das wir unbedingt steuern müssen, wenn wir an
zukünftige Generationen denken:


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Wir müssen in Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft – wir können das nicht allein durch Verord-
nungen und Gesetze leisten – dafür Sorge tragen, dass die
ökologischen Fragen auch in der Produktion stärker
berücksichtigt werden. Wir sind sehr erfolgreich in der
Rationalisierung, wenn es darum geht, menschliche Ar-
beitskraft einzusparen. Aber wenn es darum geht, den
Ressourcenverbrauch einzuschränken, sind wir nicht so
erfindungsreich. Es geht vor allem um Ressourcenratio-
nalisierung.Das ist unser Appell an die Wirtschaft, daran
auch in der Zukunft mitzuwirken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen die Stärkung und die Verstärkung der
städtischen Selbstverwaltung und wir brauchen die Stär-
kung und die Verstärkung der kulturellen Verantwortung
in den Städten. All diese Elemente gehören zusammen.
Auch wir in den entwickelten Regionen, als die wir uns
empfinden, müssen daran arbeiten. Die Qualität der Stadt
hat einen bedeutenden Einfluss auf die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands und auf den sozialen Frieden. Städtebau-
politik ist auch Standortpolitik. Es gibt einen engen Zu-
sammenhang zwischen wirtschaftlichem Strukturwandel
und städtischer Entwicklung. Der Bericht zeigt, dass sich
die großen politischen Fragen unserer Zeit in den Städten
fokussieren.

Bundespräsident Johannes Rau hat zu Recht festge-
stellt, dass die Auswirkungen der weltweiten Modernisie-
rung in besonderer Weise in den Städten zu spüren sind.
Städte sind sozusagen Brennpunkte dieser Entwicklung.
Sie sind aber nicht nur Brennpunkte, sondern sie sind
gleichzeitig auch ein Motor, der uns nach vorne bringen
kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Urban 21 ist die erste große Weltkonferenz in Berlin
in seiner neuen Rolle als Bundeshauptstadt. Wir erwarten
etwa 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen
Teilen der Welt. Dies zeigt: Deutschland ist ein weltoffe-
nes und tolerantes Land. Urban 21 und die Weltausstel-
lung EXPO in Hannover unterstreichen das in besonderer
Weise. Wir haben damit eine neue Rolle in der Welt an-
genommen. Sowohl die Weltausstellung als auch die
Weltkonferenz stehen für unseren Willen, international
Verantwortung zu übernehmen. Wir sind bereit, in der im-
mer stärker zusammenwachsenden Welt an der Lösung
globaler Probleme mitzuarbeiten – wohlgemerkt: mitzu-
arbeiten! Wir haben nicht die Absicht, irgendjemandem
Vorschriften zu machen. Zu diesen Herausforderungen




Bundesminister Reinhard Klimmt

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der Mitarbeit gehört die Urbanisierung mit all ihren Fol-
gen für die Lebensqualität in unseren Städten.

Das europäische Stadtmodell ist dabei ein guter Aus-
gangspunkt, da die Urbanisierung Chancen und Risiken
zugleich bietet. Die Lebensform Stadt bietet zum einen
ganz offensichtlich das größte Entwicklungs- und Inno-
vationspotenzial und ist damit Motor des Fortschritts. Es
gibt eine hohe Kommunikationsdichte und sehr gute
Möglichkeiten der Wissensvermittlung und -vermehrung.
Dies sind ausgezeichnete Voraussetzungen auch für wirt-
schaftliches Wachstum.

Zum anderen dienen besonders – das hängt mit dieser
Einschätzung zusammen – die Metropolen anderer Kon-
tinente, aber auch die Großstädte bei uns, als Zufluchts-
stätte für Menschen, die vor Armut und vor anderen so-
zialen Problemen flüchten. Beiden Feststellungen ist ei-
nes gemeinsam: Sie verkörpern das Prinzip Hoffnung, das
mit den Städten verbunden ist. Deswegen wollen wir
diese Hoffnung als solche auch ernst nehmen. Wir müs-
sen aber auch gleichzeitig sehen, dass mit dieser Urbani-
sierung die Risiken wachsen. Es ist eine Erfahrung, die
wir mit fast allen anderen Ländern teilen. Wenn in den
städtischen Problembereichen nicht rechtzeitig soziale
Konflikte erkannt und abgetragen werden, dann kippt das
soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht in einer Ge-
sellschaft. Deswegen dürfen wir nicht wegsehen und
untätig bleiben, sondern müssen dafür sorgen, dass die
städtischen Balancen erhalten bleiben. Es geht darum,
dass wir unsere Gesellschaft insgesamt in Takt halten,
wenn wir unsere Städte in Takt halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


In Europa haben wir vergleichsweise weniger Pro-
bleme als in anderen Regionen der Welt. Ich glaube, das
liegt daran, dass wir in Europa über Jahrhunderte hinweg
ein Stadtmodell herausgebildet haben, das bei den Men-
schen auf hohe Akzeptanz stößt. Es ist ein Stadtmodell,
das heute mehr bietet als nur die Summe aus Wohnraum,
Supermärkten und Tankstellen. Es ist ein Stadtmodell, das
ein soziales Gefüge darstellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich trete entschieden dafür ein, dass wir uns für unser eu-
ropäisches Stadtmodell weiter engagieren. Ich möchte,
dass wir unsere Kräfte bündeln und sicherstellen, dass un-
sere Städte auch weiterhin kulturelle, wirtschaftliche und
politische Mitte sind. Nur so kann sich mit der Stadt wei-
terhin das verbinden, was sich mit dem Begriff der sozia-
len Freiheit gut umschreiben lässt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Bürger der Städte sollen
sich mit ihrer Stadt identifizieren können. Sie dürfen ru-
hig Lokalpatrioten und stolz auf ihre Stadt sein. Denn die-
ser Stolz kann zu weiterem Engagement motivieren. Dazu
gehört auch, dass wir historisch gewachsene Strukturen

bewahren und damit das individuelle Gesicht unserer
Städte.

Nun ist zu fragen: Warum haben wir in Europa andere
Städte? Ein ganz entscheidender Grund für diese eu-
ropäische Stadtentwicklung liegt aus meiner Sicht – ers-
tens – darin, dass die öffentliche Hand in Fragen der Stadt-
entwicklung nie von ihrer Verantwortung entbunden wor-
den ist – und das aus gutem Grund. Der Staat muss sich
kümmern, das heißt: Bund, Länder und Kommunen. Denn
die Städte sind hoch verdichtete Lebensräume, deren Or-
ganisation den Rahmen garantieren muss. Dazu gehört
zum Beispiel, dass wir Bebauungspläne entwerfen, die zu
akzeptieren sind, auch wenn sie einem oftmals nicht pas-
sen, wenn man gern etwas nach eigenem Gusto bauen
würde und klare individuelle Vorstellungen hat. Wenn sie
mit dem kollidieren, was gesellschaftlich notwendig ist,
muss man sich der Planung beugen.

Zweitens. Der Staat muss sich auch um die Schwachen
kümmern. Soziale Unterstützung und Umweltschutz wer-
den ohne staatliche Verantwortung nicht funktionieren.
Das gilt auch für die Arbeit in diesem Hause in den ver-
schiedensten Bereichen. Wir haben Verantwortung für die
soziale Entwicklung, wir haben Verantwortung für den
Umweltschutz und müssen uns dem immer wieder stellen,
wenn es darum geht, die gesetzgeberische Arbeit zu täti-
gen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schließlich drittens: Es gibt in unseren Städten etwas
wie Verantwortung für Tradition, Geschichte und Kultur.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Erhalt unserer Innenstädte.
Innenstädte sind oft das kulturelle und politische Ge-
dächtnis einer Stadt, sozusagen die Mitte, in der sich alles
fokussiert, was aus der Vergangenheit noch bewahrens-
wert für die Gegenwart erscheint. Für diese Funktion ist
es wichtig, dass wir den öffentlichen Raum erhalten, dass
etwas für alle vorhanden ist, in dem sie sich wiederfinden
können und Rechte haben. Es geht nicht, dass man nur
von einem privaten Segment in das andere schreitet, und
dafür gefälligst um Erlaubnis zu bitten hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hieraus ziehe ich eine erste Schlussfolgerung. Wir
müssen uns wieder stärker auf die Gestaltungsmöglich-
keiten, die wir haben, besinnen. In der jüngsten Vergan-
genheit war oft die Rede davon, ohne den Staat würde al-
les viel, viel besser laufen. Dieser Vulgärliberalismus hat
sich als untauglich erwiesen und ist auch nicht der F.D.P.
zu unterstellen, die in diesem Hause die Liberalität für
sich reklamiert. Aber ich weiß, dass diese Denkweise
auch in allen anderen Fraktionen zu Hause ist.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Aber bei uns hat sie die Mehrheit!)


– Sie werden uns erlauben, dass auch wir uns als liberal
empfinden. Aber in der Ablehnung eines vulgären Libe-
ralismus sind wir uns offensichtlich einig.




Bundesminister Reinhard Klimmt
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Die Weltbank hat 1997 klargestellt, dass uns Laissez-
faire auf der einen Seite oder Staat als Allheilmittel auf der
anderen Seite als Extrempositionen nicht weiterhelfen.
Hier sehe ich ein ganz wichtiges Ergebnis des Urban-Pro-
zesses. Schon die regionalen Vorkonferenzen haben sehr
deutlich gezeigt: Der Staat kommt in neue Verantwortung.
Es geht um eine Renaissance des aktiven Staates. Es geht
nicht etwa um den omnipräsenten, den bevormundenden
Staat, der die Menschen in Schubladen oder in Einheits-
formate pressen möchte. Nein, es geht um den aktiven
Staat und natürlich gleichzeitig auch um den aktivieren-
den Staat, der die Menschen in die Lage versetzt, ihr ei-
genes Schicksal in die Hand zu nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch wir wollen uns mit unserer Arbeit an den großen
Handlungsfeldern des Urban-Prozesses beteiligen. Ers-
tens. Wir werden durch Reformen in der Wohnungspoli-
tik mehr Gerechtigkeit schaffen. Zweitens. Wir leisten
konkrete Beiträge, um die Sicherheit in den Städten zu er-
höhen. Drittens. Der Innovationsmotor Stadt muss ange-
worfen werden und weiterlaufen. Es geht darum, in Zu-
sammenarbeit mit der Wirtschaft innovative Lösungen zu
entwickeln, damit Verkehr, Wohnen und Arbeiten in den
Städten noch besser in Einklang gebracht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das heißt im Einzelnen – zunächst zur Wohnungspo-

litik –: Erstens. Wir haben die Wohngeldnovelle gemacht.
Mit ihr haben wir eine Gerechtigkeitslücke der letzten
Jahre geschlossen. Die Wohngeldnovelle versetzt nicht
nur die betroffenen Mieter in die Lage, sich jetzt wieder
höhere Mieten zu leisten, sondern erweitert auch den In-
vestitionsspielraum der Hauseigentümer. Wir tun sowohl
etwas für die soziale Situation der Mieter als auch für die
Entwicklung der Baukonjunktur. Die Wohltaten sozialer
Natur kommen in wunderbarer Weise mit der ökonomi-
schen Rationalität zusammen. Deswegen ein Danke-
schön, dass die Wohngeldnovelle so beschlossen worden
ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Wir werden den sozialen Wohnungsbau re-
formieren. Das Entscheidende ist, dass wir endlich die
Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes erhöhen. Damit soll
keine Kritik an der Politik der Vergangenheit geübt wer-
den. Die Verhältnisse verändern sich eben und wir uns mit
ihnen. Dementsprechend müssen wir unsere Instrumente
anpassen. Dabei dürfen wir nicht nur immer das Gesamt-
volumen im Auge behalten; vielmehr müssen wir die
Zielgenauigkeit erhöhen, damit die knappen Mittel, die
wir haben, dort eingesetzt werden, wo sie am meisten
Nutzen und Segen bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Gewährleistung der Sicherheit in unseren Städ-
ten ist auch deswegen so wichtig, damit wir nicht dieje-
nigen, die es sich leisten können, in den Speckgürtel ent-
lassen und so die Gefahr der Verslumung in den Innen-

städten weiterwachsen lassen. Den sich momentan voll-
ziehenden Prozess, nämlich dass die Besserbetuchten ins
Umland ziehen und die mit Problemen Behafteten in die
Städte hineinziehen, müssen wir umkehren. Wir müssen
dafür sorgen, dass sich die tendenzielle Entmischung der
Bevölkerung nicht fortsetzt und dass wir in unseren Städ-
ten zusammenleben.

Deswegen sage ich für Deutschland: Sicherheit hat
auch etwas damit zu tun, ob wir mit sozial gefährdeten
Nachbarschaften verantwortlich umgehen. Mit dem Pro-
gramm „Soziale Stadt“ hat die Bundesregierung einen
neuen und, wie wir jetzt schon sehen können, auch einen
sehr erfolgreichen Ansatz gewählt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern!)


Das Programm fasst die Ressourcen verschiedener
Ressorts zusammen und bündelt so die Kräfte. Wenn Sie
so wollen, verändern wir damit auch die Software und
nicht nur die Hardware staatlichen Handelns. Bis Ende
2003 gibt der Bund jährlich 100 Millionen DM für dieses
Programm aus. Mit den Mitteln der Länder und der Kom-
munen – diese vergesse ich nicht, Herr Kollege Oswald –
sind das für den gesamten Förderzeitraum 1,5 Milliar-
den DM. Jeder beteiligt sich daran. Hinzu kommen Mit-
tel anderer Ressorts und der EU. Dies bedeutet, dass wir
sehr viele Projekte auf den Weg bringen können. Mitt-
lerweile sind es schon rund 160 Projekte, die wir mit
großem Erfolg vorantreiben und weiter vorantreiben wer-
den.

Zu unserer Politik für die Zukunft und für die Sicher-
heit der Städte gehört auch, dass wir gerade den jungen
Menschen Entwicklungsperspektiven geben. Mit dem So-
fortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat
die Bundesregierung über 180 000 Jugendliche fördern
können. Dieses Programm hat merklich zum Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit beigetragen. Damit kein Zweifel
besteht, möchte ich auch die Wertung zum Ausdruck brin-
gen: Die Arbeitslosenquote lag mit 10,5 Prozent immer
noch viel zu hoch, aber doch deutlich unter der aller an-
deren Altersgruppen. Die dadurch ausgelösten positiven
Effekte auch für unsere Städte kann man nicht hoch genug
einschätzen.

Unsere erste Pflicht ist die Verbesserung des individu-
ellen Schicksals der jungen Menschen. Wir wissen: Wenn
wir jungen Menschen eine Lebensperspektive geben,
wenn wir ihnen das Gefühl geben, dass die Gesellschaft
sie braucht, dann sind sie in der Lage, verantwortlich zu
handeln und sich in den gesellschaftlichen Prozess zu in-
tegrieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sicherheit heißt aber auch, dass sich die Schwäch-
eren – ich denke an die Kinder – im Verkehr sicher bewe-
gen können; insofern ist die Verkehrssicherheit auf unse-
ren Straßen von sehr großer Bedeutung. Auch das wird
etwa bei der Ausweitung der Tempo-30-Zonen in den
Städten und beim Verkehrssicherheitsprogramm, das wir




Bundesminister Reinhard Klimmt

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zurzeit mit den Verbänden erarbeiten, eine Rolle spielen.
Ich hoffe, dass es uns auf diese Art und Weise gelingt, die
Anzahl der Unfälle, deren Auswirkungen uns noch immer
quälen und mit denen wir uns weiterhin beschäftigen
müssen, zurückzuführen und damit die Sicherheit auf un-
seren Straßen zu erhöhen.

Ich möchte mich jetzt dem dritten Handlungsfeld zu-
wenden. Es geht darum, dass wir in Abstimmung und in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und denjenigen, die
am Prozess der Lokalen Agenda 21 beteiligt sind, innova-
tive Lösungen entwickeln, die uns helfen, den Umwelt-
schutz wirksam anzupacken. Der Bundeskanzler hat es in
seiner Regierungserklärung unterstrichen: Die Bundesre-
gierung steht für Innovation und für die Modernisierung
Deutschlands. Es geht nicht darum, die Menschen mit
Vorschriften zu schurigeln, sondern das technische und
kreative Potenzial in Wirtschaft und Gesellschaft zu mo-
bilisieren und zu nutzen. Der beste Weg ist allemal, nicht
nur für Verbote zu sorgen, sondern gerade auch die Krea-
tivität der Menschen anzuregen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die städtischen Ballungsräume verursachen einen ho-
hen Verbrauch von natürlichen Ressourcen; denn dort le-
ben viele Menschen auf engem Raum zusammen. Eine
der täglichen Herausforderungen ist die Frage der städti-
schen Verkehrsinfrastruktur. Auf diesem Gebiet kann
Deutschland gute Erfahrungen in den Urban-Prozess ein-
bringen. Der ÖPNV hat in Deutschland eine lange und
gute Tradition; er hat eine Schlüsselrolle für die Städte.
Ein Vergleich mit anderen Metropolen zeigt schnell, wie
wichtig ein funktionierender ÖPNV ist. Regelmäßige
Staus, überfüllte Verkehrsmittel – im Vergleich zu ande-
ren Großstädten dieser Welt stehen die deutschen Städte
gut da, auch wenn der Einzelne unterschiedliche Erfah-
rungen gemacht hat.

Der Bund ist daran entschieden finanziell beteiligt; wir
geben allein aus unserem Haushalt jährlich 15 Milliar-
den DM für den regionalen Verkehr aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man muss wirklich einmal zur Kenntnis nehmen, wie
stark das Engagement des Bundes dabei ist. Damit dies
dauerhaft gesichert wird, habe ich eine Qualitätsoffensive
angestoßen und dazu dieser Tage ein Eckpunktepapier
vorgelegt. Damit gehe ich in die Gespräche mit den Län-
dern, aber auch mit der EU-Kommission. Wir wollen un-
sere Erfahrungen in den Urban-Prozess einbringen.

In diesem Zusammenhang möchte ich klar und deut-
lich sagen: Wenn es jetzt darum geht, den öffentlichen
Personennahverkehr weiterzuentwickeln, dann muss man
sicherlich einiges verändern. Ich will gar nicht bestreiten:
Wir brauchen mehr Wettbewerb. Hinsichtlich der Qua-
litätskriterien, zum Beispiel was die Sicherheit der Ver-
kehrsmittel und der eingesetzten Systeme angeht, und
hinsichtlich der sozialen Strukturen werden wir in der
Diskussion auf der Ebene der Europäischen Union keine
Opfer bringen. Wir werden von unserer Seite keinen

schrankenlosen Wettbewerb zulassen; er muss auch
zukünftig an den Kriterien der Qualität orientiert bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun bin ich Realist genug, um zu wissen – damit stehe
ich in der Koalition und in diesem Hause nicht allein –,
dass für die Zukunft der Stadt das Auto eine wichtige
Rolle haben wird. Das ist so und das soll auch so bleiben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist nicht neu!)


Die Akzeptanz des Autos in der Stadt wird dabei aber
auch von seiner Umweltverträglichkeit abhängen. Das ist
der entscheidende Ansatz. Zu fragen, wie wir die Autos
aus der Stadt bzw. aus unserer Gesellschaft herausbe-
kommen, kann nicht der Ansatz sein, sondern der Ansatz
muss sein: Wie können wir das Auto zu einem Instrument
machen, das seine Nützlichkeit ohne viele schädliche Be-
gleiterscheinungen entfalten kann?

Deswegen arbeiten wir mit der Industrie am Kraftstoff
der Zukunft. Ich glaube, es ist einer der wesentlichen
Punkte des Weltberichtes, dass gesagt wird: Wir können
es uns abschminken, auch für die Teile der Dritten Welt,
der anderen Welt, den Menschen zu sagen, sie sollten auf
das Auto verzichten. Die Zahl der Autos wird weiter
wachsen. Die Zahl von 500 Millionen Autos in den Städ-
ten der Welt wird sich – ob wir wollen oder nicht – ver-
doppeln. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir Formen
der Technik finden, die dafür Sorge tragen, dass damit
keine weitere Gefährdung der Umwelt verbunden ist,
sondern dass wir durch neue Kraftstoffe eine Verbesse-
rung der Umwelt selbst dann erreichen, wenn der Verkehr
weiter wächst.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine umweltgerechte Infrastruktur hängt aber auch da-
von ab, inwieweit es gelingt, dass preiswert und ökolo-
gisch gebaut wird. Hier liegt ein großes Potenzial für In-
novationen, für mehr Wettbewerb und mehr Beschäfti-
gung sowie für mehr Wohneigentum und natürlich auch
für günstigere Wohnkosten. Wir starten deshalb eine Ini-
tiative für preiswertes und ökologisches Bauen.

Ich weiß, man steht immer in einer Reihe; man steht in
einer Kontinuität. Ich möchte mich für die guten Ansätze,
die ich habe vorfinden dürfen, bei meinen Vorgängern im
Amt, bei Frau Schwaetzer, Herrn Töpfer und natürlich
auch bei Ihnen, Herr Oswald, ganz herzlich bedanken.
Wir setzen die Arbeit, die Sie begonnen haben, glaube ich,
in Ihrem Geiste fort, weil in diesem Punkt Einigkeit zwi-
schen den Parteien besteht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ressourcenschonung hat auch damit zu tun, dass
Wohnraum modernisiert wird. Ich erinnere hier nur an das
zweite KfW-Programm für die notwendigen Modernisie-
rungen von Wohnungen in den neuen Ländern, das CO2-Minderungsprogramm der KfW, das wir auf die neuen
Länder ausgeweitet haben, und das 100 000-Dächer-




Bundesminister Reinhard Klimmt
10092


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Solarstrom-Programm des Wirtschaftsministers. Diese
Maßnahmen dienen auch der Verbesserung der Umwelt in
den Städten. So nutzen wir das große Know-how der deut-
schen Wirtschaft in der Umwelttechnologie. Damit sind
die Maßnahmen auch ein Beitrag, um das CO2-Minde-rungsziel der Bundesregierung zu erreichen. Für den Kli-
maschutz kann gerade in den städtischen Ballungsräumen
viel erreicht werden.

Deshalb wollen wir in Kürze die Energieeinsparver-
ordnung verabschieden, die gemeinsam mit dem Wirt-
schaftsminister erarbeitet wird. Wir alle wissen, wie wich-
tig das Energiesparen ist, das übrigens unsere größte
Energiereserve ist. Gebäude spielen hierbei eine zentrale
Rolle. Sie verursachen ein Drittel des Energiebedarfs. Mit
der Energieeinsparverordnung lassen sich Energiever-
brauch und damit auch Energiekosten senken. Deswegen
werden wir das energisch betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich will noch einmal unter-
streichen: Die Infrastruktur unserer Städte braucht Inno-
vationen und Investitionen. Die Städtebauförderung ist
das zentrale Instrument zur Erneuerung und Entwicklung
der Städte und Gemeinden in Deutschland. Sie führt meh-
rere investive Infrastrukturbereiche zusammen, vor allem
Wohnungsbau und Verkehr. Sie hat hohe Beschäftigungs-
effekte sowie Anstoßwirkungen für private Investitionen.
Das kommt vor allem dem mittelständischen Handwerk
sowie Handel und Gewerbe in der Region zugute.

Zukunft der Stadt, das heißt auch: die kulturelle Funk-
tion von Stadt ernst nehmen. Ich meine hiermit nicht das
kulturelle Angebot, das Kommunen und Länder in eige-
ner Regie einbringen. Ich meine, man kann nicht über
Städte reden, ohne über Architektur und Baukultur zu
reden. Auch hierbei geht es um Innovationen und Investi-
tionen. Baukultur beeinflusst die Stadtstruktur. Dabei gibt
es das bekannte Spannungsfeld von hohem Anspruch ei-
nerseits und Alltagstauglichkeit, Bezahlbarkeit und Um-
weltverträglichkeit andererseits.

Der Bund ist ein wichtiger Bauherr; ihm kommen da-
mit Vorbildfunktionen zu, die wir uns auch gerne immer
wieder vorhalten lassen und denen wir uns auch immer
wieder stellen. Momentan bereiten wir eine Initiative „Ar-
chitektur und Baukultur“ vor, die wir mit den Verbänden
zusammen durchführen werden. Dabei geht es mir vor al-
lem darum, die Verantwortlichen zusammenzuführen. Mit
ihnen möchte ich Erwartungen und Anforderungen über-
prüfen und zu einem neuen Verständnis von Architektur
als wichtigem Schrittmacher und Standortfaktor in den
Städten kommen. Im Herbst 2001 werden wir, so hoffe
ich, Ergebnisse und Vorschläge vorlegen können und hier
darüber berichten.

Meine Damen und Herren, ich ziehe aus all diesem die
Schlussfolgerung: Die Vertreter Deutschlands – Bund,
Länder oder Kommunen – bringen die guten Erfahrungen
einer aktiv gestalteten Politik für die Zukunft der Städte in
den Urban-Prozess mit ein. Die Weltkonferenz wird die
Wendung vom Laisser-faire zu einer verantwortungsvol-
len Politik bestätigen. Im Juni des nächsten Jahres findet

die Sondergeneralversammlung der UNO zur Stadtent-
wicklung statt. Hier bringt der Bund zusammen mit den
Städten und Gemeinden wichtige Beiträge ein.

Ich möchte an dieser Stelle übrigens auch anderen, die
daran beteiligt sind, danken, zum Beispiel der Kollegin
Wieczorek-Zeul, die sich gemeinsam mit Nelson
Mandela, James Wolfensohn und Klaus Töpfer bei der
Gründung der Städteallianz zur Bekämpfung der Slums
engagiert hat. Auch das ist ein wichtiger Punkt: Wir haben
es ja noch verhältnismäßig leicht, auch wenn wir Pro-
bleme haben. Wenn man aber in Mexiko-City, in Nairobi
oder in anderen Städten der Welt ist, kann man sehen, wel-
che Probleme durch Verslumung entstehen und welche
Kräfte von uns gefordert werden und welche Verantwort-
lichkeiten wir wahrnehmen müssen, wenn es darum geht,
die Probleme in der Welt zu bewältigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])


Ich halte hier fest: Deutschland kann mit Selbstbe-
wusstsein an der Weltkonferenz teilnehmen. Wir können
gute Initiativen und auch eine verantwortliche Politik von
unserer Seite aus vorweisen. Wir werden übrigens – auch
das ist für mich ein wichtiger Punkt – in Kürze einen
Raumordnungsbericht vorstellen,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut, dass die Raumordnung nicht vergessen wird!)


mit dem wir wiederum deutlich machen, dass in Deutsch-
land mit einer gewachsenen Siedlungsstruktur eine ge-
sunde Struktur aus gleichwertigen Städten und Regionen
besteht. Deutschland hat eine starke Hauptstadt; das soll
so sein. Aber es gibt kein dominierendes Zentrum, son-
dern Dezentralität. Dies bedeutet Vielfalt in ökonomi-
scher, sozialer und kultureller Hinsicht. Das müssen wir
weiter ausbauen. Wir müssen uns darum bemühen, die
vielen Zentren, ob das München, Dresden, Düsseldorf
oder Frankfurt ist, auch Saarbrücken soll genannt sein,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Und Augsburg!)

auszubauen und sie zu bewahren. Wir wollen diese als
Zeichen unserer Föderalität in der Welt als Vorbild hin-
stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])


Meine Damen und Herren, vieles ist zu verbessern. Wir
haben aber bei uns auch etwas zu verlieren. Wir nehmen
Anregungen von außen gerne auf und sind auch gerne be-
reit, unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen und sie wei-
terzugeben, wenn sie diese denn haben wollen. Urban 21
ist der Zielpunkt eines Prozesses, den wir bei uns erleben
können, aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein:
Urban 21 ist wiederum auch ein Startpunkt für einen wei-
teren Prozess, in dem es darum geht, gestaltend die Zu-
kunft der Städte zu sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [PDS])





Bundesminister Reinhard Klimmt

10093


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410800900
Ich eröffne die Aus-
sprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Peter
Götz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1410801000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es,
dass mit Urban 21 in Berlin eine Weltkonferenz stattfin-
det, die an die Rio-Konferenz von 1992 und an die UN-
Siedlungskonferenz Habitat II in Istanbul von 1996
anknüpft. Damit wird der Dialog auf dem Weg zur Durch-
setzung und Umsetzung der Agenda 21 und der Habitat-
Agenda fortgesetzt.

Es ist gut, Herr Minister, dass Sie daran erinnert haben,
dass die Idee, eine solche Weltkonferenz im Rahmen der
EXPO 2000 in der neuen deutschen Hauptstadt durchzu-
führen, von dem damaligen Bauminister Professor
Dr. Klaus Töpfer entwickelt und auf den Weg gebracht
worden ist. Es war in der Tat die Regierung Kohl, die
Urban 21 als eine globale Initiative für nachhaltige Ent-
wicklung der Länder Brasilien, Deutschland, Singapur
und Südafrika vorstellte, und es war Ihr Vorvorgänger,
Bauminister Eduard Oswald, der das Projekt weiter vor-
angetrieben hat. Daran muss vorab erinnert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die rot-grüne Regierung hat lange genug gebraucht,

bis sie in die Gänge gekommen ist. Der Weltbericht, von
dem Sie gesprochen haben, der in wenigen Wochen dis-
kutiert werden soll, liegt nach meiner Kenntnis bis heute
noch nicht vor.

Meine Damen und Herren, es ist keine Frage: Zu den
großen Herausforderungen der Zukunft gehört, weltweite
Lösungsansätze für eine sozial- und umweltverträgliche
Stadtentwicklung zu finden. Dies gilt insbesondere in
den schnell wachsenden Metropolen in den Entwick-
lungsländern. Aber ein Weiteres kommt hinzu: Wenn wir
mit Forderungen und Ermahnungen in den Schwellen-
und Entwicklungsländern und in den Reformstaaten des
Ostens Gehör finden wollen und ernst genommen werden
wollen, müssen wir als die so genannten reichen Indus-
trieländer zunächst zeigen, dass wir selbst imstande sind,
eine nachhaltige, auf die Zukunft ausgerichtete Stadt- und
Siedlungspolitik zu gestalten und erfolgreich durchzuset-
zen.

Ich hätte es zum Beispiel begrüßt, wenn sich die Kon-
ferenz ebenfalls stärker mit den Problemen der Sied-
lungsentwicklung in den Industrieländern Europas und
Nordamerikas befasst hätte.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wenn wir die Verantwortung für die ökologisch und so-
zial labile Erde als globale Verantwortung der gesamten
Menschheit begreifen, dann ist es einfach zu wenig, wenn
wir wohlwollend unsere Hilfe den Entwicklungsländern
mit ihren chaotischen Megastädten anbieten und uns
gleichzeitig weigern, auch unsere eigenen Versäumnisse
zum Thema zu machen.

Herr Minister, meine Damen und Herren, Urban 21
sollte eigentlich mehr sein als das von Ihnen angekündigte

Treffen bedeutender Staatsmänner, mehr als medienwirk-
sames Konferenzspektakel. Ich setzte darauf, dass die
Teilnehmer der Konferenz dafür Sorge tragen, dass gute
inhaltliche Arbeit geleistet wird und dass trotz dieser Re-
gierung die Konferenz zu einem Erfolg wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Da klatscht Ihre eigene Fraktion sehr müde! – Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er sagt, was Sache ist!)


Die Parlamentarier werden dazu ihren Beitrag leisten.
Deshalb hat die Organisation „Global Parliamentarians on
Habitat“ für den 5. Juli die Schirmherrschaft über das
Parlamentarierforum übernommen. „Global Parlia-
mentarians on Habitat“ ist übrigens die einzige interna-
tionale Parlamentarierorganisation, die sich weltweit un-
mittelbar mit menschlichen Siedlungen, mit der Woh-
nungsversorgung und mit nachhaltiger Entwicklung
befasst, eine Organisation, zu der sich Parlamentarier aus
177 Ländern der Welt zusammengeschlossen haben. Ich
lade Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich ein,
an diesem Parlamentarierforum aktiv mitzuwirken. Ex-
perten aus Russland, den Niederlanden, Österreich und
Uganda werden für den Einstieg in das Forum sorgen.

Warum sage ich das? Ich bin der festen Überzeugung:
Wir dürfen die Zukunftsfragen unserer Städte nicht den
Regierungen allein überlassen. Wir müssen als Parlamen-
tarier unseren Beitrag leisten, damit die Themen von Ha-
bitat national und international ständig auf der Tagesord-
nung bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wissen sehr wohl: Der Verstädterungsprozess

entwickelt sich unaufhaltsam vor allem in den Schwellen-
und Drittländern unkontrolliert fort. Schon jetzt sind diese
Agglomerationen kaum noch zu verwalten oder zu steu-
ern. Sie entwickeln sich mit großer Dramatik. Massenar-
mut, ökologische Katastrophen und Wanderungsbewe-
gungen der Menschen sind der soziale Sprengstoff, der
den Frieden des eigenen Landes und letztlich den Welt-
frieden bedroht.

Dies, meine Damen und Herren, sind keine Horror-
szenarien aus einem Science-Fiction-Film, sondern eine
ungeschminkte Zustandsbeschreibung der Welt von heute
und vor allem der Welt von morgen.

Die Städte sind das Problem der Zukunft. Sie sind aber
auch die Einzigen, die diese Zukunftsprobleme einiger-
maßen vernünftig lösen können. Leider ist es bisher nicht
hinreichend gelungen, die enormen Chancen, die große
Städte bieten, zu nutzen. Städte sind der Motor der wirt-
schaftlichen und sozialen Entwicklung. Sie bieten die
Möglichkeit ökonomischer und ökologischer Effizienz.
Sie sind Orte der Kultur und Innovation, der Gemeinsam-
keit und auch der Toleranz.

Ich will damit sagen: Die großen politischen Heraus-
forderungen liegen auf der kommunalen Ebene. Dem
werden die meisten politischen Systeme, insbesondere die
Zentralstaaten, nicht gerecht. Denn Stadtpolitik wird
zunehmend zur Weltinnenpolitik. Deshalb ist der erste
Schritt zur Lösung der Siedlungs- und Stadtentwick-






(C)



(D)



(A)



(B)


lungsprobleme eine deutliche Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wir brauchen weltweit starke Kommunenmit deutlich
mehr politischem Einfluss, mit besserer institutioneller
Kapazität und vor allem mit eigener Finanzautonomie.
Das ist ein dickes Brett, an dem ständig gebohrt werden
muss.

Die meisten Gesetze werden von nationalen Parlamen-
ten gemacht, die eher Zentralismus im Blick haben als die
Städte oder gar den ländlichen Raum. Auch die rot-grüne
Regierung in Deutschland macht diesen Fehler wieder-
holt. Wenn Sie den Gemeinden in Deutschland weiter das
Geld wegnehmen, höhlt das kommunale Selbstverwal-
tung aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Auf Deutschland schauen viele Länder, ob wir das wol-
len oder nicht. Deshalb sollten und müssen wir mit gutem
Beispiel vorangehen. Lokale Finanzautonomie, kommu-
nale Planungshoheit und demokratische Strukturen in den
Städten und Gemeinden verbessern weltweit die Chancen
für eine ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltige
Entwicklung. Deklarationen auf internationalen Konfe-
renzen müssen die notwendigen Ziele vorgeben; aber na-
tionale Regierungen und Parlamente müssen für anstän-
dige Rahmenbedingungen sorgen. Die Probleme in den
Gemeinden, seien es die Megastädte oder die Dörfer, kön-
nen am besten vor Ort gelöst werden.

Ich fordere die Bundesregierung auf: Arbeiten Sie ak-
tiv mit an der Verabschiedung der Weltcharta für kommu-
nale Selbstverwaltung. Beschränken Sie sich aber nicht
auf Lippenbekenntnisse zur Dezentralisierung in den an-
deren Ländern. Sorgen Sie auch für finanzstarke Städte
und Gemeinden in der Europäischen Union, verhindern
Sie das zunehmende Hineinregieren von Europa in lokale
Selbstverwaltungsangelegenheiten,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

und sorgen Sie für eine starke kommunale Selbstverwal-
tung in Deutschland.

Neben der Stärkung der Kommunen im Verhältnis zu
den Nationalstaaten brauchen wir neue Steuerungsmo-
delle für Kommunen. Besonders für die Megastädte in
den Entwicklungsländern müssen eine andere öffentliche
Verwaltung und eine bessere politische Steuerung gefun-
den werden. Das traditionelle Modell der Kommunalver-
waltung, wie wir es kennen und praktizieren, scheitert vor
allem in den Megastädten oft an den gewaltigen Aufga-
ben, wenn dort mehr als die Hälfte der Menschen keinen
lokalen Wohnort, keine regelmäßige Beschäftigung und
weder Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung
hat noch Steuern und Gebühren zahlen kann.

Stadtentwicklung muss unter verstärkter Beteiligung
der Bürger in eine Gesamtplanung integriert werden. Wir
brauchen die integrierende Stadt. Es heißt neudeutsch so
schön „Inklusiv-City“. Was ist damit gemeint? Mit

Integration sind zwei Dinge gemeint. Zunächst geht es
um die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an den Er-
gebnissen des Fortschritts in der Stadt. Das ist als poli-
tisches Ziel zunächst nichts Neues. Neu ist, dass all diese
Gruppen weit mehr als bisher am Geschehen in der Stadt
aktiv beteiligt werden sollen. Neu ist auch, dass all diese
Gruppen weit mehr als früher aktiv mithelfen sollen, die
Vorschläge für große Vorhaben wie für kleine Projekte,
die nur kleine Stadtbezirke oder kleine Gruppen betreffen,
zu verwirklichen.

Wir brauchen, Herr Minister, nicht mehr Staat, sondern
eher weniger. Wir brauchen weniger Regulierung, und
zwar auf allen politischen Ebenen. Die Stadt muss zuneh-
mend die Rolle des Moderators übernehmen. Es ist klar,
dass mit diesem Ansatz nicht alle Aufgaben der Städte er-
füllt werden können. Die professionelle und spezialisierte
Verwaltung wird in vielen Sektoren weiter gebraucht,
aber die vielen Ausgegrenzten, Chancenlosen und Poli-
tikverdrossenen können bei beschränkten Ressourcen nur
auf die gerade beschriebene Art und Weise wieder inte-
griert werden. Wollten Bürgermeister, Rat und Verwal-
tung diese gigantische Aufgabe nach dem traditionellen
Verwaltungsmuster lösen, hätten sie bei der Größe der
Herausforderung keine Chance. Der Obrigkeitsstaat und
die Obrigkeitsstadt werden bald der Vergangenheit an-
gehören. Partnerschaftliches Miteinander der Verantwort-
lichen rückt in den Vordergrund.

Die frühere Bundesregierung hat diese Themen sehr
ernst genommen. Ich erinnere nur an das Nationalkomitee
Habitat II, in dem wir die Habitat-II-Konferenz von Is-
tanbul intensiv vorbereitet und auch nachgearbeitet ha-
ben. – Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie nicken ja so
freundlich. – An diesem Komitee waren gesellschaftliche
Gruppen von den Architektenverbänden – um mit Azu be-
ginnen – bis zu den Umweltschutzorganisationen betei-
ligt. Ich bedauere außerordentlich, dass die rot-grüne Re-
gierung dieses Komitee hat sterben lassen. Wir brauchen
in der Politik mehr denn je den Dialog und die Partner-
schaft mit den Kommunen und den gesellschaftlichen
Gruppen, die sich an diesem Prozess beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rita Streb-Hesse [SPD]: Da machen wir etwas!)


– Es ist gut, wenn Sie etwas machen.
Auch in unserem Land gibt es noch viel zu tun. Unsere

Innenstädte fallen auseinander. Innerstädtisches Woh-
nen verliert zunehmend an Attraktivität. Der innerstädti-
sche Handel verliert im Vergleich zum großflächigen
Einzelhandel auf der grünen Wiese immer mehr an Bo-
den.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl!)

Die Deutschen setzen täglich riesige Verkehrsströme in
Bewegung – zum Wohnen, zum Arbeiten, zum Einkaufen
und zur Freizeitgestaltung. Dabei geht es nicht darum, ob
ein Liter Benzin 3 oder 5 DM kosten sollte. Hier geht es
um einiges mehr.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! Aktion pro Innenstadt ist notwendig!)





Peter Götz

10095


(C)



(D)



(A)



(B)


– Richtig. Der frühere Bauminister Oswald gibt das Stich-
wort „Aktion pro Innenstadt“. Das ist auch in Deutschland
eine Zukunftsherausforderung.


(Dietmar Schütz hättet ihr vor zehn Jahren beginnen können!)


Erlauben Sie, dass ich zum Schluss auf ein Programm
eingehe, das die CDU/CSU-Bundesregierung 1996 zu-
sammen mit den Ländern geschaffen hat – Sie haben das
als Ihr Programm dargestellt –: auf das Programm „So-
ziale Stadt“.Mit diesem Programm sollten eigentlich be-
nachteiligte Stadtquartiere wieder zu lebensfähigen Stadt-
teilen mit positiver Zukunftsperspektive gestaltet werden.

Was die rot-grüne Regierung aus unserer damaligen
Idee gemacht hat, wird nicht ausreichen, um das riesige
Problem der sozial ausgegrenzten Menschen in unseren
Städten in den Griff zu bekommen. Das jetzige Programm
schafft höchstens Reparaturen an den Symptomen. Im
vergangenen Jahr hatte der Bund gerade einmal 10 Milli-
onen DM übrig. Dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Nun sollen 100Millionen DM zur Verfügung gestellt wer-
den. Dabei handelt es sich lediglich um Verpflichtungser-
mächtigungen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie die Chancen, die vor
mehr als vier Jahren entwickelt wurden, damit dieses Pro-
gramm über seinen sozialpädagogischen Ansatz hinaus-
kommt!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dieses Programm, Herr Minister, ist wichtig. Es kann zu
einem Modell werden, wie auf Gemeindeebene Mitbürger
nicht Leistungsempfänger sind, sondern im Dialog und in
Form von Zusammenarbeit Probleme angehen, die sich
mit den traditionellen Instrumenten der Verwaltung nicht
mehr lösen lassen.


(Rita Streb-Hesse [SPD]: So ist es! Wir machen das!)


Meine Damen und Herren, die Weltkonferenz Ur-
ban 21 ist eine Chance. Es besteht die Möglichkeit, von
Deutschland aus wesentlich zur Lösung vieler weltweiter
Siedlungsprobleme beizutragen. Ich fordere Sie auf: Nut-
zen Sie diese Chance! Machen Sie auf angemessene
Weise die auch bei uns beginnende Verödung der Städte
zum Thema dieser Konferenz! Kommen Sie zu einer Neu-
orientierung Ihrer Politik in Deutschland! Stärken Sie die
kommunale Selbstverwaltung, anstatt ihre Flügel weiter
zu beschneiden! Dann setzen Sie weltweit ein gutes Bei-
spiel für eine positive Stadtentwicklung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801100
Als
nächste Rednerin hat jetzt das Wort die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ginnen und Kollegen! Über die Stadt und eine Politik für
die Städte im Parlament zu diskutieren ist etwas schwie-
rig, wie wir auch heute merken. Denn die Stadt ist nicht
so fassbar wie ein Gesetzeswerk oder ein Paket Haus-
haltszahlen, über das sich hier im Parlament trefflich strei-
ten und Kräfte messen lässt.

Hier geht es darum, dass wir uns sowohl beim Lob und
der Würdigung der Stadt als auch bei der Problembe-
schreibung einig sind. Was uns aber fehlt, ist ein enga-
giertes Streiten um die richtigen Wege, wie den Städten zu
neuer Kraft geholfen und was dazu auf den Ebenen Bund,
Länder und Gemeinden getan werden kann. Denn ich
glaube, wir alle sind uns einig, dass das nicht primär un-
sere Aufgabe ist. Nur in der Bündelung aller politischen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte können wir
dieses Thema angehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen geht es gerade hier um kommunikative Politik,
um den Diskurs, um das Gespräch mit allen Beteiligten,
national und international. Ich finde es daher sehr wichtig
und begrüßenswert, dass sich sowohl die Vorgängerregie-
rung – insbesondere Herr Töpfer ist von Minister Klimmt
vorhin schon gelobt worden – als auch die jetzige Regie-
rung diesem Thema offensiv und konstruktiv gestellt ha-
ben und stellen, dem nationalen und internationalen
Dialog über die Stärkung unserer Städte und über eine
nachhaltige Stadtentwicklung.

Wir sind uns alle einig – deswegen will ich das nur kurz
wiederholen –, dass die Stadt die Wiege unserer Demo-
kratie ist, dass sie die Basis und Essenz unserer Zivilisa-
tion und unserer Kultur ist, dass sie Spannungs- und Akti-
onsfeld für Individuum und Gesellschaft ist – es gibt ei-
nen Spannungsbogen zwischen beiden – und Zentrum
unseres wirtschaftlichen und unseres sozialen Handelns,
Ort der Entwicklung von Geist und Ethos, Bildung und
Wissenschaft. Wir alle, unsere ganze Kultur und Zivilisa-
tion leben letztlich von Stadt und Stadtentwicklung.

Ein wichtiger Punkt ist besonders für uns hier in
Deutschland: Wir sind alle sehr stolz auf den Föderalis-
mus, weil wir über den Föderalismus und unser politi-
sches Prinzip, auf drei Ebenen zu handeln – in den Kom-
munen als der wichtigsten Ebene der Selbstverwaltung, in
den Ländern als zweiter Ebene, als Bündelung dieser In-
teressen und Ziele, und im Bund als nationaler politischer
Handlungsebene –, immer wieder dazu beitragen, unsere
Städte zu stärken und die politische Entscheidung nach
unten zu geben. Das ist und bleibt ein sehr wichtiges Prin-
zip, dem wir uns alle, fraktionsübergreifend, verpflichtet
fühlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber gerade wenn das so ist, müssen wir Verantwor-
tung tragen und dürfen der aktuellen Entwicklung in un-
seren Städten gegenüber nicht gleichgültig sein. Ich ma-
che mir Sorgen um unsere Städte und denke, dass wir alle
Kräfte bündeln müssen, damit unsere Städte in den aktu-




Peter Götz
10096


(C)



(D)



(A)



(B)


ellen rasanten Veränderungsprozessen, die unsere Gesell-
schaft durchlebt, nicht zu Verlierern werden. Diese Gefahr
ist wirklich sehr groß und wir müssen darauf achten, alles
zu tun, damit das nicht erfolgt.

Meine Vorredner haben schon auf eine Reihe von Pro-
blemen hingewiesen. Ich will ein paar erwähnen. Ein Pro-
blem ist: Die Städte stehen heute in einer Form, die wir
früher nicht gekannt haben, vor internationaler Kon-
kurrenz. Das ist nicht nur ein Problem der Metropolen,
sondern das Problem jeder Klein- und Mittelstadt; denn
jeder Stadt kann es passieren, dass die Möbelfabrik nach
Polen oder Portugal auswandert. Das kann die Existenz
einer ganzen Stadt, ihrer Wirtschaft und Bevölkerung be-
drohen. Darum ist letztlich sogar so etwas wie unsere
Steuerpolitik ein Stück Politik zur Stärkung der Städte
und ihrer Wirtschaftskraft. Ich glaube, wir haben mit un-
serem Steuerreformkonzept gerade in letzter Zeit einen
deutlichen konstruktiven Beitrag geleistet, unsere Städte
und ihre Wirtschaftskraft zu stärken und ihre Arbeits-
plätze zu erhalten. Das ist existenziell.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich mache mir aber auch Sorgen um das Zunehmen der
Stadt-Umland-Konkurrenz. Wir alle wissen, dass die
Städte immer ins Umland wachsen. Aber wir erleben ak-
tuell eine Phase, in der es nicht mehr nur darum geht, dass
die Kraft der Städte nach außen, ins Umland drängt, dass
die Ballungsräume größer werden, weil die Städte einen
Überschuss an Wachstum und Entwicklungskraft haben,
sondern in der es zunehmend darum geht, dass die zen-
tralen Stadtfunktionen aus den Städten und Ballungsräu-
men immer weiter nach außen gestülpt werden, an rein au-
toerschlossene Verkehrsknoten. Dort wachsen und wu-
chern inzwischen die Shoppingmalls, die Gewerbeparks,
die Freizeitparks und die Wohnparks. Alles ist mit dem
schönen Begriff Park versehen, bedeutet aber letztlich ein
Stück Schwächung unserer Städte. Es gibt Planer, die das
als den neuen Kult der Zwischenstadt loben. Ich glaube,
es ist eine Suburbanisierung, die mittlerweile zulasten der
Innenstädte geht und auch zulasten des ländlichen Raums.
Denn wir erleben einen doppelten Entleerungsprozess:
Der ländliche Raum einerseits und die Kernstädte ande-
rerseits verlieren Bevölkerung und Wirtschaftskraft an die
Stadt- und Ballungsrandgebiete, an die berühmten Speck-
gürtel. Diese Prozesse haben in letzter Zeit eine Dynamik
gewonnen, der wir nicht tatenlos zusehen dürfen. Viel-
mehr müssen wir ihr gegensteuern.

Deswegen möchte ich meine erste zentrale Forderung
wie folgt formulieren – ich bitte alle Kräfte in den Parla-
menten, auch auf Länder- und kommunaler Ebene, das zu
berücksichtigen –: Wir müssen alles tun, um die Stadt als
Handels- und Marktzentrum zu erhalten und zu stär-
ken. Dem Einkaufen auf der grünen Wiese müssen wir
entschlossener als bisher einen Riegel vorschieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will ein ganz konkretes Beispiel schildern, an dem
sich zeigt, dass diese Entwicklung unsere eigene Politik in
diesem Bereich konterkariert. Im Dorf Wustermark, ein

paar Kilometer westlich von Berlin-Spandau, ist am
25. Mai das erste deutsche Factory-Outlet-Center mit
10 000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 57 Läden eröff-
net worden. Dieses Factory-Outlet-Center heißt pikan-
terweise „B 5“. Man hat nämlich Folgendes gemacht:
Man hat eine Bundesfernstraße, die eigentlich eine Ver-
bindung der großen Städte über das Land leisten soll, zu
einer schlichten Einkaufsstraße umfunktioniert. Jetzt ist
diese Einkaufsstraße – mit Stau – nichts anderes als eine
Erschließung für dieses Factory-Outlet-Center. Der Bund
wird nun vom Land Brandenburg aufgefordert: Wir brau-
chen mehr Geld aus dem Anti-Stau-Programm; ihr müsst
die Straße vom Stau freimachen und sie ausbauen. Gleich-
zeitig fördern wir die Stadterneuerung in den umliegen-
den Städten, in Nauen, in Potsdam, in Oranienburg, in
Rathenow. Das wird mit großem Engagement vonseiten
des Bundes, der Länder und auch der Kommunen selbst
gefördert. Aber de facto ist die Substanz dieser Städte ge-
fährdet, weil der Handel und das Wirtschaftsbürgertum
still vor sich hin sterben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das ist ein Prozess , den wir so nicht hinnehmen dürfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Darum denke ich, dass wir entschiedener als bisher
diesen Prozess eben nicht einfach unter „kommunale
Selbstverwaltung“ abhaken und die Städte der gegenseiti-
gen Bürgermeisterkonkurrenz überlassen dürfen. Pots-
dam ebenso wie Berlin-Spandau haben nämlich gegen das
Genehmigungsverfahren des erwähnten Factory-Outlet-
Centers erfolglos geklagt.

Das ist übrigens nicht nur ein Problem von Branden-
burg oder von ostdeutschen Städten. In Baden-Baden
wird gerade diskutiert, ob man auch dort ein großes Fac-
tory-Outlet-Center errichtet. Es gibt eine Reihe weiterer
Standorte, wo diese Diskussion geführt wird. Ich glaube,
wir müssen die Prinzipien der Raumordnung stärken und
dafür sorgen, dass der Einzelhandel in der Form als zen-
trumsorientierter Einzelhandel wieder in die Ober- und
Mittelzentren kommt – wie es unsere Raumordnung vom
Prinzip her vorsieht – und nicht an jedes beliebige Auto-
bahn- und Schnellstraßenkreuz. Das darf nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


– Ich nehme diesen Applaus als das Zeichen allseitiger
Bereitschaft, dass wir das Thema noch in dieser Legisla-
turperiode ein Stück weit voranbringen. Ich glaube, wir
können das.

Lassen Sie mich noch einen zweiten „Baustein“ an-
sprechen – auch Kollege Götz hat das gemacht; wir sind
uns in der Beschreibung völlig einig –: Wir müssen die
Stadt – nicht nur die Innenstadt – und die vorhandenen
Siedlungsräume als Wohnort wiedergewinnen und wir
müssen der Zersiedelung entschlossener als bisher be-
gegnen, nicht etwa, weil wir gegen Eigenheime und




Franziska Eichstädt-Bohlig

10097


(C)



(D)



(A)



(B)


Eigentum sind. Wir können sehr wohl Eigentumsformen
und den Wunsch nach einem Eigenheim mit der Idee der
Stadt verbinden und dann gewinnen die Menschen auch
wieder die Qualität der Beziehung zwischen der Gestal-
tung und der Verwirklichung ihres individuellen Lebens
und dem gesellschaftlichen Leben, das die Stadt bietet.

Man muss es deutlich sagen: Der tägliche Flächen-
verbrauch in Deutschland beträgt 120 Hektar, davon
50 Hektar für Wohnflächen, 70 Hektar für Verkehr, Ge-
werbe und Sonstiges. Diese wachsende Zersiedelung und
die damit verbundene Zerschneidung und Zerstückelung
unserer Landschaft und Freiflächen sind nicht nur ein
ökologisches Problem. Ich betone das deshalb, weil man
immer denkt, das sei ja nur das ökologische Interesse der
Grünen. Das stimmt nicht. Es wird zunehmend zu einem
volkwirtschaftlichen und zu einem sozialen Problem.
Denn die Bürgermeisterkonkurrenz der Umlandgemein-
den geht immer mehr zulasten der Städte. Für immer we-
niger Menschen braucht unsere Gesellschaft immer mehr
Erschließung und immer mehr Infrastruktur.Wir stehen
an einer Schwelle, an der die Städte ihren Infrastruktur-
bestand nicht mehr qualifiziert erneuern können, weil zu
viel Kraft in den Infrastrukturneubau in immer weiter aus-
einander gezogene Räume geht. Dem müssen wir entge-
genwirken, nicht nur aus ökologischen, sondern aus öko-
nomischen Gründen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


Hinzu kommt, dass auf diese Weise die soziale Entmi-
schung in unseren Städten bedrohlich voranschreitet. Die
einkommensstarken Familien, gerade die jungen Leute,
wandern nach außen, aus den Städten heraus. Die soziale
Schieflage in den Städten, zwischen den Stadtteilen und
bezüglich der Stadt-Umland-Beziehung wird zum immer
größer werdenden Problem. Wenn ich manchmal sage –
ich komme gleich zum Schluss –, dass mir das Phänomen,
dass wir zum ersten Mal Wohnungsüberangebote ha-
ben, Sorgen macht, dann liegt das daran, dass diese Tat-
sache dazu führt, dass die Menschen immer mobiler wer-
den und damit die Stadtteile, die nicht konkurrenzfähig
sind, zu den Verlierern werden und immer mehr soziale
Probleme bekommen.

Minister Klimmt hat darauf hingewiesen: Wir haben in
großartiger Form das Programm „Soziale Stadt“ sehr ent-
schlossen zu Beginn dieser Regierung auf den Weg ge-
bracht; nicht Sie, Kollege Götz, sondern wir. Ich glaube,
wir müssen dieses Instrument weiterentwickeln, stärken
und nicht zerreden. Wir dürfen ihm aber auch nicht zu viel
zumuten, sondern müssen an anderen Stellen der Zersie-
delung entgegenwirken, damit dieses Instrument der Stär-
kung von Nachbarschaft und sozialem Zusammenhalt
auch wirklich aktiv greifen kann.

Deswegen möchte ich dafür werben, unsere Kräfte zu
stärken, um Bauland in besiedeltem Bereich zu aktivie-
ren und nicht immer weitere Zersiedelung zu unterstüt-
zen. Wir müssen den Bestand und die Entwicklung unse-
rer bestehenden Stadtteile stärken. Wir können es und

sollten es gemeinsam tun, statt zu argumentieren, als
könnten wir zwar die Probleme beschreiben, aber müss-
ten nicht hier und heute handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.] Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen UweJens Rössel von der PDS-Fraktion. Liebe Kollegin Eichstädt-Bohlig, Ihren Ansprüchen an zukunftsfähige Stadtentwicklung kann ich nur zustimmen. Auch Ihrer Problembeschreibung kann ich Unterstützung geben. Was mir in Ihrem Beitrag aber fehlt, ist eine kritische Sicht der Verantwortung der Bundesregierung, was die nachhaltige Stadtentwicklung betrifft. Gewiss ist manches Positive passiert. Sie haben das Programm „Soziale Stadt“ benannt. Aber es gibt auch eine Reihe von Problemen und Versäumnissen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Ich möchte nur zwei Fakten nennen. Erstens, das rot-grüne Ökosteuer-Projekt. Das rotgrüne Ökosteuer-Projekt ist wohl nicht geeignet, die nachhaltige Stadtentwicklung zu befördern. Es verkommt immer mehr zu einer Abzockerei von Bürgerinnen und Bürgern. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer spricht denn? Die CDU?)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801200
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS):
Rede ID: ID1410801300

Obwohl Nahverkehrsbetriebe nur den halben Ökosteuer-
satz bezahlen, ergeben sich gerade für diese umwelt-
freundlichen städtischen Unternehmen erhebliche Mehr-
belastungen, die vom Bund nicht ausgeglichen werden.
Das aber hat nicht mit nachhaltiger Förderung des öffent-
lichen Personennahverkehrs zu tun und müsste der Bun-
desregierung wohl ernsthaft zu denken geben.

Zweitens. Auch die derzeitige Finanzausstattung der
Kommunen, ein Wechselspiel von vielen Faktoren, ist
nicht dazu geeignet, die Stadtentwicklung zu befördern
und die Zukunftsfähigkeit der Kommunen zu garantieren.
Wir haben stark rückläufige Investitionen zu beklagen:
1992 etwa 50 Milliarden DM, zurzeit nur noch rund
30 Milliarden DM im Jahr. Das hat dramatische Auswir-
kungen auf Beschäftigung und Handwerk.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801400
Herr Kol-
lege Rössel, Sie haben das Recht, auf die Rede von Frau
Eichstädt-Bohlig Bezug zu nehmen. Sie haben nicht das
Recht, eine eigene Stellungnahme einzubringen.


(Zuruf von der SPD: Deshalb muss er das jetzt so machen!)



Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS):
Rede ID: ID1410801500
Ich komme sofort dazu.
Frau Eichstädt-Bohlig hat nämlich behauptet, dass das
rot-grüne Unternehmensteuerkonzept, das der Bundestag
kürzlich verabschiedet hat, zu einer Verbesserung der




Franziska Eichstädt-Bohlig
10098


(C)



(D)



(A)



(B)


städtischen Finanzen geführt hat. Das ist aber nicht der
Fall.

Bis zum Jahr 2004 – Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie
kennen die Zahlen auch – werden die Kommunen Ein-
nahmeausfälle von 12 Milliarden DM bei der Lohn- und
Einkommensteuer zu beklagen haben. Dazu kommt, dass
sie auch noch mit 20 bis 25 Prozent an den Einnahmeaus-
fällen der Länder beteiligt sind. Schließlich kommt noch
hinzu, dass sich die Bundesregierung dafür eingesetzt hat,
dass die Kommunen im Ergebnis des neuen Steuersen-
kungskonzeptes bis zu 30 Prozent der Gewerbesteuer an
Bund und Länder abführen müssen. Letzteres sind noch
einmal Mehrbelastungen in Höhe von 5 Milliarden DM.

Die Kommunen, Frau Eichstädt-Bohlig, haben einen
Steueranteil von 11 Prozent am gesamten Steueraufkom-
men in Deutschland. Sie werden aber mit 18 Prozent zur
Finanzierung an der Steuerreform herangezogen. Das hat
nichts mit nachhaltiger Stadtentwicklung zu tun.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801600
Herr Kol-
lege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS):
Rede ID: ID1410801700
Das erfordert einfach
eine Erwiderung.

Vielen Dank.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801800
Frau Kol-
legin Eichstädt-Bohlig, bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ganz klar sagen: Unsere Städte leiden an dem Klima-
wandel, der sich jetzt vollzieht, in besonderer Weise.
Wenn Sie das in diesem Sommer hier in Berlin nicht mer-
ken, dann werden Sie auch nicht merken, was Klimawan-
del bedeutet.

Die Ökosteuer und die sonstigen energiepolitischen In-
strumente – Minister Klimmt hat auf sie hingewiesen –
wie zum Beispiel unsere Energieeinsparverordnung, un-
ser 100 000-Dächer-Programm, die Stärkung von rege-
nerativen Energien und die Ökosteuer mit ihrer Wirkung
auf den Verkehr und auf den sparsameren Umgang mit
Heiz- und sonstigen Energien im Gebäudebereich sind
ganz zentrale Bausteine zum Schutz unserer Städte in die-
sem Klimawandel. Diese brauchen wir ganz dringend,
und genau deswegen halte ich die Polemik, mit der die
Ökosteuer von der rechten und der ganz linken Seite hier
vehement bekämpft wird, für einen primitiven Umgang
miteinander.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zurück!)


Die Bürger sind inzwischen verantwortungsbewusster
geworden; denn sie gehen sparsamer mit dem Energie-
verbrauch und dem Spritverbrauch im Auto um. Sie sind
eigentlich viel weiter als die Politiker, die uns immer wie-

der einzureden versuchen, die Bürger übernähmen keine
Verantwortung für den Erhalt unseres Klimas und den
Umgang mit unserer Umwelt.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Völlig realitätsfern!)


Insofern fordere ich gerade hier die Oppositionspar-
teien auf, endlich wieder zur Vernunft der Politik zurück-
zukehren und verantwortliches Handeln nicht ständig
mies zu machen, sondern positiv zu unterstützen.


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])

Zum Zweiten kann ich nur sagen: Unsere Steuerre-

form hat sehr wohl sowohl die Konkurrenzfähigkeit der
Unternehmen im internationalen Rahmen in deutlicher
Form gestärkt als auch – gerade dafür haben wir Grünen
uns in den Debatten besonders engagiert – die Stärkung
der kleinen und mittleren Unternehmen, die die Substanz
der Städte ausmachen, vorangebracht. Über die Stärkung
der Wirtschaftskraft werden auch die Einnahmen der
Kommunen und der Länder stabilisiert und gestärkt. Sie
selbst haben es im Finanzausschuss intensiv mitdiskutiert.
Ich bin gern bereit, noch eine ausführliche steuerpoliti-
sche Debatte zu führen, aber eigentlich gehört sie nicht
zur Tagesordnung und deswegen lasse ich das hier so ste-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410801900
Als
nächster Redner hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1410802000
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt un-
eingeschränkt, dass die Weltkonferenz zur Zukunft der
Städte bei uns in Berlin stattfindet und eine große Aus-
strahlung ins Umfeld dieser Stadt hat. Die Konferenz
führt global handelnde und sich mit globalen Themen be-
schäftigende Persönlichkeiten nach Berlin. Sie wollen in
Podien die Dinge erörtern, die für die Zukunft unserer
großen Städte, die für die Zukunft der Welt, aber auch in
der Ausstrahlung für unsere europäischen Städte von
großer Bedeutung sind. Es geht um die Stadt als Lebens-
raum, als Ort von Mobilität, als Ort von Kultur. Es geht
um die Entwicklung von Stadtstruktur und Wohnraum.

Die Weltkonferenz hat vier sehr interessante Partner-
länder: das riesige Brasilien, den Stadtstaat Singapur, das
Umbruchland Südafrika und Deutschland, ein Land mit
breiter historischer Stadtstruktur und Stadtkultur und mit
sehr moderner städtischer Entwicklung, an der einen oder
anderen Stelle auch mit städtischer Problementwicklung.

Mir wird an der einen oder anderen Stelle im Antrag
der SPD zu wenig deutlich, welch riesige Chancen für die
Ausgestaltung des Lebens in unseren Städten bestehen.
Ich begrüße, dass das von Minister Klimmt in seinem
Grußwort zur Urban 21 deutlich gemacht wurde.




Dr. Uwe-Jens Rössel

10099


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Städte sind Orte der Gemeinsamkeit und der To-
leranz. Gerade Liberale sehen sie auch als entscheiden-
den Freiraum, weil Menschen mit unterschiedlicher Inte-
ressenlage, mit unterschiedlicher Begabung und Neigung
gerade in einer Stadt immer wieder ihre sehr persönliche
Heimat und ihren persönlichen und gesellschaftlichen Le-
bensraum finden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen sagen wir Liberale auch ein sehr klares Ja
zur Stadt. Ich will an dieser Stelle meine sehr große
Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass wir diese De-
batte heute in einer wunderbaren Stadt führen, die in den
letzten Jahren eine Entwicklung genommen hat, die ich,
Frau Eichstädt-Bohlig, als eine außerordentlich positive
Klimaveränderung betrachte.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Als ich gestern in die Stadt hineinkam und warten
musste, weil sehr viele Menschen ihre Freizeitfreude auf
Rollern zum Ausdruck brachten,


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Demonstrieren! Inlineskating ausweiten!)


sah ich in den Gesichtern dieser Menschen, wie sie ihre
Stadt annehmen. Die Menschen insgesamt in Deutschland
nehmen ihre Städte an. Deswegen sind auch Stadtkultur
und Stadttourismus wesentliche Elemente der Lebens-
freude in unserem Land.


(Beifall bei der F.D.P.)

Urban 21 stellt auch eine notwendige und richtige

Wechselbeziehung zur EXPO her. Auch als Niedersachse
möchte ich Sie sehr herzlich bitten: Lassen Sie sich von
Anfangsirritationen nicht verwirren. Gehen Sie hin, las-
sen Sie sich begeistern. Stellen Sie fest, dass der Einklang
von Mensch, Natur und Technik möglich ist. Lassen Sie
sich nicht dadurch abhalten, dass an der einen oder ande-
ren Stelle Missmanagement diese EXPO überschattet.

Wir begrüßen die Regierungserklärung sehr nach-
drücklich. Wir begrüßen auch, dass sie an dieser zentralen
Stelle erfolgte. Wir begrüßen auch die grundsätzlichen
Ausführungen, die Herr Minister Klimmt gemacht hat.
Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen, aber ich
denke, dass Ihre „Leistungsbilanz“, Herr Minister, erheb-
liche Schwächen aufweist. Ich meine, dass die Zusam-
menlegung des Ministeriums für Bau- und Wohnungswe-
sen mit dem Verkehrsministerium Probleme schafft. Die
Behandlung solcher Themen wie „Städtische Entwick-
lung“ und „Urbanität“ kommt bei diesem Zusammen-
schluss schlicht und ergreifend zu kurz.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Ich glaube, dass wir viel energischer – was auch Frau
Eichstädt-Bohlig ansprach – Raumordnungsgesichts-
punkte und die Innenstadtentwicklung berücksichtigen
müssen. Aber wir müssen auch Ja zu Weichenstellungen

im wirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel beim Thema
„Ladenschluss“, sagen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie die Ladenschlusszeiten verändern, geben Sie
damit den Innenstädten eine besondere Chance.

Herr Minister, es macht keinen Sinn, die Ökosteuer
auf den ÖPNVanzuwenden und zu Erhöhungen in diesem
Bereich zu kommen,


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Halber Satz!)


wenn Sie zu einer umweltverträgliche Mobilität kommen
wollen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Menschen gehen auch nicht primitiv mit diesem

Thema um, sondern reagieren auf Dinge, durch die ihnen
Geld aus der Tasche gezogen wird. Die Menschen reagie-
ren gerade in Städten auf Finanzentwicklungen besonders
kritisch und zurückhaltend, weil dort häufig die Einkom-
men nicht so üppig sind, wie dies der eine oder andere
meint.

Nehmen Sie zum Beispiel die Steuerpolitik, die dazu
geführt hat, dass der Mietwohnungsbau und damit das,
was Architekten in einer Stadt entwickeln können, so
zurückgegangen ist, wie er zurückgegangen ist. Nehmen
Sie die Umverlagerung, die Sie mit der Wohngeldnovelle
vorgenommen haben. Sie nehmen an einer Stelle, wo gute
städtebauliche Entwicklungen auf den Weg gebracht wor-
den sind, um eine andere Stelle zu speisen. Man kann das
machen, darf sich dann aber nicht darüber wundern, dass
sich dies auf die städtebauliche Entwicklung so negativ
auswirkt, wie es hier Vertreter der Regierungskoalition
zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben hier noch viele
Hausaufgaben zu machen.

Wir sollten noch einen Blick auf die Probleme der
Städte werfen, die bei Urban 21 besonders angesprochen
werden. In den Unterlagen zu Urban 21 gibt es eine Über-
sicht über die Einwohnerzahl der Städte. Die zugrunde
liegende Erhebung liegt interessanterweise schon weit
zurück, sie stammt aus dem Jahre 1996. Man musste zu
einem Trick greifen und sehr lange zählen, bis endlich ein
deutscher Ballungsraum in dieser Statistik Niederschlag
finden konnte. An 29. Stelle taucht das Ruhrgebiet mit
6,5 Millionen Menschen auf. Angeführt wird diese Liste
von Städten wie Tokio mit 27 Millionen, heute wahr-
scheinlich 30 Millionen Einwohnern, und Mexiko-City
mit 17 oder 20 Millionen Einwohnern. Diese Städte ste-
hen vor Herausforderungen, die in unserer Gesellschaft
nicht genügend verankert sind. Das Trinkwasser- und
das Hygieneproblem in diesen Städten ist im Bewusst-
sein unserer Bevölkerung nicht genügend präsent.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Deswegen ist diese Veranstaltung so besonders wichtig;
denn wir müssen uns aus dem nationalen Blick heraus die-
sen Aufgabenstellungen insgesamt zuwenden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Hans-Michael Goldmann
10100


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist eine zentrale Aufgabe für ein Parlament, ja für uns
in Europa, aber speziell in Deutschland, dass wir uns die-
sen Problemen in besonderer Weise zuwenden.

Ich glaube, Herr Dr. Kansy und Herr Dr. Töpfer und an-
dere hätten nicht geglaubt, dass dieses „Orchideenthema“
mit Urban 21 hier in Berlin eine so breite Resonanz – hof-
fentlich – finden wird und uns Anregungen und Anstöße
geben wird, gegenüber den Megacitys eine andere Hal-
tung einzunehmen, die darauf abzielt, die Gegebenheiten
in diesen Städten zu verbessern. Das ist soziale Verant-
wortung, das ist globale Verantwortung, die wir gern
wahrnehmen.

An all dem, was sich damit beschäftigt und was dahin
gehend Weichen stellt, um die Situation in diesen Städten,
um die Situation weltweit friedenssichernd und stabilisie-
rend zu verändern, wird sich die F.D.P. aktiv positiv be-
teiligen. Wir wünschen uns in dieser Phase enge Zusam-
menarbeit und bieten sie herzlich an.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410802100
Das Wort
hat jetzt Kollegin Christine Ostrowski von der PDS-Frak-
tion.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1410802200
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wer wollte die Weltkonferenz nicht
begrüßen? Aber die Zahl von Symposien, Konferenzen
und Veranstaltungen, die Zahl der Papiere, der Berichte,
der Kommissionen zur Stadt der Zukunft ist ungeheuer
groß, die Zahl der politischen Bekenntnisse auch. Alle
Parteien wollen die Zersiedelung eindämmen, alle Par-
teien wollen die Landflucht stoppen, alle wollen Bauland
billiger anbieten, alle wollen Urbanität, alle wollen so-
ziale Durchmischung, alle wollen Nachhaltigkeit.

Nichts könnte man gegen Ihre Regierungserklärung sa-
gen, Herr Klimmt, und gleich gar nichts gegen Ihre wun-
derbare Rede, Frau Eichstädt-Bohlig. Aber die Realität ist
eine andere:

Die Städte wachsen an den Rändern und nicht im Kern.
Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Leben setzt sich
unvermindert fort. Interessant ist übrigens, dass die Ursa-
che des Pendelns nicht der neue Wohnsitz, sondern der
Wechsel des Arbeitsortes ist, die Verlagerung des Arbeits-
ortes nach draußen.

Der Anteil sozial Schwacher und Älterer in den Städ-
ten steigt, weil Jüngere und Besserverdienende die Städte
verlassen. Die soziale Polarisierung schreitet weiter
voran. Damit verschärfen sich die Wohnungsprobleme für
die zurückbleibende Minderheit in den Städten deutlich,
und gleichzeitig funktioniert der Teilmarkt persönliches
Wohneigentum wegen zu hoher Kosten nicht.

Es kommt zu Zusatzverkehr, zu weiterer Versiegelung,
zu Flächenverbrauch, zu Umweltbelastung, zu hohen ge-
sellschaftlichen Kosten, und es kommt zur Umverteilung
der Finanzen zuungunsten der Städte, obwohl diese durch
die relative Zunahme besonders sozial Schwacher spürbar
mehr finanzielle Belastungen verkraften müssen.

Die spannende Frage, die ich heute hier nicht gehört
habe, die sich heute hier noch keiner gestellt hat, jeden-
falls öffentlich nicht, lautet: Wieso ist denn das so? Wieso
gibt es diesen Widerspruch zwischen der politischen De-
klaration einerseits, bei der sich alle einig sind, und den
realen Prozessen andererseits, die total entgegengesetzt
verlaufen?


(Beifall bei der PDS)

Ich denke, man kann, wenn man diese Frage nicht stellt
und wenn man diese Frage nicht beantwortet, dieses
Thema überhaupt nicht behandeln. Weil Sie sich dem
verweigern, muss ich es tun.


(Beifall bei der PDS – Lachen bei der CDU/CSU)


Ich glaube, eine Ursache dafür, warum diese Frage
nicht gestellt wird, liegt darin, dass der Politik der Rea-
litätssinn fehlt, dass die Politik die Konflikte der Realität
scheut, dass die Politik sich die Welt schönredet, dass die
Politik Widersprüchen ausweicht, den einfachen Weg
wählt und somit unfähig ist, reale Veränderungen herbei-
zuführen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ihre Entschließung, meine Damen und Herren von

Rot-Grün, enthält wunderbare Sätze, die zwar nicht falsch
sind, jedoch fernab der Wirklichkeit liegen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Wo ist Ihre denn? Sie haben doch gar keine!)


So enthält diese Entschließung zum Beispiel die Aussage,
der Bundestag solle feststellen, dass 80 Prozent der euro-
päischen Bevölkerung in Städten lebt. Nun frage ich Sie:
Was nützt das? Ich dachte immer, wir wüssten das bereits.


(Beifall bei der PDS)

Ich hätte mir eher gewünscht, dass Sie aufzählen, wie und
warum die Bevölkerungszahlen in den Städten zurückge-
gangen sind und was Sie konkret dagegen tun wollen.

Sie kommen auch zu der wunderbaren Erkenntnis, der
Siedlungs- und Städtebau sei am Leitbild einer nachhal-
tigen Entwicklung auszurichten. Woran soll er sonst aus-
gerichtet sein? Sie brauchen uns nicht feststellen zu las-
sen, dass nachhaltig ausgerichtet werden müsse. Ich kann
nur sagen: Richten Sie doch aus, und zwar nachhaltig!


(Beifall bei der PDS)

Um diesen Widerspruch einmal auf den Punkt zu bringen:
Sie vergessen, eine Sommersmogverordnung in Kraft zu
setzen, wollen hier aber solche Aussagen beschließen las-
sen.


(Beifall bei der PDS)

Sie haben bis heute die vergleichsweise bescheidene

Handlung unterlassen, das Bundes-Bodenschutzgesetz
auch bei Militärflächen und Verkehrswegen anzuwenden.
Genau diese Handlung hätte aber eine nachhaltigere Wir-
kung als Ihr Entschließungsantrag.


(Beifall bei der PDS)





Hans-Michael Goldmann

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wir müssen nicht darum herumreden: Auch Sie fliehen
vor den Konflikten.

So wird zum Beispiel Fläche zu gleichen Teilen von
Verkehr, Gewerbe, Wirtschaft und Wohnungsbau ver-
braucht. In der öffentlichen Debatte wird der Flächenver-
brauch jedoch auf den Wohnungsbau verengt. Sie wissen
das alle und spielen trotzdem in diesem Spiel mit. Ich sa-
gen Ihnen auch, warum: Würden Sie sich an den Abbau
der hohen Subventionierung gewerblicher Flächen heran-
wagen, hätten Sie sofort die Wirtschaftslobby auf dem
Hals und diesen Konflikt scheuen Sie.


(Beifall bei der PDS – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Und das von Ihnen als Vertreterin der Stadt Dresden!)


Selbst die von Ihnen erneut gelobte Städtebauförde-
rung ist ein Indiz Ihrer verzerrten Wahrnehmung der Rea-
lität. Sie ist ohne Zweifel ein gutes Instrument, das aber
zum finanziellen Feigenblatt degradiert und vom Umfang
her nicht annähernd geeignet ist, die Probleme in den
Städten zu lösen. Was sind 600 Millionen DM für die
Städtebauförderung gegen 6 Milliarden DM für Straßen-
baumaßnahmen?


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist die PDS gegen Straßenbau? Das wusste ich noch gar nicht!)


Betrachtet man die gesamten stadtwirksamen Investi-
tionen im Bundeshaushalt 2000, so kann man erkennen,
dass die Städtebauförderung gerade einmal 3 Prozent des
Gesamtvolumens ausmacht. Der größte Teil steht für
Bundesfernstraßen und dem Straßenbau allgemein zur
Verfügung. Es fließen auch Mittel über das Gemeinde-
verkehrsfinanzierungsgesetz an die Gemeinden, womit
nicht nur Gutes bewirkt wird, da über dieses Gesetz oft
genug stadtfeindliche Projekte in Gang gebracht werden.

Sie schreiben in Ihrer Entschließung auch allen Erns-
tes, dass eine Überhandnahme des Individualverkehrs un-
sere Städte zu ersticken drohe.

Weiter bringen Sie zum Ausdruck, dass der soziale
Wohnungsbau gerade in den Städten wesentlich zum Er-
halt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner-
strukturen beitrage. Dabei ist Realität, dass er in der Ver-
gangenheit auch das Gegenteil bewirkt hat, nämlich die
Konzentration von mit sozialen Problemen behafteten
Mietern in Wohnmaschinen. Realität ist auch, dass So-
zialwohnungen en masse aus der Bindung fallen, sodass
wir bald keine mehr haben werden. Es ist auch Realität,
dass Sie das Finanzvolumen Ihres sozialen Wohnungs-
baus auf ein so kümmerliches Maß gesenkt haben, dass
Sie es vermeiden sollten, den Begriff überhaupt noch in
den Mund zu nehmen.

Es scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, dass die Regel-
instrumente, besonders die finanziellen, gegenüber dem
Leitbild einer – wie Sie schreiben – „kompakt gebauten,
durch vielfältige Nutzungsmischung und die Pflege bau-
lichen Erbes geprägten europäischen Stadt“ versagen. Es
fließen unentwegt Milliarden an öffentlichen Mitteln di-
rekt in Investitionen, die stadt- und umweltschädlich sind.
So wurde zum Beispiel in Dresden im Beisein des Bun-

deskanzlers am Großen Garten, der grünen Lunge der
Stadt, eine gläserne Fabrik des Volkswagen-Konzerns
eröffnet, in der eine Luxuslimousine gefertigt wird. Die-
ses Projekt wurde sehr hoch subventioniert und von der
rot-grünen Bundesregierung mit eingeweiht.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Und wie viele Menschen arbeiten da? – Zuruf von der SPD: Und Arbeitsplätze sind nichts?)


Diese Luxuslimousinen werden damit von allen Steu-
erzahlern mitfinanziert. Ich denke mir aber, ein Besser-
verdienender kann für ein solches Luxusauto auch noch
20 000 DM drauflegen. Die Folgekosten solcher staatlich
subventionierten Investitionen werden wiederum von der
Gesellschaft getragen. Sie werden niemals – auch durch
Sie nicht – aufgerechnet, öffentlich gemacht und bilan-
ziert.

Das Wohnungsförderinstrumentarium ist erstarrt und
unflexibel. Es ist von vornherein bestimmt, wofür jede
einzelne Mark ausgegeben werden darf. Der Bund legt
nach wie vor fest, wofür die Stadt das Geld verwenden
darf. Das ist gerade aus Gründen der Demokratie absurd
und überholt. Ich zitiere wieder, Frau Eichstädt-Bohlig:
„Die Stadt ist die Keimzelle der Demokratie.“ Die Politi-
ker in Rostock, in Saarbrücken und anderswo wissen viel
besser, wofür sie die Mittel verwenden müssen: ob für Be-
legungsrechte, Umfeldgestaltung, für Kultur, für die Bank
an der Ecke, für Bestandserneuerung oder die Bäume an
der Straße.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Bild der Städte in den neuen Bundesländern ist kein Beweis für die Kompetenz der Lokalpolitiker!)


Nehmen Sie Ihren Förderetat – er ist klein genug – und
bilden Sie damit endlich einen Gesamtfördertopf! Lassen
Sie die Städte über den Einsatz in kommunaler Selbst-
verwaltung entscheiden!


(Beifall bei der PDS)

Das kostet Sie keine Mark mehr, aber die Wirkung wird
eine ganz andere und bessere sein. Es ist nämlich auch
eine Frage des Vertrauens. Wer anderen die Verwendung
des Geldes vorschreibt, misstraut ihnen. Misstrauen ist
keine gesunde Basis und ist in keiner Weise gerechtfertigt.
Im Gegenteil: Man kann den Stadtpolitikern nur Respekt
zollen und ihnen dafür danken – das tue ich hiermit –, dass
sie in den letzten Jahren mit den zunehmend schwierige-
ren Problemen und den Rahmenbedingungen zurechtge-
kommen sind, die sich auch unter Rot-Grün nicht verbes-
sert, sondern verschlechtert haben.

Meine Damen und Herren, der großen Worte sind ge-
nug gewechselt. Ich mag sie nicht mehr hören. Finden Sie
zu einer neuen Bescheidenheit zurück! Unternehmen Sie
praktische Schritte und seien sie zunächst auch noch so
klein.

Für den Neubau gibt es eine Eigenheimzulage von
40 000 DM, für den Kauf eines Hauses aus dem Bestand
nur 20 000 DM. Ändern Sie diese Diskrepanz! Beklagen
Sie nicht länger die hohen Baulandpreise! Reformieren
Sie endlich die Grundsteuer, damit die Bevorteilung un-




Christine Ostrowski
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(C)



(D)



(A)



(B)


bebauter Grundstücke ein Ende hat. Realisieren Sie Ihr
Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die Gemeinden
an den herbeigeführten Bodenwertsteigerungen finanziell
stärker zu beteiligen.

Die Kilometerpauschale wirkt als Zersiedlungspau-
schale. Führen Sie die Entfernungspauschale ein, wie Sie
es im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben! Setzen
Sie die Energiesparverordnung in Kraft! Sie sind ein Jahr
im Verzug. Sorgen Sie dafür, dass die Städte ausreichen-
den Wohnungsbestand für Minderverdienende haben.
Richten Sie Ihre Förderpolitik auf eine gemischte Sozial-
struktur im kommunalen Wohnungsbau aus.


(Zuruf von der SPD: Die Wohnungen im Osten stehen doch jetzt schon leer! Habt ihr das noch nicht mitgekiegt? Wo lebt ihr denn?)


Stärken Sie die Eigenverantwortung der Städte bei der
Verwendung von Fördermitteln und geben Sie ihnen ei-
nen Topf in die Hand, den sie in kommunaler Selbstver-
waltung verwenden können!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410802300
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Ostrowski.


Christine Ostrowski (PDS):
Rede ID: ID1410802400
Ich komme zum
Schluss.

Greifen Sie den Vorschlag auf, der im vergangenen
Jahr auf dem nationalen Städtekongress gemacht wurde!
Bilden Sie einen Rat der Städte, ähnlich den Fünf Weisen,
wie es Herr Ganser vorgeschlagen hat. Für alle möglichen
Themen gibt es Kommissionen, nur für die Zukunft der
Städte nicht, dort, wo die Menschen leben.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen die Städte selber machen! Kommunale Autonomie bedeutet, dass sie das selber machen!)


Und am allerschönsten wäre es, Sie würden einen
Stadtminister schaffen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was sagt denn der Städtetag zu diesem Vorschlag?)


Die Planstelle für Staatsminister Schwanitz könnten
Sie dafür zur Verfügung stellen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410802500
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Angelika Mertens von der SPD-
Fraktion.


Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1410802600
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich glaube, Frau Ostrowski, Sie haben
sich als Einzige der Diskussion verweigert, die sich mit
der Philosophie der europäischen Stadt befasst. Ich be-
daure dass sehr. Das Einzige, was uns bei diesem Thema
verbindet, ist die Elbe, aber sonst nichts.

Wir stehen zu den Zielen einer nachhaltigen, zukunfts-
verträglichen Entwicklung als zentraler Zukunftsaufgabe
unserer Gesellschaft und einer sozial- und umweltver-
träglichen Städtebaupolitik, wie sie in Rio und Istanbul
vereinbart wurde.

Seit Rio sind 192 Monate vergangen. Ein Zehntel die-
ser Zeit tragen wir Verantwortung. Deutschland hat ernst-
hafte Anstrengungen unternommen, die Beschlüsse von
Rio und Istanbul umzusetzen. Deshalb wäre es unredlich,
das, was bis jetzt geschehen ist, nicht zu beschreiben und
zu würdigen.

Mit dem gleichen Selbstverständnis verweisen wir
aber auch auf das Neue, das wir in der kurzen Zeit nach
dem Regierungswechsel hinzugefügt haben, und sind ehr-
lich und mutig genug, auch das aufzuzeigen, was noch ge-
tan werden muss. So wie wir – positiv – in der Politik ei-
ner nachhaltigen Stadtentwicklung nicht völlig neu an-
fangen müssen und – negativ – leider keine Stunde Null
beim Haushalt hatten, sondern den größten Schuldenberg
geerbt haben, den diese Republik jemals hatte, gibt es
auch keine Stunde Null in der Städtebaupolitik, keine in
der Raumordnung, keine in der Wohnungspolitik und in
der Verkehrspolitik schon gar keine.

Die bei den Planern beliebte Hühnereitheorie belegt, in
welchem Ausmaß und in welchem Tempo sich die Stadt,
insbesondere die deutsche, verändert hat: Bis zur Auf-
klärung begrenzten Stadtmauern ein kompaktes Gebilde.
Die Stadt, sagen die Planer, ähnelte einem hart gekochten
Frühstücksei. Die Schale wurde durch die industrielle Re-
volution aufgesprengt und zerfranste an den Rändern. Die
Stadt glich nunmehr einem Spiegelei. Aber das Gelbe, der
Stadtkern, blieb unangetastet, so groß die Stadt auch
wurde. In der Nachkriegszeit wurden in den Zentren
Freiräume geschaffen. Die Unterschiede zwischen Stadt
und Land verschwanden. Die Stadt gleicht nunmehr ei-
nem Rührei.

Wir beobachten jetzt die Tendenz zu einer dreigeteilten
Stadt. Die Strukturen grenzen sich immer schärfer von-
einander ab: Das ist erstens – die international wett-
bewerbsfähige Stadt. Das ist – zweitens – die normale Ar-
beits-, Versorgungs- und Wohnstadt. Das ist – drittens –
die marginalisierte Stadt der Randgruppen. Überlagert
wird das alles von den Widersprüchlichkeiten zwischen
Kernstadt und Umland. Genau das besagen die Spie-
gellei- und die Rühreitheorien. Das Umland delegiert
seine sozialen Probleme an die Kernstädte.

Ich wünsche mir manchmal, dass diejenigen Politiker
und Politikerinnen – jedenfalls, soweit sie noch unter uns
sind –, die uns – das meine ich parteiübergreifend – als
schlechte Politikergeneration darstellen, angesichts des-
sen, was sie uns hinterlassen haben, wenigstens ein biss-
chen Trauerarbeit leisteten würden. Ich meine damit nicht
diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Fehler oder
vermeintliche Fehler gemacht haben, weil sie unter ei-
nem enormen Druck Wohnraum schaffen mussten. Ich
meine diejenigen, die sich der Faszination eines einzigen
Produktes hingegeben haben und die autogerechte Stadt
bauen wollten, diejenigen, die noch in den 70er-Jahren
ohne Not Großsiedlungen gebaut haben und ganze Alt-
stadtgebiete abreißen ließen, und diejenigen, die den




Christine Ostrowski

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(C)



(D)



(A)



(B)


Stadtteilen die Mitte genommen haben. Wie viele Markt-
plätze entpuppen sich schließlich als vierspurige Straßen!

Aus einer Berliner Senatsbroschüre aus dem Jahre
1957 ist Folgendes zu entnehmen:

Fußgänger? Mit unverbesserlichen Neandertalern
kann sich die neue Straße nicht abgeben. Wer ein Ziel
hat, soll im Auto sitzen, und wer keins hat, ist ein
Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächs-
ten Park.

Räumliche Trennung von Wohnen, Leben und Arbeiten,
Einkaufszentren am Rande der Stadt, Schlafstädte, Zer-
siedelung und immer mehr Verkehrswege sind das Erbe,
mit dem wir heute umgehen müssen und das, so hoffe ich,
anders aussehen würde, wenn wir damals die politische
Verantwortung getragen hätten. Aber auch wir werden ir-
gendwann nach dem beurteilt werden, was wir heute ge-
tan haben. Deshalb fordere ich uns auf, so fehlerarm und
rückholbar wie möglich zu agieren.

Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland
trotz dieser Veränderungen noch relativ gute Vorausset-
zungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Nun wird
das Wort „Nachhaltigkeit“ geradezu inflationär verwen-
det. Keine namhafte Firma entzieht sich in ihren Umwelt-
berichten diesem Gedanken und diesem Ausdruck. In
aller Unverbindlichkeit könnte auch das Fünfzehnliter-
auto als nachhaltig bezeichnet werden. Trotzdem möchte
ich diesen Ausdruck verwenden, weil er nicht nur für je-
den verständlich ist, sondern auch eine hohe Über-
einstimmung darüber besteht, was mit ihm gemeint ist:
Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, Ökologie, Öko-
nomie und soziale Ziele so in Einklang zu bringen, dass
die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen befriedigt
werden, ohne folgenden Generationen die Chance für ihre
eigene Lebensgestaltung zu nehmen. Klaus Töpfer hat in
diesem Zusammenhang von den drei Lebenslügen der In-
dustriegesellschaft gesprochen: Wir subventionieren un-
seren Wohlstand auf Kosten der Umwelt, der Mitwelt und
der Nachwelt.

Gelingt es den Entwicklungsländern, das Wohl-
standsmodell der Industrieländer erfolgreich zu kopieren,
dann wäre das sicherlich der ökologische Kollaps dieses
Planeten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Dritte Welt kann nicht so werden wie die Erste, und
die Erste kann nicht so bleiben, wie sie ist. Das Wohl-
standsmodell der Ersten Welt ist nicht exportfähig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber das Modell der europäischen Stadt ist durchaus
exportfähig, nicht in dem Sinne einer Wohlstandsüberle-
genheit, wohl aber in dem Sinne einer Urbanität, die kom-
pakt ist, Stadtteil statt Siedlung ist, Funktionsmischungen
aufweist und deren Innenstädte oder Stadtmitten auch kul-
turelle und politische Mitten sind, im Sinne einer Urba-
nität, die für alle da sein muss und deshalb auch unange-
passte Nutzungen ertragen muss, was nicht gleichbedeu-
tend mit der Vernachlässigung der Sicherheit ist.

Die europäische Stadt bewahrt ihr baukulturelles Erbe,
verschließt sich aber gleichzeitig modernen Entwicklun-
gen nicht. Die europäische Stadt ist eine Stadt, die sozial,
ökonomisch und kulturell sozusagen tragfähig ist und
gleichzeitig all das dafür Notwendige an Lebensgrund-
lage und Lebensqualität bietet. Dazu gehören intelligente
Verkehrssysteme, sparsame Energieversorgung und um-
welt- und flächenschonende Bau- und Siedlungsformen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Tradition des Stadt-
hauses eine Renaissance erfahren würde. Gerade in den
Städten der neuen Bundesländer gibt es so manche
Baulücke, die dafür genutzt werden könnte.

Stadtentwicklung wird häufig nur als gebaute Stadt
verstanden. Sie ist aber eine gesellschaftspolitische Be-
wegung, nichts Statisches, das über Jahrzehnte gleich
bleibt. Ursache und Wirkung von Maßnahmen sind oft
schwer vorauszusagen. Deshalb wiederhole ich, dass wir
bei allen Entscheidungen so fehlerarm und rückholbar
wie möglich vorgehen sollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aristoteles sagt:
Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von
Menschen; ähnliche Menschen bringen keine Stadt
zuwege.

Das Wohnverhalten der Menschen ist wandelbar. Das
heutige Familienwohnen ist historisch gesehen jung und
hat sich erst in den 50er- und 60er-Jahren durchgesetzt.
Seitdem entwickeln sich aber neue, differenzierte Wohn-
und Lebensformen. Neue Haushaltstypen neben oder
auch anstelle der Zweigenerationenfamilie entstehen. Ar-
beiten und Wohnen rücken wieder näher zueinander. Die
demographische Entwicklung wird sich nicht nur im
Wohnflächenverbrauch bemerkbar machen, sondern auch
zu ganz neuen Serviceangeboten führen. Die Mobilität
der Menschen und andere Arbeits- und Lebensrhythmen
werden sich auf das Wohnverhalten auswirken.

Ich glaube deshalb daran – ich hoffe, ich bin nicht die
Einzige –, dass sich in nicht ferner Zukunft die Wohnung
in einem Hochhaus mit dem nötigen Service selbst in ei-
ner Großsiedlung für bestimmte Lebensphasen einer
Nachfrage erfreuen könnte, so wie die Wohnungen der
Gründerzeit, einst gebaut für den Sechs-Personen-Arbei-
terhaushalt, heute zu den begehrtesten Objekten in einer
Stadt gehören.

Ich kann mich noch ganz gut an die letzte Legislatur-
periode und an die Diskussion über das Thema „Nachhal-
tige Stadtentwicklung und Erhalt und Stärkung der In-
nenstädte“ erinnern. Besser ist, man liest durch, was man
damals gesagt hat.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Auf jedes Wort wird geachtet!)


Theoretisch – ich betone: rein theoretisch – kann man sich
viel Zeit und Mühe sparen, wenn die jetzigen Regie-
rungspolitiker und die damaligen Oppositionspolitiker –
oder umgekehrt – einfach ihre Reden aus der letzten Le-
gislatur untereinander tauschen.




Angelika Mertens
10104


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich habe 1996 gesagt: Das Konzept für eine nachhal-
tige Stadtentwicklung wird immer lebendiger, vollstän-
diger und gesünder, je größer der geographische Abstand
zwischen Handeln und Reden ist – Rio und Istanbul ließen
grüßen. Heute müssen wir als Bundesrepublik Deutsch-
land in Berlin Rechenschaft ablegen, wie ernst wir es mit
diesen Verpflichtungen genommen haben und was wir tun
werden.

Ich möchte deshalb an einigen Beispielen ganz konkret
aufzeigen, was wir bereits tun, was auch Sie schon getan
haben, was wir tun werden und was unsere Forderungen
an die Bundesregierung sind. Wir wollen gemeinsam mit
Ländern und Kommunen die Städte stärken, sie weiter-
entwickeln und, wo nötig, reparieren. Dazu zählt die Städ-
tebauförderung als Leitprogramm einer modernen Stadt-
entwicklung.

Die Städtebauförderung hat mit ihrem ressortübergrei-
fenden und integrativen Ansatz eine Erfolgsstory erlebt,
die wir hier gemeinsam vertreten können und an der wir
uns gemeinsam erfreuen können. Sie trägt dazu bei, die
Bewohnbarkeit und die Funktionsfähigkeit der Städte zu
sichern und zu verbessern. Wir werden das Programm
„Soziale Stadt“ – Frau Streb-Hesse wird dazu nachher et-
was sagen – nicht nur erhalten, sondern zu gegebener Zeit
auch weiterentwickeln. Wir warten ganz gespannt auf die
ersten Ergebnisse. Wenn man sich ansieht, welche „Über-
zeichnung“ es bei den Anmeldungen gegeben hat, dann
wünschte man sich fast, man wäre damit an die Börse ge-
gangen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Überzeichnung zeigt auf der anderen Seite die drin-
gende Notwendigkeit dieses Programms; sie steht aber
auch für das Engagement der Menschen in den gefährde-
ten Stadtteilen.

Wir werden den sozialen Wohnungsbau reformieren
und das Fördersystem weiterentwickeln, damit Förder-
mittel flexibel und zielgenau eingesetzt werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der soziale Wohnungsbau ist in der Vergangenheit ein
wichtiges Instrument der Wohnraumversorgung gewesen.
Mit rund 9 Millionen geförderten Wohnungen seit 1953
hat er dazu beigetragen, dass die überwältigende Mehrheit
der Bürgerinnen und Bürger heute gut mit Wohnraum ver-
sorgt ist.

Während nach 1945 die zentrale Herausforderung der
Wohnungspolitik der hohe Wohnungsfehlbestand war, ha-
ben sich die Anforderungen heute gewandelt. Der soziale
Wohnungsbau muss auf neue Herausforderungen reagie-
ren und bleibt auch deshalb ein wichtiges Instrument der
Wohnungspolitik. Die Förderung muss zum Erhalt und
zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Sied-
lungsstrukturen beitragen. Die Bestandsförderung soll ei-
nen besonderen Stellenwert erhalten und gleichberechtigt
neben die Neubauförderung treten.

Das Forschungsprogramm „Experimenteller Woh-
nungs- und Städtebau“, das in der Vergangenheit wichtige
innovative Projekte im Wohnungs- und Städtebau ange-
stoßen hat, soll erhalten werden. Es wird angesichts der
neuen Lebensrhythmen, Lebensstile und der demographi-
schen Entwicklung eine noch größere Bedeutung bekom-
men.

Die Boden- und Steuerpolitik muss verstärkt genutzt
werden, um die Zersiedelung einzudämmen, und zur wirt-
schaftlichen Attraktivität der Städte und zur Baulandmo-
bilisierung im besiedelten Bereich beitragen. Wir bitten
deshalb die Bundesregierung zu prüfen, inwieweit zu-
sätzliche Maßnahmen im Planungs-, Förder- und Steuer-
recht zur Stärkung der Städte möglich sind.

Gemeinsam mit Ländern und Gemeinden und der städ-
tischen Wirtschaft müssen zusätzliche Aktivitäten ergrif-
fen werden, um die Innenstädte zu beleben. Wir begrüßen
deshalb die Initiative der Bundesregierung zur Stärkung
des innerstädtischen Einzelhandels und fordern die Bun-
desregierung auf zu prüfen, ob weitere Schritte zum Ab-
bau des Wettbewerbsnachteils des innerstädtischen Ein-
zelhandels gegenüber Factory-Outlets und Einkaufszen-
tren auf der grünen Wiese möglich sind und ob eine
Einschränkung von Neuansiedlungen an nicht integrier-
ten Standorten geboten ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Innenstadtinitiative darf aber der Blick für die
Versorgung in den Wohngebieten nicht verloren gehen. Es
darf nicht dazu kommen, dass die Abschreibungszeiten
die Citybereiche zu Bühnenbildern werden lassen.

Es ist nicht wenig, was wir uns vorgenommen haben.
Es ist sicherlich nicht perfekt und wenn die alte Regierung
uns mehr in der Kasse gelassen hätte, wäre uns sicherlich
das eine oder andere noch eingefallen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Trotzdem haben wir heute eigentlich alle ein Plädoyer
für die Stadt gehalten. Eine Politik zur Erhaltung und Stär-
kung der Städte kann nur Teil einer Gesamtstrategie sein.
Die Stadt wird entweder gleichzeitig eine ökologische,
soziale und ökonomische sein oder sie wird eine über-
baute Fläche sein. Einzelmaßnahmen, so gut sie auch ge-
meint sind, können der Stadtentwicklung mehr schaden
als nützen. Die Stadt ist kein Theater, in dem Stücke auf-
geführt werden, und die Bewohner und Bewohnerinnen
sind keine Komparsen oder Kulissenschieber. Stadt ist wi-
dersprüchlich und deshalb faszinierend. Ich möchte daher
mit Karl Kraus schließen:

Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: As-
phalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Lufthei-
zung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Angelika Mertens

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410802700
Das Wort
hat jetzt Dr. Dietmar Kansy von der CDU/CSU-Fraktion.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1410802800
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen
und Herren! Diese Debatte kann nicht nur Friede, Freude,
Eierkuchen sein. Frau Kollegin Ostrowski, es war gera-
dezu peinlich, was Sie sich hier geleistet haben. Nie ist in
Deutschland in so kurzer Zeit systematisch so viel Stadt
vernichtet worden wie zur SED-Zeit in der ehemaligen
DDR.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


„Trümmer schaffen ohne Waffen“, sagte der Volksmund.
Wir konnten es von Erfurt bis Rostock besichtigen.


(Zurufe von der PDS)

– Ich weiß, es tut weh. Aber die Leute haben nicht ver-
gessen.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist wahr!)

Frau Kollegin Mertens, wenn wir uns ansehen, was in

diesen zehn Jahren seit der Einheit dort passiert ist – da-
her kommt der größte Teil unseres Schuldenberges –,
dann meine ich, sollten wir das Jammern doch etwas kür-
zer halten und uns darüber freuen, was wir in diesen zehn
Jahren geschafft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Thema ist anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass

man es auch sehr langweilig gestalten kann.
Stadtluft macht frei – das war die Aussage von ganzen

Generationen über viele Jahrhunderte hinweg, auch bei
uns in Deutschland. Das galt eigentlich bis ins frühe
19. Jahrhundert.

Ich halte es für berechtigt, wenn auf der Konferenz in
Rio und auf der Habitat-Konferenz in Istanbul die euro-
päische Stadt als eine gleichermaßen wirtschaftlich effizi-
ente wie sozialverträgliche Gemeinschaft, als eine ohne
große Ressourcenverschwendung funktionierende Wohn-
und Arbeitsgemeinschaft dargestellt wird. Ohne jetzt groß
auf Theorien einzugehen – wir sind ja in einer Parla-
mentsdebatte –, lassen Sie mich festhalten: Bevor wir uns
zum Lehrmeister der Dritten Welt aufspielen, sollten wir
uns heute auch einmal an die eigene Nase fassen und fra-
gen, was denn eigentlich bei uns in Europa und bei uns in
Deutschland schief gelaufen ist. Auch unsere Städte ha-
ben ja Probleme. Diese sind lösbar, und wir werden sie,
wie ich glaube, auch gemeinsam lösen.

„Zilles Milljöh“ hier in Berlin und auch woanders ist
zwar nachträglich verklärt worden, das Leben in voll ge-
stopften Mietskasernen, von wo aus man in oft hässliche
Industriebezirke zur Arbeit ging, war jedoch ungesund. Es
war zwangsläufig, dass man sich fragte: Können wir et-
was Neues machen? In England wurde der Anfang ge-
macht, indem man die Idee der Gartenstädte entwickelte,
diese griff von Paris weiter nach Berlin über. Es gab ja hier

1931 einen Vorkongress zu Athen und dann kam die
Charta von Athen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns – ich bitte
auch die Fachwelt darum – einmal ehrlich sein, denn
manchmal kommt es anders, als man denkt. Gut gemeint
ist noch lange nicht gut. Planung entpuppt sich eben
manchmal als Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum. So
verhielt es sich auch mit der Charta von Athen. Die ge-
bietsweise Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeit und
Erholung brachte ungewollt einerseits die jetzt beklagten
monotonen und wenig urbanen Stadtbereiche und ande-
rerseits den ebenfalls zigmal beklagten Verkehr. Das war
damals angeblich eine fortschrittliche Stadtidee; sie hat
sich aber als nicht brauchbar erwiesen.

Seitdem diskutieren wir seit Jahren darüber, ob wir
überhaupt Leitbilder für unsere Stadtpolitik brauchen. Ich
persönlich würde sagen: Ja, aber um Gottes Willen darf
ein neues Leitbild nicht wieder zum Dogma erhoben wer-
den; denn Leitbilder sind immer dem Wandel der Gesell-
schaft unterworfen und gelten an unterschiedlichen Orten
und zu unterschiedlichen Zeiten jeweils mehr oder weni-
ger. Dies – das hat der Minister richtig herausgestellt –
wird auf der Konferenz Urban 21 vom 4. bis 6. Juli 2000
diskutiert werden.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Es wurde schon gesagt, dass Klaus Töpfer der wesent-

liche Motor für die Planung dieser Konferenz war, sie
wurde von Eduard Oswald weiter vorbereitet und wurde
insgesamt von der Regierung Kohl angestoßen. Wir als
Parlament des Gastgeberlandes sollten uns deswegen fra-
gen, ob wir hier ein Vorbild darstellen. Das Wort „Vor-
bildfunktion“ steht beispielsweise im Antrag der SPD-
Bundestagsfraktion zu dieser Debatte. Die Antwort auf
die Frage, ob Deutschland ein Vorbild abgibt, lautet, wenn
wir ehrlich sind, Ja und Nein. Ja bezüglich der mengen-
mäßigen Lösung des Wohnungsversorgungsproblems,
Nein bezüglich eines urbanen Lebens – zumindest nicht
überall – in Sicherheit und der Bewahrung des stadtkultu-
rellen Erbes. „Stadtluft macht frei“ fällt einem sicherlich
nicht zur Nachtzeit in einem dreckigen, graffitiver-
schmierten, unsicheren Fußgängertunnel in dieser Stadt
ein. Wer hier immer noch bagatellisiert und künftig solche
Gesetze verhindert, wie unser Gesetz zur Strafbarkeit von
Graffitischmierereien, der braucht über Sicherheitspro-
bleme und Dreck in dieser Stadt, Herr Minister, keine
Klage zu führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vorbild Deutschland? Bezüglich der kommunalen

Selbstverwaltung lautet die Antwort Ja, bezüglich Dezen-
tralisierung und Eigenverantwortlichkeit – das hat ja Peter
Götz angesprochen – gibt es noch viele Fragezeichen.
Dieses ist bisher in Ansätzen realisiert. Wirtschaftliche
Prosperität und Arbeitsplätze in der Stadt sind nicht über-
all gegeben; das ist nicht alleine ein Ost-West-Problem.
Bezüglich der Architektur – das Thema wurde ja vom
Minister angesprochen – würde ich sagen: Na ja, es gibt
Licht und Schatten. Man schaue sich zum Beispiel den
Berliner Architekturstreit an. Daran erkennt man, dass da
auch noch einiges nachzuarbeiten ist. Ich unterstreiche






(C)



(D)



(A)



(B)


aber das bereits Gesagte: Vorzeigenswert, nicht zuletzt
hier in Berlin, sind mit Sicherheit viele Maßnahmen, die
in den letzten Jahren eine nachhaltige Stadtentwicklung
befördern, in Berlin insbesondere im Rahmen und als
Folge der 2. Internationalen Bauausstellung.

Meine Damen und Herren, der Minister hat es bereits
gesagt: Vor einer Woche wurde in Hannover die EXPO
eröffnet. Ihr Motto „Mensch, Natur und Technik“ zeigt
insbesondere den deutschen Anspruch, an einer humane-
ren Welt im 21. Jahrhundert mitzuwirken. Trotzdem – ich
wiederhole mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD – würde ich das Wort „Vorbildfunktion“ nur sehr
zurückhaltend in den Mund nehmen. Zum Beispiel das in
der Arge Bau von Bund und Ländern, Herr Minister
Klimmt, in den letzten Jahren gemeinsam entwickelte,
also nicht von Ihnen erfundene, und auch von der
CDU/CSU-Fraktion mitgetragene Programm „Soziale
Stadt“ ist richtig und wird von uns unterstützt. Es könnte
Vorbild sein, wenn man auch die finanzielle Dotierung
entsprechend diesem Anspruch bringen würde. Diese aber
wird in diesem Programm nicht gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In Ihrem Antrag, Frau Kollegin Mertens, steht:
Der soziale Wohnungsbau trägt gerade in Städten
und Ballungsräumen wesentlich zum Erhalt und zur
Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und
Siedlungsstrukturen bei.

Nie wurde so wenig Geld dafür vorgesehen wie von die-
ser Bundesregierung für die nächsten Jahre. Auch ein
Fakt!

Ein leistungsfähiger und attraktiver öffentlicher Per-
sonennahverkehr ist die Voraussetzung für vitale, le-
benswerte Städte.

Auch das steht in Ihrem Entschließungsantrag. Wie Sie
dann auf die Idee kommen, ausgerechnet mit einer so ge-
nannten Ökosteuer den öffentlichen Nahverkehr zu ver-
teuern, wird ewig Ihr Geheimnis bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.] – Zuruf von der SPD: Das wird durch Wiederholung nicht richtiger!)


Meine Damen und Herren, Stadtplanung und Stadter-
neuerung bilden zu Recht einen Schwerpunkt. Sie lassen
sich aber nicht allein mit Geld durchsetzen, sondern da
muss man in einer sozialen Marktwirtschaft auch auf an-
dere Weise nachhelfen. Warum Sie dann im Entwurf der
Mietrechtsnovelle zum Beispiel die Umlagefähigkeit der
Modernisierungskosten reduzieren wollen, obwohl ganze
Stadtteile nach Erneuerung verlangen, wird uns auch ein
Rätsel bleiben.

Die Regierung Kohl und die sie tragenden Fraktionen
haben das Bauplanungsrecht auf der Grundlage nachhal-
tiger Planung im Sinne der Habitat novelliert. Aber dabei
ist etwas übrig geblieben, was in dieser Legislaturperiode
nachgeholt werden sollte. Warum sieht diese Bundesre-
gierung – wir haben das gestern im Ausschuss disku-
tiert – keine Notwendigkeit zur Novellierung der Baunut-

zungsverordnung, wie damals angestrebt? Das Ziel ist
eine größere Nutzungsmischung – das Thema dieses Ta-
ges und nicht von Expertengremien.

Im Übrigen teile ich die Meinung des Kollegen
Goldmann: Statt eines Superministeriums mit Synergie-
effekten kommt, wie wir jetzt sehen, der Städtebau in die-
sem Superministerium ganz schön unter die Räder. Dies
war eigentlich nicht die Absicht der Zusammenlegung.

Kurzum, wir haben noch eine Menge zu tun und je bes-
ser wir unsere eigenen Schularbeiten machen, umso über-
zeugender werden wir auch im Hinblick auf andere Län-
der, insbesondere in der Dritten Welt, mitwirken können.
Wir haben dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Ich bitte um Ihre Zustimmung für unseren Antrag.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410802900
Ich gebe das Wort
dem Senator der Stadtentwicklungsbehörde der Freien
und Hansestadt Hamburg, Dr. Willfried Maier.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1410803000
Herr Präsi-
dent! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin zuständig für
Stadtentwicklung in der zweitgrößten und – jetzt folge ich
dem Aufruf des Ministers zum Lokalpatriotismus – zu-
gleich in einer der schönsten Städte der Republik.


(Angelika Mertens [SPD]: Der schönsten Stadt überhaupt!)


– Der schönsten Stadt überhaupt. Frau Mertens übertrifft
mich wieder.

Aber wir haben tatsächlich eine ganze Reihe der Pro-
bleme, die hier rundum angesprochen worden sind, ob-
wohl wir keine arme Region sind. Wir sind als Region
Hamburg mit etwa 3,5 bis 4 Millionen Menschen im Mo-
ment sogar die Boomregion der Republik, was die Bevöl-
kerungsentwicklung von 1993 bis 1998 angeht. In dieser
Zeit sind 60 000 Menschen mehr in die Großregion ge-
kommen. Die Region München hat einen Verlust von
11 000 Menschen zu verzeichnen, Stuttgart 18 000, Ber-
lin hat 21 000 plus. Für die Region Hamburg können wir
also einen richtigen Aufschwung konstatieren. Aber die-
ser Aufschwung spielt sich nicht in der Kernstadt, nicht
auf Hamburger Landesterritorium ab, sondern zu einem
ganz erheblichen Teil an den Rändern. Das ist ein Um-
stand, der von einem Stadtstaat wesentlich schärfer wahr-
genommen wird als von einer Stadt, die sozusagen in ei-
nen Landesfinanzausgleich einbezogen ist. Denn daraus
resultieren natürlich besondere Probleme.

Ich glaube aber, jenseits aller steuerlichen Fragen
steckt darin vor allen Dingen das schon häufig angeführte
sowohl soziale als auch ökologische Problem. Wenn jedes
Jahr 22 000 Menschen aus Hamburg wegziehen und etwa
15 000 aus dem Umland nach Hamburg ziehen, wir im
Saldo also einen jährlichen Verlust von 7 000 Menschen




Dr.-Ing. Dietmar Kansy

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(C)



(D)



(A)



(B)


haben, dann hat das zur Folge, dass diese 7 000 Men-
schen, die zusätzlich im Umland sind, etwa das Doppelte
an Flächenzersiedlung für Wohnung und das Dreifache
für Verkehr in Anspruch nehmen, weil Verkehrswege ge-
baut werden müssen, und gleichzeitig die Stadt pro Per-
son um 6 000 DM Steuern sozusagen entreichern. Wir ha-
ben in den Jahren von 1970 bis 1998 im Saldo 240 000
Menschen an die Umlandgemeinden, an den Speckgürtel
verloren. Wenn Sie die 6 000 DM Steuerverlust pro Kopf
auf diese Zahl hochrechnen, kommen Sie genau auf diese
etwa 1,4 Milliarden DM, 1,5 Milliarden DM, die wir per
Einwohnerwertung über die Einkommensteuer zurückzu-
bekommen versuchen. Wir gehen sogar ein Stück darüber
hinaus. Das heißt, ein Problem, über das im Rahmen des
Steuersystems reflektiert wird, wird sozusagen von uns
die ganze Zeit mit produziert.

Was bedeutet das Ganze sozial? Eben ist schon gesagt
worden, dass im Wesentlichen Leute mit besserem Ein-
kommen abwandern, diejenigen, die sich ein Eigenheim
im Umland kaufen oder bauen können, während in der
Stadt die Zuwanderer zurückbleiben, die nicht aus dem
Umland kommen, sondern aus der Dritten Welt, aus den
Ländern Südeuropas, in sehr vielen Fällen Leute, die auf
Transferzahlungen angewiesen sind und deren Mieten die
Städte zum Teil über Sozialhilfesysteme subventionieren
müssen. Das ist für uns deutlich spürbar. Gleichzeitig tra-
gen wir die Lasten für die städtischen Integrationsinstitu-
tionen des Umlandes, ob das nun die Schulen, die kultu-
rellen Einrichtungen oder die Gesundheitseinrichtungen
sind, die das Umland mit nutzt.

In Hamburg haben wir die Situation, dass von den etwa
850 000 in der Stadt Beschäftigten 300 000 pendeln, das
heißt in der Stadt die Produktion schaffen, aber den Wohl-
stand als Einkommen mit nach außerhalb nehmen und
dort auch versteuern. Ich finde diesen Zustand vollkom-
men verrückt und unvernünftig. Ich verstehe nicht,
warum in diesem Parlament nicht auch einmal darüber ge-
sprochen wird, warum alle Parteien gemeinsam seit Jahr
und Tag die Zersiedelung durch Steuerpolitik geradezu
subventionieren. Alle machen das Gleiche.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Seit Jahrzehnten gibt es die Kilometerpauschale. Die

Kilometerpauschale ist nichts anderes als ein ökonomi-
sches Instrument zur Zerstörung der Städte und Zersiede-
lung der Fläche.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich verstehe, dass sie in die Lebenspraxis sehr vieler Men-
schen eingeflossen ist und nicht einfach weggenommen
werden kann.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Was ist denn mit dem ländlichen Raum? Die Menschen bei uns brauchen das!)


– Auch den ländlichen Raum haben Sie damit zerstört. Sie
haben dazu beigetragen, dass der öffentliche Personen-
nahverkehr den ländlichen Raum nicht mehr erreichen
kann und dass die Leute in die Fläche gezogen sind. Bei-
des ist dadurch in Gang gesetzt worden.

Ich finde, das müsste als große Aufgabe angesehen
werden. Ich weiß, dass das eine sehr schwer zu bewälti-
gende Aufgabe ist. Aber wenn Sie schon alle fraktions-
übergreifend ein Bekenntnis gegen Zersiedlung ablegen,
dann unternehmen Sie doch bitte auch fraktionsübergrei-
fend kleine Schritte, um aus diesem Irrweg, die Zersied-
lung zu fördern, wieder herauszukommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will auch kurz etwas zu den Chancen sagen. Wir
erleben in Hamburg gerade eine große neue Chance, die
mit Prozessen der Globalisierung, der Modernisierung
und der Ökonomie zusammenhängt. Im Moment gehen in
die Innenstädte die boomendsten Branchen der Republik,
bei uns die Multimediabranche und unternehmensbezo-
gene Dienstleister, die in einer Stadt wie Hamburg natür-
lich internationale Rechtsberatung und internationale Un-
ternehmensberatung anbieten. Dies sind Branchen, die ei-
nen besonders hohen Gewinn machen. Sie nutzen
Grundstücke in der Innenstadt, wo sie eine komplexe Si-
tuation der gegenseitigen Verknüpfung vorfinden, und de-
ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – ich hoffe, dass wir
das ein wenig ausnützen können – sind sehr häufig Urba-
niten, Menschen also, die in der Stadt wohnen wollen und
nicht aus der Stadt fliehen wollen, da sie sehr oft aufgrund
des Arbeitsprozesses eng mit der Stadt verbunden sind.

In diesem Zusammenhang haben wir uns das große
Projekt vorgenommen, in der City ein neues Wohn- und
Arbeitsviertel zu schaffen. Dies wird wahrscheinlich die
größte Baustelle Deutschlands sein, wenn der Bau des
Potsdamer Platzes beendet sein wird. Von der Fläche her
ist sie schon jetzt größer.

Eine kurze Bemerkung zum Programm „Soziale Stadt“.
Dieses Programm begrüße ich sehr. Es wird häufig von
Aufstocken gesprochen. Dies halte ich für sehr sinnvoll.
Allein in Hamburg geben wir jährlich 55 Millionen DM
für unser Programm „Soziale Stadtteilentwicklung“ aus,
das schon längere Zeit läuft. Wir sind sehr froh darüber,
dass die Mittel für dieses Programm etwas aufgestockt
werden. Wir brauchen diese Mittel nämlich sehr dring-
lich, weil komischerweise langsam die Situation entsteht,
dass nicht mehr die alten Innenstädte, die zu sanieren wa-
ren, die Problemgebiete sind, sondern die Neubauviertel,
die nach dem Krieg entstanden sind und die jetzt das
größte Problem darstellen. Mit diesem Programm wollen
wir dort ansetzen.

Ein letztes Wort: Soeben wurde davon gesprochen,
dass Stadtluft frei macht, dass europäische Städte die Ge-
burtsstätte der Freiheit sind. Das ist wahr. Worin aber be-
stand diese Freiheit? Sie bestand nicht nur darin, dass sie
den Schwurverband der Stadtbürger herstellte, sondern
auch darin, dass sie im Unterschied zu den übrigen Städ-
ten in der Welt keine Sektorierungen kannte, keine verbo-
tene Stadt,


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Na! Na!)

allerdings mit der schlimmen Ausnahme des Gettos.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das denke ich auch!)





Senator Dr. Willfried Maier, (Hamburg)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ansonsten gab es keine verbotene Stadt, keine Sektorie-
rung der Menschen.

Im Moment müssen wir befürchten, dass sich eine so-
ziale Sektorierung entwickelt. Es muss uns ein hohes In-
teresse sein, diese soziale Sektorierung zu bekämpfen.
Dies muss eine gemeinsame Aufgabe sein; denn wir ver-
teidigen den Kern der europäischen Stadt, wenn eine In-
tegration gelingt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410803100
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Gerhard Schüßler.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1410803200
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Eine in einem na-
tionalen Parlament geführte Aussprache über eine Welt-
siedlungskonferenz muss auch einen Fokus auf die na-
tionale Siedlungspolitik und ihre vielfältigen Aspekte
werfen. Ich tue dies aus kommunalpolitischer Sicht, aus
der Sicht einer Ebene, auf der zu Recht die Kompetenzen
für die Entscheidungen liegen, die unmittelbar auf das
Lebensumfeld unserer Bürger einwirken. Auf nationaler
und internationaler Ebene sind sehr schnell wohltönende
Resolutionen und Entschließungsanträge verfasst. Aber
es gibt die Tendenz – wer kann das ernsthaft leugnen? –,
den Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung eher zu
übergehen und politische Vorgaben und Ziele zu for-
mulieren, die die Rechte der kommunalen Selbstverwal-
tung – vorsichtig ausgedrückt – zumindest tangieren
und – richtig ausgedrückt – oftmals nicht berücksichtigen.

Ich halte es deshalb für angebracht, einen nicht partei-
politisch gemeinten liberalen Appell an Sie zu richten:
Vergessen Sie im konkreten Handeln die Kommunen
nicht! Bei aller Euphorie über wunderbare siedlungspoli-
tische Leitbilder sollte die kommunale Selbstverwaltung
nicht vergessen werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Machen Sie die Rechnung bitte nicht ohne die Bürger vor
Ort. Denn wir brauchen für jedes Handeln eine Legitima-
tion, die sich am unmittelbarsten im Bereich der kommu-
nalen Selbstverwaltung äußert. Eine mit dem inzwischen
verbrauchten Wort „nachhaltig“ bezeichnete Siedlungs-
politik gegen die Interessen der Bürger kann nicht gut
sein, sondern allenfalls schädlich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die im Entschließungsantrag der Koalition geforderte
„öffentliche Verantwortung für die Zukunft der Stadt“
muss sich auf das beschränken, was strukturpolitisch ge-
boten und zulässig ist. Die Koalition darf zusätzlich eines
nicht vernachlässigen: die öffentliche Verantwortung für
den ländlichen Raum. Die F.D.P. jedenfalls will nicht,
dass die ländlichen Regionen und die Menschen, die dort
wohnen wollen oder müssen, aufgrund einer neuen Stadt-
ideologie ins Hintertreffen geraten.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Über der Frage nach der Verteilung von Fördermitteln,
Strukturhilfen und Schlüsselzuweisungen steht das Ver-
fassungsgebot, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen
Regionen der Republik herzustellen.


(Zustimmung bei der F.D.P.)

Für die F.D.P. bleibt dieses Gebot neben dem Prinzip der
kommunalen Selbstverwaltung das übergeordnete Leit-
bild.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus dem Entschließungsantrag der Koalition wird nicht
klar, ob dies auch für die Mehrheit des Hauses gilt. Ich
würde es begrüßen, wenn über die Entschließungsanträge
heute nicht gleich abgestimmt, sondern sie zunächst in die
zuständigen Ausschüsse überwiesen würden.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ja! Das ist ein guter Vorschlag!)


Ohnehin halte ich einen Teil der aufgeführten Forde-
rungen und Feststellungen für diskussions- und kritik-
würdig, was auch die Debatte hier heute Morgen bewie-
sen hat. Ich will nur einige Punkte ansprechen. Die
Städtebauförderung des Bundes ist nicht so erfolgreich,
wie Rot-Grün uns glauben machen will. Vor allem in den
alten Bundesländern ist durch die jahrelange notwendige
Verlagerung von Ausgaben auf die neuen Bundesländer
ein Stau entstanden, den die Bundesregierung auf abseh-
bare Zeit nicht abarbeiten wird. Die Bundesmittel für den
sozialen Wohnungsbau sind inzwischen so weit zusam-
mengekürzt, dass er nur noch eine wohnungspolitische
Restgröße darstellt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Nach dem Willen der Mehrheit in diesem Hause wird er
in Zukunft nicht mehr zum Erhalt und zur Schaffung so-
zial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen
beitragen.

Auch wenn Ihr Programm „Soziale Stadt“ in weiten
Teilen in Ordnung ist und man vielen Ausführungen fol-
gen kann, wird es so lange unwirksam bleiben, wie es fi-
nanziell mehr als unzulänglich ausgestattet ist. Außerdem
gibt es die Tendenz zu einer Eigenblutspende zulasten des
sozialen Wohnungsbaus.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wenn Sie das hohe Boden-

preisgefälle beklagen und die Mobilisierung von Bau-
landreserven in dicht besiedelten Räumen anmahnen,
dann habe ich allerdings den Verdacht, dass Sie auch an
dieser Stelle wieder eine Plattform für neue Steuererhö-
hungen über die Reform der Grundsteuer suchen.


(Widerspruch bei der SPD)

Wenn Sie, wie auch heute wieder, Ihre so genannte Steu-
erreform als größte Steuerreform aller Zeiten bezeichnen,
die große Entlastungen für die Gemeinden bewirke und
ihnen neuen Gestaltungsspielraum gebe, dann ist das eine




Senator Dr. Willfried Maier, (Hamburg)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Gedenkminute für den berühmten Baron von Münchhau-
sen wert.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bekenntnisse zu einem attraktiven ÖPNV und ei-
ner besseren Zusammenarbeit mit der Wirtschaft für öko-
logisches und flächendeckendes Bauen sind inhaltsleer,
weil der Bund nicht zuständig ist und Sie außerdem Defi-
zite aufweisen.

Mit Ihrer Politik ist auch die im kommunalen Bereich
notwendige Privatisierung, zumindest was den Bund an-
betrifft, ins Stocken geraten. Die Energieeinsparverord-
nung ist noch nicht auf dem richtigen Weg. Auch die von
Ihnen geforderte Reform des sozialen Wohnungsbaus ist
noch nicht erfolgt.

Meine Damen und Herren, die F.D.P. lehnt deshalb den
Entschließungsantrag der SPD ab. Der Entschließungsan-
trag der Union trägt dagegen nicht nur weniger dick auf,
sondern trägt auch unserem Appell Rechnung, die kom-
munale Selbstverwaltung zu stärken und zu stützen.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410803300
Ich gebe der Kollegin
Rita Streb-Hesse für die SPD-Fraktion das Wort.


Rita Streb-Hesse (SPD):
Rede ID: ID1410803400
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! „Die Welt des 21. Jahrhunderts
wird eine städtische sein“ – das sind die Einladungsworte
von Minister Klimmt zur Weltkonferenz Urban 21 hier in
Berlin. Ich denke – das haben viele von Ihnen dargestellt –,
dies ist eine Stadt, in der sich Zukunftschancen und
Zukunftsrisiken städtischer Entwicklung beispielhaft er-
fahren lassen.

Die fortschreitende Urbanisierung sollte Anlass für
Optimismus sein. Aber wir hören auch hier, dass diese At-
traktivität der Städte als gefährdend gesehen werden
kann. Kollege Goldmann, es war hochinteressant, zu se-
hen, dass gerade wir Parlamentarier, die wir Berlin erle-
ben, uns an den attraktiven Stadträumen orientieren. Aber
auch in dieser Stadt – nicht nur in dieser Stadt, beispiels-
weise auch in Hamburg und in vielen mittleren Städten –
haben wir Stadträume, die nicht attraktiv sind, die sozia-
len Brennpunkte. Das sind – das ist richtig – die alten
Arbeiterviertel, die in die Jahre gekommenen Wohnsied-
lungen, die Hochhausquartiere, die Trabantenstädte West
und die Plattenbauten Ost. Senator Maier hat ausführlich
die Vielfältigkeit der Ursachen und der Auswirkungen
dargestellt.

Eine nachhaltige Stadtentwicklung mit dem Ziel, die
soziale Integrationsfähigkeit der Städte zu erhalten, wird
insbesondere davon abhängen, wie es uns gelingt, in die-
sen sozialen Brennpunkten mit überforderten Nachbar-
schaften neue Nachbarschaften zu erreichen. Wir müssen
die Lebens- und Wohnqualität, das soziale Miteinander
und die Infrastruktur in diesen Stadtteilen verbessern. Da-

rum bemühen sich viele Kommunen und viele Bundes-
länder. Kollege Oswald, auch Bayern ist mit 26 Projekten
dabei.

Die Bundesregierung – das ist der entscheidende Punkt –
hat dieses Engagement mit dem Programm und der Ge-
meinschaftsaufgabe „Soziale Stadt“ von Bund, Ländern
und Gemeinden aufgegriffen. Jährlich werden 100 Milli-
onen DM – das ist von Ihnen kritisiert worden – bereitge-
stellt. Ich denke, 300Millionen DM insgesamt von Bund,
Ländern und Gemeinden sind schon mehr als null. Das
kann auch noch ausgebaut werden und es sollte Unter-
stützung von uns allen bekommen.


(Beifall bei der SPD)

Entscheidend ist aber, dass von diesen 300 Millionen DM
mittlerweile 162 Projekte profitieren. Das zeigt, wie groß
das Interesse ist, aber auch, wie dringend der Handlungs-
bedarf ist.

In mehr als einer Hinsicht ist das Programm „Soziale
Stadt“ neu; es geht weit über die Zielsetzungen der klas-
sischen Städtebauförderung hinaus. Es geht um Bünde-
lung und um Beteiligung. Soziale Stadt bedeutet gemein-
same Anstrengung. Interessant ist, dass das Programm in
seinen Leitlinien Strukturen der Zusammenarbeit vorgibt
und auf Synergieeffekte zielt. Es verlangt die Kooperation
zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Es verlangt ein
soziales Netzwerk der Akteure in den Stadtteilen, der Bür-
ger, der Wohnungsunternehmen, der sozialen Verbände,
der Wirtschaft und vieler anderer. Es verlangt ressort-
übergreifendes Handeln, das heißt Bündelung von Maß-
nahmen und Ressourcen aus den Bereichen Wohnen, Ver-
kehr, Arbeit, Soziales, Wirtschaft und Umwelt.

Auf Bundesebene liegt dafür Vorbildliches vor. Mitt-
lerweile haben viele Ministerien ergänzende Programme
aufgelegt. Ebenso sind nun unsere Kommunen gefordert,
ein integriertes Handlungskonzept zu erstellen. Geschätz-
te Kollegin von der PDS, das geht nur ressortübergrei-
fend. Jetzt haben die Kommunen auch die Möglichkeit,
endlich einmal aus ihrem Verwaltungsegoismus heraus-
zukommen.

Das Programm „Soziale Stadt“ ist allerdings weit mehr
als ein Investitionsprogramm. Der notwendige soziale Er-
neuerungsprozess braucht die Ergänzung durch nicht in-
vestive Maßnahmen.


(Iris Gleicke [SPD]: Sehr richtig!)

Es geht nicht allein um die bauliche Veränderung von
Stadtteilen, die Modernisierung von Wohnungen; es geht
vielmehr um ein neues soziales Miteinander der Stadtteil-
bewohner.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das stellt die Politik vor neue Herausforderungen. Er-
folg und Misserfolg dieses gemeinsamen Programms
hängen entscheidend von der Akzeptanz und der Aktivie-
rung der Bürgerinnen und Bürger ab. Nur wenn es uns ge-
lingt, ein neues nachbarschaftliches Bewusstsein in den
Städten zu schaffen, und nur dann, wenn sich die Bürge-




Gerhard Schüßler
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(D)



(A)



(B)


rinnen und Bürger für ihren Stadtteil engagieren, werden
unsere Maßnahmen auch dauerhaft greifen.

Die Erneuerungsprozesse müssen aus dem Stadtteil
kommen und die Entscheidungen müssen sich anders als
bisher vollziehen. Wir werden nach Strukturen suchen
müssen, die eine dauerhafte Beteiligung der Bürgerinnen
und Bürger im Stadtteil sichern. Das Quartiersmanage-
ment hilft bei der örtlichen Steuerung. Genauso notwen-
dig werden Regionalkonferenzen sowie regionale Unter-
stützungssysteme sein.

Die Ziele des Programms sind vielfältig und unter-
schiedlich, ebenso die Maßnahmen für den Stadtteil. Eine
gute Ist-Analyse der speziellen Probleme vor Ort und eine
ständige Evaluation sind Voraussetzungen für eine zielge-
richtete Arbeit.

Ich möchte am Beispiel der nordhessischen Stadt
Kassel die Vielfältigkeit bei der Umsetzung darstellen.
Die Kasseler Nordstadt ist ein Stadtteil am Innenstadt-
rand. In der Nähe ist die Bahn. Sie hat ein negatives
Image. Sie hat große Modernisierungs- und Instandhal-
tungsmängel. Die Wohnungen sind überbelegt, die Ver-
kehrsbelastung ist hoch und ebenso hoch die Arbeitslo-
sigkeit.

Mit lokalen Akteuren wurden jetzt schon einige Dinge
umgesetzt: bezüglich der Modernisierung des Wohn-
raums, der Baulückenerschließung, der Begrünung, der
Errichtung eines Kultur- sowie eines Mieter- und Be-
wohnerzentrums. Hilfen zur Arbeit und das Angebot lo-
kaler Qualifizierungsmaßnahmen gehören gleichfalls in
das Paket der Anstrengungen.

Zwei Dinge wurden erreicht. Die finanziellen Mittel
aus den unterschiedlichen Ressorts wurden gebündelt und
die fachübergreifende Zusammenarbeit der Akteure vor
Ort vorangetrieben. Ein Stadtteilmanager arbeitet in ei-
nem Stadtteilladen. Die Bewohnerinnen und Bewohner
engagieren sich in Stadtteilkonferenzen und Informati-
onsveranstaltungen.

Jetzt kommen wir zu den Kosten. All das ist erreicht
worden mit einem Zuschuss von 300 000 DM aus dem
Programm „Soziale Stadt“ – damit man nur einmal
weiß, wie wenig Mittel man manchmal einsetzen muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir als hessischer Abgeordneter, dass ich
auch auf die anderen Projekte in den Städten Gießen,
Frankfurt, Dietzenbach und Darmstadt hinweise. Sie ha-
ben ihren Schwerpunkt in der lokalen Beschäftigungsför-
derung gesehen. Sie wurden im Rahmen der EU-Pilotak-
tion „Drittes System und Beschäftigung“ unterstützt und
ausgewertet.

Auch diese Bilanz kann sich sehen lassen: Neben der
Gewinnung zahlreicher Akteure konnten insgesamt 67
neue Stellen im Stadtteil geschaffen werden. Ich rede
nicht von Sozialarbeiterstellen, sondern von Ausbil-
dungsplätzen der örtlichen Wirtschaft und Ähnlichem. Ich
denke, auch hier ist das Ziel, Beschäftigungsimpulse in
den Stadtteilen zu setzen, erreicht worden.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und
mit ihr die Koalitionsfraktionen haben einen Prozess in
Gang gesetzt, der eine neue, eine integrative und nach-
haltige Stadtentwicklungspolitik ermöglicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unsere gemeinsame Aufgabe wird es jetzt sein, den
Förderrahmen zu verstetigen, die Moderation bei der Um-
setzung zu übernehmen und Akteure zu gewinnen. Der
ressortübergreifende, innovative Handlungsansatz des
Programms „Soziale Stadt“ ist aus meiner Sicht zukunfts-
fähig und zukunftsgestaltend. Dazu brauchen wir ein
partnerschaftliches Miteinander, eine parteiübergreifende
Initiative. Ich bitte Sie um Unterstützung vor Ort und hier.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man sieht jetzt schon Erfolge. Wenn man vom Pro-
gramm Soziale Stadt spricht, sieht man ja bei den einzel-
nen Abgeordneten – egal welcher Fraktion sie angehören –
zufriedene Gesichter. Auf Erfolge kann und sollte man
stolz sein. Es ist allerdings kein Ruhekissen; denn das
Programm „Soziale Stadt“ wäre vollkommen verfehlt
verstanden, wenn wir es nur als Feuerwehrprogramm für
Brennpunkte sehen würden.

Der Einsatz ist nicht beendet, wenn der erste Brand
gelöscht ist. Wir brauchen langfristige, präventive Pro-
zesse. Wir müssen die Stadt als positiv besetzten Raum
sozialen Miteinanders, kultureller und wirtschaftlicher
Kraft neu begreifen. Das ist der zentrale Ansatz der Welt-
konferenz hier in Berlin und das ist das wichtigste Ziel des
Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen,
ich hoffe, ich konnte Sie ein bisschen neugierig machen
auf den Prozess sozialer Stadterneuerung, so neugierig,
wie es die Aktiven vor Ort schon längst sind. Es liegt nun
an uns allen, in unseren Wahlkreisen Projekte anzustoßen
und die in Gang befindlichen Prozesse unterstützend zu
begleiten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410803500
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Christian Ruck.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1410803600
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verständlicher-
weise nimmt in dieser Debatte um Urban 21 die Problem-
stellung in unserer eigenen Zivilisation und in unseren
Städten den breitesten Raum ein. Mich als Abgeordneten
einer Großstadt würde es natürlich auch reizen, zum Bei-
spiel über die nicht mehr stimmige Arbeitsteilung zwi-
schen Großstadt und Umland, über den teilweise grotes-
ken Wettbewerb von Umlandgemeinden um die gleiche




Rita Streb-Hesse

10111


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(B)


Infrastruktur, über das Problem der Zersiedelung, das
gleichzeitig auch den Verlust von Orientierung und Hei-
mat bedeutet, zu sprechen.

Aber ich möchte hier als Entwicklungspolitiker spre-
chen und ich glaube, es wäre fahrlässig und verantwor-
tungslos, wenn wir in dieser Debatte die teilweise schon
apokalyptischen Zustände in vielen der Megastädte in
den Entwicklungsländern als etwas abtun würden, was
weit weg ist und keinen Einfluss auf unsere Zivilisation
haben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Städte im Süden wachsen so stark und so schnell
wie nie in der Geschichte. 1990 lebten dort noch 28 Pro-
zent der Bevölkerung, jetzt sind es bereits 35 Prozent der
Bevölkerung und im Jahre 2025 sollen über 50 Prozent
der Bevölkerung in Megastädten leben. Allein die Stadt
Lagos zum Beispiel wächst jährlich um 300 000 Einwoh-
ner.

Auch hier ist natürlich die Urbanisierung eine Chance:
80 Prozent des Wirtschaftswachstums in den Entwick-
lungsländern spielt sich in den Städten ab. Hier wächst
auch das politische Selbstbewusstsein heran. Auf der an-
deren Seite aber sind diese gewaltigen Agglomerationen
längst außer Kontrolle geraten; keine Ordnungsmacht,
kein Bebauungsplan und keine Stadtplanung haben auch
nur den Hauch einer Chance, diese urbanen Bevölke-
rungsexplosionen und vor allem ihre Schattenseiten – die
gigantischen Umweltprobleme, namentlich die groß-
flächige Luftverschmutzung, die katastrophalen hygieni-
schen und sanitären Zustände bis hin zur Süßwasser- und
Meeresverschmutzung – in den Griff zu bekommen. Bei
der wachsenden städtischen Armut und Wohnungsnot
geht es wirklich für ein Drittel der städtischen Bevölke-
rung buchstäblich ums Überleben.

Dazu gehören schließlich die wachsende Kriminalität,
die die Staatsgewalt auch demokratischer Regierungen
unterhöhlt, und die Überlastung oder gar der Zusammen-
bruch der städtischen Infrastrukturen vom Verkehr bis hin
zum Bildungswesen.

Deswegen sind diese Megastädte nicht nur Chancen,
sondern auch tickende Zeitbomben, und zwar nicht nur
für die Länder „da unten“, sondern auch für die interna-
tionale Staatengemeinschaft;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn in unserer globalisierten Welt haben wir anschaulich
erlebt, dass die Probleme Jakartas oder Mexiko-Citys,
Lagos‘ oder Bangkoks ganz schnell auch vor unserer
Haustür stehen, und zwar in jeder Hinsicht, und dass
Megastädte, wenn sie ihre eigenen Länder destabilisieren,
natürlich auch uns destabilisieren können.

Deswegen ist es wichtig, dass auch wir und Urban 21
im Juli in Berlin diese Probleme zum Schwerpunkt
machen. Ich bin daher dankbar, dass die Entwicklungspo-

litiker hier im Kreise der Verkehrs- und Stadtplanungspo-
litiker zu Wort kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das Gegensteuern gegen diesen Trend ist schwierig,
aber nicht hoffnungslos. Das hat auch unsere eigene Ent-
wicklungshilfe in den letzten Jahren gezeigt. Vier Akti-
onsfelder sind dabei entscheidend: erstens die Konzeption
und der effiziente Einsatz von bezahlbaren Umwelttech-
nologien auf allen Gebieten. Die Technologien sind vor-
handen und erprobt, so zum Beispiel in Bogota, in Tunis
und anderswo. Wichtig ist aber, dass man darauf achtet,
dass nicht immer das Teuerste das Beste ist. Wichtig ist
auch, dass man nicht alles zum Nulltarif abgeben kann;
das hat sich oft als Bumerang für die Betroffenen erwie-
sen.

Zweitens. Wir brauchen auch und vor allem hier eine
größere Autonomie der Kommunen und eine Reform des
öffentlichen Sektors. Trotz aller guten Ansätze sind die
Entwicklungsländer häufig noch zu zentralistisch aufge-
baut und kennen keine kommunale Selbstverwaltung.
Zur notwendigen Förderung der Leistungsfähigkeit der
Kommunen gehören aber geradezu eine bestimmte Auto-
nomie der Finanzen und die Einführung eines kommuna-
len Finanzausgleichs. Außerdem brauchen wir eine stär-
kere Leistungsfähigkeit der staatlichen und städtischen
Bediensteten. Das bedeutet in vielen Fällen zwar weniger
Personal, dafür aber bessere Ausbildung, bessere Bezah-
lung und bessere Motivation.

Drittens. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft und die
Stärkung der Selbsthilfekräfte ist nötig. Entscheidend ist,
dass gerade in den Elendsvierteln die lokale Bevölkerung
soweit wie möglich in die Planungsprozesse einbezogen
wird. Nur dies schafft auch bei den Armen Identifikation,
schafft Selbstbewusstsein und Motivation. Es macht ei-
nem auch die Armen zu Partnern, die man braucht, um mit
knappen Finanzmitteln wirtschaftspolitisch handeln so-
wie Gewerbebetriebe und Mindeststandards an Infra-
struktur selbst in den Slums errichten zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Viertens: Stärkung der ländlichen Räume. Land-
flucht hat ihre Ursache nicht zuletzt in der fehlenden Per-
spektive für die Menschen in den ländlichen Regionen.
Deswegen sind hier nach wie vor ländliche Entwick-
lungsprogramme, die Landreform und die Bekämpfung
der Umweltzerstörung auf dem Land das Gebot der
Stunde.

In unserem eigenen Interesse müssen wir und muss die
internationale Entwicklungszusammenarbeit gerade diese
Felder ausbauen. Davon profitieren wir alle, zum Beispiel
auch die deutsche Wirtschaft, die im Gefolge der Ent-
wicklungszusammenarbeit eine ganze Fülle von Aufträ-
gen im Bereich der Umwelttechnologie bis hin zu Con-
sulting und Managementberatung gerade in den Mega-
städten an Land ziehen konnte.




Dr. Christian Ruck
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(C)



(D)



(A)



(B)


Erfreulich sind auch die offiziellen Partnerschaften
vieler deutscher Städte auf diesem Gebiet, zum Beispiel
von Köln oder Stuttgart mit Tunis bzw. Ankara. Das ist
eine lebendige und lebensnotwendige Interpretation der
Agenda 21, die eine Grundstruktur der Rio-Konferenz ist,
an der auch Vertreter der letzten Regierung, zum Beispiel
Herr Repnik als Vater dieser Agenda,


(Zuruf von der CDU/CSU: „Vater“ ist der richtige Ausdruck!)


maßgeblich mitgewirkt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei allen Anstrengungen gilt es jedoch festzuhalten:
Der Schlüssel zu einer humaneren und umweltfreundli-
cheren Entwicklung auch der Megastädte in den Ent-
wicklungsländern liegt nicht bei der deutschen Entwick-
lungshilfe, sondern vor allem bei den verantwortlichen
Eliten in diesen Ländern selbst. Auch hier gibt es An-
knüpfungspunkte; dabei geht es natürlich auch um Ein-
flussnahme, um Politdialog auch auf der Urban 21. Wenn
allerdings Rot-Grün mit den weit überproportionalen
Kürzungen das Entwicklungsbudget zum Steinbruch
macht, ist der Rückenwind für einen ernsthaften Politdia-
log mit den Machthabern des Südens nur noch ein Lüft-
chen.

Zum Schluss deswegen ein Vorschlag an Sie, Herr
Bundesverkehrsminister, und Ihre Delegation: Erklären
Sie auf der Urban 21, dass der Kanzler seinen Wortbruch
korrigiert, dass er sein Versprechen, die Entwicklungs-
hilfemittel zu erhöhen, wahr macht. Dann werden Sie
von den Vertretern des Südens wieder ernst genommen
und die Konferenz, die von der vorherigen Regierung –
Eduard Oswald wurde schon genannt – initiiert wurde,
wird durch Sie auch in dieser Hinsicht ein Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410803700
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Hans-Günter Bruckmann.


Hans-Günter Bruckmann (SPD):
Rede ID: ID1410803800
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das 20. Jahr-
hundert war ein Jahrhundert, in dem sich die Mobilität
explosionsartig entwickelt hat. Erst Schiene, dann Was-
ser, dann das Automobil und der Luftverkehr haben den
Lebensraum, den räumlichen Horizont und die Bewe-
gungsfreiheit für Millionen von Menschen enorm erwei-
tert. Die Menschen im städtischen Raum hatten mit den
negativen Folgen der überproportional gestiegenen Mobi-
litätsbedürfnisse und den daraus resultierenden Belastun-
gen fertig zu werden. Die Probleme, die durch die wach-
sende Mobilität in den Ballungsräumen aufgetreten sind
und gelöst werden müssen, sind weltweit für Regierun-
gen, Städte und Parlamentarier eine große Herausforde-
rung.

Bereits heute leben 2,3 Milliarden Menschen in städ-
tischen Ballungsgebieten. Nach Schätzungen der UNO
wird sich diese Zahl bis zum Jahre 2025 verdoppeln, so-

dass dann mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in
Städten leben werden.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, es hat zu lange gedauert, bis das Bewusstsein für die
Lösung der entstandenen Probleme geschaffen wurde. In-
ternational sind wir seit 1992 in Rio und 1996 in Istanbul
mit Habitat II den richtigen Weg gegangen. Auf der Welt-
konferenz Urban 21 hier in Berlin ist auch die nachhaltige
Mobilität auf die Agenda gesetzt worden. Das ist erstma-
lig der Fall.

In der weltweiten Vorbereitung zur Urban 21 haben
vier Regionalkonferenzen – einmal in Singapur, dann in
Südafrika, in Brasilien und auch in Deutschland – stattge-
funden. Die Lösung der Probleme innerstädtischer Mobi-
lität war ein Schwerpunkt der Regionalkonferenz im
April 1999 in Singapur. Um dem steigenden Wachs-
tumsdruck der konkurrierenden Verkehrsträger auf die
Flächennutzung im städtischen Raum zu begegnen, hat
Singapur ein Mobilitätsmanagement eingeführt. Die In-
strumente des Mobilitätsmanagements wie Zulassungsbe-
schränkungen für Pkws, ein elektronisches Verkehrs-
preissystem zur Verkehrslenkung, der Vorrang für den öf-
fentlichen Personennahverkehr und ein systematischer
Ausbau des schienengebundenen öffentlichen Personen-
nahverkehrs haben dazu geführt, dass im Modal-Split dort
ein Anteil von 63 Prozent existiert und man das Ziel hat,
75 Prozent zu erreichen.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, andere Länder haben andere Rahmenbedingungen
und brauchen auch andere Lösungen. In Europa und in
Deutschland sind die Städte gebaut, in denen wir leben.
Mehr als 90 Prozent unserer Siedlungsgebiete sind nicht
älter als 150 Jahre, und wir werden auch zukünftig im
Trend in diesen Städten leben wollen.

Wenn man einmal die aktuellen Trends sieht, dass man
aus Ballungszentren heraus an die Ränder geht, dann wird
man eines erkennen können: Wir haben dadurch eine
große Veränderung in der Wirkung des öffentlichen Ver-
kehrs.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Kernfrage für uns ist eindeutig: Wie schaffen wir es,
bei steigenden Mobilitätsansprüchen die Balance zwi-
schen Mobilität und Ökologie im Stadtraum zu erreichen?

Ich bin mir sicher, dass wir alle ein Verkehrssystem ha-
ben wollen, das diese Bedürfnisse der Menschen flächen-
deckend und umweltverträglich realisieren soll. Im Ein-
satz der Instrumente und bei der Förderung der Ver-
kehrsträger werden dann die Unterschiede deutlich.

Von der Regierung Kohl wissen wir, dass sie den
Schwerpunkt auf die Förderung des Straßenverkehrs ge-
setzt hat. Sie tat dies vermutlich in guter Absicht und in
der Hoffnung, dass die Straße allein in der Lage sei, den
anfallenden Verkehr aufzunehmen. Heute wissen wir,
dass diese Hoffnung getrogen hat.

Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat
in einem Bericht zum Forschungsfeld „Städtebau und
Verkehr“ Empfehlungen für eine stadtverträgliche Mobi-
lität gegeben. Unter anderem werden die Reduzierung des




Dr. Christian Ruck

10113


(C)



(D)



(A)



(B)


Flächenbedarfs für den motorisierten Individualverkehr,
der Ausbau des Radverkehrs und der nachhaltige Ausbau
des öffentlichen Personennahverkehrs zur Anbindung der
Wohngebiete empfohlen.

Diese Empfehlungen stützen die Politik der Regie-
rungskoalition. Das Eckpunktepapier der Bundesregie-
rung für einen leistungsfähigen und attraktiven öffentli-
chen Personennahverkehr wird diesen Empfehlungen ge-
recht,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn Sie wissen: Täglich nutzen mehr als 26 Millionen
Menschen in Deutschland den öffentlichen Personennah-
verkehr. Mehr als 250 000 Beschäftigte in über 6 000 Ver-
kehrsunternehmen erfüllen diese Aufgabe der öffentli-
chen Daseinsvorsorge.

Durch die Vernetzung von öffentlichen Verkehrssyste-
men mit dem Individualverkehr durch Telematik können
wir das Ziel, zu einer Entlastung und zu einer Verbesse-
rung des öffentlichen Verkehrs auch im Raum zu kom-
men, erreichen.


(Hannelore Rönsch Und jetzt führen Sie die Ökosteuer ein!)


Ein Ziel dabei ist die Steuerung der Verkehrsmengen, ein
anderes Ziel ist die Verkehrsvermeidung sowie die Redu-
zierung der Umweltbelastungen, die auf den städtischen
Raum wirken.

Daraus wird klar, dass wir auf Dauer einen zukunfts-
trächtigen öffentlichen Personennahverkehr brauchen.
Die Regierungskoalitionen haben deshalb eine Zielver-
einbarung getroffen, um den Rahmen für eine Qualitäts-
offensive, eine stärkere Kundenorientierung des öffentli-
chen Personennahverkehrs, die Stärkung des Wettbe-
werbs und der Wirtschaftlichkeit sowie die Schaffung
gesicherter, dauerhafter Finanzierungsgrundlagen abzu-
stecken.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden für Transparenz und Wettbewerb im

ÖPNV mit einer sozial ausgewogenen Wettbewerbsord-
nung sorgen und die Unternehmen in einer ausreichenden
Übergangszeit an die Gegebenheiten anpassen. Wir den-
ken, das wird acht Jahre dauern. Auf diese Weise wird der
ÖPNV auch im europäischen Rahmen wettbewerbsfähig
sein können. Wir werden auch dafür sorgen, dass der
Grundsatz der Subsidiarität voll zur Geltung kommt und
wir Chancengleichheit auf dem europäischen Verkehrs-
markt haben werden.

Bei Ausschreibungen sind Qualitätsstandards zu erfül-
len, die sowohl hinsichtlich der Technik als auch des Leis-
tungsangebotes sowie hinsichtlich der sozial- und arbeits-
rechtlichen Rahmenbedingungen den Anforderungen ge-
recht werden. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg,
wenn wir dem Anspruch sozialer Symmetrie gerecht wer-
den. Wir haben in Deutschland einen guten Standard.
Trotzdem müssen wir die Attraktivität noch steigern.
Dazu gehören die Modernisierung der Fahrzeugflotten

und Beschleunigungsmaßnahmen für den städtischen
Raum.

Der ÖPNV braucht öffentliche Transferleistungen, die
diesem Anspruch gerecht werden. Heute sind es 30 Milli-
arden DM, die in den öffentlichen Verkehr fließen, wobei
sich der Anteil des Bundes auf 15 Milliarden DM beläuft.
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft ihren Anteil
leisten. Das hat Herr Minister Klimmt heute Morgen in
der Regierungserklärung ausgeführt. Gleiches erwarten
wir aber auch von den Bundesländern und den Kommu-
nen. Nur auf diese Weise können wir dem Anspruch ge-
recht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jede Innovation im öffentlichen Personennahverkehr

muss ein Zugewinn für die Weiterentwicklung der Mobi-
lität im städtischen Raum sein und auf diese Weise
Beiträge zur Reduzierung von Umweltbelastungen leis-
ten. Bei der Entwicklung von Verkehrssicherheitskon-
zepten sind die jeweiligen Besonderheiten der Städte und
Ballungsräume zu berücksichtigen. Dies gilt speziell im
Hinblick auf ältere Menschen, Kinder und Radfahrer.

Zum Abschluss will ich Ihnen sagen, dass wir von Sei-
ten der Regierungskoalition die Erklärung der Bundesre-
gierung zur Weltkonferenz Urban 21 unterstützen. Wir
fordern Sie mit unserem Entschließungsantrag auf, Glei-
ches zu tun. Die umweltverträglichen Verkehrsträger und
die Menschen, die in diesen Räumen wohnen, werden es
Ihnen danken.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410803900
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Klaus Lippold.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1410804000
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Heraus-
forderung, vor der wir weltweit stehen, ist: die Stadt als
lebenswerten Lebensraum für die Menschen von heute
zu schaffen und für die Menschen von morgen zu erhalten
und auszubauen. Ich meine, dass wir uns dieser Problema-
tik über Partei- und Ländergrenzen hinweg annehmen
sollten. Es handelt sich um ein Problem, an dessen Lösung
wir alle ein gemeinschaftliches und großes Interesse ha-
ben; ein Problem, das sich ökonomisch, ökologisch und
sozial stellt.

Die Tatsache, dass wir in Deutschland jetzt zum Auf-
takt des 21. Jahrhunderts Gastgeberland von Urban 21
sind, ist eine hervorragende Chance, deutlich zu machen,
dass wir dieses Problem auch in unserem eigenen Land
ernst nehmen. Sie eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit,
mit einer Fülle von konkreten Initiativen in diese Konfe-
renz hineinzugehen. Ich kenne das Konferenzprogramm
nicht in der Form, wie Sie es gerade dargestellt haben. Ich
bin überrascht, dass die Erklärung schon vorliegt. Wir ha-
ben sie noch nicht und wären daran interessiert, sie zu er-
halten, um zu wissen, was wir unterstützen können. Falls




Hans-Günter Bruckmann
10114


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie es haben, wäre es sehr gut, wenn wir die entsprechen-
den Unterlagen auch bekommen würden.

Ich meine, wenn darin die Rede davon ist, dass wir
konkrete und deutliche Impulse zur Lösung der weltwei-
ten Daueraufgabe einer nachhaltigen Städtebau- und
Siedlungspolitik geben, dann ist dies ein guter Ansatz.
Ich appelliere deshalb an Sie, Herr Minister, dass Sie in
das Papier diese konkreten Impulse hineinschreiben, dass
Sie konkret sagen, wohin Sie wollen, und dass Sie nicht
im Unverbindlichen und Allgemeinen stecken bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bislang haben wir von dieser Regierung keine neuen

Initiativen, keine neuen Impulse bekommen. Mit allem,
was Sie tun, leben Sie von den Initiativen der Vorgänger-
regierung. Auch dass die Urban 21 in Berlin ist, ist ein
Verdienst der Vorgängerregierung. Deshalb habe ich das
Bedenken, dass diese konkreten Impulse, diese innovati-
ven und kreativen Anregungen unter Umständen von Ih-
nen nicht kommen.


(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Fehlanzeige!)


Lassen Sie mich einen anderen Aspekt festhalten: Bei
aller Kritik, die wir haben, bei allen Problemen, die wir
haben, sollte hier und heute nicht verschwiegen werden,
dass wir in Deutschland lebenswerte und liebenswerte
Städte haben, dass es nicht nur Probleme und soziale
Randerscheinungen gibt, sondern dass Menschen, die zu
uns kommen, sagen, die deutsche Städtelandschaft ist
vorbildhaft und erstrebenswert. In vielen Fällen kommen
wir dem Leitbild einer kompakten Stadt nahe, wie andere
sie erstreben. Dass wir das nicht erreicht haben, will ich
nicht leugnen, aber wir sollten nicht alles negativ dar-
stellen. Wir haben eine Städtelandschaft, die positiv ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wenn ich die Diskussion

überschaue, möchte ich den Akzent in einem Punkt etwas
anders setzen. Ich meine, wir können nicht nur auf die
Metropolfunktion, auf die Kernstadt schauen, sondern wir
müssen die Regionen sehen. Wir leben in einer Welt der
Regionen, nicht nur in einer Welt der Metropolen oder der
Kernstädte.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Heute fiel das Wort vom Speckgürtel. Was wir brau-

chen, sind Regionen, die sich im globalen Wettbewerb
bewegen und bewähren können. Wir brauchen keine
zentrale Entscheidung der Kernstadt für die liebenswerten
Städte im Umland. Frau Streb-Hesse, ich habe immer
gesagt, ich wehre mich dagegen, dass Neu-Isenburg
Frankfurt 35 wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rita Streb-Hesse [SPD]: Haben wir auch nie gewollt!)


– Wir kennen die Eingemeindungsvorstellungen, die
flächendeckend vorhanden sind. Ich habe immer gesagt,
wir brauchen die Kreativität eines polyzentrischen Bal-
lungsraumes, in dem die Menschen leben, in dem wir
Grün kombinieren mit städtischer Verdichtung in einer
Art und Weise, dass sie von den Menschen, die zu uns

kommen, Frau Streb-Hesse, durchaus positiv gewürdigt
wird. Ich kenne keinen Ballungsraum, der einen so hohen
Waldanteil hat wie der unsere. Das heißt, es ist nicht nur
die Kernstadt, sondern es ist ein gut vernetzter Ballungs-
raum, den ich betrachten muss, der im Wettbewerb der
Regionen europäisch bestehen kann, wo wir zentrale
Funktionen gemeinschaftlich und partnerschaftlich, aber
nicht zentralistisch regeln. Das ist ein Aspekt, den wir in
die Diskussion hineinnehmen müssen.

Ich will deutlich machen, dass wir in dieser Republik
natürlich auch Beispiel geben müssen. Ob wir das mit der
Politik der Bundesregierung, was Nachhaltigkeit angeht,
was Städtebaupolitik angeht, tun können, ist etwas, was
ich infrage stelle. Mir fehlen Ihre Initiativen im Energie-
und Klimaschutz.Auch hier ist es so, dass wir zum Bei-
spiel im Wohnbaubestand Dinge für unsere Städte nach-
haltig gestalten müssen. Die Energieeinsparverordnung
wurde von uns vorbereitet und ist von Ihnen immer noch
nicht abgeschlossen worden. Hier fehlen Kreativität und
Impulse. Es fehlt die Zügigkeit der Umsetzung.

Im Infrastruktur- und Verkehrsmanagement haben
wir eine vergleichbare Situation. Das Anti-Stau-Pro-
gramm, das Sie aufgelegt haben, ist doch ein Etiketten-
schwindel. Hier werden Mittel gekürzt und nicht im not-
wendigen Umfang bereitgestellt. Das ist ein Punkt, den
wir kritisch aufgreifen müssen, wenn wir sagen, dass wir
umweltgerechte und umweltadäquate Mobilität haben
wollen. Stauvermeidung ist umweltgerecht. Deshalb
muss hier mehr getan werden. Es darf kein Etiketten-
schwindel betrieben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie in diesem Zusammenhang noch einmal rekapi-
tulieren, dass Sie mit der Ökosteuer gerade den öffentli-
chen Verkehr treffen, dann ist das kontraproduktiv zu
dem, was Sie hier sagen. Wir müssen vernünftige Struk-
turen in den Ballungsräumen schaffen, indem wir den
schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr
ausbauen, weil er dort ein leistungsfähiges Verkehrsmittel
ist. Es wäre also falsch, ihn steuerlich zu belasten. Des-
halb werden wir Sie aus der Diskussion über die Öko-
steuer nicht entlassen. Ich begrüße zwar das Programm
„Soziale Stadt“, mit dem vieles umgesetzt werden kann.
Aber wenn wir die Attraktivität der Ballungsräume ge-
meinsam erhöhen wollen, dann sollten wir nicht 100 Mil-
lionen DM, mit denen dieses Programm finanziert wird,
beim sozialen Wohnungsbau einsparen und so ein reines
Nullsummenspiel betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicht nur – das betrifft den gleichen Punkt – die Stau-

vermeidung ist wichtig. Wenn wir liebens- und lebens-
werte Städte schaffen wollen, dann müssen wir auch für
Umgehungsstraßen sorgen. Ich freue mich über die neuen
Vorstellungen und Einsichten der Grünen bezüglich Mo-
bilität und insbesondere Automobilität. Wir werden un-
sere Innenstädte auch automobil erreichbar lassen müs-
sen – ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt –, wenn
sie so attraktiv sein sollen, wie wir es uns gemeinsam
wünschen.




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)


10115


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich könnte mir auch vorstellen, Frau Streb-Hesse, dass
wir gemeinschaftliche Initiativen ergreifen, um zum Bei-
spiel Factory Outlet Center im Außenbereich zu ver-
hindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sage ganz deutlich: Ich bin durch und durch Markt-
wirtschaftler. Aber die Entleerung der Innenstädte durch
Factory Outlet Center auf der grünen Wiese brauchen wir
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Factory Outlet Center können auch in den Innenstädten
realisiert werden. Wir brauchen keine Factory Outlet Cen-
ter auf der grünen Wiese, die einen Einzugsbereich von
300 Kilometern haben und die ein entsprechendes Ver-
kehrsaufkommen zur Folge haben. Wir sollten gemein-
sam darüber nachdenken, wie solche Verhältnisse ver-
mieden werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sollten noch einmal versuchen, den sozialen Woh-

nungsbau zu reformieren. Eine solche Reform haben Sie
bislang blockiert, indem Sie die Baunutzungsverordnung,
die jetzt novelliert werden sollte, im Ausschuss abgelehnt
haben. Überall dort, wo es um Fortschritte und nachhal-
tige Politik geht, sind Sie noch nicht so weit, dass Sie der
Opposition, die die Entwicklungen vernünftig vorantrei-
ben möchte, Recht geben und an deren Vorstellungen an-
knüpfen.

Ich hoffe, dass die Regierung jetzt viele positive Im-
pulse geben wird – heute habe ich davon leider noch
nichts gemerkt –, damit die Ergebnisse der anstehenden
Konferenz Urban 21 nicht nur für die Menschen in unse-
rem Land, sondern für alle Menschen auf der Welt hilf-
reich sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410804100
Als letzter Redner in
dieser Debatte spricht nunmehr der Kollege Frank
Hempel für die SPD-Fraktion.


Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1410804200
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Die Welt-
konferenz Urban 21, die vom 4. bis 6. Juli 2000 in Berlin
stattfinden wird und die sich mit der nachhaltigen Ent-
wicklung von Städten und der Verbesserung urbaner Le-
bensbedingungen beschäftigen wird, ist aus meiner Sicht
eine wichtige Konferenz auch im Hinblick auf die Ha-
bitat-Konferenzen der vergangenen Jahre und auch im
Hinblick auf die Habitat-Konferenz, die im Juli in Manila
stattfinden wird.

Lassen Sie mich aus entwicklungspolitischer Sicht ei-
nige Anmerkungen machen – ich bin dankbar, dass auch
der Kollege Ruck das Thema aufgegriffen hat; ich habe
vielen Passagen seiner Rede zustimmen können –: Zwar
sind die Lebensverhältnisse in den Ballungszentren der
reichen Länder auch nicht immer die allerbesten – das ha-

ben wir heute gehört – und stellen die Politik vor große
Aufgaben. Aber die katastrophalen Verhältnisse in den
Ballungszentren von Kalkutta, Mexico-City, Manila, Rio
de Janeiro oder die Verhältnisse in den Städten der Länder
Afrikas wie Nairobi, Kairo und Lagos sind mit den
Verhältnissen in unseren Städten überhaupt nicht zu ver-
gleichen.

Zwar leben in den Entwicklungsländern im Gegensatz
zu den Industrieländern noch immer mehr Menschen auf
dem Lande und die Ernährungsgrundlage wird dort –
wenn sie überhaupt ausreicht – auf dem Lande geschaf-
fen. Aber auch dort gibt es eben wegen der mangelnden
Lebensqualität und der zumeist vermeintlich besseren
Aussichten auf Lebensbewältigung in den Städten eine
riesige Landflucht. In den Sahel-Gebieten Afrikas führt
zum Beispiel die restlose Abholzung der noch verbliebe-
nen Strauchvegetation zur Erosion der Böden. Die Ver-
elendung der Landbevölkerung nimmt zu, weil dadurch
die natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen auf
Dauer zerstört sind. Der Bevölkerung mangelndes Pro-
blembewusstsein vorzuwerfen wäre natürlich Hohn ange-
sichts der erdrückenden Armut jener Länder, in denen je-
der neue Tag auch ein neuer Tag im Kampf ums Überle-
ben ist.

In den Städten der Dritten Welt fehlen die für uns in
Deutschland selbstverständlichen Dinge des Lebens wie
ausreichendes Trinkwasser, Stromversorgung, elementare
Versorgung im Bereich Bildung und Soziales. Dasselbe
gilt für ein anderes Grundbedürfnis der Menschen, näm-
lich ein Dach über dem Kopf haben zu wollen.

Ich gehe davon aus, dass die Verstädterung nicht zu
stoppen ist. Gestern war in der „FAZ“ ein Artikel zu lesen,
der zu der Aussage gelangt, dass es Schätzungen zufolge
im Jahr 2025 etwa 100 Städte mit mehr als 5 Millionen
Einwohnern, darunter Megastädte mit bis zu 30Millionen
Einwohnern, geben wird. So wird es kommen und damit
hat man sich auseinander zu setzen.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum ei-
nen birgt die Lebensform Stadt offensichtlich das größte
Entwicklungs- und Innovationspotenzial; zumindest in
den entwickelten Ländern ist die Stadt Motor des Fort-
schritts. Zum anderen ist in den Entwicklungsländern die
Stadt noch immer Zufluchtstätte zumeist armer Men-
schen. Das bedeutet, dass wir insbesondere in den Ent-
wicklungsländern bei dieser Entwicklung gegensteuern
müssen. Daher ist es wichtig, dass bei der Weltkonferenz
Urban 21 diese Aspekte aus dem Bereich der Entwick-
lungspolitik Berücksichtigung finden.

Als Ergebnis des schwierigen internationalen Mei-
nungsbildungsprozesses der Habitat-Konferenzen der
vergangenen Jahre wurde das Prinzip der nachhaltigen
Entwicklung anerkannt und festgeschrieben. Auch die
Weltkonferenz Urban 21 wird die gleichzeitige Durchset-
zung der Aspekte Ökonomie, Ökologie und Soziales dis-
kutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass
die Lösung der Probleme in den Megastädten der Dritten




Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)

10116


(C)



(D)



(A)



(B)


Welt nicht losgelöst von den Problemen, die zur Land-
flucht in diesen Ländern führen, betrachtet werden darf.
Daher ist für mich eine zukunftsfähige, nachhaltige Ent-
wicklung dieser Städte nur mit einer vernetzten Betrach-
tungsweise möglich.

Die Ziele von Urban 21 werden nur dann durchsetzbar
sein, wenn wir in den Entwicklungsländern auf dem Weg
der Demokratisierung und der Transparenz weiterhin
voranschreiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört für mich, dass die Dezentralisierung in den
Ländern weiter unterstützt wird. Die Kommunen brau-
chen ihre eigenen Gestaltungsspielräume und müssen
dazu selbstverständlich auch von den Ländern finanziell
in die Lage versetzt werden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Es ist wohl wahr: Treibhausemissionen, Rohstoff- und
Landverbrauch, all das muss deutlich heruntergefahren
werden. Wir Industrienationen suchen Abhilfe in der in-
novativen Technik. Mir scheint es allerdings so zu sein,
dass die Schere zwischen Arm und Reich dadurch weiter
auseinander klafft; denn es ist bekannt, dass die armen
Entwicklungsländer in dieser Hinsicht nicht mithalten
können. Die Industrieländer stehen aber in der Verant-
wortung, umweltfreundliche und effiziente Technologien
vor allen Dingen in den Bereichen Bauwesen, Energie,
Wasser, Abwasser, Transportwesen und Informations-
technologie bereitzustellen und den Entwicklungsländern
zugänglich zu machen.

Ich erwarte von der Konferenz klare Handlungsanwei-
sungen, auf die sich die Fachminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung in den bilateralen Ver-
handlungen berufen können. Letzten Endes – das wissen
wir alle – geht es immer auch um Geld, das für Pro-
gramme in Entwicklungsländern bereitgestellt werden
muss.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410804300
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/3521. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition an-
genommen.

Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3510 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen

gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ab-
gelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Innere Reform der Europäischen Union –
Stand der Regierungskonferenz – Stabilität des
Euro – Haltung zu Österreich
– Drucksache 14/3377 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten

(Augsburg)

der Fraktion der F.D.P.
Beziehungen zu Österreich normalisieren
– Drucksache 14/3187 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Auswärtiger Ausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Hermann Bachmaier, Hans-Werner Bertl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike
Höfken, Claudia Roth, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäischer Rat in Feira – Europa entschlos-
sen voranbringen
– Drucksache 14/3514 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Vorsitzenden
der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1410804400
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen geht
die portugiesische Ratspräsidentschaft in der Europä-
ischen Union zu Ende und es beginnt am 1. Juli die fran-
zösische Ratspräsidentschaft. Während dieser französi-
schen Ratspräsidentschaft soll ein neuer Vertrag für die




Frank Hempel

10117


(C)



(D)



(A)



(B)


Europäische Union fertig gestellt werden, ein Vertrag, der
die Europäische Union erweiterungsfähig machen soll,
der die Voraussetzungen für die größte Erweiterung schaf-
fen soll, die die Europäische Union jemals in ihrer Ge-
schichte auf die Tagesordnung gesetzt hat.

Die so genannte Osterweiterung der Europäischen
Union ist richtig. Sie ist notwendig und sie vollendet ein
großes Werk, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der
zunächst westeuropäisch geprägten europäischen Völker-
familie auf den Weg gebracht worden ist. Die Europäische
Union ist nie eine nur westeuropäisch geprägte Union ge-
wesen, sondern sie ist immer gesamteuropäisch ausge-
richtet und orientiert gewesen.

Deswegen will ich zu Beginn für unsere Fraktion –
aber ich denke, das ist die ungeteilte Einschätzung aller
Mitglieder des Deutschen Bundestages – feststellen: Es
liegt gerade im deutschen Interesse, dass die Erweiterung
der Europäischen Union um eine große Zahl osteuropä-
ischer, südosteuropäischer Staaten erfolgreich wird. Wir
wollen die Osterweiterung der Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine Reihe von Staaten Osteuropas hat bereits gezeigt,

dass diese Erweiterung der Europäischen Union bei wei-
tem nicht nur wirtschaftspolitische Interessen in den Mit-
gliedstaaten, die beitreten sollen, hat, sondern dass es um
eine politische Union geht. Wie anders wäre es zu ver-
stehen, dass Polen, Ungarn und die Tschechische Repu-
blik vor ihrem Beitritt in die Europäische Union schon
Mitglieder des Nordatlantischen Bündnisses geworden
sind? Auch bei diesen Ländern steht der Wille im Vorder-
grund, zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Frei-
heitsordnung beizutragen. Das geht weit über die wirt-
schaftlichen Interessen hinaus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, weil wir die Erweiterung

der Europäischen Union wollen, muss die Europäische
Union selbst beitrittsfähig werden. Die Europäische
Union, die heute aus 15 Mitgliedstaaten besteht, wird nur
beitrittsfähig, wenn wir die Zustimmung der Menschen
auch in unserem Land erhalten und sie dort zurückgewin-
nen, wo sie verloren gegangen ist. Wir werden die Zu-
stimmung der Menschen nur gewinnen, wenn klar wird,
wer in der Europäischen Union wofür zuständig ist, und
wenn diejenigen, die in der Europäischen Union zustän-
dig sind, sich auf eine demokratische Legitimation auch
durch die Parlamente stützen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Deshalb stehen wir zu Beginn der französischen Rats-
präsidentschaft an einer wichtigen – vielleicht der wich-
tigsten – Weichenstellung der letzten Jahre und Jahr-
zehnte, die für eine gute weitere Entwicklung der Euro-
päischen Union vorzunehmen ist.

Sie, Herr Fischer, haben am 12. Mai eine zu Recht be-
achtete Rede gehalten und Sie haben richtige Fragen ge-
stellt. Sie haben sich auch – zu Recht – darüber beklagt,
dass die Menschen in der Europäischen Union – so haben
Sie es ausgedrückt – diese Europäische Union zunehmend
als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und

gesichtslosen Eurokratie in Brüssel erleben. Ich stimme
Ihnen ausdrücklich zu: Die Menschen erleben Brüssel
nicht mehr als einen Ort von politischen Entscheidungen,
die nur dort getroffen werden können, sondern sie erleben
Brüssel mehr und mehr als einen Ort der starken Ver-
bürokratisierung der europäischen Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn aber diese Analyse richtig ist – ich glaube, sie ist

richtig –, dann ist es eine falsche Konsequenz zu sagen,
dass die zunehmende Verbürokratisierung, die in den letz-
ten Jahren in der Europäischen Union aufgetreten ist, erst
nach der Erweiterung der Europäischen Union aufgelöst
werden kann. Wir sagen: Das Problem muss vorher gelöst
werden. Wahrscheinlich hat die Europäische Union nur
noch jetzt eine wirklich realistische Chance, die Pro-
bleme, die sie hat, zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es muss vor der umfangreichsten Erweiterung in der

Geschichte der Europäischen Union über die Grundlagen,
den Inhalt, die Ziele und damit eben auch über die Gren-
zen der Europäischen Union gesprochen und entschieden
werden. Deswegen legen wir so viel Wert darauf, dass
jetzt über die Ausfüllung des bereits im EU-Vertrag ent-
haltenen Subsidiaritätsprinzips gesprochen wird, dass
jetzt über eine Kompetenzordnung in der Europäischen
Union gesprochen wird und dass jetzt über die Verteilung
der Kompetenzen – Kompetenzen, meine Damen und
Herren, sind Verfassungsfragen – zwischen der Europä-
ischen Union und den Mitgliedstaaten sowie in einzelnen
Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland
auch über die Verteilung der Kompetenzen zwischen der
Europäischen Union, den Nationalstaaten und den regio-
nalen und kommunalen Ebenen im Wege eines Verfas-
sungsvertrages entschieden wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben dies, Herr Fischer, in den letzten Wochen

und Monaten häufig

(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Er hört ja wieder nicht zu!)

als eine Überforderung der Regierungskonferenz, die sich
jetzt mit den Restposten von Amsterdam beschäftigen
soll, charakterisiert. Sie haben mehrfach das Szenario ei-
ner Krise an die Wand gemalt, die die Europäische Union
fürchten müsse, wenn man jetzt über Fragen einer solchen
Kompetenzordnung spricht. Ich sage Ihnen: Wenn es rich-
tig ist, dass Kompetenzfragen Verfassungsfragen sind und
dass Verfassungsfragen in der Europäischen Union, wenn
sie denn gestellt werden, eine Krise auslösen könnten,
dann wäre es besser, die Krise findet in der Europäischen
Union der Fünfzehn statt und wird gelöst, als dass sie in
einer erweiterten Europäischen Union stattfindet und
dann möglicherweise nicht mehr lösbar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es kommt darauf an, dass wir uns selbst darüber klar

werden,

(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr müsst euch darüber klar werden, das ist richtig!)





Friedrich Merz
10118


(C)



(D)



(A)



(B)


welche Kompetenzen die Europäische Union braucht. Es
müssen Kompetenzen aus solchen Politikbereichen in der
Europäischen Union angesiedelt werden, in denen die Na-
tionalstaaten heute allein nicht mehr handlungsfähig sind
und – im doppelten Sinn des Wortes – Souveränität nicht
mehr ausüben können. Denn zur Souveränität der Natio-
nalstaaten gehört nicht nur, dass sie die Mittel besitzen,
ihre politischen Entscheidungen zu treffen, sondern dazu
gehört auch, dass sie die Fähigkeit besitzen, politische
Entscheidungen tatsächlich durchzusetzen. Wir wissen,
dass in den großen politischen Fragen dieses europä-
ischen Kontinents, in Fragen der Wirtschafts- und
Währungsunion, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik bis hin zu Fragen der grenzüber-
schreitenden Kriminalitätsbekämpfung, die Nationalstaa-
ten Zuständigkeiten im Sinne von Souveränität allein
nicht mehr ausüben können.

Deswegen will ich ganz ausdrücklich sagen: Es ist und
bleibt eine richtige Entscheidung der Europäischen
Union, die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen
zu haben – mit politischen Entscheidungen, die auch hier
im Haus nicht immer nur einvernehmlich getroffen wor-
den sind und über die wir bis heute angesichts des gegen-
wärtigen Wechselkurses des Euro streiten. Aber es war
und bleibt eine richtige Entscheidung allein deshalb, weil
die ökonomische Integration in der europäischen Ge-
schichte immer auch der Schrittmacher für eine nachfol-
gende politische Integration war.

Aber gerade weil es richtig war, dürfen wir jetzt nicht
auf halbem Wege stehen bleiben. Es muss die weitere
Integration insbesondere im Bereich einer gemeinsamen
Außen- , Sicherheits- und Verteidigungspolitik folgen. Es
wäre doch gerade angesichts der Debatte in der NATO, in
der Europäischen Union und in der Bundesrepublik
Deutschland über eine Reform der Bundeswehr notwen-
dig und richtig, wenn die Bundesregierung der Bundesre-
publik Deutschland gerade jetzt Initiativen zur weiteren
Integration der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs-
politik in Europa ergriffe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich finde, es muss uns schon mit einiger Nachdenk-

lichkeit, vielleicht sogar mit Sorge erfüllen, dass ver-
schiedene Mitgliedstaaten der Europäischen Union ge-
meinsame Initiativen ergreifen und die Bundesrepublik
Deutschland daran nicht mehr beteiligen. Ich finde, Herr
Außenminister, Sie sollten es zum Thema des deutsch-
französischen Gipfels am kommenden Wochenende ma-
chen, dass sich die französische Regierung offensichtlich
entschieden hat, in der Verteidigungspolitik mehr mit der
britischen Regierung als mit der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland zusammenzuarbeiten. So etwas hätte
es unter der früheren Regierung von Helmut Kohl in Eu-
ropa nicht gegeben, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen denn das eingeflüstert?)


Es ist geradezu unvorstellbar, dass sich die französische
Regierung entschließt, obwohl die objektiven Notwen-
digkeiten eigentlich eher auf deutscher Seite liegen, sich
mit der britischen Regierung über die gemeinsame Be-
schaffung eines großen militärischen Transportflugzeu-
ges zu einigen. Das sind Besorgnis erregende Entwick-
lungen in der Europäischen Union, die Deutschland zu-
nehmend an den Rand der europäischen Politik drängen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und genauso, wie es richtig ist, dass wir neben der
Wirtschafts- und Währungsunion, neben einer Vertiefung
der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine
größere Kompetenz der Europäischen Union brauchen,
genauso ist es auch richtig, dass wir jetzt über Kompe-
tenzüberschreitungen sprechen müssen, die es in der eu-
ropäischen Union ohne Zweifel gibt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie bei der Steuerpolitik bleiben würden!)


Ich will Ihnen einige wenige nennen, meine Damen
und Herren, die deutlich machen, dass die Vorbehalte, die
auch in unserer Bevölkerung gegen die zunehmende eu-
ropäische Integration bestehen, zum Teil durchaus be-
rechtigt sind:


(Gernot Erler [SPD]: Aha!)

Warum muss sich die Europäische Union jahrelang über
ein Werbeverbot für Tabakprodukte auseinander setzen?
Übrigens in derselben Zeit, in der sie den Anbau von Ta-
bakerzeugnissen in südeuropäischen Ländern mit großen
finanziellen Mitteln fördert!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zurufe von der SPD)


– Entschuldigung! Wenn ich auf Entwicklungen hinweise,
die in den letzten Jahren zugenommen haben, Herr Kol-
lege, dann umfasst dies natürlich auch Entwicklungen, die
vor dem Regierungswechsel 1998 begonnen haben, und
ich bin zum Teil selbst daran beteiligt gewesen. Ich werde
gleich noch auf ein ganz konkretes Beispiel eingehen.

Also, wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass es
Fehlentwicklungen in der Europäischen Union gegeben
hat, die korrigiert werden müssen, dann muss man doch
wohl auch eine Debatte darüber führen dürfen, wann sie
korrigiert werden müssen. Ich sage Ihnen noch einmal:
Wenn wir nicht zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem Zeit-
punkt, in dem die Europäische Union erneut Grundent-
scheidungen in der Politik zu treffen hat, jetzt, da eine Re-
gierungskonferenz läuft, jetzt, da die Europäische Union
auf die Erweiterung vorbereitet werden soll, die sie sich
vorgenommen hat, Entscheidungen darüber treffen, dann
werden wir die Zustimmung der Bürger auch unseres
Landes für die Erweiterung der Europäischen Union ver-
lieren. Da wir aber den Erfolg der Europäischen Union
wollen, müssen wir darüber sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Friedrich Merz

10119


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Fischer, ich will es Ihnen so sagen, wie wir es in
den letzten Tagen und Wochen bei uns diskutiert haben:
Wenn die Entscheidungen nicht jetzt getroffen werden,
dann müssen Sie damit rechnen, dass wir Ihnen am Ende
der Regierungskonferenz die Zustimmung zu diesem Er-
gebnis nicht geben können


(Zurufe von der SPD: Ah!)

– nicht weil wir den Misserfolg der Bundesregierung wol-
len, sondern weil wir den Erfolg der Europäischen Union
wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Werbeverbot für Tabakerzeugnisse, Quotenregelungen

für Fernsehprogramme, von denen mindestens die Hälfte
aus europäischer Produktion stammen soll, Umweltpro-
gramme für Stadtentwicklung in der Europäischen
Union – eine originäre kommunale Zuständigkeit in der
Bundesrepublik Deutschland –, Umweltverträglichkeits-
vorhaben, Prüfungen für Planvorhaben auch in der kleins-
ten Stadt, eine Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die mitt-
lerweile jedes Planvorhaben in der gesamten Bundesre-
publik Deutschland und allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union belastet und beschwert – das sind
nicht Aufgaben der Europäischen Union, sondern das fällt
in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen gerade zu dem letzten Beispiel, Flora-

Fauna-Habitat-Richtlinie: Ich habe dem Europäischen
Parlament angehört, als diese Richtlinie verabschiedet
worden ist. Ich habe ihr damals nicht widersprochen.
Wenn ich geahnt hätte, was daraus wird, hätte ich mich
darum bemüht, sie zu verhindern. Aber wenn wir das
heute erkennen, können wir doch gemeinsam Anstren-
gungen unternehmen, die Europäische Union wieder auf
den Kern ihrer Zuständigkeiten zurückzuführen, von de-
nen auch die Menschen in unserem Land zutiefst über-
zeugt sind, dass sie die Grundvoraussetzungen dafür sind,
dass die Europäische Union ihre Zukunft so gestalten
kann, wie das im letzten Jahrhundert möglich gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Glauben Sie denn im Ernst, dass Konrad Adenauer und

Charles de Gaulle, dass Helmut Kohl und François Mit-
terrand, dass die Gründerväter der Europäischen Union
die europäischen Verträge geschrieben hätten, wenn darin
hätte stehen sollen: Fernsehrichtlinie, UVP, Werbeverbot
für Tabakerzeugnisse – und andere Auswüchse dieser Eu-
ropäischen Union? Das fällt nicht in die Zuständigkeiten
Europas; es sind andere Aufgaben, die dieser Europäi-
schen Union gestellt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir das, was vor uns liegt, erfolgreich bewälti-

gen wollen – hier im Haus sitzt eine große Fraktion, die
wie keine andere in Deutschland über Jahre und Jahr-
zehnte Mitverantwortung für eine erfolgreiche europä-
ische Friedens- und Freiheitsordnung getragen hat,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon verabschiedet sie sich gerade!)


die ohne unsere Mitwirkung nie so entstanden wäre, wie
sie heute ist –, wenn wir aktiv daran mitwirken wollen,
dass der Auftrag Europas auch im 21. Jahrhundert im
Sinne einer umfassenden politischen Ordnung, im Sinne
von Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtig-
keit für die Menschen in Europa fortentwickelt wird, dann
müssen wir die Europäische Union auf ihren Kern zurück-
führen und ihr dafür auch die notwendigen Kompetenzen
geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Fischer, ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich

sagen: Wir wollen an diesem Prozess aktiv mitwirken.
Wir wollen den Erfolg. Wir wollen den Fortschritt. Wir
wollen einen möglichst schnellen Abschluss der Regie-
rungskonferenz, um die Erweiterung der Europäischen
Union möglich zu machen. Wenn Sie in die französische
Ratspräsidentschaft gehen, wenn Sie zum Ende der por-
tugiesischen Ratspräsidentschaft auf einem großen Gipfel
zusammentreffen, sollten Sie wissen, dass Sie nicht allein
parteipolitisch motivierte Kritik der Opposition im
Gepäck haben. Vielmehr sollten Sie unsere kritischen An-
merkungen als Hilfestellung einer großen Fraktion des
deutschen Parlaments verstehen, deren Zustimmung Sie
am Ende der Regierungskonferenz brauchen, jedenfalls
dann, wenn es sich um Kompetenzverlagerungen zuguns-
ten weiterer Mehrheitsentscheidungen handelt. Sie wer-
den die Zustimmung unserer Fraktion brauchen, weil Sie
das Ergebnis der Regierungskonferenz hier im Haus
vermutlich mit Zweidrittelmehrheit feststellen lassen
müssen.

Wenn Sie das richtig verstehen wollen und wenn wir
uns in der Analyse dessen, was Sie am 12. Mai in Ihrer
Rede gesagt haben, einig sind, dann sollten Sie die Kritik,
die wir üben, als einen konstruktiven Beitrag, gerichtet an
die Adresse der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land, empfinden. Auf der Grundlage dieser Argumente
können Sie den Partnern in der Europäischen Union dann
sagen: Ohne den Eintritt in eine Kompetenzordnung und
ohne den Beginn einer Debatte über einen Verfassungs-
vertrag in der Europäischen Union wird es die Zustim-
mung der größten Oppositionsfraktion im Deutschen
Bundestag nicht geben. Wenn Sie das als Hilfestellung
empfinden, Herr Bundesaußenminister, dann ist dies nicht
eine der typischen Auseinandersetzungen, die im deut-
schen Parlament über die Innenpolitik stattfindet, sondern
ein konstruktiver Beitrag für die Fortentwicklung einer
Europäischen Union, die unsere Handschrift trägt und für
die wir auch in Zukunft Mitverantwortung übernehmen
wollen. Es geht um eine große politische Richtungsent-
scheidung. Wir werden uns in den nächsten Monaten ak-
tiv und konstruktiv an dieser Debatte beteiligen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410804500
Für die SPD-Frak-
tion spricht der Kollege Günter Gloser.




Friedrich Merz
10120


(C)



(D)



(A)



(B)



Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1410804600
Sehr geehrter Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Fraktionsvor-
sitzender Merz, viele stellen sich jetzt die Frage: Was war
eigentlich die Botschaft Ihrer Rede? War dies eine Dro-
hung oder bieten Sie wirklich Hilfestellung an? Im Hin-
blick auf all das, was Sie angesprochen haben, ist zu fra-
gen: Was hat die von der CDU/CSU geführte Bundes-
regierung bis 1998 getan, um diese Dinge zu lösen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich nehme die Bilanz gleich vorneweg: Die SPD-ge-
führte Bundesregierung fährt europapolitisch einen klaren
Kurs. Sie ist für unsere Partner in der Europäischen Union
berechenbar und verlässlich. Sie verfolgt eine durchset-
zungsfähige und erfolgreiche Europapolitik. Das sind die
Fakten, auch wenn sie der Opposition nicht gefallen. Ich
sage ganz bewusst: Der Europäische Rat in Feira ist
eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Europäischen Rat
in Nizza, auf dem die zentralen europäischen Entschei-
dungen dieses Jahres anstehen.

Diese Debatte bietet eine gute Gelegenheit, an den eu-
ropapolitischen Grundkonsens zu erinnern, den es über
viele Jahre im Deutschen Bundestag gab. Auf dieser Ba-
sis konnten die verschiedenen Bundesregierungen gezielt
eine integrationsorientierte Europapolitik verfolgen, im
Unterschied zu anderen Mitgliedstaaten, die grundsätz-
lich eher eine intergouvernementale Europapolitik vertre-
ten.

Ich darf an Folgendes erinnern: Zum Grundkonsens in
der Europapolitik im Deutschen Bundestag gehörten bis-
her vor allem zwei Dinge:

Erstens. Das europäische Aufbauwerk ist das zentrale
Fundament für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Eu-
ropa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist die deutsche Europapolitik in ihrer Grundaus-
richtung auf Integration orientiert. Um das europäische
Aufbauwerk zu festigen und weiterzuentwickeln, haben
wir die Europapolitik in der Vergangenheit nicht zu par-
teipolitischen Zwecken instrumentalisiert oder miss-
braucht. Das sollte auch so bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Wir haben die Europapolitik nicht mit un-
realistischen Zielen überfordert. Das heißt, wir haben sehr
darauf geachtet, dass wir keine Erwartungen wecken, die
die Europäische Union nicht erfüllen kann. Dies würde sie
in den Augen der Bürgerinnen und Bürger diskreditieren
und das europäische Aufbauwerk beschädigen.

Aber: CDU und CSU sind drauf und dran, gegen die-
sen Grundkonsens zu verstoßen. Landauf, landab haben
sie damit gedroht – wir haben das soeben gehört –, die
neuen europäischen Verträge von Nizza beispielsweise im
Bundesrat zu blockieren. In Brüssel macht man sich in-
zwischen ernsthafte Sorgen, wohin die größte deutsche
Oppositionspartei europapolitisch treibt. Wenn Sie so

weitermachen, dann schwächen Sie die deutsche Position
im Rahmen der Regierungskonferenz nachhaltig. Herr
Merz, offensichtlich sind Sie sich der Verantwortung
nicht bewusst, die Sie über den Bundesrat mittragen müs-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem des manchmal kurzen Gedächtnisses wegen
möchte ich an Folgendes erinnern: Die SPD-Bundestags-
fraktion hat auch in ihren Oppositionsjahren europapoli-
tisch verantwortungsbewusst gehandelt. Trotz der Unter-
schiede im Detail gab es immer eine Zustimmung zu den
grundsätzlichen Linien. Ich erinnere: Erstens. Wir haben
den Maastrichter Vertrag bzw. die Wirtschafts- und
Währungsunion zusammen mit der CDU/CSU und der
F.D.P. im Deutschen Bundestag ratifiziert.

Zweitens. Wir haben die Osterweiterung in den Op-
positionsjahren solidarisch mitgetragen und auch gestal-
tet.

Drittens. Wir haben auch den Amsterdamer Vertrag ra-
tifiziert, obwohl wir – wie die damaligen Regierungsfrak-
tionen – mit diesem Vertrag nicht vollständig zufrieden
waren.

Meine Damen und Herren, ich meine, dieser Grund-
konsens sollte auch für die anstehende Regierungskonfe-
renz bestehen bleiben. Uns ist sehr bewusst, dass ein so
wichtiges Projekt im Deutschen Bundestag eine breite
politische Mehrheit braucht. Dies setzt aber voraus, dass
Sie die europapolitischen Realitäten zur Grundlage Ihrer
Überlegungen machen und am europapolitischen Grund-
konsens festhalten. Nur dann können wir, Regierung und
Opposition, zusammenkommen.

Wie ist aber nun die europapolitische Position der heu-
tigen Opposition zur Regierungskonferenz? Die Opposi-
tion ist offensichtlich zerstritten; zwischen Europabefür-
wortern und Europaskeptikern gibt es einen Graben:


(Zustimmung bei der SPD)

Dieser Graben muss sehr tief sein; denn schon die Ankün-
digung, dass CDU und CSU versuchen würden, ihre eu-
ropapolitischen Differenzen in einem Spitzengespräch
auszuräumen, war den Agenturen eine Nachricht wert.

Was nach dem Gespräch als neues Strategiepapier ver-
öffentlicht worden ist, hält aber nicht, was das Wort Stra-
tegie verspricht.


(Joachim Poß [SPD]: Wo ist das Papier eigentlich?)


Sie haben am letzten Sonntag kein Strategiepapier zur Re-
gierungskonferenz beschlossen; Sie haben vielmehr ver-
sucht, Ihren offensichtlich mühsam gefundenen Minimal-
konsens zur Regierungskonferenz als neue Strategie zu
verkaufen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie haben es doch gar nicht veröffentlicht!)


Ihre Europapolitik ist widersprüchlich, unrealistisch
und voller Halbwahrheiten. Ihr Antrag für die heutige De-
batte belegt dies. Ich gebe nur drei Beispiele.






(C)



(D)



(A)



(B)


Erstens. Sie fordern, dass sich die Regierungskonfe-
renz „mit allen Themen beschäftigen“ muss, „die für die
Erweiterungsfähigkeit maßgeblich sind“. Wenn wir dies
ernst nehmen würden, wäre dies gleichbedeutend mit dem
Scheitern der Regierungskonferenz in Nizza.


(Beifall bei der SPD)

Wollen Sie das wirklich? Nizza kann nur ein Erfolg wer-
den, wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf die
zentralen Fragen betreffend die Institutionen konzentrie-
ren, die seit den Römischen Verträgen nicht grundlegend
reformiert worden sind.

Zweitens. Wir haben es gehört: Sie fordern in Ihrem
Antrag, dass das Subsidiaritätsprinzip „im Vertrag durch
eine genauere Abgrenzung der EU einerseits und der Mit-
gliedstaaten andererseits gestärkt werden“ muss. „Die
Frage der europäischen Kompetenzordnung duldet keinen
weiteren Aufschub.“ Sehen Sie doch endlich ein, dass es
für eine entsprechende Erweiterung des Mandats der Re-
gierungskonferenz in Feira keine Mehrheit der Mitglied-
staaten geben wird. Wenn die deutsche Bundesregierung
eine solche Forderung erheben würde, wäre das deutsch-
französische Verhältnis aufs Schwerste belastet. Wollen
Sie das wirklich?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie fordern immer eine Nachbesserung der
Agenda 2000. Solche Nachbesserungen kann und wird es
derzeit nicht geben. Wir sind alle froh, dass die Staats- und
Regierungschefs auf dem europäischen Gipfel in Berlin
einen guten Kompromiss zur Agenda 2000 gefunden ha-
ben. Dabei galt es – das möchte ich betonen –, 15 Mit-
gliedstaaten unter einen Hut zu bringen, 15 Mitgliedstaa-
ten zu verpflichten, eine Lösung zu finden. Ohne Zweifel
gibt es Punkte, die auch wir gerne anders gehabt hätten.
Das gilt vor allem für die Kofinanzierung in der gemein-
samen Agrarpolitik. Aber auch hier gilt: Das war im Rah-
men der Agenda 2000 mit unseren französischen Freun-
den nicht zu machen.

Zudem fordern Sie auf der einen Seite immer wieder
mehr Beitragsgerechtigkeit, lehnen auf der anderen Seite
aber jede vernünftige Reform in der gemeinsamen Agrar-
politik ab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ihre alten Widersprüche, die Sie während Ihrer Regie-
rungszeit nicht auflösen konnten, schleppen Sie noch
heute mit sich herum. Mit solchen Forderungen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, untergraben
Sie den alten Grundkonsens in der Europapolitik. Für
mich ist klar: Wenn wir Ihre Vorschläge aufgreifen wür-
den, schadeten wir nicht nur Deutschland, sondern auch
der Europäischen Union.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Am 1. Juli 2000 übernimmt Frankreich die EU-Präsi-
dentschaft. Wir wünschen unseren französischen Part-
nern für diese Präsidentschaft jeden nur denkbaren Er-

folg; denn Erfolge der Franzosen sind gleichbedeutend
mit Fortschritten für die europäische Integration. Die so-
zialdemokratisch geführte Bundesregierung hat die
deutsch-französischen Beziehungen wieder gestärkt.
Frankreich und Deutschland arbeiten gemeinsam für den
Erfolg der Regierungskonferenz in Nizza.


(Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Nicht übertreiben!)


Uns ist sehr bewusst, dass der deutsch-französische
Gleichklang eine, wenn nicht die entscheidende Voraus-
setzung dafür ist, dass wir in Nizza wirkliche Fortschritte
bei den institutionellen Reformen machen.

Im Augenblick sind die Verhandlungen der Regie-
rungskonferenz – wer wollte das anders beschreiben –
nicht sehr dynamisch. Das ist normal und wird sich sehr
bald ändern.


(Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist geschönt!)


Unser Kurs für die Verhandlungen ist klar: Wir setzen
alles daran, Herr Glos, zu echten Reformen zu kommen,
die die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Euro-
päischen Union auch nach der Erweiterung sichern.

Folgende Punkte halte ich für besonders wichtig. Bei
der Reform der Europäischen Kommission setzen wir uns
dafür ein, dass eine feste Obergrenze für die Anzahl der
Kommissare eingeführt wird. Wenn dies nicht möglich
ist, weil der Widerstand der kleineren Mitgliedstaaten
nicht überwunden werden kann, dann allerdings ist es
umso wichtiger, die Stellung des Kommissionspräsiden-
ten und die politische Verantwortlichkeit der einzelnen
Kommissare zu stärken. CDU und CSU legen sich bei der
Stimmengewichtung auf das Modell der doppelten
Mehrheit fest. Ich halte das für unklug. Entscheidendes
Ziel aus deutscher Sicht kann nicht ein bestimmtes Mo-
dell sein; es kommt vielmehr darauf an, dass der Bevöl-
kerungsumfang Deutschlands bei den Abstimmungen im
Rat angemessen zum Ausdruck kommt. Dies ist auch bei
einer Neuwägung der Stimmen im Rat möglich; für uns
sind deshalb beide Ansätze tragbar, wenn sie unserem Ziel
dienen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil das auch innenpolitisch eine wesentliche Rolle
spielt, will ich die Frage der qualifizierten Mehrheit an-
sprechen. Wir wissen, dass die Bundesregierung einen
mutigen Vorstoß unternommen hat. Unser Ziel ist es, in
möglichst vielen Bereichen den Übergang zur Abstim-
mung mit qualifizierter Mehrheit zu erreichen. Je weiter
die Regierungskonferenz in diesem Punkt kommt, desto
mehr stärken wir die Handlungsfähigkeit der erweiterten
Union.

Die verstärkte Zusammenarbeit wird darüber hinaus
im Rahmen der Regierungskonferenz einen besonderen
Stellenwert bekommen. Sie kann ein Instrument sein,
weitere Integrationsfortschritte zu erzielen, wenn im Rah-
men der üblichen Verfahren keine Fortschritte mit allen
Mitgliedstaaten erzielt werden können.




Günter Gloser
10122


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben uns immer für ein begrenztes Mandat der
Regierungskonferenz eingesetzt, weil klar ist, dass nur bei
einem klar umrissenen und eng gefassten Mandat die Re-
gierungskonferenz ein Erfolg werden kann. Dies halten
nicht nur wir für richtig; das sollte die Opposition lang-
sam merken. Auch führende deutsche Wirtschaftsver-
bände und die Gewerkschaften unterstützen uns in diesem
Ansatz.

Es gibt darüber hinaus zwei wichtige Fragestellungen,
die auch für meine Fraktion von besonderer Bedeutung
sind: die langfristige Aufgabenverteilung zwischen der
Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie die
Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Die Frage nach der künftigen Aufgabenverteilung
wird sich vor allem aus zwei Gründen verstärkt stellen.
Mit der Osterweiterung wird die Europäische Union poli-
tisch, wirtschaftlich und sozial heterogener. Damit die
Union handlungs- und entscheidungsfähig bleibt, muss
sie sich stärker auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.
Darin sind wir uns ja auch möglicherweise einig. Aber
auch unabhängig von der Erweiterung müsste die Euro-
päische Union überprüfen, ob die Aufgabenverteilung
zwischen den Mitgliedstaaten und der EU dem heutigen
Integrationsniveau noch angemessen ist. Nicht jedes
Kleinstprogramm aus dem EU-Haushalt bringt automa-
tisch einen europäischen Mehrwert.

Aber es gab und gibt im Europäischen Rat keine Mehr-
heit dafür, diese Frage im Rahmen der Regierungskonfe-
renz 2000 zu behandeln. Dies war bereits auf den Euro-
päischen Räten in Köln und Helsinki so und das wird in
Feira nicht anders sein.

Ganz offensichtlich sind sich CDU und CSU selbst
noch gar nicht wirklich einig, wie sie dieses Thema poli-
tisch behandeln sollen. In dem vorliegenden Antrag for-
dern Sie, dass die Frage der Kompetenzabgrenzung in
Nizza auf die Tagesordnung kommt. In Ihrem so genann-
ten Strategiepapier – oder wie auch immer das Papier
heißen mag – vom Sonntag fordern Sie für Nizza nur noch
einen Einstieg in diese Frage. Was wollen Sie eigentlich?
Ich kann Ihnen nur empfehlen, von Anfang an die Latte
für Ihre Zustimmung zur Ratifizierung nicht zu hoch zu
legen. Weil Sie sich intern nicht darüber einig werden,
was Sie wollen, bauen Sie ein Drohpotenzial auf, um un-
ter Umständen auch Nein zum neuen Europavertrag sagen
zu können. Aber weil Sie sich so gern selbst „Europapar-
tei“ nennen, wissen Sie nur zu gut, dass eine Ablehnung
der neuen Europaverträge mit diesem Selbstverständnis
nicht zu vereinbaren ist.


(Beifall bei der SPD)

Man stelle sich vor: Die CDU Deutschlands lehnt un-

ter ihrer neuen Vorsitzenden Frau Merkel als erste euro-
papolitische Großtat die neuen Europaverträge ab, die
15 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union
einstimmig beschlossen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit werden Sie nicht nur in Deutschland und den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union ein Vermittlungs-
problem haben, Frau Merkel, auch in Osteuropa werden

Sie eine solche Haltung nicht vermitteln können. Da gibt
es überhaupt keinen Zweifel.

Deshalb treten Sie anscheinend jetzt schon ein Rück-
zugsgefecht an. Wenn Ihre Kehrtwende in einen neuen eu-
ropapolitischen Realismus mündet, dann können wir das
nur begrüßen. Durch Ihre antieuropäischen Parolen der
letzten Monate haben Sie aber in jedem Fall maßgeblich
zur europapolitischen Verunsicherung der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland beigetragen. So dürfen Sie ge-
rade mit der Europäischen Union nicht umgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

So können Sie, die Sie das europapolitische Erbe – so
habe ich es zumindest gelesen – von Helmut Kohl fort-
führen wollen, das Erbe nicht bewahren. Statt mit unrea-
listischen Forderungen in die Verhandlungen zu gehen,
sollten Sie lieber unsere realistischen Verhandlungsziele
unterstützen. Wir streben in Nizza einen verbindlichen
Beschluss an, mit dem das Thema Kompetenzabgrenzung
auf die Agenda der nächsten Regierungskonferenz gesetzt
wird. Unterstützen Sie uns dabei, denn gemeinsam sind
wir in Brüssel stärker.

Ich will auch noch kurz auf die Frage der öffentlichen
Daseinsvorsorge eingehen. Diese Frage hat auch für
meine Fraktion einen hohen Stellenwert, denn hier geht es
im Kern um zentrale Elemente der Ausgestaltung des eu-
ropäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Die
Mitgliedstaaten müssen künftig in der Lage sein, im Be-
reich der öffentlichen Daseinsvorsorge eigenverantwort-
lich zu handeln. Aber auch hier steckt der Teufel im De-
tail.

Es ist gut, dass in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe un-
ter Leitung von Staatsminister Zöpel in dieser Frage ein
grundsätzliches Einvernehmen über das weitere Vorgehen
erzielt werden konnte. Ich hoffe nur sehr, dass auch Bay-
ern, sehr geehrter Herr Staatsminister Bocklet, diese Linie
mitträgt und nicht wieder versuchen wird, in letzter Mi-
nute im Bundesrat den Kompromiss aufzukündigen.

Meine Damen und Herren, die Regierungskonferenz
muss die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union
ab 2003 herstellen. Hier sind wir gegenüber unseren mit-
tel- und osteuropäischen Partnern im Wort. Helfen Sie uns
dabei. Helfen Sie mit, diesen europapolitischen Grund-
konsens im Deutschen Bundestag fortzuführen, so wie
wir es als Oppositionspartei getan haben. Dies ist von
Nutzen für Deutschland. Dies ist vor allem von Nutzen für
Europa.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410804700
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf der Diplomatentribüne befindet sich
der Außenminister der Republik Ungarn, Dr. János
Martonyi.


(Beifall)





Günter Gloser

10123


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Außenminister, ich heiße Sie im Namen des Hau-
ses bei der Debatte über eine Regierungskonferenz, die ja
auch für Ihr Land von großer Bedeutung ist, herzlich will-
kommen und wünsche Ihnen für Ihren Deutschlandauf-
enthalt und Ihre hier zu führenden Gespräche viel Erfolg.


(Beifall)

Ich gebe nun dem Kollegen Professor Dr. Helmut

Haussmann für die F.D.P.-Fraktion das Wort.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1410804800
Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig,
dass vor entscheidenden Regierungskonferenzen im
Deutschen Bundestag klar wird, in welchen Punkten in
der Europapolitik Übereinstimmung herrscht. Kein Land
wird so beobachtet vor dieser wichtigen Konferenz wie
Deutschland.

Ich möchte gleich am Anfang klar sagen: In der F.D.P.
herrscht bezüglich der Europapolitik Klarheit, unabhän-
gig davon, ob sie regiert oder ob sie in der Opposition ist.
Jenseits von Tabakrichtlinie und Kompetenzeifersüchte-
leien der Bundesländer gibt es für die F.D.P. zwei ganz
klare Ziele bis zur Ratifizierung:

Erstens. Wir wollen einen substanziellen Einstieg in
Mehrheitsentscheidungen. Das ist für uns ein ganz ent-
scheidender Punkt.

Zweitens. Wir wollen die pünktliche, aber auch realis-
tische Osterweiterung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich sage als überzeugter Europäer: Auch die Union

wird sich am Ende des Tages entscheiden müssen.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Streite doch nicht mit uns!)

– Verehrter Herr Kollege, ich halte ein Junktim zwischen
endgültiger Kompetenzabgrenzung, Osterweiterung und
Ratifizierung so für nicht durchhaltbar. Es ist nicht unsere
Entscheidung.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das steht doch gar nicht zur Debatte!)


– Verehrter Herr Kollege, ich möchte unseren ungarischen
Freunden, unseren tschechischen Partnern nicht erklären
müssen, dass die Regierungskonferenz – und damit der
erste Schritt der Osterweiterung – am Veto eifersüchtiger
Bundesländer gescheitert ist. Es darf weder an dem Ziel
der SPD betreffend die Daseinsvorsorge noch an – was in
dieser Zeit gar nicht leistbar ist – der Festschreibung einer
endgültigen Kompetenzabgrenzung aus den Reihen der
CDU scheitern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es wird aus unserer Sicht darauf ankommen, dass wir
einen Einstieg in die Kompetenzabgrenzung finden. Wer
aber die Europapolitik kennt, der weiß, dass eine endgül-
tige Abgrenzung in wenigen Monaten so nicht leistbar ist.
Ich sage das nicht aus parteipolitischen Gründen. Ich
glaube, es ist ganz entscheidend, dass unsere Partner da-

mit rechnen können, dass wir in Deutschland mit einer
Zweidrittelmehrheit ratifizieren. Das ist enorm wichtig
und hat Stabilitätscharakter.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sind weit davon entfernt, das bisherige Prinzip der
portugiesischen Präsidentschaft – die Mehrheitsent-
scheidung ist die Ausnahme und es bleibt ansonsten bei
der Möglichkeit eines Vetos – umzudrehen. Es wird die
entscheidende Aufgabe, Herr Außenminister Fischer,
sein, in der französischen Präsidentschaft durch Ihren und
den Einfluss des Bundeskanzlers dafür zu sorgen, dass die
Mehrheitsentscheidung die Regel und die Vetoentschei-
dung die Ausnahme wird.

Das ist der entscheidende Integrationsfortschritt. Wer
derzeit Politikfelder wie die Steuerpolitik betrachtet, der
weiß, ohne den Einstieg in Mehrheitsentscheidungen ist
die Europäische Union nicht erweiterungsfähig. Das
heißt, der enge Zusammenhang zwischen mehr Mehr-
heitsentscheidungen und Osterweiterung – das sind die
beiden Essentials der F.D.P. – ist evident.


(Beifall bei der F.D.P.)

Was die Osterweiterung angeht, so sind wir traurig,

dass wenig Ehrgeiz herrscht, auch aus deutscher Sicht. Es
herrscht weitgehend Stillstand. Ich bin auch von den vom
deutschen Kommissar, Herrn Verheugen, bisher ange-
stoßenen Fortschritten enttäuscht. Wenn Sie darüber mit
den Osteuropäern reden, stellen sie fest: Es werden keine
entscheidenden Kapitel abgeschlossen, lediglich neue
Fragen nachgereicht. Damit verschiebt sich der Zeitplan.
So haben wir uns die Osterweiterung nicht vorgestellt.
Denn die Osterweiterung ist Stabilitätspolitik im besten
Sinne.

Ohne eine kontinentale Organisation wird Europa in
diesem beginnenden Jahrhundert keine entscheidende
Rolle spielen. Mit weiterer Verzögerung des Zeitplans
werden wir Entwicklungen wie in Polen auch in anderen
Ländern Ost- und Mitteleuropas provozieren. Herr Au-
ßenminister, es kommt darauf an, dass die Bundesregie-
rung jenseits von Agrardiskussionen Druck macht, damit
die Polen, Tschechen und Ungarn sehen, dass Kapitel ab-
geschlossen werden und dass sich ein realistischer Fahr-
plan ergibt, der die Reformer in den osteuropäischen Län-
dern unterstützt, damit sie sich gegenüber den europä-
ischen Verhinderern von links und rechts in Osteuropa
durchsetzen können.

Meine Damen und Herren, wir brauchen Perspekti-
ven. Wer vor Migration und zu vielen Zuwanderern
warnt, muss auch die umgekehrte Frage beantworten:
Wann können die Osteuropäer damit rechnen, dass sie
Bürger der Europäischen Union werden? Ein Verschieben
führt eher zum Gegenteil, deshalb sage ich: Wir erwarten
unter französischer Präsidentschaft im Bereich der ent-
scheidenden Kapitel deutliche Fortschritte und wir erwar-
ten zum Ende dieses Jahres auch erste Hinweise darauf,
wann die ersten Beitrittskandidaten – immer abhängig
vom Reformfortschritt in diesen Ländern in einem mittel-
fristigen Zeitraum – Mitglieder der Europäischen Union
werden.




Vizepräsident Rudolf Seiters
10124


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben gestern im Europaausschuss gehört, dass die
ersten Mittel für die Kommunikationsstrategie für die
Osterweiterung erst im Jahre 2004 fließen. So wird – so
viel ist uns klar – die Europäische Union und mit ihr die
Bundesregierung ihr Versprechen gegenüber Osteuropa,
pünktlich zu erweitern, nicht halten können.

Ein Wort zur deutsch-französischen Beziehung. Es ist
bereits von Herrn Merz erwähnt worden: Der französi-
sche Verteidigungsminister Richard hat erklärt, Großbri-
tannien sei inzwischen der interessantere Partner. Wir ha-
ben erlebt, dass Herr Zöpel zunächst in „Le Monde“ an-
gekündigt hat, es komme zu einer deutsch-französischen
Initiative und bei der Stimmgewichtung zu einer Ent-
scheidung zugunsten Deutschlands. Wir haben inzwi-
schen feststellen müssen, dass Herr Moscovici dementiert
hat. Ich glaube, das ist kein idealer Auftakt für die fran-
zösische Präsidentschaft. Ich kann nur noch einmal darum
bitten, beim deutsch-französischen Gipfel klarzumachen,
welche gemeinsame Haltung Deutschland und Frankreich
einnehmen.

Der letzte Punkt ist die Entwicklung der europä-
ischen Währung. Ich will als erklärter Verteidiger und
Förderer einer europäischen Währung sehr offen sagen:
Diese ist nicht nur aus währungspolitischen Gründen ein
eminent wichtiges Symbol für die Einigkeit der Europäer.
Ich freue mich über jedes Zehntel, das der Euro gegenüber
dem Dollar gewinnt. Aber das Nahziel, die Parität von
Dollar und Euro, ist bei weitem nicht erreicht.

Ich kann nur noch einmal vor dem süßen Gift einer ge-
duldeten Weichwährung warnen. Eine Weichwährung
täuscht eine falsche, nicht vorhandene Wettbewerbsfähig-
keit vor. Sie provoziert weitere Zinserhöhungen und da-
mit Nachteile für Rentner, Sparer und den Mittelstand,
weil Zinserhöhungen zwangsläufig wiederum zu Preiser-
höhungen und Inflation führen.

Insofern wäre es ein wichtiger Beitrag der Bundesre-
gierung, die geplante nächste Stufe der Ökosteuer abzu-
sagen, denn der Benzinpreis wird zum Inflationstreiber.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Jetzt kommt es!)


Meine Damen und Herren, nachdem die Grünen – wie
sich jetzt in Nordrhein-Westfalen zeigt – im Grunde über-
haupt nichts mehr bewegen, können Sie nun auf den zwei-
ten Schritt der Ökosteuer getrost verzichten. Es erwartet
sowieso niemand mehr, dass sich die Grünen bei irgend-
einem Gesichtspunkt durchsetzen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Herr Möllemann bleibt Opposition!)


Trotzdem: Die Euroschwäche ist und bleibt die Quit-
tung der Märkte für unterlassene Strukturreformen. Ich
kann nur sagen: Wenn Herr Riester nicht bald zu einer
wirklichen Reform im Bereich der Renten- und Alterssi-
cherung kommt, wird dies dazu führen, dass die europä-
ische Leitwährung schwach bleibt. Die Märkte beobach-

ten sehr genau, ob die Euroländer im Kernbereich re-
formfähig sind.


(Günter Gloser [SPD]: Weil sie ihn ständig schlechter reden, als er tatsächlich ist!)


Am Ende hoffe und wünsche ich – das gilt auch für
meine Fraktion –, dass die Bundesregierung in der Lage
ist, bei der Regierungskonferenz für einen substanziellen
Einstieg in Mehrheitsentscheidungen in Europa zu sor-
gen, um damit den Weg für eine pünktliche Osterweite-
rung frei zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410804900
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Christian
Sterzing.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
ben gestern und auch heute Morgen noch gerätselt, warum
eigentlich Herr Stoiber nicht wie angekündigt in dieser
Debatte auftritt. Aber ich glaube, nach der Eröffnungsrede
in dieser Debatte wissen wir alle, warum: Diese Reden
werden jetzt von dem Kollegen Merz gehalten. Insofern
vermissen wir Herrn Stoiber hier auch gar nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Inwieweit diese Rede als ein Signal für die Entschei-
dung in dem europapolitischen Streit, den es in der
CDU/CSU gibt, zu werten ist, kann jeder für sich ent-
scheiden. Der saarländische Ministerpräsident hat noch in
dieser Woche verlauten lassen, dass dies zu den zentralen
Fragen gehört, die innerhalb der CDU/CSU geklärt wer-
den müssen. Er hat zwischen den „Hurra-Europäern“ und
den „Ja-aber-Europäern“ unterschieden. Ich denke, mit
der Rede von Herrn Merz haben wir nun eine neue Kate-
gorie von Europäern kennen gelernt – gestern wurde es
schon einmal gesagt –, nämlich die „Hauruck-Europäer“,
die alles jetzt lösen wollen.


(Uwe Hiksch [PDS]: Anti-Europäer!)

Sie trauen dieser Regierung sehr viel zu. Sie soll im

Rahmen dieser Regierungskonferenz bis zum Ende des
Jahres eine ganze Reihe von grundlegenden Problemen
lösen,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Kommen Sie einmal zur Sache!)


zu deren Lösung Sie offensichtlich in den letzten Jahren
nichts beigetragen haben. Wir nehmen dies gelassen. Uns
ehrt dieses Vertrauen. Wir werden Ihnen in den nächsten
Monaten zeigen, dass wir mit dieser Regierung auch eu-
ropapolitisch einiges auf den Weg bringen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)





Prof. Dr. Helmut Haussmann

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Wir stehen vor dem Gipfel in Feira. Sicher ist ein sol-
cher Gipfel in einer längeren Reihe von Regierungskon-
ferenzen immer eine Gelegenheit, Zwischenbilanz zu zie-
hen. Ich denke, wir sind uns alle einig: Diese Zwi-
schenbilanz wird ernüchternd ausfallen. Es wird davon
gesprochen, dass die portugiesische Präsidentschaft eine
fotografische Wiedergabe der Ergebnisse vorlegen wird,
und es ist zu erwarten, dass sich dies alles im Kleinbild-
format bewegen wird. Die Regierungskonferenz ist zäh-
flüssig. In vielen Punkten sind wir über das, was in Ams-
terdam erarbeitet wurde, noch nicht hinausgekommen.

Das ist kein Vorwurf an die Beteiligten. Vieles braucht
seine Zeit. Es sollte – dies sei am Rande auch noch einmal
sehr deutlich gesagt – für uns ein weiterer Anlass sein,
über diese Form von Regierungskonferenzen, über diese
Form von Vertragsentwicklung innerhalb der Europä-
ischen Union nachzudenken und sich über neue, alterna-
tive Möglichkeiten Gedanken zu machen.

Die Franzosen bereiten ihre Präsidentschaft vor. Es ist
deutlich geworden, dass die deutsche Bundesregierung al-
les tut, um die Franzosen dabei zu unterstützen und zu ge-
meinsamen Positionen zu kommen. Ich glaube, hier be-
wegt sich einiges in die richtige Richtung. Wir hoffen
natürlich alle, dass bald Ergebnisse zu sehen sein werden.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Festzuhalten scheint mir gerade auch aufgrund der De-

batten, die wir im Europaausschuss in den letzten Wochen
und Monaten geführt haben, dass wir in zentralen Punk-
ten der Regierungskonferenz übereinstimmen und dass
gerade im Hinblick auf die so genannten `leftovers` von
Amsterdam eine weitgehende Einigkeit besteht. Glückli-
cherweise wird im Ausschuss anders gesprochen und dis-
kutiert als hier im Plenum.

Aber wir müssen natürlich auch die Unterschiede se-
hen. Sie scheinen mir besonders in den Punkten zu beste-
hen, die nicht auf der Tagesordnung der Regierungskon-
ferenz stehen. Ich nenne das Stichwort „Kompetenzab-
grenzung“ und das Stichwort „Daseinsvorsorge“. Wir
müssen dringend davor warnen, die Kompetenzregelung
zum entscheidenden Kriterium für die Zustimmung zum
Vertrag von Nizza zu machen.

Wir sind uns sicherlich in der Problemanalyse alle sehr
einig. Es bedarf tendenziell einer Klärung der Kompeten-
zen, es bedarf einer Neuvermessung von Zuständigkeiten
auf den verschiedenen Ebenen zwischen Europa, Natio-
nalstaat, Ländern, Regionen und Kommunen.

Meiner Auffassung nach ist das Problem vollkommen
klar, aber wir müssen deutlich sagen,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Na, dann sagen Sie es doch!)


dass Brüssel zurzeit nicht unbedingt zu viele Kompeten-
zen hat,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was?)

sondern in vielen Fällen die falschen Kompetenzen hat.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Darüber müssen wir reden. Wenn wir bereit sind, diffe-
renziert darüber zu reden, dann kann man auch unter Be-
weis stellen, dass es einem bei der Kompetenzfrage nicht
darum geht, antieuropäische Ressentiments zu wecken,
sondern dass es um das Problem geht, mit der Kompe-
tenzabgrenzung Fragen der Demokratisierung, der Bür-
gernähe und damit auch der Akzeptanz dieses Inte-
grationsprozesses zu verbinden; denn das sind die zentra-
len Fragen, die damit im Zusammenhang stehen.

Aber wie lösen wir das Problem? Lösen wir das Pro-
blem, indem wir immer lauter, immer drohender rufen,
dass es jetzt gelöst werden muss? Ich glaube, wer ehrlich
ist und sich in den letzten Jahren ein wenig mit Regie-
rungskonferenzen beschäftigt hat, dem ist schon deutlich:
Mit einem Big Bang werden wir das Kompetenzproblem
auf dieser Regierungskonferenz nicht lösen können. Wir
haben in den letzten Jahren erlebt – das müssten gerade
Sie aus Ihrer Regierungszeit noch wissen –, wie schwie-
rig es war, sich über Maastricht, über das Protokoll im
Amsterdamer Vertrag dem Prinzip der Subsidiarität zu
nähern.

Die Lösung eines solchen komplexen Problemes
braucht Zeit. Wir sollten uns sehr klar darüber sein, dass
es sich nicht nur um ein vertragstechnisches Problem han-
delt, um die Abgrenzung verschiedener Entscheidungse-
benen, sondern dass es hier um sehr grundlegende Fragen
geht, nämlich darum, welches Bild von Europa sich da-
hinter verbirgt. Ich glaube, die Rede von Außenminister
Fischer am 12. Mai hat dies deutlich gemacht. Wir müs-
sen uns zunächst einmal Rechenschaft über diese Frage
ablegen, um uns dann im Einzelnen sachgemäß über die
Kompetenzfrage unterhalten zu können. Welches Verhält-
nis soll zwischen der EU und den Nationalstaaten und
welches Verhältnis soll zwischen den verschiedenen Ent-
scheidungsebenen bestehen? Es ist Zeit, darüber zu dis-
kutieren, es ist aber noch nicht die Zeit gekommen, um im
Rahmen einer verfassungsähnlichen Regelung in Ver-
tragsform eine Kompetenzabgrenzung vorzunehmen.

In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Aspekt
genannt werden: Die Integration ist seit Jahrzehnten ein
dynamischer Prozess, der gerade davon lebt – „Methode
Monnet“ –, dass Kompetenzen im Einzelnen nicht geklärt
sind. Insofern müssen wir uns darüber im Klaren sein,
dass eine Festschreibung der Kompetenzen diesem Pro-
zess die Dynamik nehmen würde. Deshalb muss sich je-
der, der diesen Kompetenzkatalog hier und heute fordert,
mit dem Vorwurf auseinander setzen, gerade diese Idee ei-
nes Kompetenzkataloges wolle einen bestimmten Inte-
grationszustand festschreiben und weitere Entwicklungen
unmöglich machen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie auf, den Fischer zu kritisieren! Der gehört doch zu Ihrer Partei!)


– Hier ist die Frage des Zeitpunktes wesentlich. Insofern
kritisiere ich nicht, dass über das Problem der Kompetenz
gestritten werden muss. Die Frage ist vielmehr, wann wir
eine solche Regelung in die Verträge aufnehmen.

Ich darf daran erinnern, dass dieser Kompetenzkatalog
auch eine sehr deutsche Vorstellung ist. Kompetenzrege-




Christian Sterzing
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lungen und Kompetenzsystematiken, so wie wir sie vom
Grundgesetz her kennen, lassen sich nicht einfach auf die
europäische Ebene übertragen. Wir müssen auch ein we-
nig selbstkritisch mit dem umgehen, was wir in den letz-
ten Jahrzehnten an Entwicklungen und Diskussionen über
das föderale System der Bundesrepublik Deutschland er-
lebt haben. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
vehemente Ruf vieler Ministerpräsidenten nach einer
Kompetenzregelung auf europäischer Ebene eine Über-
kompensation der Unzufriedenheit mit dem ist, was sich
auf nationaler Ebene in den letzten Jahren entwickelt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gerade die Länder erleben Kompetenzübertragun-
gen immer auch als einen Verlust von Handlungsfähigkeit
und politischer Gestaltungsmöglichkeit. Hier lohnt es
sich, einmal den Blick über die Grenzen hinweg auf an-
dere Länder zu richten. Im Zeitalter von Globalisierung
sind Handlungsspielräume in der Realität eingeschränkt
worden. Der Nationalstaat kann viele Probleme nicht
mehr lösen. Insofern – das gilt gerade für kleinere Länder
in der EU – ist eine Kompetenzübertragung nach Brüssel
eine Chance, neue Gestaltungsräume und neue Hand-
lungsmöglichkeiten, zumindest im Verbund mit anderen,
zurückzugewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb müssen wir dieses Verständnis für den Dis-

kussionsprozess über die Kompetenzfragen auch hin-
sichtlich der anderen Länder aufbringen und dürfen nicht
nach dem Motto „Am deutschen Wesen muss die EU-
Kompetenzregelung genesen“ deutsche Vorstellungen
vorantreiben. Die Zeit ist dafür noch nicht reif, aber wir
sind auf einem guten Weg.


(Beifall des Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD])

Das Problemverständnis ist vorhanden und wir sind uns
weitgehend einig. Das Ergebnis des Besuches einiger Mi-
nisterpräsidenten beim Kommissionspräsidenten in Brüs-
sel hat bewiesen, dass auch die Kommission das Problem
sieht. Es tun sich durchaus Wege auf, dieses Problem ziel-
führend in den Griff zu bekommen, ohne der Illusion zu
erliegen, man könne dies alles in Kürze regeln.

Am Ende dieses Jahres, wenn es zu einem Vertrag von
Nizza kommt, werden Sie sich, meine Damen und Herren
von der Opposition, mit der Frage auseinander zu setzen
haben, ob Sie tatsächlich diesen Integrationsprozess auf-
grund der Egoismen von Ministerpräsidenten stoppen
wollen. Und Sie werden sich ganz besonders der Frage
stellen müssen, ob Sie auch den Erweiterungsprozess zum
Stoppen oder gar Scheitern bringen wollen, indem Sie die
Frage der Kompetenzabgrenzung zum alleinigen Kri-
terium für die Zustimmung zum Vertrag von Nizza erhe-
ben.

Was die Regierungskonferenz angeht, ist es fairer, ei-
nen Zwischenschritt zu machen. Zu diesem Zeitpunkt
wollten wir natürlich viel weiter sein. Das heißt, dass für
die französische Präsidentschaft sehr viel zu tun bleibt
und ein gutes Stück Arbeit vor ihr steht. Von deutscher

Seite können wir ganz klar sagen: Die französische Re-
gierung hat diesbezüglich unsere Unterstützung. Wir ha-
ben in den letzten Wochen und Monaten deutlich ge-
macht, dass sich die Kontakte auf den unterschiedlichsten
Ebenen zwischen Frankreich und Deutschland erheblich
verdichtet haben. Am Wochenende steht ein erneutes
Treffen bevor. Das sollte als unübersehbares Zeichen der
deutsch-französischen Zusammenarbeit im Rahmen der
europäischen Integration im Allgemeinen und der Regie-
rungskonferenz im Besonderen wahrgenommen werden.
Insofern, Herr Kollege Merz: Die Bundesregierung steht
nicht am Rande der europäischen Entwicklung, sondern
sie steht im Zentrum dieses Integrationsprozesses.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805100
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage bzw. Nachfrage der Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger? – Nein.

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Hiksch.


Uwe Hiksch (PDS):
Rede ID: ID1410805200
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Mit der Regierungskonferenz ste-
hen wir vor wichtigen Entscheidungen im Rahmen der
Weiterentwicklung der Europäischen Union. Ich bin mir
nicht ganz sicher, ob der Kollege Merz in seiner Rede aus
Unwissenheit oder aus Fahrlässigkeit diese Regierungs-
konferenz infrage gestellt hat oder das Scheitern der Re-
gierungskonferenz bewusst in Kauf nimmt, um antieu-
ropäische Ressentiments voranzubringen, damit die Er-
weiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittel-
und Osteuropas scheitert. Herr Kollege Merz, für das, was
Sie gesagt haben und was sich als neue Politik eines Teils
der CDU/CSU anscheinend durchsetzt, sollten Sie sich
schämen. Das stellt die Europapolitik der CDU/CSU der
letzten 20 Jahre infrage.

Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, sagen wir deut-
lich: Die Auseinandersetzung um eine gute Europapolitik,
um eine Weiterentwicklung der Europapolitik ist für die
PDS eine Kritik an dem, was die Regierung derzeit auf
europäischer Ebene umzusetzen versucht. Es muss vor al-
len Dingen gelingen, eine schrittweise Weiterentwicklung
der Europäischen Union und eine schrittweise Integra-
tion auf europäischer Ebene, eine Vertiefung der europä-
ischen Politik und vor allen Dingen die Erweiterungs-
fähigkeit der Europäischen Union umzusetzen. Alle Ver-
suche, diese Form der europäischen Entwicklung mit
einem kurzfristigen Stimmenfang aufzuhalten, werden
mittelfristig eine Sünde an der europäischen Entwicklung
sein.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb sagt die PDS, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen, dass wir im Rahmen der Regierungskonferenz errei-
chen wollen, dass darüber diskutiert wird, dass Europa in
das Zentrum der politischen Entscheidungen – weg von
der Kommission und weg von den Räten, wieder mehr
in das Europäische Parlament – verlagert werden
muss. Wir müssen gemeinsam dafür eintreten und dafür




Christian Sterzing

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kämpfen, dass das Europäische Parlament in allen Poli-
tikbereichen Mitentscheidungsrechte bekommt.


(Beifall bei der PDS)

Wir werden uns dafür einsetzen, dass im Rahmen der

Regierungskonferenz auch darüber geredet wird, dass
Menschen Europa nur zustimmen, wenn europäische Pro-
zesse transparenter, demokratischer werden und die Men-
schen eine Chance haben, europäische Entscheidungspro-
zesse nachzuvollziehen. Die PDS fordert seit vielen Jah-
ren, die Sitzungen der Räte öffentlich zu machen und
Protokolle über unterschiedliche Positionen zu veröf-
fentlichen, um eine demokratische Diskussion auf euro-
päischer Ebene zu ermöglichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir denn?
Wir stehen vor dem Problem, dass es innerhalb der Euro-
päischen Union gelingen muss, den internationalisierten
Kapital- und Finanzmärkten eine demokratische, eine zi-
vilgesellschaftliche Struktur entgegenzusetzen. Demo-
kratisch gewählte Parlamente müssen wieder die Mög-
lichkeit haben, Politik zu gestalten. Wir müssen unseren
Beitrag dazu leisten, dass das Primat der Politik wieder im
Mittelpunkt der Politik steht und dass dieses Primat wie-
der durchgesetzt werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Deshalb, Kollege Müller, hält die PDS-Bundestags-

fraktion Ihren Vorschlag für richtig und wichtig, nämlich
dafür einzutreten, dass der Deutsche Bundestag und die
Parlamente nicht nur ein empfehlendes Votum abgeben
können, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland weiterentwickelt wird, dass der Parlamenta-
rismus gestärkt wird und dass der Deutsche Bundestag die
Vertreter der Bundesregierung durch entsprechende Be-
schlüsse verpflichten kann, unsere Positionen, also die ge-
wählter Vertreterinnen und Vertreter, auf europäischer
Ebene zu repräsentieren. Wenn die bayerische CSU mit
dieser Forderung alleine dastehen sollte, dann kann ich Ih-
nen versichern, dass die PDS gerne bereit sein wird, die
bayerische CSU in diesem Ansinnen zu unterstützen. Wir
werden dann gemeinsam mit Ihnen von der CSU dafür
kämpfen, dass der Parlamentarismus im Rahmen europä-
ischer Debatten wieder gestärkt wird.

Für uns ist die Klärung der Frage der ` leftovers` zu we-
nig. Natürlich muss im Rahmen der Regierungskonferenz
über die Frage geredet werden, wie eine erweiterte Euro-
päische Union in der Lage sein kann, weiterhin Politik zu
gestalten. Deshalb ist die PDS der Überzeugung, dass der
Erhalt einer arbeitsfähigen Europäischen Kommission,
für deren Mitgliederzahl eine Höchstgrenze gelten muss,
wichtiger ist als die Forderung, dass jedes Land mit einem
eigenen Kommissar vertreten ist. Deshalb wird sich die
PDS dafür einsetzen, dass die Stimmengewichtung im
Europäischen Rat so weiterentwickelt wird, dass sich de-
mokratische Strukturen in der Europäischen Union mehr
als bisher abbilden. Das bedeutet für uns, dass Mehrheit-
sentscheidungen grundsätzlich möglich sein müssen und
dass das Prinzip der Einstimmigkeit auf wenige Bereiche
beschränkt wird. Wir werden uns vor allem für eine dop-
pelte qualitative Mehrheit, die sowohl die Mehrheit der
Länder als auch die Mehrheit der Einwohner der Europä-

ischen Union verlangt, als Grundlage für Entscheidungen
im Rahmen der europäischen, demokratischen Entwick-
lung einsetzen.

Die PDS-Bundestagsfraktion unterstützt auch die Be-
strebungen, die Zahl der Mitglieder des Europäischen
Parlaments auf 700 zu begrenzen, die Vorstellung, dass je-
des Land mit mindestens vier Mitgliedern im Europä-
ischen Parlament vertreten sein sollte, und die Forderung,
dass der Rest der Sitze nach der Einwohnerzahl, also nach
dem Motto „One man, one vote“, vergeben wird. Das
sollte die Grundlage der Politik werden.


(Zurufe von der SPD: One woman, one vote!)

Die bevorstehende Regierungskonferenz muss sich

aber unter anderem auch der Auseinandersetzung darüber
stellen, wie es gelingen kann, das europäische Modell
mehr als bisher in den Köpfen und in den Herzen der Men-
schen zu verankern. Deshalb halten wir es für richtig und
wichtig, über die Anregungen des Bundesrates zu disku-
tieren, wie die Belange der öffentlichen Daseinsvorsorge
bezüglich der universalen Dienstleistungen im Bereich
der Gesundheit, der Energie sowie des Wassers und des
Abwassers sichergestellt werden können und wie die
Entwicklungen bei den nationalen Wohlfahrtsverbänden
auch auf europäischer Ebene umgesetzt werden können.
Die öffentliche Daseinsvorsorge darf in der Europäischen
Union nicht immer mehr ökonomisiert werden. Wir wol-
len ein Recht auf Daseinsvorsorge in der Europäischen
Union und den Erhalt der Wohlfahrtsverbände bundes-
deutscher Prägung durchsetzen.

Fundamentalopposition in der europäischen Politik
führt nicht weiter. Ich kann die CDU nur bitten, an den
Tisch zurückzukehren und darüber zu diskutieren, wie wir
die Europäische Union weiterentwickeln können, und
nicht dazu beizutragen, dass nationalistische und Europa
ablehnende Töne wieder zur Tagesordnung in der Bun-
desrepublik gehören. Das hat Ihre Tradition eigentlich
nicht verdient.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805300
Das Wort hat
jetzt der Kollege Michael Roth.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1410805400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen wahrlich
vor großen Aufgaben. Angesichts dieser Tatsache sind wir
von der Rede des Kollegen Merz – das muss ich sagen –
ein wenig enttäuscht. Was da eben an Wegweisendem zur
Zukunft der Europäischen Union gesagt wurde, das hat
wirklich niemanden vom Stuhl gerissen.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppositions-
fraktion, klären Sie demnächst einmal Ihre Linie, was das
Verhältnis zwischen CDU und CSU angeht. Vielleicht
kommt dann etwas Wegweisenderes zustande.

Ich will auf die große Herausforderung der Regie-
rungskonferenz eingehen. Manchmal habe ich das Ge-




Uwe Hiksch
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fühl, dass wir uns überhaupt nicht darüber im Klaren sind,
welche schwierigen Probleme dort bewältigt werden
müssen. Das will ich an einem einzigen Beispiel verdeut-
lichen: Wenn es uns nicht gelingt, die qualifizierte Mehr-
heit zu einer grundsätzlichen Abstimmungsregelung im
Rat werden zu lassen, dann werden wir die Handlungs-
fähigkeit der Europäischen Union auch im Hinblick auf
die Erweiterung – das ist die wesentliche Aufgabe – nicht
vorantreiben können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ehrlich gesagt, ich bin etwas darüber überrascht, dass

der Aufschrei der Empörung bei vielen Lobbygruppen
nicht größer ist. Wir haben von der Bundesregierung er-
fahren, dass es seitens der Ressorts das eine oder andere
gibt, bei dem man nicht unbedingt zur Mehrheitsent-
scheidung finden sollte. Bei uns haben schon einige In-
teressengruppen angeklopft und darauf hingewiesen, dass
man die Mehrheitsentscheidung vielleicht hier oder da
nicht einführen sollte.

Ich unterstütze die Bundesregierung ausdrücklich in
dem Bestreben, an dem Grundsatz festzuhalten, Mehr-
heitsentscheidungen einzuführen, auch wenn wir in den
kommenden Wochen und Monaten darüber vielleicht die
eine oder andere Kontroverse führen können. Umso wich-
tiger ist es aber, dass der Bundestag einen breiten Konsens
zwischen den Fraktionen und den unterschiedlichen ge-
sellschaftlichen Gruppierungen erzielt; denn sonst wer-
den wir die große Aufgabe der Einführung von Mehrheits-
entscheidungen nicht – jedenfalls nicht erfolgreich –
schultern können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die SPD-Fraktion ist mit dem Stand der Regie-

rungskonferenz nicht besonders zufrieden. Das muss ich
nicht betonen. Das liegt meines Erachtens – der Kollege
Sterzing hat schon darauf hingewiesen – auch am Instru-
mentarium der Regierungskonferenz selbst.

Gegenwärtig berät der Konvent über eine Grund-
rechtscharta. Vielleicht gelingt es uns auch vor dem Hin-
tergrund der positiven Verhandlungsführung unter Roman
Herzog, zukünftig den verfassunggebenden Prozess in der
Europäischen Union stärker zu parlamentarisieren und
von dem originären Instrumentarium der Regierungs-
konferenzen wegzukommen.


(Beifall bei der SPD)

Wir hasten von einer Regierungskonferenz zur nächs-

ten. Es wird immer schwieriger, je mehr Mitglieder die
Europäische Union bekommt. Wir wissen alle, dass wir
mit dieser Regierungskonferenz nicht alles Notwendige
zu bewerkstelligen vermögen. Das finde ich gar nicht so
schlecht, wenn ich an die ungarischen, die tschechischen
oder die polnischen Freunde und auch an andere denke.
Ich bin sehr optimistisch, dass wir mit diesen mittelosteu-
ropäischen Staaten nicht unbedingt zu einer Verlangsa-
mung, sondern zu einer Verstetigung und vielleicht auch
zu einer Beschleunigung der einen oder anderen politisch
umstrittenen Frage kommen werden.

Ich wünsche mir eine Parlamentarisierung dieses
verfassunggebenden Prozesses. Darüber haben wir ges-

tern im Europaausschuss eine Debatte geführt. Dabei hat,
wenn ich es richtig verstanden habe, der Herr Kollege
Ausschussvorsitzende den Kollegen Müller von der CSU
in den Senkel gestellt.


(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])

– Zumindest habe ich das so verstanden; Sie können es ja
geraderücken. – Sie, Herr Müller, haben sich sehr negativ
über die Arbeit des Europaausschusses geäußert. Unser
Europaausschuss hat es schon geschafft, bei den europa-
politischen Maßnahmen der Regierung – Europapolitik
ist ja stark exekutivlastig – nicht nur Kontrolle auszuüben,
sondern zu einer guten und vertrauensvollen Arbeits-
grundlage zu finden. Wir wollen, dass das so weitergeht.
Wir können uns aber auch vorstellen, den Bundestag und
alle Parlamente in der Europäischen Union gemeinsam
mit dem Europäischen Parlament stärker in die grundsätz-
lichen Fragen einzubinden.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe damit gerechnet, dass der Oppositionsführer

eine große, eine wegweisende Rede halten wird. Sie ist
nicht gekommen; deswegen sollten Sie sich mit diversen
Drohungen in Richtung Abstimmung über die Ergebnisse
der Regierungskonferenz zurückhalten; denn es gibt zu
den Fragen, die Sie zu Recht aufwerfen, bei der Kompe-
tenzabgrenzung und auch bei der sozialen Daseinsvor-
sorge meines Erachtens einen weitgehenden Konsens im
Hause.

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen von der SPD-
Fraktion waren oder sind in kommunalpolitischer Ver-
antwortung. Wir wissen sehr wohl, wie wichtig es ist,
bestimmte Aufgaben nicht unter reinen Wettbewerbsge-
sichtspunkten zu betrachten, auch bei der Daseinsvor-
sorge nicht; das ist uns klar. Das gilt für den sozialen, den
gesundheitlichen, aber auch den kulturellen Sektor. Des-
wegen haben natürlich auch wir ein Interesse daran, nicht
alles marktkonform zu regeln und nicht überall nur den
Wettbewerb zu fördern, sondern vielleicht auch einige Po-
litikfelder vorzuhalten, in denen man auf die lokalen Ebe-
nen, aber auch auf die regionalen Ebenen stärker Rück-
sicht nimmt. Das ist, glaube ich, hier auch Konsens.


(Beifall bei der SPD)

Ich will noch auf einen Aspekt eingehen und – gerade

in Anwesenheit von Herrn Außenminister Martonyi – sa-
gen: Der Erweiterungsprozess ist für uns in den kom-
menden Jahren die zentrale Herausforderung! Aber,
meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müs-
sen schon einmal klären, was Sie denn eigentlich wollen.
Wir haben erklärt, dass das Prinzip der Sorgfalt vor das
Prinzip der Schnelligkeit geht, dass wir nur dann einen er-
folgreichen Erweiterungsprozess gestalten können, wenn
wir in Verhandlungen mit den mittelosteuropäischen Staa-
ten all das sorgfältig regeln, was geregelt werden muss;
denn nur so können wir die Ängste der Bürgerinnen und
Bürger abbauen.

Sie müssen schon sagen: Wollen Sie hetzen, wollen Sie
Propaganda machen oder wollen Sie aufklären und über
den Erweiterungsprozess informieren? Wir haben uns
dafür entschieden zu informieren, aufzuklären und nicht




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zu hetzen oder mit irgendwelchen Klischees und Vorur-
teilen durch dieses Land zu rennen und damit zur Verun-
sicherung sowohl bei den mittelosteuropäischen Beitritts-
kandidaten als auch bei unserer Bevölkerung beizutragen.
Denn wir brauchen die Zustimmung für die Erweiterung
auch hier bei uns in der Bundesrepublik; das ist ganz klar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will auch nicht versäumen, meine ganz persönli-
chen Eindrücke zu schildern, die ich von Reisen in die
Beitrittsländer habe. Ich war kürzlich in Ungarn.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Da habe ich mit Vertretern sowohl der Opposition als auch
mit Vertretern der Regierung und der Regierungsfraktio-
nen gesprochen.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Der innenpolitische Zustand in Ungarn ist meines Er-
achtens teilweise besorgniserregend. Einige Punkte, die
zum Wesensgehalt der Europäischen Union gehören –
Schutz von Minderheiten, Bereitschaft zur Kooperation
auch im Parlament zwischen politischer Mehrheit und po-
litischer Minderheit –, müssen berücksichtigt werden.
Das läuft im Augenblick noch nicht so gut.

Die Erweiterung ist natürlich auch kein einseitiger Pro-
zess, sondern eine Herausforderung, die sowohl in den
Beitrittskandidatenländern als auch bei uns gestaltet wer-
den muss. Ich habe die Hoffnung, dass durch die Ent-
scheidung der 14 EU-Mitgliedstaaten gegenüber Öster-
reich ein ganz klares Signal ausgesendet worden ist. Das
Signal geht nicht nur in die Reihen der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und ist nicht nur eine Versicherung
dessen, was der Wertekonsens in der Europäischen Union
ist. Das Signal geht auch an alle die Staaten, die so schnell
wie nur irgend möglich Mitglied der Europäischen Union
werden wollen.

Unser Wertekanon beruht auf Freiheits- und Grund-
rechten, auf dem Schutz von Minderheiten, auf Vielfalt,
auf Demokratie. Das muss überall verstanden werden,
nicht nur in der EU, sondern auch bei den Beitrittskandi-
daten.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte zu dem Kollegen Haussmann, der Kritik an
dem Tempo der Erweiterung geübt hat, sagen: Diese Kri-
tik teile ich nicht; denn die Kapitel sind eröffnet worden.
Wir haben jetzt einige schwierige Aufgaben vor uns.
Wenn ich daran denke, in welch schwieriger Lage sich Po-
len befindet – das ist leider so; die Regierung ist zurzeit
nur bedingt handlungsfähig –, dann, meine ich, sollten wir
eher dafür sorgen, dass wir hier ein gutes Beispiel liefern,
als dass wir ständig den Erweiterungsprozess und auch
die Arbeit der Europäischen Kommission in Misskredit
bringen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ist das die Forderung nach Neuwahlen?)


Die heutige Debatte ist nicht so spannend geworden,
wie ich mir das gewünscht hätte.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie soll es spannend sein, wenn Sie eine solche Rede halten? – Zuruf von der CDU/CSU: Der Merz war schon spannend!)


– Ich fand den Merz nicht so spannend.

(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Dafür waren Sie überragend!)

Zumindest ist deutlich geworden, dass Sie noch ein

bisschen diskutieren und ein bisschen Klarheit in den ei-
genen Reihen herbeiführen müssen, bevor Sie Ihren Op-
positionsführer hierhin schicken; vielleicht kann er dann
einmal ein paar klare zukunftsweisende Worte an das ge-
samte Haus richten.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte wenigstens

dieses Signal geben. Der Deutsche Bundestag begleitet
diese Regierungskonferenz weiterhin konstruktiv. Von
uns wird das, was von Außenminister Fischer, egal in wel-
cher Funktion,


(Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Als Privatmann, darauf bestand er!)


in seinen Grundsatzreden zur Weiterentwicklung der Eu-
ropäischen Union zum Ausdruck gebracht wurde, positiv
begleitet. Der verfassungsgebende Prozess innerhalb
der Europäischen Union kann nur dann erfolgreich sein,
wenn wir auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger
mitnehmen, aber auf der anderen Seite auch zu einem
weitgehenden europapolitischen Konsens in unserem Par-
lament finden. Das ist die Voraussetzung für einen Erfolg.
Ich bitte Sie herzlich darum.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805500
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1410805600
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns alle ei-
nig: Die politische und wirtschaftliche Einigung Europas
ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts
überhaupt und ist untrennbar mit der Politik von CDU und
CSU verbunden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wissen auch, dass die Osterweiterung im urei-

gensten deutschen Interesse liegt. Wir wollen, dass sie ge-
lingt. Wir wissen auch, dass wir wirtschaftlich kurz- und
längerfristig davon profitieren. Schon jetzt entspricht der
deutsche Außenhandel mit unseren Nachbarn in Osteu-
ropa dem Außenhandel mit den USA. Wir wissen aber
auch, dass, wenn Europa gelingen soll, die Dinge sehr
gründlich vorbereitet sein müssen und ein langer Atem
nötig ist. Man muss auch, Herr Bundeskanzler, wissen,
wo man landet. Man kann nicht eine solche Reise wie




Michael Roth (Heringen)

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Christoph Kolumbus machen, bei der man, wenn man
wegfährt, nicht weiß, wo man hinfährt,


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Er hat Amerika entdeckt! – Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Da ging es aber gut! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hat Indien gesucht!)


und, wenn man ankommt, nicht weiß, wo man ist. Ich
weiß schon, Herr Schlauch, dass er Indien gesucht und
Amerika gefunden hat. Er hat es damals mit geborgtem
Geld finanziert. Die Europäische Union wird zu einem
guten Teil von deutschem Geld finanziert. Das muss man
auch einmal klar sagen.

Wo wir schon bei Parallelen sind: Ich möchte nicht,
dass die Ureinwohner so unfreundlich behandelt werden
wie bei Kolumbus. Was gegenwärtig mit Österreich ge-
schieht, ist nicht ganz korrekt. Darauf kommen wir noch
zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jedenfalls sind die Beschlüsse des Europäischen Rates

von Helsinki von dieser Bundesregierung noch vor
kurzem als zukunftsweisend und historisch bezeichnet
worden. Vor der Erweiterung der EU um eine große Zahl
neuer Mitglieder ist aber erst ein Umbau zwingend erfor-
derlich. Diese Einsicht scheint vorhanden, sie ist nur noch
nicht verwirklicht. Zuerst muss entschieden werden, wel-
che Aufgaben eine erweiterte Europäische Union haben
soll und welche Aufgaben besser von den Nationalstaaten,
von den Bundesländern oder von den Städten und Ge-
meinden wahrgenommen werden können.

Deswegen sagen wir: Zuerst müssen die notwendigen
Reformen der europäischen Institutionen in Angriff
genommen werden und es muss für eine saubere Finan-
zierung gesorgt werden. Die Osterweiterung muss damit
auf ein solides finanzielles Fundament gestellt und es
muss eine gerechte Verteilung der Lasten innerhalb der
Europäischen Union vorgenommen werden.


(Günter Gloser [SPD]: Was Sie nie geschafft haben!)


Erst dann kann eine derart umfassende Erweiterung der
EU um neue Mitglieder ohne gravierende Risiken für den
europäischen Integrationsprozess angegangen werden.

Sie zäumen das Pferd ein Stück weit vom Schwanz auf.
Sie haben, ohne die geographischen und kulturellen Gren-
zen Europas zu definieren, einfach die Zahl der Beitritts-
kandidaten verdoppelt und dabei sogar die Türkei aufge-
nommen, ohne dies vorher mit der deutschen Bevölke-
rung oder, wenn man so will, mit dem deutschen Volk zu
diskutieren. Es wurde ja unlängst in diesem Hause über
den Unterschied zwischen Volk und Bevölkerung gestrit-
ten.

Mit dem Europäischen Rat in Feira beginnt die ent-
scheidende Phase der Regierungskonferenz zur inneren
Reform der Union. Vom Erfolg der Konferenz hängt das

Gelingen der Osterweiterung ab. Wir wollen, dass die
Osterweiterung gelingt.


(Günter Gloser [SPD]: Wirklich?)

Wenn das Ratifizierungsverfahren zur nächsten Ost-

erweiterung wie geplant im übernächsten Jahr begonnen
werden soll, dann muss sich die Konferenz mit allen The-
men beschäftigen, nicht nur mit den so genannten „left-
overs“.Allein an diesem Wort sehen wir, wie herzlos wir
mit der Europäischen Union umgehen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig, herzlos!)


Es ist dann kein Wunder, dass die Bürger nicht mitgehen
können. Sie wissen nämlich oftmals überhaupt nicht, was
damit gemeint ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Sie sind herzlos! Das ist das Problem dabei!)


Auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz gehört
vor allen Dingen eine klare Aufgabenverteilung zwi-
schen der EU und den Mitgliedstaaten. Es muss ein Ende
damit haben, dass sich die Staats- und Regierungschefs
auf europäischer Ebene – wie Sie, Herr Bundeskanzler,
das in Lissabon getan haben – vor allen Dingen mit Ziel-
vorgaben beschäftigen, die im Grunde die nationalen Par-
lamente angehen. Sozialpolitik, Bildungspolitik usw., das
gehört nicht nach Europa, das gehört ins nationale Parla-
ment.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es muss auch ein Ende damit haben, dass die Brüsse-
ler Bürokratie wie ein Krake in nahezu alle Lebensberei-
che eingreift.


(Günter Gloser [SPD]: Und die Münchner Bürokratie!)


Vorhin hat der Kollege Friedrich Merz als Beispiel die
FFH-Richtlinie zitiert, die in weiten Teilen eine Art ent-
eignungsgleichen Eingriff in das Eigentum darstellt. Das
halten wir für ungeheuer gefährlich.

Jetzt wird es interessant: Wenn sich darüber jemand be-
schwert – die Leute beschweren sich zu Recht und wer
nahe an der Bevölkerung ist, bekommt das derzeit mit –,
dann geht es ihm wie dem berühmten Buchbinder
Wanninger bei Karl Valentin: Niemand ist dafür zustän-
dig. Er wird weiterverbunden, er wird weitergeschickt.
Geht er zu seinem Landtagsabgeordneten, sagt dieser: Ich
kann nichts dafür, geh zu deinem Bundestagsabgeordne-
ten! Der sagt: Was habe ich damit zu tun? Wir haben doch
den Unsinn nicht beschlossen. Geh zu dem Europakolle-
gen! Der Europakollege muss dann offenbaren, dass er im
Grund ohnmächtig ist, weil das kein volles Parlament mit
allen Kompetenzen ist. Dann bleibt am Schluss ein ge-
waltiges Stück Unzufriedenheit und vor allen Dingen
Nichteinverständnis mit Europa übrig. Und das ist
schlecht für Europa.


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil wir eine Beamtendemokratie haben!)





Michael Glos

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Wir wollen, dass diese Demokratiedefizite beseitigt wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Uwe Küster [SPD]: Der trägt unsere Reden aus der Oppositionszeit vor!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410805700
Wenn sich
die Menschen über Sie und Ihre Politik ärgern – sie tun es
im Moment ganz stark –, weil Ihre Einladung, sich beim
Autofahrer zu bedienen, nicht nur von Herrn Eichel ange-
nommen worden ist,


(Zuruf von der SPD: Tusch! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Die Ökosteuer ist an allem schuld!)


sondern auch von den Ölscheichs, von den Devisenmärk-
ten und was weiß ich von wem – diese Einladung ist an-
gekommen –, nehmen sie es trotzdem ein Stück weit hin,
weil sie sagen: Wir haben die Möglichkeit, diese Regie-
rung das nächste Mal abzuwählen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist in der Demokratie so. Dann wissen die Bürgerin-
nen und Bürger: Die Ökosteuer wird wieder abgeschafft.
Ich bringe dieses Beispiel. Deswegen nehmen sie es zwi-
schendurch hin.


(Günter Gloser [SPD]: Sie haben schon so oft falsche Tatsachen vorgespiegelt!)


Allerdings fragen jetzt die Bürgerinnen und Bürger:
Was und wen sollen wir eigentlich wählen, damit Richt-
linien der Europäischen Gemeinschaft, die wir nicht
gewollt haben, die wir nicht verstehen und von denen alle
Politiker behaupten, sie hätten sie auch nicht gewollt, wie-
der abgeschafft werden?


(Günter Gloser [SPD]: Den Glos nicht!)

Wenn die Bürger nicht das Gefühl haben, diese Dinge
durch Wahlen entscheiden zu können, dann fühlen sie sich
mit dieser Gemeinschaft nicht wohl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist nicht Aufgabe der Europäischen Union, in alle

Lebensbereiche hineinzuregieren. Zum Beispiel gehen
der Katastrophenschutz, die Hundesteuer oder die Frem-
denverkehrspolitik die Brüsseler Bürokraten im Grunde
überhaupt nichts an


(Gernot Erler [SPD]: Sondern die bayerischen Bürokraten!)


und deswegen brauchen wir eine klare Kompetenzab-
grenzung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Uns ist der europäische Gedanke viel zu wichtig, um

sein Ansehen aufs Spiel zu setzen.

(Peter Dreßen [SPD]: Ihr habt das alles zugelassen!)

– Der Zwischenruf war: Ihr habt das alles zugelassen!


(Peter Dreßen [SPD]: Glos verfängt sich in der Warteschleife!)


Natürlich gibt es Defizite, die auch zu der Zeit, in der
CDU und CSU regiert haben, entstanden sind.


(Peter Dreßen [SPD]: Hört! Hört! – Weiterer Zuruf von der SPD: Na also!)


Aber wir haben in dieser Zeit – ich nenne ein Beispiel –
das große europäische Werk Euro auf den Weg gebracht.


(Günter Gloser [SPD]: Mit uns!)

Ich halte es nach wie vor für richtig, dass wir das getan ha-
ben. Das ist ein Integrationsschritt par excellence und das
ist im Grunde die richtige Anwort auf die Herausforde-
rungen des 21. Jahrhunderts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man kann natürlich nicht alles gleichzeitig machen.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Aha! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Wenn wir während der Verwirklichungsphase gleichzeitig
diese europäischen Defizite in den Vordergrund gestellt
hätten, dann wäre es noch schwerer geworden, die Zu-
stimmung der Bevölkerung für eine richtige Sache zu ge-
winnen.

Aber eines war auch ganz sicher: Für uns war klar, dass
nach diesem Integrationsschritt erst einmal die Defizite
abgebaut werden müssen, die entstanden sind, erst dann
kann man den nächsten Schritt machen, wenn man will,
dass Europa akzeptiert wird. Darum geht es uns letztend-
lich.

Wir wollen natürlich, dass unsere osteuropäischen
Nachbarn zu uns kommen. Wir wissen, dass es einen sehr
großen Unterschied gibt zwischen denen, die in der ers-
ten Tranche aufgenommen werden – die wirtschaftlich
stärker sind, wie zum Beispiel unsere ungarischen
Freunde, die auch gewaltige wirtschaftliche Anstrengun-
gen unternommen haben, die auf einem sehr guten Weg
sind und die für uns Deutsche den Stacheldraht aufgeris-
sen haben, damit die Deutschen von Deutschland nach
Deutschland kommen konnten –,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


und denen, die erst später folgen sollen. Eine der großen
Gefahren, die ich sehe, ist, dass in der Diskussion alles
miteinander verknüpft wird: die Länder, die unmittelbar
vor dem Beitritt stehen, und die Erweiterung letztendlich
bis hin zur Türkei. Wenn die Dinge nicht klar auseinander
gehalten werden, dann entsteht Euro-Skepsis und Europa-
Skepsis. Das wollen wir nicht.


(Günter Gloser [SPD]: Die unterstützen Sie doch gerade!)


Ich sage es noch einmal: Die Zustimmung der deut-
schen Bevölkerung zum Beitritt der Länder Polen,
Tschechien, Ungarn, um ein paar Beispiele zu nennen, ist
ungeheuer groß. Ich habe zufällig ein paar Umfragezah-
len dabei: Weit über 50 Prozent sind für den Beitritt Un-
garns, aber wenn man nach dem Beitritt der Türkei fragt,




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sind es nur 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die
dafür sind.


(Gernot Erler [SPD]: Das steht doch gar nicht an!)


– Das steht an. Die haben ein festes Beitrittsversprechen
bekommen. Man hat einen Kotau vor der hohen Pforte ge-
macht, man hat ein Flugzeug geschickt und hat die Nach-
folger des Sultans nach Helsinki eingeflogen.


(Günter Gloser [SPD]: Was soll das denn wieder? Das ist doch so ein Schmarren!)


Damit hat dieser Beitritt für die Leute eine ähnliche Qua-
lität bekommen wie im Falle der unmittelbar vor der Tür
stehenden Beitritte.


(Günter Gloser [SPD]: Also, Herr Glos! Ihr Niveau! Eine Bordsteinkante hat ein höheres Niveau als Sie!)


Das müssen wir bei den Leuten wieder auseinander divi-
dieren. Wir können letztendlich nur dann sinnvoll han-
deln, wenn wir die Zustimmung der deutschen Bevölke-
rung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Was sagt der Generalsekretär der CDU dazu? Was sagt Polenz?)


Darum müssen wir werben. Wenn wir wollen, dass die
Zustimmung für Europa steigt, dann müssen – damit
komme ich wieder auf die Defizite – die Demokra-
tiedefizite beseitigt werden.

Wir wissen auch, dass eine funktionsfähige Marktwirt-
schaft eine der Voraussetzungen für den Beitritt ist. Wer
sich über wirtschaftliche Voraussetzungen durch zu
schnelles Vorangehen rasch hinwegsetzt, der gefährdet
die europäische Idee.

Zu Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege Gloser – ich muss
noch sagen, „Gloser“ ist nicht die Steigerung von „Glos“,
der heißt nur so –:


(Heiterkeit – Günter Gloser [SPD]: Darauf lege ich auch Wert! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Er ist sich für keine Plattitüden zu schade!)


Ich weiß jetzt nicht, was Polenz gesagt hat, ich weiß aber,
was Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gesagt
haben: Dem Beitritt der Türkei und damit einer Ausdeh-
nung der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik bis an die Grenzen Syriens, des Iraks und
Irans, bis in die Kaukasusregion hinein kommt, um es vor-
sichtig auszudrücken, überhaupt keine Priorität zu.

Der größte Fehler der deutschen Europapolitik in den
letzten Monaten war aber zweifelsohne der politische
Boykott Österreichs.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist ein ganz gewaltiger Fehler, der hier gemacht wor-
den ist. Gerade die kleineren Mitgliedstaaten werden doch
durch eine solche Entwicklung abgeschreckt; eine Dikta-
tur der Großen über die Kleinen schafft großes Miss-
trauen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ökosteuer und Österreich! Sonst habt Ihr kein Thema!)


Das ist die politische Situation, vor der sich Finnland
durch die Verhinderung seines EU-Beitritts bewahren
wollte: dass ein großer Nachbar über seine Politik richtet
und entscheidet.

Warum sollen denn die kleinen Mitgliedstaaten in der
Frage der Mehrheitsentscheidungen nachgeben, wenn sie
wissen, dass ein Veto im Rahmen eines Einstimmigkeits-
prinzips ihr allerletztes Machtmittel überhaupt ist?

Es ist schlimm genug, dass die europäischen Regie-
rungschefs Österreich boykottiert haben – auch mit Ihrer
Hilfe, Herr Bundeskanzler; es soll Ihr außenpolitischer
Chefberater gewesen sein, der damals bei diesem Boykott
und den Drohungen gegenüber Österreich federführend
war.


(Gernot Erler [SPD]: Das ist Quatsch!)

Sie haben sich damit wie ein Elefant im europäischen Por-
zellanladen benommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss gerade Herr Glos sagen!)


Der EU-Boykott gegenüber Österreich zeigt die ganze
Unsensibilität, Konzeptionslosigkeit und letztendlich
auch die Sprunghaftigkeit der deutschen Europapolitik.


(Gernot Erler [SPD]: Sie sind auch keine Gazelle!)


Gerade weil Österreich ein Nachbarland ist, fordere ich
Sie auf: Bringen Sie das in Feira wieder in Ordnung. Der
Schlüssel liegt ein ganzes Stück weit bei den Deutschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Das sagt die Gazelle Glos!)


Um den Erfolg des europäischen Projektes dauerhaft
zu sichern, muss Europa im Herzen der Bürger akzeptiert
werden. Dazu gehört auch, dass wir über all diese Dinge
klar diskutieren. Der Schlüssel für ein erfolgreiches Eu-
ropa ist und bleibt der Föderalismus auf der Grundlage
eines Staatenverbundes. Er lässt den Nationen und Regio-
nen die nötige Luft zum Atmen. Er bildet die Brücke zwi-
schen nationaler Identität und europäischer Verantwor-
tung. Europa braucht den Mut, über die streitigen Fragen
offen zu streiten, mit der Bevölkerung zu diskutieren und
dabei auch Demokratie walten zu lassen.

Ich möchte Willy Brandt zitieren, der einmal gesagt
hat: „Demokratie wagen!“


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: „Mehr Demokratie wagen!“)


Wagen wir doch in Europa mehr Demokratie. Das
heißt, beziehen wir auch den Deutschen Bundestag stär-
ker in die Entscheidungen ein. Denn Europapolitik ist
heute durch die Vergemeinschaftung ein ganzes Stück
weit Innenpolitik. Informieren Sie nicht den Bundestag
im Nachhinein über Richtlinien. Davor brauchen Sie,
Herr Bundeskanzler, eigentlich keine Angst zu haben. Die




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Kameradinnen und Kameraden von den Grünen bleiben
schon bei der Stange.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und F.D.P.)

– Die Grünen verlassen die Regierung auf keinen Fall.
Herr Bundeskanzler, es gibt keine Situation, die dazu
führen würde, dass zum Beispiel Rezzo Schlauch seinen
Sessel frei macht. Davor brauchen Sie keine Angst zu ha-
ben.


(Lachen des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das können nur die Wähler lösen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie scheuen offensichtlich die innenpolitische Dis-

kussion, die natürlich entstehen würde, wenn sich der
Deutsche Bundestag vor der Verabschiedung von
Richtlinien mit diesen beschäftigen würde. Deswegen
meine Bitte an die anderen Fraktionen: Beziehen wir
das deutsche Parlament stärker ein!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805800
Das Wort erhält
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.


(Zuruf von der CDU/CSU: „Seine Majestät, der Außenminister“ heißt das!)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410805900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das nächste Mal geht er wieder zum Opernball! Da treffe ich ihn wieder!)


– Herr Glos, die Opernballfrage diskutieren wir einmal an
anderer Stelle.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Warum nicht jetzt?)


– Wir können natürlich auch die Opernballfrage hier dis-
kutieren, wenn Sie so großen Wert darauf legen. Ich
dachte aber, wir wollen hier über die europäische Zukunft
diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der deutsch-französische Gipfel liegt direkt vor uns.
Das wurde ja hier von Ihrem Fraktionsvorsitzenden in ei-
ner beeindruckenden Rede dargestellt.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Humorlos!)

– Ich bin überhaupt nicht humorlos. Im Gegenteil: Sie ha-
ben mir gestern vorgeworfen,


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen gar nichts vorgeworfen!)


dass ich, als ich in Warschau einer lang feststehenden
internationalen Verpflichtung auf Einladung des polni-

schen Kollegen nachgekommen bin, lieber um den Wann-
see laufen würde, anstatt mich an der Bundeswehrdebatte
zu beteiligen. Ich will Ihnen nur sagen: Heute wären bes-
ser Sie um den Wannsee gelaufen, anstatt eine solche
Rede zu halten. Das hätte Ihnen besser getan.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Zukunft Europas ist ein
verdammt ernstes Thema. Ich stimme all denen zu, die
meinen, dass es das zentrale Thema bzw. die zentrale Zu-
kunftsherausforderung ist, über die zu Recht gestritten
werden muss. Ich halte nichts davon, diese Frage nur vor
dem Hintergrund eines feierlichen Konsenses zu betrach-
ten. Die – vor allen Dingen im Volk, in der Bevölkerung –
bestehenden Kontroversen müssen auch im Parlament
auf den Tisch.

Ich möchte umgekehrt dafür plädieren, zu begreifen,
dass wir alle, und zwar jeweils in unterschiedlicher Rolle,
zum Beispiel als frühere Mehrheit bzw. als heutige Mehr-
heit und als frühere Opposition bzw. als heutige Opposi-
tion, sehr sorgfältig betrachtet werden. Es ist nicht einfach
nur so wie in der innerstaatlichen Demokratie, dass es po-
litische Meinungen, einzelne Positionen, politische Mehr-
heiten und Minderheiten gibt, sondern unsere Nachbarn
beobachten auch die Äußerungen der Opposition zu Eu-
ropa sehr sorgfältig im Sinne einer Stellungnahme
Deutschlands. Insofern plädiere ich bei aller notwendi-
gen Kontroverse für die gebotene Gesamtverantwortung,
wenn Oppositionspolitiker hier Positionen beziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Man mag recht unterschiedlicher Meinung sein. Über
die Türkeipolitik werden wir noch viel zu streiten haben.
Aber die Polemik, Herr Glos, die Sie heute hier geboten
haben,


(Michael Glos [CDU/CSU]: So schlimm war es nicht!)


zielte im Grunde genommen nur auf das Mobilisieren von
Ressentiments und auf das Bedienen Ihrer oberfränki-
schen Stammtische.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Etwas, was Sie ja nie getan haben! – Hans Michalbach: Wenn schon, dann unterfränkische!)


– Meinetwegen auch unterfränkische.

(Gernot Erler [SPD]: Zu Oberfranken ist der gar nicht in der Lage!)

Wie auch immer, Herr Glos. An diesem Punkt möchte ich
an Sie appellieren: Mit Ihrer Rede, in der Sie den Bun-
deskanzler als Elefant im Porzellanladen tituliert und ver-
sucht haben, Emotionen zu mobilisieren, haben Sie sich
wirklich wie eine Herde Trampeltiere verhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn das wird auf eine völlig andere Art und Weise wahr-
genommen werden – das gilt auch für manches von dem,




Michael Glos
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(B)


was Ihr Kollege Fraktionsvorsitzender gesagt hat –, als
Sie es beabsichtigen. Sie wissen es ja auch besser.

Wir stehen vor der französischen Ratspräsident-
schaft. Wir sind in intensiver Zusammenarbeit; Herr Kol-
lege Haussmann, Sie haben es angesprochen. Die Ergeb-
nisse, die jetzt auch für den deutsch-französischen Gipfel
erarbeitet werden, zielen darauf, dass wir gemeinsam mit
Frankreich alles dafür tun wollen, um die französische
Ratspräsidentschaft, um vor allen Dingen die Regie-
rungskonferenz zu einem Erfolg zu machen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ein weiter Weg!)


Den Aussagen, dass die so genannten `leftovers`, die
Überbleibsel der Regierungskonferenz in Amsterdam,
nachrangig seien, kann ich nur mit allem Nachdruck wi-
dersprechen. Eines dieser Überbleibsel ist die Größe und
Zusammensetzung der Kommission. Es ist leicht ge-
sagt: Es sollen nicht alle Länder einen Kommissar haben.
Aber dann kommt sofort das Abgrenzungskriterium ins
Spiel: Wer soll denn einen Kommissar haben? Warum die,
warum nicht jene? Diese Fragen sind nicht einfach so zu
entscheiden. Sie gehörten zur Substanz der Regierungs-
konferenz in Amsterdam, auf die man sich nicht einigen
konnte.

Ein weiteres Überbleibsel ist die Frage der Stimmen-
gewichtung:Wie viele Stimmen soll jedes Land haben?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch mal, was Sie wollen! Was ist Ihr Konzept?)


Das heißt: Wie weit ist die demokratische Repräsentanz
über die heutige Konstruktion gerechtfertigt? Das ist eine
zentrale Frage.

Das dritte Überbleibsel ist die Ausdehnung der quali-
fizierten Mehrheit. Herr Kollege Haussmann, ich kann
Ihnen nur sagen: Wenn Sie die unterschiedlichen Positio-
nen allein von Deutschland und Frankreich in diesem
Punkt vergleichen, stellen Sie fest: Sosehr ich Ihnen zu-
stimme, dass wir diese Ausdehnung der qualifizierten
Mehrheit brauchen – genau daran wird gearbeitet –, so
schwierig wird es sein, hier einen Konsens herzustellen.
Das ist schon bei zwei Ländern schwierig. Wie ist das erst
bei 15 Ländern?

Dennoch ist völlig klar, meine Damen und Herren: Die
Voraussetzung dafür, dass die Regierungskonferenz ein
Erfolg wird, ist, dass der historische Schritt zur Oster-
weiterung getan wird. Dieser Schritt kommt aus meiner
Sicht – zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges –
zu spät. Meine Damen und Herren, wann wurden die kon-
kreten Verhandlungen begonnen? Die konkreten Ver-
handlungen wurden unter der österreichischen Präsident-
schaft im Herbst 1998 begonnen. Da haben andere schon
längst versprochen, zum 1. Januar 2000 sei Polen Mit-
glied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das war 1998. Da waren wir gerade in der Regierung. Wir
haben einen sehr ehrgeizigen Fahrplan gehabt. Den haben

wir auch abgearbeitet: unter der deutschen Präsident-
schaft und jetzt unter der portugiesischen Präsidentschaft.

Wir sind verpflichtet, aus unserem Interesse heraus,
aber auch im europäischen Interesse, alles zu tun, um die
Osterweiterung zu einem Erfolg zu machen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)

– Natürlich reicht das nicht. Ich komme auf die anderen
Punkte gleich zu sprechen. Aber jetzt will ich Ihnen ein-
mal etwas zu Ihrer Position sagen. Wenn Sie die übliche
Michael Glos’sche Rethorik weglassen: Sie haben ein
Lippenbekenntnis zur Osterweiterung abgelegt, um an-
schließend Bedingungen zu formulieren, die die Oster-
weiterung faktisch auf die lange Bank schieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das kann ich Ihnen an jedem einzelnen Punkt verdeutli-
chen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eben nicht nur Glos!)


Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nicht zu raten.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Dann lassen Sie es auch!)

Aber ich möchte Sie auf einen Punkt hinweisen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Oberlehrer! – Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade er! Der Merz, der seinen Zeigefinger gar nicht runterkriegt!)


– Ich glaube an die Wiedergeburt der Dialektik, wenn aus-
gerechnet ein Musterschüler mich Oberlehrer nennt. Man
glaubt es wirklich nicht.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

Sie haben einen bedeutenden Vorgänger: Rainer Barzel.
Ich erinnere mich nur zu gut an die Ostverträge, an die
dort enthaltene Barzel’sche Formel, die auch die Ihre sein
wird, wenn Sie so weitermachen, wenn Sie Ihre Drohung
ernst meinen und die Bedingungen, die Sie in Ihrer ge-
meinsamen Presseerklärung genannt haben, wirklich stel-
len. Sie wissen genau, dass das sofort den schärfsten
deutsch-französischen Konflikt hervorrufen würde. Die
Franzosen würden uns dann zu Recht aufs Schärfste
geißeln. Das wäre ein Debakel in den deutsch-französi-
schen Beziehungen. Die Regierungskonferenz, die Sie,
Herr Kollege Fraktionsvorsitzender, fordern, würde ange-
sichts der Interessenlage in der Europäischen Union ad
calendas graecas dauern. Das hieße in der Konsequenz:
Wir könnten die Osterweiterung auf absehbare Zeit ver-
gessen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wenn Sie daran die Zustimmung der Fraktion der
CDU/CSU knüpfen, dann prophezeie ich Ihnen heute




Bundesminister Joseph Fischer

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schon das Schicksal von Rainer Barzel bei den Ostverträ-
gen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, ja!)

Entweder werden Sie einknicken – wovon ich ausgehe –
oder Sie werden Ihren Laden in dieser Frage zerlegen,
weil es viel zu viele überzeugte und gute Europäer in der
CDU/CSU-Fraktion gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit „So nicht!“ und „Jetzt nicht!“ – das kann ich Ihnen
jetzt schon prophezeien – werden Sie da nicht durchkom-
men.

Deswegen ist für mich die Konzentration nicht nur auf
die drei wesentlichen Punkte, die in Amsterdam offen ge-
blieben sind, sondern auch auf die verstärkte Zusam-
menarbeit entscheidend. Da liegt die Differenz, Herr
Kollege Schäuble. Die Differenz liegt nicht in der Sache.
Zum Kollegen Glos sage ich: Ich habe während Ihrer Re-
gierungszeit nie eine europapolitische Fundamentaloppo-
sition gemacht.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Machen wir doch auch nicht! Das stimmt doch gar nicht, Herr Fischer! Das wissen Sie auch!)


– Doch, ihr macht es.
Ich wollte einen anderen Punkt ansprechen: das Pro-

blem der Kompetenzabgrenzung. Es führt natürlich in den
Kern eines europäischen Verfassungsvertrags. Das wis-
sen Sie ganz genau.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! Darum fordern wir ihn ja!)


– In Bezug auf diesen Kern eines europäischen Verfas-
sungsvertrages haben wir in der Sache keine Differenz,
wohl aber im Hinblick auf das Verfahren und auf den
Weg, wie man dort hinkommen kann.

Sie legen das nach der Devise an: Jetzt eine Regie-
rungskonferenz, die die Erweiterungsfähigkeit für die ers-
ten Beitritte schaffen soll – nicht mehr und nicht weniger.
Das wird schwer genug sein; es ist aber aufgrund der hi-
storischen Herausforderung und der Verzögerung bei der
Erweiterungsfähigkeit unabdingbar, dass wir dies jetzt
tun. Dass Sie das mit der Kernfrage einer zukünftigen eu-
ropäischen Verfasstheit, die ein ganz anderes Integra-
tionsniveau voraussetzt, belasten wollen, Kollege
Schäuble, halte ich schlicht und einfach für einen politisch
riesigen Fehler, wenn man es damit ernst meint.

Ich bin der Meinung, dass der entscheidende Schritt
über die verstärkte Zusammenarbeit, über die Regie-
rungskonferenz in Nizza hinausführen muss. Sie werden
eine Kompetenzabgrenzung, die das auflöst – das heißt
eine Kompetenzabgrenzung, die eine schlanke, transpa-
rente, für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare
Europäische Union schafft –, nicht im Rahmen der heuti-
gen Verfasstheit der europäischen Institutionen durchset-
zen können, weil Sie dabei einen solchen Sprung von den
Partnern erwarten, der die Frage der Finalität auf die Ta-
gesordnung setzt. Das wissen Sie. – Na, gut. Dann sind

wir hier nicht in der Sache unterschiedlicher Meinung,
sondern in der Perspektive, im Weg, wie wir das erreichen
können.


(Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Ich bin in der Tat der festen Überzeugung, dass die
Souveränitätsteilung zwischen Nationalstaat und der eu-
ropäischen Ebene die zukünftige zentrale Verfassungs-
frage darstellt. Daran hängt die Kompetenzabgrenzung.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806000
Herr Kollege
Schäuble, bitte.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1410806100
Herr Außen-
minister, meine Meinung ist, dass wir in Europa eine Ent-
scheidung über effizientere Verfahren zur Entscheidung –
das ist in den `leftovers` angelegt – nicht erreichen wer-
den, solange diese Debatte mit dem Misstrauen behaftet
ist, worüber nach diesem Modus in Zukunft entschieden
werden soll. Deswegen bin ich in der Tat der Überzeu-
gung, dass wir erst klären müssen, wofür Europa in Zu-
kunft zuständig sein soll, bevor wir eine Einigung über
wirklich effizientere Entscheidungsverfahren zustande
bekommen. Deswegen plädiere ich dafür, jetzt diese De-
batte zu führen. Im Übrigen werden Sie jedenfalls in dem,
was ich gesagt und geschrieben habe, kein Wort darüber
finden, dass das etwa eine Vorbedingung für die Erweite-
rung sein soll.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806200

Ich stimme Ihnen in dem letzten Punkt zu. Ich teile aller-
dings angesichts der Diskussionslage – um nicht zu sagen:
der Gefechtslage – bei den Mitgliedstaaten Ihre Konse-
quenz, Ihren Bedingungszusammenhang nicht. Damit
wir uns hier nicht missverstehen: Ich wollte, Sie hätten
Recht, weil ich von der Sache her überhaupt keinen Dis-
sens zu dem, was Sie beschreiben, sehe. Wenn ich mir
aber anschaue, was die CDU/CSU in ihrer Presseer-
klärung schreibt – Herr Merz hat es ja in der Substanz,
wenn auch nicht expressis verbis in den einzelnen Arti-
keln, dargestellt, Kollege Glos auch –, wenn ich mir an-
schaue, was da tatsächlich zur Bedingung erhoben wird,
Kollege Schäuble, dann komme ich zu dem Schluss, dass
das – bei aller auch teilweise nachvollziehbar richtigen
Kritik in wesentlichen Punkten – zu einem im Grunde ge-
nommen desintegrativen Prozess führt. Das muss man
sehen. Gerade der Binnenmarkt wird damit einer Ver-
langsamung unterworfen; die Flexibilisierung der Anpas-
sung des Binnenmarktes an dynamische Wirtschaftspro-
zesse wird damit in Frage gestellt. Dafür bekommen Sie
schlicht und einfach keine Mehrheit; Deutschland wäre da
völlig isoliert.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie haben es nicht kapiert! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Genau das ist nicht der Fall!)


Herr Kollege Merz, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir
an den Rand der europäischen Debatte gedrängt würden,
dann müssen Sie hier mittlerweile einen Knick in der po-




Bundesminister Joseph Fischer
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litischen Optik haben. Wie kommen Sie denn zu einer sol-
chen Wahrnehmung? Schauen Sie sich doch nur an, was
wir zur Wiederbelebung des deutsch-französischen Mo-
tors geleistet haben, gegenwärtig leisten und morgen leis-
ten werden. Dass es bei der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik nur auf eine britisch-französische
Zusammenarbeit hinausliefe, kann ich ebenfalls beim be-
sten Willen nicht nachvollziehen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Lesen Sie doch, was der französische Verteidigungsminister heute geschrieben hat!)


– Auch ich lese, was der französische Verteidigungsmi-
nister sagt. Aber jetzt geht es um die Entscheidungen mor-
gen. Der eine oder andere von Ihnen mag ja hinter dem
Berg zu Hause sein, aber die Mehrheit von Ihnen nicht.
Sie wissen ganz genau, dass wir vor wichtigen Entschei-
dungen im Zusammenhang mit dem europäischen Trans-
portflugzeug stehen. Es gibt allerdings ein paar Interessen
der Bundesrepublik Deutschland, von denen ich bisher
dachte, dass auch über sie Konsens bestehe, zum Beispiel
das Interesse, dass wir bei diesen Dingen die Einbindung
anderer mit im Auge haben.

Hier kann ich nur hinzufügen, dass für die Umsetzung
der „headline goals“ eine Bundeswehrreform notwendig
gewesen wäre. Wir reden jetzt doch dauernd über die Bun-
deswehrreform; aber im Grunde genommen hätte die
große Reform bereits 1995/1996 durchgeführt werden
müssen, als andere dies ebenfalls taten. Das wissen Sie
doch so gut wie ich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Da ist die Bundeswehr doch so geschrumpft wie nie!)


Die Umsetzung der „headline goals“ ist im Wesentli-
chen von drei Mitgliedstaaten erarbeitet worden. Wir un-
terstützen mit allem Nachdruck, dass Großbritannien
seine Position noch in der Ausgangsphase Ihrer Regie-
rungszeit verändert hat; das hat sich als überaus segens-
reich erwiesen.

Was das Verhältnis EU-NATO im Hinblick auf die
Fortentwicklung der europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik angeht, so hat Deutschland ganz we-
sentlichen Anteil daran, dass dieses Verhältnis jetzt nicht
mehr konfrontativ ist, sondern in Arbeitsgruppen definiert
und danach entsprechend umgesetzt wird. Dasselbe gilt
für die Einbindung der NATO-Mitglieder, die nicht Mit-
glied der Europäischen Union sind. Auch hier haben wir
dank unserer Initiative wesentliche Fortschritte gemacht.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Ob das ein Fortschritt ist, wissen wir nicht!)


– Doch, das ist aus meiner Sicht ein wirklich großer Fort-
schritt, weil ich der festen Überzeugung bin, dass auch die
Verbindung des militärischen mit dem zivilen Konflikt-
und Krisenmanagement eine wichtige europäische Ent-
wicklung darstellen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will
den Erfolg der französischen Präsidentschaft, weil wir die
Osterweiterung der Europäischen Union wollen, und
zwar nicht mit fünffachem Aber, sondern ohne Wenn und
Aber, getragen von Realismus, solide erarbeitet, aber
nicht mit Verzögerung verbunden; es sollen nicht mit her-
vorgeholten Argumenten Vertagungen erreicht werden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So schaut es aber nicht aus!)


Wir wollen den Erfolg der Regierungskonferenz. Aber
wir wissen auch, dass danach die nächsten Schritte un-
verzichtbar sind. Die nächsten Schritte werden nicht mehr
unter Ausblendung der Finalitätsdiskussion leistbar sein.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann machen wir es doch jetzt! Später wird es immer schwieriger!)


Das wird sowohl für die Kompetenzabgrenzung als auch
für die Souveränitätsteilung sowie für die Frage des Ver-
hältnisses von Nationalstaat zu Europäischer Union gel-
ten.

Herr Kollege Glos, ich habe Ihnen sehr sorgfältig zu-
gehört. Sie haben die Worte „Föderalismus im Staaten-
verbund“ einfach so dahingesagt. Demgegenüber bin ich
schon der Meinung, dass das im Entstehen begriffene Eu-
ropa ein Gebilde sui generis wird: nicht der deutsche Bun-
desstaat übertragen auf die europäische Ebene, aber mehr
als ein Staatenverbund. Ansonsten wird dieses Europa
nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P.)


Wir gehen morgen in den französisch-deutschen Gip-
fel. Er wird eine wichtige Vorbereitung für Feira sein. In
Feira wird eine erfolgreiche portugiesische Präsident-
schaft abgeschlossen und die französische Präsident-
schaft vorbereitet werden, die formell am 1. Juli beginnen
wird. Wir werden alles dazu beitragen, um unsere franzö-
sischen Freundinnen und Freunde in engster Abstimmung
zu unterstützen, sodass wir in Nizza einen Erfolg haben
werden.

Ich stimme allen zu, die zu Recht die großartige Euro-
patradition der CDU/CSU von Adenauer bis Kohl be-
schwören. Aber heute habe ich das Gefühl: Wenn Sie so
weiter machen, dann verabschieden Sie sich davon. Da
sich ein gut Teil Ihrer Fraktion davon nicht verabschieden
wird, gehen Sie schweren Zeiten entgegen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sorgen Sie sich um Ihre Fraktion! Da haben Sie Sorgen genug!)


Daran haben wir kein Interesse. Bisher galt hier im Haus
bei allen Differenzen in Einzelheiten ein europapoliti-
scher Grundkonsens und das war ein Wert an sich. Ich
hoffe, Sie kehren dahin zurück.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Bundesminister Joseph Fischer

10137


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1410806400
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bundesminister
Fischer hat natürlich Recht: Die leicht verniedlichende
Bezeichnung `leftovers` oder „Überbleibsel von Amster-
dam“ trifft den Kern der Sache wirklich nicht. Bei den
Themen, die bei der letzten Regierungskonferenz nicht er-
ledigt werden konnten, handelt es sich zum einen um zen-
trale Machtfragen der Europäischen Union und zum an-
deren um die Fragen der Effizienz und der Arbeitsfähig-
keit der immer größer werdenden Union. Darüber hinaus
handelt es sich um die Voraussetzungen für die Oster-
weiterung.

Diese gravierenden Fragen, die damals nicht beant-
wortet werden konnten, müssen jetzt vom Tisch, weil die
Osterweiterung sonst weiter ins Schleudern kommt. Da-
bei haben wir in der Tat ein großes Problem, weil einen
die Ahnung beschleicht, dass nicht jeder, der mit der
Osterweiterung oder der Neuverteilung von Strukturfonds
und ähnlichen schönen Dingen nicht allzu viel im Sinn
hat, das größte Engagement aufbringen wird, um die Vo-
raussetzungen für die Osterweiterung zu schaffen.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das ist leider wahr!)


Es gibt natürlich aber auch andere Bremser. Es gibt
sie – hier wird die Bundesregierung intern noch einiges zu
tun haben – in den Ressorts der Bundesregierung. Da hat
sich ja in den letzten Jahren nicht plötzlich alles völlig
verändert.


(Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister: Das ist wahr!)


Auch da sind die Betonmischer – Herr Kollege Zöpel be-
stätigt es zu Recht – allenthalben am Werke.


(Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister: Die sind weiter da!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806500
Herr Kollege
Zöpel, Sie dürfen nicht von der Regierungsbank dazwi-
schenrufen.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1410806600
– Das hat der Kollege
Zöpel nur als Abgeordneter gemacht. Wenn dann ein
Machtwort gesprochen wird und man sich zu einer Posi-
tion knackiger Art durchringt, ist mancher beteiligt, der
die Entscheidung zu dieser knackigen Formulierung in
der Bundesregierung deshalb so leicht an sich vorüber-
ziehen lässt, weil er davon ausgeht, dass andere sie hin-
terher wieder verhindern werden. Der Geist der Betonmi-
scherei ist da.

Ich glaube, wir würden einen großen Fehler machen,
wenn wir auch nur den Verdacht erweckten, wir würden
Beton anmischen durch eine Verbindung der Verfas-
sungsdiskussion – deren Notwendigkeit ich voll unter-
streiche – mit dem Erfordernis, dass die Regierungskon-
ferenz bei den entscheidenden institutionellen Fragen tat-

sächlich zum Erfolg gelangt. Ich halte das für einen sehr
gefährlichen Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt
meiner Ausführungen stellen. Bei fast allen institutionel-
len Fragen, die wir zu behandeln haben, ist das Verhältnis
der kleinen zu den großen Ländern der entscheidende
Punkt. Bei allen drei großen institutionellen Fragen sehen
sich die kleinen Länder bedroht. Das ist ein heikles Ding,
weil die europäische Integration für die kleinen Länder
ohnehin nicht unproblematisch ist. Bei ihnen ist die Sorge
vor dem Identitätsverlust am größten.
Andererseits macht die Möglichkeit, die Stimme eines
kleinen Landes gleichberechtigt am Tisch aller europä-
ischen Länder zur Geltung zu bringen, den Reiz der Eu-
ropäischen Union für die kleinen Länder aus. Deshalb ist
es eine gute deutsche europapolitische Tradition, sich in
ganz besonderer Weise um die kleineren Mitgliedstaaten
zu kümmern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das war von Scheel bis Kinkel, das war von Adenauer bis
Helmut Kohl der Fall.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Deshalb ist die Österreich-Aktion so schädlich!)


Deshalb halte ich es für einen großen Fehler, dass von
dieser guten Tradition deutscher Europapolitik Abschied
genommen wurde und mehr auf eine gewissermaßen
Kontaktgruppendiplomatie gesetzt wird, die ohnehin
schon im Zusammenhang mit Jugoslawien genügend
Soupçon bei den kleineren Mitgliedstaaten verursacht hat.
Ich halte es für einen Fehler, in dieser Richtung weiter-
zugehen. Das bringt uns auch in die Gefahr, dass der Ein-
druck eines Großmachtgehabes entsteht, der den Deut-
schen im europäischen Kontext und überhaupt nicht be-
sonders gut ansteht.

Genau unter dem Gesichtspunkt, dass man mit den
Kleinen fair umgehen und den Dialog mit ihnen vertrau-
ensvoll führen muss, ist das Thema Österreich so überaus
problematisch. Deswegen hat die Haltung der 14 gegen-
über Österreich so enormen Flurschaden angerichtet.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Denn die Kleinen und diejenigen, die der Union erst bei-
treten wollen, werden sich natürlich fragen und tun das
mittlerweile ziemlich laut, inwiefern ihre demokratisch
legitimierten nationalen Entscheidungen eigentlich von
den Großen in der Gemeinschaft respektiert werden,
wenn es einmal wirklich kritisch wird.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wenn nicht einmal Regierungsbildungen anerkannt werden!)


In Lettland wird die Debatte mittlerweile politisch zu-
gespitzt unter der Frage geführt: Aus der SU in die EU?
Dies ist eine ganz gefährliche Verkennung des Charakters
der Europäischen Union. Deswegen sollten wir solche
Fehlentscheidungen vermeiden.






(C)



(D)



(A)



(B)


Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die
F.D.P. keinen Nachholbedarf, was den Herrn Haider an-
geht. Unser früherer Bundesvorsitzender, Otto Graf
Lambsdorff, hat als Präsident der Liberalen Internatio-
nale höchstpersönlich dafür gesorgt, dass Haiders Partei
Anfang der 90er-Jahre unsere internationale Vereinigung
verlassen musste. Wir kennen den Herrn schon etwas län-
ger und wissen auch, dass man ihn nicht unterschätzen
darf.

Etwas anderes ist aber, wie man mit einem solchen Fall
konkret umgeht. Steht es uns wirklich an, den Österrei-
cherinnen und Österreichern zu empfehlen, eine Parteien-
konstellation zu verewigen, die über Jahrzehnte hinweg
zu Korporatismus, Parteienselbstbedienung, Filz und Un-
beweglichkeit geführt hat? Das alles hat doch der FPÖ –
übrigens gerade in der Arbeiterschaft – ihre starke Stel-
lung erst verschafft.

Wer sich um die demokratische Stabilität oder die Wer-
teorientierung unseres österreichischen Nachbarn Sorgen
macht, der sollte den Dialog mit Österreich nicht reduzie-
ren, sondern intensivieren, der sollte nicht die Begegnung
von Schülerinnen und Schülern aus Belgien und Öster-
reich unterbinden, sondern fördern, der sollte nicht bei
dem, was in Österreich konkret stattfindet, wegschauen,
sondern ganz genau hinsehen. Dann allerdings wird man
feststellen, dass sich die österreichische Regierung bisher
keine einzige Entscheidung geleistet hat, die in irgendei-
ner Weise zu rügen wäre.


(Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: So ist es!)


Sie hat zu keinem Zeitpunkt Anlass zu Zweifeln an ihrer
Europatreue gegeben. Deswegen sind die Sanktionen
unverhältnismäßig und verstoßen gegen Geist und Buch-
staben des Amsterdamer Vertrages.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nehmen

für sich in Anspruch, mit den Sanktionen die gemeinsa-
men Werte der EU zu wahren und zu stärken. Aber diese
Werte müssen sie dann auch gegen sich selber gelten las-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Dazu gehört etwa, Vorverurteilungen zu unterlassen, de-
mokratisch zustande gekommene Entscheidungen zu re-
spektieren und sich an Geist und Buchstaben internatio-
naler Verträge zu halten. Die Sanktionen sind insofern ein
Widerspruch in sich. Und seien wir ehrlich, es sind wohl
auch in erster Linie innenpolitische Erwägungen einer
Reihe von Ländern gewesen, die uns in diese Situation
hineingetrieben haben.


(Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: So ist es!)


Die Bundesregierung ist sehenden Auges in eine Straße
hineingefahren, an deren Beginn gleichzeitig Einbahn-
straße und Sackgasse ausgeschildert war. Eine Exit-Stra-
tegie gibt es nicht. Wo sind denn die Kriterien, an denen
man eine Beendigung der Sanktionen glaubwürdig fest-

machen könnte? Es wird also höchste Zeit, dass diese
Sanktionen aufgehoben werden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Einfach eingestehen, dass es ein Fehler war!)


Die 14 haben einen Riesenfehler gemacht und sollten
nunmehr die Souveränität aufbringen, diesen Fehler wie-
der rückgängig zu machen, und zwar noch während der
portugiesischen Präsidentschaft; denn von der französi-
schen Präsidentschaft haben wir in diesem Punkt wohl
nicht viel zu erwarten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Kommission hat mit ihrem Vorschlag eines inten-
siven Monitorings Österreich einen vertragskonformen
Weg gewiesen. Bundeskanzler Schüssel ist mit seinem
Vorschlag, solche Beobachtungsfunktionen auszuweiten,
noch weiter gegangen. Das ist der ehrenwerte Versuch,
den 14 einen Ausweg aus der von ihnen selbst gewählten
Sackgasse zu weisen. Aber ich frage mich, ob es ange-
messen ist, dass sich ein europäischer Regierungschef, an
dessen demokratischer und moralischer Qualifikation
nicht der geringste Zweifel besteht, in eine solche Situa-
tion hineinmanövrieren muss, die einem fast erniedrigend
vorkommt. Wenn er es doch tut, zeigt das, wie wichtig un-
seren österreichischen Freunden offensichtlich die euro-
päische Orientierung Österreichs ist. Deswegen sollten
die Regierungen der 14 endlich die Brücken betreten, die
ihnen hier so verantwortungsbewusst gebaut werden.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410806800
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das Thema fort-
führen, das der Kollege Hoyer angesprochen hat, nämlich
den Umgang und die Auseinandersetzung mit Österreich.
Ich komme allerdings – das verwundert auch nicht – in
vielen Punkten zu einer anderen Schlussfolgerung.

Herr Glos hat in seiner Rede den politischen Boykott
Österreichs als größten Fehler der jetzigen Regierungsko-
alition bezeichnet. Aus meiner Sicht hat die Regierungs-
koalition – wenn es überhaupt ein Fehler war – größere
und andere Fehler gemacht. Ich fand auch die Art und
Weise, wie Herr Glos hier mit anderen Staaten umge-
sprungen ist, außerordentlich unangebracht. Im Zusam-
menhang mit der Türkei den Begriff Sultan zu benutzen,
das schürt schon Stimmung und soll Stimmung schüren.


(Beifall bei der PDS)

Ich will versuchen, Ihnen meine Vorstellungen und

meine Sicht der Probleme nahe zu bringen.




Dr. Werner Hoyer

10139


(C)



(D)



(A)



(B)


Erstens. Aus meiner Sicht war es richtig, dass die Mit-
gliedsländer der Europäischen Union auf die Regierungs-
beteiligung der österreichischen Rechtspopulisten mit ei-
nem demonstrativen Akt politisch reagiert haben. Ich
meine, dass man unterstreichen muss: Es war notwendig,
ein Zeichen zu setzen. Daran kann doch kein Weg vorbei-
gehen. Ein Verzicht auf eine deutliche Reaktion hätte
Rechtspopulisten und Neofaschisten in Europa weiter sa-
lonfähig gemacht. Es wäre als Ermunterung für die poli-
tische Rechte in anderen europäischen Ländern verstan-
den worden und es hätte auch, wie ich meine, die
gemeinsame Arbeit an einer europäischen Grund-
rechtecharta zur Farce gemacht.

Aber – das muss man hinzusetzen – ein demonstrativer
Akt ersetzt doch keine Politik. Ich meine, dass dieser de-
monstrative Akt zu kurz gedacht war, weil nirgendwo die
Frage beantwortet ist, was nach dem Boykott kommen
soll. Deswegen richte ich meine Kritik nicht darauf, dass
reagiert wurde, sondern darauf, wie reagiert wurde.

Die Art des Boykotts – auch das muss man heute nüch-
tern feststellen – hat Haider in Österreich nicht geschadet.
Im Gegenteil, er konnte das in Österreich in innenpoliti-
sches Kapital ummünzen. Ich meine, dass der Grund
dafür in dem Umstand zu suchen ist, dass der Boykott auf
Regierungsebene nicht mit einer Würdigung und Unter-
stützung der Anti-Haider-Bewegung in Österreich selbst
verbunden war. Die Zivilgesellschaft, das andere Öster-
reich, hätte unsere Solidarität und Zusammenarbeit ver-
dient. Das ist ausgeblieben. Die Unfähigkeit der europä-
ischen Politik, sich mit der Zivilgesellschaft, mit der Op-
position zu verbinden, höhlt den Boykott der Regierung
aus, macht ihn brüchig, bis er jetzt oder bald zusam-
menfallen oder stillschweigend erledigt sein wird. Das
bedaure ich sehr; es ist aber so.

Zweitens. Ich sehe sehr kritisch, dass das Anwachsen
von Rechtsextremismus und Neofaschismus in Europa
quasi zum alleinigen Problemfall Österreich gemacht
wurde. Dabei verweist die Haltung der Europäischen
Union zur österreichischen Regierung auf eine lebens-
wichtige Gegenwarts- und Zukunftsfrage der Europä-
ischen Union selbst.

Haiders haben wir in Europa kaum in Regierungen,
aber die Haiders sind überall noch unter uns in unserem
Lande. Auch das muss man feststellen, glaube ich.


(Beifall bei der PDS)

Berlusconi und Fini greifen in Italien nach der Regie-

rungsmacht; in Frankreich gibt es Le Pen und rechtsex-
tremistische Bürgermeister; es gibt rechte Bewegungen in
Dänemark, Schweden, Norwegen und Spanien, und ich
finde, wir müssen vor allen Dingen vor der eigenen Tür
kehren. Mir wird übel, wenn ich mich an die Bilder des
Naziparolen skandierenden Mobs erinnere, der aus Soli-
darität mit Haider durch das Brandenburger Tor zog, und
das zehn Jahre nach der Vereinigung. Das ist doch ein Alb-
traum, und das müssen wir hier deutlich aussprechen.
Kein Tag vergeht ohne Gewalt gegen Ausländer, ohne
Rassismus und Antisemitismus.

Da sollten wir uns doch einmal die Frage stellen, was
in Deutschland wäre, wenn wir es hier mit einem Haider

zu tun hätten. Die parteipolitische Landschaft wäre bis zur
Unkenntlichkeit verändert. Wenn wir mit einem Finger
auf Österreich zeigen, so zeigen vier Finger in unsere
Richtung zurück. Auch das müssen wir uns endlich ins
Stammbuch schreiben.

Drittens. Ist es nicht eigentümlich, dass sich viele am
Juniorpartner Haider abarbeiten, aber der Seniorpartner,
die ÖVP, relativ ungeschoren bleibt? Es war doch die
ÖVP unter der Führung von Wolfgang Schüssel, die unter
Bruch vorheriger Wahlaussagen die Koalition mit Haider
einging.

Ich finde, dass Stichworte für rassistische Parolen oft-
mals aus der so genannten Mitte der Gesellschaft kom-
men. Denken wir doch einmal gemeinsam an Edmund
Stoibers Begriff von der „durchrassten Gesellschaft“, die
er nicht wolle. Denken wir – da könnte Herr Kollege Merz
endlich einmal Führungsqualität beweisen – an die popu-
listischen Parolen des Herrn Rüttgers mit den Kindern
und den Indern im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen;
denken wir an Roland Koch mit seiner Kampagne in Hes-
sen. Ich glaube, auch die F.D.P. sollte an ihren Stahl-
Flügel denken. Meinen sozialdemokratischen Kollegen
möchte ich zu bedenken geben: Manche Rede von Otto
Schily weist auch darauf hin, dass er der Meinung sei, das
Boot sei voll.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schön, dass die PDS so sauber ist!)


Mit solchen Positionen müsste man Schluss machen.
Das gemeinsame Verständnis müsste sein: Wer solche
Zeichen setzt, schafft die Voraussetzungen für die Entfal-
tung der Haiders.


(Beifall bei der PDS)

Ich glaube, es wäre eine gemeinsame Aufgabe, dagegen-
zuhalten.

Viertens. Die Haiders sind unter uns. Deshalb brauchen
wir in Ergänzung des Boykotts der Regierung eine ge-
meinsame europäische Initiative gegen Rassismus, An-
tisemitismus und Geschichtsrevision.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Stalinismus!)

– Ja, auch Stalinismus. Damit habe ich nie ein Problem
gehabt. Sie können in dieser Frage von mir mehr nachle-
sen, als Sie bisher zu Papier gebracht haben.


(Beifall bei der PDS – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt leider!)


Ich will in Richtung des Herrn Kollegen Hoyer sagen:
Man kann den Boykott jetzt nicht aufheben. Das genau
wäre Haiders Triumph und ein Triumph der vereinigten
europäischen Rechten. Deshalb ist mein Vorschlag, die
staatlichen bzw. die Regierungsauseinandersetzungen mit
den Initiativen der zivilen Gesellschaft zu koppeln und
das als eine gemeinsame Aufgabe zu betrachten. Darum
bitte ich Sie.

Danke sehr.

(Beifall bei der PDS)





Wolfgang Gehrcke
10140


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410806900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Lothar Mark.


Lothar Mark (SPD):
Rede ID: ID1410807000
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! Dass ein bayerischer Minister-
präsident einmal von der „durchrassten Gesellschaft“
sprach


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: O, mein Gott!)

und sich anschließend für diesen Ausdruck entschuldigte,
ist zwar politisch nicht ganz nachvollziehbar; trotzdem
muss man diese Angelegenheit für erledigt erklären.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deshalb reden Sie ja auch darüber! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: In welchem Jahrhundert leben Sie denn?)


Wenn aber jemand über Jahre hinweg nationalsozialisti-
sches Gedankengut, Ideen und Symbole gebraucht und
gutheißt, wie es ein österreichischer Landeshauptmann
praktiziert, dann offenbart sich ein Wertesystem, offenba-
ren sich geistige Grundlagen, die von den meinen und –
wie ich hoffe – von den unsrigen weit entfernt sind.


(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Warum hat ihm dann Klima eine Regierungsbeteiligung angeboten?)


Es muss daher sehr wohl darüber nachgedacht werden,
ob bei solchen Menschen nicht ein grundsätzliches demo-
kratisches Bewusstsein durcheinander geraten ist und ob
sie politische Verantwortung übernehmen dürfen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


– Mit diesen Zwischenbemerkungen zeigen Sie, dass Sie
anscheinend von diesem Geistesgut nicht sehr weit ent-
fernt sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


Wenn sich ein Land anschickt, von einer Partei mit sol-
chen geistigen Grundlagen mitregiert zu werden, ist es für
die anderen Staaten und insbesondere für die Mitglieder
einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union
das Mindeste, diesem Land symbolisch zu zeigen, dass sie
mit jemandem, der sich nicht an die vereinbarten Spielre-
geln hält, nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten können
und möchten.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schauen Sie, welche Begeisterung Ihre Rede auf der Regierungsbank auslöst!)


Dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu
bezeichnen geht einfach an den Tatsachen vorbei.

Die Regierungskoalition sieht das so. Ich hoffe, dass
die fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen der
FPÖ bis in die jüngste Zeit, die eben nicht nur von ihrem
mediengewandten heimlichen Vorsitzenden Haider stam-
men, von allen im Bundestag vertretenen Parteien einhel-
lig abgelehnt werden. Zumindest ist diese Hoffnung auch
aus dem F.D.P.-Antrag abzulesen und durch Dr. Hoyer

heute noch einmal bestätigt worden, wenngleich ich in der
Quintessenz zu anderen Ergebnissen komme als er.

Interessant ist aber, dass sich die CDU/CSU in dem
Teil ihres Antrages, der sich mit Österreich befasst, nur
mit den so genannten Sanktionen auseinander setzt.

Die Mitgliedsländer der Europäischen Union hatten
nach der Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten
FPÖ Maßnahmen gegen Österreich beschlossen, die
durch die neuerlichen Ausbrüche von FPÖ-Funktionären
an Aktualität gewonnen haben.

Ihnen ist sicher noch in Erinnerung, was Hilmar Kabas,
der FPÖ-Vorsitzende aus Wien, über den österreichischen

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410807100
Er hat ihn als einen
„Lumpen“ bezeichnet. Wenn Sie den Begriff „Lump“
nehmen, werden Sie sicherlich sofort an die Äußerungen
aus dem Reichsgerichtshof erinnert. Dort spielte dieses
Wort ebenfalls eine ganz große Rolle.

Ich verweise auf die jüngsten Äußerungen von Ernest
Windholz: „Unsere Ehre heißt Treue.“ Das war der Leit-
spruch von Adolf Hitler 1931 für die SS. Das sind keine
Wortidentitäten, die rein zufällig entstanden sind. Dies
muss vielmehr schon im Kopf verankert sein; denn sonst
würden solche Zitate nicht zum Vorschein kommen kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In diesem Zusammenhang ist für mich auch nicht nach-
vollziehbar, dass die ÖVP– so die „Süddeutsche Zeitung“
vom 6. Juni 2000 – zu diesen Äußerungen keinen Kom-
mentar in Österreich abgegeben hat. Lediglich die
Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, sagte,
dass man solche Worte nicht so schnell erfinden könne.

Die österreichischen Sozialdemokraten äußerten, dass
bei der FPÖ immer wieder das bräunliche Gedankengut
zum Vorschein komme.

Selbst in der FPÖ-Zentrale wurde das Zitat von
Windholz zunächst dementiert. Später hat die Generalse-
kretärin gesagt, sie könne es nicht glauben, dass Windholz
dies geäußert habe. Ganz interessant ist auch noch, dass
Herr Haider keinen Kommentar zu diesem Zitat abgeben
wollte. Er beschränkte sich auf den Hinweis, dass es
„keine schlechte Sache“ sei, wenn sich jemand „zu An-
ständigkeit, Treue, Ehrlichkeit und Leistungsbewusst-
sein“ bekenne. Damit zeigt er, dass er wiederum die his-
torische Dimension von Begriffen nicht verstanden hat.


(Beifall bei der SPD)

Die EU ist eine Wertegemeinschaft, für die Freiheit,

Demokratie und Solidarität einen hohen Stellenwert ha-
ben. Sie kann auf keinen Fall akzeptieren, dass diese
Werte auf ihrem eigenen Territorium verletzt werden
könnten.


(Beifall bei der SPD)

Es ist nachgerade ihre Pflicht, die Freiheit der Anders-
denkenden zu schützen, gegen die Haiders Freiheitliche
vorgehen möchten. Daher wurde die Regelung getroffen,






(C)



(D)



(A)



(B)


die Beziehungen auf höchster Ebene bilateral abzubre-
chen sowie keine österreichischen Kandidaten für Posten
in internationalen Organisationen zu unterstützen, die
Kontakte auf Arbeits- und nachrangiger Ebene jedoch
beizubehalten. Dies gewährleistet weiterhin die inhaltli-
che Auseinandersetzung und Kontinuität der laufenden
Arbeit. Die symbolische Isolierung zeigt aber deutlich
den Willen der EU und beweist Augenmaß.

Die deutsche Österreich-Politik, ist eingebettet in die
EU-Politik und abgestimmt mit ihr. Ich finde es geradezu
unseriös, wenn man meint, man könne seine Politik nach
Gutdünken in die EU-Politik einbetten oder eben auch
nicht. Wir hören oft den Vorwurf, dass unsere Politik nicht
in die gemeinsame EU-Politik eingebettet sei. Wenn es
einigen nicht gefällt, kommt der Vorwurf: Wieso bettet ihr
eure Politik ein und macht keinen nationalen Alleingang?
Dies ist eine unseriöse Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich begrüße in diesem Zusammenhang, dass die ös-
terreichischen Regierung Vorschläge zur Änderung des
Gemeinschaftsvertrages, der das Vorgehen bei schwer-
wiegenden und anhaltenden Vertragsverletzungen regeln
soll, unterbreitet hat. Damit ist in die Diskussion Bewe-
gung gekommen. Unabhängig von den Maßnahmen, die
die anderen EU-Mitgliedsländer gegenüber der Regie-
rung in Wien getroffen haben, könnten damit in Zukunft
Gefährdungen und tatsächliche Verletzungen der EU-Ver-
träge unterschieden, beobachtet und gegebenenfalls ge-
ahndet werden. Nur, die jetzt vorliegenden Vorschläge
müssen geprüft, diskutiert und stark modifiziert werden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wollen Sie einen europäischen Verfassungsschutz einführen?)


Keinesfalls rechtfertigen sie die sofortige Aufgabe der
Maßnahmen – ich sage bewusst: Maßnahmen –, zumal
Bundeskanzler Schüssel den Vorschlag, eine Beobachter-
mission nach Österreich zu entsenden,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre ja noch schöner!)


nach Zeitungsberichten vom 2. Juni abgelehnt hat. Der lu-
xemburgische Ministerpräsident Juncker ließ verlautba-
ren, dass sich der EU-Gipfel im Juni nicht mit Schüssels
Vorschlag beschäftigen werde.

Ich möchte ausdrücklich betonen, dass sich die sym-
bolischen Maßnahmen nicht gegen die österreichische
Bevölkerung richten, sondern ausschließlich gegen die
Regierung in Wien. Deshalb stimme ich auch mit den
Äußerungen von Bundeskanzler Schröder überein, die er
gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 22. Mai ge-
macht hat. Die an der Regierung beteiligte FPÖ verharm-
lost seit Jahren die Menschen verachtende Politik des
Deutschen Reiches und Österreichs während des Natio-
nalsozialismus, die unermessliches Leid weit über unse-
ren Kontinent hinaus zur Folge hatte. Diese Verharmlo-
sung und Verfälschung der Geschichte passt nicht in
unsere Zeit und darf nicht hingenommen werden. Proble-
matisch ist in diesem Zusammenhang die Rolle einiger

Medien, die zwar einen Werteverfall beklagen, aber ge-
rade Leute solcher Parteien hofieren und somit geradezu
eine Plattform für Scheinlösungen und Verunsicherung
bieten.

Die Sorgen und Ängste der Bevölkerung müssen aber
ernst genommen werden, die sich zum Beispiel aus der
EU-Osterweiterung ergeben. Darüber wurde bereits ge-
sprochen. Natürlich neigen nicht alle FPÖ-Wähler zu
rechtsextremen Tendenzen. Aber die EU kann nicht zu-
lassen, dass immer mehr Menschen ungehindert rechts-
populistischen Rattenfängern in die Arme laufen. Diese
mögen zwar zu Recht auf bestehende Probleme hinwei-
sen, die die etablierten Parteien mitunter vernachlässigt
haben. Aber ihre vorgeblichen Lösungen, für die sie mit
Angst schürender Propaganda werben, verschärfen und
schüren in einem Europa, das durch Erweiterung und In-
tegration unaufhaltsam zusammenwächst und somit viele
Probleme zu lösen hat, soziale Spannungen und Kon-
flikte. Die EU muss daher ebenso wie die österreichische
Regierung über die Vorzüge der Erweiterung aufklären
und für die anstehenden Veränderungen werben.

So hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
in seinem jüngsten Bericht darauf hingewiesen, dass
durch die EU-Osterweiterung keine massive Zuwande-
rung zu erwarten ist. Warum sollte jemand auch seine Hei-
mat in Polen oder Tschechien verlassen, wenn sein Wohl-
standsniveau fast mit unserem vergleichbar ist? Der poli-
tische Sinn der EU liegt ja gerade darin, über den Export
von Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit für Stabi-
lität, aber auch für die Durchsetzung von Werten zu sor-
gen. Die Chancen, die sich aus der Osterweiterung der EU
insbesondere für Deutschland und Österreich als Grenz-
staaten ergeben, müssen also besser vermittelt werden.
Den Ängsten muss durch intensive präventive Aufklärung
begegnet werden.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Maßnah-
men der EU gewisse Erfolge gezeitigt haben. In Öster-
reich wurde seit langem nicht mehr so breit über das Ver-
hältnis zur eigenen Vergangenheit debattiert wie jetzt. Das
öffentliche Bekenntnis Schüssels und Haiders vom 3. Fe-
bruar 2000 zu den Grundwerten der EU wäre ohne den
Druck von außen wahrscheinlich nicht zustande gekom-
men. Wer weiß, zu welcher Politik sich die FPÖ verstie-
gen hätte, wenn der Beobachtungsdruck von innen und
außen nicht vorhanden gewesen wäre.

Ich habe zu dem Antrag der CDU/CSU bezüglich
Österreichs einiges angemerkt, ebenso wie zu dem Antrag
der F.D.P. Ich möchte ergänzend hinzufügen, dass die po-
litologischen Intentionen der Maßnahmen, die in dem An-
trag gefordert werden, an der Realität vorbeigehen.
Schließlich haben wir uns nicht damit zu befassen, wer
wem die Hand zu geben hat und ob eine Schulpartner-
schaft in Belgien aufgelöst wird oder nicht. Wenngleich
ich die angesprochenen Verhaltensnormen ebenfalls nicht
begrüße, Herr Dr. Hoyer, muss ich dazu sagen: Die Be-
handlung dieser Fragen liegt nicht in der Kompetenz des
Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Lothar Mark
10142


(C)



(D)



(A)



(B)


Derzeit gibt es also keinen Anlass, die politischen
Maßnahmen der EU-Mitgliedsländer gegenüber der Re-
gierung in Wien aufzuheben. Ich begrüße die jüngsten
Äußerungen von Bundeskanzler Schröder und Außenmi-
nister Fischer – auch die von heute – und stelle für meine
Fraktion fest, dass sie den Anträgen der Opposition,
Drucksachen 14/3187 und 14/3377, nicht zustimmen
kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist ein Fehler!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410807200
Das Wort hat
jetzt der Kollege Peter Hintze.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1410807300
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen in einer
schwierigen Phase der europäischen Politik. Es geht um
die Neuausrichtung der Europäischen Union, es geht um
das große Projekt der Osterweiterung und es geht um eine
wichtige Voraussetzung für die Steigerung unserer Hand-
lungsfähigkeit.

Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede von der
Opposition einen europapolitischen Grundkonsens einge-
fordert. Herr Bundesaußenminister, ich möchte Ihnen klar
sagen: Wir, die CDU/CSU, sind in den großen Fragen der
Europapolitik zu einem Konsens mit der Bundesregie-
rung und den demokratischen Parteien in diesem Hause
bereit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Prof. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.] – Günter Gloser [SPD]: Verhaltener Beifall bei der Union!)


Das hat zwei Voraussetzungen: Die eine ist eine faire
Debatte über die anstehenden Fragen. Die zweite ist die
Qualität der Politik, die es gemeinsam zu vertreten gilt.

Zum Stichwort „faire Debatte“ möchte ich in aller
Ruhe eines anmerken: Wir verstehen es, wenn Sie als
Bundesaußenminister politische Termine – wie gestern in
Polen – wahrnehmen müssen. Aber es beschwert uns, dass
diese Debatte als letzte Möglichkeit der Aussprache vor
dem Gipfel in Feira überhaupt nur deswegen stattfindet,
weil wir als Opposition einen entsprechenden Antrag ein-
gebracht haben.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch eure Pflicht! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann sagt er nichts!)


Es beschwert uns, dass die Bundesregierung weder eine
Regierungserklärung abgibt noch im zuständigen Fach-
ausschuss auf politischer Ebene vertreten war. Wir freuen
uns, dass Sie nächste Woche bereit sind, die Obleute per-
sönlich zu unterrichten; aber bei der Konsensbildung geht
es eben nicht nur darum, dass man hört, was die Regie-
rung vorhat – obwohl das wichtig ist –, sondern auch da-
rum, dass wir Parlamentarier Gelegenheit haben, die
großen und entscheidenden Fragen Europas in der Öf-
fentlichkeit zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410807400
Herr Kollege
Hintze, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Sterzing?


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1410807500
Ich gestatte. Bitte schön.

(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Er hätte doch vorher etwas sagen können!)



Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410807600

Herr Kollege Hintze, ist Ihnen bekannt, dass – weil der
Termin mit dem Außenminister im Ausschuss gestern
nicht zustande gekommen ist – just für den Zeitpunkt die-
ser Europadebatte das Angebot zu einer Ausschusssitzung
oder zu einem Gespräch mit den Obleuten des Europa-
ausschusses bestand und dass dieses Gespräch nur an die-
ser Europadebatte gescheitert ist?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das stiehlt dem Mann die Redezeit!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1410807700
Ich habe gehört, dass ein
solches Gesprächsangebot im Raum stand. Ich wünsche
mir, dass wir die großen Fragen im Bundestag diskutieren,
wenn die Regierung sagt: Wir brauchen einen europapo-
litischen Konsens im Parlament.


(Günter Gloser [SPD]: Hat er doch gesagt, Herr Hintze! – Gernot Erler [SPD]: Was machen wir denn gerade?)


– Wenn Sie nicht so viel dazwischenrufen würden, dann
kämen wir weiter.


(Gernot Erler [SPD]: Ich gelobe Besserung!)

Der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen,

dass die `leftovers` von Amsterdam beachtliche Pro-
bleme seien. Dem kann man nur zustimmen. Wenn es
keine beachtlichen Probleme wären, hätten wir sie auf
früheren Regierungskonferenzen in der Tat schon lösen
können; das ist klar. Unsere Auffassung ist nur, dass zu
diesen beachtlichen Problemen – Größe der Kommission,
Stimmgewichtung im Rat und Ausweitung der qualifi-
zierten Mehrheit – auch noch zwei andere wichtige Fra-
gen hinzukommen, nämlich die Frage einer präziseren
Kompetenzabgrenzung und die Frage der erleichterten
Anwendung der Flexibilitätsklausel; denn wir glauben,
dass das für die Zukunft Europas wichtig ist und dass eine
Vergrößerung der Tagesordnung die Lösung der drei kri-
tischen `leftovers` möglicherweise sogar etwas einfacher
macht, statt sie zu erschweren, wie die Regierung es ver-
mutet.

In diesen Punkten wollen wir eine parlamentarische
Diskussion. Hier hat kein Mensch gesagt – da dürfen Sie
alle unsere Erklärungen nachlesen; der Fraktions-
vorsitzende hat das heute Morgen auch ganz deutlich ge-
macht –, dass die Osterweiterung von unserer Seite an
eine vollendete und abgeschlossene Kompetenzabgren-
zung gebunden wird und dass wir, wenn Nizza nicht zum
letzten Erfolg führt, die Osterweiterung nicht unterstüt-
zen. Im Gegenteil: Wir unterstützen die Osterweiterung.
Sie ist für uns ein Gebot der politischen, ökonomischen




Lothar Mark

10143


(C)



(D)



(A)



(B)


und moralischen Vernunft. Das ist eine ganz klare Sache.
Sie darf nicht hinausgeschoben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Das hätte Herr Merz auch sagen können!)


Was die Frage der Kompetenzabgrenzung angeht, für
die wir uns in der Endform einen Verfassungsvertrag vor-
stellen, so bieten wir nur an, Herr Bundesaußenminister,
dass bei den Themen, die in die qualifizierte Mehrheit
überführt werden, eine Kompetenzpräzisierung im Ver-
trag erfolgt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wissen, dass eine komplette Kompetenzabgrenzung
vertragstechnisch schwierig und politisch kompliziert ist.
Das wissen wir. Aber wir erwarten von der Bundesregie-
rung, dass sie die Verhandlungen so anlegt, dass bei dem
Schritt des Übergangs in die qualifizierte Mehrheit auch
ein Einstieg in eine klarere Kompetenzabgrenzung er-
folgt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum wollen wir das? Wir glauben, dass die Legiti-

mität von politischen Entscheidungen im Wesentlichen
von drei Dingen abhängt: zum einen von der demokrati-
schen Struktur der Entscheidungen, zum Zweiten von der
Transparenz der Entscheidungsgänge und zum Dritten
von der Qualität der Ergebnisse. Wir glauben, dass eine
klarere Kompetenzabgrenzung in allen drei Punkten einen
Zugewinn brächte und damit auch eine größere Zustim-
mung zum Projekt der europäischen Einigung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Kollege Gloser hat in seiner Einführungsrede ge-

sagt, dass die Sozialdemokraten die großen europapoliti-
schen Entscheidungen in der Vergangenheit immer unter-
stützt haben. Das nehmen wir erfreut zur Kenntnis. Aber
es waren auch große Vorhaben: Binnenmarkt, Abschaf-
fung der Grenzkontrollen, Wirtschafts- und Währungs-
union, Süderweiterung, Erweiterung um die EFTA-Staa-
ten, Innen- und Rechtspolitik. Das waren große Vorhaben.
Wir sehen die Gefahr, dass unter der Politik der jetzigen
Regierung diese großen Vorhaben, die in der Vergangen-
heit verwirklicht worden sind, nicht so fortgesetzt wer-
den, wie sie es verdient hätten. Das ist unsere Sorge.


(Gernot Erler [SPD]: Unberechtigt!)

Die wird in diesen Tagen konkret. Unser Fraktionsvor-

sitzender hat darauf hingewiesen: Wenn der französische
Verteidigungsminister einen Tag vor dem deutsch-franzö-
sischen Gipfel öffentlich sagt, er könne sich eine Zusam-
menarbeit mit Deutschland auf militärischem Gebiet gar
nicht so recht vorstellen, das gehe natürlicherweise mit
England besser, dann muss man doch sagen: Wie traurig
ist die Situation, dass der französische Verteidigungsmi-
nister einen Tag vor einem Gipfel eine solche Aussage
macht? Das zeigt doch ein Defizit. Darüber können wir
doch nicht hinwegschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Herr Minister Fischer, es geht nicht, dass Sie jeden
Einwand der Opposition mit dem Wunsch wegbügeln, es
müsse ohne Wenn und Aber ja gesagt werden. Das erin-
nert mich an einen Menschen, der jeden Tag schwimmen
geht und sagt, er springe mit dem Kopf voran ins Becken,
egal ob Wasser drin sei oder nicht. So kann es nicht sein.
Wir müssen doch darüber sprechen, was es zu regeln gibt.

Der amerikanische Präsident war bei uns in Deutsch-
land und hat über die Grenzen der Europäischen Union
aus seiner Sicht gesprochen. Er stellt sich vor, dass Russ-
land Mitglied der Europäischen Union wird. Nun ist
das die Vorstellung des amerikanischen Präsidenten. Die
Amerikaner sind gute Freunde von uns. Sie haben eine
Vorstellung von Europa als einer großen Stabilitätszone,
die vom Atlantik bis Asien reicht. Das ist aus ihrer Sicht
verständlich. Aber hier müssen wir als Parlament doch ein
Wort dazu sagen, dass das nicht unsere Vorstellung von
Europa als einer Wertegemeinschaft, einer politischen
Union ist. Eine Entgrenzung würde zu einem schweren
Verlust führen. Darüber müssen wir hier doch diskutieren
und sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu habe ich von Ihnen kein Wort gehört. Es wäre schön,
wenn wir ein Wort des Außenministers dazu gehört hät-
ten.

Einige der Maßnahmen, die geignet sind, die Hand-
lungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern,
können gleichsam schon vor dem Vertrag geklärt werden.
Für mich besteht der größte Reformnotstand beim Minis-
terrat.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Beim Minister!)

Hier müssen zwei Dinge geklärt werden. Das eine ist die
ungute Vermischung von legislativen und exekutiven
Funktionen des Ministerrates. Das andere ist, dass dieses
wichtige Gesetzgebungsorgan nicht öffentlich tagt. Was
ist das für eine Welt, in der nur der Volkskongress von
Nordkorea und der Ministerrat der Europäischen Union
ihre Gesetze hinter verschlossenen Türen machen. Ich
meine, die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der
Ministerrat öffentlich tagt. Sie könnten schon vor der
nächsten Vertragsänderung dafür sorgen, dass das geän-
dert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Nun haben Sie, Herr Minister Fischer, auch Aus-
führungen zum Europäischen Parlament gemacht, die
ich merkwürdig finde. Die Einführung von Doppel-
mandaten, also eines Feierabendparlamentes, wäre für
mich ein dramatischer Rückschritt auf dem Weg der eu-
ropäischen Integration. Wir dürfen das Europäische Par-
lament nicht durch die Einführung von Doppelmandaten
schwächen, sondern müssen es durch einen Kompetenz-
zuwachs stärken. Eine Möglichkeit der Stärkung des Eu-
ropäischen Parlamentes wäre, ihm das Recht zu geben,
den Präsidenten der Kommission zu wählen und ihn vom
Rat bestätigen zu lassen


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Peter Hintze
10144


(C)



(D)



(A)



(B)


und nicht umgekehrt das Parlament einen hinter ver-
schlossenen Türen ausgekungelten Kandidaten nur noch
bestätigen zu lassen. So könnten wir das Europäische Par-
lament stärken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Sie haben ja nie gekungelt!)


– Was wir in der Vergangenheit gemacht haben, lieber
Kollege Gloser, kann sich wirklich sehen lassen. Ich hoffe
sehr, dass sich das, was die Regierung jetzt noch vorhat,
sehen lassen kann.

Ich schließe mit Blick auf Feira mit einem freundlichen
und positiven Wort. Gut finde ich, dass man in Sachen eu-
ropäischer Verteidigung ein Stück vorankommt. Wir fra-
gen zu Recht, wo Europa zu weit gegangen ist und wo
man es ein Stück zurücknehmen soll. Wir müssen aber
auch fragen, in welchen Bereichen die europäische Inte-
gration noch zu wenig ausgeprägt ist. Ich finde, dass Eu-
ropa zu wenig zum Ausdruck kommt, wenn 15 Armeen
nebeneinander bestehen, die viel Geld kosten und denen
es an Effizienz mangelt. Wir brauchen eine gemeinsame
Verteidigung. Ich wünsche mir, dass in Feira der Einstieg
dazu gelingt.

Insgesamt wünsche ich mir, dass Feira einen wichtigen
neuen Impuls für das große europäische Projekt der Oster-
weiterung gibt. Wir werden später einmal daran gemes-
sen, wie wir dieses Projekt bewältigt haben.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Das war das Wort zum Donnerstag!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410807800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410807900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl
Herr Hintze als auch vorher Herr Schäuble haben be-
stätigt, dass die von Ihnen so stark geforderte Kom-
petenzabgrenzung, über deren Notwendigkeit ja kein
Zweifel besteht, keine Vorbedingung für eine Zustim-
mung zu der sehr notwendigen Osterweiterung sein muss.
Ich möchte mich deshalb nicht auf den Streit einlassen,
der hier ausgetragen worden ist, sondern möchte über die
Probleme sprechen, die mit der Osterweiterung, vor der
wir jetzt stehen, verbunden sind. Ich möchte dies einmal
aus dem Blickwinkel derer tun, die zu uns kommen wol-
len. Dabei möchte ich darüber sprechen, wie es sich mit
der Forderung nach sicheren Grenzen verhält und was
diese für die einzelnen bedeutet. Denn auch dies wird ja
immer miteinander verbunden.

Die einen sagen, wir müssen die Grenzen kennen, da-
mit wir dann über Finalität sprechen können, also über
Verfassungsfragen; die anderen sagen, das könne man ja
vielleicht auch ein wenig getrennt voneinander machen.
Ich stelle nur fest und registriere, dass es im Augenblick
drei völlig unterschiedliche Verhaltensmuster in Bezug
auf dieses Problem gibt.

Tschechien und die Slowakei führen die Visapflicht ge-
genüber den östlichen Nachbarn ein. Das heißt, sie neh-
men vorweg, was das Schengener Abkommen von ihnen
später einmal verlangt.

Der amtierende polnische Außenminister, immerhin
ein Garant der polnisch-europäischen Zusammenarbeit,
erklärt: Natürlich wird Polen dem Schengener Abkom-
men beitreten, aber erst zum spätestmöglichen Termin,
erst am Tage des Beitrittes. Natürlich ist es notwendig,
dass Polen die Grenzen entsprechend absichert, allein
schon der organisierten Kriminalität wegen. Aber über
die historisch-politisch-kulturellen Dimensionen dieser
Grenzen müsse allerdings auch diskutiert werden. Das tun
wir sehr wenig. Wir diskutieren sehr wenig darüber, was
es bedeutet, wenn in Osteuropa diese Grenzen gezogen
werden.

Schließlich hat die Ukraine jetzt die Visapflicht für die
EU-Staaten abgeschafft – eine deutliche Dokumentation,
auch zu Europa gehören zu wollen, und Ausdruck der
Hoffnung auf die stabilisierende Wirkung eines Zu-Eu-
ropa-Kommens.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Tagen
war ja nicht nur der Außenminister in Warschau. Deshalb
möchte ich gern drei Bemerkungen machen.

Erstens. Wir erleben dort zurzeit eine Regierungskrise,
die sicherlich nicht dazu führen wird, dass die Pro-EU-
Mehrheit im Sejm infrage steht. Bei einem weiteren Zer-
fall des AWS-Bündnisses, also des größeren Regierungs-
partners, kann sich aber am rechten Flügel der AWS eine
europafeindliche Demagogie entwickeln. Dafür wird es
einen empfänglichen Boden geben.

Zweitens. Auch den polnischen Bauern ist inzwi-
schen bewusst geworden, dass eine gemeinsame EU-
Agrarpolitik sie unter schweren Anpassungsdruck stellt,
dem viele Subsistenzwirtschaften zum Opfer fallen wer-
den. Zugleich stehen für einen früheren Beitritt bis 2006
keinerlei Preisstützungsmittel im Etat zur Verfügung,
während die stattdessen eingesetzten Mittel – das möchte
ich sehr deutlich unterstreichen – für die Politik des länd-
lichen Raumes in Polen zwar zu mehr als 2 000 Projekt-
anträgen geführt haben – wovon Ende des Jahres 1999
200 bewilligt worden sind –, bis heute aber noch kein mü-
der Euro nach Polen geflossen ist. Wie wollen Sie dann
überhaupt dafür sorgen, dass es am Ende eine gesell-
schaftliche Akzeptanz für all das geben wird, was Sie groß
beschwören?

Deshalb meine letzte Bemerkung: Am Ende der Bei-
trittsverhandlungen werden die Fragen von Übergangs-
fristen zum Beispiel für die Angleichung der Niederlas-
sungs- und Grunderwerbsrechte stehen. Natürlich stößt da
jedes Wort deutscher Vertriebenenfunktionäre und insbe-
sondere der Präsidentin des Bundesverbandes der Vertrie-
benen auf Aufmerksamkeit und auf Empfindlichkeiten.
Jedenfalls bin ich hinreichend auf den „FAZ“-Artikel un-
serer Kollegin Steinbach ausgerechnet zum 8. Mai ange-
sprochen worden.

Dieser Artikel enthält eine sehr nachdrückliche und
eindeutige Beschreibung dessen, was Deutschen in den
Ostgebieten angetan worden ist. Aber danach heißt es:




Peter Hintze

10145


(C)



(D)



(A)



(B)


Das alles geschah, während vor dem Nürnberger Mi-
litärtribunal Hans Frank, Hermann Göring, Alfred
Rosenberg, Fritz Sauckel und Arthur Seyß-Inquart
angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, aus-
drücklich auch wegen ihrer Beteiligung an Deporta-
tionen von Zivilisten aus besetzten Gebieten zur
Zwangs- und Sklavenarbeit.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß
nicht, ob Ihnen das Ungeheuerliche dieser Gleichsetzung
von Tätern und Opfern auch so bewusst ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich glaube – aber das ist Sache der CDU/CSU –, dass es
wirklich dringend eines Gesprächs bedarf. Ich glaube,
dass hiermit auch die Heimatinteressen der Vertriebenen
in ganz gefährlicher Weise aufs Spiel gesetzt werden. Ich
wünsche mir, dass Sie Ihrer Kollegin den Rücktritt von
ihrem Amte nahe legen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410808000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1410808100
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! CDU und CSU
sind sich der historischen Verantwortung, in der wir alle
in diesem Europa stehen, voll und ganz bewusst und brau-
chen von niemandem Nachhilfeunterricht in dieser Frage.
Wir wissen auch ganz genau, was Polen, Ungarn und an-
dere bei der Bekämpfung des Kommunismus geleistet ha-
ben, dabei, den Weg für die europäische Revolution und
damit auch zu unserer Wiedervereinigung freizumachen.
Wir lassen uns in unserem Engagement für die Erweite-
rung der Europäischen Union von niemandem in diesem
Haus übertreffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Die Erweiterung der Europäischen Union ist das große
Ziel der deutschen Europa- und Außenpolitik in den kom-
menden Jahren, weil wir nur so das bewahren können,
was Frieden und Freiheit auf diesem Kontinent ausge-
macht haben, weil wir nur auf diese Art und Weise Frie-
den und Stabilität aufrechterhalten können und den Krieg
aus Europa verdrängen können. Wir wissen ganz genau,
dass Europa keine Trennlinien verträgt. Wir arbeiten für
die Wiedervereinigung von Europa. Das ist das große und
wunderbare Ziel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen,
aber auch im Detail zu streiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Wenn man über die Erweiterung der Europäischen
Union spricht, dann bringt es doch nichts und führt nicht
weiter, wenn man die Ängste, die es gibt, die es vor allen
Dingen nach dem EU-Gipfel von Helsinki gibt – dass
plötzlich mit zwölf Ländern verhandelt wird und ein wei-
teres Land, die Türkei, als Kandidat hinzukommt –, nicht

zur Kenntnis nehmen will. Es ist wahr: Man darf die
Ängste nicht ausbeuten und man darf sie nicht verstärken,
indem man sie benennt.


(Beifall des Abg. Günter Gloser [SPD])

Aber benennen muss man sie und man muss ganz ruhig
darüber reden dürfen, ohne sich gleich dem Vorwurf aus-
zusetzen, man sei in einer antieuropäischen Ecke.


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: So ist es! Das lassen wir uns nicht gefallen!)


Eine dieser Ängste betrifft die Freizügigkeit der Ar-
beitnehmer. Da gibt es natürlich gerade bei den Menschen
bei uns, die arbeitslos sind, die Sorge: Kommen dann
viele Billiglohnarbeiter zum Beispiel aus Polen und ver-
drängen uns? Ich halte nichts davon, diese Angst auszu-
beuten. Aber sie aussprechen und auf ihren wahren Kern
untersuchen, das wird man doch tun dürfen.

Nun haben wir inzwischen Studien, die deutlich ma-
chen, warum Menschen, zum Beispiel aus Mittel- und
Osteuropa, ihre Heimat verlassen: nicht, weil sie im Wes-
ten ein bisschen mehr verdienen können – das reicht nicht
als Grund, die Heimat zu verlassen –, sondern nur auf-
grund von Perspektivlosigkeit. Wenn die Menschen keine
Hoffnung für sich und ihre Familien mehr sehen, dann erst
gehen sie weg.

Also ist die Perspektive Europäische Union, wenn man
genauer hinschaut, in Wahrheit das Allerbeste, um Emi-
gration zu verhindern. Würden wir die Perspektive einer
baldigen EU-Öffnung verweigern, dann würden die Men-
schen zu uns kommen und nicht umgekehrt. Deswegen
sollten wir auf solche Ängste reagieren und sachlich da-
mit umgehen, statt diese Ängste zu verdrängen und es ir-
gendwelchen Haiders zu überlassen, sie zu artikulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Das müssen Sie Herrn Glos sagen! – Günter Gloser [SPD]: Der Adressat sitzt bei Ihnen!)


Das tun wir hier: Wir benennen die Ängste und gehen auf
sie ein.

Das Nächste, was ich überhaupt nicht verstehe, ist,
wieso Sie auf die Idee kommen, dass der Gedanke eines
Verfassungsvertrages und einer Kompetenzabgrenzung
dazu führen könnte, den Prozess der institutionellen
Reformen und der Osterweiterung zu erschweren bzw.
unmöglich zu machen. Warum wird man, wenn man von
Kompetenzabgrenzung spricht, gleich ein bisschen in
eine zögerliche, euro-skeptische Ecke gedrückt? Es ist
doch der Außenminister selbst, der den Gedanken des
Verfassungsvertrages von Wolfgang Schäuble in seiner
Rede am 12. Mai aufgenommen hat. Warum kein Verfas-
sungsvertrag? Er hilft doch dem europäischen Gedanken!
Je mehr die Menschen den Eindruck haben, dass wir ge-
nau schauen, welche Rechte wir nach Brüssel geben


(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und was wir in den Kommunen, Ländern und National-
staaten behalten, desto mehr werden sie auch bereit sein,
dort, wo die EU wirklich Kompetenzen braucht, zum Bei-




Dr. Helmut Lippelt
10146


(C)



(D)



(A)



(B)


spiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, auf dem Weg
in eine vertiefte Integration mitzugehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nein, die Idee des Verfassungsvertrages und der Kom-

petenzabgrenzung spaltet nicht, sondern stärkt die Euro-
päische Union. Das sollten Sie an dieser Stelle zur Kennt-
nis nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir können doch festhalten, dass wir in den wesentli-

chen Fragen – ich beziehe mich auf das, was hier ange-
sprochen worden ist – gar nicht so weit voneinander ent-
fernt sind. Warum versuchen Sie dann – ich finde, manch-
mal etwas sehr bewusst –, die Opposition von diesem
Konsens wegzudrängen?


(Joachim Poß [SPD]: Sie drängen sich selbst weg!)


Freuen Sie sich doch über Gemeinsamkeiten, Herr
Außenminister, und pflegen Sie sie, zum Beispiel das ge-
meinsame Ziel eines Verfassungsvertrages und einer Eu-
ropäischen Grundrechtscharta sowie den Willen, gemein-
sam für eine Erweiterung einzutreten. Das sind doch Ele-
mente, auf denen wir eine gemeinsame europäische
Politik aufbauen könnten. Ich finde, Sie treiben es, wenn
Sie eine bestimmte Gruppierung hinausdrängen wollen,
mit Ihren parteipolitischen Bestrebungen etwas zu weit.
Das ist ein großer und tragischer Fehler.


(Günter Gloser [SPD]: Das will doch keiner!)

Es gibt allerdings einen Punkt, bei dem wir in der Tat

fundamental anderer Auffassung sind als Sie. Auch diesen
Punkt möchte ich ansprechen. Er betrifft Österreich. Ich
glaube, dass man gerade dann, wenn man Europa will und
wenn man für einen Erfolg der Regierungskonferenz und
für einen guten Vertrag von Nizza ist, mit dem eine Aus-
weitung der Mehrheitsentscheidungen erzielt werden soll,
die Österreicher wieder mit ins Boot bekommen muss.
Wir müssen sie aus der Isolierung befreien. Überlegen Sie
sich doch einmal: Kann irgendein österreichischer Abge-
ordneter – übrigens gleich welcher Partei – einem
Souveränitätsverlust zustimmen, wenn sein Land gleich-
zeitig in dieser Art und Weise in die Ecke gedrängt wird?
Ich glaube, wir schaden mit den gegenüber Österreich
verhängten Sanktionen Europa und bremsen die Oster-
weiterung. Diesen Bremsklotz in Bezug auf die Erweite-
rung der Europäischen Union sollten Sie jetzt in Feira be-
seitigen. Herr Außenminister, haben Sie endlich den Mut
dazu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe einen gewissen Respekt davor, dass Sie sagen:

Wir wollen uns jetzt in dieser Frage nicht öffentlich mit
Frankreich anlegen; wir brauchen die Franzosen. Natür-
lich wir wollen jetzt nicht auf irgendeine Weise die
europäische Front aufbröckeln und eine deutsche
Führungsrolle übernehmen. Aber ich finde, dass der Herr
Bundeskanzler angesichts dessen, dass er mit Fidel Castro
und Gaddafi spricht, mit Herrn Schüssel wenigstens ein-
mal telefonieren könnte. Ich finde, dass man wenigstens
intern etwas unternehmen könnte, um daran mitzuarbei-

ten, in Feira die Brücke, von der der Kollege Hoyer so-
eben gesprochen hat, beschreiten und die europäischen
Sanktionen gegenüber Österreich aufheben zu können.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Denn es ist richtig und wahr: Die Europäische Union

ist eine Wertegemeinschaft. Sie haben völlig Recht: Das,
was – leider – der Herr Haider und seine Truppen, die alte
SS-Sprüche aufgreifen, politisch sagen, ist schwer er-
träglich.


(Gernot Erler [SPD]: Wohl wahr!)

Ich finde es richtig, dass die Europäische Union ihren
Wertekanon definiert und mit aller Kraft verteidigt. Dies
ist doch aber nur dann notwendig, wenn es manifeste Ver-
stöße gegen EU-Werte und EU-Normen gibt, und nicht
schon aufgrund von unverantwortlichen Sprüchen einer
einzigen Persönlichkeit.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Verharmlosung!)


Ich glaube in der Tat, dass wir ein klares und geordne-
tes Verfahren brauchen, um so schwerwiegende Maßnah-
men zu ergreifen, und dass wir nicht präventiv in dieser
Art und Weise ein über 40 Jahre gewachsenes demo-
kratisches Land, einen engen Freund, nur noch mit der
Kneifzange anfassen sollten. So stärken wir nämlich über-
all die Haiders und schwächen sie nicht.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Vor allen Dingen aber schwächen wir die Europäische
Union in ihrer Zukunftsperspektive.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:

Über all diese Fragen, über Österreich, über die Türkei,
über die Art und Weise, wie wir die institutionellen Re-
formen durchführen, gibt es zwischen den Parteien Streit.
Das ist gut und wichtig so; das hat es immer gegeben.
Aber über die großen Grundfragen Europas, darüber, dass
wir diesen Kontinent, der als Friedenssicherungskraft in
der Welt wirkt, brauchen, gibt es im Ernst keinen Streit in
diesem Hause. Sie sollten daran mitwirken, dass dieser
Konsens aufrechterhalten bleibt, und sollten nicht eine an-
dere Partei bzw. Fraktion ganz bewusst in die Ecke von
Antieuropäern und Euroskeptikern drücken. Das wird je-
denfalls die CDU/CSU nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Michael Glos [CDU/CSU]: Bravo!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410808200
Ich gebe das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph
Zöpel.

D
Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1410808300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es macht Sinn, nach dem Positiven einer
Debatte zu suchen. Ich tue das und komme zu folgender
Bewertung.




Dr. Friedbert Pflüger

10147


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine sehr große Koalition, die 1925 mit dem Be-
schluss der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa in ihr Par-
teiprogramm zu schreiben, begonnen hat, die von der Par-
tei Adenauers und Hallsteins aufgenommen wurde und in
die auch durch konzeptionelle Vorläufer aufseiten von Li-
beralen und Grünen, viel eingeflossen ist, wird dafür sor-
gen, dass Deutschland den Prozess hin zu weiterer effizi-
enter europäischer Integration durchlaufen wird. Das ist
für mich die Summe dieser Debatte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Das ist aber sehr wohlwollend!)


Es ist auf einige Punkte dieser Debatte einzugehen.
Beginnen möchte ich mit der Osterweiterung. Ich be-
grüße die klaren Aussagen von allen Fraktionen, dass sie
die Osterweiterung unterstützen. Ich akzeptiere auch das
Ergebnis einer Analyse öffentlicher Diskussionen, nach-
dem es Menschen gibt, die in dieser Hinsicht Befürchtun-
gen haben. Nach meiner Auffassung hilft hier nur eines:
Aufklärung. Ich möchte ausdrücklich davor warnen, diese
Ängste – verbunden mit der Aussage, man spreche sie
nicht aus – aus parteipolitischen Gründen letztlich doch
zu schüren. Da ist große Zurückhaltung geboten.


(Beifall bei der SPD)

Wenn jeder – auch Sie, Herr Kollege Glos – den Mut
hätte, sich davon zu distanzieren, wären wir weiter.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Es hilft nur Aufklärung, und zwar eine Aufklärung, die

sowohl in Deutschland wie in den Ländern, die beitreten
wollen, nicht zu Irritationen führt. Da macht es keinen
Sinn, ständig zu formulieren, man sei ja für die Erweite-
rung – aber die Türken! Das entspricht nicht den Fakten,
was die möglichen zeitlichen Abläufe angeht.

Ich habe das auch hier schon öfter gesagt, wiederhole
es aber immer wieder: Es gibt derzeit 370 Millionen EU-
Bürger. Mit den Staaten, von denen ich glaube, bei ihnen
könnten unter demokratischen Verhältnissen inte-
grationsorientierte Mehrheiten vorhanden sein, kämen
noch 130 Millionen Menschen hinzu. Schon diese Rela-
tion – 370 Millionen zu 130 Millionen – zeigt, dass die
Ängste übertrieben sind.

Diese 130 Millionen Menschen lassen sich – übrigens
in Übereinstimmung mit den politischen Repräsentanten
dieser Länder – in zeitliche Gruppen einteilen. Wenn die
EU aufnahmefähig ist, die entsprechenden Länder effizi-
ent verhandeln und die Verhandlungsergebnisse dann ef-
fizient in ihr eigenes Recht umsetzen, ist es bis zur Mitte
dieses Jahrzehnts möglich, dass 70 Millionen weitere
Menschen der EU angehören werden. Sie wohnen in zehn
Ländern, 38 Millionen in Polen, die anderen in Ländern
mit geringerer Einwohnerzahl. Das ist die erste Gruppe.

In Übereinstimmung mit diesen Ländern lässt sich ar-
tikulieren: In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts könn-
ten Bulgarien und Rumänien so weit sein. Es bleibt offen,
wann nach der Beseitigung des Regimes von Milosevic
die anderen Staaten nordwestlich von Griechenland – es

macht manchmal Sinn, nicht von Osterweiterung, son-
dern aus griechischer Perspektive von Nordwest-
erweiterung zu sprechen – dazukommen können. Dass sie
es können, hat Kroatien bewiesen. Die radikale Verände-
rung der Politik, nach Wahlen eine vordemokratische
Rechtsregierung durch eine sozialliberale Regierung der
linken Mitte zu ersetzen, hat dort in historischen Dimen-
sionen fast Wunder vollbracht. Das ist nach meiner Mei-
nung auch in jedem anderen dieser Staaten möglich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich mache eine Bemerkung, die auf Herrn Merz Bezug
nimmt. Ich glaube, es ist zumindest missverständlich, im-
mer wieder zu artikulieren, bestimmte europäische Pro-
bleme ließen sich nicht mehr lösen, wenn 12 weitere Staa-
ten dabei wären. Die finnische Präsidentschaft im vergan-
genen Jahr und die portugiesische Präsidentschaft, die
jetzt ausläuft, zeigen: Diese beiden nicht zu den Grün-
dungsmitgliedern gehörenden relativ einwohnerschwa-
chen Staaten haben mit ihrem Engagement, mit ihrer In-
tegrationsfähigkeit und mit ihrer Führungsfähigkeit
während ihrer Präsidentschaft gezeigt, dass Überheblich-
keit weder in Deutschland noch in Großbritannien, noch
in Frankreich, noch in Italien angebracht ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Beim Schritt in die Informationsgesellschaft ist der
Ehrgeiz, dass Europa die Vereinigten Staaten auf dem
Weg in die Wissensgesellschaft einholen sollte, nicht
durch Zufall, sondern auch aus historischen Gründen in
Portugal geboren worden. Die Verbindung von der Rolle
Portugals bei der Entdeckung weiter Teile dieser Welt im
16. Jahrhundert zu heute haben die Portugiesen ganz be-
wusst und in einer richtigen historischen Parallele aufge-
zeigt, in einer historischen Parallele, die in Deutschland
nicht so gesehen wird, weil wir zu jener Zeit keine aus-
reichende Zahl guter Seefahrer hatten. Aber das ist ja nicht
schlimm; man kann nicht alles haben.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Osterweiterung stelle ich an die erste Stelle. Wenn
Sie mich persönlich nach Visionen fragen, die mit Europa
verbunden sind, sage ich: Dass romanische Länder, ger-
manische, angelsächsische und slawische Länder mit ei-
nigen Einsprengseln von Finnougriern, Illyrern und ande-
ren alle Europäer werden, keinen Krieg mehr miteinander
führen, sich nicht umbringen


(Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD])

und dass dies bis zu dem Lebensende eines heute
56-Jährigen erreicht werden kann, das halte ich für die
größte Vision, die man haben kann. Ich bräuchte keine
weiteren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der zweite Punkt ist Frankreich. Es ist alles richtig:
Ohne Deutschland und Frankreich hätte das nicht ge-




Staatsminister Dr. Christoph Zöpel
10148


(C)



(D)



(A)



(B)


klappt. Herr Kinkel, Herr Hoyer, Sie werden mir da zu-
stimmen: Es geht ja auch gar nicht anders, als dass
Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten. Ich ma-
che einmal eine Bemerkung, die einige vielleicht unange-
messen finden – aber oft ist die Wirklichkeit besser als die
Überhöhung –: Ohne dass Nordrhein-Westfalen und Bay-
ern im Bundesrat zusammenarbeiten, geht es auch nicht –
egal, wer regiert.


(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Sie verpassen gerade in Nordrhein-Westfalen eine Riesenchance!)


– Das wird immer gemacht, egal, wer da regiert.
Aber die Beziehung zwischen Deutschland und Frank-

reich ist etwas davon Verschiedenes. Lassen Sie mich das
einmal wie folgt formulieren: Zu den besonderen Aspek-
ten der deutsch-französischen Zusammenarbeit gehört
auch, die Luzidität von „cohabitation“, die ungemeine Ef-
fektivität von Koalitionsregierungen – übrigens in vier
verschiedenen Formen seit dem Elysee-Vertrag – zu er-
kennen. Dazu gehört auch das ungeheuer konstruktive
Element innerparteilichen Wettstreits in beiden Ländern.
Das alles sollte man würdigen, wenn man darüber spricht.
Wenn man das nicht ausreichend würdigt, dann eignet es
sich eher zu Leerformeln als zu konstruktiver Politik.


(Beifall bei der SPD)

Die Praxis vollzieht sich nicht so, wie es Hinter-

grundinformanten der „Le Monde“ erzählen, wonach
zum Beispiel ich den Ehrgeiz hätte, mit meinem Kolle-
gen Moscovici zu verkünden, wir seien weiter. Die Frage,
wie viele Stimmen Deutschland und Frankreich letztlich
im Rat haben werden, werden der französische Präsident
und der deutsche Bundeskanzler entscheiden. Das kön-
nen Diplomaten nicht mehr aushandeln. Ich beziehe mich
jetzt auf die Haltung, die Sie, Herr Hoyer, dazu einneh-
men. Das findet auf jener Ebene statt; das wissen Pierre
Moscovici und ich. Ich kenne überhaupt keinen Korres-
pondenten der „Le Monde“ und ich schließe mich dem
Dementi von Herrn Moscovici vollinhaltlich an. Das ist
auch ein Beispiel deutsch-französischer Verständigung.
Ich hoffe, Sie würdigen es.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit komme ich drittens zu Österreich. Lassen Sie

uns einmal über Österreich ganz konkret reden. In Öster-
reich bildet eine Partei, die Mitglied der Europäischen
Volkspartei ist, ohne Not gegen den dringenden Ratschlag
des Bundespräsidenten eine Koalition mit einer Partei, die
keiner der europäischen Parteienzusammenschlüsse an-
gehört – dank Graf Lambsdorff, Herr Kollege Hoyer.


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist eben der Unsinn! Das stimmt doch nicht, Herr Kollege! Sie kennen doch die Verhältnisse! – Michael Glos [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)


– Wenn Sie sagen, dass es eine zwingende Notwendigkeit
gab,


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja, leider!)


diese Regierung zu bilden, sind Sie schlauer als der öster-
reichische Bundespräsident. Ich wäre da etwas vorsichtig,
weil Sie sonst immer behaupten, das wäre eine Einmi-
schung in innere Angelegenheiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Da gehört wenig dazu!)


– Es ist bemerkenswert. Herr Kollege Glos, Ihr Beitrag
zum deutsch-österreichischen Verhältnis ist: Es gehört
wenig dazu, schlauer zu sein als der österreichische Bun-
despräsident. – Halten wir das einmal fest.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist keine Kunst!)


Das ist Ihre Österreich-Freundlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist das erste Faktum.
Was passiert nun? Der konservative französische

Staatspräsident und der liberale belgische Außenminister
erheben den lautesten Protest.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nicht so laut wie Sie im Moment!)


– Wesentlich lauter.
Die anderen schließen sich an. Jetzt werden Sie mögli-

cherweise gleich wieder laut werden. Ich sage Ihnen näm-
lich eines:


(Michael Glos [CDU/CSU]: Laut sind doch nur Sie!)


Kein deutscher Bundeskanzler und kein deutscher Außen-
minister, ganz gleich aus welcher der Parteien, die zu die-
ser ganz großen Europa-Koalition gehören, würden im
Konflikt mit dem französischen Präsidenten, dem briti-
schen Premierminister und dem italienischen Mi-
nisterpräsidenten hier eine andere Haltung einnehmen.
Kein deutscher Bundeskanzler hätte das getan!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Sie wissen ganz genau, warum das kein deutscher Bun-
deskanzler getan hätte.

Nun kommen wir zum deutsch-französischen Verhält-
nis zurück. Wenn es zu irgendeinem Punkt nur eine ganz
kurze Diskussion in Rambouillet gab, dann durch den kla-
ren Satz des französischen Präsidenten, über dieses
Thema könne man mit ihm nicht reden. Aber ich nehme
zur Kenntnis, dass Sie in diesem Fall möglicherweise die
Gefährdung des deutsch-französischen Verhältnisses in
Kauf genommen hätten. Das sollten wir registrieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl Lamers [CDU/CSU]: Das hätten Sie gerne! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)





Staatsminister Dr. Christoph Zöpel

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(C)



(D)



(A)



(B)


– Ich wäre gespannt, wie irgendein Kanzler Ihrer Partei,
und sei es der verdiente Europäer Helmut Kohl, reagiert
hätte, wenn er dort gesessen hätte.


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Da wäre es gar nicht so weit gekommen! – Gegenruf von der SPD: Das ist virtuell!)


Stellen Sie sich doch einmal solche Szenarien vor!
Jetzt ist dort einiges erreicht. In Österreich finden Dis-

kussionen statt, die sich mit der Vergangenheit dieses
Landes vor 1945 beschäftigen. Es gibt manche Diskus-
sionen, die dort nachgeholt werden müssen, weil sie bis-
her nicht so intensiv geführt wurden. Es gibt eine
Orientierung in der derzeitigen Regierung, Fehler nicht zu
machen, für die Haider stehen könnte. Es gibt Überlegun-
gen bei den Oppositionsparteien. Es gibt Kontakte von
Regierungen zu österreichischen Politikern, vor allem
von solchen Regierungen, die stark dagegen waren, mit
der Opposition zu sprechen. Zum Beispiel spricht Herr
Michel mit der SPÖ. Ich halte jeden Beitrag, zu überlegen,
unter welchen Umständen wir wieder zu einer Normali-
sierung dieser europäischen Innenpolitik im Hinblick auf
Österreich kommen können, für richtig, auch Ihren Bei-
trag, Herr Kollege Pflüger, den Sie an Herrn Minister
Fischer geschickt haben. Aber die Ausgangssituation war
nicht anders möglich. Das, womit wir alle Schwierigkei-
ten haben, ist ja etwas Besonderes: Hier findet bereits eu-
ropäische Innenpolitik statt, aber noch mit Mitteln der Di-
plomatie.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Nein, der Kanonenbootpolitik! Das ist das Problem!)


Das führt allerdings manchmal zu ironischen Arabesken.
Lassen sie mich eines festhalten – ich wiederhole es –:

Kein deutscher Bundeskanzler könnte, wenn nicht Frank-
reich, England oder Italien vorangingen, diese Haltung
ändern. Malen Sie sich die Diskussion in den Vereinigten
Staaten, in Kanada und in anderen Teilen der Welt aus.
Kein deutscher Bundeskanzler könnte Deutschland einen
solchen Schaden zufügen.


(Beifall bei der SPD)

Damit bin ich viertens bei dem, was jetzt in der Euro-

päischen Union praktisch vorangehen wird. Es ist sehr in-
teressant, zwischen den Ratschlägen, was formal zu tun
ist, und den Inhalten eine gewisse Verbindung herzustel-
len. Die Ratschläge lauten vor allem: immer mit Frank-
reich und, Herr Kollege Hoyer, besser mit den kleinen
Ländern. Was dieses „immer mit Frankreich und gleich-
zeitig besser mit den kleinen Ländern“


(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Ja!)

bedeutet, male ich mir jetzt einmal aus. Dazu nehme ich
die deutsche Wunschposition bezüglich der `leftovers`.
Die deutsche Wunschposition muss sein: möglichst dicht
an der Proportionalität in Bezug auf die Bevölkerung.
Stellen Sie sich dann einmal den Dialog mit Luxemburg
und Dänemark vor. Die deutsche Position kann locker be-
sagen, dass nicht jedes Land einen Kommissar stellt. Aber
auf jeden Fall – anderenfalls gäbe es einen riesigen Kon-
flikt – muss Frankreich einen Kommissar stellen; selbst

dann, wenn wir den Mut hätten, nein zu sagen. Bei der
qualifizierten Mehrheit sind wir am weitesten von allen.
Sie können mit jedem anderen Land sprechen; wir sind
am weitesten. Es kann also nur wohlfeil sein – Sie haben
es nicht so gemeint –, diese beiden abstrakten Ziele, im-
mer mit Frankreich und immer mit den Kleinen, mit den
deutschen Maximalvorstellungen zu verbinden; das geht
nicht.


(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Aber zum Schluss müssen Sie die Kleinen doch an Bord haben!)


– Das ist unstreitig, Herr Kollege. Was meinen Sie, warum
ich außer Frankreich jetzt die Kleinen erwähne? Sie wis-
sen doch, wo der Beton ist. Das haben Sie doch gesagt; an
der Stelle fühlte ich mich Ihnen sehr verbunden.

Jetzt zu den Themen, die Sie, Herr Kollege Merz, hier –
ich füge hinzu: zu Recht – angesprochen haben: Die
Klärung der Kompetenzabgrenzung zwischen der Euro-
päischen Union und ihren Mitgliedstaaten ist ein Interesse
der Mitgliedstaaten und vor allem ein Interesse der Bun-
desrepublik Deutschland. Das ist ganz unstreitig. Man
kann sich viele Gedanken darüber machen, warum das
überwiegend die Länder anstoßen mussten, da es ja keine
Beziehungen der Länder zur EU gibt. Die Beziehungen
der Länder zur EU sind Aufgabe des Bundes. Die Kom-
petenzen des Bundesstaats, die in der deutschen Födera-
tion dann sinnvoll im Verfassungsrecht formuliert werden
können, muss der Bund nach außen vertreten; das stelle
ich ausdrücklich fest.

Damit kein falscher Eindruck entsteht, füge ich hinzu:
Die Bundesregierung hat sich nicht darauf festgelegt, ir-
gendetwas unter bestimmten Umständen nicht zu erör-
tern. Andererseits: Wer jemals an solchen Verhandlungen
teilgenommen hat – Herr Kollege Hoyer, Sie werden mir
das zugestehen –, weiß, das alles dauert seine Zeit. Für
mich ist erstaunlich, dass allein die Begrifflichkeit oft
nicht einmal multisprachlich ausgetauscht werden kann.

Wenn wir dazu kommen – der Bund hat darüber die
Diskussion mit den Ländern begonnen –, konkret darüber
zu sprechen, wo die Kompetenzabgrenzungen liegen –
dazu gibt es keine Dossiers aus Betongründen, Herr Kol-
lege Hoyer, wir haben keine vorgefunden –, werden wir in
den nächsten Monaten exakt wissen, wie die Position je-
ner großen Koalition dieses Hauses und die der Länder ist
und mit welchen vertragsartikelbezogenen Folgerungen
wir in die Diskussion eintreten werden. Wenn wir in
Nizza den Auftrag bekämen, daran weiterzuarbeiten, hät-
ten wir erst einmal hier in Deutschland einen großen Fort-
schritt erreicht. Für die nicht vorhandenen Dossiers im
September 1998 ist nicht die derzeitige Regierung verant-
wortlich, das darf ich sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich lade Sie dazu ein. So intensiv, wie ich das mit den
Ländern diskutiere, würde ich das auch gern mit Ihnen
tun. Ihre Ankündigung, es sei Ihnen ein echtes Anliegen –
wir teilen das –, kann sich darin konkretisieren, dass wir
uns vielleicht im September wiedertreffen und gemein-




Staatsminister Dr. Christoph Zöpel
10150


(C)



(D)



(A)



(B)


sam genau wissen, was wir darüber, wo die Kompetenz-
abgrenzungen sein sollen, genau zu besprechen haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410808400
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3377, 14/3187 und 14/3514 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. – Das Haus ist damit einverstanden. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie
die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:

Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-
tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
tung und Zukunft“
– Drucksache 14/3459 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gerätesicherheitsgesetzes und des
Chemikaliengesetzes
– Drucksache 14/3491 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Keine Lieferung von Panzern und anderen
Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei
– Drucksache 14/3004 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch i. V. m. § 35 des Bundesaus-
bildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung
der Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe
– Drucksache 14/2424 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren (Ergänzung zu TOP 26.)


a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Margareta Wolf (Frankfurt), Volker Beck

(Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationa-
len Buchpreisbindung
– Drucksache 14/3509 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Für eine rechtsverbindliche Europäische Grund-
rechte-Charta
– Drucksache 14/3513 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Das Einverständnis ist hergestellt. Dann ist
so beschlossen.

Wir kommen nun zur Behandlung einer Reihe von
Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Rotterdamer Überein-
kommen über das Verfahren der vorheri-
gen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für
bestimmte gefährliche Chemikalien sowie
Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungs-
mittel im internationalen Handel vom 10. Sep-
tember 1998
– Drucksache 14/2919 –

(Erste Beratung 95. Sitzung)





Staatsminister Dr. Christoph Zöpel

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(C)



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(A)



(B)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 14/3400 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Franz Obermeier
Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva-Maria Bulling-Schröter

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/3400, dem Ge-
setzentwurf unverändert zuzustimmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge-
setzes zur Änderung des Zivildienstvertrau-

(Erstes Zivildienstvertrauensmann-Änderungsgesetz – 1. ZDV ÄndG)

– Drucksache 14/2698 -

(Erste Beratung 90. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)

– Drucksache 14/3524 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Dzewas
Christian Simmert
Thomas Dörflinger
Klaus Haupt

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt auf Drucksache 14/3524, den Gesetzent-
wurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig an-
genommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist auch in der dritten Lesung einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Melderechtsrahmengesetzes

(MRRG)

– Drucksache 14/2577 –

(Erste Beratung 87. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/3473 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Beatrix Philipp
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die
Stimmen von F.D.P. und PDS angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist
mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung an-
genommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu
dem Antrag des Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Technologie
Rechnungslegung über das Sondervermögen
des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des
Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr
1998
– Drucksachen 14/2484, 14/3344 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Hampel
Dankward Buwitt
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Dr. Christa Luft

Der Ausschuss empfiehlt, Entlastung zu erteilen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung des Berichts des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union

(22. Ausschuss) gemäß § 93 a Abs. 4 der Ge-

schäftsordnung zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Schutz der finanziellen Interessen der Gemein-
schaft und Betrugsbekämpfung – Jahresbe-
richt 1998
– Drucksachen 14/3428 Nr. 3.1, 14/3474 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Peter Altmaier
Claudia Roth (Augsburg)





Vizepräsident Rudolf Seiters
10152


(C)



(D)



(A)



(B)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Manfred Müller (Berlin)


Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis
genommen haben.

Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 161 zu Petitionen
– Drucksache 14/3403 –

Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 162 zu Petitionen
– Drucksache 14/3404 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 162 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 163 zu Petitionen
– Drucksache 14/3405 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 164 zu Petitionen
– Drucksache 14/3406 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 164 ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 165 zu Petitionen
– Drucksache 14/3407 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 165 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 27 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 166 zu Petitionen
– Drucksache 14/3408 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 166 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicher-
heitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom
10. Juni 1999 zu erweitern und darüber jetzt zu beraten –
Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.

Ich rufe damit auf:
ZP 9 Beratung des Antrages der Bundesregierung

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri-
schen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 (1999) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999
– Drucksache 14/3454 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 14/3550 –

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor. Über den Antrag der Bundesregierung werden
wir nach der Aussprache namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch; dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Bundesmi-
nister des Auswärtigen, Joseph Fischer, das Wort.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410808500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir vor ei-
nem Jahr hier in diesem Hause beschlossen haben, dass
sich die Bundeswehr am Einsatz von KFOR im Kosovo
beteiligt,


(Zuruf von der PDS: Pfui!)

haben wir auch beschlossen, dass der Deutsche Bundes-
tag nach einem Jahr damit wieder befasst werden soll. In-
sofern müssen wir heute, obwohl dieser Einsatz nach wie
vor notwendig ist und vermutlich auch über einen länge-
ren Zeitraum notwendig sein wird, eine erneute konstitu-
tive Beschlussfassung des Deutschen Bundestags her-
beiführen. Ich bitte Sie daher um eine möglichst breite




Vizepräsident Rudolf Seiters

10153


(C)



(D)



(A)



(B)


Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für die
Bundeswehr im Kosovo.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Seit einem Jahr leisten deutsche Soldaten dort als Teil
von KFOR einen außerordentlich professionellen und in-
ternational anerkannten Beitrag zur Wiederherstellung
von Frieden und Sicherheit im Kosovo. Vieles ist in die-
sem Jahr erreicht worden: Rückkehr der Vertriebenen,
Versorgung über den Winter, internationale Polizeiprä-
senz, Beginn einer kommunalen Selbstverwaltung, Vor-
bereitung der Wahlen. Die Mission der Vereinten Natio-
nen UNMIK arbeitet engagiert am Aufbau einer neuen,
rechtsstaatlichen Verwaltung. Der schrittweise Aufbau
demokratischer und pluralistischer Strukturen wird mit
den geplanten Kommunalwahlen im Herbst einen großen
Schritt vorankommen.

Auf der anderen Seite sind gleichzeitig die Defizite
unübersehbar: Die Sicherheitslage hat sich zwar gebes-
sert, bleibt aber unbefriedigend. Die internationale Ge-
meinschaft muss deshalb klarstellen, dass alle, die ver-
trieben wurden, zurückkehren und im Kosovo in Sicher-
heit und Frieden leben können, wie es die Resolution 1244
fordert. Dies wird angesichts des nach wie vor beste-
henden Hasses zwischen Albanern und Serben im Kosovo
Zeit und kontinuierliche Anstrengungen brauchen. Die in-
ternationale Staatengemeinschaft, auch die Bundesregie-
rung, ist allerdings entschlossen, dies durchzusetzen.

Entscheidend für eine langfristige Lösung sind die
Prinzipien der Gewaltfreiheit, der Achtung der Gren-
zen und der Achtung der Menschen- und Minderhei-
tenrechte. Nur auf dem Boden dieser Prinzipien kann
über eine regionale Sicherheitsstruktur eine nachhaltige
Stabilisierung der Region gelingen, die den Dreh- und An-
gelpunkt Mazedonien ebenso einschließt wie die Lösung
der Statusfrage für den Kosovo.

Deshalb, meine Damen und Herren, ist der Einsatz von
KFOR auch künftig unverzichtbar. – Man muss sich nur
einmal vorstellen, was geschähe, wenn KFOR abgezogen
würde, um sich die Entscheidungsalternative sehr konkret
vor Augen zu führen. – Er ist die Voraussetzung für die
Umsetzung der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen, für eine erfolgreiche Arbeit von
UNMIK, für eine erfolgreiche Arbeit der deutschen Poli-
zisten und Wiederaufbauhelfer. Allen Soldaten, den Poli-
zisten und den Wiederaufbauhelfern möchte ich hier na-
mens der Bundesregierung recht herzlich für das Ge-
leistete danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es ist erstaunlich – ich habe heute mit Tom Koenigs da-
rüber gesprochen –, wie viele Deutsche dort mittlerweile
auf der kommunalen Ebene, etwa beim Aufbau der kom-
munalen Verwaltung, engagiert tätig sind. Viele haben
sich bei UNMIK gemeldet, haben Aufgaben im zivilen
Bereich übernommen und helfen mit, kommunale
Verwaltungsstrukturen aufzubauen.

Bei allen Schwierigkeiten: Dies ist, finde ich, ein her-
vorragendes Engagement, das mich freut und das auch
zeigt, dass ein umfassendes Krisenmanagement für den
Zusammenhang zwischen militärischem und zivilem Ein-
satz, für den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat un-
verzichtbar ist. Dieser Einsatz ist auch Voraussetzung für
den Erfolg des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, der
umfassenden Antwort Europas auf die Krisen und Kriege
in dieser Region.

Die Frage nach der Zukunft von KFOR kann nicht
isoliert beantwortet werden. Die Dauer des deutschen mi-
litärischen und zivilen Engagements wird entscheidend
vom erfolgreichen Verlauf des Stabilisierungs- und
Demokratisierungsprozesses bestimmt. Das ist im Fall
Bosnien so, das ist im Fall Kosovo nicht anders.

Meine Damen und Herren, ich denke, es ist auf der ei-
nen Seite richtig, an dem Parlamentsvorbehalt festzu-
halten. Auf der anderen Seite müssen wir aber alle ge-
meinsam klarmachen, dass dies nicht sozusagen eine zeit-
liche Befristung dieses Einsatzes bedeutet; denn damit
würden wir ein Signal setzen, das zu völlig falschen In-
terpretationen Anlass geben würde. Es sollte klar sein,
dass wir uns der Durchsetzung der Resolution 1244, also
der Wiederherstellung von Frieden, von Demokratie und
dem Aufbau in der Region, so lange verpflichtet fühlen,
wie dies im Interesse Europas, aber auch der betroffenen
Menschen notwendig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb hat die Bundesregierung den Antrag auf Fort-
setzung der deutschen Beteiligung an KFOR eng an die
SFOR-Regelung für Bosnien angelehnt. Wir wollen hier
keine unterschiedlichen Mandate für die eingesetzten Sol-
datinnen und Soldaten haben. Wir sehen hier den Ge-
samtzusammenhang in der Region, um eine solide und
auch länger tragende Grundlage für die Entsendung deut-
scher Streitkräfte zu haben.

Die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundes-
tages ist demnach ebenso Voraussetzung für den Einsatz
wie ein Mandat des VN-Sicherheitsrates und ein entspre-
chender Beschluss des NATO-Rates. Die zuständigen
Ausschüsse werden – wie bisher – auch künftig regel-
mäßig unterrichtet, der Bundestag – dies sagt die Bundes-
regierung hier zu – wird alle zwölf Monate befasst. Wir
haben uns in Gesprächen mit den Fraktionen darauf geei-
nigt, dass dies als konstitutive Befassung erfolgen wird,
wenn eine Fraktion dies wünscht.

Entscheidend ist: Das Ziel eines friedlichen und demo-
kratischen Kosovo braucht eine engagierte deutsche Un-
terstützung und einen langen Atem. Die Soldaten der Bun-
deswehr leisten ebenso wie ihre Verbündeten und Partner
eine hervorragende Arbeit. Wir haben in der Vergangen-
heit kontinuierlich darüber diskutiert und werden dies –
hoffentlich – auch in Zukunft tun.

Lassen Sie mich, Herr Kollege Lamers, zum Schluss
meiner Rede noch kurz auf den Vorwurf der „unziemli-
chen Eile“ eingehen: Ich kann mich angesichts der Be-
deutung dieser Mission für die eingesetzten Soldatinnen
und Soldaten – Gott sei Dank – an kein Thema erinnern,




Bundesminister Joseph Fischer
10154


(C)



(D)



(A)



(B)


das wir in einer solchen Dichte im vergangenen Jahr dis-
kutiert haben. Das war gut so. Ich kann mich an kein
Thema erinnern, bei dem es so zahlreiche Unterrich-
tungsreisen auch der Opposition dieses Hauses sowie eine
derart kontinuierliche Präsenz sowohl des Bundesvertei-
digungsministers als auch meinerseits gegeben hat. Wenn
Sie ehrlich sind: Es gibt in der aktuellen Debatte keinen
substanziellen Unterrichtungsbedarf, der etwas anderes
mit sich brächte als die Notwendigkeit der erneuten kon-
stitutionellen Befassung.

Die Substanzdiskussion wird in Kontinuität geführt,
und es findet eine entsprechende Überwachung durch das
Parlament und dessen Ausschüsse statt. Wir sind hier in
einer kontinuierlichen Debatte und insofern glaube ich,
dass keine Frage so kontinuierlich und so gut – bis auf we-
nige Ausnahmen im Konsens – diskutiert worden ist wie
die Frage des Kosovo-Einsatzes. Deshalb sehe ich hier
keine unziemliche Eile, zumal es, Herr Kollege Lamers,
zu verhindern galt, dass uns der Vorwurf gemacht wird, ei-
nen Vorratsbeschluss gefasst zu haben.

Wir sind alles in allem zu der SFOR-Formel zurückge-
kehrt und sowohl Herr Kollege Scharping als auch ich ha-
ben gegenüber der Opposition in den Ausschüssen und
jetzt auch hier im Plenum eine klare Zusage gegeben. Ich
denke, dies ist eine gute Grundlage für einen breiten Kon-
sens zur Unterstützung der Bundeswehr und zur Verlän-
gerung ihres Einsatzes im Kosovo.

Ich darf mich bedanken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410808600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Karl Lamers.


Karl Lamers (CDU):
Rede ID: ID1410808700
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird
dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, und zwar
aus Verantwortung für den Frieden im Kosovo, für die Re-
gion, für die betroffenen Menschen und für unsere Solda-
ten. Aber, Herr Minister, Herr Bundeskanzler, die Bun-
desregierung hat uns diese Zustimmung wirklich sehr
schwer gemacht.

Herr Minister, ich habe nie von unziemlicher Eile ge-
sprochen. Das ist nicht der Punkt, auf den es ankommt.
Ich habe vielmehr gesagt – und das lässt sich nicht be-
streiten – dass Sie den Antrag zur Verlängerung des Man-
dats in letzter Minute gestellt haben. Deshalb waren wir
gezwungen, mit verkürzten Fristen zu arbeiten. Dies, so
finde ich, geht in der Tat nicht, weil es mindestens den
Eindruck der Brüskierung des Parlaments erweckt. Sie
sind offensichtlich davon ausgegangen, dass die Zustim-
mung des Deutschen Bundestages ganz selbstverständlich
sei. So kann man angesichts der Bedeutung dieses The-
mas nicht vorgehen.

Außerdem gab es – dieser Vorwurf ist geradezu akten-
kundig – zahlreiche Unklarheiten im Text, welche die
Dauer des Mandats und seine Finanzierung betrafen. Ich
habe Sie bereits vor zehn Tagen darauf aufmerksam ge-

macht und trotzdem ist keine Klärung vorgenommen wor-
den. Dies ist die Folge des Umstandes, dass es keine vor-
herigen Konsultationen der Fraktionen gegeben hat, wie
das früher immer der Fall war.


(Joachim Poß [SPD]: Die Sache war klar!)

Wenn man eine Zustimmung des ganzen Hauses will - das
wollen Sie Gott sei Dank und das müssen Sie in dieser
Frage auch wollen –, muss man vorher mit den Fraktio-
nen reden. Das haben Sie nicht getan. Die Folge war eine
öffentliche Debatte, die im außenpolitischen Interesse zu
vermeiden gewesen wäre. Diese Debatte hat schlussend-
lich erst gestern Abend zu den gewünschten Klarheiten
geführt, die es uns erlauben zuzustimmen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, jedermann weiß:
Das Ziel unserer Bemühungen war die Begrenzung des
Mandats auf ein Jahr, nicht eine Beendigung unserer Prä-
senz, unseres Engagements nach einem Jahr. Eine
Begrenzung in diesem Sinne wollten wir, weil nach unse-
rer Überzeugung Art und Umfang unseres deutschen En-
gagements im Kosovo einer jährlichen Befassung
einschließlich einer Entscheidung des Deutschen Bundes-
tages und damit einer Rechtfertigung vor dem deutschen
Bürger bedarf. In diesem Sinne kündige ich schon heute
an, dass wir den Wunsch, von dem Sie, Herr Minister, vor-
hin gesprochen haben, nach einer konstitutiven Befas-
sung des Bundestages im Frühsommer nächsten Jahres
äußern werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch eine solche Befassung drücken wir unser Enga-

gement und unsere Verantwortung gegenüber der Staa-
tengemeinschaft, für den Frieden und für die Menschen
im Kosovo viel angemessener aus als durch die Erteilung
eines Blankoschecks an die Regierung. Nicht zuletzt
drücken wir auf diese Weise am besten unsere Verantwor-
tung gegenüber unseren Soldaten aus, die dort in wirklich
beispielhafter Weise das deutsche Interesse an Frieden
auch in diesem Teil unseres Kontinents vertreten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich danke ihnen namens meiner Fraktion. Ich danke ihren
Angehörigen, den Zivilbediensteten, den Mitgliedern der
Nichtregierungsorganisationen. Sie alle leisten eine vor-
zügliche und nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit.

Herr Minister, Herr Bundeskanzler – ich sage das ohne
jedwede Polemik, sondern aus einer großen Sorge, was
die verfassungsrechtliche und die verfassungspolitische
Entwicklung in unserem Lande angeht –: Eine Begren-
zung des Mandats,wie wir es gefordert haben, wäre ver-
fassungspolitisch und verfassungsrechtlich die richtige
Lösung gewesen, weil dadurch die Balance zwischen den
Rechten des Parlaments und denen der Regierung besser
als durch die jetzt gefundene Lösung gewahrt worden
wäre, konkret: die Balance zwischen dem Recht des Deut-
schen Bundestages zur Mandatserteilung und der Ausfüh-
rung desselben durch die Bundesregierung. So aber ist
eine verfassungsrechtliche Grauzone entstanden, von der
ich nicht weiß, ob die Bundesregierung sie gewollt hat
oder ob sie in sie hineingestolpert ist. Ich fürchte, das
Letztere ist der Fall. Nach meiner Überzeugung hat die




Bundesminister Joseph Fischer

10155


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundesregierung mit ihrem Antrag gegen ihr eigenes in-
stitutionelles Interesse verstoßen.

Schließlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, woll-
ten wir eine Begrenzung des Mandats, um damit ein poli-
tisches Signal zu geben. Die Lage im Kosovo ist alles an-
dere als erfreulich. So vorzüglich die KFOR-Soldaten ihre
Aufgaben auch erfüllen, sie können den Konflikt nicht lö-
sen. Sie können nur die Voraussetzungen dafür schaffen,
indem sie Gewalt unterbinden und insofern – aber leider
nur insofern – den Frieden sichern. Doch dauerhafter
Friede, sich selbst tragender, stabiler Friede ist natürlich
nur durch eine politische Lösung möglich. Die Fort-
schritte auf diesem Felde sind mehr als bescheiden. Sie
haben bezeichnenderweise ja auch nicht davon gespro-
chen, Herr Minister. Schneller wird es nur gehen, relativ
schneller – um kein Missverständnis aufkommen zu las-
sen –, wenn klarere und realistischere Vorstellungen von
der endgültigen politischen Lösung nicht nur im Kosovo,
sondern in der gesamten Region entwickelt werden. Wir
haben uns schon in der letzten Debatte über dieses Thema
nachdrücklich geäußert: dass wir von der Bundesregie-
rung erwarten – ich wiederhole das heute –, dass sie ihre
Anstrengungen auf diesem Felde intensiviert. Denn, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, die nur mit großer Mühe
abgewendete Entschließung im amerikanischen Kon-
gress, das amerikanische Engagement nach dem 1. Juli
nächsten Jahres zu beenden, sollte uns allen ein Warnzei-
chen sein. Wir sollten vereint versuchen, die politische
Lösung im Kosovo und auf dem gesamten Balkan voran-
zutreiben. Dabei haben Sie unsere volle Unterstützung.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410808800
Ich gebe das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410808900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir alle sollten darauf achten, dass wir uns im Deutschen
Bundestag weder von der Realität noch von gemeinsamen
Einschätzungen entfernen.

Ich komme gerade von einer Sitzung des NATO-Rates
zurück, auf der die Situation im Kosovo intensiv erörtert
wurde. Dort ist berichtet worden, dass alle 840 000
Flüchtlinge aus Albanien und Mazedonien zurückgekehrt
sind, auch die 550 000 intern Vertriebenen, also insgesamt
fast 1,4 Millionen Menschen.

Dort ist berichtet worden, dass die Mordrate, die am
Beginn des Mandats bei 50 Morden pro Woche gelegen
hat, auf 7 Morde pro Woche zurückgegangen ist. Damit
liegt sie unter dem Durchschnitt mancher europäischen
Großstadt.

Dort ist berichtet worden, dass 3 800 Handfeuerwaffen
und 8 500 schwerere Waffen eingesammelt worden sind,
dass das Kosovo Protection Corps mit einer Stärke von
3 000 Soldaten im Aufbau ist und dass zurzeit an der ge-
meinsamen Polizeiakademie ein Lehrgang mit 230 Be-

werbern beginnt, darunter zwar ein kleiner, aber beachtli-
cher Teil aus der serbischen Minderheit des Kosovo.

Dort ist berichtet worden, dass zu Beginn des Mandats
200 000 Häuser zerstört gewesen sind, dass mittlerweile
Zehntausende Häuser aufgebaut worden sind, dass mitt-
lerweile alle Häuser ebenso wie 1 165 Schulen auf Minen
durchsucht und von ihnen befreit worden sind, dass alle
Kinder aus dem Kosovo im Oktober wieder in die Schule
gehen werden, dass die Brücken in Wiederaufbau sind,
dass 2 000 Kilometer Straße von Minen befreit worden
sind und dass 200 Kilometer Straße wieder hergestellt
worden sind.

Dort ist berichtet worden, dass 300 000 Kinder wieder
in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden und dass
mittlerweile über 20 000 Kinder bei der Entdeckung von
Minen mithelfen. Es ist berichtet worden, dass in den
KFOR-Lazaretten 50 000 zivile Patienten behandelt wor-
den sind, dass mittlerweile 2 960 internationale Polizisten
im Kosovo sind, dass 234 Richter und 42 Staatsanwälte
ihre Arbeit aufgenommen haben, darunter auch Serben,
Türken und Muslime. Es ist auch berichtet worden, was
im Einzelnen zum Schutz der serbischen Minderheit un-
ternommen wird.

Warum zähle ich Ihnen das alles auf? Verehrter Herr
Kollege Lamers, wir sollten diese Leistungen zur Kennt-
nis nehmen. Zwar haben wir längst noch nicht alle Ziele
erreicht, die wir erreichen müssen. Aber das darf nicht zu
der eigenartigen Einschätzung führen, es gebe überhaupt
keinen Fortschritt. Das ist einfach falsch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Aufforderung, die Sie an die Bundesregierung ge-
richtet haben, mag aus innenpolitischen oder innerpartei-
lichen Gründen – in diesem Fall aus Gründen, die in der
CDU liegen – noch einigermaßen nachvollziehbar sein.
Aber Sie müssen wissen, dass Sie sich damit weit von der
zukünftigen gemeinsamen Aufgabe, der gemeinsamen
Einschätzung und dem gemeinsamen Willen entfernen.
Ich sage Ihnen das in aller Ruhe.


(Beifall bei der SPD – Paul Breuer [CDU/ CSU]: Das ist ein Showgefecht!)


– Nein, hier geht es nicht um irgendein Showgefecht; viel-
mehr geht es darum, dass wir im Verlauf eines guten Jah-
res auf einem ungewöhnlich schwierigen Weg Fort-
schritte gemacht haben – dazu gehört auch, dass im Ok-
tober Wahlen im Kosovo stattfinden werden – , die man
genauso registrieren muss wie die Tatsache, dass noch
längst nicht alle Ziele erreicht sind und dass der Weg un-
verändert schwierig ist. Aber beides gehört zusammen.
Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich mit einigem Erstau-
nen die kunstvollen Bemühungen im Zusammenhang mit
der Erteilung des Mandates registriert habe. Mir kommt
das so vor, als werde der Versuch gemacht – da man sich
in der Sache einig ist – , wenigstens irgendeinen Punkt zu
finden, an dem man Uneinigkeit konstruieren kann. Das
ist der Sache völlig unangemessen.

Die Formel, die die Bundesregierung für die Erteilung
des Mandates vorgeschlagen hat, ist exakt jene, die die




Karl Lamers
10156


(C)



(D)



(A)



(B)


frühere Bundesregierung zum ersten Mal im Zusammen-
hang mit dem SFOR-Mandat 1995, nach dem Dayton
Peace Agreement, vorgeschlagen hat.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Auf Wunsch der damaligen Opposition! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber Kosovo und Bosnien sind zweierlei!)


– Entschuldigung, es ist exakt dieselbe Formel. – Jetzt sa-
gen Sie: Das geht aber nicht, weil die Situation im Kosovo
ganz anders ist. Wissen Sie noch, was ein Jahr nach Be-
ginn des Mandates in Bosnien los war? Ist Ihnen im Ge-
dächtnis, dass Brcko heute noch immer ein Punkt ist, an
dem sich große Schwierigkeiten entzünden? Wissen Sie,
wann dort die ersten kommunalen Wahlen stattgefunden
haben? Wissen Sie, welche Schwierigkeiten dort in den
ersten 12, 18, 24 Monaten bestanden haben? Der einzige
substanzielle Unterschied zwischen dem 1995 für Bos-
nien erteilten Mandat und dem heute zu erteilenden Man-
dat ist, dass Sie damals Regierungsfraktion waren und
heute Oppositionsfraktion sind; deswegen haben Sie Ihre
Haltung geändert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie wissen ganz genau, dass es anders ist! Sie wissen, dass das falsch ist, was Sie hier sagen, Herr Scharping!)


Vor diesem Hintergrund sollten wir uns auf die wirk-
lich wesentlichen Dinge konzentrieren. Gewisse innere
Schwierigkeiten in der Union sind in diesem Zusammen-
hang absolut unwesentlich. Daher bin ich froh darüber,
dass wir mit unserem Entgegenkommen, das Sie so nut-
zen werden, wie Sie glauben, dass es richtig ist, eine
Brücke gebaut haben, um aus diesen Schwierigkeiten her-
auszukommen. Das hat der Wiederaufbauprozess im Ko-
sovo verdient. Das haben die sehr vielen Menschen ver-
dient, die im Kosovo als Mitglieder von Nichtregie-
rungsorganisationen eine ganz unverzichtbare Arbeit für
den Frieden leisten. Das haben übrigens auch die Solda-
ten verdient, die mit einem wirklich großartigen Engage-
ment dazu beitragen, dass nicht nur die Sicherheit in ei-
nem eher traditionellen Sinne hergestellt wird, sondern
dass auch die Voraussetzungen für einen zivilen Wieder-
aufbau und die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft ge-
währleistet werden können. Wie auch immer Einigkeit im
Deutschen Bundestag erzielt wird: Ich glaube, für diese
Menschen ist es wichtig, sich der breiten Unterstützung
des Deutschen Bundestages sicher zu sein.

Ich greife auf eine Bemerkung zurück, die ich vor fast
genau einem Jahr in diesem Hause gemacht habe. Damals
habe ich die Sorge ausgedrückt, dass die Schrecklichkei-
ten und das Spektakuläre des Krieges viel mehr Auf-
merksamkeit beanspruchen als das zähe, geduldige, aber
völlig unverzichtbare Entwickeln ziviler, friedlicher Ver-
hältnisse im Interesse der Menschen. Ich fühle mich in
dieser Sorge leider bestätigt. Damit meine ich nicht den
Deutschen Bundestag oder die Bundesregierung, die den
Deutschen Bundestag allein in diesem Jahr 22-mal über
die Lage im Kosovo und über die Entwicklung auf dem
Balkan informiert hat. Ich meine auch nicht die vielen De-
batten beispielsweise im Verteidigungsausschuss, die ja

sehr intensiv und Gott sei dank fast immer einvernehm-
lich waren. Das alles meine ich nicht.

Ich glaube, dass mit der Art von Debatte, wie sie in der
Zeit zwischen dem 5. Juni und dem heutigen Tag entstan-
den ist, eher eine Tendenz gefördert wird, die die Auf-
merksamkeit weiter reduzieren könnte, weil sich die Men-
schen natürlich fragen: Wenn man sich über die Notwen-
digkeit und die Dauer des Engagements – es wird längere
Zeit in Anspruch nehmen –, über die Schwierigkeiten und
wie man ihnen zu begegnen hat, einig ist, warum entfaltet
man dann einen so eigenartigen Streit? Diese Frage ist lei-
der nicht von der Hand zu weisen.

Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass dieser
Gegensatz nun von einer breiten Mehrheit des Deutschen
Bundestages überwunden wird. Es bleibt bei unserem
festen Willen, so wie wir es auch in der Vergangenheit ge-
tan haben: Der Bundestag wird regelmäßig – nicht nur
schriftlich – informiert. Es ist das selbstverständliche In-
teresse der Bundesregierung, über jede substanzielle Ver-
änderung der Lage – führe sie zum Guten oder, hoffent-
lich nicht, zum Schlechteren – im Deutschen Bundestag
zu debattieren und im Übrigen dafür zu sorgen, dass der
Bundestag die Politik der Bundesregierung, wenn es ir-
gend geht, möglichst weitgehend unterstützt.

Ich will noch eine kleine Bemerkung machen: Sie müs-
sen ein bisschen aufpassen. Man hat Ihnen in einer ande-
ren Sache vorbereitende Gespräche angeboten, die Sie
schriftlich abgelehnt haben.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Entschuldigung, wir haben abgelehnt, weil die Berichte noch nicht auf dem Tisch lagen! – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Gönnerhaft!)


– Das hat mit „gönnerhaft“ nichts zu tun, sondern das hat
einfach nur mit dem Willen zu tun, Entscheidungen zu
erörtern, bevor man sie trifft, um auf neue Anregungen
oder Ideen eingehen zu können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Bei der Wahrheit bleiben!)


Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich es ausdrücklich
begrüße, dass der Deutsche Bundestag jetzt auch mit der
Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion das unterstützt, was
die Soldaten, was die Nichtregierungsorganisationen, was
viele andere im Kosovo leisten, um den Menschen dort
dauerhaft eine friedliche Perspektive zu geben. Sie wird
nicht in einem Jahr und auch nicht in zwei oder drei Jah-
ren aufgebaut werden können. Da sollten wir uns nichts
vormachen. Es ist eine allenfalls naive Erwartung zu glau-
ben, dass man in einem Jahr oder in zwei bis drei Jahren
das überwinden könnte, was sich zum Teil über Jahr-
zehnte an Hass aufgestaut und in einer schrecklichen Si-
tuation dann zulasten des Lebens vieler Menschen entla-
den hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410809000
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort der Kollegin Angela Merkel.




Bundesminister Rudolf Scharping

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1410809100
Herr Bundesvertei-
digungsminister, ich möchte, weil Sie hier wirklich nicht
die Wahrheit gesagt haben, die Gelegenheit nutzen, Sie
daran zu erinnern, dass Sie dem Fraktionsvorsitzenden
der CDU/CSU-Fraktion und mir auf einem gemeinsamen
Briefbogen eine Einladung geschickt haben, um uns über
Ihre Pläne zur Zukunft der Bundeswehr zu informie-
ren. Der Termin, den Sie ins Auge gefasst hatten, lag etwa
vier bis fünf Tage vor der Übergabe des Berichts der
Wehrstrukturkommission unter der Leitung des früheren
Bundespräsidenten von Weizsäcker.

Wir haben Ihnen damals zurückgeschrieben, dass wir
es nicht richtig finden, uns über Ihre Pläne und Auffas-
sungen zu einem Zeitpunkt informieren zu lassen, zu dem
der Bericht der Wehrstrukturkommission noch nicht über-
geben war, und dass wir bereit sind, mit Ihnen über Ihre
Pläne zu sprechen, wenn Sie sich ein Urteil über die Er-
gebnisse der von Ihnen eingesetzten Kommission gebil-
det haben.

Ich habe das logisch gefunden. Ich vermute einmal,
dass die Mehrheit aller unbefangenen Beobachter es auch
logisch findet, dass sich ein Bundesminister, wenn er eine
Kommission einsetzt, erst das Ergebnis der Kommission
anschaut, sich anschließend eine Meinung bildet und sich
erst dann eine längere öffentliche Debatte anschließt. In
diesem Zusammenhang wären wir dankbar gewesen,
wenn Sie auch uns über Ihre Pläne, über Ihre Haltungen
informiert hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In einem Telefonat mit Ihrem damaligen Generalin-

spekteur habe ich diese unsere Haltung noch einmal zum
Ausdruck gebracht. Wir haben gesagt – wir haben es Ih-
nen auch schriftlich gegeben – , wir sind bereit, uns nach
der Übergabe der Kommissionsergebnisse informieren zu
lassen. Wir waren zu diesem Gespräch da.

Ich sage Ihnen – auch aus Erfahrung mit Ihren Kolle-
gen – , ich sage es dem Bundeskanzler:


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Wenn Sie möchten, dass es einen vernünftigen Umgang
zwischen Bundesregierung und Opposition gibt, dann
bitte ich Sie eindringlich, in der Öffentlichkeit das zu be-
richten, was wirklich stattgefunden hat, und nicht Dinge,
die man miteinander besprochen hat, halbfalsch oder an-
deutungsweise zu zitieren. – Das bezieht sich jetzt nicht
auf Sie, Herr Scharping. – Das ist essenziell für bestimmte
Bereiche, in denen wir Kooperation brauchen.


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Was hat das mit dem Thema zu tun?)


Ich sage Ihnen: Es wird immer wieder Situationen geben,
in denen die Gesamtheit des Parlaments gebraucht wird.
Deshalb bitte ich eindringlich: Verfahren Sie nicht so,
dass Sie Halbwahrheiten verbreiten. Dies war eine Halb-
wahrheit, Herr Scharping.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410809200
Zur Erwiderung gebe
ich das Wort dem Bundesverteidigungsminister.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410809300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin
Merkel, ich hatte Ihnen den Brief in der Absicht geschrie-
ben, Überlegungen im Zusammenhang mit der Reform
der Bundeswehr mit Ihnen zu erörtern. Ich dachte, das sei
deswegen besonders leicht, weil Sie doch selbst ein Kon-
zept vorgestellt hatten. Das hätte doch eine gute Grund-
lage für ein Gespräch sein können.


(Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: So gut ist das Konzept nun auch wieder nicht!)


Im Übrigen nehme ich mit Interesse zur Kenntnis, dass
ein Angebot, das Sie am Ende doch akzeptiert haben,
nämlich im Vorfeld von Entscheidungen mit der Opposi-
tion zu sprechen und auszuloten,


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Unglaublich!)

ob man in bestimmten Fragen zu gemeinsamen Ergebnis-
sen kommen kann, zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert
werden konnte. Ich bedaure das. Aber das ist ja nun durch
das Gespräch, das etwas später stattgefunden hat, geheilt
worden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410809400
Es gibt eine weitere
Kurzintervention der Kollegin Heidi Lippmann.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1410809500
Herr Minister, Sie haben zu
Beginn Ihrer Ausführungen aufgezählt, welche Erfolge
die deutschen Soldaten, die Nichtregierungsorganisatio-
nen und viele andere im Kosovo erzielt haben. Sie haben
sich dabei auf Zahlen aus dem NATO-Rat bezogen. Sie
haben aber – das habe ich während Ihrer gesamten Rede
vermisst – nicht ein einziges Mal Zahlen genannt, wie
viele Serben im vergangenen Jahr, also seit dem 10. Juni
1999, aus der Kosovo-Region geflohen sind und wie viele
von ihnen vertrieben wurden. Sie haben hier keine Zahlen
genannt, wie viele Roma und Sinti geflüchtet sind und un-
ter welchen Lebensumständen sie heute ihr Dasein fristen
müssen. Sie haben nicht davon gesprochen, wie heute die
Situation der früher im Kosovo lebenden Juden ist. Sie ha-
ben auch nicht davon gesprochen, wie mit liberalen Ko-
sovo-Albanern umgegangen wird. Diese sind nämlich
tagtäglich enormen Repressionen ausgesetzt und ihnen
drohen viele schreckliche Dinge.

Sie haben hier aber positiv vermerkt, dass sich die Zahl
der wöchentlich Ermordeten von 50 auf 7 reduziert hat.
Ich halte es für nahezu infam, dieses hier in der Art und
Weise, wie Sie es eben getan haben, positiv darzustellen
und diese sieben Ermordeten pro Woche am Maßstab der
Vorfälle in europäischen Großstädten zu messen. Die
Umstände, wie diese Menschen ums Leben kommen, sind
nämlich nicht vergleichbar mit denen in westeuropä-
ischen Großstädten. Dazu sollten Sie sich hier einmal ein-






(C)



(D)



(A)



(B)


deutig äußern, anstatt die Entwicklung von solch schreck-
lichen Straftaten als positiv darstellen.

Ich hatte meine Intervention eigentlich als Frage beab-
sichtigt, dahin gehend nämlich, wozu wir, wenn sich so
vieles derartig positiv entwickelt hat, heute noch 50 000
KFOR-Soldaten benötigen und warum 5 600 deutsche
Soldaten aus der Bundeswehr nach wie vor – das sieht ja
der Antrag Ihrer Regierung vor – mit einem offiziellen
Kampfauftrag, nämlich dem Auftrag, den der Bundestag
letztes Jahr erteilt hat, dort im Kosovo stationiert bleiben
sollen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410809600
Das war eine Kurz-
intervention; diese muss nicht beantwortet werden, wenn
Sie es nicht wünschen, Herr Minister. – Gut, dann fahren
wir in der Aussprache fort. Ich gebe für die F.D.P.-Frak-
tion das Wort dem Kollegen Werner Hoyer.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1410809700
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Scharping,
auch ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig von dem Einstieg
überrascht gewesen, den Sie gewählt haben, um diese De-
batte zu beginnen. Es handelte sich ja in der Tat um eine
Ansammlung von außerordentlich beachtlichen Erfolgs-
meldungen. Bei so vielen Erfolgsmeldungen könnten Fra-
gen, wie sie die Kollegin von der PDS gerade gestellt hat,
ja geradezu nahe liegen, auch wenn das sicherlich nicht
angemessen ist. Das kontrastiert auch ein wenig mit dem,
was uns freie Analytiker gegenwärtig über die Lage im
Kosovo berichten.

Es sind in der Tat große Erfolge erzielt worden. An die-
sen Erfolgen war die Bundeswehr entscheidend beteiligt.
Dafür verdienen die Angehörigen der Bundeswehr, die
Soldaten im Kosovo, unseren Dank und unsere Anerken-
nung.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Dank und diese Anerkennung gelten auch vielen
anderen; Sie haben die Polizeibeamten angesprochen. Die
vielen, die in Justiz, Verwaltungen und bei NGOs tätig
sind, beziehen wir selbstverständlich in diesen Dank ein.

Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass wir uns zu
Beginn des nächsten Jahres oder noch besser in der zwei-
ten Hälfte dieses Jahres einmal intensiv damit befassen
und darum bemühen sollten, auf der Basis grundsolider
Analysen eine Bestandsaufnahme des Kosovo-, ja des ge-
samten Balkanengagements zu machen.
Es darf nämlich nicht sein, dass wir eines Tages feststel-
len, dass unsere Soldaten und andere mit viel Kompetenz,
Engagement, Risikobereitschaft das enger definierte mi-
litärische Ziel mehr oder weniger gut erreicht haben, aber
dem Erreichen des politischen Zieles keinen Schritt näher
gekommen sind, weil sie letztendlich doch das Ergebnis
ethnischer Säuberungen militärisch abgesichert haben.
Das ist nicht die Logik unseres Beschlusses von vor einem
Jahr.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Die Stiftung Wissenschaft und Politik kommt in die-
sen Tagen in einer Studie zu einem ziemlich deprimieren-
den Ergebnis. Das betrifft den schleppenden Aufbau der
zivilen Verwaltung, das betrifft die Fehlentwicklungen bei
der Aufstellung des von UNMIK geschaffenen Kosovo-
Korps. Da scheint es doch einige Besorgnisse zu geben,
die ich übrigens teile, dass dieses Korps leicht zur Beute
ehemaliger UCK-Kämpfer werden könnte, die ihr gar
nicht so heimliches Ziel, nämlich den Aufbau einer eige-
nen Armee für Kosovo, eben nicht aufgegeben haben.

Die positive Bilanz gilt auch nur sehr begrenzt für den
Bereich der Polizei,wobei unsere Beamten einerseits eine
hervorragende Arbeit leisten und den gleichen Dank, die
gleiche Anerkennung, die gleiche Sorgfalt des Parlaments
verdienen. Andererseits steht aber fest, dass diese dop-
pelte Aufgabe, die man ihnen gegeben hat, nämlich auf
der einen Seite zum Aufbau einer demokratischen Polizei
im Kosovo beizutragen und auf der anderen Seite eine ro-
buste innere Sicherheit zu gewährleisten, leicht zu einer
„mission impossible“ werden könnte.

Ich vermute deshalb, dass es noch in diesem Jahr er-
forderlich sein wird, nachzusteuern und manche Leistun-
gen noch so verdienstvoller internationaler Organisatio-
nen zu hinterfragen. Selbst wenn dieses Umsteuern dann
stattfindet, wenn der Stabilitätspakt wirklich eine Chance
bekommt, wird es erforderlich sein, all das militärisch ab-
zusichern. Deswegen ist es erforderlich, dass wir uns
heute erneut mit dem KFOR-Engagement befassen.

Nach knapp einem Jahr tun wir das wieder, wenige
Jahre nachdem wir zum ersten Male über SFOR geredet
haben. Wird das eigentlich mittlerweile Routine? Es darf
niemals Routine werden, weder der Beschluss selber noch
die Befassung des Bundestages damit, und zwar in re-
gelmäßigen Abständen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese erneute Befassung, die auch konstitutiv im Sinne
des Bundesverfassungsgerichtsurteils ist, muss sein;
denn – das ist der entscheidende Punkt – die Bundeswehr
ist und bleibt Parlamentsarmee.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wäre der Begriff der Volksarmee nicht verbraucht
und auch missbraucht – er ist es leider –, so könnte er
wohl beschreiben, worauf es uns ankommt. Die Bundes-
wehr wird nicht aufgrund exekutiver Entscheidungen,
sondern aufgrund des ausdrücklichen Willens des Parla-
ments und aufgrund ausdrücklicher Verantwortungsüber-
nahme durch das Parlament eingesetzt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])


Deswegen ist es wichtig, dass wir als Parlament völlig un-
abhängig von der Frage, wer gerade regiert, und auch un-
abhängig von der Frage, wie etwas in der Vergangenheit
gelaufen ist – dieses Argument sehe ich sehr wohl –,




Heidi Lippmann

10159


(C)



(D)



(A)



(B)


unsere Rechte und Pflichten als Volksvertretung wahren.
Umgekehrt heißt das aber auch, dass wir uns bemühen
sollten, unseren Soldaten einen möglichst großen Rück-
halt zu verschaffen, wenn sie in eine so schwierige Mis-
sion gehen. Ich würde mir wünschen, die Soldaten der
Bundeswehr könnten ihre gefährlichen Aufträge in dem
Bewusstsein übernehmen, die demokratisch legitimierten
Vertreter des Volkes einmütig hinter sich zu haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen lohnt es, nach dem überparteilichen Konsens
zu suchen und ihn anzustreben.

Die ersten Vorlagen der Bundesregierung waren nach
meiner Auffassung unzureichend; denn die Bundesregie-
rung erwartete von uns, dass wir keine Sicherungen ein-
bauen, mit denen wir uns selbst in einem überschaubaren
Zeitraum erneut in die Pflicht nehmen, die Situation zu
bewerten und verantwortlich zu entscheiden.

Ich habe übrigens Verständnis dafür, dass man keine
falschen Signale aussenden möchte. Das gilt sowohl in
Richtung des Herrn Milosevic als auch in Richtung von
Partnern im Bündnis, die möglicherweise auf die Idee
kommen könnten, aufgrund expliziter Begrenzung eines
Auftrages der Bundeswehr ihre eigenen Truppen frühzei-
tig zurückzuziehen. Man muss auch die Situation im
Bündnis und in der westlichen Gemeinschaft sehr genau
beobachten.

Umgekehrt kann die Regierung nicht von uns erwar-
ten, dass wir ihr eine Carte blanche ausstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich begrüße es deshalb, dass wir gestern in einem ziem-
lich atemberaubenden Tempo in verschiedenen Schritten
zu dem gekommen sind, was jetzt als Beschlussvorlage
des Auswärtigen Ausschusses auf dem Tisch liegt.
Es gab zunächst das Zugeständnis, dass nach zwölf Mo-
naten eine Parlamentsbefassung erfolgt. Dann hieß es,
dass die Fraktionen das zu einem konstitutiven Akt des
Parlaments machen können. Die heute Morgen bzw. ges-
tern Abend erfolgten Erklärungen des Haushaltsausschus-
ses und des Verteidigungsausschusses wurden nun
schließlich in die Formulierung der Beschlussvorlage des
Auswärtigen Ausschusses gegossen, dass eine einzelne
Fraktion ausreicht, um diesen Beschluss herbeizuführen.
Ich denke, alle Fraktionen habe das heute Morgen im
Auswärtigen Ausschuss mit großer Erleichterung ver-
nommen. Damit haben wir eine vernünftige Grundlage.
Auf dieser Grundlage kann ich meiner Fraktion empfeh-
len, der Beschlussvorlage des Auswärtigen Ausschusses
zuzustimmen.

Solange im Kosovo noch ein einziger Soldat in der
Pflicht ist, werden wir in der Pflicht bleiben, uns regel-
mäßig mit dieser Frage zu befassen und darüber zu ent-
scheiden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Markus Meckel [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410809800
Für die PDS-
Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410809900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der PDS wird
dem Antrag der Bundesregierung für eine Verlängerung
des Mandats der deutschen Soldaten, die im Rahmen der
KFOR im Kosovo eingesetzt sind, nicht zustimmen – ich
füge hinzu: ebenso wenig, wie wir dem NATO-Krieg zu-
gestimmt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Mit Sicherheit werden wir mit dieser Entscheidung im

Parlament alleine stehen. Wir stehen mit dieser Entschei-
dung aber nicht alleine in der deutschen Gesellschaft, in
der Friedensbewegung und in der Friedensforschung.
Wenn Sie einmal den Blick auf andere Parlamente richten,
werden Sie merken, wie umstritten die Verlängerung des
Mandats in vielen Parlamenten ist.

Der Krieg der NATO – wir müssen bei dieser Ent-
scheidung auch über den Krieg reden – gegen die Bun-
desrepublik Jugoslawien war ein Verhängnis. Er war völ-
kerrechtswidrig, er widersprach der Charta der Vereinten
Nationen. Zudem ist er durch Täuschung der Öffentlich-
keit begleitet und in Szene gesetzt worden. Denken Sie
nur an die vielen Falschmeldungen und Fälschungen, wie
zum Beispiel den Hufeisenplan, die auch von diesem Pult
hier verbreitet wurden. Tausende unschuldige Opfer ha-
ben die NATO-Bomben unter jugoslawischer Zivilbevöl-
kerung gefordert. Doch den Zielen, die durch den Krieg
erreicht werden sollten – multiethnisches Zusammenle-
ben, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit –, ist der Kosovo
nicht näher gekommen.

Ich weiß nicht, wie Sie als Regierung damit umgehen,
wenn Sie heute in die Zeitung schauen und feststellen
müssen, dass Amnesty International der NATO vorwirft,
dass sie während des Konfliktes Kriegsverbrechen be-
gangen habe, oder wenn Sie lesen, dass die Kollegen des
Auswärtigen Ausschusses des britischen Parlamentes in
ihrem Bericht festgestellt haben, dass die Bombardierung
des Kosovo illegal gewesen sei. Solche Fakten können Sie
nicht verdrängen, wenn Sie hier über die Verlängerung
des Mandates sprechen wollen.


(Beifall bei der PDS)

Ich nenne Ihnen einige Gründe dafür. Aus unserer Sicht

lassen Grundgesetz und internationale Verträge die Betei-
ligung der Bundeswehr am Luftkrieg und deren Statio-
nierung im Kosovo nicht zu. Mit Blick auf die deutsche
Geschichte hätte sich diese Stationierung ohnehin von
vornherein verboten. Wenn also die Grundvoraussetzung
falsch war, gibt es auch keinen Grund, den Einsatz zu ver-
längern.


(Beifall bei der PDS)

Die Dominanz der Krieg führenden NATO-Länder in

der von der UNO mandatierten Truppe der KFOR und die
Ungleichbehandlung Russlands mussten bei einem Teil
der Bevölkerung des Kosovo den Eindruck einer Besat-
zung und ungleichen Sicherheit hervorrufen. Einerseits
war Massenflucht Hunderttausender nicht albanischer




Dr. Werner Hoyer
10160


(C)



(D)



(A)



(B)


Menschen das Ergebnis; andererseits verstärkte dieser
Umstand bei der UCK den Eindruck, man habe gesiegt
und sei jetzt dran. Alle Berichte bestätigen das.

Vieles, was im Kosovo geschehen ist, hat mit dem
Geist und den Buchstaben der Resolution 1244 der Ver-
einten Nationen, auf die sich die Bundesregierung beruft,
wenig zu tun. Ich könnte das durchbuchstabieren, ange-
fangen beim völkerrechtlichen Status bis zur Frage der
gleichen Sicherheit. Wenn Sie wissen wollen, wie die
Lage tatsächlich ist, vergleichen Sie einmal den Bericht,
den der Kollege Scharping hier abgegeben hat, mit dem
Bericht der UNO-Menschenrechtskommission. Sie wer-
den sehen, dass zwischen den Berichten Welten liegen.

Wer sich auf die UNO-Resolution beruft, muss auch
bereit sein, sie vollständig und konsequent zu erfüllen und
einzuhalten.

Ein letzter Punkt ist noch zu benennen: Der vorlie-
gende Antrag der Bundesregierung enthielt ursprünglich
keine zeitliche Begrenzung. Hier ist eine Nachbesserung
vorgenommen worden. Die Formulierung, dass dies ein
Entgegenkommen der Bundesregierung ist, ist aus meiner
Sicht überheblich, empörend und falsch. Was wir einge-
fordert haben, sind die Rechte des Parlaments gegenüber
der Bundesregierung. Das war kein Entgegenkommen,
sondern ein Recht, das wir hier verteidigt haben.


(Beifall bei der PDS)

Die Bundesregierung wollte – womöglich für viele

Jahre – einen Freifahrtschein. Noch mehr: Sie fordert für
die Fortsetzung des deutschen Einsatzes 2 Milliarden DM
jährlich aus dem Bundeshaushalt. Die PDS ist dafür, die-
ses Geld für den zivilen Aufbau und für die Verbesse-
rung der sozialen Lage einzusetzen. Das kann Frieden
schaffen und den Frieden stärken. Allein mit militärischen
Maßnahmen werden Sie keinen Frieden erreichen.


(Beifall bei der PDS)

Selbstverständlich werden wir jedes Jahr Debatten

über den Einsatz im Kosovo führen. Über diese Frage
muss hier im Parlament so lange diskutiert werden, bis
sich die Erkenntnis, dass dieser Krieg falsch war und es
nie wieder eine Selbstmandatierung geben darf, mehr-
heitlich durchgesetzt hat.

Der PDS ist klar, dass es im Kosovo kein Vakuum ge-
ben kann. Wir haben Ihnen einen konkreten Vorschlag un-
terbreitet, wie die UNO selbst in die Lage versetzt wird,
im Kosovo nicht nur einen UNO-mandatierten Einsatz zu
veranlassen, sondern auch eine UNO-Blauhelmtruppe
einzusetzen, die für die Sicherheit aller Bürgerinnen und
Bürger zu sorgen hat. Ich glaube, das ist ein vernünftiger
Vorschlag.

Schönen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410810000
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich dem Kollegen Eberhard Brecht das Wort.


Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1410810100
Herr Kollege Gehrcke,
Sie wissen, dass ich beim Beschluss über die Kosovo-In-
tervention einige Schwierigkeiten hatte, mich in der Am-
bivalenz von moralischer Legitimität und völkerrechtli-
cher Legalität zu entscheiden. Der Verzerrung der Wirk-
lichkeit aber, die in dem von Ihnen vorgelegten Antrag
zum Ausdruck kommt, muss in diesem Hohen Hause wi-
dersprochen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])


Ich will zunächst auf den von Ihnen angesprochenen
Bericht von Amnesty International und die darin erho-
benen Vorwürfe, die NATO habe Kriegsverbrechen
begangen, eingehen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
dass von der VN in Den Haag ein Kriegsgerichtstribunal
eingerichtet worden ist. Dort ist dies nicht bestätigt wor-
den. Wenn Sie die VN anerkennen, können Sie nicht eine
Anklage, die von Amnesty erhoben worden ist, zum Maß-
stab Ihrer Bewertung machen. Vielmehr müssen Sie dem
Ergebnis der Untersuchung des Tribunals in Den Haag
folgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine zweite Bemerkung. Sie behaupten, die NATO-
Bomben hätten Tausende unschuldige Opfer unter der ju-
goslawischen Zivilbevölkerung gefordert. Ich gehe davon
aus, dass, wie nach allgemeinem Sprachgebrauch üblich,
mit Opfern nicht Verwundete, sondern Tote gemeint sind.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Human Rights
Watch maximal 500 Tote annimmt. Sie selber haben am
22. März 2000 eine Große Anfrage in den Bundestag ein-
gebracht. Sie sollten sich, bevor Sie Behauptungen auf-
stellen, die nicht zu halten sind, erst einmal über die rich-
tigen Zahlen informieren.

Eine dritte Bemerkung. Sie schlagen etwas ganz Aben-
teuerliches vor: Sie haben gesagt, Sie wollten kein Va-
kuum schaffen, und schlagen vor, eine VN-Blauhelmmis-
sion einzusetzen, zu der die NATO-Interventionsstaaten,
wie Sie sich ausdrücken, nicht hinzugezogen werden sol-
len. Welche Länder sollen nach Ihren Vorstellungen be-
teiligt werden und was für eine Truppe wollen Sie zu-
sammenstellen? Welche Ausbildung sollen die Mitglieder
dieser Truppe haben und mit welchen Finanzmitteln wol-
len Sie diese Truppe ausstatten? Denken Sie bitte einmal
an die Situation in Sierra Leone, wo plastisch vor Augen
geführt wurde, wohin eine solche Leichtfertigkeit führen
kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine letzte Bemerkung. Sie kommen zu einer weiteren

abenteuerlichen Forderung: Sie wollen, dass die Sicher-
heitsaufgaben im Kosovo zunehmend von zivilen Kräften
übernommen werden. Ich darf Sie auf Ihren Entschlie-
ßungsantrag verweisen. Dort steht unter dem Punkt
„Begründung“, dass in Südserbien die Gefahr eines neuen
Krieges drohe. Ich bitte Sie, zu überlegen, in welcher Ver-
antwortung Sie handeln, wenn Sie schreiben, es müssten
zivile Sicherheitskräfte oder sogar eine Zivilverwaltung




Wolfgang Gehrcke

10161


(C)



(D)



(A)



(B)


eingesetzt werden und es dürfe keine Präsenz von Solda-
ten und Sicherheitskräften geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410810200
Zu einer Erwiderung
der Kollege Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410810300
Ich glaube, dass ich alle
Fakten, die ich benannt habe, anhand vieler Untersuchun-
gen und Berichte belegen kann. Ich habe erstens einen Be-
richt von Amnesty International zitiert. Dass Ihnen die
Schlussfolgerung von Amnesty International vielleicht
nicht gefällt oder Sie sie nicht für korrekt halten, ist Ihre
Sache. Das ist eine Schlussfolgerung, die Amnesty Inter-
national nach Vorlage vieler Berichte und vieler Untersu-
chungen gezogen hat. Dass das Tribunal zu einer anderen
Schlussfolgerung gekommen ist, hat damit überhaupt
nichts zu tun. Sie müssen sich solchen Vorwürfen schon
stellen, die auch nicht dadurch aus der Welt sind, weil sich
das Tribunal anders entschieden hat.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Ich lebe in einem Rechtsstaat!)


Wenn Sie die Begründung des Tribunals zu dieser Ent-
scheidung lesen, dann stellen Sie fest, dass selbst die
Anklägerin gesagt hat, sie habe sich lange Zeit mit der
Frage auseinander gesetzt, ob ein Ermittlungsverfahren
einzuleiten sei. Sie hat sich dagegen entschieden. – Die
politischen Zusammenhänge dieses Tribunals sind doch
bekannt.

Zweitens. Es ist unleugbar, dass es in der serbischen
Zivilbevölkerung eine hohe Zahl an Opfern gegeben hat.
Die Zahlen, die wir genannt haben – über 2 000 Opfer –,
sind stimmig. Dass die Bundesregierung eine entspre-
chende Große Anfrage erst nach Ablauf eines Jahres be-
antwortet – so ist es uns mitgeteilt worden –, ist Sache der
Bundesregierung.

Drittens. Sicherheit im Kosovo erfordert eine starke zi-
vile Präsenz. Die Unsicherheiten an der Grenze zu Süd-
serbien und an der Grenze zu Montenegro stehen auch da-
mit in Verbindung, dass terroristische Aktionen der UCK
oder ihrer Nachfolgeorganisationen nicht energisch ge-
nug unterbunden worden sind. In der „Welt“ von gestern
ist zu lesen gewesen, dass sich jetzt auch in Mazedonien
eine UCK gegründet hat, die versucht, dort eine Stim-
mung für Großalbanien zu schaffen und einen entspre-
chenden Krieg zu führen. Sie werden feststellen, dass an
der KFOR-Truppe in Form einer UN-Blauhelmtruppe
Staaten teilnehmen, die nicht am Krieg beteiligt waren,
damit sie Vertrauen erwerben können. Diffamieren Sie
Länder wie Bangladesch nicht! Vielleicht ist Bangladesch
besser in der Lage, im Kosovo Frieden zu schaffen, als die
USA, unser Land und andere, die Bomben geworfen ha-
ben. Auch dieser Frage müssen Sie sich einmal stellen.


(Beifall bei der PDS)


Ich glaube, wenn Sie so an die UNO herangehen, wird nur
eines passieren: Die UNO wird herunter- und kaputtgere-
det. Das wollen wir nicht.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410810400
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Gert Weisskirchen.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1410810500
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
sollten versuchen, uns darüber zu verständigen, lieber
Kollege Gehrcke, dass das Militär nach unserer Verfas-
sung unter der Vorherrschaft der Politik, der Demokratie
steht.


(Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD])

Das ist das fundamentale Missverständnis. Sie verstehen
offensichtlich nicht, dass die Bundeswehr nichts anderes
ist als ein Instrument der Politik und dass die Bundeswehr
bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach der
Verfassung ein Heer des Parlaments ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein
Missverständnis, das Sie für sich klären müssen.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der hat die Volksarmee im Kopf!)


Vielleicht müssen Sie sich auch noch über einen ande-
ren Punkt verständigen, nämlich darüber, dass in jener Re-
gion, über die wir hier reden, das Kosovo und die Ge-
samtregion in Südosteuropa, Militär dann, wenn es unter
Vorherrschaft der Demokratie eingesetzt wird, pazifizie-
rend wirkt und eben erst die Prozesse in Gang setzt, die
den Frieden wirklich herstellen. Das ist die Aufgabe von
Militär. Genau dafür wird die Bundeswehr im Rahmen der
internationalen Staatengemeinschaft eingesetzt. Das ist
der Erfolg – der Bundesverteidigungsminister hat davon
gesprochen –, der sich innerhalb eines Jahres abgezeich-
net hat. Nehmen Sie bitte erst einmal die Realität zur
Kenntnis. Dabei unterstütze ich natürlich das Recht, dass
Sie an einzelnen Maßnahmen Kritik üben, dass Sie sich
fragen, ob der Krieg berechtigt gewesen ist. Das ist der
Unterschied zwischen dem Standard der Demokratie in
jenen Regionen, von denen wir reden, und bei uns in Eu-
ropa, lieber Kollege Gehrcke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Den wollen wir uns auch nicht nehmen lassen!)


Der entscheidende Punkt ist genau der, dass KFOR
jetzt die Unterstützung des Parlaments braucht. Die kon-
stitutive Zustimmung durch unser Parlament bewirkt,
dass genau diejenigen Kräfte im Kosovo freigesetzt wer-
den, die dafür sorgen, dass zivile Konfliktregelungen un-
terstützt und gefördert werden. Woher soll denn eine At-
mosphäre der Sicherheit kommen, sodass zum Beispiel
die Kommunalwahlen, die für den Oktober vorgesehen
sind, mit dazu beitragen können, dass sich Demokratie
entwickelt? Woher soll denn eine Atmosphäre kommen,
in der es möglich wird, dass sich die Menschen politisch




Dr. Eberhard Brecht
10162


(C)



(D)



(A)



(B)


mit der Zukunft auseinandersetzen? Woher soll denn eine
Atmosphäre kommen, in der es möglich wird, dass diese
Region aufgrund des Stabilitätspakts eine Chance be-
kommt, sich selbst eine europäische Perspektive zu erar-
beiten? Nein, wir brauchen das Instrument des Militärs.
Es muss nur begrenzt und nach den drei entscheidenden
Kriterien eingesetzt werden, die ja Grundlage jeglicher
konstitutiven Beschlüsse sind. Es sind dies: erstens, dass
es ein UNO-Mandat gibt, zweitens, dass es eine Ent-
scheidung des NATO-Rats gibt, und drittens, dass es die
konstitutive Zustimmung des Bundestages gibt. Genau
darum bitten wir und wir unterstützen die Bundesregie-
rung bei diesem Ziel.

Was wäre die Alternative? Darüber muss man sich
wirklich im Klaren sein. Milosevic fordert doch, dass das
KFOR-Mandat zurückgenommen wird. Was glauben
Sie denn, warum er das wünscht? Glauben Sie nicht, dass
für ihn der Rückzug von KFOR ein Zeichen dafür wäre,
dass er jetzt endlich freie Bahn hat, um den Krieg zu
führen, den er hat führen wollen, den vierten Nachfolge-
krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, nach
den Kriegen in Slowenien, in Kroatien, in Bosnien-Her-
zegowina den Krieg im Kosovo vor einem Jahr? Das will
er doch.

Oder nehmen Sie die durchaus antidemokratischen und
gefährlichen, nationalistischen Kräfte der UCK: Glauben
Sie nicht, das sie, wenn es KFOR nicht mehr gäbe, ermu-
tigt werden würden, das zu tun, wovon wir fürchten, dass
sie es sofort tun, nämlich politisch eine Unabhängigkeits-
erklärung durchzusetzen? Was würde das für das Kosovo
oder für eine andere Republik, Mazedonien, bedeuten, die
in hohem Maße dadurch gefährdet würde, dass solche un-
glaublich nationalistischen Kräfte freigesetzt würden?

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen
die konstitutive Zustimmung des Bundestages, damit
genau das abgewendet wird. Dafür brauchen wir die in-
ternationale Staatengemeinschaft und dafür brauchen wir
die Präsenz des Militärs.

Der Stabilitätspakt ist ja von dieser Regierung durch-
gesetzt worden. Ich frage mich häufig, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU und von der F.D.P.,
warum nicht damals schon die Idee entwickelt worden ist,
dass man jener schwierigen Region Südosteuropa ein sol-
ches Angebot gemacht hat. Warum hat es den vierten
Krieg gebraucht, bis diese Region eine neue, eine europä-
ische Perspektive bekam? Diese Bundesregierung hat den
Stabilitätspakt durchgesetzt.


(Widerspruch des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])


Jetzt muss dieser Stabilitätspakt mit weiteren Instru-
menten verknüpft werden, Herr Hoyer. Wir sind uns ja in
diesem Punkte völlig einig. Das eine Instrument ist, dass
das Militär dort so lange präsent bleibt – das kann lange
dauern –, bis die Kräfte der Demokratie in jener Region
so stark sind, dass sie jene Militärpräsenz der Staatenge-
meinschaft nicht mehr brauchen. Wenn sie in der Lage
sein werden, Konflikte friedlich, zivil auszutragen, mitei-
nander dafür zu sorgen, dass jene Region befriedet wird,

dann braucht es auch keine Militärpräsenz der internatio-
nalen Staatengemeinschaft.

Der Beschluss, der jetzt zu fassen sein wird, wird jener
Region die Chance geben, an den drei entscheidenden In-
strumenten teilzuhaben – nämlich: Stabilitätspakt, zivile
Umgestaltung von innen und von unten, Sicherung durch
die Militärpräsenz der internationalen Staatengemein-
schaft –, den Weg nach vorn zu gehen und dafür zu
sorgen, dass sich dieser Region in Südosteuropa in der
künftigen Entwicklung – wir hoffen, dass das schnell
kommt – eine Perspektive auf Mitgliedschaft in der Euro-
päischen Union eröffnet.

Als sich vor wenigen Monaten die kroatische Bevöl-
kerung durch eigene Entscheidung vom Nationalismus
befreit hat, war das das richtige Signal, ein Signal dafür,
dass selbst so schwierige Staaten wie Kroatien in der
Lage sind, aus eigener Kraft all das hinter sich zu lassen,
was mit dieser düsteren Perspektive verbunden ist, die
Slobodan Milosevic vor zehn, zwölf Jahren eröffnet hat.
Deshalb brauchen wir den Beschluss des Deutschen Bun-
destages.

Lieber Kollege Lamers, lassen Sie mich Folgendes am
Schluss sagen: Das, was der Außenminister im Namen der
Bundesregierung erklärt hat, empfinde ich als einen Ge-
winn für das Parlament. Es macht nämlich deutlich, dass
die Bundeswehr nichts anderes als das Heer des Parla-
ments ist. Das ist ein großer Gewinn für uns alle.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Bundes-
tagsfraktion stimmt diesem Beschluss der Bundesregie-
rung zu.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410810600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Karl Lamers.


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1410810700
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Stabilisierung und Befriedung des Balkans und hier ins-
besondere des jüngsten Pulverfasses Kosovo ist zu einer
zentralen Aufgabe der Sicherheitspolitik in der Welt ge-
worden. Vor allen Dingen geht es um die Einhaltung der
Menschenrechte auch in diesem Teil der Welt. Unser Ziel
ist klar: die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen
in ihre angestammten Heimatorte sowie der Aufbau einer
demokratisch legitimierten Selbstverwaltung. Das wollen
wir sicherstellen, dafür sind unsere Soldaten im Kosovo,
zu diesem Auftrag bekennen wir uns in voller Verantwor-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Befriedung der Region haben wir darüber hinaus

einen Stabilitätspakt geschlossen. Auch dies war richtig
und notwendig. Das alles wäre nicht möglich, wenn die
KFOR nicht seither in vorbildlicher und effizienter Weise
die innere Sicherheit im Einsatzgebiet sichergestellt hätte.
Den Soldaten der KFOR – hier wende ich mich insbeson-
dere an die Soldaten des deutschen Kontingents – gelten
unser besonderer Dank und unsere Anerkennung für ihren




Gert Weisskirchen (Wiesloch)


10163


(C)



(D)



(A)



(B)


Einsatz im Dienste des Friedens und der Völkerverständi-
gung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Inzwischen hat sich gezeigt, dass die internationale Si-
cherheitspräsenz im Kosovo aller Voraussicht nach auf
längere Sicht beibehalten werden muss. Der Zwang, hier
auch mit deutschen Soldaten präsent zu bleiben – genau
das ist das heutige Thema –, resultiert aus der unverändert
gespannten Lage. Mit der Präsenz auch unserer deutschen
Soldaten wollen wir helfen, Stabilität in der Region zu si-
chern und Frieden unter den Volksgruppen zu wahren.

Die Bundesregierung, Herr Minister Scharping und
Herr Minister Fischer, spielt aus meiner Sicht in dieser
Lage eine nicht sonderlich überzeugende Rolle,


(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens macht sie sich, so
meine ich, viel zu wenige Gedanken darüber, wie eine
künftige Friedensordnung aussehen kann, die dauerhaft
von Bestand ist. Hier brauchen wir neue Ansätze zur end-
gültigen Stabilisierung der Region. Mein Kollege und Na-
mensvetter Lamers hat hierzu vor einiger Zeit sehr be-
merkenswerte Vorschläge gemacht. Auch die Bundesre-
gierung sollte sich hier kein Denkverbot auferlegen.

Zweitens. Was Rot-Grün in den letzten beiden Tagen
geboten hat, meine Damen und Herren, war schlichtweg
mangelhaft.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ungenügend! – Widerspruch bei der SPD)


Die Bundesregierung hat heute einen Antrag auf Fortset-
zung der Beteiligung deutscher Soldaten im Kosovo vor-
gelegt. Sie präsentiert diesen Antrag buchstäblich in der
allerletzten Minute. Eineinhalb Tage Beratungszeit und
elf Zeilen, Herr Minister Scharping, sind einfach zu dünn,
wenn es um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland
geht. Dies ist eine zentrale Frage deutscher Politik; hier
geht es doch nicht um die Verlängerung eines Zeitschrif-
tenabos. Haben Sie denn – so frage ich mich – gar kein
Gespür mehr dafür, was im Umgang mit unseren Solda-
ten, mit dem Parlament und auch mit der deutschen Öf-
fentlichkeit geht? Wenn ein solches Mandat am 11. Juni
ausläuft, Herr Minister, warum haben Sie uns, so frage ich
Sie, nicht schon vor drei, vier Wochen in einer großen De-
batte hier im Parlament mit dieser Frage befasst, etwa mit
der Frage nach den Voraussetzungen dieses Mandats, ob
Art und Umfang noch den Notwendigkeiten entsprechen?
Dazu gehört auch Zeit, die der Bedeutung des Themas an-
gemessen ist und in der alle offenen Fragen erörtert wer-
den können. Sie haben uns diese Zeit durch die verspätete
Vorlage verweigert. Das darf sich nicht wiederholen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich frage Sie: Warum haben Sie das gemacht? Wollten

Sie sich einer umfassenden Diskussion entziehen? Ihr
Versuch, sich mit der heutigen Abstimmung ein nahezu
unbegrenztes Mandat für die Verlängerung des deutschen
Einsatzes im Kosovo zu verschaffen, ist Gott sei Dank ge-

scheitert. Frau Merkel hat vorhin die Abteilung Unwahr-
heiten und Halbwahrheiten angesprochen. Dem möchte
ich noch ein Kapitel hinzufügen.

Herr Minister, Sie wissen sehr genau, dass es Ihre Par-
tei, die SPD, und die Grünen zu ihrer Zeit als Opposition
waren, die von uns ein unbegrenztes Mandat für SFOR
verlangt haben. Das ist die historische Wahrheit und nicht
das, was Sie heute erklären.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rudolf Scharping, Bundesminister: So ein Quatsch!)


Die Art, wie Sie sich mit Ihren Halbwahrheiten im Aus-
schuss verhalten haben, trägt nicht dazu bei, eine kon-
struktive Atmosphäre im Parlament zu schaffen.

Nein, meine Damen und Herren, uns drängt sich der
Eindruck auf, dass sich die Bundesregierung, dass sich
Rot-Grün künftig eine Erörterung dieser Fragen im Parla-
ment vor der Öffentlichkeit ersparen wollen.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist völliger Unsinn!)


Ich aber frage Sie: Wohin gehört diese Debatte?

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hierhin!)

Wenn es um Art und Umfang unserer Streitkräfte und die
Dauer der Präsenz deutscher Soldaten im Ausland geht,
gehört die Debatte ins deutsche Parlament. Deswegen
werden wir darauf bestehen, dass dies auch in Zukunft so
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es entspricht meinem und sicher auch Ihrem Verständ-

nis als Parlamentarier, jedes Jahr aufs Neue unseren Sol-
daten und der gesamten Nation zu erklären, warum der
Einsatz deutscher Soldaten im Ausland notwendig ist.
Eine Selbstentmachtung des Parlaments wird es mit uns
nicht geben. Es mag ja für Grüne und Rote unbequem
sein, dieses Thema immer wieder zu diskutieren. Aber
hier geht es nicht um bequem und unbequem, Herr Minis-
ter, sondern darum, dass wir dies unseren Soldaten und
der Öffentlichkeit schuldig sind. Deshalb messen wir Sie
auch an Ihrer heutigen Erklärung.

Der Kollege Lamers hat bereits angekündigt, dass wir
den Antrag stellen werden, dass wir in zwölf Monaten
über den Einsatz unserer Soldaten im Kosovo nicht nur
debattieren, sondern auch entscheiden werden. Es ist
wichtig, dies hier festzuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich begrüße es, dass die Regierung hier eingelenkt und
unserem Drängen nachgegeben hat. Das, was Sie versucht
haben, ist ein bisschen Kabinettspolitik, ein Kabinett-
stückchen nach dem Motto „Entscheidungen im stillen
Kämmerlein unter Ausschluss der Öffentlichkeit“.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das, was wir
heute im Konsens erzielt haben, ist ein Sieg der Vernunft
und ein Beweis für die Funktionsfähigkeit unserer parla-
mentarischen Institutionen und Entscheidungsgänge. Un-
sere Soldaten im Kosovo können und müssen wissen, dass
wir hinter ihnen und ihrem Einsatz stehen und dass wir




Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

10164


(C)



(D)



(A)



(B)


ihren Friedensdienst hoch einschätzen. Wir sind davon
überzeugt, dass wir hier einen unverzichtbaren Beitrag
zur Sicherung des Friedens in diesem Teil der Welt leis-
ten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410810800
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried
Nachtwei.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410810900

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kollege
Lamers, die von Ihnen vorgetragene Erregung war reich-
lich künstlich. Ich denke, sie klingt jetzt auch schon ab.
Ihr Vorwurf, wir wollten uns der Debatte nicht stellen, ist
so abwegig, wie er nicht abwegiger sein könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wer hat sich denn mehr dieser Auseinandersetzung ge-
stellt? Wer hat sie unter höherem Risiko geführt als Rot-
Grün und vor allem wir Grüne? Insofern war das ein
lächerlicher Vorwurf. Sparen wir ihn uns und kommen wir
zum Thema zurück.

Die Bilanz der letzten zwölf Monate ist in der Tat zwie-
spältig. Es hat dank KFOR, dank UNMIK, dank vieler
Nichtregierungsorganisationen enorme Stabilisierungser-
folge gegeben. Es hat enorme Aufbauleistungen gegeben.
Zugleich aber – das ist genauso unübersehbar – sind das
Gewaltpotenzial, die Gewaltbereitschaft und die Gewalt-
fähigkeit noch sehr stark. Man hat zum Teil den Eindruck,
dass sie jetzt noch mehr zunehmen. Die Mandatsverlän-
gerung ist unbedingt notwendig, um die Gewalt im Ko-
sovo auf jeden Fall einzudämmen, um eine Entmilitari-
sierung voranzubringen und um einem Friedensprozess
überhaupt eine Chance zu geben. Das ist der entschei-
dende Grund für die Mandatsverlängerung. Sie ist unver-
zichtbar.

Wenn in diesem Zusammenhang die PDS eine Nicht-
verlängerung des Mandats verlangt, im Klartext: einen
Abzug von Bundeswehr und KFOR, verkennt sie voll und
ganz und – so behaupte ich – wider besseres Wissen, was
dort von der Bundeswehr im Zusammenhang mit KFOR
geleistet wird. Wenn von Ihnen von „nicht neutral“ ge-
sprochen und behauptet wird, dass unter den Augen von
KFOR Mord, Terror usw. geschehen, dem Vorschub ge-
leistet wird, ist das eine Verdrehung der Tatsachen, die
schärfstens zurückzuweisen ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der F.D.P.)


Genauso verkennen Sie in Ihrem Antrag die aktuellen
und mittelfristigen Möglichkeiten der Vereinten Natio-
nen. Auch wir würden uns grundsätzlich wünschen, dass
die Vereinten Nationen zur Führung von solchen Einsät-
zen in der Lage sind. Aber sie sind es auch auf kürzere
Sicht nicht. Wer das jetzt fordert, schickt die Vereinten
Nationen in eine Falle, aus der sie nur noch viel beschä-
digter wieder herauskommen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Unsere parlamentarische Pflicht ist es, über auswärtige
Einsätze der Bundeswehr zu beraten und zu entscheiden.
Dies geht schnell mit der Erscheinung einher, dass wir vor
allem den auswärtigen Einsatz der Bundeswehr, aber zu
wenig die anderen Beiträge zur Friedenskonsolidierung
im Blick haben. Auf einer Ebene haben wir sie im Blick,
was sich heute gezeigt hat: Alle sagen den Polizeibeam-
ten, den Nichtregierungsorganisationen usw. Dank. Aber
unsere Pflicht geht weiter. Wir müssen uns auch ansehen,
welches die Probleme in den anderen Bereichen sind, wo
es Verbesserungsbedarf gibt und wo unbedingt etwas ge-
tan werden muss.

In diesen 12 Monaten haben wir die Erfahrung ge-
macht: Wenn KFOR alleine funktioniert, wenn die zivile
Polizeimission halb und die Justiz schlecht funktioniert,
bedeutet das, dass wir dort kein funktionierendes rechts-
staatliches Gewaltmonopol erreichen, sondern wu-
chernde terroristische Gewalt, dass KFOR ewig dort blei-
ben muss und sie schließlich zu einer Besatzungsarmee
würde. Das wäre eine verheerende Konsequenz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu, was bei der zivilen Polizeimission notwendig

ist, müssen wir feststellen, dass auch die Bundesrepublik
mit ihrem vorbildlichen Beitrag in den nächsten Jahren
nicht mehr in der Lage ist, den entsprechenden Austausch
zu gewährleisten. Das heißt, hierfür müssen wir uns etwas
überlegen. Wenn die Polizisten freiwillig zu solchen
Einsätzen gehen, müssen wir etwas dafür tun, dass die Si-
tuation der Freiwilligen verbessert wird, dass die Einsätze
ganz anders begleitet werden, dass sie nachbereitet wer-
den usw. Hier sind Bund und Länder in der Verantwor-
tung, bei der Polizei mögliche Personalreserven, einen
entsprechenden Personalpool aufzubauen und vor allem
eine Begleitung im Einsatz zu gewährleisten.

Jahr für Jahr kommen Tausende von vor allem jungen
Männern und auch viele Frauen aus dem Kosovo mit ele-
mentaren, erschütternden, irritierenden, manchmal auch
ermutigenden, aber auf jeden Fall einschneidenden Er-
fahrungen zurück. Dies sind immer Erfahrungen jenseits
der deutschen Ordnungs- und Wohlstandswelt.

Bisher haben wir hier im Bundestag und in der Politik
überwiegend über die Entsendung von Soldaten beraten.
Wir haben bisher aber viel zu wenig oder gar nicht im
Blick gehabt, was mit denjenigen geschieht, die eben mit
diesen sehr brisanten, aber eben auch reichen Erfahrungen
zurückkehren. Ich empfehle uns allen, die Erfahrungen
dieser jungen Leute vor allem aus dem Kosovo und Bos-
nien wirklich ernst zu nehmen, sie in unserer Gesellschaft
mit diesen Erfahrungen nicht allein zu lassen. Ich meine
nämlich, dass die bei diesen äußerst kritischen Einsätzen
in Bosnien und im Kosovo gemachten Erfahrungen sehr
nützlich und hilfreich für unsere zivilgesellschaftliche
Entwicklung sind.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)


10165


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410811000
Als letzter Redner in
dieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kol-
lege Kurt Rossmanith.


Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID1410811100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit keine
falschen Legenden gestrickt werden, will ich noch einmal
darstellen, dass die CDU/CSU-Fraktion in ihrer weit
überwiegenden Mehrheit immer mit in der Verantwortung
gestanden hat, wenn es um Einsätze deutscher Soldaten in
Krisenregionen ging, und dass auch in der heutigen De-
batte keine Bedenken bestanden, diesem Einsatz zuzu-
stimmen.

Nur Irritationen kamen von der Bundesregierung mit
ihrem Beschlussvorschlag, und darüber müssen wir spre-
chen. Wir sind der Meinung, dass es aufgrund der Verant-
wortung, in der wir alle stehen und mit der wir unsere Sol-
daten in solche schwierigen, gefährlichen und nervenauf-
reibenden Einsätze schicken, natürlich notwendig ist,
dass ein breiter Konsens besteht und dass wir als Vertre-
ter des deutschen Volkes diesen Auftrag mit großer Mehr-
heit erteilen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb haben wir uns dieser schwierigen Aufgabe un-

terzogen, und deshalb haben wir unsere Kritik an die Bun-
desregierung zu richten, dass sie uns zum einen in so kur-
zer Zeit und zum anderen in der Art, wie sie es vorgese-
hen hatte, zu einem Beschluss zwingen wollte.

Wir haben die Verantwortung, den Soldaten, die dort
Dienst leisten, auch den Familien, die zu Hause bleiben,
die Sinnhaftigkeit dieses Dienstes zu erläutern und darzu-
legen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Bundesverteidigungsminister, gerade Ihre Aus-

führungen und die Bilanz, die Sie aus dem vergangenen
Jahr gezogen haben, zeigen


(Rudolf Scharping, Bundesminister: Die Bilanz der NATO!)


– ja, der NATO, aber Sie haben es doch vorgetragen, Herr
Bundesminister – geradezu die Notwendigkeit, dass wir
uns Jahr für Jahr mit dieser Thematik befassen. Das heißt
doch nicht, dass wir von Hause aus eine Begrenzung wol-
len. Natürlich wissen auch wir, dass wir unsere Verant-
wortung mit tragen müssen, bis dort eine Situation einge-
kehrt sein wird, die wir uns alle wünschen und für die der
Dienst unserer Soldaten notwendig ist.

Aber die Kontrolle, die wir als Parlament wahrzuneh-
men haben, verpflichtet uns, diese Debatte immer wieder
zu führen – nicht nur im Auswärtigen Ausschuss oder im
Verteidigungsausschuss. Vielmehr haben wir diese Ver-
antwortung auch gegenüber der breiten Öffentlichkeit.

Sie haben es ja dargelegt, Herr Bundesverteidigungs-
minister – diese Fragen wollen wir auch in der Öffent-
lichkeit stellen, und wir wollen die Antworten darauf in
der Öffentlichkeit darlegen –: Wie ist es mit dem Aufbau
der zivilen Strukturen? Sind die Art und der Umfang des
Einsatzes der Soldaten auch in einem Jahr noch so wie

jetzt erforderlich? Wie ist es mit dem rechtsstaatlichen
System? Ist hier ein Fortschritt erzielt worden? Sie haben
ja dargelegt, dass dies der Fall ist.

Ein Aspekt ist natürlich das Zusammenleben der bei-
den Volksgruppen, die dort zu Hause sind, sowohl der Ko-
sovaren als auch der Serben. Es muss klar aufgezeigt wer-
den, dass hier wieder ein Miteinander und nicht ein Ge-
geneinander möglich und erforderlich ist.

Sie hätten sich viel erspart, wenn Sie Ihren Bericht
rechtzeitig vorgelegt hätten, wenn Sie den Antrag recht-
zeitig beschlossen hätten, den Sie dem Parlament vorle-
gen wollten und der nicht den Zusatz, dass die Soldaten
auf Dauer und in Ewigkeit im Kosovo bleiben sollen, ha-
ben sollte.

Es ist schon erstaunlich, mit welchen Windungen Sie
jetzt am Ende versucht haben, die Tatsache zu rechtferti-
gen, dass Ihnen offensichtlich entgangen ist, dass ein Jahr
nach dem 11. Juni 1999 der 10. Juni 2000 kommt. Wenn
Sie am 24. Mai einen Beschluss fassen, und zwar wohl
wissend, dass das Parlament frühestens am 5. Juni 2000
zusammentritt, müssen Sie sich natürlich schon Fragen
gefallen lassen und dürfen sich nicht darüber wundern,
dass wir daran Kritik üben und sagen, es sei nicht mög-
lich – wie es der Kollege Dr. Karl Lamers dargelegt hat –
gewissermaßen im Schnelldurchgang diese Thematik, die
breit diskutiert werden muss, abzuhandeln. Dieses Thema
interessiert sowohl die Öffentlichkeit als auch die Solda-
ten und verlangt insofern, dass Sie diesen gegenüber Re-
chenschaft ablegen.

Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir jetzt zu die-
sem – wenn auch nicht vollständig befriedigenden – Er-
gebnis gekommen sind. Es ist aber immerhin ein Ergeb-
nis, das uns ermöglicht, im kommenden Jahr Ihnen noch
einmal Rechenschaft abzuverlangen und diese Rechen-
schaft an die breite Öffentlichkeit weiterzugeben. Sie
können sicher sein, dass wir dies einfordern werden. Ich
kündige dies jetzt schon an und stelle für meine Fraktion
gewissermaßen schon den Antrag für das kommende Jahr.
Auch die F.D.P.-Fraktion hat ein entsprechendes Vorge-
hen inzwischen angekündigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Somit werden wir in einem Jahr nochmals den Bundestag
mit diesem Thema beschäftigen und eine Beschlussfas-
sung herbeiführen. Deshalb werden wir von der
CDU/CSU-Fraktion heute mehrheitlich für die Fortset-
zung dieses Mandates stimmen, und zwar eingedenk
dessen, was Sie als Zusatz dem Parlament heute erklärt
haben.

Ich schließe mit einem Dank – auch wenn dies manche
vielleicht nicht hören wollen, was ich nicht verstehen
kann – an unsere Soldaten, die diesen enorm schwierigen
und gefährlichen Dienst für den Aufbau der Sicherheit
und Demokratie in einem schwierigen Teil Europas leis-
ten, sowie deren Familien.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)







(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410811200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteili-
gung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Ko-
sovo, Drucksache 14/3454. Zu dieser Abstimmung haben
die Kollegen Jürgen Koppelin, Norbert Otto, Thomas
Dörflinger und Wolfgang Börnsen Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung abgegeben, die zu Protokoll ge-
nommen werden.*)

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/3550, dem Antrag der Bundesregierung zuzustim-
men. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen.

Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung. –

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Ich frage noch ein-
mal: Können wir die Abstimmung schließen? – Das ist der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen.**)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/3551. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einver-
standen sind, unterbrechen wir die Sitzung jetzt nicht. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben. Wir fahren in der Beratung fort.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410811300
Ich rufe die Zusatz-
punkte 10 bis 13 auf:
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt-

lungsausschusses zum
Strafverfahrensänderungsgesetz 1999

ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum
Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengeset-
zes und zum Gesetz zur Änderung des Euro-
paabgeordnetengesetzes

ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum
Gesetz über Fernabsatzverträge und andere
Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Um-
stellung von Vorschriften auf Euro

ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zum
Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung
von Stiftungen

Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat Wilhelm
Schmidt von der SPD-Fraktion.


(Unruhe)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird jetzt über
wichtige Ergebnisse des Vermittlungsausschusses Bericht
erstattet. Da Sie alle auf diese Ergebnisse seit Monaten ge-
spannt gewartet haben, sollten Sie sich hinsetzen und
zuhören.


(Beifall der Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Auch wer nicht zuhören möchte, sollte sich setzen. Nie-
mand darf stehen bleiben. Das gilt auch für die Regie-
rungsbank.

Bitte sehr, Herr Schmidt.


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410811400
Vielen Dank,
verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist so, wie es die Prä-
sidentin gerade gesagt hat: In den vier Fällen, in denen der
Vermittlungsausschuss durch den Bundesrat angerufen
worden ist, liegt ein Ergebnis vor. In allen vier Fällen –
das möchte ich durchaus mit Genugtuung vermerken –
haben wir echte Ergebnisse zustande gebracht. Ich danke
ausdrücklich den Vertreterinnen und Vertretern der Bun-
desländer dafür. Ich danke auch ausdrücklich den Vertre-
tern der Fraktionen des Bundestages dafür, die nicht zur
Koalition gehören. Herzlichen Dank, Herr Dr. Blens und
Herr van Essen. Ich bedanke mich auch bei allen anderen,
die daran mitgewirkt haben.


(Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Ergebnisse sind auch deshalb so bemerkenswert,
weil wir in einigen Bereichen relativ schwierige Verhand-
lungen zu führen hatten. Diese Verhandlungen haben sich
gelohnt, nicht nur deswegen, weil wir die jetzt vorliegen-
den Ergebnisse erzielt haben, sondern auch deswegen,
weil wir inhaltlich bei Problemen weitergekommen sind,
die zum Teil seit vielen Jahren ihrer Lösung geharrt ha-
ben.

Ich möchte mit einer kurzen Darstellung bezüglich des
Stiftungsrechts aus der Sicht der SPD-Fraktion begin-
nen, weil ich finde, dass das in diesem Bereich erzielte
Ergebnis das wichtigste der vier Ergebnisse ist, ohne die
drei anderen zurückstellen zu wollen. Es ist deswegen so
wichtig für mich bzw. für uns, weil wir der Auffassung
sind, dass mit dem neuen Stiftungsrecht der Gesellschaft
neue Impulse gegeben werden. Viele in diesem Hause ha-
ben sich darum bemüht. Ich danke ausdrücklich der
F.D.P., Herr van Essen, aber auch Frau Vollmer von den
Grünen, weil sie sich besonders engagiert hat. Ich möchte






(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlagen 2 bis 5
**) Ergebnis namentliche Abstimmung, Seite 10169 A)

mich auch bei vielen Kollegen aus der SPD-Fraktion be-
danken, die sich seit vielen Jahren engagiert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich weise auch deswegen darauf hin, weil ich finde,
dass wir damit bei den gesellschaftlichen Entwicklungen
für eine Initialzündung sorgen, von der wir hoffen, dass
sie uns in der staatlichen und gesellschaftspolitischen Ar-
beit voranbringt; denn wir wollen Bürgerinitiative neu
entfachen. Wir wollen es denjenigen leichter machen, ihr
gutes Geld den richtigen Stellen zu geben, nämlich den
Stiftungen. Wir wollen ihnen das Geschäft in dieser Hin-
sicht erheblich erleichtern. Dabei galt es vor allen Dingen
fiskalische Barrieren zu überwinden; denn die Finanzmi-
nister des Bundes und der Länder haben sich – ich kann
das nachvollziehen – sehr schwer getan.

Wenn man sich die Gründe des Bundesrates für die An-
rufung des Vermittlungsausschusses genau anschaut,
dann stellt man fest, dass alle 16 Bundesländer für die An-
rufung waren. 12 von ihnen waren dafür, weil sie weniger
erreichen wollten, als der Bundestag beschlossen hatte.
Vier Bundesländer waren für eine Anrufung, weil sie
mehr erreichen wollten. Als die Verhandlungen begannen,
hatte ich zuerst das Gefühl, Herr Blens, Herr Lammert
und Herr van Essen, dass man froh sein kann, wenn am
Ende wenigstens das stabilisiert und gesichert werden
kann, was im Bundestag durchgesetzt worden ist.
Tatsächlich haben wir mehr durchgesetzt. Das finde ich in
dieser Sache besonders wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke auch der Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt
haben und die unter der Leitung von Herrn Lammert gute
Arbeit geleistet hat. Manchmal hat diese Arbeitsgruppe in
den Augen einiger, insbesondere aus dem Finanzsektor,
etwas überzogen. Aber sie hat Signale gesetzt, die wir am
Ende – wenn auch nicht vollends – berücksichtigen konn-
ten.

In dieser Hinsicht ist also erfolgreiche Arbeit geleistet
worden, weil wir nicht nur die laufende Stiftungsarbeit
verbessert fördern können, sondern von nun an auch die
Neugründung einer Stiftung im Rahmen eines Zehn-
jahresprojektes mit bis zu 600 000 DM finanziell fördern
und gleichzeitig steuerlich entlasten. Das ist ein ganz
wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein.

Wir haben aufgrund des Einflusses einzelner Mitglie-
der des Vermittlungsausschusses in letzter Sekunde die
Berücksichtigung der kirchlichen Stiftungen erreicht.
Auch das will ich durchaus wohlwollend erwähnen, selbst
wenn es uns zuletzt fast ein bisschen aus dem Sattel ge-
hoben hat.

Wir haben in einem zweiten Projekt die Änderung der
Strafprozessordnung vorgenommen. Ich würdige das
deswegen, weil neben anderen mein Kollege Meyer – das
will ich hier ausdrücklich erwähnen – acht Jahre persön-
licher intensiver Arbeit in dieses Projekt gesteckt hat. Er
hat uns in dieser ganz trockenen Materie, die sich nicht je-
dem Kollegen in diesem Hause sofort erschließt, sehr oft
mitreißen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Entscheidend war, dass wir damit alle gemeinsam –
Herr Ströbele und andere haben daran mitgewirkt – einen
16-jährigen Reformstau überwunden haben; denn wir
haben den Auftrag eines Urteils des Bundesverfassungs-
gerichts zum Datenschutz von 1983 – in Buchstaben:
Neunzehnhundertdreiundachtzig – wenigstens in groben
Zügen umgesetzt. Insofern haben wir eine ganz besonders
wichtige Entscheidung getroffen.

Auch die Regelung des Abgeordnetengesetzes war
wichtig; denn wir haben endlich unsere Selbstbeschrän-
kung bei derVersorgung festgelegt. Wir haben ebenfalls
die Beschränkung bei der Versorgung von Ministern und
Staatssekretären umgesetzt. Beides sind nach Überzeu-
gung der SPD-Fraktion und der Koalition ganz wichtige
Eckwerte bei der Parlamentsreform.

Schließlich haben wir bei den Fernabsatzverträgen –
Bestellungen über das Internet oder sonstwie aus der
Ferne – eine Regelung herbeigeführt.

Ich danke dafür allen Beteiligten. Ich finde das sehr er-
mutigend, auch mit Blick auf die anstehenden Vermitt-
lungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz. Ich fühle
mich in der Arbeit, die wir alle gemeinsam geleistet ha-
ben, gestärkt. Die Ergebnisse waren gut – herzlichen
Dank dafür.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Heribert Blens [CDU/CSU])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410811500
Ich gebe das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung zum Antrag der
Bundesregierung über die Fortsetzung der deutschen Be-
teiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im
Kovoso zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für
die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absiche-
rung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grund-
lage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Verein-
ten Nationen vom 10. Juni 1999 bekannt. Abgegebene
Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 534, mit Nein ha-
ben gestimmt 39, Enthaltungen 10.




Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

10168


(C)



(D)



(A)



(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583

ja: 534
nein: 39
enthalten: 10

Ja
BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer (Frankfurt)

Katrin Dagmar Göring-
Eckardt

Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt (Hitzhofen)

Werner Schulz (Leipzig)

Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm (Amberg)

CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch

Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner

(Schönebeck)


Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer (Lübeck)

Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich

(Erlangen)


Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)


Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther (Duisburg)

Gottfried Haschke

(Großhennersdorf )


Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser (Bonn)

Hansgeorg Hauser

(Rednitzhembach)


Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder

Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)


Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link (Diepholz)

Dr. Klaus W. Lippold

(Offenbach)


Wolfgang Lohmann

(Lüdenscheid)


Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski

(Recklinghausen)


Dr. Martin Mayer

(Siegertsbrunn)


Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller (Jena)

Elmar Müller (Kirchheim)

Bernd Neumann (Bremen)

Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard (Dresden)

Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch

(Wiesbaden)


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr

Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth (Gießen)

Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)

Dr.-Ing. Joachim Schmidt

(Halsbrücke)


Andreas Schmidt (Mülheim)

Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer

Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze (Berlin)

Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling

Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten

Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Heinz Wiese (Ehingen)

Hans-Otto Wilhelm (Mainz)

Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller




Vizepräsidentin Anke Fuchs

10169


(C)



(D)



(A)



(B)


F.D.P.
Ina Albowitz
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Horst Friedrich (Bayreuth)

Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel (Berlin)

Klaus Barthel (Starnberg)

Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann (Detmold)

Bernhard Brinkmann

(Hildesheim)


Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner (Ingolstadt)

Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert

Christel Deichmann
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich (Altenburg)

Lilo Friedrich (Mettmann)

Harald Friese
Anke Fuchs (Köln)

Arne Fuhrmann
Prof. Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf (Friesoythe)

Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller (Lübeck)

Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann (Chemnitz)

Walter Hoffmann

(Darmstadt)


Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Prof. Dr. Uwe Jens
Volker Jung (Düsseldorf)

Johannes Kahrs

Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange (Backnang)

Detlev von Larcher
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann

(Neubrandenburg)


Christa Lörcher
Erika Lotz
Dieter Maaß (Herne)

Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Prof. Dr. Jürgen Meyer

(Ulm)


Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller (Düsseldorf)

Jutta Müller (Völklingen)

Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann (Bramsche)

Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Prof. Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Prof. Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann

Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Birgit Roth (Speyer)

Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer

(Nürnberg)


Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Dagmar Schmidt (Meschede)

Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt (Berg)

Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann

(Delitzsch)


Brigitte Schulte (Hameln)

Reinhard Schultz

(Everswinkel)


Volkmar Schultz (Köln)

Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast

Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl (Amberg)

Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Ute Vogt (Pforzheim)

Hans Georg Wagner




Vizepräsidentin Anke Fuchs
10170


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Antrag ist damit angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)

Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Lammert,

CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1410811600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann den Aus-
führungen des Kollegen Schmidt nicht immer vollständig
zustimmen. Da dies aber heute möglich ist, tue ich es be-
sonders gerne. Das schließt seinen Hinweis ein, dass un-
ter den gestern im Vermittlungsverfahren vereinbarten
Beschlussvorschlägen die Änderung des Stiftungsrechts
sicherlich einen ganz besonderen Stellenwert hat.

Dass wir wichtige gesellschaftliche Anliegen in
Deutschland nicht ausnahmslos als öffentliche Angele-
genheiten definieren und schon gar nicht finanzieren kön-
nen, dass wir mehr als in der Vergangenheit privates En-
gagement für gemeinnützige Aktivitäten mobilisieren
müssen, dass es aber unter Berücksichtigung unserer heu-
tigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch bes-
sere Chancen als je zuvor für die Aktivierung privaten En-
gagements für gesellschaftliche Aufgaben gibt und dass
wir mit der Ermutigung für eine neue Stiftungskultur
eine wesentliche Entwicklung in diesem wichtigen Be-
reich in Gang setzen können und müssen, darüber haben
wir uns in mehreren Debatten des Deutschen Bundestages
in den vergangenen Monaten in dem Bemühen um eine
grundlegende Verbesserung des Stiftungsrechts verstän-
digt.

Damals sind wir von der gemeinsamen Einsicht ausge-
gangen, dass dazu nicht nur, aber auch verbesserte steu-
erliche Rahmenbedingungen gehören. Trotz dieser ge-
meinsamen Einsicht gibt es natürlich unterschiedliche
Vorstellungen über Umfang, Reichweite und Akzente ei-
ner solchen steuerlichen Förderung. Dies ist auch in den
Anträgen sowohl hier im Bundestag als auch im Bundes-
rat deutlich geworden, die zum Teil deutlich über die Be-
schlussfassung des Bundestages hinausgingen, zum Teil
aber auch erkennbar hinter diesen Vorschlägen zurück-
blieben.

Nun ist bei zustimmungspflichtigen Gesetzen eine Lö-
sung nur dann zu erreichen, wenn in beiden Häusern eine
Mehrheit zustande kommt. Das heißt, dass auf beiden Sei-
ten Bereitschaft entstehen muss, auf das Reiten eigener
Steckenpferde zu verzichten und das Befördern einer Ge-
setzgebung, die man für notwendig erachtet, für noch
wichtiger zu halten als diesen oder jenen einzelnen Punkt,
der einem vielleicht besonders lieb und wichtig war.

Deswegen will ich mich – ähnlich wie der Kollege
Schmidt – bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken,
die an dem Zustandekommen dieser, wie ich glaube,
denkwürdigen Lösung beteiligt waren, und zwar ganz be-
sonders den Kolleginnen und Kollegen in der Arbeits-
gruppe, die Herr Schmidt bereits gewürdigt hat; denn wir
haben bei der geschilderten Antragslage die in der Tat
nicht ganz risikolose Operation vorgenommen, dem Ver-
mittlungsausschuss einen Vorschlag zu unterbreiten, der
eben nicht hinter die Vorschläge des Bundestages zurück-
geht, sondern an wesentlichen Stellen darüber hinausgeht.

Ich will den wichtigsten Punkt gleich nennen. Wir ha-
ben uns im Bundestag, wie ich weiß, nicht aufgrund




Vizepräsidentin Anke Fuchs

10171


(C)



(D)



(A)



(B)


Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis (Stendal)

Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen

(Wiesloch)


Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker

Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Helmut Wieczorek

(Duisburg)


Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese (Hannover)

Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben

Hanna Wolf (München)

Waltraud Wolff (Zielitz)

Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley

Nein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Monika Knoche
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


Franz Romer
Willy Wimmer (Neuss)

F.D.P.
Jürgen Koppelin
PDS
Monika Balt

Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Eva-Maria Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel

Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf

Enthalten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Annelie Buntenbach
Steffi Lemke
Claudia Roth (Augsburg)

Christian Simmert
Hans-Christian Ströbele
CDU/CSU
Manfred Carstens (Emstek)

Dr. Manfred Lischewski
Norbert Otto (Erfurt)

F.D.P.
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger

SPD
René Röspel

unterschiedlicher Auffassungen, sondern aufgrund der
unterschiedlichen – na ja – Inpflichtnahmen, die sich
durch die jeweiligen Rollen von Koalition und Opposition
ergeben, völlig unnötig darüber gestritten, ob es denn ei-
gentlich in erster Linie darum gehe, vorhandene Stiftun-
gen und gemeinnützige Organisationen durch eine Stär-
kung der Spendenbereitschaft vor allem durchschnittli-
cher Einkommensbezieher zu fördern, oder ob es nicht
mehr darum ginge, insbesondere durch die Ermutigung zu
hohen Schenkungen und Bereitstellungen von hohen Ein-
kommen oder Vermögen, das Zustandekommen neuer
Stiftungen zu fördern.

Natürlich ist es vernünftig, das eine mit dem anderen
zu verbinden und sich nicht zwischen beidem kraftvoll zu
entscheiden. Genau dies ist uns mit dem Vermittlungsvor-
schlag gelungen.

Ich will nur in Stichworten die fünf wesentlichen Er-
gänzungen nennen, auf die wir uns gestern haben ver-
ständigen können.

Erstens. Es gibt bei der Einkommen- und Gewerbe-
steuer einen weiteren Abzugsbetrag für die Neugründung
einer Stiftung von höchstens 600 000 DM innerhalb von
zehn Jahren für Zuwendungen in den Vermögensstock
steuerbegünstigter, gemeinnütziger Stiftungen.

Zweitens – das ist bereits angesprochen worden –: Der
vom Bundestag bereits beschlossene verbesserte Spen-
denabzug in Höhe von 40 000 DM, der bisher auf Stif-
tungen privaten Rechts beschränkt war, wird auf Stiftun-
gen öffentlichen Rechts und damit auch auf kirchliche
Stiftungen erweitert. Damit sind wir übrigens auch prin-
zipiell einen beachtlichen Schritt weitergegangen, weil
wir damit das Anliegen einer Förderung möglichst unab-
hängig von der Rechtsform des jeweiligen Engagements
weiter vorangetrieben haben.

Drittens. Wir haben uns darauf verständigt, dass bei der
Neugründung von Stiftungen künftig eine unschädliche
Ansparphase in den Vermögensstock für insgesamt drei
Jahre vorgesehen ist. Das dient der Stärkung der Finanz-
kraft der Stiftung.

Wir haben viertens die Rücklagemöglichkeiten steu-
erbegünstigter Körperschaften durch die Möglichkeit ver-
bessert, dass sie über die Regelung hinaus, die wir im
Bundestag bereits beschlossen hatten, zusätzlich 10 Pro-
zent ihrer zeitnah zu verwendenden Mittel in diese Rück-
lage einstellen können.

Fünftens. Wir haben uns auf verbesserte Regelungen
der Abgabenordnung darauf verständigt, dass die für alle
steuerbegünstigten Körperschaften gelten sollen, also
rechtsformunabhängig.

Meine Damen und Herren, unbeschadet der Aufgaben,
die wir im Zivilrecht noch vor uns haben, für die es in-
zwischen aber eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gibt, von
der wir hoffen, dass sie ihre Arbeit zügig aufnimmt und
möglichst bald ähnlich beachtliche Ergebnisse präsen-
tiert, haben wir mit diesem Vorschlag wirklich einen
Durchbruch erreicht, was den steuerlichen Teil der Förde-
rung von Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen
angeht. Wir haben damit ein Signal gesetzt für eine neue

Kultur gemeinnützigen Engagements in einer aufgeklär-
ten und selbstverantwortlichen Bürgergesellschaft.

Die CDU/CSU-Fraktion stimmt diesem Vermittlungs-
ergebnis gerne zu. Sie verbindet damit die ausdrückliche
Hoffnung, dass viele, die damit neue Möglichkeiten ge-
meinnütziger Aktivitäten erhalten, von diesen Möglich-
keiten überzeugend und intensiv Gebrauch machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410811700
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die
Grünen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410811800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
neue Stiftungssteuerrecht ist also geschafft; es ist nicht
nur gut gelungen, sondern es ist auch gut gelaufen, und
zwar auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die im Par-
lament nicht alle Tage vorkommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P.)


Das ist übrigens auch ein Hinweis darauf, dass gute
langjährige Zusammenarbeit und lange Diskussionen,
auch zwischen den Fraktionen, langfristig gute Ergeb-
nisse zeitigen können.

Es handelte sich hierbei um eine Initiative aus der
Tiefe des parlamentarischen Raumes. Es war keine Ini-
tiative irgendeines Ministeriums. Man ahnt auch, dass die
Ministerien damit durchaus Schwierigkeiten hatten. Wir
sind aber froh, dass sie am Ende eingeschwenkt sind. Ich
möchte, gerade weil es so ein ungewöhnlicher Prozess ist,
doch einmal darauf hinweisen, dass alle in diesem Prozess
eine für ihre eigene Geschichte und Tradition ungewöhn-
liche Rolle gespielt haben und es auch nötig war, dass alle
ihre traditionellen Rollen verließen.

Wer hätte damals gedacht – seit über fünf Jahren ar-
beite ich an diesem Thema –, dass die Initiative zur Re-
form des Stiftungsrechtes ausgerechnet von den Grünen
gekommen wäre? Ich weiß, dass damals viele erstaunt
waren, weil wir aus einem kulturellen Umfeld kamen, in
dem das Stiften durchaus nicht sehr populär war. Damals
hatten wir als Oppositionspartei gehofft, die CDU/CSU-
F.D.P.-Regierung antreiben zu können, weil wir dachten,
dass dieses Anliegen ihnen etwas näher läge. Tatsächlich
haben aber CDU/CSU und F.D.P. erst am Ende – nämlich
in der gestrigen Debatte im Vermittlungsausschuss – ei-
nen positiven Beitrag dazu geleistet, dass dieses dann
doch gelingen konnte. Das ist Dialektik.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer hätte gedacht, dass in der Koalitionsvereinba-
rung einer rot-grünen Regierung das Stiftungsrecht an so
prominenter Stelle angesiedelt würde? Wer hätte gedacht,
dass wir tatsächlich damit Ernst machen, dieses in den ers-
ten zwei Jahren unserer Regierungszeit umzusetzen? Das




Dr. Norbert Lammert
10172


(C)



(D)



(A)



(B)


war nicht einfach und die Diskussionen darüber haben
auch die Meinungen vieler Kolleginnen und Kollegen zu
diesem Thema verändert. Inzwischen kann man sagen,
dass dieses Projekt mit großer Überzeugung von dieser
Regierungskoalition getragen wurde.

Wer hätte gedacht, dass sich Gerhard Schröder ausge-
rechnet zu einem Propagandisten der zivilen Bürgerge-
sellschaft mausern würde? Das hat ihm auch keiner an der
Wiege gesungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


Wer hätte gedacht, dass gerade ein SPD-Parteitagmit
einer schwierigen Antragslage einen Anstoß für den
Durchbruch beim Stiftungsrecht, das wir gemeinsam
wollten, liefern würde? Wer hätte gedacht, dass der Bun-
desrat zu einem Zeitpunkt, wo alle dagegen waren und
den Vermittlungsausschuss angerufen haben – da habe ich
das Zittern bekommen –, dann zu solch einem Ergebnis
kommen würde? Dank der Mitarbeit der Kollegen
Schmidt, van Essen, Heyne, Lammert und vieler ande-
rer – nicht zu vergessen Ludwig Stiegler, der sehr viel im
Hintergrund getan hat – sind wir nun tatsächlich an dem
Punkt, dass wir mehr herausbekommen, als wir damals im
Bundestag haben erreichen können. Ich bin ungeheuer
froh darüber und auch richtig verblüfft über ein solch
positives Ergebnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe gesagt, es war eine Initiative, die aus der Tiefe
des parlamentarischen Raumes kam. Sie wird erst zu ei-
ner richtigen gesellschaftlichen Bewegung, wenn sie
auch aus der Tiefe des gesellschaftlichen Raumes unter-
stützt wird. Ich hoffe, dass die Bürgergesellschaft, von der
ich weiß, dass sie schon existiert, dieses Signal wirklich
versteht und es, wie schon in den letzten fünf Jahren, zu
Neugründungen von Stiftungen für soziale und kulturelle
Zwecke kommt. Ich habe immer wieder festgestellt,
während dieser fünf Jahre hat sich die gesamte gesell-
schaftliche Debatte um dieses Thema grundlegend verän-
dert. Es gibt kein Anmobben von Stiftern mehr, sondern
vielmehr eine positive Bereitschaft, deren Beitrag zum
Gemeinwesen zu honorieren. Deswegen hoffe ich, dass
wir nun zu dem kommen, was ich mir immer gewünscht
habe und mit mir alle Kollegen, nämlich zu einem Auf-
bruch der Citoyens.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410811900
Nun hat das Wort der
Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1410812000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alle haben mit dem Stif-
tungsrecht angefangen, und ich glaube, das hatte auch ei-
nen guten Grund, weil das sicherlich das politische
Schwergewicht in den Beschlüssen ist, die der Vermitt-
lungsausschuss am gestrigen Nachmittag gefällt hat.

Trotzdem gestatten Sie es einem gelernten Oberstaatsan-
walt, wie ich es bin, dass er mit einer anderen Thematik
anfängt, weil er sich da nämlich auch freut.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Sie waren in Dortmund Oberstaatsanwalt!)


Herr Schmidt hat es schon angesprochen: Man hatte ja
immer ein wirklich schlechtes Gewissen, denn man
kannte das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.Über
Jahre hinweg wurden bestimmte Regelungen angewandt,
obwohl man wusste, dass sie nicht auf gesetzlichen
Grundlagen beruhten, wie sie das Bundesverfassungsge-
richt gefordert hatte. Deshalb bin ich froh, dass wir diese
gesetzlichen Grundlagen endlich haben.

Der Weg dazu war unglaublich schwer. Ich erinnere
mich noch an die Tagung auf dem Frankfurter Flughafen
mit dem so genannten Flughafenkompromiss, bei dem
alle nachgegeben haben und Bayern plötzlich „njet“ sagte
und damit die ganz Mühe der letzten Legislaturperiode
perdu war.


(Hans Georg Wagner [SPD]: Das machen die öfter!)


Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir jetzt dank
den Bemühungen des Vermittlungsausschusses – ich
sage: sowohl der SPD-Seite wie der anderen Seite – eine
Lösung gefunden haben, die beide Interessen berücksich-
tigt, auf der einen Seite die notwendigen Datenschutzin-
teressen, auf der anderen Seite aber auch die notwendigen
Interessen der Strafverfolgung. Ich glaube, dass beide In-
teressen hohes Gewicht haben und dass wir zu einer Lö-
sung gekommen sind, die Bestand hat und die vernünftig
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Eine Lösung, die vernünftig ist, ist sicherlich auch die

beim Abgeordnetengesetz gefundene. Ich war hoch alar-
miert, als ich vom Einspruch des Bundesrates hörte; denn
mir war völlig klar, dass das eine oder andere den Län-
derparlamenten nicht geschmeckt hat. Sie haben sich so
schön daran gewöhnt, dass sie in jedem Jahr ihre Diäten
erhöhen, während es immer wieder unglaubliche Aufre-
gung gibt, wenn der Bundestag alle sieben oder acht Jahre
die Diäten erhöht.


(Hans Georg Wagner [SPD]: Richtig! Alle zehn Jahre!)


Sie hatten sich auch so sehr daran gewöhnt, dass wir im-
mer wieder zurückgefahren haben, während bei ihnen gar
nichts geschah. Deswegen hat es mich hoch alarmiert, als
ich von diesem Einspruch gehört habe.

Trotzdem bin ich sehr froh, dass wir jetzt eine Lösung
gefunden haben, die den Bund möglicherweise sogar ent-
lastet und unser Prinzip, das wir gemeinsam verfolgt ha-
ben, das Prinzip nämlich, dass es nicht zu einer Überver-
sorgung kommen darf, weiter einhält. Deshalb ist das
eine wirklich sehr erfreuliche Lösung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Antje Vollmer

10173


(C)



(D)



(A)



(B)


Zum Stiftungsgesetz ist schon viel Positives gesagt
worden. Ich kann mich dem gerne anschließen. Frau Kol-
legin Vollmer, Sie haben wirklich das unbestreitbare Ver-
dienst, uns bei diesem Thema immer wieder gemahnt zu
haben, vorangetrieben zu haben. Ich freue mich, dass wir
in dieser Legislaturperiode etwas schneller waren als Sie


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Und besser!)

und früher einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Trotz-
dem ist es gut, dass zum Schluss eine gemeinsame An-
strengung daraus geworden ist.

Ich glaube, wenn man sich das einmal anschaut, was
jetzt noch gekommen ist mit der Möglichkeit der erhöh-
ten Ausgabenabschreibung bis 600 000 DM und vielen
anderen Dingen, die der Kollege Lammert vorgestellt hat,
sodass ich sie nicht zu wiederholen brauche, stellt man
fest, dass wir noch ein Stückchen weiter gekommen sind,
nämlich bei der Unterstützung von bürgerschaftlichem
Engagement.Das ist etwas außerordentlich Erfreuliches.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir trotzdem, dass ich für meine Fraktion
einen Tropfen Wasser in den hier dargereichten Wein
fülle. Wir werden dem Fernabsatzgesetz nicht zustim-
men. Wir sind der Auffassung, dass die Regelungen, die
dort getroffen worden sind, zu bürokratisch sind, dass sie
der Vertragsfreiheit nicht entsprechen. Wir Liberale wol-
len – das erwarten Sie auch von uns – in diesem Zusam-
menhang Vertragsfreiheit durchsetzen. Auch andere Re-
gelungen begegnen unseren Bedenken. Deshalb werden
wir den ersten drei Punkten, die wir für außerordentlich
gelungen halten, gerne zustimmen, beim letzten Punkt,
beim Fernabsatzgesetz, werden wir es nicht tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410812100
Jetzt hat die Kollegin
Petra Pau, PDS-Franktion, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410812200
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich will Sie beruhigen: Ich werde die
Akten, die ich mitgebracht habe, nicht vorlesen, jedenfalls
nicht aus eigenem Antrieb. Aber da Sie es heute Morgen
kraft Mehrheit für richtig befunden haben, meiner Frak-
tion die fachliche und sachliche Prüfung der Vermitt-
lungsergebnisse zu versagen, habe ich mich zumindest
gewappnet. Es könnte ja sein, dass es sachliche und fach-
liche Nachfragen gibt und die Kolleginnen und Kollegen
von ihrem Fragerecht Gebrauch machen. Dann möchte
ich natürlich auch sachkundig antworten.


(Lachen des Abgeordneten Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD] – Peter Dreßen [SPD]: Das werden wir nicht zulassen!)


Nun zu den vier Gesetzen, zu den Vermittlungsergeb-
nissen und meinen Abstimmungsempfehlungen.

Erstens zum Abgeordnetengesetz. Das übergeordnete
Problem war, Mehrfachbezüge bei Abgeordneten zu ver-
hindern. Diese Intention ist nach dem Vermittlungsaus-
schuss erhalten geblieben. Deshalb werden wir zustim-
men. Wichtig für die Geschichtsbücher dürfte aber noch
etwas anderes sein, was sich in diesem Gesetz versteckt,
nämlich dass Mitglieder des Bundestages aus ihrem vor-
handenen Etat auch Handys und andere moderne Kom-
munikationsmitteln nutzen können. Natürlich werden wir
auch dieser Öffnung gegenüber dem 21. Jahrhundert un-
sere Stimme heute nicht versagen.

Zweitens zum Stiftungsrecht.Die PDS war und ist für
mehr Transparenz, für weniger Bürokratie und für die Un-
terstützung von bürgerschaftlichem Engagement. Der
vorliegende Kompromiss entspricht dem nicht. Stattdes-
sen dürfte die Konkurrenz zwischen Stiftungen und ge-
meinnützigen Vereinen zunehmen, sobald es um Spen-
den geht. Bessere Vorschläge zugunsten gemeinnütziger
Vereine, zum Beispiel aus sozialdemokratisch regierten
Ländern wie Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Schles-
wig-Holstein, wurden ausgeschlagen. Die PDS wird sich
an dieser Stelle enthalten, zumindest mehrheitlich.

Drittens zum Strafverfahrensänderungsgesetz. Es
wurde schon auf die Bundesverfassungsgerichtsentschei-
dung aus dem Jahre 1983 verwiesen. Seit dieser Ent-
scheidung wurde trotzdem von der Polizei alles gesam-
melt und erfasst, was zu erfassen war. Insbesondere die
CDU/CSU hat immer wieder dafür plädiert, eine effizi-
ente Strafverfolgung höher zu gewichten als Bürger-
rechte und Datenschutz. Auch im vorliegenden Kompro-
miss wird einem starken Staat der Vorzug gegenüber den
Bürgerrechten gegeben. Das lehnen wir ab. Um mit
Franklin zu sprechen:

Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzuge-
ben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlie-
ren.

Viertens zum Fernabsatzvertragsgesetz. Im Kern
geht es um Bestimmungen, die den Schutz von Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern stärken sollen – so weit, so
gut. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Wer über
Versandhäuser oder im Internet Waren im Wert bis zu
40 Euro ordert und diese reklamieren will, muss für das
Rückversandporto selbst aufkommen. Wenn also künf-
tig meine Oma im Internet eine Bluse für 10 DM bestellt,
die sich dann als zu groß oder als schadhaft erweist, dann
darf sie den üblicherweise viel zu großen Karton für ein
Porto von circa 10 DM zurückschicken.


(Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Dann haben Sie den Text falsch gelesen!)


– Ich habe den Text gelesen und zumindest das nachge-
prüft, was mir möglich war. Sie waren ja nicht in der Lage,
mir den Einblick in die Unterlagen zu ermöglichen.

Also: Außer Spesen nichts gewesen; so heißt es zu-
mindest im Volksmund. Real trifft es aber sozial Benach-
teiligte. Im Übrigen hat das der Einzelhandel heute schon
moniert. Er meinte, es sei richtig, dass es sozial Benach-
teiligte treffe; es sollten aber alle getroffen werden, des-
halb solle die Regelung unendlich ausgedehnt werden,




Jörg van Essen
10174


(C)



(D)



(A)



(B)


wie ich dem Ticker entnehmen durfte. Das ist unsozial
und wird zumindest unsere Zustimmung nicht finden.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410812300
Es wird, entgegen
meiner Vermutung, keine Erklärung mehr gewünscht? –
So ist es.

Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Beschluss-
empfehlung des Vermittlungsausschusses zum Strafver-
fahrensänderungsgesetz 1999. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass über die Änderung gemeinsam
abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 14/3525? – Die Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Gegen die Stimmen der PDS ist die
Beschlussempfehlung angenommen.

Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und
zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetenge-
setzes. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über
die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3526? –
Ich sehe, dass alle zugestimmt haben. Damit ist die Be-
schlussempfehlung einstimmig angenommen.

Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen
des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vor-
schriften auf Euro. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/3527? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Bei Gegenstimmen der F.D.P. und Enthaltung der
PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stif-
tungen. Der Vermittlungsausschuss hat wiederum gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/3528? – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Bei
gemischtem Abstimmungsverhalten, nämlich bei Enthal-
tungen und Gegenstimmen der PDS, ist die Beschluss-
empfehlung angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Damit ist ein weiterer Schritt auf dem Wege in die Bür-
gergesellschaft, zum Citoyen, erfolgt. Wir wollen aber
jetzt nicht die französische Nationalhymne singen.

Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS

Haltung der Bundesregierung zur Zukunft der
Bundesdruckerei und der mit ihrem Betrieb
verbundenen hoheitlichen Aufgaben

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1410812400
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die traditionsreiche Bundes-
druckerei in Berlin-Kreuzberg gehört mit ihren derzeit
2 250 Beschäftigten zu einem der größten Arbeitgeber in
der Hauptstadt. Ihre Leistungen in der beruflichen Aus-
und Weiterbildung sind verdienstvoll und unverzichtbar.

Die Bundesdruckerei hat sich zu einem innovativen
Hightechunternehmen entwickelt, das mit Erfolg am
Markt agiert. Alles scheint also zum Besten zu stehen. Nur
in einem Punkt scheint das nicht so zu sein: Die Zukunft
des Unternehmens, die der Arbeitsplätze und damit die
der Beschäftigten ist nicht sicher. Deshalb hat sich die Be-
legschaft in der vergangenen Woche für einen massiven
öffentlichen Protest vor dem Finanzministerium entschie-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die rot-grüne Bundesregierung ist fest entschlossen,

ihre Geschäftsanteile an der wettbewerbsfähigen Drucke-
rei GmbH komplett zu verkaufen, und zwar offensichtlich
deshalb, um kurzfristig Geld in die Staatskasse zu spülen.
Sie hat die Frankfurter Investmentbank Metzler beauf-
tragt, bei der Suche von Käufern Unterstützung zu geben.
Wie wir heute aus einer Antwort der Bundesregierung er-
fahren haben, gibt es inzwischen über 70 Gesellschaften,
die ein erstes Erwerbsinteresse bekundet haben. Welche
Vorgaben die Bundesregierung für dieses Bieterverfahren
gemacht hat, hat sie bis heute niemandem, weder der Be-
legschaft noch den Parlamentariern, die danach gefragt
haben, gesagt. Die Regierung schweigt sich trotz berech-
tigter Fragen der Beschäftigten aus.

Worum geht es? Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Berlin und anderswo haben in den letzten Jahren wie-
derholt die Erfahrung machen müssen, dass die Veräuße-
rung eines Unternehmens zu einer Verlagerung der
Produktion und damit verbunden zu empfindlichen Verlu-
sten von Arbeitsplätzen führte. Die Regierung will das be-
züglich der Bundesdruckerei in ihrer jüngsten Antwort,
die wir, wie gesagt, heute erhalten haben, nicht aus-
schließen. Sie erwartet – so wurde dort wörtlich formu-
liert – lediglich, dass die Investoren den Standort Berlin
attraktiv einschätzen.

Ich finde, das ist eine vage Hoffnung. Mit dieser vagen
Hoffnung darf man die Belegschaft nicht noch weitere
Monate im Ungewissen lassen. Wir erwarten, dass die Be-
legschaft im Hinblick auf die bestehenden Arbeits- und
Ausbildungsplätze hier am Standort Berlin Sicherheit er-
hält. Sicherheit muss auch dahin gehend bestehen, wie die
Differenz zwischen den tatsächlichen und den bilanzier-
ten Versorgungsansprüchen – diese Differenz beträgt
249 Millionen DM – im Verkaufsprozess gedeckt werden
soll.




Petra Pau

10175


(C)



(D)



(A)



(B)


Klarheit muss ebenfalls über den weiteren Umgang mit
den Tarifverträgen geschaffen werden. Ich halte es
schlicht für skandalös – um es milde zu sagen –, dass eine
sozialdemokratisch geführte Regierung den Beschäftig-
ten der Bundesdruckerei über Monate hinweg Verhand-
lungen über einen neuen Tarifvertrag ausgeschlagen hat
mit der Begründung, dass das Unternehmen verkauft wer-
den soll. Erst in der jüngsten Zeit gibt es da eine gewisse
Bewegung.

Die Praxis zeigt aber, dass der neue Eigentümer alsbald
Tarifverträge mit verschlechterten Bedingungen ab-
schließt. Das steht auch hier zu befürchten. Daher sagen wir:
Das muss schon im Anfangsstadium verhindert werden.

Wir erwarten auch, dass das von den Beschäftigten ge-
meinsam mit Unternehmensberatern erarbeitete Beleg-
schaftsmodell einer Selbstprivatisierung bei der weiteren
Entwicklung der Bundesdruckerei nicht außen vor bleibt.
Wohl auch weil wir dieses Thema mit dieser Aktuellen
Stunde in eine breite Öffentlichkeit heben, will das Bank-
haus Metzler in den nächsten Tagen ein Verkaufs-
memorandum versenden, auf dessen Grundlage auch die
Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes Angebot für
eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben.

In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen heißt es, dass man sich für eine verbesserte
Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am
Produktivkapital einsetzen will. Ich frage: Warum kann
die Bundesregierung, die ein öffentliches Unternehmen
privatisieren will, nicht hier damit beginnen, eine Mitar-
beiterbeteiligung vorzusehen?


(Beifall bei der PDS)

Sollen die Mitarbeiter immer nur bei maroden Unterneh-
men das Recht erhalten, sich zu beteiligen? Ich denke,
hier kann man bei einem wettbewerbsfähigen Unterneh-
men den Anfang machen. Es hätte sich gehört, die
Mitarbeiterbeteiligung von Anfang an in die Vorgaben zur
Privatisierung aufzunehmen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit den Be-
schäftigten konstruktiv über deren Vorschläge auseinan-
der zu setzen und Klarheit zu schaffen, wie mit den be-
rechtigten sozialen Belangen umgegangen werden soll.
Der Standort der Bundesdruckerei in Berlin muss im In-
teresse der Beschäftigten erhalten bleiben.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410812500
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner.


Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1410812600
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Dass ausgerechnet
Sie, Frau Kollegin Luft, diesen Antrag der PDS begrün-
den, verstehe ich gar nicht. Sie haben doch Gelegenheit
gehabt, sich vor Ort zu informieren. Sie haben am 25. Ja-
nuar eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Sie
haben am 14. Februar eine Antwort der Bundesregierung
bekommen. Wenn Sie Anfrage und Antwort einmal nach-
lesen, werden Sie sehr schnell feststellen, dass die von Ih-
nen vorgetragenen Befürchtungen keinen Bestand haben.

Für unsere Fraktion sage ich Folgendes: Panikmache
würden wir in dieser Phase für das Schlimmste halten. Sie
haben fälschlicherweise den Eindruck erweckt, die Priva-
tisierung würde jetzt erst beginnen. Die Bundesdruckerei
ist aber schon am 1. Juli 1994 von der alten Bundesregie-
rung privatisiert worden, und zwar durch Umwandlung in
eine GmbH. Damals wurde die klare Aussage gemacht,
man wolle weitere Beteiligte suchen. In Kontinuität zu
dieser Aussage der alten Bundesregierung verfährt die
heutige Bundesregierung. Deshalb sollten Sie jetzt nicht
den Eindruck zu erwecken versuchen, als nehme die jet-
zige Bundesregierung eine Privatisierung vor. Das ist
falsch.

Meine Damen und Herren, in der Tat ist das Problem in
Kreuzberg groß. Das wissen alle, die sich in Berlin aus-
kennen. Dass man die Arbeitsplätze dort erhalten muss, ist
selbstverständlich. Für mich, für die SPD und eigentlich
auch für die Koalition ist klar, dass wir dem Erhalt der
Arbeitsplätze in Kreuzberg höchste Priorität einräumen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


dass wir mit den Investoren darüber reden müssen, dass
sie dann, wenn sie investieren wollen, in Berlin investie-
ren müssen.

Warum muss die Bundesdruckerei in privatisierter
Form weiter ausgebaut werden? Der Grund ist: Sie ist al-
lein nicht in der Lage, auf dem Weltmarkt zu agieren. Es
kommen neue Märkte hinzu. Nur mit starken Partnern, die
Investitionen tätigen, kann die Bundesdruckerei bestehen
und auf die Vorgänge an den Märkten reagieren.

Frau Kollegin Luft, Sie haben eben gesagt, die Beteili-
gung der Mitarbeiter am Produktivvermögen sei Sache
der SPD. In der Tat wird das seit Jahrzehnten diskutiert.
Sie haben es diskutiert, jeder hat es diskutiert, keiner hat
es gemacht. Das ist wirklich wahr; denn in der Auseinan-
dersetzung zwischen den Arbeitnehmervertretungen und
den Arbeitgebervertretungen wurde niemals Einigkeit da-
rüber erzielt, was man eigentlich machen will. Man redet
zwar immer darüber; man macht aber nichts.

Wenn die Belegschaft und Sie – das Modell liegt Ihnen
wie mir vor – diese Beteiligung wollen, bedeutet das, dass
Sie von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Lohnverzicht verlangen; Sie verlangen ferner zwecks
Aufbringung des Anteils Verzicht auf das Urlaubsgeld;
Sie verlangen Verzicht auf das Weihnachtsgeld. Das reicht
alles immer noch nicht, um die Anteile zu finanzieren.
Vielmehr muss das durch Darlehen aufgestockt werden.
Das heißt also, jede Arbeitnehmerin, jeder Arbeitnehmer
muss ein privates Darlehen aufnehmen, um den Anteil,
der gefordert wird, zu erbringen. Das halte ich für fatal.
Man muss andere Formen der Mitwirkung suchen. Übri-
gens werden alle gesetzlichen Regelungen der Mitbe-
stimmung überhaupt nicht berührt, wenn der Verkauf er-
folgt.

Ferner steht in Ihrem Antrag, dass auch das Problem
der hoheitlichen Aufgaben geregelt werden müsse. In der
Tat: Das steht unmittelbar vor dem Abschluss. Die jetzige
Bundesregierung hat das jahrelange Hin und Her beendet.
Bundesinnenminister Schily hat verhandelt. In dieser Wo-




Dr. Christa Luft
10176


(C)



(D)



(A)



(B)


che wird ein Vertrag unterschrieben, der exakt diese Frage
regelt, die, wie Sie wissen, für die Bundesrepublik
Deutschland wichtig ist. Es geht um den Druck von Aus-
weisdokumenten, von Banknoten und die Herstellung von
Chipkarten, wobei ja eine gewisse Sicherheit gegeben
sein muss.

Es gibt auch Privatfirmen, die diese Dinge ebenfalls
drucken bzw. herstellen. Sie haben den gleichen Sicher-
heitsstandard wie die Bundesdruckerei. Sie werden stän-
dig überprüft. Deshalb ist auch das kein Argument, mit
dem man einer an sich vernünftigen Regelung widerspre-
chen sollte.

Die Schutzrechte zur Wahrung der Sozialbelange der
Arbeitnehmer werden durch diese Privatisierung nicht
tangiert. Die Sicherheit der Arbeitsplätze ist für uns die
Priorität Nummer eins; ich habe es eben schon gesagt.
Weitere Investitionen hier in Berlin haben ebenfalls Prio-
rität. Ich weiß genau, dass es etwa 70 Interessenten gibt,
die bereit sind, hier einzusteigen, die aber nur Teile über-
nehmen wollen. Es gibt intelligente Menschen, die die
Orga übernehmen wollen, den einzigen Teilbetrieb der
Bundesdruckerei, der schwarze Zahlen schreibt. Den hät-
ten sie gern und uns und den anderen möchten sie jene
Teile ans Bein hängen, die rote Zahlen schreiben. Das
kann auch nicht sein. Deshalb müssen wir die Entwick-
lung abwarten und sehen, wie sich das in den nächsten Ta-
gen ergeben wird.

Ich bin der Auffassung, man sollte den Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern das sagen, was ich ihnen in der
Belegschaftsversammlung gesagt habe: Die Sozialdemo-
kraten stehen für die Sicherheit der Arbeitsplätze und für
künftige Investitionen hier in Berlin.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410812700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Kolbe.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1410812800
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Union hat immer für eine
zielstrebige Privatisierungspolitik gestanden, aber auch
für eine Privatisierungspolitik mit Augenmaß. Für uns be-
deutet Privatisierung wirtschaftliche Dynamik. Privatisie-
rung erschließt ungenutzte Wachstums- und Beschäfti-
gungsspielräume. Privatisierung ermöglicht den Abbau
der Staatsverschuldung. Privatisierung schafft zusätzli-
chen Wettbewerb und Privatisierung sichert damit auch
den Verbrauchern marktgerechte Preise. Die Union steht
deshalb für eine zielstrebige Privatisierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das beste Beispiel ist der Telekommunikationsbereich.

Wir haben gegen viele Widerstände Anfang der 90er-
Jahre im Telekommunikationsbereich privatisiert


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich dachte, das hätten wir gemacht!)


– gemeinsam als Bundesregierung, Herr Niebel –, mit der
Folge, dass die Telekommunikation expandiert ist und die
Preise für den Verbraucher gesenkt worden sind.

Sie von der jetzigen Koalition haben uns immer nur
vorgeworfen, dass wir das Tafelsilber verscherbeln wür-
den – jahrelang haben wir uns das im Haushaltsausschuss
angehört –, und jetzt fahren Sie den entgegengesetzten
Kurs. Sie werden in diesem Jahr wahrscheinlich Privati-
sierungserlöse in einer Höhe haben, die wir uns – das sage
ich ein bisschen neidvoll – niemals hätten träumen lassen.
Sie fahren also einen absolut widerspruchsvollen Kurs.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie konnten doch noch nie mit Geld umgehen!)


Das ist so ähnlich wie bei der Rente. Unser „demogra-
phischer Faktor“, der das Rentenniveau maßvoll von 70
auf 64 Prozent des letzten Verdienstes abgesenkt hätte,
war für Sie das „Ende des Sozialstaats“. Jetzt senken Sie
das Rentenniveau wesentlich stärker, nämlich von 70 auf
54 Prozent, nennen das „Ausgleichsfaktor“ und jetzt soll
es die Lösung aller Rentenprobleme sein!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine ähnliche Doppelstrategie fahren Sie bei der Pri-

vatisierung, auch bei der Bundesdruckerei. Denn gerade
bei der Bundesdruckerei haben wir eine erfolgreiche Pri-
vatisierung mit Augenmaß betrieben. Bis 1994 war die
Bundesdruckerei eine Behörde. Sie war ein rechtlich un-
selbstständiger Teil der Bundesverwaltung unter der
Dienstaufsicht des Bundespostministers.

Wir haben die Bundesdruckerei zum 1. Juli 1994 in
eine GmbH umgewandelt, die zu 100 Prozent im Eigen-
tum des Bundes steht. Wir haben die Schulden abgebaut.
131 Millionen DM sind in die Bundesdruckerei investiert
worden. Sie ist heute ein hoch innovativer Hightech-
Betrieb. Er hat auch einen schmerzlichen Personalabbau
zu verkraften gehabt. Damals gab es dort 4 000 Arbeit-
nehmer, jetzt sind es noch 2 200. Heute macht die Bun-
desdruckerei Gewinn. Das war eine Privatisierung mit
Augenmaß.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben damals auch einen Kabinettsbeschluss ge-

fasst, nach dem bei einer weiteren Kapitalprivatisie-
rung – das haben Sie zu erwähnen vergessen, Herr
Wagner; deshalb trage ich es jetzt vor – nicht mehr als
49 Prozent der Anteile zu privatisieren und an keinen wei-
teren Investor mehr als 25 Prozent der Anteile abzugeben
sind. Warum? – Damit sichergestellt ist, dass die Bundes-
republik in diesem hoheitlichen Bereich – in der Bundes-
druckerei werden Pässe, Personalausweise, Visa und
Banknoten gedruckt – den notwendigen Einfluss behält,
der im Hinblick auf sicherheitsrelevante Belange notwen-
dig ist. Das war eine Privatisierung mit Augenmaß.

Was haben Sie jetzt vor? – Wir können nur Mut-
maßungen anstellen. Auch Sie, Herr Wagner, haben sich
um eine klare Aussage gedrückt. Wollen Sie mehr als
49 Prozent der Anteile privatisieren oder nicht? Das
möchten wir hier im Deutschen Bundestag schon gern er-
fahren. Vielleicht erfahren wir es nachher von Ihnen, Frau
Hendricks. Das interessiert dieses Haus jedenfalls.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Hans Georg Wagner

10177


(C)



(D)



(A)



(B)


Dem „Bundesanzeiger“ können wir nur entnehmen, dass
„die Anteile“ zu privatisieren sind. Das lässt zunächst auf
eine Totalprivatisierung schließen. Das Bundesfinanzmi-
nisterium ist bisher nicht zu weiteren Informationen be-
reit. Die Belegschaft wird nicht informiert. Selbst dem
Aufsichtsrat der Bundesdruckerei werden die notwendi-
gen Informationen vorenthalten. Das kann so nicht wei-
tergehen. Wir als Parlamentarier wollen in dieser Aktuel-
len Stunde aufgeklärt werden, wie Sie sich den weiteren
Gang der Dinge vorstellen und in welchem Umfang Sie
privatisieren wollen.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal den
Standpunkt der Unionsfraktion zusammenfassen: Erstens
sind wir für einen zielstrebigen Privatisierungskurs. Wir
haben das während unserer Regierungszeit unter Beweis
gestellt. Wir müssen aber zweitens darauf Rücksicht neh-
men, dass in der Bundesdruckerei auch hoheitliche und si-
cherheitsrelevante Tätigkeiten verrichtet werden. Drittens
meinen wir, dass es nicht angeht, Mitarbeiter in der Art
und Weise außen vor zu lassen, wie es im Augenblick ge-
schieht.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt ja überhaupt nicht!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410812900
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich habe am letzten Mittwoch, also vor einer guten
Woche, selber an der Demonstration von der Bundes-
druckerei zum Bundesfinanzministerium teilgenommen
und anschließend auf der Kundgebung, die vor dem Bun-
desfinanzministerium stattfand, auch geredet.


(Klaus Lennartz [SPD]: Ich gehe davon aus, als Gegendemonstrant!)


– Nein, nein, ich habe mit der Belegschaft demonstriert

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)

und auf Einladung des Betriebsratsvorsitzenden auf der
anschließenden Kundgebung reden dürfen. Dort habe ich
der Belegschaft versichert, dass wir ihre Befürchtungen
ernst nehmen, dass sie bei den Bündnisgrünen gute und
verlässliche Partner hat


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was bedeutet das für die Regierungskoalition?)


und dass wir die Vorstellungen, die die Belegschaft ent-
wickelt hat, so ernst nehmen, dass sie einer ernsthaften
Überprüfung durch das Ministerium und auch einer ernst-
haften Diskussion hier im Deutschen Bundestag zuge-
führt werden. Auch Vertreter der anderen Parteien aus
Berlin, etwa der CDU, haben dort reden dürfen. Sie haben
sich sehr stark dafür gemacht, dass eine Privatisierung in
der Form, wie sie vorgesehen ist, dort nicht stattfinden

soll. Ich bin gespannt, wie sie dann hier im Deutschen
Bundestag darüber abstimmen werden.

Die Befürchtungen sind gerechtfertigt. Die Bundes-
druckerei – darauf ist hingewiesen worden – war ur-
sprünglich ein Bundesunternehmen und ist 1994 privati-
siert und zu einer GmbH gemacht worden. Seither hat dort
ein Sanierungsprozess stattgefunden – das darf man nicht
vergessen –, bei dem 30 Prozent der Arbeitsplätze, die es
dort einmal gegeben hat, abgebaut worden sind. Das
heißt, dieses Unternehmen hat unendlich viel – wie
schwierig das ist, weiß jeder, der einmal in einer solchen
Situation gewesen ist – dazu beigetragen und geleistet,
dass aus ihm ein rentabler Betrieb gemacht wurde, der ins-
gesamt seit letztem Jahr schwarze Zahlen schreibt. Das ist
ein großer Erfolg, und ich glaube, wir können der Beleg-
schaft dort nur dazu gratulieren, dass sie das hinbekom-
men hat.

Wir dürfen es auf gar keinen Fall zulassen, dass die Be-
legschaft und die Geschäftsführung dadurch bestraft wer-
den, dass wir nun den Betrieb verkaufen und es vielleicht
zu einer Zerschlagung des Unternehmens kommt, wenn
die profitablen Teile herausgenommen werden, der Be-
trieb der anderen möglicherweise eingestellt wird und da-
durch Arbeitsplätze gefährdet werden.

Die Bundesdruckerei ist im Bezirk Kreuzberg – das ist
mein Wahlkreis – der wichtigste und größte Arbeitgeber.
Es wäre eine Katastrophe für diesen Bezirk, der ohnehin
unter der höchsten Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt lei-
det, wenn dieser zentrale Arbeitgeber nicht mehr in Ber-
lin beschäftigen würde. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist – das geben die Belegschaft und
der Betriebsrat auch zu bedenken; deshalb haben sie sich
über Beteiligungs- und Alternativformen der Bewirt-
schaftung durchaus Gedanken gemacht – der europaweite
Wettbewerb. Das heißt, wenn der Euro in zwei Jahren ge-
druckt wird, muss das nicht unbedingt bei der Bundes-
druckerei geschehen, sondern die Auftragsvergabe wird
im freien Anbieterwettbewerb entschieden. Vielleicht
wird er auf Sizilien billiger und möglicherweise genauso
sicher gedruckt wie in Berlin-Kreuzberg. Dann ergibt sich
daraus ein Problem.

Daraus folgt, der Betrieb muss weiterentwickelt wer-
den. Dabei ist vor allen Dingen der Betriebsteil Orga-Kar-
tensystem ein sehr hoffnungsvoller Ansatz, der durch wei-
tere Investitionen gefördert werden muss. Es ist deshalb
richtig und wichtig, dass ein Investor gesucht wird. Das
sieht auch die Belegschaft so und auch der Betriebsrat
macht dabei mit. Das sollen wir fördern.

Wir müssen allerdings sicherstellen, dass der Standort
gewahrt bleibt. Es kann nicht sein, dass die Hauptproduk-
tion in Zweigbetriebe, wie jetzt nach Neu-Isenburg, ver-
lagert wird. Es muss ein nur wenige Kilometer von hier
angesiedelter Standort bleiben, bei dem ein Teil der Ber-
liner Bevölkerung Arbeit findet. Es muss ein Arbeitgeber
bleiben, bei dem nicht nur die Arbeitsplätze in diesem und
im nächsten Jahr gesichert sind, sondern auch in fünf oder
zehn Jahren, wenn dort keine Ausweise oder Reisepässe
in der heutigen Form mehr produziert werden, sondern
wenn Alternativen, etwa kleinere Chipkarten oder Ähnli-




Manfred Kolbe
10178


(C)



(D)



(A)



(B)


ches, hergestellt werden. Auch dann müssen sie konkur-
renzfähig sein. Das muss sichergestellt werden.

Ich denke deshalb, wir sind auf einem richtigen und
guten Weg, wenn wir dem Betriebsrat sagen: Legt eure
Konzepte vor, sie werden vom Finanzministerium ge-
prüft! Legt eure Vorschläge für eine Beteiligung der Ar-
beitnehmer an der Produktion und den Entscheidungspro-
zessen vor! Wir garantieren euch, dass sie genau geprüft
werden und dass angesichts des Risikos, das mit einer
Veräußerung oder der Beteiligung eines Großinvestors
immer verbunden ist, sichergestellt wird, dass auf abseh-
bare Zeit keinerlei Risiken für die Arbeitnehmer und den
Standort in der Stadt eintreten.

Wenn wir das tun, handeln wir verantwortlich. Dann
können sich dieser Betrieb und möglicherweise auch an-
dere Bundesbetriebe oder ehemalige Bundesbetriebe sol-
che Demonstrationen sparen, weil sie wissen, ihre
Angelegenheiten sind bei der rot-grünen Koalition gut
aufgehoben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410813000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Günter Rexrodt.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1410813100
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Dass ein Betrieb wie die Bundes-
druckerei privatisiert wird, liegt im Interesse der Mitar-
beiter.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Im Interesse von Herrn Rexrodt!)


– Im Interesse der Mitarbeiter, nicht in meinem Interesse.

(Beifall bei der F.D.P.)


Wenn Sie einmal nicht auf Panik machen und nicht in bil-
liger Weise auf Stimmenfang gehen, werden Sie das auch
nachvollziehen können, meine Damen und Herren von
der PDS.

Ich sage Ihnen Folgendes: In der Bundesdruckerei wer-
den in klassischer Form Dokumente gedruckt, überwie-
gend Briefmarken, Ausweise, Wertpapiere und andere Ur-
kunden. Wer ein wenig um sich schaut, weiß, dass dieses
Geschäft erheblich zurückgeht. Es wird zwar immer wie-
der Dokumentendruck geben; dass in Zukunft aber noch
viele Briefmarken gedruckt werden, kann ich mir nicht
vorstellen.

Das Geschäft geht zurück. Das Dokumentengeschäft
– das hat auch Herr Ströbele eben gesagt – entwickelt sich
zu einem elektronischen Geschäft. Es werden ganz andere
Techniken verlangt. In einem solchen Betrieb wird es eine
ganz andere Art der Mitarbeit geben müssen. Dies müsste
zu einer Umorientierung mit Auswirkungen für die Mit-
arbeiter führen.

Für eine Investition in dieses elektronische Dokumen-
tengeschäft steht genügend privates Kapital zur Verfü-
gung. Ich sehe daher nicht ein, warum der Staat in dieses
Geschäft investieren soll, wenn andere, die dort Erfah-

rung haben und das Kapital bereitstellen können, das viel
besser machen können als der Staat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das ist die klare Konsequenz, der sich auch niemand ver-
schließen kann. Die Privatisierung und das Überführen in
ein neues Geschäftsfeld sind das Normalste der Welt und
das Beste für die Mitarbeiter.


(Beifall bei der F.D.P.)

Nun muss man das natürlich ordentlich machen. Ich

sage noch einmal etwas zur PDS und ihren Sicherheitsbe-
denken. Das ist Unsinn. Als ob nicht schon Private Doku-
mente und auch hochsensible Dinge druckten. Dafür gibt
es Gesetze und man kann Verträge abschließen. Im Übri-
gen liegen vertrauliche Daten bei Krankenkassen, also
privaten Einrichtungen, bei Ärzten, Luftfahrtgesellschaf-
ten und Hotels. Überall gibt es vertrauliche Unterlagen
und Daten. Diese sind geschützt. Wenn sie nicht geschützt
werden, kann man dies ahnden. Das ist überhaupt nur ein
herbeigeholtes Argument.

Aber jetzt geht es um die Arbeitsplätze und die Form
der Privatisierung. Das Bundesfinanzministerium führt
über eine eingeschaltete Investmentbank Verhandlungen
und Gespräche mit einer Reihe von privaten Interessen-
ten. Das ist okay. Aber ich wünsche mir und stelle mir vor,
dass man bei diesen Gesprächen und Überlegungen eben
nicht nur fiskalische Aspekte im Sinn hat, dass man nicht
nur möglichst schnell einen Erlös erzielen will. Sie haben
ja bereits einen erwarteten Veräußerungserlös in Höhe
von etwa 800 Millionen bis 1 Milliarde DM in den Bun-
deshaushalt eingestellt. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns das
mit sehr viel Sachverstand angehen.

Ich würde auch eine Überlegung ins Auge fassen, die
darauf hinausläuft, dass man das Unternehmen in gewis-
ser Weise neu strukturiert und rationalisiert sowie einen
Börsengang macht. Ein Börsengang würde für den Fiskus
viel höhere Erlöse, eine viel höhere Kapitalisierung als
eine rasche und möglicherweise unglückliche Veräuße-
rung an ein, zwei oder drei Interessenten bringen. Ich
kann das so jetzt nicht entscheiden; aber dieser Vorschlag
beruht auf den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren
in Deutschland gemacht haben.

Ein Börsengang wäre auch eine gute Möglichkeit, eine
interessante Form der Mitarbeiterbeteiligung umzuset-
zen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Mitarbeiter könnten einen Bonus bekommen, könn-
ten die Aktien, die Anteile zu günstigeren Konditionen als
andere Aktionäre erwerben. Das ist ernsthaft zu prüfen.
Ich glaube aber, man schiebt das einfach vom Tisch, da
man schnell einen Erlös erzielen will. Das, was hier von
Rot-Grün gemacht wird, ist keine verantwortungsvolle
Politik.

Die Gewerkschaften und Mitarbeiter möchten, dass
nach Möglichkeit nur 49 Prozent privatisiert werden, sie
selbst eine Sperrminorität von 25,1 Prozent bekommen
und die Aktien, die sie erhalten, durch Abstriche am Haus-
tarif bezahlt werden. Der Haustarif ist im Übrigen schon




Hans-Christian Ströbele

10179


(C)



(D)



(A)



(B)


höher als der normale Tarif im Druckgewerbe. Auch das
muss man sehen. Frau Luft, hier darf man nicht polemi-
sieren, sondern muss die Dinge in der richtigen Relation
sehen.

Ich rege also an, eine Form der Mitarbeiterbeteiligung
zu finden, wie sie heute üblich geworden ist, im Interesse
der Mitarbeiter und zu guten Konditionen – es muss natür-
lich eine mehrheitliche unternehmerische Führung mög-
lich sein –, und anders, als Sie es jetzt tun, Frau Hendricks,
einen Börsengang ins Auge zu fassen. Das Unternehmen
würde eine Kapitalisierung bekommen, die weit über das
hinausginge, was meiner Meinung nach bei einer Einzel-
veräußerung zu erzielen ist. Dies wiederum stünde zur
Verfügung, um zu investieren. Diese Investitionen sind
geeignet, Arbeitsplätze in diesem Unternehmen in Berlin-
Kreuzberg zu sichern.

Also gehen Sie mit Sachverstand und nicht fiskalisch
daran und schon gar nicht ideologisch und billig, auf Pa-
nikmache ausgelegt sowie darauf bedacht, bei den Mitar-
beitern, die natürlich Angst um ihre Arbeitsplätze haben,
Punkte zu machen. Die Dinge müssen verantwortungsvoll
und nicht nur mit dem Ziel angegangen werden, dass man
Stimmen absahnen will. Das ist unsere Auffassung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Christa Luft [PDS]: Welch ein Geschwätz! Vor jeder Wahl etwas anderes!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410813200
Für die Bundes-
regierung erhält jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Dr. Barbara Hendricks das Wort.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410813300
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Auffassung der
Bundesregierung zur Zukunft der Bundesdruckerei
GmbH ist geprägt von den Erfordernissen der Zukunftssi-
cherung des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze.

Aufgrund der Entwicklungen auf den wichtigsten
Märkten der Bundesdruckerei – Herr Kollege Ströbele hat
das bereits dargestellt – ist für sie der Ausbau strategischer
Partnerschaften zur Unterstützung der weiteren Entwick-
lung der Gesellschaft und zur Sicherung wettbewerbs-
fähiger Arbeitsplätze unverzichtbar. Das ist auch – ganz
im Gegensatz zu dem, was Sie uns unterstellen, Herr
Rexrodt – der Grund, warum wir keinen Börsengang pla-
nen. Wir wollen eine strategische Partnerschaft bilden und
eben nicht einfach nur an der Börse Kasse machen. Ginge
man rein fiskalisch damit um, würde man an der Börse
Kasse machen und hätte keinen strategischen Partner für
die Weiterentwicklung des Unternehmens.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Uns geht es um einen strategischen Partner für die Wei-
terentwicklung des Unternehmens.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Eines schließt das andere nicht aus!)


Der Bund hat sich in diesem Zusammenhang, wie gesagt,
für die Privatisierung der Bundesdruckerei entschieden,
eben um diese strategische Partnerschaft für die Zukunft
zu gewährleisten. Der Zeitpunkt für diesen Schritt ist im
Übrigen günstig, da in den wichtigsten Märkten der Bun-
desdruckerei Konsolidierungsprozesse ablaufen, die dem
Unternehmen die Chance eröffnen, gemeinsam mit Part-
nern, die auch Erfahrungen in diesen Geschäftsfeldern ha-
ben, international eines der marktführenden Unternehmen
zu werden.

Der Bund hat nach Durchführung eines breit angeleg-
ten Wettbewerbsverfahrens die Frankfurter Investment-
bank Metzler damit beauftragt, ihn bei der Partnersuche
zu unterstützen. Die Privatisierung soll im laufenden Jahr
abgeschlossen werden. Aktuell hat das Bankhaus Metzler
ein Verkaufsmemorandum erstellt, auf dessen Grundlage
auch die Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes An-
gebot für eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben. Es ist
also nicht so, dass wir dies ausschließen wollten.

Wenn Frau Kollegin Luft davon sprach, dass es keine
Tarifverhandlungen gegeben habe, so ist festzustellen:
Selbstverständlich hat die Bundesregierung keine Tarif-
verhandlungen geführt. Da es sich um einen Haustarif-
vertrag handelt, hat natürlich die Geschäftsführung der
GmbH mit dem Betriebsrat Tarifverhandlungen geführt
und jetzt auch ein Angebot unterbreitet, wie die Mitarbei-
terbeteiligung im Rahmen eines Tarifvertrages ge-
währleistet werden kann, wenn die Mitarbeiter es denn
wollen. Es ist ja die Frage, ob sie das wollen. Das Bank-
haus Metzler hat dies ausdrücklich in sein Angebot mit
aufgenommen.

Dieses Konzept wird dann in Verhandlungen mit po-
tenziellen Kaufinteressenten einbezogen. Derzeit wird
noch mit etwa 70 Gesellschaften gesprochen, die ein ers-
tes Erwerbsinteresse bekundet haben. Dabei wird es
natürlich nicht bleiben.

Bei der Umsetzung des Vorhabens haben die sicher-
heitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Datenschutz selbstverständlich höchste Pri-
orität. Kollege Wagner hat schon darauf hingewiesen: Es
gibt schon heute in der Bundesrepublik Deutschland ein
zweites Unternehmen, das seit mehr als 40 Jahren Bank-
noten druckt, natürlich zur vollständigen Zufriedenheit
hinsichtlich der Sicherheit. Sonst hätten wir das nicht seit
mehr als 40 Jahren so handhaben können. Diese sicher-
heitspolitischen Interessen sind also auch dann gewähr-
leistet.

Das Bundesfinanzministerium und die Bundesdrucke-
rei führen darüber zurzeit Gespräche mit dem zuständigen
Bundesinnenministerium. Wir stehen kurz vor einem Ab-
schluss.

In einem noch abzuschließenden Vertrag sollen dann
unter anderem die Anfertigung und Auslieferung der von
der Bundesdruckerei herzustellenden Personaldokumente
sowie Aufsichts- und Weisungsrechte des Bundesministe-
riums des Innern geregelt werden. Die Bundesdruckerei
kann auch nach der Veräußerung ihre Aufgaben wie bis-
her erfüllen. Sie ist ja bisher – das wurde bereits gesagt –




Dr. Günter Rexrodt
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(C)



(D)



(A)



(B)


schon seit Juni 1994 durch Umwandlung zur GmbH in ei-
ner privaten Rechtsform tätig.

Soweit die Bundesdruckerei in den vergangenen Jah-
ren für hoheitliche Aufgabenerfüllung tätig und insbeson-
dere für drucktechnische Unterstützungsleistungen in An-
spruch genommen wurde, war sie als so genannter tech-
nischer Verwaltungshelfer beauftragt und wurde von der
zuständigen Stelle überwacht. Diese Möglichkeiten der
Beauftragung der Bundesdruckerei ändern sich durch die
Veräußerung der Kapitalanteile des Bundes an der Bun-
desdruckerei nicht.

Zum Thema Datenschutz möchte ich im Übrigen fest-
stellen, dass die gesetzlichen Regelungen zur Sicherung
der datenschutzrechtlichen Belange natürlich auch für
eine veräußerte Bundesdruckerei fortgelten.

Die vom Bund angestrebte Privatisierung der Bundes-
druckerei dient in einem sich rasant wandelnden Markt
der nachhaltigen Sicherung des Unternehmens und der
Arbeitsplätze. Die Einbindung privater Investoren wird
selbstverständlich auch in Regelungen zu Arbeitnehmer-
rechten eingebettet sein. Grundsätzlich ist festzustellen:
Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der Bun-
desdruckerei greift nicht in die bestehenden arbeitsver-
traglichen Verhältnisse zwischen dem Unternehmen und
seinen Arbeitnehmern ein. Es besteht ein gesetzliches
Schutzsystem zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeit-
nehmer eines Unternehmens. Insbesondere gelten die Be-
stimmungen eines Tarifvertrages so lange weiter, bis sie
durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Eine sol-
che Ersetzung ist ohne Zustimmung der Arbeitnehmer
und ihrer Vertreter nicht möglich.

Ich bitte, dies bei all den Aufregungen, die es bisher ge-
geben hat, zu bedenken. Ich bin ja mittlerweile an die re-
gelmäßigen Demonstrationen der Belegschaft der Bun-
desdruckerei vor dem Bundesfinanzministerium ge-
wöhnt. Ich bitte, gewissermaßen aus diesem Haus heraus
nicht für weitere Unruhe zu sorgen, sondern mit Gelas-
senheit die Angebote zu prüfen, die die privatisierte Bun-
desdruckerei im weiteren Prozess den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern machen wird, sowie die Ausrichtung
auf eine strategische Partnerschaft zu Sicherung des Un-
ternehmens, der Arbeitsplätze und der Marktposition im
Auge zu behalten.

Abschließend möchte ich noch etwas Ungewöhnliches
sagen: Ich bitte um Entschuldigung, aber meine Nichte
steht vor der Tür. Ich hole sie jetzt in den Plenarsaal und
bin dann gleich wieder hier.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410813400
Ich glaube, das
versteht jeder. Wir sind gespannt auf die Nichte.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias.


Siegfried Helias (CDU):
Rede ID: ID1410813500
Ich würde der Nichte
auch gerne guten Tag sagen.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Mitarbeitern des Finanzministeriums müss-
ten an sich die Ohren geklungen haben. Den ganzen Mai
über hielten die Beschäftigten der Bundesdruckerei eine
Mahnwache vor ihren Toren ab, und zwar nicht mit Pauke,
aber mit Trompete. Offensichtlich wurde aber der richtige
Ton nicht getroffen oder der Betriebsrat der Bundes-
druckerei traf mit seinen Forderungen auf taube Ohren.
Dabei forderte er nicht mehr und nicht weniger als die
Umsetzung des von meinem Kollegen Kolbe bereits ge-
nannten Beschlusses der Regierung Kohl, bei einer Kapi-
talprivatisierung der Bundesdruckerei nicht mehr als 49,9
Prozent zu privatisieren und davon nicht mehr als 25 Pro-
zent in eine Hand zu geben.

Im Gegensatz zu manchen anderen Rednern – zum
Beispiel dem Kollegen Rexrodt – sehe ich aus hoheitli-
cher Sicht sehr wohl Aufgaben, die datenschutzrechtliche
Belange berühren. Man kann, Herr Dr. Rexrodt, Hotelda-
ten nicht mit Nato-Flugplänen vergleichen. Beispiels-
weise hat auch der Druck aller Steuerzeichen und Asylbe-
scheinigungen eine hohe sicherheitspolitische Relevanz,
die der Bund nicht völlig außer Acht lassen darf.

Es gibt aber auch handfeste finanzielle Gründe dafür,
sich an den ehemaligen Kabinettsbeschluss zu halten. Die
Bundesdruckerei ist finanziell gesund, hat alle Schulden
abgebaut und alle Investitionen der letzten Jahre aus ei-
genen Mitteln finanzieren können. Was macht die Bun-
desregierung? – Sie schlachtet das Huhn, das goldene Eier
legt. Wenn sie dies schon tut, sollte sie wenigstens die Be-
schäftigten der Bundesdruckerei zu Tisch bitten; zumal
dann, wenn der Bundesfinanzminister sie dazu indirekt
ermutigt.

Ich zitiere zu diesem Punkt Hans Eichel. Er sagte im
„Spiegel“ vom 10. Januar 2000:

Ein Unternehmen wird zufriedene Kunden nur be-
kommen und gute Leistungen bringen, wenn es zu-
friedene Mitarbeiter hat.

Recht hat er. Weiter sagte er:
Deswegen finde ich alle Arten von Mitarbeiterbetei-
ligungen wichtig. Ich bin strikt dagegen, dass es nur
Aktienoptionspläne für die Chefs gibt und für lei-
tende Mitarbeiter, ich bin für eine breite Beteiligung
der Belegschaft.

Dichtung und Wahrheit! Die Wahrheit ist: Das Finanzmi-
nisterium und damit die gesamte Regierung drücken sich
um die Verantwortung. So erklärte Finanzstaatssekretär
Overhaus im Frühjahr dieses Jahres, die Beschäftigten
sollten mit den Konzernen, Banken und Fondsgesell-
schaften mitbieten. Herr Overhaus nennt dies „Transpa-
renz und Gleichbehandlung der Bieter“. Das ist soweit in
Ordnung; nur ist es absolut lächerlich, wenn die Mitar-
beiter überhaupt keine Informationen erhalten.

Es ist nicht zu vertreten, wenn das verkaufsbegleitende
Bankhaus Metzler, von dem die Rede war, ein Memoran-
dum erstellt, es aber den Mitarbeitern nicht zur Verfügung
stellt. Hier, Frau Dr. Hendricks, muss ich Ihnen ganz




Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks

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(D)



(A)



(B)


nachdrücklich widersprechen. Bis zum heutigen Tage –
Stand 16.30 Uhr – hat der Betriebsrat, haben die Mitar-
beiter keinerlei Informationen, haben sie kein verkaufs-
begleitendes Memorandum erhalten. Ich bitte Sie, richtig
zu stellen, ob ich mich irre oder ob Sie – gegebenenfalls
in Unkenntnis der Tatsache – etwas Falsches gesagt ha-
ben.

Das erste Bieterverfahren der Interessenten wurde am
5. Juni diesen Jahres abgeschlossen. Ich halte noch einmal
ausdrücklich fest: Die Mitarbeiter haben keinerlei Infor-
mationen bekommen und sind auch sonst in keiner Weise
an den Verkaufsverhandlungen beteiligt worden. So sieht
der Umgang der Bundesregierung mit den Beschäftigten
der Bundesdruckerei tatsächlich aus.

Betriebsrat und die über 2 000 Beschäftigten der Bun-
desdruckerei sind keine Totalblockierer. Sie wollen aber
an der Zukunft ihres Unternehmens angemessen beteiligt
werden. Sie fordern unter anderem: kein Verkauf im
Eilverfahren, keine Zerschlagung der Bundesdruckerei,
Sicherung der Standorte und Sicherung der erworbenen
Rechte. Dies sind Punkte, die man, wie ich meine, unter-
streichen kann. Die Mitarbeiter der Bundesdruckerei sind
engagiert, sie sind couragiert und sie sind verantwor-
tungsbewusst. Sie haben verdient, Frau Dr. Hendricks,
dass man ihnen zuhört. Alles andere ist im wahrsten Sinne
des Wortes unerhört.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410813600
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Siegrun Klemmer.


Siegrun Klemmer (SPD):
Rede ID: ID1410813700
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesdruckerei
ist mit der Umwandlung in eine GmbH im Juni 1994, die
aus der traditionsreichen Druckerei ein innovatives
Hightech-Unternehmen gemacht hat, das erfolgreich am
Markt operiert, gut gefahren. So hat sich der Umsatz von
1993 bis 1999 fast verdoppelt. Durch Investitionen und
sozialverträgliche Rationalisierungsmaßnahmen konnte
eine stabile Grundlage künftiger Gewinnentwicklung ge-
schaffen werden. Nicht zuletzt diese Investitionen – auch
die des Bundes – zusammen mit dem Engagement von
Geschäftsleitung und Belegschaft haben diese erfolgrei-
che Entwicklung ermöglicht und der Bundesdruckerei zu
einer hervorragenden Startposition im internationalen
Wettbewerb verholfen.

Im Moment stehen Überlegungen für eine zweite
Phase der Privatisierung im Raum. Für die SPD-Fraktion
ist selbstverständlich von Anfang an klar gewesen, dass
der Erhalt der Arbeitsplätze an allen Standorten und die
Zukunftssicherung des Unternehmens oberste Priorität
besitzen. Mit uns ist eine Zerschlagung des Unternehmens
ebenso wenig zu machen wie die Aufgabe einzelner Pro-
duktionsstandorte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch der besonders ertragreiche Unternehmensbereich
Orga darf bei einer Privatisierung auf keinen Fall als So-
litär aus dem Unternehmen herausgelöst werden.

Klar ist aber auch: Eine Beibehaltung des Status quo
würde nicht zuletzt der Bundesdruckerei selbst und vor al-
len Dingen den Beschäftigten schaden. Die sich verschär-
fenden europäischen und weltweiten Wettbewerbsbe-
dingungen fordern eine strategische Investitionspolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, dass der
Bund die Kosten dafür in Zukunft nicht wird übernehmen
können.


(Beifall des Abg. Hans Georg Wagner [SPD] und des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wem es um die Sicherung der Arbeitsplätze geht, muss
der Bundesdruckerei einen starken Partner wünschen, mit
dem der eingeschlagene Weg fortgeführt werden kann.
Dass die Frankfurter Investmentbank Metzler ein so
großes Interesse in- und ausländischer Investoren ausge-
macht hat, stärkt die Verhandlungsposition des Bundes
und damit die der Bundesdruckerei außerordentlich.

Die Bedingungen für eine Veräußerung müssen erstens
der Erhalt und Ausbau der Arbeitsplätze, zweitens die Si-
cherung aller Standorte, drittens die Beibehaltung der
Zahl der Auszubildenden, viertens der Verzicht auf be-
triebsbedingte Kündigungen,


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wer kauft den Laden noch?)


fünftens die Wahrung der Arbeitnehmerrechte und sech-
stens die Übernahme der Versorgungsverpflichtungen
sein.


(Beifall bei der SPD)

Wir wünschen uns – das ist an die Adresse des Finanz-

ministeriums gerichtet –, dass die Beschäftigten in Zu-
kunft besser informiert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Und Montanmitbestimmung!)


Neuinvestitionen sollten vor allen Dingen dem Haupt-
standort Berlin zugute kommen. In Berlin zählt die Bun-
desdruckerei mit ihren 2 085 Beschäftigten – das ist schon
erwähnt worden – zu den zehn größten Industriebetrieben
der Stadt. Mit knapp über 2 000 Beschäftigten einer der
zehn größten Industriebetriebe der Stadt! Mit derzeit
70 Auszubildenden ist die Bundesdruckerei der größte
Ausbilder der Druckindustrie in der Region Berlin-Bran-
denburg. Diese Region hat seit dem Fall der Mauer na-
hezu die Hälfte der Arbeitsplätze im produzierenden Ge-
werbe verloren. Die Bundesdruckerei ist mit ihren quali-
fizierten und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
zu einem unverzichtbaren Teil einer positiven Entwick-
lung in dieser Region geworden.

Diese Region hat seit der Wiedervereinigung – das darf
immer noch erwähnt werden – mit erheblichen strukturel-
len Veränderungen zu kämpfen. 40 Prozent der Beleg-
schaft der Bundesdruckerei wohnen in Kreuzberg. Das ist
in Berlin der Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit.
Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind Frauen. Auch
deswegen muss der Standort Kreuzberg als Zentrale und
Hauptproduktionsstätte erhalten bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Siegfried Helias
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich habe in der heutigen Debatte mitunter den Eindruck
gewonnen, wir würden uns heute für den Verkauf oder gar
für einen bestimmten Investor entscheiden. Das ist natür-
lich nicht der Fall. Erst dann, wenn dem Deutschen Bun-
destag ein akzeptables Angebot vorliegt – ein solches An-
gebot liegt natürlich zuerst dem Finanzministerium vor;
aber ich gehe davon aus, dass auch der Haushaltsaus-
schuss an der Entscheidung beteiligt sein wird –, wird
eine Entscheidung fallen und wird allen Beschäftigten der
Bundesdruckerei eine realistische Option auf eine gute
Zukunft eröffnet werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410813800
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Pau.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410813900
Frau Präsidentin! Ich möchte die
letzten Worte der Kollegin Klemmer gleich aufnehmen:
Natürlich geht es heute nicht um den Verkauf der Bun-
desdruckerei. Worum geht es heute? Es geht um einen
Vorgang, der alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesre-
publik angeht, und zwar nicht nur deshalb, weil es um den
Datenschutz geht. Der Kollege Helias hat die daten-
schutzrelevanten Produkte dieses Unternehmens aufge-
zählt, die weit über Personalausweis, Fahrerlaubnis und
über das, was man sonst noch alles im Leben erwirbt, hin-
ausgehen. Es geht um eine Belegschaft, die bereit ist,
Verantwortung zu übernehmen, die politisch agiert und
zumindest bisher von der Bundesregierung links liegen
gelassen wurde.


(Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin: Stimmt nicht!)


Es geht aus meiner Sicht um eine Regierung, die sich –
unpolitisch – als schlechter Kassenwart darstellt und die
obendrein – das müssen Sie sich sagen lassen; Sie sind
vorhin eine Antwort schuldig geblieben – mit Tricks und
mit Halbwahrheiten operiert. Das werde ich Ihnen gleich
beweisen.

Beispiel Datenschutz und hoheitliche Aufgaben: Die
Bundesregierung antwortet auch heute, hoheitliche Auf-
gaben könnten wie bisher, von der zuständigen Stelle
überwacht, erfüllt werden. Unter datenschutzrechtlichen
Aspekten sei die Bundesdruckerei zwar sensibel, aber die
datenschutzrechtlichen Vorschriften würden auch für eine
veräußerte Bundesdruckerei uneingeschränkt weitergel-
ten. Außerdem würden alle Aspekte des Datenschutzes
und der allgemeinen Sicherheitsbelange des Bundes mit
dem federführenden Bundesministerium des Innern abge-
stimmt.

Alle drei Antworten sind zumindest nachfragewürdig,
gerade weil sie für alle Bürgerinnen und Bürger hochsen-
sibel sind; denn dass die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben
entsprechenden Kontrollen unterliegen muss, ist ein
Allgemeinplatz. Es bleibt vielmehr zu bedenken – und
zwar vor dem Verkauf –, dass der Bund mit seinem Total-
ausscheiden auch seinen unternehmerischen Einfluss
preisgibt, was nicht ausschließt, dass sich über kurz oder

lang auch die Unternehmensphilosophie ändern kann. In-
teressierte Verlagshäuser haben sich dazu geäußert.

Die „beruhigenden“ Antworten zum Datenschutz be-
unruhigen mich aus mehreren Gründen: Zum einen wis-
sen wir aus dem Büro des Datenschutzbeauftragten, dass
unsere Bedenken von ihm durchaus geteilt werden. Zwei-
tens hat sich nach unseren Informationen der Daten-
schutzbeauftragte vor Wochen an die Bundesregierung
gewandt, um entsprechende Informationen zur geplanten
Privatisierung zu erhalten und um Ihnen, so wie ich ihn
kenne, Ratschläge zu geben, damit wir an dieser Stelle
nicht nachbessern müssen.

Das heißt – drittens –, die Bundesregierung ist offen-
sichtlich keineswegs von selbst an den Datenschutzbe-
auftragten herangetreten. Antworten hat er allerdings
auch von Ihnen bisher nicht bekommen. Diese Praxis der
Unterlassung widerspricht aber den heute gegebenen Ant-
worten und allen Versicherungen gegenüber der Beleg-
schaft. Von einer datenrechtlichen Entwarnung kann
keine Rede sein.

Wenn diese Befürchtungen stimmen, dann bleibt auch
Ihre Antwort, die Erwerber der Geschäftsanteile würden
selbstverständlich die gesetzlichen Verpflichtungen und
Bestimmungen des Datenschutzgesetzes zu beachten ha-
ben, nachfragewürdig. Was heißt denn nun „beachten“?
Gefragt war sowohl in den mehrfach gestellten Anfragen
als natürlich auch heute nach den Vorgaben, die etwaigen
Interessenten zu diesem Vorgang gemacht wurden. Sie
bleiben die Antwort schuldig.

Ein weiteres Problem – heute schon mehrfach ange-
sprochen – ist die soziale Sicherung. Im Kern haben Sie
geantwortet: Tarifverträge gelten, solange sie gelten, und
neue bedürfen der Zustimmung der Arbeitnehmer. Ge-
fragt war allerdings – und zwar die Bundesregierung als
potenzieller Verkäufer und zugleich als weiterhin zustän-
diger Ansprechpartner –, was sie unternimmt – oder auch
nicht –, um zu verhindern, dass ein Verkauf der Bundes-
druckerei sozial zulasten der Beschäftigten geht. Der Ant-
wort ist zu entnehmen: nichts. Die logische Begründung
dafür wäre, dass Finanzminister Eichel ausschließlich an
einem hohen Verkaufspreis interessiert ist. Wir wissen
natürlich, dass soziale Belange auch ein Verkaufshinder-
nis sein können.

Ungeklärt bleiben bisher die Ausbildung und die Frage
nach den Pensionen. Spätestens nach der Privatisierung
der Post sind die Beschäftigten sehr wohl zu Recht miss-
trauisch, wie man damit umgeht. Ungeklärt bleibt außer-
dem die Arbeitsplatzfrage in Berlin-Kreuzberg. In diesem
Bezirk liegt die Arbeitslosenrate bei 30 Prozent.

Letzter Punkt. Sie sollten sich klarmachen, dass sich
alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien –
CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen; die F.D.P.
ist dort seit längerem nicht mehr vertreten, deshalb konn-
ten Sie darüber nicht aufgeklärt werden, Herr Rexrodt –


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das haben wir gar nicht nötig!)


mit dem Senat und den Kreuzberger Bezirksverordneten
einig sind, dass die Bundesdruckerei erhalten werden




Siegrun Klemmer

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(C)



(D)



(A)



(B)


muss und dass sie weder voll privatisiert noch zerlegt wer-
den darf. Das heißt, die Bundesregierung betreibt nicht
nur eine Politik gegen die Belegschaft, sondern in diesem
Fall auch gegen das Land Berlin.


(Beifall bei der PDS – Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Lächerlich!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814000
Jetzt hat der
Kollege Oswald Metzger das Wort.


Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der PDS, es ist legitim, wenn
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bundesunterneh-
men um ihre Arbeitsplätze Angst haben, wenn ein Ei-
gentümerwechsel ansteht. Daran kommt man nicht vorbei
und das muss man akzeptieren. Deshalb muss sich die
Koalition mit dieser Frage ernsthaft auseinander setzen.
Ich werde mich morgen früh mit dem Betriebsratsvorsit-
zenden treffen. Der Haushaltsausschuss des Bundestags
war bereits vor Wochen im Betrieb und hat mit der Ge-
schäftsleitung ausführlich gesprochen. Ich kenne viele
Kolleginnen und Kollegen, die selber Kontakte zur Bun-
desdruckerei haben.

Sie können sich darauf verlassen: Niemand aus der Ko-
alition und auch niemand aus meiner Fraktion würde die
Hand heben, wenn es darum ginge, diesen Betrieb in
Kreuzberg zu schlachten. Dieser Eindruck wird in dieser
Debatte immer wieder – aus meiner Sicht zu Unrecht – er-
weckt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht um einen florierenden Betrieb, der in den letz-
ten Jahren als 100-prozentige Eigengesellschaft des Bun-
des in privater Rechtsform eine Leistung erbracht hat, die
Anerkennung verdient. Aus einem Verlustbringer wurde
die frühere Bundesbehörde – ich weiß sehr wohl: unter
Verlust von 30 Prozent der Belegschaft – in ein betriebs-
wirtschaftlich gut geführtes und leistungsfähiges Unter-
nehmen umgewandelt. Aber das Unternehmen ist zu-
kunftsfähig und marktorientiert. Es gibt 70 Interessentin-
nen und Interessenten. Gerade das zeigt doch, dass es sich
um ein florierendes Unternehmen handelt, das angesichts
der Veränderungen auf den Märkten – ich erinnere an die
Sicherheitsdruckbereiche – strategische Partner braucht.

Wer glaubt, dieses Kreuzberger Unternehmen würde in
einem hart umkämpften, sich konsolidierenden europä-
ischen Markt in der jetzigen Rechtsform, mit den jetzigen
Eigentumsverhältnissen weiter existieren können, der
täuscht sich. Wir brauchen strategische Partner. Ohne die
strategischen Partner wird dieser Betrieb unter Druck ge-
raten. Deshalb glaube ich, dass die Privatisierungs-
bemühungen nicht nur zu einem Erhalt der Belegschaft in
ihrem Kernumfeld, sondern auch dazu führen, dass durch
strategische Allianzen mit anderen Partnern am Standort
Kreuzberg weitere Beschäftigungsfelder erschlossen wer-
den. Es gibt im Interessenbekundungsverfahren durchaus
Hinweise darauf, das dem so ist.

Kollege Helias hat vorhin eine Behauptung aufgestellt,
die ich so nicht stehen lassen will. Er hat gesagt, bis heute
Nachmittag hätten die Arbeitnehmervertreter der Bundes-
druckerei noch keine Kenntnis von diesem Memorandum
erhalten. Das ist richtig. Aber auch noch keine der Firmen,
die sich für eine Übernahme interessieren, hat dieses Me-
morandum; denn es befindet sich erst in der abschließen-
den Abstimmung des Bankhauses Metzler und des
Finanzministeriums. Zeitgleich mit den anderen Interes-
senten werden auch die Belegschaften dieses Memoran-
dum erhalten und damit die Chance haben, auch Mit-
arbeiterbeteiligungsmodelle in dieses Verfahren einzu-
bringen.

Ich kann Ihnen versichern, dass im Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestages eine sehr ernsthafte und se-
riöse Debatte über die Privatisierung stattfinden wird,
wenn sich die Angebote konkretisieren, sodass wir eine
Entscheidung im Lichte der sozialen Belange der Beleg-
schaft und im Lichte der datenschutzrechtlichen Erfor-
dernisse treffen können, die man in diesen Bereichen
nicht hintanstellen kann. Der Bundesinnenminister, in
dessen Geschäftsbereich der Datenschutzbeauftragte
gehört, ist zu Recht mit einem Vertrag mit der Bundes-
druckerei befasst, mit dem man die Einhaltung dieser
Sicherheitsbelange gewährleisten will. Daher wird im
Haushaltsausschuss auch im Lichte der datenschutzrecht-
lichen Regelungen und natürlich auch der Arbeitnehmer-
schutzbelange eine Entscheidung getroffen werden, die
dem Standort Kreuzberg der Bundesdruckerei und damit
der strategischen Zukunftssicherung dieses Unterneh-
mens alle Chancen einräumt.

Ich werde persönlich und für meine Fraktion – ich
denke, ich kann das auch für die Koalition tun – jede Ga-
rantie abgeben, dass der Verkauf nicht zur Ausschlach-
tung dieses florierenden Unternehmens, sondern eher zu
seiner langfristigen Sicherung beitragen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jochen Henke.


Hans Jochen Henke (CDU):
Rede ID: ID1410814300
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen, dass
ich dieser Aktuellen Stunde bisher mit großem Interesse
gefolgt bin; denn ich denke, dass dieses Thema es – weit
über den Teilaspekt hinaus, der von der PDS zur Grund-
lage dieser Aktuellen Stunde gemacht wurde – verdient,
in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Dieser Meinung
bin ich noch aus einem anderen Grund.

Diese Aktuelle Stunde reiht sich heute für mich in eine
Reihe von Tagesordnungspunkten ein, die – das sage ich
den Regierungskoalitionären – bei mir Zweifel daran auf-
kommen lassen, ob Sie mit Ihrem ständigen Reden von
der Notwendigkeit der Ablösung der alten Regierung
Recht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Petra Pau
10184


(C)



(D)



(A)



(B)


Unter dem ersten Tagesordnungspunkt heute Morgen
gab es eine Regierungserklärung des Verkehrsministers
zu Urban 21. Da war man unisono voll des Lobes für die
vorherigen Minister. Dann haben wir uns mit der inneren
Situation der Europäischen Union und dem Verhältnis zu
Österreich beschäftigt. Ich denke, auch da wird sich Ihre
Position noch normalisieren und zunehmend an unserer
Haltung orientieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der dritte Tagesordnungspunkt betraf den Kosovo. Sie
können froh sein, dass die Vorgängerregierung und deren
Minister die Kärrnerarbeit geleistet haben, auf der Sie auf-
bauen können. Sonst hätten wir die Beschlüsse heute gar
nicht fassen können.


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Insofern ist diese Debatte eigentlich nur die konsequente
Fortsetzung der vorangegangenen Debatten.

Mit diesem Tagesordnungspunkt landen wir an einer
Stelle, an der Sie nun wirklich überhaupt keinen Grund
haben, sich irgendwelche eigenen Verdienste an den Hut
zu heften. All das, was negativ passiert – die Beiträge be-
legen es teilweise eindrucksvoll –, zeigt aber, dass Sie das
Geschäft leider Gottes eigentlich noch nicht richtig ver-
stehen.


(Zurufe von der SPD)

Hätten wir mit dem, was Sie in Ihrer Regierungser-

klärung festgeschrieben haben, Kollege Wagner, Kollege
Metzger, nämlich den Staat zu modernisieren und auf
seine Kernaufgaben zurückzuführen, im Rahmen unseres
Privatisierungskonzeptes in der vorausgegangenen Legis-
laturperiode nicht schon nachhaltig Ernst gemacht, dann
könnten Sie heute – meine Vorredner, Herr Kolbe und
Herr Helias, haben das ausgeführt – gar keine Früchte ern-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Was soll die Rote-SockenKampagne? – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Besser als ohne Socken!)


I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410814400



(Zuruf von der SPD: Abheben? Sie heben ab!)

Erstens. Ihre Privatisierungspolitik ist ausschließlich

von fiskalischen Überlegungen geprägt,

(Beifall bei der CDU/CSU)


sonst würden Sie nicht die Privatisierung von seit 1998
zur Privatisierung anstehenden Unternehmen ständig von
Jahr zu Jahr verschieben. Warum tun Sie das? Sie können
die Einnahmen im Haushalt nicht gebrauchen, weil sie zu
sehr Begehrlichkeiten wecken.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Zweitens. Die Ausführungen von verschiedenen Betei-
ligten auf Ihrer Seite zum konkreten Thema sind im
Grunde alles Luftnummern. Tatsache ist, dass in der vo-

rausgegangenen Legislaturperiode gegen kein Privatisie-
rungsprojekt – da gab es außerordentlich schwierige und
konfliktträchtige – in irgendeiner Form Demonstrationen
stattfinden mussten oder stattgefunden haben. Interessant
ist, dass bei Demonstrationen gegen die Art und Weise Ih-
res Vorgehens nun Repräsentanten der Koalitionsfrakti-
onen mit auf der Straße stehen, sich in den Demonstrati-
onszug einreihen und im Grunde gegen die eigene Regie-
rung demonstrieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ströbele!)

So weit haben wir es nicht gebracht. Das ist das Ergebnis
Ihrer bisherigen Politik.

Wir meinen, dass es tatsächlich notwendig ist, Privati-
sierungsgrundsätze und Maßstäbe zur Modernisierung für
die einzelnen Unternehmungen und Bereiche zu definie-
ren. Diese Aufgabe ist in der Tat bei der Bundesdrucke-
rei – die Argumente sind ausgetauscht – lösbar. Die Inte-
ressen der Belegschaft können berücksichtigt werden,
eine strategische Neuausrichtung ist möglich und gleich-
zeitig kann die Privatisierung nach vertretbaren und ak-
zeptablen Maßstäben durchgeführt werden. Nur, dafür ist
es nötig, ehrlich und offen zu sein und Farbe zu bekennen.
Der Finanzminister und die Mehrheitsfraktionen tun dies
im Haushaltsausschuss jedoch nicht.

Gestern war der Finanzminister dort. Was hat er zur
Privatisierungspolitik im Jahre 2000 gesagt? Irgendwann
werde es Einnahmen durch eine Teiltranche der Postpri-
vatisierung und durch die zweite Tranche von Telekom-
aktien sowie durch die Vergabe von Mobilfunklizenzen
geben – ansonsten kein Wort. Das wird der sozialen, ord-
nungspolitischen und haushaltspolitischen Dimension
dieses Themas, die allein in diesem Jahr voraussichtlich
eine Größenordnung von 120 bis 150 Milliarden DM an
Einnahmen erreicht, nicht gerecht. Sie aber treten bei die-
sem Thema auf der Stelle, weil Sie nicht wissen, was Sie
wollen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814500
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.


Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1410814600
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesdruckerei
wurde im vorigen Jahr 120 Jahre alt. 120 Jahre Reichs-
und Bundesdruckerei bedeuten 120 Jahre Spitzenleistun-
gen im grafischen Gewerbe. Dieses leistungsfähige Un-
ternehmen hat in der Tat über mehr als 100 Jahre insbe-
sondere für einen Kunden gearbeitet: Das war der Staat;
deswegen auch die Frage, um welche hoheitlichen Auf-
gaben es geht.

Wir müssen aber sehen, dass sich die Bedingungen
geändert haben. Heute werden alle Leistungen, die die
Bundesdruckerei anbietet, europaweit ausgeschrieben.
Wenn der Staat, wenn die Bundesregierung oder wenn
eine andere deutsche Behörde Leistungen der Bundes-
druckerei in Anspruch nehmen will, kann der Auftrag erst




Hans Jochen Henke

10185


(C)



(D)



(A)



(B)


erteilt werden, wenn sich die Bundesdruckerei im Wett-
bewerb mit anderen durchgesetzt hat. Das haben wir alle
so gewollt.


(Zuruf von der SPD: Es ist auch richtig so!)

Dass die Zukunft dieses Unternehmens nur gesichert

werden kann, wenn das Unternehmen im Wettbewerb mit-
halten kann, das ist der springende Punkt. Und da sage ich
Ihnen: Ich bin ganz sicher, die Zukunft der Bundes-
druckerei in Kreuzberg, die Zukunft der Bundesdruckerei
in Deutschland insgesamt ist nur zu sichern, wenn die
Leistungsfähigkeit europaweit gegeben ist. Dazu braucht
dieses Unternehmen Investitionen. Es braucht Beweg-
lichkeit und es braucht Partner.

Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit auch einmal ei-
nen Dank aussprechen, –


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist immer gut!)


– ja, Herr Rexrodt, das haben Sie nicht getan! –

(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Doch!)


einen Dank an die Mitarbeiter, an die Geschäftsführung,
auch an den Betriebsrat; denn ein wesentlicher Teil der
Qualität dieses Unternehmens besteht in der Qualität der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


All diese Leistungen wären nicht zu erbringen, wenn es
nicht diese Tüchtigkeit, dieses Qualitätsbewusstsein und
die Verbundenheit mit diesem Unternehmen gäbe.

Deswegen kann ich das, was mehrere Kollegen und
übrigens auch die Frau Staatssekretärin gesagt haben, nur
unterstreichen. Natürlich wird es eine Lösung für die Zu-
kunft immer in engem Kontakt mit der Geschäftsführung
und auch mit den Beschäftigten, mit der Personalvertre-
tung dieses Unternehmens geben. All dies ändert aber
nichts an der Tatsache, dass das Unternehmen eine Zu-
kunft nicht nur als Anbieter von Leistungen für die Bun-
desrepublik Deutschland, für die Bundesregierung
braucht.

Das fängt schon damit an, dass der Banknotendruck,
über Jahrzehnte ein Kerngeschäft des Unternehmens,
künftig beim Euro natürlich nicht in Form eines Mono-
pols betrieben werden kann, sondern die Bundesdrucke-
rei wird mit anderen Unternehmen in Europa konkurrie-
ren müssen. Aber die Bundesdruckerei wird durch Ver-
breiterung des Geschäftsfeldes auch in der Lage sein, ihre
Leistungen für eine Vielzahl von Kunden anzubieten. Sie
hat dabei im Wesentlichen schon sehr gute Fortschritte ge-
macht.

Ich meine, wir alle tun gut daran, bei aller berechtigten
Kritik und bei allem kritischem Hinschauen die Zukunft
der Bundesdruckerei nicht durch Polemik zu beschädi-
gen. Wir müssen diesem Unternehmen durch Stärkung
der eigenen Leistungsfähigkeit – das wird sicherlich nur
durch starke Partner möglich sein – den Weg ebnen. Das
Ziel ist klar. Es geht nicht darum, Kasse zu machen, son-

dern darum, die Zukunft dieses Unternehmens mit seiner
120 Jahre alten Tradition in einer neuen Form zu sichern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.


Dr. Hansjürgen Doss (CDU):
Rede ID: ID1410814800
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mein mehr
grundsätzliches Konzept lege ich auf die Seite und drücke
mein Erstaunen aus über den Wandel in der SPD und bei
den Grünen. Argumente, die hier vorgetragen worden
sind, könnten zum Teil von uns stammen. Man sieht: Das
Sein verändert das Bewusstsein.


(Hans Georg Wagner [SPD]: Bei Ihnen aber auch!)


Sie werden am Ende so viel von uns gelernt haben,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssten Sie alle zustimmen! Das ist ja toll!)


dass wir uns schwer tun werden, Sie abzulösen. Es wird
uns trotzdem gelingen.

Die beste Voraussetzung dafür, dass die Bundes-
druckerei Zukunft hat, ist, sie wettbewerbsfähig zu ma-
chen. Alle, die der Meinung sind, man könnte ihnen mit
dem Mäntelchen des Staatsbetriebs die Zukunft erhalten,
täuschen die Leute in den Betrieben und gaukeln ihnen et-
was vor, was so keine Zukunft haben wird. Jeder von uns
weiß, dass gerade im grafischen Gewerbe zurzeit ein mör-
derischer Wettbewerb herrscht; viele Betriebe bleiben auf
der Strecke. Das heißt, wenn wir dieses für Berlin und
Kreuzberg sehr wichtige Unternehmen zukunftsfähig ma-
chen wollen, brauchen wir private Investoren,


(Beifall bei der CDU/CSU)

Leute mit Kapital, aber auch mit Know-how, damit sie in
der Lage sind, im europäischen Wettbewerb zu bestehen,
denn das wird die Konsequenz für diesen Betrieb sein.

Wir werden, wenn der Euro gedruckt wird, einen euro-
päischen Wettbewerb in dieser Angelegenheit haben. Wir
müssen den Leuten in dem Unternehmen klarmachen,
dass sie nur dann bestehen werden, wenn dieser Betrieb
den Wettbewerb bestehen kann. Es gibt dazu keine Alter-
native.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass wir mit einem de-
fizitären Staatsbetrieb die Arbeitsplätze erhalten können.
Alle, die eine solche Illusion erzeugen, wenden sich ge-
gen die Interessen der Arbeitnehmer, von denen hier
mehrfach gesprochen wurde. Das will ich mit Nachdruck
sagen.

Wenn sich in dieser Frage eine große Koalition mit den
verehrten Kollegen von der F.D.P., von der CDU/CSU
und auch von den Grünen und der SPD bilden sollte, kann
das nur im Interesse dieser Leute sein. Deswegen werden




Jörg-Otto Spiller
10186


(C)



(D)



(A)



(B)


wir mit großer Aufmerksamkeit die Schritte mitvollzie-
hen.

Es kann natürlich nicht sein, dass man einem Anbieter
Konditionen gewährt, die mit denen eines Staatsbetriebes
vergleichbar wären. Das ist Heuchelei, das ist unehrlich.
Das geschieht möglicherweise nur, um vor Ort Stimmung
zu machen. Das hat auch etwas mit dem Antrag der PDS
zu tun; da wollen wir einmal ganz ehrlich sein. Das ist ja
der Hintergrund dieser Überlegungen. Wahrheiten vor-
zutragen ist immer etwas unbequemer.

Ich habe manchen Zwischenton von der SPD gehört,
der mich optimistisch stimmt. Frau Hendricks, ich hoffe,
dass Ihre Nichte gut angekommen ist und das mitverfolgt.
Wir bleiben dabei: Unser Ziel muss sein, dass in der Bun-
desdruckerei in Berlin – gerade in unserer gebeutelten
neuen Hauptstadt, durch den Veränderungsprozess gebeu-
telt in wirtschaftlichen Fragen –, dass in Kreuzberg diese
2 000 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ein großes Kompli-
ment an die alte Bundesregierung: Sie hat die Vorausset-
zungen geschaffen, damit sich dieser Betrieb modernisie-
ren konnte. Er wurde von einer Behörde zu einer florie-
renden GmbH gemacht.

Aber ich sage noch einmal: Derjenige, der meint, er
könne bei diesem rasanten technologischen und techni-
schen Wandel auf dem Status quo verharren und ihn fest-
schreiben, gefährdet in Wahrheit die Arbeitsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist nicht unser Ziel. Wir werden uns dafür einsetzen,
dass die Modernisierung fortschreitet, dass „fresh money“
in den Betrieb kommt, aber auch die Kenntnisse, wie man
am Markt bestehen kann.

In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410814900
Der letzte Red-
ner in dieser Debatte ist der Kollege Urbaniak.


Hans-Eberhard Urbaniak (SPD):
Rede ID: ID1410815000
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Henke, die Ko-
alition und die Bundesregierung wissen genau, was sie
wollen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist etwas ganz Neues!)


Sie wollen nämlich die von Ihnen aufgebauten Schulden
abbauen. Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung,
um überhaupt noch Investitionen vornehmen zu können.
Sie haben durch Ihren Schuldenberg verursacht, dass wir
in einer solch schwierigen Lage sind. Daran können Sie
nicht vorbeireden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist alles in den Bergbau geflossen!)


Der zweite Punkt. Minister Eichel hat gestern sehr klar
zum Ausdruck gebracht, wie er in der gegenwärtigen fis-
kalischen Situation seinen Haushalt durchbringt und im

Rahmen der Eckwerte bleibt. Wir wissen, dass er den
Haushalt 1999 sogar mit einer geringeren Nettokreditauf-
nahme als vorgesehen hat abwickeln können. Das ist eine
große Leistung von Eichel. Er wird doch nicht auf dem of-
fenen Markt darlegen, welche Konditionen bzw. Erlöse er
sich bei den weiteren Bereichen, die zur Privatisierung an-
stehen, vorstellt. Das kann er nicht tun. Meiner Meinung
nach hat er gestern eine klare Position bezogen. Er hat den
Haushaltsausschuss sehr umfassend unterrichtet. Das
muss man zu seiner Ehre sagen.


(Beifall bei der SPD)

Wir Mitglieder des Haushaltsausschusses haben ja die

Bundesdruckerei besucht. Ich kann nur feststellen: Wir
haben einen äußerst guten Eindruck bekommen. Wir wa-
ren zu einem Zeitpunkt da, als der Betrieb voll lief und die
letzte 10-DM-Note gedruckt wurde.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Die war für den Bergbau!)


– Herr Rexrodt, Sie waren nicht dabei und haben den
Druck der letzten 10-DM-Note nicht erlebt. Was ist Ihnen
da entgangen!


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Da ist mir wirklich etwas entgangen!)


Wir haben also wirklich einen hervorragenden Eindruck
gewinnen können. Geschäftsführung und Betriebsrat ha-
ben uns überzeugend dargelegt, wo sie hinwollen, näm-
lich dahin, unter den Bedingungen der Konkurrenz zu be-
stehen und in Europa und im Weltmaßstab zu überleben.
Das ist wichtig.

Ich gehe davon aus, dass die Arbeitnehmer der Bun-
desdruckerei gebeten werden, ihre Vorstellungen über
eine Mitarbeiterbeteiligung im Rahmen eines konkreten
Angebots in die Verkaufsverhandlungen mit einzubrin-
gen. Da ist die Bundesregierung gefordert. Sie sollte
dies – das wird sie auch tun – ernst nehmen, damit wir zu
einem Konsens kommen.

Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der
Bundesdruckerei greift – das wissen Sie doch alle –
überhaupt nicht in bestehende Arbeitsverhältnisse und ta-
rifvertragliche Regelungen ein. Das geht nicht und ist
auch nicht gestattet. Es ist gut, dass das Tarifrecht eine
solche Wirkung hat. Gesetzliche Schutzrechte zur Wah-
rung der Sozialbelange der Arbeitnehmer werden von der
Privatisierung nicht tangiert.

Ich gehe davon aus, dass wir alle daran interessiert
sind, dass im Hinblick auf die Zukunftssicherung eine
Konzeption und ein Ergebnis erreicht werden, damit die
Bundesdruckerei mit ihren weiteren Betrieben eine gute
Perspektive hat. Wir wünschen uns Standortsicherung
und Konkurrenzfähigkeit.

Ich möchte hier betonen, dass folgende Überlegungen
für uns eine Rolle spielen: Es darf nicht nur zu einem fis-
kalischen Ergebnis kommen. Um eine strategische Alli-
anz muss gestritten und gekämpft werden. Man muss im
zuständigen Ministerium und im Haushaltsausschuss hin-
sichtlich der Beteiligung der Belegschaft jede denkbare
Fantasie spielen lassen, damit wir vorankommen. Auf




Hansjürgen Doss

10187


(C)



(D)



(A)



(B)


jeden Fall müssen wir eine Standortsicherung für die Ber-
liner und für die anderen Betriebe, die die Bundesdrucke-
rei unterhält, erreichen.

Hierzu sage ich der Bundesregierung ganz deutlich:
Sie hat eine große Fürsorgepflicht. Diese Fürsorgepflicht,
die wir in allen gewerblichen Betrieben einfordern, gilt
auch hier für die Anteilseigner. Das ist die Bundesregie-
rung. Ich glaube, die Bundesregierung wird die heutige
Debatte sehr, sehr ernst nehmen. Wir werden einen guten,
konkurrenzfähigen Betrieb schaffen, der die Arbeitsplätze
der Belegschaft sichern kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410815100
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Neuregelung der angemessenen Eigenkapital-
ausstattung von Kreditinstituten und der Ei-
genmittelvorschriften für Kreditinstitute und
Wertpapierfirmen in der EU
– Drucksache 14/3523 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Wider-
spruch höre ich nicht. Dann ist auch so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Kollege Klaus Lennartz.


Klaus Lennartz (SPD):
Rede ID: ID1410815200
Verehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Auf-
schwung in Deutschland gewinnt rasant an Fahrt. Die Ar-
beitslosigkeit sinkt und die Experten der Forschungsinsti-
tute rechnen für dieses und nächstes Jahr mit einem rea-
len Wirtschaftswachstum von 2,8 bis 3,3 Prozent.

Tragende Säulen dieser positiven Entwicklung sind vor
allem Mittelstand, Handel, Handwerk und Gewerbe.
Sie sichern und sie schaffen Arbeitsplätze. Über 70 Pro-
zent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind bei
kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt.
In mittelständischen Betrieben und im Handwerk werden
Jahr für Jahr Hundertausende neue Arbeitsplätze ge-
schaffen. Kleine und mittlere Unternehmen machen über
90 Prozent aller Betriebe in Deutschland aus. 80 Prozent
aller Lehrlinge werden in kleinen und mittelständischen
Unternehmen ausgebildet. Kleine und mittelständische
Betriebe sind in vielen Bereichen flexibler und engagier-
ter als die so genannten Global Player.

Diese Unternehmen sind das Rückgrat der deutschen
Wirtschaft. Sie verdienen unsere vollste Unterstützung,
nicht in Sonntagsreden, sondern durch die konkrete Tat.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, was hat der Mittelstand mit
den Baseler Beschlüssen, mit der heutigen Debatte zu
tun? Ginge es nach den Vorstellungen der USA im Base-
ler Ausschuss für Bankenaufsicht, so müsste sich die
deutsche mittelständische Wirtschaft warm anziehen;
denn mit den von den Amerikanern favorisierten Neube-
stimmungen für die Kapitalausstattung von Kreditin-
stituten würde die Kreditvergabe an kleinere und mittlere
Unternehmen erheblich gefährdet und verteuert werden.

Die amerikanischen Pläne, die Risiken bei Firmenkre-
diten anhand von Bonitätsbeurteilungen nicht mehr, wie
bisher bei uns praktiziert, von den Banken selbst, sondern
von externen Ratingagenturen bewerten zu lassen, sind
durchsichtig, da es auf dem Markt fast nur amerikanische
Ratingagenturen gibt. Dies sorgt in der informierten mit-
telständischen Wirtschaft Deutschlands zu Recht für Auf-
ruhr – das kann man nachvollziehen –; denn die geplante
Zulassung von ausschließlich externen Ratings bringt den
mittelständischen Unternehmen und Handwerksbetrieben
gegenüber den extern gerateten amerikanischen Un-
ternehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile.

Dies ist aus deutscher Sicht nicht hinnehmbar, weil
kleine und mittlere Firmen in Deutschland über kein ex-
ternes Rating verfügen, weil es sich der kleine Hand-
werksbetrieb nicht leisten kann, 40 000 DM bis teilweise
120 000 DM für seinen „Richter“ aufzubringen, der im
schlimmsten Fall über die Existenz des Unternehmens
entscheidet. Die meisten kleinen Unternehmen werden fi-
nanziell gar nicht in der Lage sein, sich raten zu lassen.
Dabei sind es gerade kleine und mittlere Firmen, die im
Allgemeinen keinen direkten Zugang zum Kapitalmarkt
haben und demzufolge auf Fremdfinanzierung im Wege
der Kreditaufnahme bei Banken, Sparkassen und auch bei
den Volksbanken angewiesen sind.

Anders in den Vereinigten Staaten: Während kleine
und mittlere Unternehmen in den USA auf eine durch-
schnittliche Eigenkapitalquote von fast 50 Prozent kom-
men, bleiben in Deutschland fast zwei Drittel unserer
Mittelständler unter einer Eigenkapitalquote von 10 Pro-
zent. Das hat seinen Grund darin, dass der Eigenkapital-
hinterlegung in Deutschland traditionell eine geringere
Bedeutung zukommt. Für Investitionen aus eigener Kraft
bleibt da kaum Spielraum. Umso wichtiger ist es, den Un-
ternehmen Zinskonditionen zu bieten, die sie finanziell
nicht austrocknen. Das kann nur ein internes Rating si-
cherstellen.


(Zustimmung bei der SPD)

Schließlich führt eine von Fremdfirmen durchgeführte
und für die meisten nicht bezahlbare Bonitätsbeurteilung
bei schlecht oder nicht gerateten Unternehmen zu einer
höheren Eigenkapitalhinterlegung bei den Banken und
damit zu höheren Kreditzinsen für die Betriebe. Dies trifft
insbesondere nicht geratete Unternehmen. Welcher Un-
ternehmer kann sich im harten Wettbewerb schon einen
Kreditzinssatz von 10 bis 20 Prozent erlauben? Diese Pro-
bleme kommen auf den mittelständischen Unternehmer
zu, weil er die billigen Kreditzinsen, die der geratete
Großunternehmer bekommt, im umgekehrten Sinne mehr
oder weniger mit subventionieren muss.




Hans-Eberhard Urbaniak
10188


(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Damen und Herren, am amerikanischen Wesen
wird die deutsche Wirtschaft nicht genesen. Denn die
USA verfolgen mit der Forderung nach externen
Ratings – ich wiederhole und formuliere das sehr be-
wusst – ureigene wirtschaftliche Interessen. Man muss
wissen: Unsere mittelständische Wirtschaftsstruktur ist
den Amerikanern so fremd wie ein rheinischer Sauerbra-
ten. In Deutschland sind nur rund 170 Firmen, meist Glo-
bal Players, geratet. Aber in den USA sind es bereits über
8 600 Unternehmen. 95 Prozent der gesamten Kreditmit-
tel werden in den USA von nur 40 000 Unternehmen in
Anspruch genommen. Die verbleibenden 5 Prozent teilen
sich die restlichen 7Millionen Unternehmen. Hieran kann
man eine total andere Unternehmensstruktur erkennen,
als es bei uns der Fall ist.

In den USA sind 85 Prozent aller in 1999 vergebenen
Firmenkredite außerhalb des Bankensektors vergeben
worden. Das heißt, hier sind Versicherungsgesellschaften
und Pensionsfonds an die Stelle von Banken und Spar-
kassen getreten. In Deutschland hingegen werden 90 Pro-
zent der gewerblichen Kredite von Banken vergeben.

Der laute Ruf der amerikanischen Banken nach aus-
schließlich externen Ratings ist vor diesem Hintergrund
zwar verständlich, aber er ist im Interesse der deutschen,
insbesondere der mittelständischen Wirtschaft für uns in
keiner Weise akzeptabel. Bei diesen Zahlen wird der
Bruch, der unterschiedliche Welten aufzeigt, förmlich
spürbar. Ich glaube, hier sind unsere Interessen gefragt,
und die müssen auch durchgesetzt werden.

Von deutscher Seite muss bei den internationalen Ver-
handlungen konsequent und kompromisslos sichergestellt
werden, dass ein internes Rating mit einer für alle Kredit-
institute durchführbaren Standardmethode durchgesetzt
wird. Denn gerade die Sparkassen und Genossenschafts-
banken können nicht auf die ausgefeilten Bewertungs-
oder Ratingverfahren der großen Banken zurückgreifen.


(Beifall bei der SPD)

Es muss sichergestellt werden, dass externe und interne

Ratings zeitgleich und nicht vor dem Jahre 2003 einge-
führt werden, weil es wiederum ein absoluter Wettbe-
werbsvorteil für die amerikanischen Banken, aber auch
für die amerikanischen Ratingunternehmen wäre, wenn
das vor 2003 geschähe; denn wir sind nicht in der Lage,
die Ratings in dieser Breite für unsere Firmen in dieser
Größenordnung zu erstellen.

Meine Damen und Herren, damit keine Missverständ-
nisse auftreten, möchte ich sagen: Die Idee, durch Ra-
tingverfahren eine verlässliche Risikoanalyse für die
Kreditvergabe zu gewährleisten, ist – darüber sind wir
uns alle einig – grundsätzlich zu begrüßen, weil dadurch
künftig besser als bisher gewährleistet werden kann, dass
alle solvenzgefährdenden Risiken einer Bank durch aus-
reichendes Eigenkapital abgesichert werden.

Wer aber, wenn nicht die heimischen Banken – hier
denke ich insbesondere an die Sparkassen sowie an die
Volks- und Landesbanken mit ihren genauen Kenntnissen
der regionalen Märkte – kann die Risiken angemessener
und vor allem kostenneutraler beurteilen? Ein internes
Rating ermöglicht den Banken, je nach Ausrichtung der

Geschäftstätigkeit, individuelle Bonitätsbeurteilungen in
einer flexiblen Art und Weise. Dies ist einer der wichtigs-
ten Punkte. Deshalb ist ein gleichberechtigtes internes
Bankenrating unerlässlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte noch
einen zweiten Knackpunkt der Baseler Verhandlungen an-
sprechen: Die Baseler Pläne sehen vor, dass gewerbliche
Realkredite grundsätzlich mit einem Gewichtungssatz
von 100 Prozent anzurechnen sind. Dies widerspricht der
in der EU verankerten und in Deutschland praktizierten
Regelung. Aufgrund geringer Ausfallrisiken werden bei
uns gewerbliche Realkredite mit einem Gewichtungssatz
von nur 50 Prozent erhoben.

Dem Baseler Ausschuss ist empirisch nachgewiesen
worden, dass das Ausfallrisiko durch insolvente Firmen in
Deutschland ausgesprochen gering ist. Trotzdem zeigen
sich die Banken der Vereinigten Staaten, die ihre Lobby
hier sehr bewusst einsetzen, nicht bereit, eine andere Ge-
wichtung als 100 Prozent vorzunehmen. Dabei macht eine
solch niedrige Gewichtung mehr als Sinn. Denn geringe
Ausfallquoten bedeuten eine hohe Wahrscheinlichkeit bei
der Kreditrückzahlung und rechtfertigen somit auch eine
niedrige Eigenkapitalunterlegung.

Meine Damen und Herren, wenn einige Staaten unter
der Federführung der USA in dieser Frage weiterhin auf
Durchzug stellen, dann darf es keine deutsche Zustim-
mung zu den Baseler Beschlüssen geben. Ich sage das
sehr offen. Ich nehme auch das Wort Veto in den Mund.
Hier sind ureigene deutsche Interessen berührt; denn es
geht um einen Wirtschaftszweig, der das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft darstellt.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Hier sind keine Kompromisse, sondern kompromissloses
Eintreten für diese Interessen auch durch unsere Bundes-
regierung gefragt.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben keinen Zweifel daran, dass alle wissen, dass
unser Handeln dort auch mit unserem Reden übereinstim-
men muss.


(Zuruf von der CDU/CSU: In diesem Fall könnte das mal so sein!)


Meine Damen und Herren, die grundpfandrechtliche
Sicherung von Bankendarlehen spielt insbesondere bei
der Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Un-
ternehmen eine große Rolle; denn sie bietet besonders
niedrige Zinsen und schafft so Anreize auch für Investi-
tionen. Politische Großzügigkeit auf dem Baseler Ver-
handlungsparkett können und dürfen wir uns auf Kosten
unserer mittelständischen Wirtschaft nicht leisten. Was in
Basel zu Lasten unseres Mittelstandes ausgekocht und in
Brüssel serviert werden soll, muss von deutscher Seite
gehörig versalzen werden. Wenn unsere mittelständischen
Unternehmen nämlich blank sind, dann können sie auch
die Investitionen, die notwendig sind, um Arbeitsplätze zu
schaffen und zu sichern, nicht tätigen.




Klaus Lennartz

10189


(C)



(D)



(A)



(B)


Daher bin ich diesem Parlament und allen seinen Frak-
tionen äußerst dankbar, dass diese Entschließung von uns
allen gemeinsam getragen wird. Es kommt selten genug
vor, dass alle Fraktionen dieses Hauses eine Entschlie-
ßung gemeinsam unterstützen. Damit wird auch nach
außen hin erkennbar, dass dieses Parlament geschlossen
hinter der Position des mittelständischen Gewerbes steht.

Ich bedanke mich bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410815300
Jetzt hat der Kollege
Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1410815400
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit Drucksache 14/3523 le-
gen wir eine gemeinsame Entschließung vor. Auch wenn
viele Begriffe in dieser Entschließung sehr technisch klin-
gen und leider nicht allgemein gehalten werden konnten,
weil man hier wirklich konkret werden muss, geht es doch
um Fragen, die für unsere mittelständische Wirtschaft und
deren Betriebe von existenzieller Bedeutung sind.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Absolut richtig!)


Mit der gemeinsamen Entschließung zum so genann-
ten Konsultationspapier des Baseler Ausschusses für
Bankenaufsicht bei der Bank für Internationalen Zah-
lungsausgleich haben die Fraktionen im Finanzausschuss
eine gemeinsame Plattform für die Verhandlungsführer
bei den Baseler Verhandlungen gefunden. Mit dieser Ent-
schließung, die übrigens als ureigene parlamentarische
Initiative entwickelt wurde, soll sichergestellt werden,
dass die Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen na-
tional und international tätigen Banken sowie zwischen
Kreditinstituten verschiedener Institutsgruppen in Deutsch-
land gewahrt wird und eine einseitige Benachteiligung
und Belastung für die mittelständische Wirtschaft ver-
mieden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hätten wir diese Initiative nicht parlamentarisch er-

griffen, meine Damen und Herren, wären wir wahr-
scheinlich vom Bundesfinanzminister nicht rechtzeitig
darüber informiert worden,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nichts hätte er gemacht! – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist nicht richtig!)


was hier von Basel droht und was uns nachher über EU-
Richtlinien in der Umsetzung der Baseler Beschlüsse ge-
droht hätte. Dann wären die neuen Richtlinien mit dem
Hinweis verkündet worden, sie seien gemeinsam verein-
bart worden und müssten nun vom Bundestag parlamen-
tarisch entgegengenommen werden.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und der Mittelstand wäre gestorben! – Dr. Sigrid SkarpelisSperk [SPD]: Der Unterausschuss ERP ist schon im November informiert worden!)


Das Konsultationspapier des Baseler Ausschusses
schlägt eine Überarbeitung der Baseler Eigenkapitalüber-
einkunft in Richtung einer differenzierteren Erfassung
und Eigenkapitalunterlegung von Kreditrisiken sowie ei-
ner stärkeren Berücksichtigung von Instrumenten zur Re-
duzierung des Kreditrisikos vor, was grundsätzlich zu be-
grüßen ist. Damit wird das bisherige Regelwerk für eine
adäquate Eigenkapitalunterlegung den Erfordernissen der
Gegenwart und Zukunft angepasst.

Das Verhandlungsergebnis von Basel will die EU-
Kommission in Richtlinien zur Neuregelung der Eigen-
mittelvorschriften für die Kreditinstitute und Wertpapier-
firmen in der EU einfließen lassen. Dies war auch der
Grund, warum wir uns vor Verhandlungsabschluss mit
dem Konsultationspapier im Finanzausschuss auseinan-
der gesetzt haben. Wir wollten mit dieser Entschließung
vor der endgültigen Entscheidung Einfluss auf die ab-
schließenden Regelungen nehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unsere Beratungen im Finanzausschuss wurden von

Fachgesprächen mit dem Zentralen Kreditausschuss, der
Bundesbank und dem Bundesaufsichtsamt für das Kredit-
wesen begleitet. Kernpunkt der neuen Regelungen wird
die Art und Weise der Bestimmung der Risikogewich-
tung über die Bonitätseinschätzung derKreditnehmer
sein. Hierfür schlägt der Baseler Ausschuss einen Stan-
dardsatz auf der Grundlage externer Ratings vor.

Eine ausschließliche – Herr Lennartz, Sie haben darauf
schon hingewiesen – Anerkennung externer Ratings
würde aufgrund der geringen Anzahl der in Deutschland
„gerateten“ Unternehmen – das sind circa 170 – und einer
kostenaufwendigen Erstellung der Ratings für kleinere
und mittlere Unternehmen zu erheblichen Benachteili-
gungen gegenüber Wettbewerbern aus dem angel-
sächsischen Bereich führen, da in den USA bereits über
8 000 Unternehmen extern „geratet“ sind.

Deshalb fordern wir in der Entschließung, dass im
Rahmen der internationalen Verhandlungen durch die
Bundesregierung und die Verhandlungsführer sicherge-
stellt wird, dass das interne Bankenrating ein gleichwerti-
ges, aufgrund einfacher Standardmethoden gewichtetes
Verfahren wird, das im Grunde dem externen Rating
gleichkommt. Wichtig ist auch, dass dies zum gleichen
Zeitpunkt eingeführt wird, damit nicht über die Zeitachse
bei der unterschiedlichen Einführung Wettbewerbsver-
zerrungen entstehen.

Bei den Verhandlungen in Basel und bei der EU-Kom-
mission muss die risikoreduzierende Wirkung von Si-
cherheiten ebenso berücksichtigt werden wie die Auswir-
kungen von Größenklassenstreuungen – Granularitäten –
im Rahmen des einfachen bankinternen Ratingansatzes.
Das ist die Berücksichtigung des so genannten Portfolio-
effektes. Es kommt auch darauf an, dass die Gewichtung
des Gesamtengagements gesehen und berücksichtigt
wird, wie viele einzelne Kreditnehmer es in der jeweili-
gen Größenordnung gibt. Auch das gehört zur Betrach-
tung unserer spezifischen Bankenstruktur, weil unsere
mittelständisch geprägte Bankenstruktur überwiegend
kleinere und mittlere Kreditnehmer betreut.




Leo Dautzenberg
10190


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Lennartz hat bereits ausgeführt, dass der gewerb-
liche Hypothekarkredit aufgrund seiner niedrigen Aus-
fallraten mit höchstens 50 Prozent gewichtet wird. Es ist
nicht nachvollziehbar, warum das noch umgesetzt werden
muss; denn über die EU-Solvabilitätsrichtlinie besteht be-
reits diese Möglichkeit und sie wird in Deutschland ange-
wandt. Auf den Aspekt der einheitlichen Einführung habe
ich bereits hingewiesen. Das sind die Positionen, die wir
erwarten. Das Rating an sich, ob extern über Agenturen,
bankintern oder in neuen Kombinationen, bekommt auch
hierzulande zukünftig einen wesentlich größeren Stellen-
wert, als das bisher der Fall war.

Mit diesen Forderungen, meine Damen und Herren,
wollen wir erreichen, dass es bei der Einteilung der Risi-
koklassifizierungen aufgrund externer Bonitätsbeurtei-
lungsinstitute international nicht zu erheblichen Wettbe-
werbsverzerrungen kommt und unsere mittelständisch ge-
prägte Kreditwirtschaft und die Unternehmen das mit
vollziehen können.

Auf einen Punkt, der das bankinterne Rating betrifft,
muss noch hingewiesen werden: Es darf, auch wenn es
einfach strukturiert ist, nicht zu einem so genannten Dis-
count-Rating werden. Es muss aufgrund des Anspruchs,
gleichgewichtig und gleichwertig zu sein, auch gewissen
Qualitätsanforderungen entsprechen. Sonst ist damit auch
der mittelständischen Wirtschaft im Endeffekt nicht ge-
holfen.

Mit dieser Entschließung haben wir der Bundesregie-
rung und den Vertretern der deutschen Position bei den
Baseler Gesprächen eine Verhandlungsplattform geschaf-
fen, die unmissverständlich klarmacht, was wir wollen.
Dass dies einvernehmlich zwischen den Fraktionen mög-
lich war und ist, verstärkt diese Position. Mit der Formu-
lierung „sicherzustellen“ in der Entschließung wollen wir
klar stellen, dass die Verhandlungsführer auch das Mittel
des Vetos einsetzen sollen und müssen, wenn die Forde-
rungen aus der Entschließung nicht realisiert werden.

Dies sind, meine Damen und Herren, die Erwartungen,
die wir mit dieser gemeinsamen Entschließung verbinden.
Es klingt – ich habe es eingangs schon betont – vieles sehr
technisch, aber die Kernforderungen, die wir erhoben ha-
ben, sind für unsere mittelständische Wirtschaft und für
unsere Unternehmenskultur existenziell.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410815500
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410815600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir ent-
scheiden heute über eine Entschließung im Rahmen der
Verhandlungen zur Neuauflage der Baseler Eigenkapital-
richtlinien für Kreditinstitute, um die deutsche Position in

den laufenden Verhandlungen zu stärken. Diese wird auch
gestärkt; davon können wir ausgehen.

Für die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne:
Es wird in der Öffentlichkeit immer wieder gesagt, wir
träfen hier keine gemeinsamen Entscheidungen. Heute je-
doch wollen wir – beispielhaft – für die Vertretung
Deutschlands in internationalen Gremien gemeinsam ei-
nen Beschluss fassen, der die deutsche Linie in diesem
Zusammenhang sehr klar und sehr eindeutig festlegt und
damit die deutsche Verhandlungsposition stärkt.

Infolge der jüngsten Krisen auf den Finanzmärkten –
Stichwort: Asienkrise; sie ist für viele noch in Erinne-
rung – haben Banken im Übermaß Kredite vergeben, ohne
dass eine ausreichende Risikoprüfung und Risikovor-
sorge erfolgte. In Japan zum Beispiel gingen Banken
Pleite. Wir erinnern uns alle daran; denn das versetzte da-
mals alle Finanzmärkte rund um den Globus in Aufruhr.
Darüber hinaus spielten und spielen Finanzderivate als Fi-
nanzierungs-, Absicherungs- und auch Anlageinstru-
mente eine immer größere Rolle, vor allem auf den inter-
nationalen Finanzmärkten.

Damit nun die Finanzinstitute künftig die von ihnen
übernommenen Risiken angemessen kontrollieren und
berücksichtigen, ist es notwendig, die Baseler Eigenkapi-
talrichtlinien den aktuellen Erfordernissen der internatio-
nalen Finanzmarktentwicklung anzupassen: zum Schutz
der Banken, aber auch zum Schutz der Anteilseigner, der
Wirtschaft als Ganzes und letztendlich zum Schutz der
Steuerzahler und der Steuerzahlerinnen; denn im Zweifel
zahlt der Steuerzahler, wenn eine Rettung nicht anders
möglich ist. Das haben wir beispielsweise in Japan gese-
hen.


(Rainer Funke [F.D.P.]: In Amerika auch!)

Nun muss man diese Argumente aber ins Verhältnis

zum Ganzen setzen. Es kann nicht sein, dass Banken der-
art hohe und damit auch entsprechend teure Eigenkapital-
hinterlegung betreiben müssen, dass die Kreditkosten ge-
rade für kleine und mittlere Unternehmen, also für die
Handwerker wie für die Internet-Dienstleister, so in die
Höhe schnellen, dass dies ihre Geschäftsfähigkeit stran-
guliert. Die deutschen Banken – das muss man an dieser
Stelle lobend erwähnen – gelten ohnehin weltweit bereits
als sehr risikobewusst und als sehr vorsichtig.

Es ist oft kritisiert worden, dass deutsche Kreditinsti-
tute bei der Kreditvergabe an junge Start-ups, an innova-
tive Existenzgründer, die für unseren technologischen wie
auch wirtschaftlichen Fortschritt sehr wichtig sind, sehr
zögerlich seien. Ein Rückzug der Kreditinstitute auf brei-
ter Front aus der Finanzierung unseres unternehmerischen
und aktiven Mittelstandes wollen und können wir uns
nicht leisten.

In den ersten Entwürfen des überarbeiteten Baseler Ak-
kords hat das so genannte externe Rating, also die Bo-
nitätsbewertung eines Unternehmens durch externe Agen-
turen, im Vordergrund gestanden – dies wohl deshalb,
weil Amerika es sehr gut verstanden hatte, seine lan-
destypischen Gegebenheiten zum allgemein gültigen
Maßstab zu erheben. In den USA ist es weit verbreitet,
dass sich große Kapitalgesellschaften vor allem von einer




Klaus Lennartz

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(C)



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der beiden großen amerikanischen Rating-Agenturen,
Standard & Poor’s oder Moody’s, bewerten lassen und da-
nach entsprechend gute Kreditkonditionen von den Ban-
ken erhalten. Künftig wären diese Kunden für die Banken
noch um ein Vielfaches lukrativer, da die Eigenkapital-
vorhaltung der Banken entsprechend geringer und damit
schlichtweg billiger wäre. Das heißt, die Banken würden
mit großen, leistungsstarken Unternehmen ein gutes Ge-
schäft machen, beim Mittelstand aber wären die Margen
so gering, dass sich ein Engagement kaum mehr lohnen
würde bzw. die Konditionen sich extrem verschlechtern
würden.

In Deutschland sind externe Ratings noch kaum ver-
breitet. Externe Ratingagenturen beginnen erst jetzt, sich
langsam in Europa zu etablieren, was auch nicht verkehrt
ist; denn Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft.
Wir haben zum Beispiel eine Agentur wie Euroratings, die
im Aufwachsen begriffen ist. Aber was hätte dies nun für
unseren Mittelstand bedeutet? – Externes Rating ist teuer
und bei fehlendem Rating hätten die Banken, vor allem
die Sparkassen, die Volks- und Raiffeisenbanken, mehr
Eigenkapital vorhalten müssen. Die Konsequenz wären
erheblich schlechtere Finanzierungskonditionen für die
Mittelständler und das wollten und konnten wir so nicht
hinnehmen.

Daher ist es gut, dass heute diese Entschließung vor-
liegt, die zusammen mit dem Bundesfinanzministerium,
mit dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, der
Deutschen Bundesbank und auch dem Zentralen Kre-
ditausschuss erarbeitet wurde. Wir haben damit praktisch
mit diesen genannten Organisationen eine gemeinsame
Resolution auf den Weg gebracht. Ich meine, darauf kön-
nen wir alle gemeinsam hier in diesem Haus stolz sein.

Das wichtigste Element ist, dass künftig auch ein auf
bankinterne Ratings gestützter Ansatz zur Ermittlung
der Eigenkapitalanforderungen für das Kreditrisiko mög-
lich sein muss, dass ein solcher Ansatz einfach sein muss
und gleichzeitig mit der Standardmethode eingeführt
wird. Dieser Ansatz muss für alle Banken unmittelbar ab
dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Regelung
nutzbar sein, damit es keine Wettbewerbsnachteile gibt,
weder für die deutschen Kreditinstitute noch für die klei-
nen und mittleren Unternehmen.

Diese Messlatten – sowohl eine risikoadäquate Eigen-
kapitalvorsorge als auch internationale Wettbewerbs-
gleichheit für Kreditinstitute und Mittelstand – legen wir
auch an andere Maßnahmen an, zum Beispiel an die
Gewichtung der Hypothekenkredite bei der Bemessung
der notwendigen Eigenkapitalvorsorge. Die Gewichtung
darf nach unserer Ansicht höchstens 50 Prozent betra-
gen – eben wegen der typischerweise niedrigen Ausfall-
raten. Auch dies muss im Baseler Eigenkapitalakkord
und natürlich auch in der daraus folgenden EU-
Eigenkapitalrichtlinie sowie bei der Umsetzung in natio-
nales Recht berücksichtigt werden.

Ich denke, wir haben hier als Team eine gute Arbeit ge-
leistet; nur gemeinsam können wir auch auf internationa-
ler Bühne durchsetzungsfähig sein. Die deutschen
Verhandlungsteilnehmer können nun gestärkt nach
Basel fahren. Die Chancen stehen gut, dass wir dort als

gleichberechtigter Partner ernst genommen werden und
unser Anliegen im Sinne des deutschen Mittelstandes er-
folgreich einbringen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410815700
Nun hat Kollege
Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1410815800
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren!


(Unruhe – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Nun hört doch mal zu!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410815900
Überwiegend hat ei-
gentlich Kollege Funke das Wort.


(Heiterkeit)



Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1410816000
Die Baseler Konsultationen
sind ein Ausdruck dafür, dass die Globalisierung, die Ver-
netzung der Finanzmärkte immer weiter voranschreitet.
Man kann dies zwar bedauern, aber leugnen kann man
diese Tatsache nicht. Man braucht ja kein Prophet zu sein,
um zu sagen, dass die Vernetzung der Finanzmärkte in
rasantem Tempo weiter voranschreiten wird. Das wird
keine Beschlusslage – welcher Parteien in der Welt auch
immer – aufhalten können.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Außer den modernen Regierungen! Die haben in Berlin die Globalisierung an die Kette legen wollen!)


Das sind die Tatsachen. Deswegen ist es gut, dass im Rah-
men internationaler Vereinbarungen Rahmenbedingun-
gen geschaffen werden, die zu gleichen oder zumindest
vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen an den Welt-
finanzmärkten führen. Man wird bei diesen Verhandlun-
gen Acht geben müssen, dass die unterschiedlichen Kul-
turen, die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme, Wirt-
schaftsverfassungen und nationalen Rahmenbedingungen
nicht alle unter das amerikanische System gepresst wer-
den. – Kollege Lennartz hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass es in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik
Deutschland sehr unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen
gibt, auch im Mittelstand, den es dort natürlich auch gibt,
aber nicht im gleichen Umfang wie bei uns.
Insoweit begrüße ich, dass es in den Verhandlungen nach
anfänglichen Schwierigkeiten gelungen ist, für die Be-
rechnung des notwendigen Eigenkapitals der Kreditinsti-
tute auch bankinterne Ratings gleichgewichtig zuzulas-
sen.

Der Ansatz der Baseler Verhandlungsrunde, das Kre-
ditrisiko international stärker als bisher durch Ratings zu
quantifizieren, ist durchaus begrüßenswert. Nur so kann
auch definiert werden, wie die Kreditrisiken durch ent-
sprechendes Eigenkapital der Banken unterlegt werden
müssen. Dies ist keine neue Erkenntnis, die durch die in-




Christine Scheel
10192


(C)



(D)



(A)



(B)


ternationalen Märkte auf uns zukommt, sondern sie findet
sich bereits seit Jahrzehnten in § 18 KWG und im Übri-
gen in den Grundsätzen zum KWG wieder.

Die Banken werden sich jedoch durch die Baseler
Grundsätze dazu gezwungen sehen, die Kreditrisiken auf-
grund von § 18 KWG noch stärker als bisher systemati-
scher und nach einheitlichen Grundsätzen zu durchleuch-
ten und dabei strengere Anforderungen – ich sage das
ausdrücklich im Interesse der Kreditnehmer – an die Kre-
ditnehmer zu stellen. Es darf nicht dazu kommen – darauf
hat Kollege Dautzenberg zu Recht hingewiesen –, dass es
sich bei den Banken um ein Billigrating handelt. Wenn
wir es auf beide Beine – externe und interne Ratings –
stellen wollen, muss auch beides gleichgewichtig sein. In
diesem Punkt sind wir einer Meinung. Nur so werden zu-
sammengefasste Kreditrisiken handelbar und nur so wird
es zu einem international gültigen Rating der Banken
kommen können.

Dabei ist vor allem von deutscher Seite darauf zu ach-
ten, dass die kleineren und mittleren Unternehmen
nicht unter die Räder geraten – darauf ist hingewiesen
worden –, weil sie aufgrund der verschärften Ratingbe-
dingungen entweder höhere Zinsen zu zahlen haben oder
vielleicht gar keine Kredite erhalten. Der Verwirklichung
des angesprochenen Zieles dient die Entschließung, die
Ihnen fraktionsübergreifend vorgelegt wird.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Entschließung
und ihrer Formulierung sagen. Diese Formulierung ist –
um es vorsichtig zu sagen – schwer lesbar. Dies wird da-
durch deutlich, dass ich als Jurist, der es gewohnt ist, mit
Texten umzugehen, einen Absatz dreimal lesen muss, um
einigermaßen zu verstehen, was sich dahinter verbirgt.
Man muss sich fragen, ob die Bevölkerung, die unsere
Botschaft verstehen soll – nicht nur die Herren in Basel
sollen sie verstehen –, diese Formulierung auch begreift.
Ich will hier einräumen, dass vielleicht durch die Über-
setzung aus dem Englischen das eine oder andere an ver-
quastem Bankchinesisch aufgenommen worden ist. Wir
sollten uns aber in Zukunft bemühen, diesem Hohen Haus
lesbare Texte vorzulegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so wie bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410816100
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410816200
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich will zunächst bei dem grund-
legenden Schlüsselbegriff anfangen: Rating heißt auf
Deutsch Bewertung. Alle meine Vorredner haben diesen
Begriff nur auf Englisch gebraucht.

Alle meine Vorredner haben betont, dass sie froh darü-
ber sind, dass es ein interfraktioneller Antrag war, an dem
wir im Finanzausschuss gemeinsam gearbeitet haben. Ich
kann der Entschließung zustimmen, da der Inhalt des An-
trages berechtigt ist. Auch die PDS unterstützt das Anlie-
gen, einheitliche Richtlinien für die Eigenkapitalausstat-

tung der Kreditinstitute, durch die ja deren Risiko abgesi-
chert werden soll, zu entwickeln.

Wir wissen alle, dass die steigenden Risiken auf den Fi-
nanzmärkten erhebliche Gefahren für die wirtschaftliche
und soziale Situation der einzelnen Länder in sich bergen.
Die Finanzmärkte sind internationale Märkte, die nicht
mehr nur national organisiert sind. Deshalb wird es immer
notwendiger, entsprechende Maßstäbe zur Risikoabsi-
cherung auf internationaler Ebene zu entwickeln.

Wir Fachabgeordnete haben nach dieser Einsicht ge-
handelt. Ich muss leider feststellen, dass die Vorstände der
beiden großen Fraktionen, der SPD und der CDU/CSU,
diese Einsicht noch nicht hatten; denn der Antrag ist nicht
wirklich interfraktionell. Die PDS wurde in diesen Antrag
nicht mit einbezogen, weil sich – nur so kann ich es mir
erklären – die SPD hat erpressen lassen, da die CDU an
diesem Punkt eine ideologische und nicht eine inhaltliche
Debatte führen wollte und gesagt hat: Sie bekommen un-
sere Unterschrift nur, wenn die PDS als Mitverfasser des
Antrags nicht erwähnt wird. Ich muss sagen: Gerade wenn
Ihnen Ihr Anliegen, das Vertreten der Interessen des Mit-
telstandes, so wichtig ist, bin ich zutiefst enttäuscht von
einer solchen kleinkarierten und peinlichen Politikauffas-
sung, die Sie mit diesem Antrag wieder praktiziert haben.


(Beifall bei der PDS)

Wir Fachabgeordnete haben hier größere Einsicht gezeigt.
Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

Gleichzeitig aber möchte ich betonen – ich habe nicht
so viel Zeit, um darauf näher einzugehen –, dass mir bei
Herrn Lennartz, aber auch bei Herrn Dautzenberg eine zu
starke nationalistische Betonung aufgefallen ist. Gerade
bei der Frage der Gleichwertigkeit externer und inter-
ner Ratings geht es um ein Problem, welches an vielen
Stellen vorhanden ist. Es kann nicht sein, dass eine große
Industriemacht wie die USA ihr praktiziertes System auf
alle anderen Staaten übertragen will. Es ist notwendig,
dass sich das Parlament hiermit beschäftigt. Es gibt darü-
ber hinaus noch viele andere Punkte – ich nenne hier das
Stichwort gerechter Welthandel –, bei denen sich zeigt,
dass wir die gleichberechtigten Interessen von Staaten der
Dritten Welt nicht entsprechend berücksichtigen. Deshalb
darf man die eigenen Interessen bei einer solchen Debatte
wie der heutigen nicht so nationalistisch betonen. Ich
glaube, dass man sonst sehr schnell in schwieriges Fahr-
wasser kommen kann.


(Beifall bei der PDS)

Abschließend möchte ich davor warnen, dass mit un-

serer Positionierung, die sich hoffentlich bald in den Ba-
seler Beschlüssen niederschlägt, überhöhte Erwartungen
geweckt werden. Das betrifft insbesondere die Rolle der
Ratings zur Verhinderung internationaler Finanzkrisen.
Es gibt in der Welt niemanden, der ein Mittel gefunden
hat, um Finanzkrisen zu verhindern. Es ist notwendig,
hier einen Mix verschiedener Instrumente anzustreben.
Das Rating-Verfahren ist nur ein Bestandteil dieses Mi-
xes, wenn auch ein guter und wichtiger. Ich glaube, es ist
notwendig, auch andere Maßnahmen zu diskutieren und
in die internationale Diskussion einzubringen. Ich möchte
an die Tobin-Steuer zur Eindämmung und Verhinderung




Rainer Funke

10193


(C)



(D)



(A)



(B)


von spekulativen Finanzgeschäften erinnern. Wir haben
einen entsprechenden Antrag eingebracht – hierzu habe
ich bisher schon einige positive Akzente gehört –, der eine
wichtige Ergänzung der heutigen Diskussion darstellt.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410816300
Jetzt hat die Kollegin
Sigrid Skarpelis-Sperk das Wort für die SPD-Fraktion.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1410816400
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren
heute unter einem recht trockenen Titel brisante Vor-
schläge zur Neuregelung der weltweiten Kreditwirtschaft,
die, wenn sie so bleiben, wie es die Bank für Internatio-
nalen Zahlungsausgleich, die BIZ, vorgeschlagen hat,
gravierende Auswirkungen auf die Kreditversorgung der
Entwicklungsländer und der aufstrebenden Märkte in
Asien, aber auch auf das deutsche Bankensystem und da-
mit auf die Finanzierungsmöglichkeiten derWirtschaft
haben werden. Vor allem kleine und mittlere Unterneh-
men und erst Recht Existenzgründer und „Frischlinge“
auf dem Markt werden, wenn die Vorschläge so bleiben,
mit deutlich höheren Kreditzinsen und mit geringeren
Kreditangeboten rechnen müssen. Dies gilt es durch kluge
Änderungen der bisher vorliegenden Vorschläge in einer
gemeinsamen Anstrengung der Bundesregierung und der
Europäischen Union zu verhindern und einen möglichen
Flurschaden möglichst klein zu halten.


(Beifall bei der SPD)

Übrigens, Herr Kollege Dautzenberg, die Bundesre-

gierung hat sehr früh informiert. Wir haben uns im Unter-
ausschuss ERP-Rahmenpläne im vergangenen November
beim dritten Potsdamer Gespräch ausgiebig über das
Thema Rating unterhalten.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nur, es war umsonst!)


– Lieber Herr Michelbach, Sie waren nicht dabei.
Schreien Sie also nicht so laut dazwischen! – Wir haben
uns damals sorgfältig informieren lassen und haben mit
der Bundesregierung darüber diskutiert, wie die Maßnah-
men auf der Arbeitsebene aussehen sollen. Dabei ist klar
geworden, dass die alten Regelungen der BIZ aus dem
Jahre 1988 nach den schweren Finanzkrisen des letzten
Jahrzehnts nicht mehr zu halten waren und dringend einer
Reform bedurften.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich darf die Kollegen aus dem Finanzausschuss, die ich
außerordentlich schätze, daran erinnern, dass sich auch
der Wirtschaftsausschuss mit Fragen der Finanzierung
kleiner und mittlerer Unternehmen befasst und dass wir
uns in dessen Unterausschuss ERP im Rahmen des drit-
ten Potsdamer Werkstattgesprächs – der Kollege
Schauerte, den ich hier sehe, kann das bestätigen – dieser
Fragen angenommen haben. Deswegen fühlen zumindest
wir uns ordentlich informiert. Die Mitteilung, dass die
Bundesregierung ihre Sache ordentlich gemacht hat,

sollte Sie nicht beunruhigen. Sie sollten vielmehr zustim-
mend Beifall klatschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was? Das ist aber eine sehr selektive Wahrnehmung!)


Ich komme wieder zum Thema zurück. Die alten Re-
gelungen der BIZ aus dem Jahre 1988 waren nach den
schweren Finanzkrisen des letzten Jahrzehnts nicht mehr
zu halten und bedürfen, wie gesagt, dringend einer Re-
form. Die spätestens alle zwei Jahre auftretenden Finanz-
krisen – von der Russlandkrise bis zum Asiencrash – ha-
ben einen ungeheuren Schaden angerichtet, haben gewal-
tige Kapitalmassen vernichtet und haben auch große
Volkswirtschaften ins Unglück gestürzt – allein in Asien
200 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze –, so-
dass ein Fortbestehen des alten, weitgehend deregulierten
und unkontrollierten Zustandes vor allem außerhalb
Europas und der USA nicht mehr zu halten war.

Neue Regeln waren und sind unabdingbar, vor allem
dann, wenn es um die Bekämpfung einer der wesentlichen
Ursachen geht, nämlich die hoch riskante, zum Teil völlig
unverantwortliche Ausleihpolitik der Banken und anderer
Kreditgesellschaften, und wenn verhindert werden soll,
dass die Notenbanken gemeinsam mit dem Internationa-
len Währungsfonds immer wieder einspringen, bürgen
und umschulden müssen, um eine Kette von Bankzusam-
menbrüchen zu vermeiden. Das war zum Teil sehr teuer
für den Steuerzahler, auch für den in Deutschland.

Wir müssen bei allem Lob für die internationalen Ra-
ting-Agenturen, die mit ihren neutralen Bewertungen
solche Krisen wenn nicht verhindern, so doch vermindern
sollten, auch feststellen, dass die vier großen US-Agentu-
ren und die eine englische die Finanzkrisen leider eher
verstärkt als abgeschwächt haben. Ist zum Beispiel ein
Land in den Strudel von Finanz- und Währungskrisen ge-
raten, dann hatten und haben auch die besten Unterneh-
men dieses Landes kaum eine Chance, Kredite zu be-
kommen oder – wenn sie überhaupt welche bekommen –
nur zu ungünstigsten Konditionen. Für viele Entwick-
lungsländer und Emerging Markets hat das eine katastro-
phale Krisenverschärfung und Krisenverlängerung be-
wirkt. Auch darüber muss man offen reden.

Es ist deswegen wenig verständlich, dass die BIZ –
ohne Revision ihrer Grundsätze – das so genannte externe
Rating durch die oben erwähnten Agenturen sogar noch
ausweiten will. Das bedeutet nicht, dass wir Sozialdemo-
kraten gegen eine externe Risikobewertung von Staaten,
Institutionen und Unternehmen sind. Eine rationale und
neutrale Bewertung von Risiken ist notwendig und
vernünftig. Außerdem geht auf den internationalen Kapi-
talmärkten für größere Unternehmen kein Weg an einer
externen Bewertung vorbei, wenn sie Kapital zu günsti-
geren Konditionen – egal, ob Eigen- oder Fremdkapital –
erhalten wollen.

Allerdings sind die privaten Rating-Agenturen nicht
gerade billig. Darauf hat der Kollege Lennartz bereits hin-
gewiesen. Für kleine und mittlere Unternehmen sind sie
zum Teil schlicht unerschwinglich. Bliebe dies die rele-




Dr. Barbara Höll
10194


(C)



(D)



(A)



(B)


vante Bewertungsmethode, die unseren Banken zur Ein-
schätzung von Risiken bei der Vergabe von Krediten an
kleine und mittlere Unternehmen vorgeschrieben wäre,
würden alle Kredite für ungeratete kleine Unternehmen
gemäß der höchsten Risikoklasse eingeschätzt und dem-
entsprechend massiv verteuert, auch wenn diese Unter-
nehmen erstklassig und solide wären.

In den USAbeträgt die Zinsspanne zwischen den gera-
teten und den nicht gerateten Unternehmen mittlerweile
mindestens 3 Prozent, wenn nicht deutlich mehr. Wir sind
deswegen entschieden gegen die Vorschriften des exter-
nen Ratings für alle Unternehmen.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das Risiko ist ja auch höher!)


– Nein, das Risiko ist bei kleinen und mittleren Unter-
nehmen nicht a priori höher. Das kann man immer erst im
Nachhinein feststellen. Deswegen hängt die Frage nach
der Höhe des Risikos nicht von der Größe des Unterneh-
mens ab, sondern vom Markt, von seiner Solidität und von
seinem Vorgehen. Gleichwohl: Eine neutrale und ratio-
nale Bewertung von Risiken ist – wenn sie für das Unter-
nehmen bezahlbar bleibt – vernünftig.

Wir Sozialdemokraten meinen, dass es deswegen –
darin sind wir uns alle einig – auch ein bankeninternes
Rating zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderung für
das Kreditrisiko geben muss, gleichwertig mit der Stan-
dardmethode. Allerdings muss dies den regionalen Risi-
kolagen angemessen sein und darf die Finanzierungs-
möglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen nicht
unnötig einengen.

Was meine ich damit? Ein Beispiel unter vielen – in der
Begründung des Antrags, dem auch Sie zustimmen, sind
einige angeführt – ist die pauschale Behandlung von Hy-
pothekenkrediten. Sie sind nach den bisherigen Überle-
gungen der BIZ als relativ riskant eingestuft


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Gewerblichen!)


– ja, der Gewerblichen –, was in keiner Weise der Realität
der deutschen Wirtschaft entspricht. Wenn die BIZ nicht
nachgibt, dann kommt es zu einer erheblichen Verteue-
rung der Kredite an kleine und mittlere Unternehmen, für
die die Beleihung ihrer gewerblichen Grundstücke ein
wesentliches Finanzierungsinstrument darstellt.

Ein zweites Beispiel ist die pauschale Anforderung an
Kreditinstitute, so genannte sonstige Risiken in der Ei-
genkapitalunterlegung zu berücksichtigen. Prinzipiell
ist die Einbeziehung „sonstiger Risiken“ sinnvoll; nur
gibt es dafür – das wissen wir – bisher kein tragfähiges
quantifizierbares Verfahren. Jede nicht am tatsächlichen
Risiko ausgelegte Unterlegungspflicht ist schädlich und
führt in der Regel zu einer Verteuerung für kleine und
mittlere Unternehmen. Deswegen fordern wir, dass auch
die Bankenaufsicht in Deutschland schnell auf die Erar-
beitung von qualitativen Anforderungen an das Manage-
ment der „sonstigen Risiken“ drängt.

Zusätzlich muss jeder wissen, dass alle bisher disku-
tierten Methoden, nämlich externes und internes Rating
nach pauschalierten Methoden, zwei grundsätzliche Pro-

bleme haben: Erstens. Man kann nur die Risiken der Ver-
gangenheit pauschal beurteilen. Zweitens. Man sortiert
Risiken relativ grobschlächtig nach Branchen, Regionen
und Unternehmensklassen. Damit wird man weder der
Beurteilung künftiger Risiken noch der Beurteilung des
künftigen Erfolges gerecht.

Letztlich zählt aber nicht die Vergangenheit, sondern
die Zukunft. Es zählt die Qualität der Ideen und der Men-
schen, die für das Unternehmen stehen. Ein erfolgreicher
Risikokapitalmanager sagte mir einmal: „Ich schaue mir
die Idee und den Mann an und nicht die Sicherheiten von
Mama und Papa.“


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410816500
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Frau Kollegin.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1410816600
Selbstverständ-
lich. – Von beidem ist in den Ratingmodellen bisher aber
nicht die Rede. Deswegen müssen wir sorgfältig darauf
achten, dass die Vorschläge es Existenzgründern und
Newcomern nicht noch schwerer als bisher machen. Eine
dynamische, erfolgreiche Wirtschaft lebt davon, dass
neue Ideen realisiert werden können und nicht mit noch
höheren Risikozuschlägen als bisher bestraft werden.

Wir Wirtschafts- und Finanzpolitiker sind aufgerufen,
über neue Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittel-
stand auch nach Basel II nachzudenken, wenn Lösungen
gefunden und diskutiert sind.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Denken Sie noch einmal über die Ökosteuer nach!)


Ich meine, wir kommen nicht darum herum.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Hiksch [PDS])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410816700
Zum Abschluss dieser
Debatte erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1410816800
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Aufmerksamkeit der CDU/CSU-Fraktion ist es letztend-
lich zu verdanken, dass schwerwiegende Fehlentwicklun-
gen für die deutsche Wirtschaft, für die Kreditwirtschaft
und für die Unternehmen thematisiert werden und dass
die heutige Entschließung des Deutschen Bundestages
herbeigeführt wird.

Es geht uns um die Chancengleichheit der deutschen
Wirtschaft bei Kreditvergaben, um die Finanzierungs-
möglichkeiten gerade für kleine und mittlere Unterneh-
men und letzten Endes um die generelle Wettbewerbs-
fähigkeit regional, national und international tätiger Kre-
ditinstitute.

Wir sind deshalb dankbar für den gemeinsamen Ent-
schließungsantrag; denn die in den Konsultationspapieren
des Baseler Ausschusses und in der EU-Kommission im
vergangenen Jahr vorgestellten Überlegungen zur Neure-
gelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von




Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

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(C)



(D)



(A)



(B)


Kreditinstituten gehen in ihrer Tragweite weit über die
Kreditwirtschaft hinaus. Von den neuen Eigenkapitalre-
geln werden nicht nur die Banken, sondern alle Unter-
nehmen, vor allem die mittelständischen Unternehmen,
betroffen sein. Wenn Sie heute das Hohelied des Mittel-
standes singen, dann muss ich bei dieser Gelegenheit sa-
gen: Ihre mittelstandsfeindliche Politik darf keine Fort-
setzung finden.


(Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD])

– Regen Sie sich nicht auf, Herr Lennartz. Wenn Sie von
der Regierungskoalition vom Mittelstand sprechen, läu-
ten bei den Mittelständlern inzwischen alle Alarm-
glocken. Das muss ich Ihnen deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die neueste Umfrage des Deutschen Bankenverban-

des habe ich dabei. 69 Prozent der Deutschen meinen, der
Mittelstand hat inzwischen schlechte Zukunftsperspekti-
ven. 78 Prozent der Deutschen finden aktuell, der Staat
benachteilige mittelständische Unternehmen.


(Klaus Lennartz [SPD]: Durch Ihre Brandreden jedes Mal!)


Das ist auf die Verschlechterung der Rahmenbedingungen
zurückzuführen. Herr Lennartz, regen Sie sich nicht auf.
Die Leute sind unzufrieden mit Ihrer Steuerpolitik für den
Mittelstand.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie sind unzufrieden mit der Reform der sozialen Siche-
rungssysteme. Sie sind unzufrieden mit den Fortschritten
bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Sie sind unzu-
frieden mit Ihrer Bildungs- und Existenzgründerpolitik.
Die mittelstandsfeindliche Politik darf jetzt nicht noch
eine Fortsetzung im Finanzmarktbereich finden. Das ist
der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es darf keine Benachteiligung der deutschen Wirtschaft
bei Kreditvergaben geben.

Nach den Vorschlägen des Baseler Ausschusses und
der EU-Kommission soll die heutige Pauschalregelung
demnächst der Vergangenheit angehören. In Zukunft sol-
len die Eigenkapitalanforderungen der Banken von der
Bonität des kreditnehmenden Unternehmens abhängen.
Für Unternehmen mit guter Bonität soll der notwendige
Eigenkapitalbetrag also sinken, während für Kredite an
Unternehmen mit schlechterer Bonität ein höherer Betrag
erforderlich sein wird. Ziel ist eine stärker an den tatsäch-
lichen Risikoverhältnissen orientierte Bankenaufsicht.
Wir meinen, – auch da gibt es unterschiedliche Auffas-
sungen –, dass letzten Endes auch das Risikomix des Kre-
ditportfolios eines Unternehmens, einer Bank eine Rolle
spielen muss.

Dabei, meine Damen und Herren, sollen für Unterneh-
men verschiedene Gewichtungssätze zum Tragen kom-
men. Das ist für uns natürlich eine große Herausforde-
rung, weil unsere mittelständischen Unternehmen die
geringste Eigenkapitalquote und die niedrigste Nettoum-
satzrentabilität in Europa haben. Deswegen ist das, was

mehr Wachstum und Beschäftigung angeht, für uns so we-
sentlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit der Einführung verschiedener Gewichtungssätze

ist für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit und auch für
die deutsche Unternehmensstruktur eine erhebliche Ge-
fahr verbunden. Der Teufel steckt natürlich auch hier im
Detail. Das Baseler Konsultationspapier sieht nämlich
vor, dass für die Bonitätsbeurteilung der Unternehmen ex-
terne Ratings, das heißt Ratings einer großen, meist ame-
rikanischen Rating-Agentur, erstellt werden sollen. Dies
würde nicht nur zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zu-
lasten der deutschen Kreditwirtschaft, sondern auch zu ei-
ner massiven Benachteiligung deutscher Unternehmen
und dabei insbesondere der mittelständischen Unterneh-
men führen.

Ich spreche hier von der Rating-Lücke zwischen den
USA und Deutschland: Während in den USA heute rund
8 000 Unternehmen geratet sind, verfügen in Deutschland
nur circa 170 Unternehmen über ein Rating. Gerade
kleine und mittlere Unternehmen, für welche die
Kreditfinanzierung eine große Rolle spielt, werden sich
ein Rating mit Kosten von mehreren 10 000 DM zumeist
nicht leisten können. Es geht ja auch nicht nur um eine
einmalige Ausgabe, sondern auch um jährliche Aktuali-
sierungen des Ratings. Das sind fortlaufende Kostenbe-
lastungen für unsere Betriebe, die ohnehin schon über die
Maßen belastet sind.

Für den Mittelstand ist es deshalb von zentraler Be-
deutung, dass neben dem externen Rating gleichzeitig –
da sind wir uns ja einig – und gleichwertig bankinterne
Verfahren der Klassifizierung eines Kreditnehmers aner-
kannt werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die mit-
telständischen Unternehmen, die das Rückgrat unserer
Wirtschaft bilden, in Zukunft bei der Konditionengestal-
tung der Kreditvergabe Vorteile aus ihrer jeweiligen Bo-
nität erzielen können und zugleich nicht zu große Diffe-
renzen entstehen.

Die deutsche Kreditwirtschaft hat frühzeitig einen Vor-
schlag zur bankaufsichtlichen Berücksichtigung bank-
interner Ratings entwickelt. Dieser Vorschlag sieht vor,
dass von den Aufsichtsbehörden lediglich ein Gewich-
tungssatz für bestimmte Ausfallklassen vorgegeben wird,
die einzelnen Kreditinstitute die Ausfallwahrscheinlich-
keit des einem bestimmten Unternehmen gewährten Kre-
dites aber mit eigenen Verfahren der Bonitätsbeurteilung
und in eigener Verantwortung ermitteln bzw. einschätzen.
Eine Bank muss immer noch eine unternehmerische Auf-
gabe haben und ein unternehmerisches Risiko tragen. In
einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung und einer sozia-
len Marktwirtschaft gehört dies zu den allerersten Vor-
aussetzungen.

Meine Damen und Herren, es gibt jedoch nach wie vor
Widerstand von amerikanischer Seite, die die Rating-
Lücke zugunsten ihrer Banken nutzen will. Deswegen ist
es wichtig, dass wir unsere gemeinsam erarbeiteten




Hans Michelbach
10196


(C)



(D)



(A)



(B)


Grundsätze voranbringen. Die CDU/CSU-Fraktion hat
folgende Grundsätze aufgestellt:

Die Kreditfinanzierung der deutschen Wirtschaft darf
mit Blick auf Investitionen und die Schaffung von Ar-
beitsplätzen nicht erschwert und nicht gefährdet werden.
Die Besonderheit des deutschen Mittelstandes muss spe-
zielle Berücksichtigung finden.

Die Kapitalbeschaffung der Existenzgründer und mit-
telständischen Unternehmen darf nicht verteuert und die
Leistungsfähigkeit regional tätiger Banken wie Kreditge-
nossenschaften und Sparkassen darf nicht beeinträchtigt
werden. Neben den externen Ratings müssen deshalb in-
terne Ratings gleichberechtigt anerkannt werden.

Für Kredite mit einer Höhe bis zu 100 000 DM und für
kurzfristige Finanzierungskredite mit einer Laufzeit von
maximal 120 Tagen


(Klaus Lennartz [SPD]: Viel zu lang!)

sollte nach meiner Meinung gar kein Rating vorgeschrie-
ben werden. Der gewerbliche Hypothekarkredit sollte
aufgrund seiner niedrigen Ausfallrate mit höchstens
50 Prozent gewichtet werden. Ein mittelstandskonformes
Rating dürfte hier nach meiner Meinung eine spezielle
Lösung darstellen.

Die Bundesregierung muss im Rahmen der internatio-
nalen Verhandlungen sicherstellen, dass eine wettbe-
werbsneutrale Ausgestaltung für alle Betriebe und für alle
Bankengruppen stattfindet und Zuwiderhandlungen mit
einem Veto belegt werden. Wir werden prüfen, was aus
dieser Entschließung geworden ist, wie Sie verhandeln
und wie ernst Sie dieses Anliegen der deutschen Wirt-
schaft nehmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410816900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. zur Neuregelung der angemessenen Eigen-
kapitalausstattung von Kreditinstituten und der
Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und Wertpa-
pierfirmen in der EU auf Drucksache 14/3523. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Die Gegenprobe! –
Stimmenthaltungen? – Dieser Antrag ist einstimmig an-
genommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den
Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-
land nutzen
– Drucksache 14/3374 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Ich bitte dann
auch, den Zeitrahmen von einer Dreiviertelstunde einzu-
halten.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die
CDU/CSU hat der Kollege Klaus Brähmig.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1410817000
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni 2000
öffneten sich in Hannover die Tore für die Weltausstellung
EXPO 2000. Dies ist die erste Weltausstellung auf
deutschem Boden. Unter gewaltigem Medieninteresse
wurde die EXPO dabei von den Politikern jener Parteien
eröffnet, die dieses Projekt teilweise zögerlich bzw. gar
nicht umgesetzt sehen wollten. Insofern bedanken wir uns
an dieser Stelle bei denjenigen, die Ende der 80er-Jahre
diese Vision entwickelt haben und ohne deren Initiative
die Bundesrepublik Deutschland nicht die Chance erhal-
ten hätte, am Anfang des neuen Jahrtausends der Gastge-
ber für die Welt zu sein.

Hier sind vor allem der ehemalige Ministerpräsident
Niedersachsens Ernst Albrecht, die damalige niedersäch-
sische Finanzministerin Birgit Breuel und unser Alt-Bun-
deskanzler Dr. Helmut Kohl zu nennen. Ohne ihr coura-
giertes Eintreten wäre die damalige Vision nicht in die
Realität umgesetzt worden.

Dies ist nicht der erste Antrag zu diesem Thema und es
wird ganz gewiss auch nicht der letzte sein. Ich erinnere
in diesem Zusammenhang nur an die anfängliche Total-
verweigerung der Grünen in Niedersachsen und im Bund
oder an die vom Hannoveraner SPD-Oberbürgermeister
Schmalstieg 1992 gestartete Bürgerbefragung


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Antrag der Grünen!)


verbunden mit der Hoffnung, die Mehrheit der Bürger
werde sich gegen die EXPO entscheiden. Es ist gerade
mal vier Jahre her, dass PDS und Grüne die EXPO absa-
gen wollten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt
ist sie Gott sei Dank eröffnet, die Kleingeister haben sich
nicht durchgesetzt.


(Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU] – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Besonderer Dank gebührt den Machern der EXPO
dafür, dass es gelungen ist, die 16 deutschen Bundeslän-
der – vor allem auch die ostdeutschen Bundesländer – in
den letzten zehn Jahren voll in das Projekt zu integrieren.
Der Ansatz, die EXPO nicht nur in Hannover, sondern
über die weltweiten Projekte in Deutschland und in vielen
Staaten und Regionen der Welt stattfinden zu lassen, hat
zu dieser Integrationsleistung maßgeblich beigetragen.

Als Vorsitzender der sächsischen Jury und als Mitglied
der Bundesjury zur Auswahl der weltweiten Projekte
bin ich stolz, dass sich beispielsweise der Freistaat Sach-
sen mit 24 weltweiten Projekten an der EXPO beteiligt.
Stellvertretend sei hier nur das Projekt des Wiederaufbaus
der Dresdner Frauenkirche genannt.




Hans Michelbach

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(C)



(D)



(A)



(B)


Leider zeigt sich seit der Eröffnung erneut, dass
Deutschland ein Problem mit Großveranstaltungen hat.
Täglich melden sich über die Presseticker selbsternannte
„EXPO-Experten“ und profilieren sich mit „klugen Ver-
besserungsvorschlägen“, obwohl die Kenntnisse der Ge-
samtzusammenhänge häufig gänzlich fehlen.

Meine Damen und Herren, als Tourismuspolitiker ha-
ben wir die EXPO 2000 seit 1995 intensiv und kritisch be-
gleitet. Als Beispiel nenne ich nur unsere Forderung an
die Tourismuswirtschaft, ein einheitliches Buchungs- und
Reservierungssystem für Tickets und Pauschalangebote
einzurichten. Weiterhin haben wir uns immer für ausrei-
chende Marketingmittel zur nationalen und internationa-
len Vermarktung der EXPO eingesetzt. Die Erfüllung die-
ser Forderungen ist heute aktueller denn je und daher ein
zentraler Punkt unseres Antrages.

Die zusätzlich geforderten Marketingmittel in Höhe
von 50 Millionen DM sind in Anbetracht der nicht erziel-
ten Verkaufserlöse durch Eintrittskarten und Merchandi-
singprovisionen und in Anbetracht der Ausfälle im Miet-
und Pachtbereich eine ausgesprochene Marginalie. Durch
zusätzliche Investitionen des Bundes müssen wir den Ver-
such unternehmen, Herr Staatssekretär Mosdorf, die bis-
her erwarteten Verluste in dreistelliger Millionenhöhe
nicht noch weiter steigen zu lassen. Anstelle der öffentli-
chen Forderung, die Tickets zu verbilligen – was die Ein-
nahmen der EXPO weiter drastisch reduzieren würde –,
sehen alle Fachleute aus der Tourismuswirtschaft im zu-
sätzlichen Einsatz von Marketingmitteln den Königsweg.

Leider ist es offensichtlich noch nicht gelungen, allen
Bürgern zu vermitteln, wie faszinierend, spannend und
hochinteressant die EXPO tatsächlich ist.


(Klaus Lennartz [SPD]: Waren Sie da?)

– Ich war da.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bezahlt oder unbezahlt?)


Dabei ist nach ersten Erhebungen die Besucherzufrieden-
heit überwältigend. Die „Reichsbedenkenträger“ dürfen
in den Medien nicht die Oberhand in der öffentlichen Dis-
kussion gewinnen.

Darüber hinaus ist der Bekanntheitsgrad der EXPO in
wichtigen ausländischen Quellmärkten noch viel zu ge-
ring. Das exzellente Produkt EXPO muss mit dem welt-
weiten Marktpotenzial zusammengeführt werden. Hierzu
haben wir, wie bekannt, nicht mehr viel Zeit.

Mein Appell an die Vertreter der Regierungskoalition
lautet: Wenn wir jetzt nicht schnell handeln, dann werden
nicht nur der Bund, das Land Niedersachsen und die Stadt
Hannover kräftig zur Kasse gebeten, sondern es kostet
Deutschland vielleicht auch seinen guten Ruf als Wirt-
schafts- und Tourismusstandort.

Meine Damen und Herren, stimmen Sie deshalb unse-
rem Antrag zu! Lassen Sie uns gemeinsam diese nationale
Verantwortung wahrnehmen!


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410817100
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1410817200
Bitte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410817300
Bitte sehr.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1410817400
Herr Kollege, Sie sprachen
eben davon, dass seinerzeit der hannoversche Oberbür-
germeister Schmalstieg eine Umfrage in der Stadt Han-
nover initiiert hatte. Ich nehme an, das Ergebnis wird Ih-
nen bekannt sein: 48 Prozent der Hannoveraner Bürger
und Bürgerinnen haben sich gegen die EXPO ausge-
sprochen. In Ihren Ausführungen folgte der Satz, dass sich
die „Kleingeister“ nicht durchgesetzt hätten. Sind Sie der
Ansicht, dass es sich bei den 48 Prozent der Einwohner-
innen und Einwohner der Stadt Hannover um „Kleingeis-
ter“ handelt?

Und wie wollen Sie Ihren Antrag, den Sie uns gerade
vorgelegt haben, nämlich noch einmal 50 Millionen DM
für eine entsprechende Werbung zu investieren, damit in
Einklang bringen, dass aus dem Bereich des Haus-
haltsausschusses, und zwar nicht von PDS-Kollegen, son-
dern von Kollegen Ihrer Fraktion und auch der SPD-Frak-
tion, schon vor drei Wochen angekündigt wurde – damals
war noch nicht zu erkennen, welcher Flop die EXPO wer-
den würde, was die Besucherzahlen angeht –,


(Susanne Kastner [SPD]: Jetzt hören Sie doch endlich einmal auf!)


dass mindestens 2 Milliarden DM aus dem Bundeshaus-
halt investiert werden müssten, um die Ausfälle bei der
EXPO auffangen zu können?


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1410817500
Ich will direkt kurz auf
Ihre erste Frage eingehen. 52 Prozent der Hannoveraner
haben sich für die EXPO ausgesprochen. Wenn Sie an-
gesichts der exzellenten Infrastruktur in dieser Stadt und
Region, die letztendlich im Wesentlichen mit Bundesmit-
teln finanziert worden ist, die Hannoveraner heute fragen
würden, dann kämen wir, glaube ich, auf eine Zustim-
mung zur EXPO von 90 Prozent, wenn nicht sogar von
100 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist Punkt eins.
Punkt zwei. Man muss in der Politik fähig sein – ich

gehe einmal davon aus, dass die bürgerlichen Parteien
dies sind –, eine Entscheidung von gestern, die mögli-
cherweise nicht richtig war, zu überdenken und, wenn
sich eine neue Gegebenheit und Situation ergibt, neu zu
treffen. So bin ich hundertprozentig der Überzeugung,
dass wir mit den demokratischen bürgerlichen Parteien in
diesem Hause, möglichst in Übereinstimmung mit dem
Haushaltsausschuss, eine Möglichkeit für diesen von mir
aufgezeigten Königsweg finden, um die einkalkulierten
Verluste von etwa 400Millionen DM, die, das wissen Sie,
von Anfang an als Bürgschaftslücke im Finanzierungs-
konzept gestanden haben, nicht zu überschreiten oder,
was natürlich noch viel besser wäre – das ist unsere
gemeinsame Hoffnung –, sie zu minimieren. Sie von der




Klaus Brähmig
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(C)



(D)



(A)



(B)


PDS können sich gerne überlegen, ob Sie diesem innova-
tiven Antrag nicht eventuell zustimmen wollen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410817600
Nun hat die Kollegin
Birgit Roth, SPD-Fraktion, das Wort.


Birgit Roth (SPD):
Rede ID: ID1410817700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Werte Inter-
essierte! Die Inhalte der EXPO 2000, „Mensch – Natur –
Technik“, sind hervorragend. Sie haben bereits am Eröff-
nungstag circa 150 000 Besucherinnen und Besucher
nach Hannover gelockt.

Die EXPO ist sicherlich auch eine Visitenkarte für
Deutschland – zunächst in technischer Hinsicht: Denken
Sie nur an all die Innovationen, die dort ausgestellt wer-
den. Sie ist sicherlich genauso in ökologischer Hinsicht
eine Visitenkarte, auch wenn es – auch von unserer
Seite – viel Kritik gegeben hat, zum Beispiel weil das
Mehrwegsystem auf der EXPO nicht realisiert wurde.
Aber dafür werden die Fragen des 21. Jahrhunderts pro-
blematisiert, zum Beispiel: Wie sieht es mit unserem En-
ergiebedarf aus? Wie können wir unseren Energiebedarf
decken? Wie gehen wir mit Energie insgesamt um?

Die EXPO ist sicherlich auch in gesellschaftspoliti-
scher Hinsicht eine Visitenkarte für Deutschland. Beden-
ken Sie alleine, wie viele Nationen, wie viele verschie-
dene Mentalitäten teilnehmen, wie viele Stände es gibt;
denken Sie an das Ereignisprogramm oder auch an das
Kulturprogramm, durch das die EXPO führt. Insgesamt
sind es 170 Nationen, die sich beteiligen, die durch ihre
Verschiedenartigkeit, durch die Vielfalt der Mentalitäten
zum Erfolg der EXPO beitragen. Wir haben des Weiteren
800 dezentrale weltweite Projekte, die das Motto der
EXPO „Mensch – Natur – Technik“ untermauern und er-
gänzen, davon alleine 280 bei uns in Deutschland.

Die EXPO wirft vor allem Fragen auf, provoziert si-
cherlich auch ein Stück weit. Sie fragt: Wie wollen wir im
21. Jahrhundert leben? Wie sieht unser Energieverbrauch
aus? Wie lösen wir das Problem der Mobilität? Was ist mit
unserer Gesundheit, mit der Ernährung? Aber es werden
auch Themengebiete angerissen wie die Frage, was wir im
Bereich der grünen oder der roten Gentechnik vorhaben
und wie wir damit umgehen.

Sicherlich wird die EXPO nicht alle Probleme, die dort
aufgeworfen werden, lösen. Aber das ist auch nicht der
Anspruch der EXPO. Die Themen sollen problematisiert
werden, es soll angeregt werden zum Weiterdenken, es
soll ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen werden.

Nehmen wir das Umweltbewusstsein in Deutschland
als Beispiel. Dies ist bei uns über Jahre bzw. über Jahr-
zehnte hinweg gereift. Das war ein Prozess. Genau daran
setzt die EXPO an und versucht, ein Bewusstsein für die
herausragenden Probleme des 21. Jahrhunderts herzustel-

len. Deswegen halten wir die Inhalte der Weltausstellung
für wirklich gelungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass Fehler im Bereich des Managements – sei es im
Bereich des Verkaufs, des Ticketings, aber auch bei der
Werbekampagne; das ist ja oft genug durch die Presse ge-
gangen – gemacht worden sind, ist, glaube ich, nicht mehr
strittig. Frau Breuel sowie Herr Volk und Co werden dafür
die Verantwortung tragen müssen.

Wir im Tourismusausschuss haben in den letzten an-
derthalb Jahren wirklich kontinuierlich auf Schwachstel-
len hingewiesen, und zwar so lange, bis sich etwas geän-
dert hat. Denn wir sehen ganz klar unsere Verantwortung
gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, in erster Linie
aber auch gegenüber dem Steuerzahler.

Aus dieser Perspektive beurteilen wir die in dem von
der CDU/CSU eingebrachten Antrag formulierte Forde-
rung, dass weitere 50 Millionen DM kurzfristig in Wer-
bemaßnahmen hineingepumpt werden. Es ist bereits an-
gesprochen worden: Sowohl der Bund als auch das Land
Niedersachsen haben bereits Millionenbürgschaften für
die EXPO übernommen. Das heißt, wir stehen bereits in
der Verantwortung bzw. in der Pflicht.

Herr Brähmig, nachdem die EXPO gerade einige we-
nige Tage ihre Tore geöffnet hat, fordern Sie bereits, wei-
tere Finanzspritzen für Werbemaßnahmen bereitzustellen.
Ich kann an dieser Stelle nur an Ihr Verantwortungsgefühl
gegenüber dem Steuerzahler und in Bezug auf das Gelin-
gen der EXPO appellieren. Ich halte das, was Sie hier tun,
für eine unnötige Debatte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Warten Sie bitte erst einmal ab! Wir haben doch noch
überhaupt keine aussagekräftigen Zahlen vorliegen. Sie
können doch nicht schon nach fünf Tagen abschließend
urteilen. Denn zum Beispiel die Sommerferien haben
noch gar nicht begonnen. Ausländische Touristinnen und
Touristen können noch gar nicht da sein. Schauen Sie sich
einmal die Umfrageergebnisse in Bezug auf die EXPO an:
Das Ergebnis ist, dass 90 Prozent der Besucherinnen und
Besucher mit den Inhalten der EXPO sehr zufrieden sind
und 64 Prozent nochmals kommen möchten. Oder denken
Sie an die letzte Weltausstellung in Sevilla. Dort hat es in
den letzten vier Wochen einen wahrhaftigen Run auf die
Weltausstellung gegeben. Sie aber geben nach fünf Tagen
ein abschließendes Urteil über eine Ausstellung ab, die
insgesamt fünf Monate dauern wird. Das, Herr Brähmig,
halte ich, mit Verlaub, für verantwortungslos.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Für unseriös!)


Lassen Sie mich auf den Antrag der CDU/CSU-
Fraktion zurückkommen. Es geht hier ja um die Welt-
ausstellung, um ein nationales Symbol und vor allem um
die Chance, uns technisch versiert und kompetent, aber
auch aufgeklärt gegenüber dem Ausland zu präsentieren.
Was Sie da tun, ist so zu beurteilen – das finde ich nicht




Klaus Brähmig

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(C)



(D)



(A)



(B)


in Ordnung; ich halte es für falsch und finde es sehr
schade –: Sie benutzen die EXPO als Vorwand, um par-
teipolitische Forderungen in den Vordergrund zu stellen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das sieht aber Ihr Staatssekretär nicht so!)


Ich habe mir Ihren Antrag einmal genauer angesehen
und möchte Ihnen dazu drei Beispiele nennen: Erstens
fordern Sie, „den Großraum Hannover für die Dauer der
EXPO 2000 zu einer Pilotregion zur Entbürokratisierung
und Deregulierung zu machen ...“ Herr Brähmig, ich bin
mir sehr sicher: Der Anspruch einer Weltausstellung ist
ein wahrhaft anderer.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ganz richtig!)

Anspruch und Ziel der Weltausstellung sind es, die Pro-
bleme, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu
thematisieren und nicht für wenige Wochen ein Muster-
städtchen der Entbürokratisierung zu sein.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das wird teilweise von der Bundesregierung gemacht! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Der Staatssekretär sieht das ganz anders!)


Dass der Abbau der Bürokratie eine politische Herausfor-
derung für uns alle ist, die schon seit Jahren auf der Ta-
gesordnung steht, ist richtig, sollte aber nicht in solch ei-
ner Form geschehen. Denn ein Abbau der Bürokratie ist
meines Erachtens nur langfristig wirklich zu bewältigen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir müssen ja einmal irgendwo anfangen!)


Zweitens fordern Sie, „auf Ausnahmeregelungen bei
den arbeitsrechtlichen Voraussetzungen ... hinzuwirken“.
Dies liegt zum einen ganz klar im Verantwortungsbereich
der Tarifpartner. Zum anderen rufen Sie dadurch, dass Sie
auf Ausnahmeregelungen hinwirken, sofort nach der Po-
litik. Da muss ich Sie mit einem süffisanten Lächeln auf
die erste Forderung Ihres Antrages verweisen. Dort spre-
chen Sie sich nämlich für den Abbau von Bürokratie aus.
Jetzt erklären Sie, wir sollten Ausnahmeregelungen schaf-
fen. Dies ist nicht ganz logisch, Herr Brähmig.

Lassen Sie mich ein drittes Beispiel anführen. Auch
hier ein Zitat aus Ihrem Antrag: Wir sollen Einfluss darauf
nehmen, „dass gleich zu Beginn der EXPO Sonderange-
bote der Deutschen Bahn AG aufgelegt werden, um zu ei-
nem guten Start der Weltausstellung beizutragen.“


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die waren schon längst gemacht!)


Herr Brähmig, die Bahn ist mittlerweile privatisiert, wie
das kleine Wörtchen AG, Aktiengesellschaft, schon sagt.
Wie kann die Politik auf die Preisgestaltung eines Unter-
nehmens Einfluss nehmen? Manchmal frage ich mich,
welche politischen Vorstellungen Sie von Marktwirt-
schaft haben. Sie sprechen nämlich von Preisregulierung.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die Sonderangebote hat die Bahn schon längst gemacht! Das ist nur noch nicht angekommen!)


Ich muss Sie mit einem weiteren, ich hoffe charman-
ten, süffisanten Lächeln auf Punkt 1 Ihres eigenen Antrags

verweisen, in dem Sie Entbürokratisierung, aber vor al-
lem auch Deregulierung fordern. Deregulierung bedeutet
mehr Wettbewerb. Ich kann daher nicht ganz verstehen,
dass Sie unter Punkt 12 Ihres Antrags klare Preisfestset-
zungen und klare Preisregulierungen fordern.

Abgesehen davon möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass der Tourismusausschuss da sehr aktiv war. Herr
Hinsken hat bereits im Januar dieses Jahres führende Ver-
treter der Deutschen Bahn eingeladen. Der Vorstand war
bei uns zu Gast. Schon im Januar sind uns die Preiskalku-
lationen der Bahn vorgelegt worden – Sie erinnern sich
vielleicht noch daran –: die Familienkarte für 199 DM
bzw. 249 DM. Das heißt, Punkt 12 Ihres Antrags ist be-
reits seit Monaten realisiert.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Familienticket wurde doch erst letzte Woche aufgelegt! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Auf unsere Forderung hin!)


Was ich schade finde, ist die Art und Weise, in der wir
über dieses Thema debattieren, nämlich: Das Glas ist halb
leer und nicht halb voll. In diesem Sinne möchte ich an Sie
appellieren: Wir wollen unsere Augen sicherlich nicht vor
den Problemen, gerade auch den finanziellen Problemen
der EXPO 2000 verschließen. Ich bitte Sie aber, auch die
Stärken der EXPO anzuerkennen, die Errungenschaften
und die Leistungen der EXPO in den Vordergrund zu stel-
len.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das steht alles in dem Antrag!)


Ich fordere Sie auf, die Augen vor diesem Ziel nicht zu
verschließen und jetzt nicht diese Debatte zu führen. Viel-
mehr sollten die Stärken der EXPO ganz klar herausge-
stellt werden, nämlich die Leistungen und Errungen-
schaften im Bereich der Innovation und im Bereich der
Technik für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410817800
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1410817900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Als jemand, der Ende der 80er-Jahre
daran beteiligt war, dass die niedersächsische Lan-
desregierung den Antrag bei der Bundesregierung gestellt
hat, die EXPO durchzuführen, freue ich mich, dass sie nun
eröffnet worden ist und dass sie mit ihrem Angebot eine
Ideenbörse und Trendsetter in Deutschland für das
21. Jahrhundert ist. Wir sollten gemeinsam festhalten und
uns darüber freuen, dass Deutschland die einmalige
Chance hat, am Beginn dieses Jahrhunderts die Welt in
Deutschland zu versammeln, dass Deutschland die Natio-
nen angeregt hat, in ihren Pavillons zu zeigen, wie sie sich
das 21. Jahrhundert vorstellen, und einige Angebote aus
Deutschland zu machen.




Birgit Roth (Speyer)

10200


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte mich an dieser Stelle bei zweien bedanken,
die dieses Ziel in unterschiedlichen Positionen politisch
mit vorangetrieben haben. Als Niedersachse denke ich
natürlich zuerst an die Bundesebene; die anderen können
sich selber loben. Der damalige Bundeskanzler Helmut
Kohl hat diese EXPO mit großer Verve gefördert. Ich
möchte ihm dafür danken.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man sollte hier aber genauso festhalten, dass sich der heu-
tige Bundeskanzler Gerhard Schröder von Anfang an und
in einer Zeit, in der Rot-Grün in Niedersachsen die EXPO
madig gemacht hat und sie am liebsten kaputtgeredet
hätte, zu der EXPO bekannt hat.

Ich denke, in einer solchen Diskussion, die wir weltof-
fen führen wollen, wird es uns helfen zu sagen, wer die
ganze Zeit gemeckert hat, wer das Projekt madig gemacht
hat und wer nicht wollte, dass aus Deutschland positive
Zeichen in die Welt hinausgehen: Anfang der 90er-Jahre
haben insbesondere die Grünen versucht, alles kaputtzu-
machen, statt positiv Einfluss zu nehmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das geht bis hin zu dem Trauerspiel, das damals in der
Stadt Hannover stattfand.

Die Begeisterung der Besucher spricht für sich. Jetzt
haben wir fünf Monate lang die Chance, gute Nachrichten
aus Deutschland zu verbreiten. Aber dies verbietet natür-
lich in keiner Weise, gemeinsam darüber nachzudenken,
wie angesichts des schleppenden Kartenverkaufs Hin-
weise gegeben werden können, wie man die EXPO rund-
um zu dem Erfolg macht, der notwendig ist.

Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Unterneh-
men, wie es die EXPO ist, auf den Markt, den es in die-
sem Bereich gibt, reagieren muss. Dies bedeutet, dass
man, wenn der Kartenverkauf zu Anfang schleppend ist,
bestimmte zusätzliche Angebote machen muss.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Mir leuchtet es nicht ein, warum es erst einmal einige

Tage brüsk abgelehnt worden ist, etwa für Familien die
Eintrittspreise vor den Sommerferien um ein Drittel billi-
ger zu gestalten. Mir leuchtet es auch nicht ein, warum es
– trotz der Flaute, die wir im Augenblick haben – zunächst
abgelehnt wurde, an den Tageskassen auf den zusätzli-
chen Eintrittspreis zu verzichten. Heute lese ich in Mel-
dungen aus dem Ticker – es ist klar, dass ich mich darü-
ber freue –, dass die Verantwortlichen inzwischen eben-
falls zu dieser Überzeugung gekommen sind. In diesem
Zusammenhang fordere ich Flexibilität statt Prinzipien-
reiterei ein.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Angesichts der Globalisierung ist dies etwas, was man ge-
rade auch in Deutschland braucht.

Ich denke, auch ein neuer Werbeanlauf ist geboten. Bei
diesem Punkt knüpfe ich an das an, was der Kollege
Brähmig zu Anfang gesagt hat: Über Beträge kann man
sich immer unterhalten.

Ich hielte es für gut – mehr möchte ich dazu nicht
sagen –, wenn die Geschäftsführung der EXPO ihre Si-
tuation im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundesta-
ges vortragen, neue Maßnahmen vorschlagen und ge-
meinsam den Rückenwind, den sie ja aus diesem Parla-
ment und auch von der Bundesregierung haben kann,
nutzen würde, um Deutschland entsprechend darzustel-
len. Frau Roth, das ist doch etwas, was wir in einer sol-
chen Debatte gemeinsam an Positivem sagen könnten.

Jeder Tag zählt. Ich freue mich, dass Frau Breuel er-
klärt hat, dass es eine zusätzliche Werbekampagne ge-
ben soll. Ich warne vor Panikmache auf der einen Seite


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!)


und vor Trotzreaktionen auf der anderen Seite, als müsste
man gar nichts ändern. Aber, meine Damen und Herren,
wir müssen uns von Anfang an damit beschäftigen: Wenn
denn tatsächlich 1 Million Besucher weniger käme, be-
deutete dies geringere Einnahmen in Höhe von 45 Milli-
onen DM. Deswegen muss sich dieser Bundestag auch
mit solchen Fragen beschäftigen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410818000
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuchardt?


Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1410818100
Ich möchte nur noch diesen
Gedanken zu Ende bringen. – Wir tun dies auch in an-
deren Zusammenhängen bei weit kleineren Beträgen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410818200
Frau Kollegin, bitte
sehr.


Prof. Dr. Erika Schuchardt (CDU):
Rede ID: ID1410818300
Ich bin über die
Vorschläge, die Sie hier eingebracht haben, sehr froh und
möchte nur einen Aspekt besonders in den Mittelpunkt
rücken:


(Susanne Kastner [SPD]: Was fragen Sie denn?)


die Frage, ob der Aspekt Jugendliche auf der EXPO, de-
nen der Zutritt gegenwärtig durch den Preis der Eintritts-
karten in Höhe von 69 DM nicht möglich ist, mit berück-
sichtigt wird. Denn ich denke, dass ein Ferien-EXPO-
Pass eine Maßnahme wäre, die nicht nur den Jugendlichen
das Tor zur Welt öffnen würde, sondern sie auch – das ha-
ben Sie angesprochen – als Werbeträger nutzen würde.
Denn Jugendliche sind die besten Werbeträger für die Zu-
kunft.

Daher habe ich am Montag einen Brief an die Gene-
ralkommissarin der EXPO, Frau Breuel, geschrieben, und
zwar mit dem Hinweis, dass es hier eine Zielgruppe gibt,
die bisher nicht berücksichtigt ist. Denn die Jugendlichen,
die die EXPO in den Sommerferien besuchen würden,
sind diejenigen, die keinen Taucherurlaub in Ägypten ma-
chen. Sie hätten für 20 DM die Chance, das Tor zur Welt
kennen zu lernen, und könnten zum Werbeträger werden.
Ich bitte Sie, darüber noch einmal nachzudenken.




Walter Hirche

10201


(C)



(D)



(A)



(B)



Walter Hirche (FDP):
Rede ID: ID1410818400
Frau Kollegin Schuchardt, ich
will gern akzeptieren, dass das ein Aspekt ist. Ich würde
hier allerdings die Hilfe eher bei den Kommunen an-
siedeln, aus denen diese Jugendlichen kommen. Heute hat
aus den verschiedensten Gründen gerade ein Teil der Ju-
gendlichen mehr Geld als etwa ein Teil der älteren Gene-
ration. Deswegen plädiere ich nicht dafür, dass die
Einzelkarte verbilligt abgegeben wird. Im Übrigen gibt es
weitere Überlegungen, die dafür sprechen, dass man das
nicht tun sollte: Zigtausende haben nämlich schon im
Vorverkauf Karten erworben; sie würden sozusagen be-
straft, wenn es jetzt zu einer anderen Regelung käme. Wir
sollten aber etwas für Familien tun, damit sie etwa in der
Zeit vor den Ferien das Angebot bereits nutzen. In der
Zwischenzeit sollte – ich freue mich, dass die EXPO da-
rauf offenbar eingeht – der Aufschlag, der an der
Tageskasse erhoben wird, abgeschafft werden. In einer
Situation, in der der Zulauf ungenügend ist, wäre es das
Einfachste, einen abschreckenden Zusatzbeitrag nicht
mehr zu erheben. Dass wir darüber überhaupt noch disku-
tieren müssen, ist schade.

Ich plädiere in diesem Zusammenhang – ich sage das
zusammenfassend – für mehr Flexibilität; denn das
21. Jahrhundert – auch das vermittelt die EXPO im Übri-
gen bei den vielen Visionen, die sie vorstellt – braucht
mehr Flexibilität gerade im Hinblick auf die Globalisie-
rung. Ich würde mir diese Flexibilität auch in der Region
Hannover wünschen; ein Stichwort dazu wäre das Thema
Ladenschluss.

Das Wichtigste ist aber, meine Damen und Herren, dass
weltweit kein Zweifel daran besteht, dass die deutsche Po-
litik – ich freue mich, dass das quer durch die meisten
Fraktionen der Fall ist – die EXPO als eine riesige Chance
ansieht und dann, wenn sich Probleme stellen, verlangt,
wie wir es von uns selbst auch immer verlangen, der Sa-
che gerecht zu werden und Flexibilität anstatt Panikma-
che und Prinzipienreiterei an den Tag zu legen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410818500
Nun hat der Kollege
Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410818600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt
keine Panikmache, aber natürlich einer derjenigen, die
das früher alles schon sehr kritisch gesehen haben. Trotz-
dem sage ich, dass es natürlich sinnvoll ist, für den Besuch
der EXPO in Hannover zu werben.


(Beifall des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die CDU/CSU hat es sehr gut beschrieben und hier
wurde es mehrfach gesagt: Die EXPO ist ein Diskussi-
onsforum für die zentralen sozialen, ökologischen und
ökonomischen Herausforderungen des 3. Jahrtausends.
Es gibt fantasievolle Pavillons der rund 180 teilnehmen-
den Nationen und internationalen Organisationen. Es gibt
einen Themenpark mit spektakulären Vorstellungen und
Simulationen. Es gibt ein attraktives Kultur- und Ereig-
nisprogramm mit über 800 Veranstaltungen. Es gibt

Außenprojekte der EXPO. Viele hoch qualifizierte
Arbeitsplätze sind geschaffen worden und werden hof-
fentlich auch erhalten.

Es ist auch angenehm, jetzt zur EXPO zu fahren. Ich
wohne ja nicht so weit davon entfernt und bin in den letz-
ten Tagen ein paarmal über den Messeschnellweg unter
den EXPO-Brücken durchgefahren. Ich kann Ihnen und
allen Zuhörern sagen: Früher gab es zwar Diskussionen
darüber, ob man die Infrastruktur zustande bringen
würde, die die Besuchermassen verkraftet, die man
braucht, damit die EXPO kostendeckend stattfinden kann.
Jetzt aber sehen wir, dass man ohne Schwierigkeiten hin-
fahren kann und große Parkplätze vorfindet, auf denen
verloren einige Rudel Autos stehen. Es gibt kein Ge-
dränge auf den EXPO-Wegen. Wer wie ich über den Mes-
seschnellweg fährt, sieht auf den drei Brücken, die über
den Messeschnellweg führen, kleine Besuchertrüppchen
tröpfeln.

Die Kehrseite davon sind viele leer stehende Hotel-
betten und Privatzimmer. In Hannover gibt es ja ein Ge-
werbe der Messewirte und der Familien, die Messegäste
aufnehmen. Mir hat am Montag ein Taxifahrer erzählt, die
einzigen, die an der EXPO verdient hätten, seien die Mö-
belhäuser, denn er habe mit seinem Lasttaxi in den letzten
zwei Monaten allein an 50 Adressen neue Betten und
neues Bettzeug geliefert. Es gibt also viele Privatbürger in
Hannover, die sich jetzt fragen, ob sie das Geld, das sie in-
vestiert haben, durch Mieten wieder hereinbekommen. Es
ist ein Jammer und gerade weil es so ist, sollten alle zur
EXPO fahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber nicht, weil sie ein Jammer ist, sondern weil sie schön ist!)


Ich sage noch eins: Ich verzichte darauf, hier rechtha-
berisch zu argumentieren und zu sagen, wir Grünen seien
schon immer dagegen gewesen; wir seien wegen der enor-
men Naturbelastung durch Parkplatzflächen usw. und we-
gen der ökonomischen Belastung durch die befürchtete
Preissteigerung auf dem Wohnungsmarkt dagegen gewe-
sen. Die nachteiligen Folgen auf dem Wohnungsmarkt
sind ebenso wie ökologische Belastungen durch höhere
Verkehrsaufkommen nicht eingetreten. Alle Befürchtun-
gen haben sich nicht bewahrheitet.

Ich muss den Oberbürgermeister Schmalstieg wirklich
in Schutz nehmen, er hat keinen Bürgerentscheid ange-
ordnet. Er musste einen anordnen, weil er durch Ratsbe-
schluss, der von den Schuldigen, den Grünen, herbeige-
führt worden ist, gezwungen wurde.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dann waren Sie die Missetäter!)


– Wir waren die Missetäter.
Die Grünen haben damals 48,5 Prozent Zustimmung

gehabt. 2 Prozent mehr und Hannover, dem Land und dem
Bund wäre das Desaster erspart geblieben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hätte es in Bayern nicht gegeben, Herr Lippelt!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Danach haben wir uns demokratisch verhalten. Der Um-
weltdezernent in Hannover, der ein Grüner ist, hat die
grüne Begleitplanung gemacht. Grüne Gruppen im Lande
haben EXPO-Projekte vorgeschlagen. Dass Uelzen jetzt
einen wunderbaren, von Hundertwasser als Letztes vor
seinem Tod ausgemalten Bahnhof hat, geht auf eine Idee
zurück, die von einem Grünen stammt. Wir haben uns also
voll beteiligt. Rechthaberei gibt es überhaupt nicht.

Natürlich rufen wir jetzt auch deshalb dazu auf, zur
EXPO zu fahren, weil wir keine Belastung von Land und
Bund durch die hohe Defizitabdeckung, die auf sie zu-
kommt, wollen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Aber die Milliarden Steuereinnahmen, die wollen Sie!)


– Mein lieber Herr Hirche, ich lese in der „Hannoverschen
Allgemeinen“ vom Dienstag, dass es schon am Montag
eine erste Alarmsitzung des niedersächsischen Landeska-
binetts gegeben hat. Dort heißt es:

Sollten die Besucherzahlen im bisherigen Rahmen
bleiben, „würden beim Land Defizite hängen blei-
ben, die wir nicht verkraften können“.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Darauf habe ich hingewiesen, Herr Lippelt!)

– Natürlich, deshalb sage ich ja auch: Alle hin! Ich unter-
stütze auch alle weiteren Werbeprogramme und alles, was
dem Tourismusausschuss einfällt.

Man muss aber auch fragen: Wie sieht das aus? Es wa-
ren täglich 260 000 Besucher kalkuliert, um einiger-
maßen hinzukommen. Am ersten Tag kamen 150 000. Ich
muss meinen Vorredner ein wenig korrigieren: Das waren
nicht alles begeisterte Hannoveraner. 40 000 Besucher
waren Schüler hannoverscher Schulklassen, denen Gra-
tistickets in die Hand gedrückt wurden, weil der Bundes-
kanzler bekanntlich seinen großen Eröffnungstag hatte.
Rund 10 000 weitere Besucher waren Bauarbeiter, die
auch nichts für den Besuch bezahlt haben, was sozial ab-
solut richtig war. Bauarbeiter sollen auch etwas davon ha-
ben und nichts dafür bezahlen. Es waren also alles in al-
lem weniger als 100 000 zahlende Gäste da.

So geht es weiter: In den ersten vier Tagen kamen
360 000 statt der erwarteten 1 Million Besucher. Am
Sonntag kamen 16 000 statt 300 000 Besucher und am
Montag 70 000 statt 260 000 Besucher. Bis Ende
Oktober – das sind 150 bis 160 Tage – müssten 40 Mil-
lionen Besucher kommen, also 260 000 täglich. Das
scheint nicht so zu laufen.


(Beifall bei der PDS)

Es kann natürlich daran liegen, dass jetzt nicht Reise-

zeit ist.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie machen die EXPO mies!)

Sevilla hat gezeigt, dass die Besucher am Ende doch noch
gekommen sind.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie machen sie mit Ihrer Rede mies!)


– Ich unterstütze die EXPO doch.

(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie machen sie mies!)

– Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es leere Park-
plätze gibt. Es ist wunderbar, zur EXPO zu fahren.

Jetzt rechnen wir einmal: Es gab 400 Millionen DM an
öffentlichem Zuschuss; ursprünglich sollte er mitberech-
net werden, dann ist er nachgelassen worden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch einen Moment

Redezeit.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410818700
Ich habe noch gar
nichts gesagt.


(Heiterkeit – Beifall bei der PDS)



Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410818800

Damals hatte man einen hohen Kartenvorverkauf in die
Planung einberechnet, der sich nicht realisieren ließ.
Dann war die Messe AG praktisch pleite. Daraufhin
musste man die 400Milliarden DM hineinstecken. Es gibt
200 Millionen DM Einnahmeausfall durch die Industrie;
denn das Industriesponsoring, mit 950 Millionen DM
angesetzt, hat nur 750 Millionen DM gebracht. Ludolf
von Wartenberg hat gesagt: Jetzt ist genug, mehr kommt
von uns nicht. Diese 200 Millionen DM muss man auch
berücksichtigen. Die ersten sechs Tage bringen einen
Ausfall in Höhe von 72 Millionen DM, so haben wir aus-
gerechnet. Sie alle haben jetzt ein Ticket bekommen. Ich
habe ausgerechnet, dass das noch einmal 46 000 DM sind,
die Ihnen nachgeschmissen werden. Rundherum 672Mil-
lionen DM an Defizit, die Milliarde ist bald erreicht.

Das Problem ist natürlich, wie Sie wissen, die Defizit-
abdeckung von 50:50. Beim Bund kommt auch etwas an,
aber das Land Hannover hat es wirklich schwer.

Oder sollte vielleicht der US-Botschafter Kornblum
Recht haben mit der Begründung, mit der er den ameri-
kanischen Pavillon absagte? Das ist genau derselbe
Spruch, mit dem wir die Diskussion vor zehn Jahren be-
gannen. Wir sagten nämlich: Die EXPO ist im elektroni-
schen Zeitalter wahrscheinlich keine zeitgemäße Veran-
staltung mehr. Das wird so nicht funktionieren.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Walter Hirche [F.D.P.]: Aber das stimmt doch nicht! Sie reisen doch auch gern, trotz Internet, um sich die Sachen anzuschauen!)


Die Leute sind über alles Mögliche informiert, auch über
Naturtechnik. Sie sind informiert, Sie müssen nicht nach
Hannover.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410818900
Aber nun, Herr Kol-
lege, muss ich doch auf die Uhr schauen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410819000

Ich folge der Ermahnung der Präsidentin und ende mit




Dr. Helmut Lippelt

10203


(C)



(D)



(A)



(B)


folgenden Worten: Im 19. Jahrhundert hat Deutschland es
nicht geschafft, eine EXPO zu veranstalten. Danach hat
Deutschland Kriege geführt. Jetzt hat Deutschland seine
EXPO – nach 150 Jahren. Vielleicht ist es aber so: Wer zu
spät kommt, den bestraft die Börse.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410819100
Nun hat das Wort die
Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.


Rosel Neuhäuser (PDS):
Rede ID: ID1410819200
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich kann das Loblied, das von den
zwei großen Fraktionen auf die EXPO gesungen wurde,
nicht mitsingen. Das ist sicherlich nachzuvollziehen.

Seit 1851 nimmt jede Weltausstellung Bezug auf aktu-
elle Fragen und Aufgaben der jeweiligen Zeit. Neben dem
Kennenlernen fremder Kulturen sollen Herausforderun-
gen, Chancen und Risiken zur Lösung der globalen Pro-
bleme erörtert sowie innovative und zukunftsfähige Ideen
nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit diskutiert und vor-
gestellt werden.

Sie wissen – das haben einige Redner heute schon be-
stätigt –, dass die PDS der Entwicklung des Projektes der
EXPO von Anfang an sehr kritisch gegenübergestanden
hat.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Etwas anderes hätte uns ja auch gewundert!)


Die Kritikpunkte seit der 13. Legislaturperiode haben sich
vom Inhalt her nicht verändert, sondern sie sind nach wie
vor aktuell.


(Beifall bei der PDS)

Nachdrücklich forderten wir ein in sich schlüssiges

Konzept, das inhaltlich so gestaltet ist, dass kostengüns-
tig eine Entwicklung in Richtung eines ökologischen und
sozialen Umbaus sowie ein Ausgleich zwischen Indus-
triestaaten und Staaten der so genannten Dritten Welt her-
beigeführt werden. Mit dieser Zielsetzung könnte in der
gegenwärtigen Zeit eine Weltausstellung sicherlich Sinn
machen. Das, denke ich, hat Herr Lippelt in seinen Aus-
führungen sehr deutlich gemacht.

Nun ist eingetreten, worauf wir aufmerksam machten
und was wir bereits in den vergangenen Jahren forderten.
Deshalb müssen sich Frau Breuel und ihr Vorstand fragen
lassen – und zwar nicht nur von der PDS –, was sie mit all
den Vorschlägen, die in den vergangenen Jahren unter-
breitet wurden, gemacht haben. Wo sind all die Vor-
schläge gelandet? Wie ist sie damit umgegangen? Harren
die Vorschläge vielleicht geduldig in einem Schreibtisch
oder verschwanden sie gleich im Papierkorb? Auch die
Bundesregierung muss sich an dieser Stelle fragen lassen,
wie sie mit den Haushaltsmitteln umgeht, was mit ihnen
passiert, ob sie überhaupt sinnvoll eingesetzt worden sind.

Angesichts der dramatischen Haushaltslage, wo jeder
aufgefordert ist zu sparen, war es von Anfang an nicht zu
rechtfertigen, dass die EXPO durch ökonomisch weit
überzogene Investitionen die öffentlichen Haushalte be-

lastet und Millionen oder Milliarden DM Steuergelder
verschlingt. Dafür ist das Geld da, aber nicht für die jähr-
liche Nettolohnanpassung von Renten, von Arbeitslosen-
geld oder auch von Sozialhilfe.


(Beifall bei der PDS)

Nun kommt ein Antrag von der CDU/CSU; auch das ist

schon benannt worden. Sie fordert, kurzfristig 50 Milli-
onen DM zusätzlich für den Haushalt der EXPO und für
die DZT einzustellen. Was soll man dazu noch sagen? Ist
das noch verantwortungsvoll? Wie erklären Sie das zum
Beispiel sozial Betroffenen?


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Damit, dass sie zum halben Preis hineindürfen!)


Meine Damen und Herren, in Politik und Wirtschaft
sind bei zentralen Aufgaben stets Prioritäten zu setzen.
Beim Thema EXPO muss beachtet werden, welches Aus-
maß ein solches Projekt eigentlich annehmen darf, denn
wir müssen uns heute schon fragen: Begeben sich die aus-
richtenden Städte und Länder im Rahmen des globalen
Wettbewerbs nicht in unverantwortlicher Weise in
Schwindel erregende finanzielle Belastungen, um immer
größer, besser und gigantischer zu werden, und das alles
zu lasten des eigentlichen inhaltlichen Anliegens dieser
Weltausstellung?

Sicherlich ist es jetzt noch zu früh, Rückschlüsse auf
das Projekt der EXPO zu ziehen, aber die täglichen Mel-
dungen zu den Verlusten sollten nicht irgendwo als nicht
relevant oder vielleicht als überzogen abgewiesen wer-
den.

Ob Motto, Themenparkgestaltung und die weltweiten
Projekte die sehr hoch gesteckten Ziele auch erfüllen kön-
nen oder eine multimediale und von der Technik domi-
nierte Supershow der Wirtschaft vorherrscht, wird man
erst am Ende der Weltausstellung beantworten können.

Unsere Kritik an der EXPO wird sich daran ausrichten,
was sich nachhaltig zum Wohl der Menschen und der Na-
tur überall auf dieser Welt entwickeln wird. Konkret heißt
das für uns, solche Fragen wie diese zu beantworten: Wel-
che Nachnutzungskonzepte gibt es? Welche Zukunft ha-
ben die vielen externen Projekte? Welche Nachberei-
tungsmaßnahmen bzw. Nachbereitungsprogramme gibt
es für die Länder der so genannten Dritten Welt? War die
EXPO wirklich eine Chance für Wirtschaft und Touris-
mus?


(Zuruf von der CDU/CSU: Ganz gewiss!)

Vielen Dank.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410819300
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Ernst Hinsken, von der CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1410819400
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni hatten
wir den Startschuss zur EXPO 2000 durch unseren Bun-
despräsidenten. Alle Redner waren des Lobes voll, und




Dr. Helmut Lippelt
10204


(C)



(D)



(A)



(B)


dies deshalb, weil erstmals seit 150 Jahren – seitdem gibt
es Weltausstellungen – eine Weltausstellung in der Bun-
desrepublik Deutschland stattfindet und Deutschland
Gastgeber ist.

Das touristische Topereignis dieses Jahres hat begon-
nen. Man kann – das möchte ich als Appell hinausposau-
nen – die Welt in zwei Tagen erwandern. Ich meine, es ist
eine Weltreise gerade für den kleinen Mann, der sich vie-
les sonst nicht erlauben kann.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig! – Rolf Kutzmutz [PDS]: Die EXPO auch nicht!)


Nach den Olympischen Spielen 1972 in München steht
Deutschland mit diesem globalen Topereignis im Blick-
punkt der Weltöffentlichkeit. 130 Staatsgäste geben sich
ein Stelldichein, haben sich angemeldet. Wir alle haben
uns gefreut, dass so viele zugesagt haben.

Viele von uns hätten sich noch mehr gefreut, wenn der
amerikanische Präsident Herr Clinton am 1. Juni auch zur
EXPO gegangen wäre.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Viele haben sich auch geärgert und die Meinung vertreten,
es sei ja nicht richtig, dass die USA als Aussteller durch
Abwesenheit glänzen.

Nein, meine Damen und Herren, auch die Vereinigten
Staaten von Amerika sind mit acht Pavillons bei dieser
Weltausstellung vertreten. Lassen Sie mich das flapsig be-
merken. Es ist nämlich achtmal Mc Donalds hier zugegen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, es ist – sicherlich nicht nur
für mich, sondern auch für Sie alle erfreulich, dass die
EXPO-Projekte nicht nur in Hannover zu bestaunen
sind, sondern dass diese Ausstellung weltweit begleitet
wird, dass vor allen Dingen allein in der Bundesrepublik
Deutschland 280 Projekte diese EXPO Hannover beglei-
ten, die Leute animieren, eben nicht nur diese Einzelpro-
jekte anzusehen, sondern auch nach Hannover zu kom-
men.

Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen
Fraktionen herzlich bedanken, weil immer das Verständ-
nis dafür vorhanden war, dass wir dieses Thema mehrmals
im Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages auf
die Tagesordnung gesetzt haben. Warum? Weil wir das
Ganze kritisch und konstruktiv begleiten wollten und
auch begleitet haben. Viele der Maßnahmen, die erst im
letzten Jahr Platz gegriffen haben, sind eben durch unsere
Beschlüsse zuwege gebracht worden.Wir waren zweimal
in Hannover und haben uns auch hier in Berlin informiert.

Ich möchte ein Zweites zur Historie sagen. Es ist mir
wichtig zu erwähnen, dass vor allem Altbundeskanzler
Helmut Kohl, Altministerpräsident Ernst Albrecht, aber
auch Birgit Breuel und die Stadt Hannover positiv her-
vorgehoben werden müssen. Diese haben maßgeblich
dazu beigetragen, dass vor 14 Jahren die Entscheidung ge-
fällt wurde, diese EXPO in Hannover durchzuführen.

Leider – das musste ich am Eröffnungstag feststellen –,
glich Hannover einer belagerten Stadt.


(Widerspruch bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo waren Sie denn da?)


Erfreulicherweise hatten aber die aus allen Teilen
Deutschlands zusammengekarrten, angereisten Chaoten
keine Chance.


(Lachen und Beifall bei der PDS)

Deshalb möchte ich auch der dort tätigen Polizei ein
Kompliment aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es wäre in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild entstan-
den, wenn es Berichte nicht über die EXPO, sondern über
die Krawalle gegeben hätte, die dort verschiedene Perso-
nen zu inszenieren versucht haben. Wenn Sie sich von der
PDS einmal die Flugblätter anschauen – Sie können sich
eines von mir holen –, werden Sie feststellen, mit welchen
Argumenten man versucht hat Stimmung zu machen. Das
ist pervers. Das halte ich nicht für gut und deshalb meine
ich, dass das nicht hingenommen werden kann.

Die EXPO braucht Erfolg und diesen wollen wir alle.
Es ist bestürzend, dass in den ersten fünf Tagen nicht ein-
mal die Hälfte der erwarteten Besucher gekommen sind.
Es sind bereits 10 bis 12 Millionen DM an Verlust ent-
standen. 125 Arbeitsverträge wurden gelöst. 400 weitere
Arbeitsplätze stehen auf der Kippe.

Wir müssen uns deshalb gerade bei dieser Debatte die
Frage stellen: Warum bleiben die Besucher denn aus?
Sind es vielleicht die zu hohen Hotelpreise, die ab-
schreckend wirken? Oder: Ich bringe ein kurzes Beispiel:
Eine Berliner Familie mit vier Kindern, die für einen Tag
nach Hannover fährt, wird mit zirka 530 bis 550 DM be-
lastet. Das kann sich nicht jedermann leisten. Ich könnte
das hier aufgegliedert vortragen, was aber den Rahmen
bzw. die Zeit sprengen würde.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Produkt ist zu teuer geworden! Das ist der springende Punkt!)


Ich meine deshalb: Hier ist einerseits das EXPO-Ma-
nagement und andererseits die Deutsche Bahn AG gefor-
dert, Überlegungen darüber anzustellen, inwieweit im
Laufe der verbleibenden 145 Tage zusätzliche Anreize
gegeben werden können, um vermehrt zu animieren, sich
dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen, sondern viel-
mehr mit dabei zu sein, weil die EXPO nicht mehr so
greifbar nahe sein wird: „Werbung, Werbung, Werbung“
ist das Zauberwort und das kostet Geld. Deshalb hat die
CDU/CSU-Fraktion ihren Antrag eingebracht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch überflüssig!)


Es bleibt deshalb zu wünschen, dass alles darangesetzt
wird, die Besucherzahlen zu steigern. Es wird weder ge-
lingen, die Zahlen von Sevilla, wo 1992 41,3 Millionen
Menschen die Weltausstellung besuchten, noch die von
Paris zu erreichen, wo im Jahre 1900 48,1 Millionen Men-
schen auf der damaligen Weltausstellung begrüßt werden




Ernst Hinsken

10205


(C)



(D)



(A)



(B)


konnten. Wir müssen anstreben, wenigstens einen Teil
davon zu erreichen. Wir sollten uns alle glücklich schät-
zen, wenn es uns gelingt, bei den Besucherzahlen mit ei-
ner Drei im 10-Millionen Bereich abzuschließen.

Wir haben als Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestages dann einen wesentlichen Anteil daran: Denn
wir haben animiert und angeschoben, um die EXPO viel-
leicht noch zu dem Erfolg zu führen, den wir ihr alle wün-
schen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410819500
Ich erteile dem Parla-
mentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1410819600
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1851 wurde die
erste EXPO in London veranstaltet und damals war das
Vereinigte Königreich das internationalste Land der Welt.
London war dabei der Mittelpunkt und der Treffpunkt für
die ganze Welt. Diese Begegnung wäre heute viel leichter,
damals war sie jedoch ein richtiges Experiment.

Ich komme gerade von Hannover und habe heute Prinz
Edward beim Nationentag des Vereinigten Königreichs
begleiten dürfen. Prinz Edward hat an die Entwicklung
und die Änderungen der EXPO erinnert und gleichzeitig
darauf hingewiesen, dass wir im heutigen Zeitalter – das
sage ich zu Herrn Lippelt –, gerade weil wir durch die
Elektronik die Ferne so nah geholt haben, auch wieder
eine Form von Sinnlichkeit und Anmut brauchen.

Wer einmal die EXPO erlebt hat, weiß, dass die EXPO
das leistet. Die EXPO 2000 bietet eine Vielzahl von un-
terschiedlichen Pavillons an. Sie brauchen sich nur ein-
mal den deutschen, den finnischen oder andere Pavillons
anzusehen.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den holländischen!)


– Den holländischen. Dies ist eine große Leistung. Wir
müssen den Gastländern noch einmal Dankeschön sagen,
die mit tollen Projekten zu uns gekommen sind.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nicht
verstehen – das sage ich den Kollegen der PDS –, dass Sie
zu den schärfsten Kritikern der EXPO geworden sind. Wir
investieren in die Korrespondenzregion Sachsen-An-
halt,wir machen ökologische Projekte in den neuen Bun-
desländern; ich erinnere an die Revitalisierung bei der
Braunkohle. Es gibt viele hundert spezielle EXPO-Pro-
jekte allein in den neuen Bundesländern. Sie müssten ei-
gentlich dankbar dafür sein, dass wir uns so stark enga-
gieren; denn es geht um die Zukunft und nicht darum, dass
man immer nur die Vergangenheit bewältigt. Das sind Zu-
kunftsprojekte in den neuen Bundesländern. Deshalb ver-
stehe ich Ihre Kritik überhaupt nicht.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. – Kersten Naumann [PDS]: Angesichts des Haushaltsdefizits wäre das auch ohne EXPO finanzierbar gewesen!)


Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass Herr
Hirche darauf hingewiesen hat, dass nicht nur der alte
Bundeskanzler seine Verdienste hat. Das wird überhaupt
nicht bestritten. Er hat sich dafür engagiert. Herr Brähmig,
ich nehme es Ihnen nicht übel, vielleicht haben Sie es
nicht direkt mitbekommen: Auch der neue Bundeskanz-
ler hat sich bei der damaligen Diskussion von Anfang an
vehement für das EXPO-Projekt ausgesprochen. Herr
Hirche hat hier vollständig Recht.


(Beifall bei der SPD)

Es war ein wichtiger Diskussionsprozess, weil es ihm

nicht darum ging, irgendeine Technik oder irgendeine
Veranstaltung an den besten Messeplatz der Welt zu ho-
len, sondern weil er davon überzeugt war, dass wir zu Be-
ginn des neuen Jahrhunderts über Visionen reden müssen.
Ich glaube, das ist das Spannende. Wir alle wissen: Es
geht nicht nur darum, dass wir fantastische Pavillons ha-
ben, dass wir viele Menschen zu einer Begegnung führen,
die sie über das Internet nie haben könnten. Wenn ich mir
den Veranstaltungskalender ansehe, wenn ich mir die
Diskurse ansehe, wenn ich mir die internationalen Be-
gegnungen ansehe, dann ergibt sich: Wir haben die
Chance, dass gemeinsam Visionen entwickelt werden,
dass wir ein offenes, ein gastfreundliches Land werden
und damit auch Einladungen aussprechen und dass wir
akzeptieren, dass man im 21. Jahrhundert interkulturelle
Zusammenarbeit braucht. Die EXPO bietet hierfür eine
Plattform, die wir nutzen sollten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich habe heute die Voraber-
gebnisse einer Repräsentativumfrage mitgebracht, die
in den nächsten Tagen veröffentlicht wird. Diese Befra-
gung ist an den ersten Tagen bei den Besuchern der EXPO
gemacht worden. Dabei kommt man zu folgendem Er-
gebnis: Beim Gesamturteil über die EXPO 2000 in Han-
nover geben 62 Prozent der Besucher, die dort waren, das
Urteil sehr gut bis gut ab. Von den Besuchern der ersten
Tage – nur darum geht es; es ist eine neue repräsentative
Umfrage – haben 60 Prozent die Meinung geäußert, dass
sie noch einmal zur EXPO kommen wollen. Diese Zahlen
sprechen dafür, dass die EXPO gute Chancen hat, zu ei-
ner Erfolgsveranstaltung, zu einer Success-Story zu wer-
den. Wir alle sollten nicht nörgeln und nicht mäkeln, son-
dern offensiv für die EXPO werben. Ich habe über die Par-
teien hinweg gehört, dass das auch die Absicht ist.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das sollten wir gemeinsam tun.
Wenn das Management der EXPO – Herr Hinsken und

andere Abgeordnete haben darauf hingewiesen – ver-
sucht, in der jetzigen Situation etwas zu korrigieren oder




Ernst Hinsken
10206


(C)



(D)



(A)



(B)


neu zu justieren oder entsprechende Signale zu setzen,
dann finde ich das richtig. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich muss Ihnen sagen: Die Entscheidung, Jugend-
gruppen einen besonderen Bonus einzuräumen, finde ich
völlig richtig. Ich begrüße diese Entscheidung ausdrück-
lich. Ich habe die herzliche Bitte an das Management der
EXPO, nicht nur Jugendgruppen der Kirchen – das ist
sehr wichtig – und Jugendgruppen der Sportvereine, son-
dern – lassen Sie mich das ganz simpel sagen – zum Bei-
spiel auch die Jugendfeuerwehr in diese Projekte einzu-
beziehen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Wir brauchen gerade auch diejenigen, die vor Ort ihre
Pflicht tun. Wenn das gelingt, wäre es ein deutliches Si-
gnal.

Die Bundesregierung unternimmt in diesen Tagen
große Anstrengungen – wir alle bemühen uns darum –,
damit die EXPO ein Erfolg wird. Ich habe bei der Eröff-
nungsveranstaltung – obwohl Abgeordnete des ganzen
Hauses anwesend waren – niemanden getroffen – egal,
von welcher Fraktion –, der enttäuscht war und der nach
dem ersten Rundgang gesagt hat: Das ist keine Chance.
Im Gegenteil: Viele haben gesagt, die EXPO 2000 in Han-
nover bietet uns eine große Chance, die wir gemeinsam
nutzen wollen. Wir alle strengen uns an.

An dieser Stelle möchte ich den vielen tausend Helfe-
rinnen und Helfern sowie Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern der EXPO für die Bewältigung der ersten Tage
danken. Sie haben damit gezeigt, dass sie sich mit Enga-
gement in eine Aufgabe gekniet haben, die weiß Gott
nicht einfach ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die TV-Anstalten in Deutschland erwägen zu prüfen
– das ist eine neue Anstrengung, auf die ich Sie hinweisen
möchte und die ich ausdrücklich unterstütze –, ob man
nicht im Rahmen einer konzertierten Aktion durch kos-
tenlose Werbung für die EXPO ein besonderes Signal set-
zen kann.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wird auch Zeit!)


Ich möchte das ausdrücklich unterstützen und begrüßen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass sich alle Anstalten,
private wie öffentlich-rechtliche, an dieser Aktion beteili-
gen.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410819700
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Schuchardt?

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1410819800
Selbstver-
ständlich.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410819900
Ich dämme die Zahl
der Fragesteller etwas ein, weil noch so viel auf der Tages-
ordnung steht. Deswegen gehe ich etwas zügiger voran.
Ich bitte Sie, dies nicht als unfair anzusehen. Eigentlich
wollte ich schon jetzt keine Zwischenfragen mehr zu-
lassen.

Frau Kollegin, Sie haben das Wort.


Prof. Dr. Erika Schuchardt (CDU):
Rede ID: ID1410820000
Herr Staats-
sekretär, ich finde es ausgezeichnet, dass Sie Jugend-
feuerwehren und ähnliche Jugendgruppen genannt haben.
Kann für den verbilligten Eintritt dieser Gruppen noch
eine Sonderfinanzierung vorgesehen werden? Wenn man
10 000 Jugendlichen, die während ihrer Ferien nicht in
den Urlaub fahren können, den Eintritt zur EXPO verbil-
ligte, dann würde das hochgerechnet ungefähr 0,5 Millio-
nen DM kosten. Dieser Betrag würde noch nicht einmal
1 Promille der genannten Defizite ausmachen. Hat das
Bonusprogramm für Jugendliche Priorität? Ich frage
das, weil Sie gerade von Jugendlichen als Werbeträgern
sprachen. Eine solche Aktion ließe sich doch mit einem
Wettbewerb um die beste Berichterstattung verbinden.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1410820100
Frau Kolle-
gin, wenn Sie gestatten, möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass ich nie von Jugendlichen als Werbeträgern
gesprochen habe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Erika Schuchardt [CDU/CSU]: Für die EXPO!)


Das wäre mir einfach zu schlicht und zu marketingmäßig.
Aber Sie können davon ausgehen, dass wir uns in der Sa-
che engagieren werden, damit das Bonusprogramm für
Jugendliche erfolgreich umgesetzt wird und damit auch
die Jugendfeuerwehren berücksichtigt werden. Ich
glaube, dass es gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts
ganz wichtig ist, mit jungen Leuten über Zukunft und Zu-
kunftsprojekte zu reden.

Ich habe heute, als ich gemeinsam mit Prinz Edward ei-
nen Teil der Pavillons besucht habe, festgestellt, dass sehr
viele Jugendliche an der EXPO interessiert sind und dass
viele Jugendliche verschiedener Nationalität miteinander
diskutieren. Nach meiner Meinung bietet die EXPO eine
einmalige Chance für Begegnungen, die wir nutzen soll-
ten. Deshalb begrüße ich die Initiative, einen Bonus für
Jugendliche einzuführen. Ich bitte nur darum, auch andere
Jugendgruppen in den Genuss dieses Bonus kommen zu
lassen. Wir können also aus dem Projekt EXPO etwas ma-
chen. Wir sollten das gemeinsam tun.

Ich möchte zum Schluss noch sagen, dass wir auch auf
das stolz sein können, was im deutschen Pavillon zu se-
hen ist.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Ja, eindeutig!)

Der deutsche Pavillon ist ein gelungenes Projekt. Wenn
man sich die Pre-Show mit den 50 Köpfen – von Beetho-
ven bis Steffie Graf, von Adenauer bis Joseph Beuys –,
die Deutschland ausmachen, anschaut – das ist natürlich




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf

10207


(C)



(D)



(A)



(B)


immer eine Geschmacksfrage –, dann kann man zufrieden
sein.


(Zuruf des Abg. Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU])


– Nicht so parteipolitisch, sondern richtig kulturell.
Deutschland ist eine Kulturnation. Deshalb machen wir
das nicht so platt wie Sie. Ich glaube, dass Ihr Kollege ne-
ben Ihnen, der gleich das Wort hat, nicht so platt wie Sie
ist und Ihre Plattheit ausräumen wird.

Nach einer Umfrage, die unter den Besuchern des deut-
schen Pavillons durchgeführt worden ist, haben 73 Pro-
zent den Pavillon als gut bis sehr gut bezeichnet. Von die-
sen – auch das hat man festgestellt; das ist ein großer Er-
folg – haben 93 Prozent die Absicht, wiederzukommen.
Auf der EXPO wird das Bild vermittelt, dass Deutschland
eine Ideenwerkstatt ist, dass es nicht fertig ist und dass es
dabei ist, an sich zu arbeiten und ein Modell im Sinne ei-
nes Laboratoriums der Moderne zu entwickeln.

Wenn wir die EXPO 2000 als Laboratorium der Mo-
derne verstehen, dann besteht die Chance, dass es nicht
nur eine Messe ist, sondern eine internationale Begeg-
nung mit kulturellem Tiefgang. Das sollten wir gemein-
sam nutzen. Wir sollten alles tun, damit es ein Erfolg wird.
Deshalb sollten wir bei dem, was jetzt ansteht, helfen.
Heute wurde mir berichtet, dass die Besucherzahl von
gestern bei weit über 100 000 lag. Auch bei meinem Be-
such heute war die EXPO wirklich gut besucht.

Ich habe den Eindruck, dass wir nach Pfingsten eine
sehr positive Entwicklung bekommen werden und dass
wir vielleicht, so ähnlich wie in Lissabon, am Ende sogar
eine sehr positive Bilanz ziehen können. Dazu müssen wir
alle mithelfen. Ich glaube, dass wir das alle wollen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410820200
Zum Abschluss dieser
Aussprache erteile ich dem Kollegen Dr. Friedbert
Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1410820300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem
Kollegen Staatssekretär Mosdorf für seine sachliche und
vorwärts orientierte Rede dankbar. In der Tat sollte es un-
ser aller Ziel in diesem Hause sein, diese EXPO, die erste
Weltausstellung auf deutschem Boden, mit etwas weniger
Meckern, Zweifeln, Selbstkritik usw. zu begleiten; viel-
mehr sollten wir uns dahinter stellen und stolz sein; denn
nur das ist eine gute Werbung für die EXPO. Das
braucht sie wirklich und das hat sie auch verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Art und Weise, wie sich der Kollege Lippelt von
den Grünen mit diesem Thema beschäftigt hat, spricht für
sich. Natürlich sagt auch er: Ich freue mich, wenn viele
kommen, und ich werbe auch. Aber im nächsten Satz zi-
tiert er Herrn Kornblum, ob das eigentlich noch zeitgemäß

sei. Aus jedem zweiten oder dritten Satz sprach die Scha-
denfreude darüber, dass bisher zu wenig Besucher ge-
kommen sind. Wenn wir an dieses Projekt so herangehen,
wie es die Grünen vom ersten Tag der EXPO an getan ha-
ben, dann können wir die Menschen für diese großartige
Weltausstellung in der Tat nicht begeistern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich will die Sache überhaupt nicht schönreden. Natür-

lich war der Start nicht besonders gut und darüber sollten
wir nicht hinwegschauen. Die Eröffnungsveranstaltung
und die Gala waren langweilig und die Besucherzahlen
sind nicht besonders hoch. Ich bin zwei Tage auf dem
EXPO-Gelände gewesen. Kollegin Schuchardt, die eben
eine Zwischenfrage gestellt hat, ist sogar schon vier Tage
da gewesen und hat sich alles genau angeschaut. Dasselbe
gilt für viele andere von uns.

Ich finde, dass sich der Besuch auf der EXPO wirklich
gelohnt hat. Er ist jedem zu empfehlen, weil es eben nicht
nur einfach eine Industrieshow


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


oder eine verbesserte Messe ist, sondern weil sich die
EXPO sehr ernsthaft mit dem Thema „Mensch, Natur,
Technik im 21. Jahrhundert“ beschäftigt.

Wir sollten in der Tat vielen kleinen Nationen aus der
Dritten Welt danken, die dort ganz fabelhafte Beiträge
präsentieren. Zum Beispiel haben sich Indien und die Ver-
treter aus Afrika mit ihren Pavillons sehr viel Mühe gege-
ben und es macht Spaß, sich deren Angebote anzu-
schauen. Dort lernt man etwas. Deswegen sollten wir ein
bisschen weniger über die negativen Aspekte reden. Auch
in Sevilla und in Lissabon ist es schleppend losgegangen
und hinterher waren es große Besuchererfolge. Werfen
wir also die Flinte jetzt nicht ins Korn! Nehmen wir die-
ses Projekt vielmehr mit ganzer Kraft und auch mit der
Unterstützung, wie sie die Kollegen Brähmig und
Hinsken hier vorgetragen haben, an!


(Beifall des Abg. Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU])


Ich fand es gut, dass Gerhard Schröder, unser Bundes-
kanzler


(Renate Gradistanac [SPD]: Euer?)

– ich habe und ich hätte ihn nicht gewählt; aber er ist nun
einmal der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland –,
den Stil gehabt hat, dem Vorgänger zu danken. Ich hätte
es gut gefunden, wenn Herr Gabriel, der niedersächsische
Ministerpräsident, den gleichen Stil gehabt hätte und zum
Beispiel Ernst Albrecht gedankt hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich hätte es für richtig befunden, wenn man auf der Eröff-
nungsveranstaltung zum Beispiel den Vorgängern von
Frau Breuel, Herrn Heede und Herrn Diener, die es am
Anfang sehr schwer hatten, ein Wort des Dankes gesagt
hätte.

Als hannoverscher Abgeordneter – wir Politiker sollten
uns nicht immer nur selbst feiern – richte ich einen Dank
an alle Kollegen dieses Hauses, zum Beispiel an die aus




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
10208


(C)



(D)



(A)



(B)


Bayern, aber auch an die aus Stade oder Osnabrück. Viele
Kollegen haben durch Bewilligungen von Geldern vor der
EXPO – für den Straßenausbau oder für den öffentlichen
Nahverkehr in Hannover – in ihren Wahlkreisen Opfer
bringen müssen. Sie haben ihre Umgehungsstraße nicht
bekommen, die ihnen eigentlich schon seit langem ver-
sprochen worden war. Ich finde, es gehört einfach dazu,
den Kollegen, auch denen aus dem Haushaltsausschuss,
die dafür ihren Kopf hingehalten haben, ganz herzlich
dafür zu danken, dass sie eine solche Mittelkonzentra-
tion auf Hannover und die Umgebung in den letzten Wo-
chen, Monaten und Jahren ermöglicht haben. Ganz herz-
lichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die gute
Zusammenarbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Mosdorf, Sie haben eben davon gespro-
chen, dass Sie gerade aus dem britischen Pavillon kom-
men, wo Sie Prinz Edward begleitet haben. Ich hoffe, dass
die Staatsgäste aus anderen Ländern ähnlich angemessen
betreut werden.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dann ist er aber nicht mehr da!)


Sie erlauben mir bitte auch die Frage, mit wem die
Bundesregierung den österreichischen Präsidenten,
Herrn Klestil, auf das EXPO-Gelände zu schicken ge-
denkt. Wird Herr Klestil, der demokratisch gewählte Prä-
sident, dort vernünftig betreut werden, vernünftig wahr-
genommen werden? Wir, die Unionsfraktion, hätten
jedenfalls kein Verständnis dafür, dass Frau Wieczorek-
Zeul nach Kuba fährt, um dort die Entwicklungshilfe wie-
der aufzunehmen bzw. zu verstärken, während gleichzei-
tig der demokratisch gewählte Präsident von Österreich
auf der EXPO mit der Kneifzange angefasst wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt bauen Sie nicht so einen Popanz auf! Das ist unerträglich! – Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist tiefste Provinz!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410820400
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit!


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1410820500
Das ist kein
Popanz und das hat nichts mit tiefster Provinz zu tun, ganz
im Gegenteil.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen doch gar nicht, was passiert!)


Wenn man den Präsidenten eines demokratischen und be-
freundeten Landes nicht angemessen wahrnimmt, wäre
das ein Skandal, für den ich mich als Hannoveraner Ab-
geordneter schämen würde, Herr Kollege.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auch Bundeskanzler Schüssel muß vernünftig empfangen werden!)


Ich habe hier angemahnt und gefragt, nichts weiter.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Herr Kollege, ich habe dazwischengerufen: Das wäre tiefste Provinz!)


Wir sollten – unabhängig von Meinungsverschieden-
heiten, die wir zum Beispiel über den Sinn oder Unsinn
von Sanktionen gegenüber Österreich haben – alle mitei-
nander dieses großartige Ereignis EXPO nicht von sol-
chen Sanktionen überschatten lassen. Wir sollten ein guter
Gastgeber für die ganze Welt sein. Das sollten wir alle
miteinander tun. Vielleicht gelingt es uns im Laufe der
nächsten Wochen und Monate, auch noch die Grünen von
dem hervorragenden Projekt und davon zu überzeugen,
dass es wirklich einen Beitrag zum Zusammenleben von
Mensch, Natur und Technik leistet, Herr Kollege Lippelt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1410820600
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 14/3374 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Jetzt bitte ich vor allem die Geschäftsführer um Auf-
merksamkeit. Ich rufe jetzt nämlich Tagesordnungspunkt
8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Lilo Friedrich

(Mettmann), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel (Ber-

lin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Cem Özdemir,
Marieluise Beck (Bremen), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Migrationsbericht
– Drucksachen 14/1550, 14/2389 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Lilo Friedrich (Mettmann)

Dr. Hans-Peter Uhl
Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Die vereinbarte Debatte muss nicht stattfinden, weil
alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.*) Das
nehme ich einmal so zur Kenntnis.

Damit komme ich gleich zur Beschlussempfehlung zu
dem Antrag der Fraktionen von SPD und des Bündnis 90/
Die Grünen zum Migrationsbericht, Drucksache 14/2389.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1550 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer folgt
dieser Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Das
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenom-
men.




Dr. Friedbert Pflüger

10209


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 7

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Hildebrecht Braun (Augsburg), Ernst Burgbacher,
Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
– Drucksache 14/3106 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulla
Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Pau, Dr. Roland
Claus und der Fraktion der PDS eingebrachten
Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes

(... StrÄndG)

– Drucksache 14/3309 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt

(Pforzheim), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weite-

rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Cem
Özdemir, Marieluise Beck (Bremen), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt
– Drucksache 14/3516 –

Auch hierzu sind alle Reden zu Protokoll gegeben wor-
den.*) Damit findet eine Aussprache nicht statt.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3106, 14/3309 und 14/3516 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 10 wurde abgesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Lamers, Christian Schmidt (Fürth), Dr. Andreas
Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine gemeinsame europäische Position in

(National Missile Defense)

– Drucksache 14/3378 –

Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-
den, sodass eine Aussprache nicht stattfindet.**)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3378 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen.– Ich sehe, dass Sie da-
mit einverstanden sind.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 sowie Zu-
satzpunkt 7 auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid

Becker-Inglau, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller

(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Na-
tionen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf – Welt-
sozialgipfel Kopenhagen + 5
– Drucksache 14/3515 –

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß (Emmendingen), Klaus-Jürgen Hedrich,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Sondergeneralversammlung der Vereinten Na-
tionen zur Umsetzung der Ergebnisse des Welt-

(Kopenhagen + 5)

– Drucksache 14/3504 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dage-
gen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Zu diesem Punkt liegen tatsächlich wieder Wortmel-
dungen vor. Insofern kann ich die Aussprache eröffnen.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Becker-Inglau, SPD-
Fraktion.


Ingrid Becker-Inglau (SPD):
Rede ID: ID1410820700
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Jahre ist es her,
dass der Weltsozialgipfel der Vereinten Nationen in Ko-
penhagen tagte. Der Bekämpfung von Armut, Arbeitslo-
sigkeit und sozialer Ausgrenzung wurde höchste Priorität
eingeräumt. Von allen Beteiligten wurde formuliert, dass
eine Liberalisierung von Wirtschaftspolitik und Welthan-
del allein nicht die Probleme von Armut und Ungleichheit
in der Welt lösen kann. In Kopenhagen verabschiedeten
weit über 100 Staats- und Regierungschefs gemeinsam
eine Erklärung mit zehn Verpflichtungen sowie ein darauf
aufbauendes Aktionsprogramm. Die zentrale Aussage des
Gipfels lautete: Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeu-
tung wie Wirtschaftsentwicklung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Soziale Gerechtigkeit und die Achtung aller Men-
schenrechte sind Voraussetzungen für Frieden und Si-
cherheit innerhalb eines Staates und zwischen Staaten.
Der UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellt hierzu in sei-
nem Bericht über die Umsetzung der Beschlüsse von Ko-
penhagen fest, dass man der sozialen Entwicklung eine




Vizepräsidentin Anke Fuchs
10210


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 8
**) Anlage 9

sehr viel höhere Priorität einräumt. Dies ist der wichtigste
Wechsel, der seit dem Gipfel in Kopenhagen stattgefun-
den hat. Verstärkte Aufmerksamkeit für die sozialen Di-
mensionen der Wirtschaftspolitik und eine größere Offen-
heit und öffentliche Debatte weltweit in den Industrielän-
dern und in den Entwicklungsländern kennzeichnen die
Zeit nach dem Gipfel in Kopenhagen.

Kopenhagen + 5 Ende Juni in Genf wird die bisherige
Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels über-
prüfen und darauf aufbauende Maßnahmen und Initi-
ativen beschließen. In vielen Bereichen gibt es bereits
jetzt Ansätze, die positiv zu nennen sind. Dennoch dürfen
wir die Augen nicht davor verschließen, dass sich die
Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern ver-
größert hat, ebenso die Kluft zwischen Industrieländern
und Entwicklungsländern.


(Beifall des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])


Deutliche Merkmale dafür sind Unausgewogenheit
beim Einkommen, beim Zugang zu sozialen Leistungen
sowie bei der Beteiligung an öffentlichen und zivilgesell-
schaftlichen Institutionen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Zu den positiven Veränderungen zählt ein verstärktes
Bekenntnis zu sozialer Entwicklung als übergeordnetes
Ziel von Regierungspolitik. Konkret bedeutet das, dass
heute immerhin 75 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in
Ländern mit einer Einschulungsrate von 70 Prozent und
mehr leben. Gleichzeitig gibt es aber immer noch etwa
130 Millionen Kinder, zum größten Teil in Subsahara-
Afrika, die keine Schule besuchen. Das ist für die Ent-
wicklung dieser Länder eine Katastrophe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Analphabetenrate ist in der Welt seit 1990 von
25 Prozent auf 20 Prozent gefallen, aber fast alle der etwa
900 Millionen Analphabeten leben in Entwicklungslän-
dern, zwei Drittel davon sind Frauen.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Leider!)

Hier liegt eines der Felder mit enormem Handlungsbe-
darf, denn wir alle stimmen wohl mit der Weltbank in der
Einschätzung überein, dass Investitionen in die Ausbil-
dung von Frauen und Mädchen die wichtigsten Investi-
tionen in die Zukunft überhaupt sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es besteht heute ein Konsens zwischen Politikern in
Subsahara-Afrika und den Entwicklungspartnern, dass
Entwicklungsanstrengungen insbesondere auf die Ar-
mutsreduzierung ausgerichtet sein müssen. 42 Prozent
aller Menschen in Subsahara-Afrika, das heißt etwa
300 Millionen Menschen, leben von weniger als 1 US-
Dollar pro Tag. Die relative Armut mag gesunken sein,
doch die absolute Zahl der Armen ist weltweit gestiegen.

Lokale und regionale Konflikte – ich erinnere an
Äthiopien und Eritrea – haben ebenso wie Naturkatastro-
phen, siehe Mosambik oder Nicaragua, Rückschritte bei
der sozialen Integration hervorgerufen, Seuchen wie Aids
raffen zum Beispiel in Uganda eine ganze Generation hin-
weg. Das Ausmaß dieser Katastrophe für die Zukunft, für
die Entwicklung eines solchen Landes ist, glaube ich, in
seiner gesamten Dimension noch gar nicht erfasst.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen also, dass
trotz der beachtenswerten Fortschritte noch immer ein un-
geheurer Handlungsbedarf besteht, wenn wir die Zahl der
Armen bis zum Jahre 2015 halbieren und unsere Welt so-
zial gerechter gestalten wollen.

Unserer Bundesregierung danke ich an dieser Stelle
dafür, dass sie einige wesentliche Initiativen zur Umset-
zung der Kopenhagener Beschlüsse ergriffen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte auf den internationalen Teil der Kopenha-
gener Verpflichtungen eingehen, der nur mit entwick-
lungspolitischen Strategien zu verwirklichen ist. Es war
daher konsequent, dass das BMZ die Federführung inner-
halb der Bundesregierung übernommen hat. Unserer Mi-
nisterin danke ich für den Einsatz, den sie auch in dieser
Sache gezeigt hat.

Ich möchte beispielhaft drei Aspekte herausstellen, die
deutlich machen, dass es ein internationales und insbe-
sondere ein entwicklungspolitisches Problem ist. Da ist
zum einen die 20 : 20-Initiative zu nennen. Dazu muss
man einfach sagen: Wenn wir Herrn Blüm damals nicht
gehabt hätten, hätte diese 20 : 20-Initiative auf dem Welt-
sozialgipfel nicht diese Bedeutung erlangt, wie dies jetzt
geschehen ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zum anderen sind die HIPC-Initiative und die Förde-
rung der Zivilgesellschaft zu nennen.

Die 20:20-Initiative gehört zu den konkreten und
schon deshalb oft zitierten Beschlüssen im Aktionspro-
gramm von Kopenhagen. Sie fordert Industrie- und Ent-
wicklungsländern Vereinbarungen ab, durchschnittlich je-
weils 20 Prozent der Mittel für öffentliche Entwicklungs-
zusammenarbeit und 20 Prozent des Staatshaushaltes für
soziale Grunddienste zur Verfügung zu stellen. Damit sol-
len wesentliche Bedürfnisse der Armen, die zur Überle-
benssicherung notwendig sind, abgedeckt werden.

Bisher wurden mit etwa 20 Ländern, zum Beispiel mit
Bolivien, Peru, Côte d‘ Ivoire und Burkina Faso, Verein-
barungen über die Umsetzung dieser Initiative getroffen.
Der Anteil für soziale Grunddienste, bezogen auf diese
Länder, beträgt unsererseits circa 25 Prozent. Die 20 Pro-
zent sind also kein absoluter Fixpunkt, sondern die Initia-
tive soll ein Grundverständnis und eine Grundrichtung
zum Ausdruck bringen, sie muss fortgeführt und fortent-
wickelt werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
auch dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass diese Initiative




Ingrid Becker-Inglau

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(C)



(D)



(A)



(B)


Teil der entwicklungspolitischen Gesamtstrategie der EU-
Kommission wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist überfällig!)


Bei der angestrebten Verkoppelung von Entschuldung
und Armutsbekämpfung in den HIPC-Ländern muss der
Förderung sozialer Grunddienste gemäß dem 20 : 20-An-
satz ein unverzichtbarer Stellenwert eingeräumt werden.

Für die soziale Entwicklung ist die Schaffung positiver
Rahmenbedingungen eine Notwendigkeit. Die HIPC-
Initiative ist hierbei ein entscheidender Schritt. In vielen
der ärmsten Länder verhindert die drückende Schulden-
last jegliche Entwicklung. So muss zum Beispiel Tansa-
nia neunmal so viel für den Schuldendienst aufwenden,
wie es für die Basisgesundheitsversorgung im Land zur
Verfügung hat. Entschuldung bleibt also eines der wich-
tigsten Ziele unserer Entwicklungspolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.])


Es ist nun unserer Bundesregierung gelungen, die
HIPC-Initiative zur Entschuldung der ärmsten Länder
entscheidend zu erweitern und voranzubringen. Vereinba-
rungsgemäß sollen die durch die Schuldenerleichterung
frei werdenden Mittel für armutsmindernde Maßnahmen
eingesetzt werden. Dazu sollen die Entwicklungsländer
unter Beteiligung ihrer Zivilgesellschaft Strategiepapiere
zur Armutsreduzierung ausarbeiten. Auch dies ist eine
fundamentale Änderung gegenüber der bisherigen Praxis,
nach der sich die Strukturanpassungsprogramme aus-
schließlich an makroökonomischen Gesichtspunkten orien-
tierten, ohne die sozialen Auswirkungen der Programme
zu berücksichtigen.

Umfassende Entschuldungspakete sind bereits für
Uganda, Mosambik, Bolivien, Mauretanien und Tansania
beschlossen. Es ist damit zu rechnen, dass die Länder
nach der Entschuldung im Durchschnitt nur noch weniger
als 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Schulden-
dienst aufwenden müssen. Dies ist eine echte Verbesse-
rung der Rahmenbedingungen. Dieser Weg muss fortge-
setzt werden.

Nun zu meinem letzten Punkt. Die Bedeutung der Zi-
vilgesellschaft kann nicht häufig genug betont werden.
Zu der guten Zusammenarbeit mit den deutschen Nicht-
regierungsorganisationen brauche ich keine Ausführun-
gen zu machen. Die Zusammenarbeit ist sinnvoll, not-
wendig und Teil unserer Entwicklungspolitik.

Aber es geht in diesem Fall auch um die Stärkung der
Zivilgesellschaft in unseren Partnerländern. Hier wurde
im Rahmen der Entschuldungsinitiative ein wesentlicher
Fortschritt erzielt, denn Good Governance ist Bedingung
für die Entschuldung wie für die Umsetzung der im Lande
entwickelten Armutsstrategien. Dazu gehört die Beteili-
gung des Parlaments – auch der Opposition – und der Zi-
vilgesellschaft, und das nicht nur als ein politisches
Credo, sondern als Voraussetzung für die politische
Durchsetzbarkeit der Armutsbekämpfung.

So ist es besonders wichtig, dass das BMZ diesem
Aspekt in bilateralen Verhandlungen besondere Aufmerk-
samkeit schenkt und weitere Finanzmittel bereitstellt.
Dieser Aspekt wurde bei unserer gestrigen Ausschuss-
anhörung noch einmal deutlich herausgestellt. In Genf
sollte darauf geachtet werden, dass in allen neu zu be-
schließenden Initiativen die Rolle der Zivilgesellschaft
und des Privatsektors sowie die zwingende Notwendig-
keit der Förderung von Frauen und Mädchen hervorgeho-
ben werden. Generell muss gelten, dass im Rahmen der
HIPC-Initiative frei werdende Mittel teilweise zur Unter-
stützung der Zivilgesellschaft eingesetzt werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410820800
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Ingrid Becker-Inglau (SPD):
Rede ID: ID1410820900
Der Sinn dieser Welt-
konferenzen wie der in Rio, Kairo, Peking und Kopen-
hagen sowie ihrer Überprüfung liegt darin, die Regierun-
gen und die Nichtregierungsorganisationen für diese The-
men in unserem Dorf „Welt“ zu sensibilisieren, sie für
eine gerechtere Welt zu mobilisieren und vor Augen zu
führen, dass heute niemand mehr alleine und unbeobach-
tet agieren kann. Unser vorliegender Antrag ist eine Hilfe
auf diesem Weg. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821000
Für die
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1410821100
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Beim Weltsozialgipfel
vor fünf Jahren in Kopenhagen haben sich die Staats- und
Regierungschefs auf gemeinsame Zielsetzungen zur
Bekämpfung der Armut, zur marktgerechten Förderung
der produktiven Beschäftigung, zur sozialen Integration
benachteiligter Gruppen sowie zum Aufbau sozialer Si-
cherungssysteme auf solidarischer Grundlage geeinigt.
Fünf Jahre später soll jetzt in Genf bei einer Sondergene-
ralversammlung Bilanz gezogen werden.

Die gemeinsamen Anstrengungen zur Bekämpfung
der Armut weltweit, was in Kopenhagen zentrales
Thema war, sind fünf Jahre später gleichermaßen not-
wendig. Bei allem Hin und Her sozial- und entwick-
lungspolitischer Debatten und trotz aller interessanten
Diskussionen über angeblich neue Ansätze oder Schwer-
punkte der Entwicklungszusammenarbeit gibt es für mich
keinen Zweifel, dass es auch für die Zukunft richtig ist,
unsere Politik prioritär am Ziel der Armutsbekämpfung
auszurichten.


(Zustimmung des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])


Deshalb fordere ich von der Sondergeneralversamm-
lung in Genf, dass das von der OECD ausgegebene Ziel,
die weltweite Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren,




Ingrid Becker-Inglau
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(C)



(D)



(A)



(B)


übernommen, bekräftigt und seine Umsetzung angegan-
gen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das heißt, dass auch die entsprechenden Instrumentarien
und finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt wer-
den. Es bedeutet nicht weniger Entwicklungszusammen-
arbeit, wie das derzeit leider von Rot-Grün praktiziert
wird, sondern mehr Entwicklungszusammenarbeit.

So wichtig die Entschuldung ist und so sehr die Ent-
schuldungsinitiative zu begrüßen ist: Die Entschuldungs-
initiative darf nicht zu einer großen Entschuldigung-
sinitiative werden. Es ist wahr: Entschuldung ist notwen-
dig. Die freigesetzten Mittel sollen für eigene Anstren-
gungen der Länder zur Armutsbekämpfung eingesetzt
werden. In den nächsten Jahren muss sich erst erweisen,
ob diese Kondition der Entschuldung erfüllt wird. Aber
Entschuldung ist kein Ersatz für Entwicklungszu-
sammenarbeit. Es bleibt ein Fakt, dass Bundeskanzler
Gerhard Schröder sein beim Genfer Gipfel gegebenes
Versprechen, die Entschuldungspolitik gleichzeitig durch
eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit zu er-
gänzen, gebrochen hat. Durch das Streichkonzert der rot-
grünen Bundesregierung wird den Entwicklungsländern
in den nächsten Jahren letztlich mehr genommen, als ih-
nen durch die Entschuldung gegeben wird. Das ist ein
trauriger Fakt.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört, hört! So ist das scheinbar! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber nur scheinbar!)


Eines der konkretesten Ergebnisse des Weltsozialgip-
fels vor fünf Jahren – Frau Becker-Inglau hat es vorgetra-
gen – war die auf maßgebliches deutsches Drängen zu-
stande gekommene 20:20-Initiative.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Was? Da müssen Sie im falschen Film sein!)


Wie notwendig es ist, diese Initiative umzusetzen, zeigt,
dass Länder wie zum Beispiel das von Ihnen erwähnte
Tansania noch heute 16 Prozent des Staatshaushaltes für
Verteidigung und 14 Prozent für Gesundheit und Bildung
zusammen ausgibt. In Uganda sind es 26 Prozent für Ver-
teidigung und 17 Prozent für Gesundheit und Bildung, in
Mosambik 35 bzw. 15 Prozent und in Indien 15 bzw.
4 Prozent. In den Ländern des Nordens ist die 20:20-
Initiative ebenfalls nur unzulänglich umgesetzt worden.

Nun stimmt es in der Tat, dass wir Deutschen bei den
Ländern, mit denen Deutschland eine konkrete Vereinba-
rung getroffen hat, die 20:20-Initiative umsetzen.
Aber insgesamt stellt Deutschland nicht 20 Prozent seines
Entwicklungshilfeetats für soziale Grunddienste zur
Verfügung. Es ist wesentlich weniger. Als besonders krass
fällt der Absturz zwischen den Haushaltsjahren 1999 und
2000 auf. Im Bereich der Grundbildung ist ein Rückgang
von 115 Millionen DM in 1999 auf nur noch 53 Milli-
onen DM in 2000 und im Gesundheitssektor von 235Mil-
lionen DM in 1999 auf nur noch 127 Millionen DM in
2000 zu verzeichnen. Ich finde, durch ihr schlechtes Bei-

spiel liefert die Bundesregierung ihrerseits den Entwick-
lungsländern einen Vorwand, die Verpflichtungen aus
dem Kopenhagener Weltsozialgipfel ebenfalls nicht ein-
zuhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach, Unsinn!)


Ihren Sinn kann die 20:20- Initiative übrigens nur dann
erfüllen, wenn die Mittel für die öffentliche Entwick-
lungshilfe erhöht und nicht gesenkt werden. Leider geht
da auch von Deutschland keine Trendwende aus. Im Rah-
men der Haushaltsplanung der rot-grünen Koalition – das
ist bereits vollzogen – wurde im Jahre 2000 nicht nur der
Entwicklungshilfeetat im Vergleich zu 1999 um 8,7 Pro-
zent abgesenkt. Vielmehr ist auch vorgesehen, dass der
Anteil der Entwicklungshilfe am Gesamthaushalt von
1,6 Prozent in 1999 auf einen Anteil von nur noch 1,3 Pro-
zent im Jahre 2003 abstürzen soll. Deswegen steht die
Bundesregierung in Genf im Hinblick auf diese hervorra-
gende, auf deutsche Initiative hin beschlossene 20:20-
Initiative mit leeren Händen da.

Ich kenne das von Ihnen vorgetragene Gegenargument:
die Haushaltssituation. Aber ich bin der Auffassung:
Wenn der Bund in den nächsten Jahren durch Privatisie-
rungen und durch Lizenzvergaben einmalige Einnahmen
in unwahrscheinlich hohem Ausmaß erwirtschaftet – ich
unterstütze, dass man das nicht für laufende Ausgaben
ausgibt –, dann könnte man diese Mittel teilweise in eine
Stiftung einbringen, durch die wir auf Dauer die Finan-
zierung der Entwicklungszusammenarbeit und der Maß-
nahmen zur Armutsbekämpfung verstetigen und gewähr-
leisten.

Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel ist
nicht nur eine Veranstaltung der Staats- und Regierungs-
chefs. Er wurde und wird von einem breiten Spektrum zi-
vilgesellschaftlicher Akteure mitbegleitet, von den
Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Nichtregierungs-
organisationen, den Stiftungen, den Frauenorganisatio-
nen, den Gewerkschaften sowie den Arbeitgeber- und
Unternehmerverbänden.

Es ist übrigens bezeichnend für das in vielen Staaten
der Welt vorherrschende schlechte Gewissen, dass im
Vorfeld des Genfer Gipfels die Beteiligung der Nicht-
regierungsorganisationen höchst umstritten war und dass
einige Regierungen ihren Vertretern kein Rederecht ein-
räumen bzw. die Teilnahme kontingentieren und regle-
mentieren wollten. Von daher finde ich es schade, dass
fünf Jahre nach dem Weltsozialgipfel in vielen Bereichen,
zum Beispiel auch bei der Frauenthematik, wieder die
gleichen Diskussionen geführt werden müssen wie vor
fünf Jahren. Offensichtlich haben sich in vielen Ländern
der Welt auch hinsichtlich der Mentalität keine Fort-
schritte ergeben.

In der Tat ist die Beteiligung von Mitgliedern der Zi-
vilgesellschaft ein wichtiges Element für eine nachhaltige
Entwicklung. Frau Kollegin Becker-Inglau hat bereits die
gestrige Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung erwähnt, die dies deut-
lich unterstrichen hat.




PeterWeiß (Emmendingen)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Nichtregierungsorganisationen sind Träger und Initia-
toren einer Vielzahl von Initiativen und Diensten aktiver
Armutsbekämpfung und des Aufbaus sozialer Grund-
dienste. Sie fungieren aber auch als wichtige Instrumen-
te der öffentlichen Kontrolle des Regierungshandelns
sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den Indu-
strienationen.


(Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD], Beifall spendend: Da Ihre Leute nicht klatschen, klatschen wir!)


Gerade die Kirchen und die Nichtregierungsorganisa-
tionen mit ihren ausgeprägten und gut funktionierenden
Partnerstrukturen nehmen eine wichtige Rolle wahr. Des-
wegen ist deren Beteiligung am Weltsozialgipfel und an
der weiteren Verwirklichung der Initiativen eine wichtige
Voraussetzung für deren Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel vor

fünf Jahren war für viele Menschen ein Zeichen der Hoff-
nung, dass die soziale Entwicklung zu einer zentralen
Zielsetzung und Aufgabenstellung der internationalen
Staatengemeinschaft wird. Die Zwischenbilanz fünf Jahre
später fällt unterschiedlich aus. Umso mehr sollten wir
uns für die Konferenz in Genf vornehmen, der sozialen
Entwicklung und der weltweiten Armutsbekämpfung eine
neue Dynamik zu verleihen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821200
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uschi Eid vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410821300
Herr
Präsident, ich möchte gern auf einige Punkte eingehen,
die von Herrn Kollegen Weiß angesprochen worden sind.

Erstens. Er fordert, dass sich die Staatengemeinschaft
jetzt darauf einigt, die Anzahl der Menschen, die in extre-
mer Armut leben, bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Ich
möchte dem Haus mitteilen, dass man sich schon bei der
Vorbereitung in New York auf dieses Ziel geeinigt hat.
Dies ist also auf dem besten Weg.

Zweitens. Ich möchte der Behauptung entgegentreten,
dass die 20:20-Initiative das Hauptziel des Sozialgipfels
von Kopenhagen war. Die 20:20-Initiative ist nur eine
Maßnahme von vielen, die gerade aber auch von deut-
schen Nichtregierungsorganisationen als Schwerpunkt
aufgegriffen worden ist. Wir sehen andere Initiativen zur
Armutsbekämpfung, wie zum Beispiel die HIPC-Ent-
schuldung, als eine ähnlich wichtige Aufgabe an. Diese
haben wir im Juni letzten Jahres auf dem Weltwirt-
schaftsgipfel in Köln auf einen guten Weg gebracht.

Drittens. Der Haushaltsetat sinkt; das ist richtig; das
bedauern wir alle. Aber – das sollte der Kollege Weiß ei-
gentlich wissen – unter der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung
ist der Einzelplan 23, also der Etat für Entwick-
lungszusammenarbeit, ständig gesunken, während die öf-

fentlichen Ausgaben jener Regierung für andere Bereiche
gestiegen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist der Kernunterschied zu der jetzigen Regierung: Je-
des Kabinettsmitglied unserer Regierung, jedes Ministe-
rium hat dazu beigetragen, die Ausgaben zu senken, um
diesen Haushalt, den Sie zerrüttet hinterlassen haben, zu
konsolidieren.


(Widerspruch bei CDU/CSU und F.D.P.)

Ich bitte Sie, dies hier endlich einmal zur Kenntnis zu
nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vierter und letzter Punkt: Die Nichtregierungsorga-
nisationen spielen in der Tat – da gebe ich Ihnen Recht –
eine sehr wichtige Rolle. Wir haben das gestern wieder
gemeinsam in der AWZ-Anhörung gesehen. Herr Weiß,
ich möchte Sie doch einmal bitten: Nehmen Sie endlich
zur Kenntnis, dass für die Arbeit der Nichtregierungsor-
ganisationen 35 Millionen DM zur Verfügung stehen und
dass es gerade auch die Fach- und Haushaltspolitiker des
Deutschen Bundestages waren, die dazu beigetragen ha-
ben, dass der Etat so ausgefallen ist. Ich glaube, dies ist
ein deutliches Zeichen dafür, dass es hier im Bundestag
eine Gemeinsamkeit in der Frage der Unterstützung von
Nichtregierungsorganisationen gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821400
Herr Kol-
lege Weiß, möchten Sie darauf reagieren? – Bitte schön.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1410821500
Frau
Staatssekretärin Dr. Eid, dass wir uns in der Zielsetzung
einig sind, bis zum Jahr 2015 das ehrgeizige Ziel der Hal-
bierung der Anzahl der Menschen, die in extremer Armut
leben, zu erreichen, ist erfreulich und wird von mir nicht
in Frage gestellt. Aber die entscheidende Frage ist doch:
Stellen wir auch die Instrumentarien und Mittel zur Ver-
fügung, um dieses Ziel zu erreichen?


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Unter den Instrumentarien und Mitteln war und ist die
20:20-Initiative,


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Mittel!)


nämlich dass unsererseits 20 Prozent der Entwicklungs-
hilfe für soziale Grunddienste zur Verfügung gestellt wer-
den und dass andererseits die Entwicklungsländer 20 Pro-
zent ihres Haushalts für soziale Grunddienste zur Verfü-
gung stellen, ein sehr konkretes und effektives Mittel.

Deswegen ist es schade, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland dieses Ziel nicht erreichen, sondern darunter
bleiben. Deswegen fordern wir, denke ich, zu Recht, dass
das Ziel der 20:20-Initiative nicht nur für die Länder, mit




PeterWeiß (Emmendingen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


denen wir es konkret vereinbart haben, sondern generell
zum Ziel der Haushaltspolitik wird.

Verehrte Frau Kollegin Eid, dies kann eben nicht durch
die Entschuldungsinitiative ersetzt werden. Die Ent-
schuldungsinitiative ist notwendig und richtig.


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird nichts ersetzt!)


Sie ersetzt aber nicht – dies haben Sie ja im Dokument des
Kölner Gipfels erklärt – die Notwendigkeit, die Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen.

Nun haben Sie Recht – das gebe ich gerne zu –, wenn
Sie sagen, dass der Entwicklungshilfeetat, was seinen
Anteil am Bundeshaushalt anbelangt, in den letzten Jah-
ren in Zickzackbewegungen abgesunken ist. Aber, sehr
verehrte Frau Kollegin Eid, das Argument der ständigen
Debatten, das immer gebracht wird, ist doch kein Argu-
ment, um nun seitens der rot-grünen Koalition den Ent-
wicklungshilfeetat auf einen historischen Tiefstand son-
dergleichen herunterzuführen. Dafür ist dies wahrhaftig
kein Argument.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist auch kein Argument dafür, dann, wenn man den

Bundeshaushalt um 1,6 Prozent abschmilzt, den Entwick-
lungshilfeetat um 8,7 Prozent abzuschmelzen. Es ist auch
kein Argument dafür, dass Sie nach Ihrer mittelfristigen
Finanzplanung die Mittel des Bundeshaushaltes in den
nächsten Jahren wieder erhöhen wollen, aber den Haus-
halt des Entwicklungshilfeministeriums weiterhin tief
nach unten sinken lassen.

Deswegen behaupte ich: Diese rot-grüne Koalition
steht in Kopenhagen mit leeren Händen da. Das, was Sie
als Gegenargumente vortragen, ersetzt bei weitem nicht
das, was Sie als Schaden für die Entwicklungszusam-
menarbeit und die internationale Glaubwürdigkeit
Deutschlands anrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821600
Für
das Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Dr. Angelika Köster-Loßack das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Genf findet die Fol-
gekonferenz zum Kopenhagener Weltsozialgipfel statt.
Dabei geht es um eine Zwischenbilanz des weltweiten
Kampfes gegen Armut, Erwerbslosigkeit und insbeson-
dere auch gegen soziale Ausgrenzung, der von den vori-
gen Rednern beschrieben worden ist.

Zu den nationalen Verpflichtungen möchte ich sagen,
dass die neue Regierung erste Reformen zu einer spürba-
ren Senkung der Erwerbslosigkeit bei uns gestartet hat.
Die Steuerreform stärkt die Binnennachfrage und entlas-
tet die Unternehmen. Die Konjunktur springt an und die
Erwerbslosenzahlen gehen zurück. Das Programm gegen
Jugendarbeitslosigkeit gibt mehr Jugendlichen Hoffnung
auf eine berufliche Zukunft. Nach langen, verlorenen Jah-
ren wird der Reformstau bei uns endlich aufgelöst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch ein Armutsbericht, der jahrelang vergeblich bei
der alten Regierung angemahnt wurde, wird im Jahre
2001 erstellt.

Damit wird Deutschland seine Verpflichtungen endlich
erfüllen, die es in Kopenhagen eingegangen ist.

Kommen wir nun zur internationalen Situation: Da
sieht es leider nicht so positiv aus. Einerseits gab es zwar
durchaus Verbesserungen für die soziale Lage vieler Men-
schen, beispielsweise eine Erhöhung der Lebenserwar-
tung und auch bessere Ausbildungsbedingungen. Die
Zahl der Erwachsenen, die lesen und schreiben können,
hat sich seit 1970 weltweit mehr als verdoppelt. Auf der
anderen Seite ist die internationale Staatengemeinschaft
noch sehr weit von ihrem angestrebten Ziel entfernt, die
extreme Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren.

Armut, Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung ha-
ben viele Ursachen – bei uns, aber auch in den Ländern
des Südens. Die Verantwortung liegt natürlich in erster Li-
nie bei den Staaten selbst, Verbesserungen in ihrem Land
umzusetzen. Wenn wir ein Instrument wie Public Private
Partnership bei uns entwickeln, stünde es vielen Ländern
im Süden ebenfalls gut an, dieses Instrument in ihrem ei-
genen Kontext ebenfalls zu entwickeln. Es reicht nicht
aus, dass nur die Länder des Nordens die Wirtschaft und
auch private Institutionen und Geldgeber als wichtigen
Faktor einbeziehen; vielmehr müssen sich auch die Rei-
chen und die großen Industrien im Süden daran beteiligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Brasilien!)


Darauf haben wir natürlich nur begrenzten Einfluss.
Wir können aber durch den Politikdialog Verbesserungen
befördern, indem wir immer wieder die Beachtung ele-
mentarer menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Stan-
dards zur Grundlage nicht nur unserer Entwicklungspoli-
tik, sondern auch unserer Außen- und nicht zuletzt unse-
rer Außenwirtschaftspolitik machen. Dazu muss hier
natürlich noch einiges an den Instrumentarien geändert
werden; ich nenne insbesondere die Reform der Hermes-
Bürgschaften.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit haben

wir einige Schritte getan, so beispielsweise in den Ver-
handlungen um das Lomé-Folgeabkommen mit der Ver-
ankerung von Good Governance. Das bezieht sich nicht
nur auf die Länder des Südens, sondern auch auf unsere
eigenen Länder im Norden.

Auch die jetzt vorgelegte Länderliste macht deutlich,
dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in
Zukunft auf die Länder konzentrieren wird, in denen Re-
formen intern schon am Laufen sind und eine Zusam-
menarbeit zur Armutsbekämpfung, zum Umweltschutz
und zum Aufbau von Bildungseinrichtungen sinnvoll ist.
Da, wo Regierungen im Süden überhaupt nicht zur Ko-
operation bereit sind, also keine Ownership für diese Ent-
wicklungen übernehmen, können wir uns nämlich noch so
abstrampeln; trotzdem wird dort nichts passieren.




PeterWeiß (Emmendingen)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Das Gießkannenprinzip, nach dem die alte Regierung
verfahren ist, wird jetzt durch eine durchdachte Konzen-
tration der Entwicklungszusammenarbeit ersetzt. Um
nachhaltige Lösungen für die Probleme der Länder des
Südens voranzutreiben, ist eine grundlegende Verände-
rung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nötig.
Im Verständnis von Entwicklungspolitik als internationa-
ler Strukturpolitik ist es deshalb besonders vordringlich,
bei uns die Kohärenz zwischen den Ressorts zu verbes-
sern. Gleichzeitig muss auch intensiv auf eine demokrati-
sche Öffnung der internationalen Finanzinstitutionen und
auf Transparenz bei der WTO hingearbeitet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei der erfolgreichen Entschuldungsinitiative wird
klar, dass die rot-grüne Bundesregierung längst überfäl-
lige Lösungen für entscheidende Probleme der Entwick-
lungsländer vorantreibt. Wichtig in diesem Zusammen-
hang ist, dass mit der Entwicklung der neuen Ar-
mutsbekämpfungsstrategien von IWF und Weltbank si-
chergestellt werden soll, dass zum einen das eingesparte
Geld tatsächlich den Systemen der sozialen Grundsiche-
rung zugute kommt. Zum anderen aber muss auch die Zi-
vilgesellschaft grundsätzlich in diesen Prozess einbezo-
gen werden, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in
den Ländern des Südens. In einem klaren Politikdialog
muss hier noch sehr viel erreicht werden. Ich verweise
auch auf die interessanten Ergebnisse unserer Anhörung
von gestern.

Das zentrale Ergebnis von Kopenhagen war, dass der
sozialen Entwicklung die gleiche Bedeutung wie der wirt-
schaftlichen Entwicklung zukommt. Das heißt auch, dass
man diese beiden Formen von Entwicklung nicht vonein-
ander trennen kann. Wenn Statistiken über Durch-
schnittseinkommen auch in so genannten Schwellenlän-
dern angeführt werden, muss man wissen, dass diese Sta-
tistiken natürlich nur den offiziellen Markt betreffen und
den gesamten informellen Sektor außen vor lassen.

Selbstverständlich müssen wir die Entwicklungsländer
bei einer Politik unterstützen, die wirtschaftliches Wachs-
tum ermöglicht, allerdings ohne dass die Ausbeutung der
ökologischen Grundlagen fortgeführt wird. Die inter-
nationale Umweltpolitik hat deswegen einen besonderen
Stellenwert im neuen Zusammenwirken von Außen-, Ent-
wicklungs- und Wirtschaftspolitik erhalten.

Grundlage für alle sozialen Entwicklungen und Ver-
besserungen ist aber die Sicherung des Friedens. Hier hat
Rot-Grün erste Maßnahmen für eine zivile Krisenpräven-
tion auch im Bereich Nord-Süd umgesetzt.

Auch die Waffenexportrichtlinien wurden reformiert,
sodass in Zukunft der Export von Waffen in Spannungs-
gebiete ausgeschlossen werden soll. Wir sehen in Regio-
nen wie dem südlichen Afrika, dass das für eine nachhal-
tige und friedliche Entwicklung ganz entscheidend sein
wird.

Das heißt in diesem Zusammenhang natürlich, dass
wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel vollzogen ha-
ben, die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit
nach einer dringend benötigten Haushaltskonsolidierung

wieder spürbar anheben müssen. Denn wer die zentralen
weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich
verändern will, braucht dafür Geld.

Ich begrüße ausdrücklich die intensive Einbeziehung
der Zivilgesellschaft in den Vorbereitungsprozess für den
Genfer Gipfel. Diese Erfahrungen dürfen nicht vernach-
lässigt werden. Ich möchte daher noch einmal auf die Aus-
führungen des Kollegen Weiß zurückkommen und sagen,
dass die Bundesregierung in Verhandlungen mit einigen
Staaten schon entsprechende Vereinbarungen zur 20:20-
Initiative getroffen hat. Wir sind in diesen Fällen bei
24 Prozent.

Auf den Weltgipfeln der Vereinten Nationen, insbeson-
dere auf dem Weltsozialgipfel, wird ein Bewusstsein
dafür geschaffen, dass die zentralen Probleme der
Menschheit wie Armut, Ungleichheit, Hunger und Um-
weltgefährdungen nur gemeinsam gelöst werden können
und dass das Umdenken durch den Politikdialog ständig
befördert werden muss. Das heißt aber auch, dass die In-
dustrieländer nicht nur eine Verpflichtung haben, mit den
ärmeren Ländern bei der Lösung ihrer Probleme zu disku-
tieren, sondern auch partnerschaftlich mit ihnen zusam-
menarbeiten. Die Industrieländer müssen bei sich selbst
anfangen und ihre Produktions- und Lebensweise verän-
dern, wenn die globalen Probleme gelöst werden sollen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821700
Für die
F.D.P. hat nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer das
Wort.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1410821800
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sondergeneralver-
sammlung der Vereinten Nationen Kopenhagen + 5, die
Ende Juni in Genf stattfinden wird, wird eine erste Zwi-
schenbilanz über die Umsetzung der Beschlüsse des Welt-
sozialgipfels von Kopenhagen ziehen. Fünf Jahre ist er
jetzt her und viele Regierungen haben eine Menge an An-
strengungen unternommen. Es hat Fortschritte und Rück-
schläge in der Dritten Welt gegeben, aber die Ziele, die in
Kopenhagen beschlossen worden sind, bleiben nach wie
vor auch aus liberaler Sicht gültig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erstens. Die Globalisierung bringt neue Herausforde-
rungen, aber auch neue Chancen für die Entwicklungszu-
sammenarbeit. Die Beispiele einiger Schwellenländer be-
legen, dass es das vornehmste Ziel sein muss, aus der
Abhängigkeit von Entwicklungshilfe herauszukommen


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und damit sicherzustellen, dass Entwicklungshilfe nicht
zur Weltsozialhilfe wird. Spätestens seit dem Weltgipfel




Dr. Angelika Köster-Loßack
10216


(C)



(D)



(A)



(B)


für soziale Entwicklung ist dies ein anerkanntes Ziel, das
aber auch in der täglichen Politik um- und durchgesetzt
werden muss.

Die in Kopenhagen beschlossene so genannte
20:20-Initiative, nach der das Partnerland 20 Prozent sei-
nes Budgets und Regierungen – auch die Bundesregie-
rung – 20 Prozent ihrer Hilfe für soziale Grunddienste zur
Verfügung stellen, wird in der deutschen Entwicklungs-
hilfe hoffentlich auch in Zukunft berücksichtigt. Dies ist
eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen dafür, dass
Entwicklung stattfinden kann.

Zweitens. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist
und bleibt in der Tat das Fundament für eine nachhaltige
Entwicklung. Menschenrechte und deren Absicherung
durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören un-
trennbar zusammen. Sie müssen daher im Mittelpunkt
aller Entwicklungsbemühungen stehen.

Schon die alte Bundesregierung hat deswegen die Zu-
sammenarbeit zur Entwicklung von Justizsystemen be-
sonders vorangetrieben, aber auch die Entwicklung unab-
hängiger Medien und Maßnahmen zur Demobilisierung
von Soldaten aus Bürgerkriegen. Leider mit sehr unter-
schiedlichem Erfolg.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Halbherzig!)

– Halbherzig, Herr Kollege Schuster, möchte ich nicht sa-
gen, sondern: schwierig, weil andere Arbeitsplätze kaum
zur Verfügung stehen. Wer ein Gewehr hat, hat immer
noch die Macht und deswegen eine bessere Grundlage,
seine Existenz zu sichern. Auch das ist etwas, was wir bei
der Beendigung von Bürgerkriegen und bei der Einleitung
von Entwicklungen nie übersehen sollten.

Politische Bildungsarbeit, menschenrechtsbezogene
Ausbildung von Kräften im Sicherheits- und Vollzugsbe-
reich sind eine Maßnahme, um die Zivilgesellschaft zu
entwickeln und zu stabilisieren.

Good Governance – das Synonym dafür, dass Korrup-
tion von Regierungen nicht Platz greift, sondern die
Zivilgesellschaft im Gegenteil wirklich das Sagen hat –
muss zur überprüfbaren Voraussetzung für Entwicklungs-
zusammenarbeit werden. Eine Kopplung von Entwick-
lungshilfe und guter Regierungsführung ist nicht etwa
Auswuchs einer neokolonialistischen Bewegung und Be-
vormundung, sondern Konsequenz der globalen Verant-
wortungsgemeinschaft.

Drittens. Es besteht nach wie vor der Grundsatz der
Hilfe zur Selbsthilfe. Ohne Reformwillen und Eigenan-
strengungen in Staat und Gesellschaft der Partnerländer
können auch Maßnahmen von außen nichts bewirken.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Entwicklungspolitik kann nur komplementär sein und
darf Eigeninitiative nicht ersetzen. Entwicklungsländer
sind nicht von ihrer Verantwortung zur primären Eigen-
vorsorge entbunden. Deswegen müssen erfolgreiche wirt-
schaftliche, soziale und rechtsstaatliche Reformen im na-
tionalen Bereich die Grundlage sein. Priorität genießt

dabei die Bildung, daneben aber auch öffentliche Infra-
struktur, der Finanzsektor und die Förderung der Privati-
nitiative.

Armutsbekämpfung – das ist nun ein besonderer Be-
reich – ist an die Zukunft der Frauen geknüpft und an die
Entwicklung der Chancen von Frauen gebunden. Selbst-
hilfeorientierte Armutsbekämpfung ist immer dort beson-
ders erfolgreich, wo Kleinprojekte durch Kredite an
Frauen gefördert werden; denn Frauen haben sich als be-
sonders kreditwürdig und auch zuverlässig erwiesen.
Deswegen sind sie der Träger der Entwicklung in vielen
Ländern überhaupt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daneben muss allerdings eine besondere Anstrengung
für eine breite Alphabetisierung verwendet werden, ins-
besondere für die der Frauen. Frauen werden zu häufig zu
häuslichen Diensten herangezogen, als dass sie tatsäch-
lich die Bildungschancen nutzen könnten, die ihnen nach
den Buchstaben des Gesetzes auch in vielen Entwick-
lungsländern zustünden. Alphabetisierung ist die Grund-
lage dafür, dass die Entwicklung über einen anfänglichen
Status der Notwendigkeit hinauskommt.

Viertens. Marktwirtschaftliche Strukturen: Soziale
Marktwirtschaft ist das effizienteste System. Freihandel –
auch das, was dort in den letzten Jahren für die Entwick-
lungsländer verhandelt worden ist – ist eine gute Grund-
lage für die wirtschaftliche Entwicklung. Das sage ich
auch in Bezug auf die Europäische Union,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


die mit ihrem nach wie vor existierenden Agrarprotektio-
nismus nicht zur Entwicklung beiträgt.


(Zustimmung bei der SPD)

Fünftens und letztens. Verschuldung an sich ist kein

Makel, sondern ein normaler und ökonomisch sinnvoller
Vorgang. Dies setzt jedoch voraus, dass mit dem Geld
tragfähige wirtschaftliche Investitionen und Produktions-
steigerungen erwirtschaftet werden. Deswegen sind wirt-
schaftspolitische Reformen von dringender Notwendig-
keit.

Meine Damen und Herren, vieles ist gemacht worden.
Der Sozialgipfel von Kopenhagen hat eine Grundlage für
eine vernünftige Entwicklung gelegt. Diese Bundesregie-
rung ist aufgefordert eine Trendwende herbeizuführen –
auch mit mehr Geld, Frau Kollegin Eid –, damit diesen
Zielen Rechnung getragen werden kann.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hätte so gern geklatscht, Frau Kollegin!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410821900
Als
nächster Redner hat Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.




Dr. Irmgard Schwaetzer

10217


(C)



(D)



(A)



(B)



Carsten Hübner (PDS):
Rede ID: ID1410822000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Im Verlauf der Debatte ist bereits
darauf hingewiesen worden, dass der erste Sozialgip-
fel der Vereinten Nationen 1995 in Kopenhagen mit
anspruchsvollen Selbstverpflichtungen aller UN-Mit-
gliedstaaten endete, die sich im Kern um zwei Maßnah-
men drehten, nämlich erstens den Aufbau eines Systems
internationaler Zusammenarbeit für soziale Entwicklung
und zweitens die Stärkung der staatsinternen Sozial- und
Beschäftigungspolitik.

Die Bilanz nach fünf Jahren ist ernüchternd und be-
schreibt eine gegenläufige Tendenz. Armut und Elend
greifen global weiter um sich, sowohl in den reichen Staa-
ten des Nordens als auch in den Entwicklungsländern,
natürlich entsprechend der jeweiligen Ausgangslage. So
leben weltweit gegenwärtig insgesamt 1,3 Milliarden
Menschen unter der Armutsgrenze. Die strukturell unge-
rechte Weltwirtschaftsordnung und Reichtumsverteilung
als wesentliche Ursache von Unterentwicklung und Ent-
rechtung haben im Zuge der fortschreitenden neoliberalen
Globalisierung und Deregulierung in den letzten fünf Jah-
ren weiter an Dynamik gewonnen. Es ist eine verhängnis-
volle Dynamik. Weiterhin sind es vor allem die Frauen,
die weltweit am stärksten davon betroffen sind. Das ist die
Ausgangslage und die Herausforderung für die Nachfol-
gekonferenz Ende Juni in Genf.

Meine Redezeit ist mit vier Minuten knapp bemessen.
Erlauben Sie mir deshalb, mich auf einige Kernforderun-
gen an den Konferenzverlauf und auf die daraus resultie-
renden Maßnahmen zu beschränken.

So erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie sich
in Genf selbstkritisch einer Analyse der Armutsentwick-
lung stellt, um die bisherigen Maßnahmen der dramati-
schen Situation entsprechend weiterzuentwickeln, gege-
benenfalls zu reformieren oder gar zu revidieren. Dazu
müssen besonders die bereits angesprochene 20:20-Initia-
tive, die Kölner Entschuldungsinitiative, die Strukturan-
passungsprogramme, die Maßnahmen der Frauenförde-
rung oder das Konzept der Public Private Partnership
gehören.

Darüber hinaus sollte sich die Bundesregierung in
Genf vor allem für die Implementierung der zehn Forde-
rungen der weltweiten „Koalition für globale Solida-
rität und soziale Entwicklung“ aussprechen und sich
auch nach der Konferenz in Genf aktiv an diesem inter-
nationalen Prozess beteiligen. Kern dieses Prozesses ist
es, der neoliberalen Globalisierung der Ökonomie endlich
eine tragfähige Struktur weltweiter sozialer Standards und
gerechter, nachhaltiger Entwicklungschancen entgegen-
zusetzen.

Ansätze dafür liegen seit langem auf dem Tisch, etwa
die Einführung einer Tobin-Steuer, die grundlegende Re-
form der Strukturanpassungsmaßnahmen unter Beteili-
gung der Zivilgesellschaft, eine angemessene Intensivie-
rung der finanziellen wie strukturellen Maßnahmen zur
Halbierung der weltweiten Armut bis 2015, die Erfüllung
des vereinbarten Wertes von 0,7 Prozent des Bruttosozi-
alprodukts für staatliche Entwicklungspolitik und natür-
lich ganz besonders die Förderung von Frauen in den Pro-
grammen der Armutsbekämpfung und Entwicklung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann es nicht oft
genug sagen: Nicht schöne Worte und wohlfeile Er-
klärungen im Anschluss an Konferenzen sind gefragt,
sondern grundsätzliche Reformen, die den Menschen des
armen Südens endlich die Entwicklungschancen eröff-
nen, die ihnen zustehen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zeit drängt, und das gilt ganz konkret für jeden ein-
zelnen Menschen, der heute schon nicht weiß, wovon er
sich morgen ernähren soll, wo sein Kind zur Schule oder
zum Arzt gehen kann.

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410822100
Das Wort
hat jetzt Kollege Peter Dreßen von der SPD-Fraktion.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1410822200
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeutung
wie die Wirtschaftsentwicklung – so die zentrale Aussage
in Kopenhagen vor fünf Jahren. Ist dies im Zeitalter der
Globalisierung wirklich so? Wird der Sozialentwicklung
der gleiche Stellenwert beigemessen? Werden zum Bei-
spiel die Kernarbeitsnormen in allen Ländern eingehal-
ten?

Es wäre traumhaft, wenn ich diese Fragen mit Ja be-
antworten könnte. Dann würden keine Kinder mehr zur
Arbeit gezwungen oder gar verkauft werden. Dann gäbe
es keine sexuelle Ausbeutung, keine Haushaltssklavin-
nen, keine Kinder im Drogenhandel und keine reichen
Scheichs, die Kinder als Jockeys für Kamelrennen kau-
fen. Dann könnten sich Arbeitnehmer ohne drohenden
Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Gefahr für Leib und
Leben frei in Vereinigungen treffen. Dann würden Frauen
nicht benachteiligt, sondern gleich entlohnt und Mädchen
hätten in der ganzen Welt die gleichen Chancen auf Bil-
dung. Dies alles ist fürwahr ein Traum.

Während sich in den vergangenen Jahren die Globali-
sierung der Wirtschaft in rasantem Tempo fortsetzte, sind
die politischen Fortschritte bei der Bekämpfung der Ar-
mut, der Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Besei-
tigung von Diskriminierung und Ausgrenzung sehr be-
scheiden. Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut
leben, ist seit 1995 sogar noch gestiegen. Finanzkrisen ha-
ben die soziale Lage in einer Reihe von asiatischen und la-
teinamerikanischen Staaten sowie in Russland sogar stark
verschärft.

Wenn nun in Genf auf dem Weltsozialgipfel Kopenha-
gen + 5 Bilanz gezogen wird, werden wir sehen, dass noch
viel vor uns liegt, um der zentralen Aussage „Sozialent-
wicklung hat den gleichen Stellenwert wie die Wirt-
schaftsentwicklung“ näher zu kommen. Sicher hat Ko-
penhagen etwas bewegt und Deutschland hat daran einen
wesentlichen Anteil. Erinnert sei an die erweiterte HIPC-
Entschuldungsinitiative, die auf dem Weltwirtschaftsgip-
fel 1999 in Köln auf den Weg gebracht wurde und zu der






(C)



(D)



(A)



(B)


die Bundesregierung einen umfassenden Finanzierungs-
beitrag leistet.

Ich begrüße es sehr, dass sich die Bundesregierung ak-
tiv für die Einhaltung der Kernarbeitsnormen und der
Konvention gegen die Kinderarbeit einsetzt sowie die
ILO umfassend bei dem internationalen Programm zur
Abschaffung der Kinderarbeit fördert und unterstützt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So entspricht die Gesamtorientierung der deutschen Ent-
wicklungspolitik den Beschlüssen des Kopenhagener
Gipfels.

Aber auch bei der Umsetzung der Verpflichtung und
Beschlüsse von Kopenhagen auf nationaler Ebene erle-
digt die Bundesregierung ihre Hausaufgaben. So wurde
ein nationaler Armutsbericht, dem sich die CDU/CSU und
die F.D.P. in der Vergangenheit stets verweigerten, einge-
führt, die Familien entlastet, das Programm zur Bekämp-
fung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt, die Gespräche
des Bündnisses für Arbeit initiiert und Reformanstren-
gungen zur Zukunftsfestigkeit der sozialen Sicherungssy-
steme unternommen.

Was muss in Genf in Angriff genommen werden, damit
der Traum, den ich eingangs beschrieben habe, endlich
Wirklichkeit werden könnte? Zunächst gilt es, die bishe-
rige Umsetzung zu prüfen und dann neue Initiativen zu
vereinbaren. Diese neuen Initiativen sollten dazu beitra-
gen, das Aktionsprogramm von Kopenhagen umzusetzen.
Dabei müssen wir neuere Entwicklungen berücksichti-
gen, wie die Auswirkungen der Globalisierung, die sozia-
len Folgen von Finanzkrisen, die noch unzureichenden
Chancen der Entwicklungsländer im Welthandel und die
zunehmende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Gruppen.

In unserer Zeit, in der wir sekundenschnell über den
Globus hinweg miteinander kommunizieren können und
in der Arbeit in vielen Bereichen global organisiert ist,
dürfen Politik, Gewerkschaften und Nichtregierungsorga-
nisationen nicht an nationalen Grenzen Halt machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Lösungen für weltweite Herausforderungen lassen
sich nur global finden. Soziale Gerechtigkeit wird in kei-
nem Land der Erde auf Dauer haltbar sein, wenn wir nicht
auch international für dieses Ziel kämpfen.

Der wichtigste Grund dafür, sich für die Durchsetzung
sozialer Aspekte in der Globalisierung einzusetzen, liegt
darin, dass ein globales Regime reiner Gewinninteressen
einen Prozess der Selbstzerstörung und der Hemmung der
wirtschaftlichen Entwicklung auslösen würde. Ich bin da-
von überzeugt: Eine Globalisierung mit menschlichem
Antlitz braucht starke internationale Institutionen. Sie
braucht nicht nur UNO, Weltbank und WTO, sondern
auch und gerade eine starke Internationale Arbeitsorgani-
sation ILO und starke Nichtregierungsorganisationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Oder wie Theo Sommer in der „Zeit“ von heute
schreibt:

Wo muss, wenn man eine Marktwirtschaft will, aber
keine Marktgesellschaft, der Markt enden und die
Gesellschaft beginnen?

Was wir brauchen, ist ein Umdenken bei den führenden
Köpfen, insbesondere in den Entwicklungsländern.

Bei der Durchsetzung von Gleichrangigkeit von globa-
ler wirtschaftlicher Entwicklung und globalem sozialem
Fortschritt stehen wir erst am Anfang, obwohl das Kon-
zept der Gleichrangigkeit in Kopenhagen beschlossen
wurde. Das Konzept schwebt noch in den Wolken. Von
der harten Wirklichkeit scheint es oft unglaublich weit
entfernt zu sein. Es muss heruntergezogen und alltagsbe-
stimmt werden. Dies ist die Aufgabe der Konferenz in
Genf und für jedes weitere Handeln.

Ein Umdenken ist dahin gehend notwendig, wie es im
Berliner Kommunique „Modernes Regieren für das
21. Jahrhundert“ 14 Staats- und Regierungschefs formu-
lierten. Ich zitiere daraus:

Was uns vor allem zusammenhält, sind unsere
Wertvorstellungen. Wir bekennen uns zu Solidarität
und sozialer Gerechtigkeit. Wir glauben, dass alle
Menschen gleichwertig und füreinander verantwort-
lich sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Weiß [CDU/CSU]: Eine Parteiveranstaltung!)


– Wenn das eine Parteiveranstaltung war, Herr Weiß, dann
bin ich froh, dass ich in der Partei bin, die solche guten
Ideen entwickelt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Weiß [CDU/CSU]: Auf Steuerzahlerkosten!)


Vielleicht gelingt es dem Bundeskanzler und den übri-
gen Regierungschefs, diese Botschaft auch in die Köpfe
mancher hirnverbrannter militaristischer Staatschefs ein-
zupflanzen, die militärische Auseinandersetzungen füh-
ren, statt Armut und Ungerechtigkeit im eigenen Land zu
bekämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410822300
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1410822400
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Organi-
sationen sind bekanntermaßen häufig etwas schwerfällig.
Da bilden der Weltsozialgipfel und die Sondergeneralver-
sammlung Kopenhagen plus Fünf sicher keine Aus-
nahme. Dennoch muss man sich im Vorfeld einer solchen
Versammlung überlegen: Wo standen wir eigentlich vor




Peter Dreßen

10219


(C)



(D)



(A)



(B)


fünf Jahren und wie weit sind wir seitdem vorangekom-
men?

Wenn man manche Äußerung rund um den Gipfel hört
und liest – ich zähle dazu auch den Antrag der Koaliti-
onsfraktionen zu dieser heutigen Debatte –, dann könnte
man den Eindruck haben, als ständen wir noch am Anfang
der Diskussion. Aber Diskussionen über Themen wie
Kernarbeitsnormen und Sozialstandards, Förderung von
Frauen, der Zivilgesellschaft und Schutz der Umwelt sind
Diskussionen, die schon vor fünf Jahren geführt wurden.

Deswegen will ich deutlich sagen: Natürlich war Ko-
penhagen 1995 ein guter Anfang für die Diskussion und
für Verabredungen auf dem Gebiet der weltweiten Sozial-
politik. Es war ein guter Anfang, zu dem die Regierung
Helmut Kohl einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Ich
bin auch dafür dankbar, dass von der Kollegin Becker-
Inglau die herausragende Rolle von Norbert Blüm gewür-
digt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Vergleich dazu kann man die Wertschätzung der heu-
tigen BMA-Spitze an diesem Thema sehen, denn sie ist in
dieser Debatte nicht vertreten. Hier hat sich schon etwas
verändert.

Ansonsten finde ich es erstaunlich und mutig, wenn der
Kollege Dreßen etwas zur innenpolitischen Debatte bei-
trägt. Herr Kollege, wie Ihre Zukunftssicherung der so-
zialen Sicherungssysteme aussieht, erleben wir zurzeit an
allen Zapfsäulen im Land.


(Peter Dreßen [SPD]: Das sagen Sie einmal den Ölscheichs!)


Dass sie das gerade in dieser Woche zum Thema machen,
da Sie das Rentenkonzept Ihres Arbeitsministers versenkt
haben, ist schon mutig. Zu diesem Mut beglückwünsche
ich Sie jedenfalls.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Peter Dreßen [SPD]: Sie wollen die Leute bis 70 arbeiten lassen! Das sagen Sie ihnen einmal!)


Seit der Konferenz in Kopenhagen sind fünf Jahre ver-
gangen. Man muss feststellen, dass sicher manche Hoff-
nungen auf der Strecke geblieben sind. Wir müssen auch
feststellen – Sie können nicht darum herumdiskutieren –,
dass die rot-grüne Bundesregierung auch bei diesem
entwicklungspolitischen Thema weder Antreiber noch
Vorbild ist.

Wir können lange darüber streiten, wie zentral die
20:20-Initiative sein mag. Es ist aber so, dass Sie Ihren
Beitrag zur Erreichung des 20:20-Ziels verfehlen, in der
Tendenz immer weiter. Das sagen nicht nur wir als Oppo-
sitionsfraktion, sondern das stellen auch Organisationen
fest, von denen die Kollegin Becker-Inglau zu Recht
sagte, dass die Ihnen bisher mit sehr viel Goodwill be-
gegnen, wie das deutsche NRO-Forum „Weltsozialgip-
fel“. Es weist deutlich darauf hin:

Die Bundesregierung verfehlt die von ihr selbst in
Kopenhagen entscheidend mit vorangebrachten Ziel-
vorgaben bezüglich ihrer EZ dramatisch.

Dramatisch, wohlgemerkt. Das ist die Aussage von
Entwicklungsorganisationen, von NROs, auf die Sie sich
sonst in Ihrer Argumentation so gerne stützen. Deswegen
ist es notwendig, in den entsprechend Fragen konkret
voranzukommen.

Wenn Sie in Ihrem Antrag von Kernarbeitsnormen
reden, dann ist das grundsätzlich nichts Neues. Die Frage
der Kernarbeitsnormen ist im internationalen Welthandel
nicht in erster Linie die Frage von Kindern als Jockeys. Es
geht um sehr viel schwierigere Fragen. Sie weisen selber
darauf hin: Dem Protektionismus soll nicht weiter Vor-
schub geleistet werden. Sie formulieren, dass Sozialstan-
dards dafür nicht missbraucht werden dürften. Sie fordern
für die Entwicklungsländer auch die Aufrechterhaltung
komparativer Wettbewerbsvorteile.

Auf der anderen Seite sprechen Sie sich aber auch
dafür aus, mit Liberalisierungen vorsichtig zu sein und der
besonderen Situation von Entwicklungsländern Rech-
nung zu tragen. Es geht nicht alles gleichzeitig. Es gibt
immer bestimmte Sonderinteressen. Aber wir sollten uns
einig sein, dass mehr Freihandel zwischen den einzelnen
Ländern den Ländern insgesamt nützt. Das sollte eigent-
lich unsere gemeinsame Position in den WTO-Verhand-
lungen sein, um auch die soziale Situation in den Ent-
wicklungsländern zu berücksichtigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Seit Kopenhagen sind fünf Jahre vergangen, in denen –

das muss man sagen – viel Zeit vertan worden ist. Das
kann man nicht nur auf die entwicklungspolitischen Insti-
tutionen schieben; vielmehr muss sich jedes Land und
jede Regierung zur eigenen Verantwortung bekennen.
Deutschland hat ein starkes Gewicht in diesen Organisa-
tionen. Sie sind – leider – in manchen Bereichen auf dem
Weg, dieses Gewicht zu verspielen. Aber noch haben wir
es. Wir spielen auch eine bedeutende Rolle in internatio-
nalen Finanzorganisationen. Deswegen erwarten wir von
der Bundesregierung, dass sie aufgrund ihres Gewichtes
darauf achtet, dass Strukturanpassungs-, Liberalisie-
rungs- und Privatisierungsprogramme in den Entwick-
lungsländern auch sozial ausreichend abgefedert werden.
Das ist unsere Position und unsere Erwartung.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Aber nicht in den letzten 16 Jahren, Herr Kollege!)


Wenn man Ihre regierungsamtlichen Verlautbarungen
liest, dann stellt man fest, dass Sie mit dem IWF durch-
aus Ihren Frieden gemacht haben, seit Sie an der Regie-
rung sind. Der IWF und die Weltbank haben sich auch
schon in vielen Bereichen bewegt. Unsere Erwartung ist,
dass Sie diese internationalen Organisationen verstärkt in
die entsprechende Richtung bringen.

Wir von der CDU/CSU stehen dann an Ihrer Seite,
wenn es wirklich um die Bekämpfung der Armut in der
Welt und damit um die Lösung des größten entwick-
lungspolitischen Problems überhaupt geht. Nur, für uns
gehört ganz unzweifelhaft dazu, dass nicht nur geredet,
sondern auch gehandelt wird. Diese Bundesregierung
muss die Prioritäten im nächsten Bundeshaushalt so set-
zen, dass sich die international eingegangenen Verpflich-




Dr. Ralf Brauksiepe
10220


(C)



(D)



(A)



(B)


tungen auch widerspiegeln. Lassen Sie Ihren schönen
Worten auch einmal Taten folgen.


(Rudolf Bindig [SPD]: Sie helfen uns bei der Finanzierung!)


Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410822500
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen „Sondergeneralversammlung der Ver-
einten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf – Welt-
sozialgipfel Kopenhagen + 5“ auf Drucksache 14/3515.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –


(Gernot Erler [SPD]: Eine kleine radikale Minderheit!)


Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der F.D.P.-Fraktion gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur Sondergeneralversamm-
lung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergeb-
nisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung auf Druck-
sache 14/3504. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Dann ist der Antrag
bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. mit den Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion der PDS abgelehnt.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung überMaßnahmen
zur Förderung des Radverkehrs
– Drucksache 14/3445 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Sind Sie einverstanden, dass alle Reden zu diesem
Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden?*) –
Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3445 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie und an den Ausschuss für Ge-
sundheit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Karl-
Josef Laumann, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Frak-

tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeits-
verhältnisse
– Drucksache 14/3292 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3292 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (18. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser–Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Hildebrecht Braun (Augsburg),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Men-
schenrechtsverletzungen in der Volksrepublik
China
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann
Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Norbert Blüm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Menschenrechte in der Volksrepublik China
– Drucksachen 14/661, 14/2694, 14/3501 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Claudia Roth
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Carsten Hübner

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (18. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Für eine China-Resolution der VN-Menschen-
rechtskommission
– Drucksachen 14/2915, 14/3517 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Volker Neumann von der SPD-Fraktion das Wort.




Dr. Ralf Brauksiepe

10221


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 10


Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID1410822600
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicherlich viele
Gründe, über China und Menschenrechte zu sprechen.
Wir haben das schon im März gemacht, auch damals zu
später Stunde. Der ursprüngliche Antrag der F.D.P.
stammt vom letzten Jahr. Er war anlässlich des Besuchs
des Bundeskanzlers in China im Mai eingebracht wor-
den. Jetzt beraten wir abschließend die Empfehlung vor
dem Besuch des Ministerpräsidenten der Volksrepublik
China Zhu Rongji in Deutschland. Ich will keinen Zwei-
fel daran aufkommen lassen, dass wir diesen Besuch be-
grüßen, weil er geeignet ist, die guten Beziehungen zu
China zu vertiefen.

Auch wenn wir im Menschenrechtsausschuss den nun
von der Regierungskoalition vorgelegten Änderungsan-
trag nicht einstimmig beschließen konnten, so bin ich
doch überzeugt, dass die grundlegenden Positionen
parteiübergreifend Konsens finden. Das bedeutet insbe-
sondere, dass wir unsere Möglichkeiten nutzen sollten,
auf China dahin gehend einzuwirken, die Menschen-
rechtslage zu verbessern. Wir sind uns darüber einig, dass
es zu diesem Zweck zu einem offenen und von beiden Sei-
ten mit Respekt geführten Dialog kommen muss. Auch
der Besuch von Zhu Rongji bietet für unsere Regierung
Anlass, diesen Dialog zu fortzusetzen.

Der Dialog sollte aber auch von den Abgeordneten bei-
der Staaten fortgesetzt werden, so wie er gestern im Aus-
wärtigen Ausschuss und in vielen Einzelgesprächen mit
Mitgliedern des außenpolitischen Ausschusses des Natio-
nalen Volkskongresses in aller Offenheit geführt worden
ist.

Obwohl sich die wirtschaftliche Lage für viele Men-
schen in China unzweifelhaft verbessert hat, ein Stück
mehr Rechtssicherheit eingetreten ist und es Reformen
auf dem Wirtschaftssektor gab, die persönliche Freiräume
geschaffen haben, bleibt eine Tatsache bestehen: Die
Menschenrechtssituation hat sich im vergangenen Jahr
verschlechtert. 1999 war nach Ansicht vieler Beobachter
sogar das schwierigste Jahr seit 1989 für Dissidenten so-
wie für religiöse und ethnische Minderheiten.

Es gehört zu den demokratischen Tugenden, Fragen of-
fen anzusprechen. Das gilt auch gegenüber der Volksre-
publik China, mit der sich immer bessere Beziehungen
auf vielen Feldern der Politik entwickeln. Für chinesische
Ohren hört es sich fast wie eine Selbstverständlichkeit an,
wenn wir fordern, dass die Rechte von Minderheiten re-
spektiert werden müssen. Dennoch scheint China in vie-
len Fragen eine andere Sicht der Dinge zu haben. Die re-
ligiösen, weltanschaulichen und ethnischen Minderheiten
haben in China einen schweren Stand. So waren vor allem
die moslemischen Uiguren in der westchinesischen Re-
gion Xinjiang nach übereinstimmenden Berichten in
jüngster Vergangenheit Opfer staatlicher Verfolgung.

Die Lage für die Tibeter in der autonomen Region Ti-
bet hat sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert.
Die Flucht des 17. Lebenden Buddha Anfang des Jahres
nach Indien zeigte schlagartig die Lage der Tibeter auf. Er
ist der dritthöchste Würdenträger der Tibeter, der sowohl
von der chinesischen Regierung als auch vom Dalai-
Lama anerkannt wird.

Wir fragen immer wieder und werden weiter fragen:
Was hindert die führenden Politiker der Volksrepublik da-
ran, endlich einen Dialog mit dem Dalai-Lama zu begin-
nen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Warum schwieg Jiang Zemin, als Bill Clinton diese ein-
fache Bitte äußerte?
Für uns gilt, dass die Ein-China-Politik weiterhin Grund-
lage unserer politischen Überlegungen ist.
Sie war es übrigens auch bei der Tibet-Resolution im
Jahre 1996, die damals zu Irritationen in den deutsch-chi-
nesischen Beziehungen geführt hat. Nachdem die Volks-
republik immer die Wiedervereinigung Deutschlands un-
terstützt hat, gibt es keinen Grund, einer Teilung Chinas
das Wort zu reden.

Wir beklagen aber gegenüber China, dass noch immer
gewaltloser politischer Widerstand zu Verhaftungen, Ad-
ministrativhaft und Arbeitslager führen kann, und wir be-
klagen die extensive Anwendung der Todesstrafe.

Spätestens seit der Wiener Menschenrechtskonfe-
renz gilt für China, dass die Diskussion über die Fragen
der Menschenrechte keine unzulässige Einmischung in
die inneren Angelegenheiten eines Staates ist. Die Uni-
versalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte wird
auch von China anerkannt. Ich bin überzeugt, dass auch
ein verstärkter Dialog mit China auf bilateraler und euro-
päischer Ebene eine Folge dieser Erkenntnis ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wird immer wieder eingewandt, dass wir China in

der Frage der Menschenrechte anders behandeln als klei-
nere, wirtschaftlich relativ unbedeutende Länder. Ich
meine, das stimmt nicht. Wir üben unsere Kritik. Aber es
ist legitim, in Bezug auf ein Land dieser Größe andere
Wege zu gehen. Ich denke, die Bundesregierung hat eine
neue Richtung aufgezeigt. Beim Besuch des Bundeskanz-
lers im vergangenen Jahr wurde eine neue Qualität des
Rechtsstaatsdialogs begonnen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wo ist denn da die neue Qualität?)


Schon in der nächsten Woche besuchen die Bundesjus-
tizministerin, die Vizepräsidentin des Bundestages und
Kollegen die Volksrepublik, um diesen Dialog fortzuset-
zen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist doch bloß gescheitert!)


Damit beginnen wir bei den Wurzeln des Menschen-
rechtsschutzes, nämlich bei der Rechtsstaatlichkeit. Der
Schutz der Menschenrechte steht in unauflösbarem Zu-
sammenhang mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


China steht nach den Verträgen mit der EU und den
USA kurz vor der Aufnahme in die Welthandelsorgani-






(C)



(D)



(A)



(B)


sation. Es ist der politische Wille der Führung in
Peking, die wirtschaftliche Öffnung weiter voranzutrei-
ben. China wird den Weg auf Dauer aber nur gehen kön-
nen, wenn er mit politischen Öffnungen verknüpft ist;
denn nur so wird langfristig Stabilität zu erreichen sein
und nur mit Stabilität wird China die Früchte der wirt-
schaftlichen Reform ernten können.

Diese Erfahrung haben auch schon andere aufstre-
bende Länder in Asien gemacht. In Indonesien beispiels-
weise war es die wirtschaftlich erstarkte Mittelschicht, die
nach Bürgerrechten drängte und gemeinsam mit den Stu-
denten die Absetzung Suhartos bewirkte. Das Defizit an
Demokratie und Menschenrechten, der Mangel an Teil-
habe an den politischen Entscheidungen waren letztlich
die Ursache für den Umbruch.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: In der Opposition hatten Sie noch andere Ideale!)


Auch in China gibt es diese aufstrebende Mittel-
schicht,während allerdings der Großteil der Bevölkerung
von den wirtschaftlichen Fortschritten ausgeschlossen ist.
Wir sehen die Probleme des bevölkerungsreichsten Lan-
des der Erde. Aber wir anerkennen auch die Entwicklung
der letzten Jahrzehnte. Wir sehen die Schwierigkeiten der
Umstrukturierung der Wirtschaft und die Gefahr der Mas-
senarbeitslosigkeit. Wir sehen auch die Entwicklungsan-
strengungen im Westen Chinas. Dennoch: Wir müssen ge-
genüber der chinesischen Führung immer wieder unsere
Überzeugung deutlich machen, dass die Teilhabe der
Menschen am politischen Meinungsbildungsprozess und
die Wahrung der Menschenrechte Voraussetzung für eine
dauerhafte Stabilität ist.


(Beifall bei der SPD)

Dauerhafte Stabilität ist wiederum Voraussetzung für

eine verlässliche Politik. Der chinesischen Führung sollte
es deshalb nicht egal sein, wie ihr Verhalten in Men-
schenrechtsfragen von der Welt gesehen wird.

Der Dialog über Rechtsstaatlichkeit und Menschen-
rechte sollte intensiv fortgeführt werden. Handel und
Prosperität allein werden nichts bewirken. Sanktionen
oder Provokationen allerdings auch nicht, wie wir in an-
deren Fällen gesehen haben.

Der Äußerung des amerikanischen Präsidenten beim
Abschluss der Handelsverträge mit China kann ich mich
nur anschließen: Mit ausgestreckter Hand wird unser po-
sitiver Einfluss größer sein als mit geballter Faust.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Herzlos, lieblos, inhaltslos! – Gegenruf des Abg. Rudolf Bindig [SPD]: Respektlos!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410822700
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling von
der CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU):
Rede ID: ID1410822800
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegen! China ist ein Kontinent.


(Zuruf von der SPD: Wirklich?)

Dieser Kontinent hat mit eines der größten Gewichte in
der gesamten Welt. Das ist nicht nur ein Land. Wir alle
wissen, welche Höchstleistungen dieses Land im Laufe
seiner langen Geschichte in der Kultur der Sprache, der zi-
vilisatorischen Entwicklung erbracht hat.

Auch der zivilisatorische Fortschritt in unserer Zeit
ist beachtlich. Was heißt es denn, einen Lebensstandard
herzustellen, der bewirkt, dass über 1Milliarde Menschen
Brot haben und keinen Hunger leiden müssen, zumindest
nur in sehr wenigen Fällen? Damit wird eine Leistung er-
bracht, die, wenn wir als Maßstab die ganze Welt nehmen,
einzigartig ist. Das alles verdient höchste Anerkennung.

Leider verdunkelt sich die Szene beim Thema Men-
schenrechte. Die Zahl von Menschen, die in so genann-
ter Administrativhaft sind, das heißt, die ohne jedes Ge-
richtsverfahren und ohne das Wissen sind, ob sie jemals
aus diesen Lagern heraus kommen – das muss man sich
einmal vorstellen –, geht in die Hunderttausende. Das ist
im Übrigen auch im weltweiten Vergleich einzigartig. Sie
finden in kaum einem Land eine mit den chinesischen Ar-
beitslagern vergleichbare Institution. Auf die hohe Zahl
der Hinrichtungen wurde hier schon eingegangen. Hinzu
kommen die religiöse Unterdrückung von Christen – ins-
besondere Romtreue Katholiken und Mitglieder protes-
tantischer Hauskirchen sind betroffen – und die Unter-
drückung von Minderheiten. Beispielhaft verweise ich
auf Tibet oder die Uiguren.

Was in Tibet an Religion, an Kultur und auch an Um-
welt vernichtet wird, ist skandalös.


(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: So ist es!)

Zu dieser Situation werden wir alle einmal sagen, wenn es
so weitergeht: In unseren Tagen ist eine der ältesten und
einzigartigsten Kulturen vom Dach der Welt verschwun-
den. Die Kampagne gegen den Dalai-Lama geht zwar völ-
lig ins Leere, wird von keinem abgenommen und wirft ei-
gentlich nur ein schlimmes Bild auf ihre Verursacher
zurück, bewirkt aber immerhin Böses.

Trotzdem, meine Damen und Herren, können wir nicht
mit erhobenen Zeigefingern sagen: Bei uns ist das alles
anders und ihr müsst euch jetzt an uns ausrichten. Auch
Europa hat weiß Gott eine Geschichte, die keinesfalls als
Beispiel dienen kann. Wir haben Jahrhunderte gebraucht,
um Menschenrechte und Menschenwürde bei uns in Ver-
fassungen zu etablieren. Das Gleiche gilt auch für die Ver-
einigten Staaten von Amerika.

Es ist sicher richtig, dass die Geschwindigkeiten der
Geschichte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen
Zeiten unterschiedlich sind. Während es bei uns Re-
gierungszeiten eines Königs oder einer Koalition gab, die
einige Jahre oder höchstens einige Jahrzehnte umfassten,
bestanden chinesische Dynastien zwischen 100 und 300
Jahren. Dass das heute nicht mehr so ist, ist mit Sicherheit
auch richtig. Dass es nicht von heute auf morgen geht, die




Volker Neumann (Bramsche)


10223


(C)



(D)



(A)



(B)


Geschwindigkeit dieses Milliardenvolkes mit unserer Ge-
schwindigkeit zu harmonisieren, ist auch klar.

Man muss aber auch die Chinesen selber beim Wort
nehmen: Sie wollen weltweite Verantwortung in einem
Zeitalter der Globalisierung durch Informations- und
Kommunikationstechniken tragen. Sie wollen überall
vorne mit dabei sein. Das heißt, sie wollen Verantwortung
übernehmen. Man kann nicht als eines der größten Län-
der der Welt Mitglied der Vereinten Nationen sein und die
Charta der Menschenrechte mit Füßen treten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie des Abg. Carsten Hübner [PDS])


Wenn das kleine Schurkenstaaten machen, ist das bedau-
erlich, aber ein solches Riesenland mit dem Gewicht, der
Anerkennung und dem Respekt, wie China für sich for-
dert, sollte eine andere Verantwortung haben, als sie hier
gezeigt wird.


(Zuruf von der PDS: Und wenn es die USA ist?)


Denken Sie daran, dass China Ständiges Mitglied des
Sicherheitsrates ist. Als solches muss man Verantwor-
tung übernehmen. Man kann nicht nur die eigene Position
vertreten. Denken Sie daran, wie China nur aus Verärge-
rung über die Beziehungen zwischen Mazedonien und
Taiwan die UN-Truppe an der Grenze zu Jugoslawien,
also zu Serbien, zurückgezogen hat. Obwohl alle aner-
kannt haben, dass das eine der erfolgreichsten Missionen
werden könnte, ist sie am Veto der Chinesen im Sicher-
heitsrat gescheitert.

Das ist nicht die Verantwortung, die China hier zeigen
muss. Es liegt aber auch nicht im Sinne seiner eigenen
Verfassung. In Kapitel 2 der Verfassung aus dem Jahr
1982 werden die Freiheit der Rede, die Freiheit der
Presse, die Freiheit der Versammlung, die Vereinigungs-
freiheit, die Demonstrationsfreiheit, die Religionsfreiheit,
die Freiheit der Person und der Privatsphäre garantiert.
Das sind alles Lügen. Das müssen wir leider sagen. In der
Wirklichkeit sieht es völlig anders aus. Eine kleine
Gruppe, die sich auf dem Tiananmen-Platz versammelt
und ein kleines Pappschild hoch hält, um an irgendetwas
zu erinnern, wird mit beispielloser Brutalität sofort von
der Polizei eingesammelt und verschwindet für wer weiß
wie lange in Arbeitslagern oder Gefängnissen oder Ähn-
lichem.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Und die Bundesregierung protestiert nicht!)


Also nichts von dem, was in der Verfassung steht, wird
eingehalten. Das zeigt natürlich die innere Schwäche des
Regimes.

Deng Xiaoping hat die erste Stufe der Marktwirt-
schaft eingeleitet, sicherlich auch mit dem Gedanken,
dass China materiell nicht mehr auf einen grünen Zweig
kommt, wenn man nicht gleichzeitig einige Freiheiten
mehr zulässt. Er hat sicherlich gewusst, dass er nicht alles
auf einmal kann, aber er hat nicht davon gesprochen, dass
das alles wieder gestoppt und beendet wird und dass es

keine zweite Stufe gibt. Das haben seine Nachfolger ge-
macht.

Dabei müsste China ein eigenes Interesse an einer wei-
teren Entwicklung haben, denn die zweite Stufe der
Marktwirtschaft ist ohne gewisse Freiheitsrechte für
Personen, für Gruppen völlig ausgeschlossen – nicht weil
wir das wollen, sondern weil es in der inneren Logik von
Freiheit und Wirtschaft liegt.

Daran wird China scheitern. Je früher es das erkennt,
umso eher vermeidet es das Scheitern. Der „Große
Markt“, bei dem alles nach China strebt, ist längst vorbei.
Die großen Investitionen in China sind rückläufig, weil
man natürlich weiß, dass der „Große Markt“ so nicht
funktionieren kann.

Wie reagiert man nun auf eine solche Situation? Man
kann anprangern, man kann Gespräche führen, man kann
einen Dialog führen. Man muss eben in diesem Falle im
Grunde genommen alles tun. Wir müssen auf der einen
Seite die Dinge beim Namen nennen und dürfen nicht vor
lauter Vorsicht schon gar nichts mehr aussprechen. Da bin
ich schon sehr verwundert. Ich war mit der Menschen-
rechtspolitik unserer eigenen Regierung damals keines-
wegs immer einverstanden. Das wissen Sie sehr genau.
Aber wie vorsichtig diese Regierung, deren Mitglieder
uns damals in entsprechender Weise vorführen wollten,
heute agiert, hätte ich so nie vermutet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Karl Lamers [CDU/CSU]: Die wollen ja jetzt alles besser machen!)


Es ist auch nicht wahr, wenn gesagt wird, das sei eine
ganz andere Kultur. Diesbezüglich müssen wir vorsichtig
sein. Wer die chinesische Kultur kennt, weiß, dass die
chinesische Kultur menschenfreundlich ist und die Würde
des Menschen achtet. Sie brauchen nur an Konfuzius oder
Mo-Ti zu denken. Von ihnen wird die Würde des einzel-
nen Menschen genauso beschrieben wie von Denkern bei
uns. Derartige Behauptungen sind also Blödsinn. Nur
Machthaber und Tyrannen beschreiben plötzlich ihre Kul-
tur anders, obwohl natürlich der, der gefoltert wird oder
im Gefängnis sitzt, genauso leidet, ob er nun in Europa, in
China oder in Amerika sitzt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Das muss ausgesprochen werden. Wir bedauern, dass
es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben unseren Antrag
wirklich mit außerordentlicher Sensibilität abgefasst. Ich
würde sagen: selbst nach chinesischen Maßstäben
„Chung-jung“: mit Maß und Mitte.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: So ist es!)

Aber was nun herausgekommen ist, sind so seichte

Töne, dass sie bei den Chinesen keinen Respekt hervor-
rufen werden. Das kann ich Ihnen sagen. Die Chinesen
haben Respekt vor Leuten, die selbstbewusst sind, die
stark sind und darüber hinaus Sensibilität besitzen, aber
nicht vor Leuten, die so vorsichtig sind, wie das in dieser
Beschlussempfehlung zum Ausdruck kommt. Wir werden




Dr. Christian Schwarz-Schilling
10224


(C)



(D)



(A)



(B)


also dieser Beschlussempfehlung nicht zustimmen, weil
es eine meines Erachtens sehr viel bessere Formulierung
im Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt. In gleicher Weise
gilt das übrigens auch für den Antrag der F.D.P.-Fraktion.

Aber der Kernpunkt unserer Kritik geht darüber hi-
naus. Der Antrag der Unionsfraktion zielte darauf ab, eine
parlamentarische Behandlung der Frage herbeizuführen,
welche Position die Bundesregierung im Hinblick auf die
Menschenrechtslage in China im Rahmen der Sitzung der
UN-Menschenrechtskommission in Genf einnehmen
will. Der Antrag wurde von uns am 15. Februar einge-
bracht. Die UN-Menschenrechtskommission tagte in
Genf bis Ende April. Obwohl Staatsminister Volmer bei
der Einbringung des Antrags das Interesse der Bundesre-
gierung an einer interfraktionellen Einigung über eine Be-
schlussempfehlung ausdrücklich erklärt hat, hat es kein-
erlei Bemühungen vonseiten der Regierungsfraktionen
um eine solche Einigung gegeben. Insbesondere hat es
überhaupt keine Bemühung gegeben, eine solche Eini-
gung, was sehr wohl möglich gewesen wäre, vor Ab-
schluss der Tagung in Genf herbeizuführen.

Das ist der Grund, warum wir dieser Beschlussemp-
fehlung nicht zustimmen können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410822900
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Claudia Roth von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Jetzt sind wir aber mal sehr gespannt! – Weiterer Zuruf von der F.D.P.)


Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Woher wissen Sie eigentlich, wie ich jetzt reden
werde? Warten Sie doch einmal ab!


(Zuruf von der CDU/CSU: Cool bleiben!)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist immer wieder der gleiche Reflex: Wenn es um Men-
schenrechte geht, wird sehr schnell der Vorwurf der Ein-
mischung in innere Angelegenheiten erhoben.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist nun wirklich hier nicht der Fall!)


Aber Menschenrechte sind keine inneren Angelegenhei-
ten und Menschenrechte kennen keine Grenzen.

Wenn wir heute – leider wieder zu viel zu später
Stunde, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann,
denn wir müssen uns als Deutscher Bundestag nicht vor
einer Menschenrechtsdebatte verstecken – darüber disku-
tieren, wie deutsche Politik Reformprozesse in China mit
initiieren und mit unterstützen kann, wie deutsche Politik
unter anderem mit dem begonnenen Rechtsstaatsdialog
dazu beitragen kann, immense menschenrechtliche Defi-
zite zu überwinden, dann ist das im besten Sinne der Ver-

such der konstruktiven Unterstützung eines überfälligen
und nötigen Demokratisierungsprozesses in China.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit unserem Antrag und unserer Debatte werden nicht,
wie der chinesische Botschafter befürchtet, die Gefühle
der Chinesinnen und Chinesen verletzt. Nein, es werden
die legitimen Menschenrechte der Bevölkerung Chinas
unterstützt, die verletzten Rechte von Minderheiten, wie
der Tibeter und Uiguren, die verweigerten Rechte von
Christen, Moslems und den Anhängern der Falun Gong.
Es wäre keine Einmischung in die inneren Angelegenhei-
ten Chinas gewesen, wenn sich die Genfer Menschen-
rechtskommission bei ihrer Tagung mit der Verfolgung
Andersdenkender, der Unterdrückung der Meinungsfrei-
heit, der Presse- und Versammlungsfreiheit, mit der Ad-
ministrativhaft – Dr. Schwarz-Schilling hat sehr viel dazu
ausgeführt –, mit Zwangslagern, mit der exzessiven Pra-
xis der Todesstrafe in China auseinander gesetzt hätte,


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das hat doch die Regierung verhindert! – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Was hat denn die Regierung getan?)


sondern das wäre schlichtweg der Auftrag der Menschen-
rechtskommission gewesen. Eine China-Resolution hätte
all diejenigen unterstützt, die sich in China für die Uni-
versalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte einset-
zen. Ein solcher Beschluss hätte zur Glaubwürdigkeit der
Genfer Kommission beigetragen. Die Verweigerung,
auch nur eine Debatte über die Situation in China zu
führen, hinterlässt einen schalen Geschmack der selekti-
ven Kritik an Menschenrechtsverletzungen.

In der Tat glaube ich, auch die Bundesregierung muss
überdenken, welche Strategie die richtige ist, um einen
Beschluss zur Menschenrechtssituation in China, sollte
sie sich nächstes Jahr nicht verbessert haben, aktiv zu
unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Dem weltweiten Schutz der Menschenrechte wurde in
Genf kein guter Dienst erwiesen. Ich glaube, dass ein bi-
lateraler Rechtsstaatsdialog, wenn er denn intensiv ge-
führt wird, tatsächlich eine Chance bietet.

Ich appelliere ausdrücklich und eindringlich an die
Bundesregierung, auf allen politischen Ebenen und in al-
len verschiedenen Gremien die Menschenrechtssituation
im Dialog mit der Volksrepublik China offensiv anzu-
sprechen. Ich appelliere analog an die deutsche Wirt-
schaft, ihrerseits Spielräume und Möglichkeiten im Sinne
des Ausbaus und des Schutzes unveräußerlicher Rechte
wie der sozialen Rechte zu nutzen, die nach wie vor nicht
verwirklicht sind.

Das wäre übrigens auch im eigenen Interesse, denn
Stabilität ist die Voraussetzung für Investitionen und sie
basiert gerade auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.




Dr. Christian Schwarz-Schilling

10225


(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist das Motiv für die heutige Debatte und für den heu-
tigen Antrag.

Der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in
wenigen Wochen bietet die gute Möglichkeit, deutlich zu
machen, dass die wirtschaftliche Öffnung der politi-
schen Öffnung bedarf. Ich gehe davon aus, dass in den
Gesprächen zwischen dem Ministerpräsidenten und der
deutschen Bundesregierung die Verwirklichung der
UNO-Pakte und der politische Dialog mit dem Dalai-
Lama eingeklagt werden


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Vom Bundeskanzler!)


und dass auf die weltweite Bedeutung der Menschen-
rechte hingewiesen wird. Das ist kein erhobener Zeige-
finger, sondern die Voraussetzung für die Zukunftsfähig-
keit eines demokratischen Chinas.

Das, wie Dr. Schwarz-Schilling es gesagt hat, anzu-
sprechen, was anzusprechen ist, das zu kritisieren, was zu
kritisieren ist, und einen Dialog zu führen, wo ein Dialog,
wenn er zur Verbesserung der Situation beiträgt, geführt
werden muss und geführt werden kann, das wird eine De-
legation des Menschenrechtsausschusses auf ihrer Reise
nach China und Tibet im August und September dieses
Jahres sicher tun.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410823000
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
von der F.D.P.-Fraktion.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1410823100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Durchset-
zung und die Beachtung der Menschenrechte sollten zum
Dreh- und Angelpunkt der Politik der Regierung Schröder
werden. Jedenfalls war dies das Versprechen, das SPD
und Bündnis 90/Die Grünen ihren Anhängern und der
deutschen Öffentlichkeit gegeben haben. Diese Ankündi-
gungen sind von der Wirklichkeit deutscher Regierungs-
politik längst und sehr schnell eingeholt worden. Dafür ist
die Befassung mit der Menschenrechtslage in der Volks-
republik China nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr ein-
drucksvolles.

Wir befassen uns heute Nacht unter anderem mit zwei
Anträgen meiner Fraktion. Der erste ist im März 1999,
also vor der vorletzten Konferenz der UN-Menschen-
rechtskommission, eingebracht worden und der zweite
vor der letzten Konferenz. Inzwischen sind beide Konfe-
renzen längst beendet,


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist ja nur noch peinlich für die Regierung!)


und zwar mit einem Beratungsergebnis in Bezug auf
China, das vollkommen unbefriedigend ist. Da teilen wir
von der F.D.P.-Fraktion Ihre Einschätzung, Frau Roth.

Ein Weiteres kommt hinzu – das muss in dieser Debatte
gesagt werden –: Wenn nicht die Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. drei Anträge in die parlamenta-
rischen Beratungen eingebracht hätten, hätte es für Sie
noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich mit
Ihrem Änderungsantrag in letzter Sekunde in diese Bera-
tungen einzubringen. Dann hätten Sie entweder unseren
Anträgen zustimmen müssen


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das wäre gut gewesen!)


oder Sie hätten sie abgelehnt; dann aber hätte es hier über-
haupt keine bzw. eine negative Beschlussfassung gege-
ben. Ich glaube, das muss man sehen, wenn man die Be-
fassung mit der Menschenrechtssituation in der Volksre-
publik China realistisch betrachtet.

Das ist schon fast ein absurdes Theater, vor allen Din-
gen deshalb, weil dies kurz vor dem sehr wichtigen Be-
such des chinesischen Ministerpräsidenten stattfindet.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dieser Besuch verlangt, dass man sich sachlich und kon-
struktiv, aber auch mit der notwendigen Kritik mit der
wirtschaftlichen Entwicklung in der Volksrepublik China
auseinander setzt. Wir begrüßen jede Öffnung, jede Be-
reitschaft zu mehr wirtschaftlicher Zusammenarbeit und
die Perspektiven, die sich mit dem WTO-Beitritt Chinas
ergeben werden. Wir begrüßen dies nicht nur deswegen,
weil es um wirtschaftliche Entwicklung geht, sondern
auch deswegen, weil dadurch von uns zu Recht eine posi-
tive Sogwirkung hinsichtlich der Achtung der Menschen-
rechte in China eingefordert wird.

Ich muss nichts zur Realität der Menschenrechtslage
in China sagen. Das ist ein Punkt, den wir an der Be-
schlussempfehlung kritisieren: dass sie die Realität nicht
zur Kenntnis nimmt. Wir lehnen sie deshalb ab. Es ist
eben nicht so, dass sich die Entwicklung der Menschen-
rechte so positiv entwickelt hat, wie man gehofft hat. Sie
hat sich verschlechtert. Das ist die jetzige Situation.


(Rudolf Bindig [SPD]: Das steht doch dort!)

– Das steht dort nicht.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch!)


In der Beschlussempfehlung steht unter Punkt 2:
Trotz dieser Verbesserungen hat sich die Lage der
Menschenrechte in der Volksrepublik China noch
nicht in der erhofften Weise positiv entwickelt.

Nein, sie hat sich verschlechtert, was Todesstrafen,
Hinrichtungen, Inhaftierungen, Administrativhaft und
den Umgang mit Minderheiten angeht. Gerade vor ein
paar Tagen kam es zur Festnahme von 15 friedlichen De-
monstranten auf dem Tiananmen, die sich dort anlässlich
des 11. Jahrestages des Massakers versammelt hatten.
Gestern kam es zudem zur Festnahme eines jungen Men-
schen, der auf einer Web-Seite die Massaker auf dem Ti-
ananmen dokumentiert hat. Er wurde festgenommen, weil
er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit, von einem
Menschenrecht, das wir alle für unverzichtbar halten, in




Claudia Roth (Augsburg)

10226


(C)



(D)



(A)



(B)


einer harmlosen Art und Weise Gebrauch gemacht hat. Ich
glaube, das muss man hier einfach einmal ansprechen,
auch wenn es schon so spät am Abend ist.

Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich ad
personam an den Entschließungsanträgen zu orientieren,
die Bündnis 90/Grüne 1993, 1994 und 1996 in den Bun-
destag eingebracht haben. 1996 haben wir, Grüne und
F.D.P., der Regierung eine Entschließung abgetrotzt – wir
hatten damals einen Riesenkrach –, die wirklich mehr
Substanz hatte als das, was heute zur Beschlussfassung
vorliegt.

Der Rechtstaatsdialog hat überhaupt noch nicht be-
gonnen. Vielleicht beginnt er jetzt, wenn ein Regierungs-
mitglied, die Justizministerin, nach China reist. Aber es
sind schon wieder Monate vergangen, ohne dass irgend-
etwas passiert ist. Das konstatieren Sie in Ihrem Antrag,
indem Sie sagen, man soll diesen Dialog breit anlegen.
Das ist nicht das, was wir von einer engagierten Men-
schenrechtspolitik erwarten – zusammen mit China, das
eine Riesenbedeutung hat und von uns erwartet, dass wir
eine klare Sprache sprechen. Die verstehen die Chinesen
nämlich sehr wohl. Das habe ich selbst erleben dürfen, als
ich als Justizministerin den Besuch des chinesischen Jus-
tizministers hatte. Da hat es auf einer Pressekonferenz,
auf der ich ihn zur Einhaltung der Menschenrechte aufge-
fordert habe, großen Ärger gegeben. Danach sind wir in
einen sehr konstruktiven, kritischen Dialog eingetreten.
Nur so funktioniert das, meine Damen und Herren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Carsten Hübner [PDS])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410823200
Das Wort
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Frak-
tion.


Carsten Hübner (PDS):
Rede ID: ID1410823300
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in der
Volksrepublik China ist weiterhin äußerst problematisch.
Meine Vorredner haben bereits auf die massenhafte
Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe hingewie-
sen, auf fehlende Presse-, Versammlungs-, Organisations-
und Religionsfreiheit, auf Fälle von Folter, auf massive
Repression durch Sicherheitskräfte und Geheimdienste,
auf die Administrativhaft und vieles andere mehr. Ich
brauche das daher nicht im Einzelnen zu erwähnen.

Mich wundert jedoch schon, dass die Entschiedenheit,
mit der von den jeweiligen Fraktionen des Bundestages
auf die Menschenrechtsverletzungen in China hinge-
wiesen wird, offenbar davon abhängig ist, ob man gerade
in der Regierungsverantwortung ist oder nicht.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das gilt für die SPD und die Grünen, aber nicht für uns!)


Ich habe mir die diesbezüglichen Protokolle aus der letz-
ten Legislaturperiode kommen lassen. Sie sind schon er-
hellend für alle. Das gilt nicht nur mit Blick auf China. Die
Regierungsbeteiligung scheint also – in der China-Frage

vielleicht mit Ausnahme der F.D.P. – eine Art Menschen-
rechtsweichspüler zu sein. Das finde ich äußerst bedenk-
lich, liebe Kolleginnen und Kollegen,


(Beifall bei der PDS)

umso bedenklicher, als die anzulegenden Menschen-
rechtsstandards Gegenstand internationaler Vereinbarun-
gen sind – übrigens Vereinbarungen, zu denen sich inzwi-
schen auch China offiziell bekannt hat –, denen sich die
Bundesrepublik oft schon seit Jahrzehnten verpflichtet
fühlt, was nicht nur für unsere Innen-, sondern auch für
unsere Außen- und Wirtschaftspolitik Bedeutung haben
sollte.

Nun erwarte ich nicht – das wäre politisch wie histo-
risch sicher eine Dummheit –, dass sich die Bundesrepu-
blik international quasi als Gralshüter der Menschen-
rechte inszeniert. Zu tief ist sie in viele internationale
Prozesse und Verhältnisse involviert, die den Menschen-
rechten und einer gerechten globalen Entwicklung dia-
metral entgegenstehen. Was ich aber erwarte, ist, dass
nicht allein die Frage, ob es sich bei dem entsprechenden
Land um einen interessanten Markt oder, wie etwa bei der
Türkei, um einen NATO-Partner handelt, darüber ent-
scheidet, mit welchem Nachdruck und in welcher Offen-
heit die Frage der Menschenrechte angesprochen wird.


(Beifall bei der PDS)

Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen je-

denfalls ist ein Paradebeispiel für ein verklausuliertes Di-
plomatendeutsch, das zumindest meinem Begriff von Of-
fenheit im Dialog und von echter und belastbarer
zwischenstaatlicher Partnerschaft nicht entspricht. Den-
noch werde ich ihm zustimmen, nicht zuletzt deshalb,
weil selbst die verklausulierte Botschaft offenbar ange-
kommen ist, wie unter anderem die Aktivitäten der chine-
sischen Botschaft der vergangenen Tage verdeutlichen.
Gleichzeitig erwarte ich aber auch, dass all diejenigen, die
hier die Menschenrechtslage in China problematisieren,
ebenfalls mit im Boot sind, wenn etwa die Menschen-
rechte in der Türkei, in Saudi-Arabien oder die Todes-
strafe in den USA zur Diskussion stehen. Bei vielen Kol-
leginnen und Kollegen habe ich daran keinen Zweifel, bei
vielen leider schon.

Menschenrechte dürfen nicht instrumentalisiert wer-
den. Man kann sie nicht gegen andere Interessen abwä-
gen. Sie sind universell gültig. Sie sind Menschenrechte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410823400
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Staatsmi-
nister Ludger Volmer das Wort.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410823500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver-
mag in der grundsätzlichen Einschätzung der nach wie
vor unbefriedigenden und sich weiterhin verschlechtern-
den Menschenrechtslage in China durch dieses Haus
keine großen Unterschiede zu erkennen. Andererseits –




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

10227


(C)



(D)



(A)



(B)


auch darauf ist hingewiesen worden – wird niemand den
großen Entwicklungsschub verkennen wollen, den die
Volksrepublik China seit ihrer Gründung und insbeson-
dere seit Aufnahme der Reform- und Öffnungspolitik er-
lebt hat.

Die Verschlechterung der Menschenrechtslage ist ein
Indiz dafür, dass die gesamte westliche Menschen-
rechtspolitik bisher wohl nicht gegriffen hat. Sonst müss-
ten wir unsere Strategien nicht überprüfen und diese inten-
sive Diskussion nicht führen. Frau Kollegin Leutheusser-
Schnarrenberger, dass Sie persönlich – ich betone:
persönlich – in dieser Frage glaubwürdig sind, ist völlig
unstrittig. Aber wenn sich Ihre Partei und Ihre Außenmi-
nister so deutlich geäußert hätten wie Sie,


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Alle F.D.P.Außenminister haben mehr getan als Ihr Außenminister!)


dann hätte sich die Situation ja wohl verbessern müssen,
wenn Ihre These stimmt, dass der deutsche Einfluss eine
direkte, lineare Einwirkung auf die innerchinesischen
Verhältnisse hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


30 Jahre lang hat die F.D.P. den Außenminister gestellt.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, entweder haben die
Außenminister nichts gesagt oder es war völlig uneffek-
tiv.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: : Wir haben wenigstens etwas gesagt! Ihr Außenminister sagt ja nichts mehr!)


Sonst könnten Sie heute nicht festhalten, dass sich
die Verhältnisse in China verschlechtert haben. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, ich erinnere daran – das
spricht für Sie persönlich –, dass Sie seinerzeit doch die
Brocken als F.D.P.-Ministerin hingeworfen haben, weil
Sie sich in der Partei nicht durchsetzen konnten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Aus all dem ergibt sich die Frage, wie wir es der chi-
nesischen Seite ermöglichen, auf die europäischen Sorgen
um die Lage der Menschenrechte in China wirklich ein-
zugehen. Dazu ist es nötig, an dieses Problem ohne Über-
heblichkeit heranzugehen, auch eingedenk der eigenen,
hier mehrmals beschriebenen Geschichte sowie in Kennt-
nis und Anerkennung der Ungleichzeitigkeit von Ent-
wicklungen.

China legt ebenso wie wir großen Wert auf den Ausbau
der bilateralen Beziehungen zu Deutschland und Europa.
Es ist grundsätzlich bereit, auch in sensiblen Fragen mit
uns zusammenzuarbeiten.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das haben Sie ja immer kritisiert!)


Hiervon konnte ich mich gestern in Gesprächen mit dem
Assistierenden Außenminister Chinas und heute in Ge-
sprächen mit dem Auswärtigen Ausschuss des Nationalen
Volkskongresses selber überzeugen.

Die Bundesregierung setzt in der Menschenrechtsfrage
auf Dialog und Kooperation mit der chinesischen Re-
gierung. Dies schließt deutliche – auch öffentliche –
Worte überhaupt nicht aus. Es schließt auch symbolische
Aktivitäten nicht aus. Es war der grüne Außenminister
Fischer, der den Dalai-Lama als erster offiziell auf Regie-
rungsebene empfangen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dies ist auch der Ansatz der dem Hause vorliegenden
Beschlussempfehlung. Nur über die Fortsetzung des
Menschenrechtsdialogs auf allen politischen Ebenen wird
es gelingen, China von der Notwendigkeit substanzieller
Verbesserungen bei den Menschenrechten zu überzeugen.
Wir haben der chinesischen Seite konkrete Vorschläge für
eine intensive Zusammenarbeit im Rahmen der Rechts-
staatsinitiative unterbreitet, der die chinesische Regierung
im November 1999 zugestimmt hat. Wir gehen davon aus,
bis zum Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten
Ende Juni dieses Jahres Einigung über unsere prioritären
Projekte zu erzielen.

Die Bundesjustizministerin und die Vizepräsidentin
des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Vollmer, werden
morgen nach China reisen, um an einem hochrangig be-
setzten Seminar zur Rechtsbindung der Verwaltung und
zum Individualrechtsschutz teilzunehmen, das unsere
Botschaft in Peking gemeinsam mit der Chinesischen
Akademie für Sozialwissenschaften vorbereitet hat. Im
Rahmen unserer entwicklungspolitischen Zusammenar-
beit mit der VR China bildet die Kooperation im Rechts-
bereich einen Schwerpunkt, für den wir insgesamt bereits
über 60 Millionen DM bereitgestellt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit all diesen Maßnahmen ist eine Infrastruktur ge-

schaffen, in deren Rahmen sich jenseits der großen öf-
fentlichen Anklagen ein Dialog entwickeln wird, von dem
wir wissen, dass er auch im Interesse Chinas ist; denn
China weiß, dass es als globale Macht nur dann von der
internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden
wird, wenn es sich demokratisiert. Wir wissen aus vielen
Studien, dass Staaten ihre internationalen Beziehungen so
wie ihre innerstaatlichen Probleme zu regeln pflegen.
Deshalb ist es im fundamentalen Interesse der internatio-
nalen Gemeinschaft, dass ein in die globale Gemeinschaft
hineinwachsendes, stärker werdendes China sich substan-
ziell demokratisiert.

Dazu haben wir eine Dialoginitiative ergriffen. Ich lade
Sie, die Sie sich so vehement dafür eingesetzt haben, ein,
an dieser Initiative teilzunehmen. Je breiter die Berüh-
rungsflächen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und China auf allen Ebenen sind, desto größer ist die
Chance, dass wir unsere Wertvorstellungen im Dialog
vermitteln können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Staatsminister Dr. Ludger Volmer
10228


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410823600
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und huma-
nitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur
Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechts-
verletzungen in der Volksrepublik China, Drucksa-
che 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/661 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung
einstimmig angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zu Menschenrechten in der Volksrepublik
China, Drucksache 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/2694 in der
von der Ausschussmehrheit beschlossenen Fassung anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen sowie drei Stimmen aus der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
Fraktion der PDS im Übrigen angenommen.


(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Ich habe auch dagegen gestimmt!)


– Entschuldigung, Herr Klose. Eine Gegenstimme aus
den Reihen der SPD-Fraktion.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Für eine China-Resolution der
VN-Menschenrechtskommission“, Drucksache 14/3517.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/2915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haus-
haltsjahr 1999 – Vorlage der Haushaltsrech-
nung und Vermögensrechnung des Bundes

(Jahresrechnung 1999)

– Drucksache 14/3141 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokoll
genommen werden.*) Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3141 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Kersten Naumann, Dr. Evelyn Kenzler,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Privatisierung und Reorgani-

(Treuhandgesetz)

– Drucksache 14/1993 –

(Erste Beratung 79. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder

(17. Ausschuss)

– Drucksache 14/2933 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Dr. Michael Luther

Hier werden alle Reden bis auf die der Kollegin
Kersten Naumann zu Protokoll genommen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

– Jetzt habe ich es richtig gemacht; vielen Dank für den
Beifall.

Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410823700
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Was ist der Knackpunkt in dieser De-
batte? Die PDS sagt: Gesellschaftliches Eigentum darf
nicht auf Teufel komm raus privatisiert werden.


(Beifall bei der PDS)

Der Abgeordnete Dr. Michael Luther von der

CDU/CSU hat der PDS bei der ersten Lesung unseres An-
trags vorgeworfen, wir würden damit über kurz oder lang
in alte, längst überholte und von der Geschichte ad absur-
dum geführte Zustände zurückfallen. Der Abgeordnete
Jürgen Türk von der F.D.P. assistierte ihm mit der Bemer-
kung, die PDS kann es nicht verwinden, dass die Zeit des
gesellschaftlichen Eigentums an Grund und Boden
passé ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Ich hoffe, dass auch dem Kollegen Türk nicht entgan-

gen ist, dass ein Staat ohne gesellschaftliches Eigentum an
Grund und Boden nicht denkbar ist.


(Beifall bei der PDS)

Wir halten es nicht wie Dr. Luther für einen absurden Zu-
stand, wenn sich in den westlichen Bundesländern circa
4 Millionen Hektar Wald in Staats- und Körper-
schaftseigentum befinden. Das sind immerhin 73,8 Pro-
zent der Gesamtfläche.






(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 11

Die PDS fordert keine Enteignung, wie sie leider durch
die Länder gegenwärtig auf der Grundlage des Art. 233
EGBGB erfolgt. Wir wollen die Nichtprivatisierung von
Bodenreformflächen. Dabei befinden wir uns in voller
Übereinstimmung mit dem bayerischen Landwirtschafts-
minister Josef Miller, was ja nicht so ganz alltäglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Dieser informierte laut „AgraEurope“ vom 7. Februar da-
rüber, dass

unter dem Aspekt des Gemeinwohls ... die Bayeri-
sche Landesregierung einer Privatisierung der
Staatsforsten schon im November 1999 eine klare
Absage erteilt hat.

Es heißt weiter:
Mit der Haltung der Landesregierung

ist
... auch einer einseitig gewinnorientierten Ausrich-
tung ein Riegel vorgeschoben worden.

Ich frage Dr. Luther: Ist aus solchen Bemerkungen zu
schlussfolgern, dass in Bayern absurde Zustände herr-
schen? Offensichtlich hat auch der Abgeordnete Jürgen
Türk nicht Recht, dass die Zeit des gesellschaftlichen
Eigentums an Grund und Boden passé ist.

Die PDS fordert lediglich, dass in den neuen Bundes-
ländern so viel Bodenreformwald in Staatsbesitz bleibt
wie in Bayern und Baden-Württemberg. Das bedeutet,
dass keine Bodenreformwaldflächen privatisiert werden.
Der Vorwurf, die PDS folge einer überholten Ideologie, ist
nicht mehr als hilflose und unsachliche Argumentation.


(Beifall bei der PDS)

Die Realitäten bestehen in Folgendem: Erstens. Die

Privatisierungwird nur in sehr begrenztem Umfang dazu
führen, dass sich die Pachtzahlungen der Landwirtschaft
verringern werden. Die neuen Bodeneigentümer werden
den erworbenen Boden meist nicht selbst bewirtschaften
bzw. sie werden auch Pacht verlangen, wenn sie sich an
Gemeinschaftsunternehmen beteiligen. Dann werden al-
lerdings private statt staatliche Taschen gefüllt.

Zweitens. Der Abgeordnete Dr. Luther ist der Mei-
nung, Private sind auf Dauer immer die besseren und ef-
fektiveren Bewirtschafter von Gütern, besser als es der
Staat je sein kann. Ob diese Aussage richtig ist, kann of-
fen bleiben; denn um die Bewirtschaftung geht der Streit
ja gar nicht. Wir wollen nur, dass die Politik auf eine Ent-
wicklung reagiert, die sich in beiden Teilen Deutschlands
vollzieht. Sie ist dadurch charakterisiert, dass der Bewirt-
schafter und der Eigentümer zunehmend voneinander ge-
trennt werden.

Jahr für Jahr steigt der Anteil der Pachtflächen in West-
deutschland. Zu Recht ist nirgendwo davon die Rede, dass
deshalb die Verpächter zum Bodenverkauf gezwungen
werden sollen.

Drittens. Wenn es um das Gemeinwohl geht, erweisen
sich die Rahmenbedingungen für die Nutzung des priva-

ten Eigentums als nicht ausreichend. Aus gutem Grund
gibt es deshalb Art. 15 des Grundgesetzes.


(Beifall bei der PDS)

Beim Antrag der PDS geht es nicht um Enteignungen,

sondern die Ablehnung des Verschleuderns von gesell-
schaftlichem Eigentum, was für eine am Gemeinwohl ori-
entierte Politik unverzichtbar ist.


(Beifall bei der PDS)

Diese Position hat auch die CDU in ihrem Ahlener Pro-
gramm vertreten. Zur Erinnerung an diese vor 55 Jahren
beschlossenen Grundwerte erlaube ich mir, daraus zu zi-
tieren:


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zitieren Sie mal aus Ihren Programmen von damals!)


– Die werden Sie hoffentlich nachgelesen haben.
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staat-
lichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen
Volkes nicht gerecht geworden.
Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Zusammenbruch als Folge einer ver-
brecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuord-
nung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser
sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann
nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Macht-
streben, sondern nur das Wohlergehen unseres
Volkes sein.
Bei allen Reformen der deutschen Wirtschaft, mag es
sich um Bodenreform, Neuaufbau der industriellen
Wirtschaft oder Neugestaltung des Verhältnisses
zwischen Arbeitnehmern und Betrieb handeln, ist das
erste und vornehmste Ziel das Wohl des gesamten
Volkes. Die deutsche Wirtschaft hat weder in erster
Linie dem Wohle einer bestimmten Schicht zu dienen
noch dem Auslande.

So weit aus dem Ahlener Programm.
Mit dem staatlichen Eigentum an den Bodenreform-

flächen bestehen – entgegen den Äußerungen der Abge-
ordneten Steffi Lemke in der ersten Lesung – klare Ei-
gentumsverhältnisse: Das ist gesellschaftliches Eigen-
tum. Dieses kann, wie die zurückliegenden zehn Jahre
zeigen, sehr wohl Grundlage einer tragfähigen Wirt-
schaftspolitik sein.

Der PDS geht es mit ihrem Antrag um die Sicherung
der Einflussnahme des Staates im Sinne des Boden-, Um-
welt- und Naturschutzes, aber auch um kontinuierliche
Einnahmen des Staates, die wie die Vergabe dieser Mittel
einer demokratischen Kontrolle unterliegen.

Machen Sie deshalb Schluss mit Ihrem Schreckge-
spenst „gesellschaftliches Eigentum“! Liefern Sie nicht
alles gnadenlos dem Markt aus! Wir alle haben eine ge-
meinsame Verantwortung für das lebenswichtige Gut des
Menschen – den Boden. Der Antrag der PDS wird dieser
Verantwortung gerecht. Stimmen Sie deshalb unserem
Antrag zu!


(Beifall bei der PDS)





Kersten Naumann
10230


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410823800
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Treuhandgesetzes
auf Drucksache 14/1993. Der Ausschuss für Angelegen-
heiten der neuen Länder empfiehlt auf Drucksa-
che 14/2933, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/1993 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetz-
entwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-

tionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt.

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 9. Juni 2000, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.