Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10231
(C)(A)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10233
(C)
(D)
(A)
(B)
Adler, Brigitte SPD 08.06.2000
Andres, Gerd SPD 08.06.2000
Binding (Heidelberg), SPD 08.06.2000
Lothar
Bläss, Petra PDS 08.06.2000
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 08.06.2000
Braun (Augsburg), F.D.P. 08.06.2000
Hildebrecht
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 08.06.2000**
Klaus
Bulmahn, Edelgard SPD 08.06.2000
Carstensen CDU/CSU 08.06.2000
(Nordstrand), Peter H.
Catenhusen, SPD 08.06.2000
Wolf-Michael
Eichhorn, Maria CDU/CSU 08.06.2000
Fischer (Homburg), SPD 08.06.2000
Lothar
Gebhardt, Fred PDS 08.06.2000
Haack (Extertal), SPD 08.06.2000**
Karl Hermann
Hanewinckel, Christel SPD 08.06.2000
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 08.06.2000
DIE GRÜNEN
Dr. Hornhues, CDU/CSU 08.06.2000
Karl-Heinz
Hornung, Siegfried CDU/CSU 08.06.2000**
Imhof, Barbara SPD 08.06.2000
Irmer, Ulrich F.D.P. 08.06.2000**
Jäger, Renate SPD 08.06.2000**
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 08.06.2000
Kolbow, Walter SPD 08.06.2000
Lehn, Waltraud SPD 08.06.2000
Lenke, Ina F.D.P. 08.06.2000
Lintner, Eduard CDU/CSU 08.06.2000**
Maaß, (Wilhelmshaven) CDU/CSU 08.06.2000**
Erich
Müller (Berlin), PDS 08.06.2000*
Manfred
Müller (Zittau), SPD 08.06.2000
Christian
Neumann (Gotha), SPD 08.06.2000**
Gerhard
Ost, Friedhelm CDU/CSU 08.06.2000
Reinhardt, Erika CDU/CSU 08.06.2000
Scheffler, Siegfried SPD 08.06.2000
Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 90/ 08.06.2000
Irmingard DIE GRÜNEN
Schily, Otto SPD 08.06.2000
Schloten, Dieter SPD 08.06.2000**
Schmidt (Aachen), SPD 08.06.2000
Ulla
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 08.06.2000**
Hans Peter
von Schmude, Michael CDU/CSU 08.06.2000**
Dr. Struck, Peter SPD 08.06.2000
Violka, Simone SPD 08.06.2000
Voß, Sylvia BÜNDNIS 90/ 08.06.2000
DIE GRÜNEN
Widmann-Mauz, CDU/CSU 08.06.2000
Annette
Wieczorek-Zeul, SPD 08.06.2000
Heidemarie
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 08.06.2000
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 08.06.2000
Margareta DIE GRÜNEN
Wolff (Zielitz), SPD 08.06.2000
Waltraud
Zierer, Benno CDU/CSU 08.06.2000**
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Jürgen Koppelin (F.D.P.) zur
namentlichen Abstimmung über den Antrag der
Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an einer internationalen Sicherheits-
präsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines si-
cheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr
und zurmilitärischen Absicherung der Friedens-
regelung für das Kosovo auf der Grundlage der
Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 – Druck-
sachen 14/3454 und 14/3550 (Zusatztagesord-
nungspunkt 9)
Ich werde dem Antrag der Bundesregierung nicht zu-
stimmen.
Es hat bisher keine Antwort der Bundesregierung auf
die Frage nach der tatsächlichen Notwendigkeit der Bom-
bardierung Jugoslawiens gegeben. Die Bundesregierung
weicht ebenfalls der Beantwortung aus, wie lange der Ein-
satz der Bundeswehr wirklich dauern soll.
Ich kann auch keine intensiven Bemühungen der
Außenpolitik erkennen, die zu einem Ende des Einsatzes
im Kosovo führen könnten, denn alle in Betracht kom-
menden Staaten müssten sich ständig um eine baldige Lö-
sung des Konflikts bemühen, damit der militärische Ein-
satz beendet werden kann.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Norbert Otto (Erfurt)
(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Bundesregierung zur Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an einer interna-
tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge-
währleistung eines sicheren Umfeldes für die
Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absi-
cherung der Friedensregelung für das Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und
14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9)
Aus meiner Sicht ist es nicht vertretbar, die Entsendung
deutscher Soldaten auf unbeschränkte Zeit zu verlängern.
Solange weiterhin kein klares Ziel für die entsendeten
Truppen besteht, bzw. das Erreichen dieses Ziels in unab-
sehbarer Ferne liegt, darf es keinen zeitlich unbegrenzten
Auftrag geben.
Mit dem Einsatz der internationalen Schutztruppe hat
es im Kosovo bisher keinen dauerhaften und sicheren
Frieden gegeben. Ethnische Minderheiten – egal welcher
Zugehörigkeit – sind weiterhin gefährdet. Vielfach wer-
den sie weiterhin von den jeweiligen Mehrheiten in den
verschiedenen Regionen verfolgt oder marginalisiert.
Solange der Zeitplan für die Stationierung im Kosovo
weiterhin unklar bleibt, besteht für die internationale
Schutztruppe die Gefahr, dass sie mit zunehmender Dauer
von der autochthonen Bevölkerung als Besatzungsmacht
angesehen wird und damit unter Umständen zur Ziel-
scheibe massiver Ausschreitungen wird. Diese Gefahr
wird durch die zunehmende Zerstrittenheit der ehemali-
gen Bürgerkriegsparteien noch verstärkt.
Dass weiterhin Hilfe zur Befriedung des Kosovos und
für die dort ansässige Bevölkerung notwendig ist, steht
außer Frage. Da die Ansätze zur Lösung der aufgezählten
Probleme in den vorliegenden Anträgen meines Erachtens
jedoch unzureichend sind, werde ich mich bei der na-
mentlichen Abstimmung enthalten.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Thomas Dörflinger
(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Bundesregierung zur Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an einer interna-
tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge-
währleistung eines sicheren Umfeldes für die
Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absi-
cherung der Friedensregelung für das Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und
14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9)
Dem Antrag der Bundesregierung, die deutsche Beteili-
gung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Ko-
sovo unbefristet fortzusetzen, werde ich unter Zurückstel-
lung deutlicher Bedenken zustimmen.
Es ist unstreitig, dass die Bundeswehr bisher einen be-
grüßenswerten Beitrag zur internationalen Präsenz im
Kosovo geleistet hat und dieser auch in der Zukunft fort-
setzen soll. Zur Sicherheit unserer Soldaten und im Sinne
einer kontinuierlichen Überprüfung der geopolitischen
Lage im Kosovo hätte jedoch an der Praxis festgehalten
werden müssen, dass der Deutsche Bundestag das Man-
dat der Bundeswehr im Kosovo nach Ablauf eines Jahres
neu berät und gegebenenfalls erneut verlängert.
Die Absicht der Bundesregierung, das Mandat der
Bundeswehr nunmehr unbefristet zu verlängern, ent-
springt rein parteipolitischem Kalkül. Es soll vermieden
werden, dass sich die Koalitionsfraktionen erneut einer
vermutlich schwierigen Debatte innerhalb der eigenen
Parteien stellen müssen. So wird Parteitaktik über Sicher-
heitsinteressen gestellt.
Gleichzeitig ist es mehr als bedenklich, wenn die Bun-
desregierung die Bundeswehrreform nicht abgeschlossen,
ja deren Umsetzung noch nicht einmal begonnen hat,
gleichzeitig aber den Streitkräften zeitlich nicht befristete
Aufgaben zuweisen will.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10234
(C)
(D)
(A)
(B)
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Bundesregierung zur Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an einer interna-
tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge-
währleistung eines sicheren Umfeldes für die
Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Ab-
sicherung der Friedensregelung für das Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 – Drucksachen 14/3454 und
14/3550 (Zusatztagesordnungspunkt 9)
Zum Antrag der Bundesregierung erkläre ich: Heute
entscheiden wir im Prinzip über einen unbefristeten Frie-
densdienst in der „Waffenstillstands-Region“ Kosovo.
Damit stellt das Parlament der Regierung einen Freibrief
in einer existenziellen Entscheidung für unser Land und
unsere Soldaten aus. Das darf nicht sein! Das Parlament
muss in einer solchen Beschlussfassung als entscheiden-
des Verfassungsorgan Vorrang behalten.
Abgesehen davon zwingt nur eine Befristung alle Ver-
antwortlichen, baldmöglichst zu einer politischen Ver-
handlungslösung zu kommen. Bisher wurde keine Stabi-
lität in der Balkanregion erreicht. Das serbische Militär
wurde nicht zerschlagen. Milosevic als Diktator wurde
nicht entmachtet. Im Gegenteil: Fast alle Experten und die
Besucher vor Ort teilen mit, dass das unkalkulierbare Ri-
siko für unsere Soldaten und unsere Verbündeten noch ge-
wachsen ist. Wann endlich setzen die verantwortlichen
Regierungen einen Schlusstermin für den Einsatz der
Friedenstruppen?
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse
(Tagesordnungspunkt 7)
Olaf Scholz (SPD): Das arbeitsrechtliche Beschäfti-
gungsförderungsgesetz war eines der ersten Gesetze der
1998 abgewählten Koalition, das die arbeitsrechtliche
Verfassung unseres Landes geändert hat. Mit diesem Ge-
setz sind viele Hoffnungen aufseiten der neoliberalen Kri-
tiker des deutschen Kündigungsschutzes verbunden ge-
wesen und mindestens gleich große Befürchtungen etwa
auf der Seite der Gewerkschaften.
Das kann man verstehen. Das Arbeitsrecht kennt, ab-
gesehen von einigen tarifvertraglichen Bestimmungen,
praktisch keine kodifizierten Regelungen über die Zuläs-
sigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen. Lediglich im
§ 620 des Bürgerlichen Gesetzbuches findet sich eine
Regelung, und die ist ziemlich schlicht. Es heißt dort, das
Dienstverhältnis endigt mit dem Ablauf der Zeit, für die
es eingegangen ist. Als Alternative wird geregelt, dass,
wenn die Dauer des Dienstverhältnisses weder bestimmt
noch aus der Beschaffenheit oder dem Zweck der Dienste
zu entnehmen ist, das Arbeitsverhältnis unter der Einhal-
tung von Fristen gekündigt werden kann.
Ob ein Arbeitsverhältnis also befristet werden kann
oder nicht, regelt die zentrale Bestimmung des Bürgerli-
chen Gesetzbuches nicht. Die Rechtsprechung hat aber
schon früh begonnen festzulegen, wann von der Möglich-
keit der Befristung Gebrauch gemacht werden kann. Das
war und ist auch nötig. Denn wenn es in das Belieben der
Vertragsparteien gestellt bleibt, wie es der Text des Bür-
gerlichen Gesetzbuches ja nahelegt, ob sie einen befriste-
ten oder einen unbefristeten Vertrag abschließen, dann
wird, weil das Kündigungsschutzgesetz die Kündigung
von Arbeitsverträgen erschwert, sicherlich zur Maximie-
rung der eigenen Vorteile von manchem Arbeitgeber stets
auf die Möglichkeit der Befristung zurückgegriffen. Die
Gefahr, dass man bei einer vollständigen Entscheidungs-
freiheit der Parteien des Arbeitsverhältnisses am Ende nur
noch befristete Arbeitsverträge hätte, ist jedenfalls nicht
gering. Die Machtbalance zwischen einzelnen Arbeitneh-
mern und den Unternehmen ist jedenfalls nicht so, dass
man davon ausgehen kann, dass hier von der Position
Gleicher aus verhandelt würde.
Deshalb hat die Rechtsprechung argumentiert, ein Ar-
beitsverhältnis könne nur dann befristet werden, wenn ein
verständiger Arbeitgeber in dem jeweilig konkreten Fall
von der Möglichkeit der Befristung Gebrauch gemacht
hätte.
Aufbauend auf dieses Argument sind dann sachliche
Gründe für eine Befristung von der Rechtsprechung er-
kannt worden. Auf der Basis waren Befristungen immer
zulässig, etwa zur Schwangerschaftsvertretung, zur Ver-
tretung von Kranken oder bei befristeten Beschäftigungs-
bedarfen.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat 1985 diese
Systematik durchbrochen, indem es zugelassen hat, dass
ein Arbeitsverhältnis auch ohne sachlichen Grund befris-
tet werden kann. Mittlerweile ist das 24 Monate zulässig
und die Befristung kann bis zu dreimal verlängert werden.
Das war also vor dem Hintergrund einer langen Recht-
sprechungstradition ein wirklicher Eingriff. Man musste
auch befürchten, dass zahlreich davon Gebrauch gemacht
werden würde.
Schauen wir uns heute die Realität nüchtern an, kann
man nicht feststellen, dass die Arbeitgeber in besonders
großem Umfang von den Möglichkeiten des Beschäfti-
gungsförderungsgesetzes Gebrauch gemacht haben. In
Westdeutschland ist seit 1985 die Zahl der befristet Be-
schäftigten von 1,1 Millionen auf 1,5 Millionen Beschäf-
tigte gestiegen. In Ostdeutschland pendelt die Zahl zwi-
schen 600 000 und 800 000. Im Bundesgebiet sind es seit
der Vereinigung mithin durchschnittlich 2 Millionen
Menschen, die befristet beschäftigt werden. Eine ge-
nauere Untersuchung der Infratest-Sozialforschung hat
für 1992 ermittelt, dass von allen Befristungen etwa
10 Prozent nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz
und damit ohne einen sachlichen Grund erfolgt sind.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10235
(C)
(D)
(A)
(B)
Wir sollten nicht an den einzelnen Zahlen kleben und
uns wechselseitig nachweisen, ob sie nun auf das Komma
genau zutreffend sind. Deutlich ist aber doch, dass die
große Hoffnung der neoliberalen Ideologen nicht einge-
troffen ist. Es gibt viel mehr verständige Arbeitgeber als
die F.D.P. sich wünscht. Die meisten Unternehmen haben
von der Möglichkeit der Befristung ohne sachlichen
Grund keinen Gebrauch gemacht. Umgekehrt muss des-
halb auch festgestellt werden, dass die befürchtete Ero-
sion des normalen, unbefristeten Arbeitsverhältnisses
nicht eingetreten ist.
Die Zahlen, die ich vorgetragen habe, machen deutlich:
Auch in Zukunft ist es möglich zuzulassen, dass in einem
bestimmten Rahmen Arbeitsverhältnisse befristet abge-
schlossen werden, ohne dass dafür von den Unternehmen
ein sachlicher Grund nachgewiesen werden muss. Das ist
keine Gefahr für unsere arbeitsrechtliche Verfassung.
Gleichwohl ist die Frage natürlich berechtigt, ob es
Sinn macht, an diesem Gesetz festzuhalten. Auch dazu
lohnt es sich, differenziert und nicht pauschal zu argu-
mentieren.
Ein wichtiges Argument für das Gesetz zur Beschäfti-
gungsförderung – daher stammt ja auch der eigenwillige
Name – ist die Unterstellung gewesen, dass mit dem Ab-
bau von arbeitsrechtlichen Schutzregelungen die Hem-
mung der Arbeitgeber, Arbeitnehmer einzustellen, sinkt
und mehr Menschen Beschäftigung finden. Das ist schon
durch leichtes Nachdenken als Illusion zu beschreiben.
Kaum ein Unternehmen wird darauf verzichten, die Zahl
seiner Beschäftigten im Bedarfsfalle zu vermehren, nur
weil es sich vor dem arbeitsrechtlichen Kündigungs-
schutz fürchtet. Mögliche Gewinne sollen von einem
funktionierenden Unternehmen auch gemacht werden
und so entscheiden sich ja auch die meisten. Das, was ei-
nem klares Denken sagt, hat mittlerweile die Statistik er-
wiesen. Mit unterschiedlichen Zahlen wird operiert: Mehr
als 50 000 neue Arbeitsplätze unterstellen nicht einmal die
striktesten Befürworter des Gesetzes von 1985.
Es muss also andere Gründe geben. Meines Erachtens
sind es vor allem zwei:
Erstens. Existenzgründer wollen sich sicher nicht auf
die Komplikationen eines Kündigungsschutzprozesses
einlassen. Es kann helfen, dass sie ihre Anfangssituation
dadurch erleichtern, dass sie zunächst mit befristeten Be-
schäftigungsverhältnissen arbeiten. Dadurch kann es
dann tatsächlich zu einer positiven Bilanz für die Be-
schäftigung kommen, weil Arbeitsplätze in neuen Unter-
nehmen neu entstehen. Hilfreich kann die einfache Befri-
stung durch das Beschäftigungsförderungsgesetz ohne ei-
nen sachlichen Grund auch in den Fällen sein, in denen
bei einer schwankenden Auftragslage oder plötzlicher Ex-
pansion Neueinstellungen erforderlich sind.
Zweitens. Für die Beschäftigten, die große Schwierig-
keiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden, weil der Ver-
lauf ihrer bisherigen Erwerbsbiographie, ihre geringe be-
rufliche Qualifikation oder lang anhaltende Arbeitslosig-
keit viele Arbeitgeber davon abhalten, sie einzustellen,
kann die den Arbeitgebern eingeräumte, erleichterte Mög-
lichkeit der Befristung eines Arbeitsvertrages eine
Chance sein. Manche Arbeitgeber scheuen sich, in einer
solchen Situation eine Einstellung vorzunehmen, wenn
bei der Beendigung der Beschäftigung die Risiken eines
Kündigungsschutzprozesses drohen. Hier erhalten man-
che Arbeitnehmer die Chance, in der betrieblichen Praxis
ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und dadurch
auch ein Dauerarbeitsverhältnis zu erhalten.
Beide von mir genannten Gründe sprechen dafür, auch
in Zukunft die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne
sachlichen Grund in einem begrenzten Rahmen zuzulas-
sen.
Der von der CDU hier vorgeschlagene Weg einer
bloßen Entfristung des geltenden Gesetzes ist aber nicht
eine geeignete Vorgehensweise. Vielmehr legen die Er-
fahrungen der Vergangenheit auch nahe, die Miss-
brauchsfälle zu beseitigen, die sich mit der bisherigen Pra-
xis des Beschäftigungsförderungsgesetzes eingeschlichen
haben.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz erlaubt die Be-
fristung eines Arbeitsvertrages bis zur Höchstdauer von
zwei Jahren bzw. eine höchstens dreimalige Verlängerung
des befristeten Arbeitsvertrages innerhalb dieses Zeitrau-
mes. In keinem Falle kann es hingenommen werden,
wenn auch weit über diesen Zeitraum hinaus Kettenar-
beitsverträge mit befristet Beschäftigten abgeschlossen
werden. Es gibt Fälle, in denen Menschen 6, 8 oder 10
Jahre immer wieder neue befristete Beschäftigungsver-
hältnisse bei ein und demselben Arbeitgeber erhalten.
Diese Praxis muss unterbunden werden. Eigentlich ver-
sucht das Beschäftigungsförderungsgesetz das auch. Eine
Befristung des Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen
Grund ist nämlich dann unwirksam und unzulässig, wenn
zu einem vorhergehenden, unbefristeten Arbeitsvertrag
oder zu einem vorhergehenden, befristeten Arbeitsvertrag
mit demselben Arbeitgeber ein Zusammenhang besteht.
Das Gesetz ist aber nicht präzise. Zulässig ist nach der Ge-
setzeslage der Anschluss einer Befristung ohne sachli-
chen Grund an eine Befristung, für die ein sachlicher
Grund vorgelegen hat, zum Beispiel an eine Schwanger-
schaftsvertretung. Im fröhlichen Wechsel zwischen Be-
fristung mit sachlichem Grund und ohne sachlichen
Grund können daher diese unerwünschten Befristungs-
ketten entstehen. Das ist etwas, was die EU-Richtlinie, die
dieses Thema behandelt, untersagt. Wir haben also allen
Anlass, dieser Praxis ein Ende zu setzen und festzulegen,
dass eine Befristung ohne sachlichen Grund unzulässig ist
im Anschluss an einen unbefristeten Arbeitsvertrag oder
an jede Art eines befristeten Arbeitsvertrages, auch wenn
es eine Sachbefristung war.
Nachgedacht werden muss sicherlich auch, ob die bis-
herige Regelung, dass ein sachlicher Zusammenhang zwi-
schen befristeter Beschäftigung und Vorbeschäftigung an-
zunehmen ist, wenn zwischen ihnen weniger als 4 Monate
liegen, sachgerecht ist oder ob dort ein längerer Zeitraum
festzulegen ist der zwischen den einzelnen Beschäftigun-
gen vergehen muss, bevor von der Möglichkeit einer Be-
fristung nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz bei
einem früheren Arbeitnehmer Gebrauch gemacht werden
kann.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10236
(C)
(D)
(A)
(B)
Es gibt einen weiteren Missbrauchsfall. Die Mehrheit
der Unternehmer entspricht dem vom Bundesarbeitsge-
richt geprägten Bild eines verständigen Unternehmers
oder verständigen Arbeitgebers und hat eben in der Mehr-
zahl der Fälle nicht von der Möglichkeit des Abschlusses
befristeter Arbeitsverhältnisse Gebrauch gemacht. Man-
che aber nutzen das Gesetz ziemlich schamlos aus. Es gibt
Unternehmen, in denen ein Teil der Beschäftigten niemals
länger als die nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz
möglichen 2 Jahre beschäftigt wird. Spätestens nach
2 Jahren müssen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-
nen aus dem Unternehmen ausscheiden, weil sie dann
keine weitere Verlängerung durch einen neuen befristeten
Arbeitsvertrag erhalten und auch keinen unbefristeten. Es
darf nicht sein, dass in unseren Unternehmen Beleg-
schaftsteile strukturell nur befristet beschäftigt werden.
Ein verständiger Arbeitgeber würde nicht so entscheiden.
Ein verständiger Gesetzgeber muss diesem Missbrauch
einen Riegel vorschieben und das kann sinnvollerweise
geschehen, indem den Betriebsräten eine Form der Miss-
brauchskontrolle eingeräumt wird. Deren Details sind si-
cherlich noch zu finden, aber es gibt genügend Ansatz-
punkte für eine solche Missbrauchskontrolle. Ein solcher
Ansatzpunkt könnte sein, dass dem Betriebsrat die Mög-
lichkeit eingeräumt wird, bei Neueinstellungen dafür
Sorge zu tragen, dass befristet beschäftigte Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer nicht übergangen werden und
ausscheiden müssen und dann durch neue befristet Be-
schäftigte ersetzt werden.
Ich fasse zusammen: Das Beschäftigungsförderungs-
gesetz ist nicht der neoliberale Sprengsatz für die Ar-
beitsrechtsverfassung unseres Landes geworden. Befür-
worter der Gesetzesnovelle von 1985 und ihre Kritiker ha-
ben sich gleichermaßen geirrt. Es ist aber ein mögliches
Instrument, um den Übergang in Beschäftigung für Ar-
beitnehmer mit komplizierten Vermittlungschancen auf
dem Arbeitsmarkt zu verbessern und um insbesondere
Existenzgründern eine nötige Flexibilität in ihren Hand-
lungsoptionen zur Verfügung zu stellen. Nötig ist also
eine behutsame Reform des Beschäftigungsförderungsge-
setzes. Der Antrag, den die CDU hier stellt, ist dafür zu
schlicht. Wir werden eine bessere Vorlage zur richtigen
Zeit dem Deutschen Bundestag zuleiten.
Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Die arbeitsmarkt-
politisch notwendige Möglichkeit des Abschlusses befris-
teter Arbeitsverträge läuft aufgrund der in § 1 Abs. 6 des
Gesetzes über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäf-
tigungsförderung (BeschFG) am 31. Dezember 2000 aus.
Mir ist zwar bekannt, dass die Bundesregierung im Zu-
sammenhang mit der Umsetzung der EU-Richtlinie über
befristete Arbeitsverträge vom 28. Juni 1999 noch in die-
sem Jahr eine Novelle des BeschFGes plant. Allerdings ist
wohl noch nicht entschieden, ob § 1 BeschFG unverändert
verlängert bzw. entfristet wird.
Sollte das Gesetz auslaufen, hätte dies fatale Folgen
und würde zu negativen Beschäftigungseffekten und – da-
mit verbunden – zu Beitragsausfällen bei den Sozialversi-
cherungsträgern führen.
Es ist daher dringend geboten, die bisher bestehende
Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge,
wie sie die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in vorliegen-
dem Gesetzentwurf fordert, beizubehalten.
Einzelne Äußerungen von Vertretern von SPD und
Grünen lassen durchaus die Hoffnung zu, dass es hier zu
einer vernünftigen Einigung kommen kann. So spricht
sich nicht nur der Ministerpräsident von Niedersachsen,
Sigmar Gabriel („Bild“-Zeitung vom 20. April 2000),
dafür aus, das Gesetz zu verlängern.
Auch die Kollegen Dückert und Wolf von Bündnis 90/
DIE GRÜNEN haben sich in einem Arbeitspapier vom
15. Mai 2000 dafür ausgesprochen, dieses wichtige In-
strument der Flexibilisierung beizubehalten und dauerhaft
im Arbeitsrecht zu verankern.
Unisono sind sie hier der Ansicht der Arbeitgeberver-
bände und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, denn es ist
nicht zu leugnen, dass die Möglichkeit, „Arbeitsverhält-
nisse auf Zeit“ abzuschließen, eines der erfolgreichsten
arbeitsmarktpolitischen Instrumente der vergangenen
zwei Jahrzehnte ist.
Bereits 1985 wurde durch die Liberalisierung des Kün-
digungsschutzes mehr Flexibilität bei der Einstellung von
Mitarbeitern geschaffen. Seither ist es möglich, ohne An-
gabe eines sachlichen Grundes, ein bis zu 2 Jahren befris-
tetes Beschäftigungsverhältnis abzuschließen. Diese
zunächst befristete Regelung wurde mehrfach verlängert
und gilt nun bis zum 31. Dezember 2000.
Den Verlängerungen lagen die Ergebnisse wissen-
schaftlicher Untersuchungen aus den Jahren 1987/1988
(Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und
Infratest Sozialforschung München) und 1992/1993
(Infratest Sozialforschung München) zugrunde. Danach
haben sich befristete Arbeitsverhältnisse nach dem
BeschFG als wirksame Instrumente zur Förderung von
Neueinstellungen erwiesen.
Die Untersuchungsergebnisse lassen sich wie folgt zu-
sammenfassen:
Erstens. Befristete Arbeitsverträge nach dem BeschFG
haben sich als Brücke zu Dauerarbeitsverhältnissen be-
währt: Die Übernahmequote beträgt 50 Prozent. Mit an-
deren Worten: Für die Hälfte aller Arbeitnehmer mit ei-
nem befristeten Arbeitsvertrag war diese Form die Mög-
lichkeit, den Arbeitgeber von den eigenen Fähigkeiten zu
überzeugen und eine dauerhafte Anstellung zu erhalten.
Zweitens. Die Erleichterungen beim Abschluss befri-
steter Arbeitsverträge haben nicht zu einem Ersatz unbe-
fristeter Neueinstellungen geführt, wie dies ursprünglich
befürchtet worden war. Die Befristungsquote ist seit 1985
nahezu konstant geblieben und bewegte sich 1994 im Be-
reich von 5 bis 6 Prozent.
Drittens. Durch die Befristungsmöglichkeiten wurden
zusätzliche Beschäftigungszuwächse erzielt. Die Anzahl
der zusätzlich geschaffenen Dauerarbeitsplätze in der Pri-
vatwirtschaft lag im Jahr 1992 zwischen 20 000 und
45 000. Darüber hinaus entstanden indirekte Beschäfti-
gungseffekte dadurch, dass die Betriebe aufgrund der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10237
(C)
(D)
(A)
(B)
durch das BeschFG gesicherten Rechtsgrundlage Einstel-
lungen vorgenommen haben, die sie sonst unterlassen hät-
ten. Dies betraf im Jahr 1992 zwischen 130 000 und
260 000 Neueinstellungen in der Privatwirtschaft.
Viertens. Befristete Arbeitsverträge nach dem
BeschFG haben sich nicht nachteilig auf die Arbeitsbe-
dingungen und das berufliche Fortkommen der Arbeit-
nehmer ausgewirkt.
Es bleibt festzuhalten, dass die Einführung dieser Ar-
beitsverhältnisse zu positiven Ergebnissen auf dem Ar-
beitsmarkt geführt hat. Die Befristung von Arbeitsver-
hältnissen hat die Bereitschaft der Unternehmen erhöht,
neue Mitarbeiter einzustellen, besonders weil bei anzie-
hender Auftragslage rasch zusätzliche Arbeitskräfte ein-
gestellt werden können. Ohne Rückgriff auf teure Über-
stunden können die Unternehmen kurz- oder mittelfri-
stige Arbeitsspitzen auffangen und Fehlzeiten von
Mitarbeitern überbrücken.
Darüber hinaus geben befristete Einstellungen Exis-
tenzgründern die Chance, flexibel die oftmals schwierige
und unübersichtliche Startphase zu bewältigen. Gerade
vor dem Hintergrund unseres überregulierten Arbeits-
rechtes senkt die Möglichkeit, einen Mitarbeiter zunächst
befristet beschäftigen zu können, auch psychologische
Barrieren.
Die Befristung hat im Ergebnis nicht nur kurzfristige,
sondern vor allem auch nachhaltige Wirkungen, weil be-
fristete Arbeitsverhältnisse sehr oft in unbefristete mün-
den.
Da auch in den meisten anderen Staaten der EU die Be-
fristung von Arbeitsverträgen ohne besondere Vorausset-
zung zulässig ist, wäre eine nationale Verschlechterung
der Rechtslage sowohl arbeitsmarktpolitisch als auch
wettbewerbspolitisch nicht akzeptabel. Im Übrigen lässt
auch die EU-Richtlinie die erstmalige Befristung unein-
geschränkt zu.
Im Interesse der Beschäftigungssicherung und -förde-
rung sowie der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt-
schaft sollte baldmöglichst über die Verlängerung bzw.
Entfristung des § 1 BeschFG entschieden werden, um im
Interesse der Arbeitslosen den Unternehmen Rechtssi-
cherheit bei ihren Personalplanungen zu geben.
Ich fordere daher die Mitglieder der Regierungsfrak-
tionen auf, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
unserer Arbeitsgesellschaft ist es für jemanden, der ein-
mal arbeitslos ist, sehr schwer, wieder einen Arbeitsplatz
zu finden. Ein Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik ist es des-
halb, die Integration von Arbeitslosen in den ersten Ar-
beitsmarkt durch vielfältige Strukturen zu fördern. Es
geht uns darum, die Übergänge von Phasen der Arbeitslo-
sigkeit, abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit,
Qualifizierung und Familienarbeit zu erleichtern und zu-
sätzliche Beschäftigung zu schaffen. Die Möglichkeit zur
Befristung von Arbeitsverhältnissen und zum Beispiel
auch die Möglichkeiten zur Zeitarbeit sind sinnvolle In-
strumente zur Flexibilisierung bei der Einstellung von
Mitarbeitern. Aber sie bedürfen auch der Regelungen zur
Abgrenzung gegen Willkür.
Die Befristung von Arbeitsverträgen ist ohne Angabe
eines sachlichen Grundes bis zu 24 Monaten möglich.
1992 wurde jede dritte Neueinstellung befristet abge-
schlossen. Die Hälfte der Arbeitnehmer wurde nach Ab-
lauf der Befristung in ein dauerhaftes Beschäftigungsver-
hältnis übernommen. Wesentliche Gründe für die Befris-
tung waren aus Sicht der Arbeitgeber die Möglichkeit der
Neueinstellung trotz Unsicherheit über die wirtschaftliche
Entwicklung, kündigungsschutzbedingte Schwierigkei-
ten im Falle einer Entlassung und die längere Erpro-
bungsphase. Eine deutliche Erhöhung der Zahl befristeter
Arbeitsverhältnisse, wie von manchen Sozialpolitikern
befürchtet worden war, ist nicht eingetreten. Der Anteil
der befristeten Arbeitsverhältnisse am Bestand der Be-
schäftigung bewegte sich von 1985 bis 1994 im Bereich
von 5 bis 6 Prozent.
Diese Erfahrungen liegen im guten europäischen Mit-
telfeld. Die Möglichkeiten zur Befristung ohne sachlichen
Grund sollten auch in der Bundesrepublik erhalten blei-
ben. Allerdings – das erkennen wir ausdrücklich an – gibt
es Diskussionsbedarf über die Ausgestaltung der Rege-
lungen. Die vorliegenden Erfahrungen werden auf Ar-
beitgeberseite, Arbeitnehmerseite, bei den Arbeitsrecht-
lern und bei den Gerichten sehr unterschiedlich bewertet
werden. Darum hat sich das Bündnis für Arbeit die Dis-
kussion um die Befristung vorgenommen, und aus diesem
Grunde wird im BMAan einem Vorschlag gearbeitet. Wir
sollten vor einer endgültigen Entscheidung diese Diskus-
sionsprozesse abwarten. Die CDU/CSU sollte deshalb
ihren Antrag zurückziehen.
Es ist unbestreitbar, dass es in der Praxis der Befristung
Schwierigkeiten gibt. Es gibt „Befristungsbiographien“
bei Arbeitnehmern, die weit über 24 Monate hinausgehen.
Es gibt aufseiten der Arbeitgeber Unsicherheiten über die
Rechtsfolge einer nach gültigem Recht unzulässigen oder
in der Form ungenügenden Befristung. Es ist deshalb zu
klären, ob zum Beispiel mit einem vom Gesetzgeber zu
definierenden, nicht abschließenden „Katalog“ mehr
Klarheit für alle Beteiligten und für die Gerichte geschaf-
fen werden kann oder ob es ausreichend ist, dass die Ta-
rifvertragsparteien die vorhandenen Möglichkeiten aus-
schöpfen.
Rechtsunsicherheit besteht heute insbesondere für Ar-
beitgeber, wenn es um die Frage geht, ob die Wiederho-
lung einer Befristung mit einem Arbeitnehmer möglich
ist, zum Beispiel wenn die vorhergehende Befristung
sachlich begründet war. Ein Katalog von Befristungs-
gründen in Anlehnung an die Rechtssprechung könnte
hier hilfreich sein. Dies ist zu diskutieren. Diese Fragen
sind noch in der Diskussion, auch im Bündnis für Arbeit.
Ich gehe davon aus, dass es einen abschließenden Ka-
talog für Befristungsgründe nicht geben kann. Befristun-
gen ohne sachlichen Grund bis zu 24 Monaten sind sicher
auch für die Zukunft nötig. Die genauen Regeln sind noch
in der Debatte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10238
(C)
(D)
(A)
(B)
Dr. Heinrich Leonhard Kolb (F.D.P.): Uns liegt
heute ein durchaus fortschrittlicher Antrag der Union aus
dem Bereich des Arbeitsrechts vor. Ich muss zugeben,
dass der Wegfall der Befristung des Teils des Beschäfti-
gungsförderungsgesetzes, der die Befristung von Arbeits-
verträgen beinhaltet, durchaus einen gewissen Charme
hat. Ich erinnere mich auch an entsprechende Vorschläge
meiner geschätzten Kollegin Margareta Wolf in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu diesem Thema, die
die Union hier offenbar aufgegriffen hat. Ich bin gespannt,
wie die Grünen sich im Verlauf der Beratungen zu den
dann auf dem Tisch liegenden Vorschlägen verhalten wer-
den. Die Stunde des Umfallens wird kommen, da bin ich
mir sicher; das haben Sie ja in letzter Zeit oft geübt!
Die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen
schafft in der Praxis dauerhafte Arbeitsplätze und ermög-
licht gerade jungen Berufseinsteigern die Chance, ins Er-
werbsleben einzutreten.
Befristete Arbeitsverträge bedeuten auch, dass diese
Menschen zumindest für einen gewissen Zeitraum nicht
mehr abhängig von der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe
waren, dass sie mit eigener Arbeit selbstständig ihren Le-
bensunterhalt verdienen konnten. In diesem Zeitraum
waren diese Menschen auch Steuer- und Sozialversiche-
rungsbeitragszahler und nicht Empfänger von Transfer-
leistungen.
Nun sind bei weitem nicht alle befristeten Arbeitsver-
träge in unbefristete Arbeitsverhältnisse umgewandelt.
Man mag es bedauern, dass rund 44 Prozent der neu ein-
gestellten Menschen ihren Arbeitsplatz nicht auf Dauer
behalten konnten. Nur: Ohne die Möglichkeit der Befris-
tung von Arbeitsverträgen hätten sie in diesem Zeitraum
gar keinen Arbeitsplatz gehabt und die angefallene Arbeit
wäre vermutlich über Überstunden durch die vorhandene
Belegschaft erledigt worden. Da bin ich doch eher dafür,
jemanden befristet einzustellen.
Die Konjunktur richtet sich nicht nach dem deutschen
Arbeitsrecht und sie wird es Gott sei Dank niemals tun.
Weil dies so ist, muss sich ein Unternehmer sehr genau
überlegen, ob sich die gute Auftragslage fortsetzen wird,
und vor allen Dingen, wie lange er einen zusätzlichen Mit-
arbeiter finanzieren kann. Respice finem, bedenke das
Ende. Das ist ein sehr guter Leitsatz für einen verantwor-
tungsvollen Unternehmer. In einer Entscheidungssitua-
tion unter Unsicherheit wird er vor die Wahl gestellt, ein
dauerhaftes Arbeitsverhältnis nach dem deutschen Ar-
beitsrecht zu begründen oder die Mehrarbeit durch Über-
stunden zu erledigen. Die Möglichkeit der Befristung ei-
nes Arbeitsverhältnisses schafft hier einen Weg, Unsi-
cherheit zu reduzieren und ein neues Arbeitsverhältnis
entstehen zu lassen.
Wie die Erfahrungen zeigen, gehen die deutschen Ar-
beitgeber sehr verantwortungsbewusst mit dem Mittel der
Befristung um. Deutschland liegt beim Anteil der befri-
steten Arbeitsverhältnisse an der Gesamtheit in Europa
mit 12,3 Prozent im Mittelfeld. Vorn sind die Spanier mit
32,9 Prozent, am Ende finden wir England mit 7,1 Pro-
zent. Im Übrigen ist es sogar so, dass es in England kein-
erlei Einschränkungen für die Befristung von Arbeitsver-
hältnissen gibt, ebenso wenig in Irland, das ebenfalls nur
einen Anteil von 9,4 Prozent aufweist. Beide Länder ha-
ben auch eine wesentlich geringere Arbeitslosenquote als
wir, sogar stark rückläufig – und das nicht nur aufgrund
einer günstigen demographischen Entwicklung. Es
scheint also irgendetwas dran zu sein an den positiven
Wirkungen einer Befristung.
Wie sieht denn die Lebenswirklichkeit – und damit
auch die Berufswirklichkeit – in Deutschland aus? Die
Zeiten, in denen Arbeitnehmer auf Ewigkeiten beim glei-
chen Arbeitgeber tätig war und seine Arbeitsstelle dann
an seinen Sohn weitergegeben hat, sind doch vorbei. Ge-
rade von Berufseinsteigern werden befristete Arbeitsver-
träge sehr häufig genutzt. 20 Prozent der jungen Arbeit-
nehmer – ohne Azubis – wählen diese Form des Berufs-
einstiegs. So können beide Seiten sich erst einmal etwas
länger als für die Dauer der Probezeit beschnuppern. Viele
Arbeitsplätze würden ohne die Befristung erst gar nicht
angeboten und die Jugendarbeitslosigkeit würde damit
noch höher.
Auf der anderen Seite haben wir gerade in der New
Economy Menschen, die an festen Arbeitsplätzen gar
nicht interessiert sind, die projektbezogen arbeiten, die
permanent zwischen Selbstständigkeit und Arbeitneh-
mereigenschaft wechseln – sofern Rot-Grün sie nicht
schon in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis „reingeriestert“
hat. Für diese Frauen und Männer bieten befristete Ar-
beitsverhältnisse eine hervorragende Möglichkeit, abge-
sichert an einem Projekt zu arbeiten, ohne die eigene Un-
abhängigkeit zu verlieren.
Hier bin ich an dem Punkt, bei dem ich Kritik am Vor-
schlag der Union üben muss: Ihr Vorschlag greift einfach
zu kurz. Sie zementieren damit nur die Möglichkeit, ein
Arbeitsverhältnis innerhalb von zwei Jahren maximal
dreimal zu verlängern. Wirklich innovativ ist das nicht.
Ich halte eine Verlängerung des Zeitraumes auf vier
Jahre für durchaus sinnvoll, denke aber auch über weiter
gehende Schritte nach. Wir werden im Zuge der Beratun-
gen unsere Vorschläge auf den Tisch legen, um aus die-
sem schwarzen, etwas asthmatischen beschäftigungspoli-
tischen Vehikel einen modernen und flotten Flitzer mit
blau-gelbem Turbo für den Arbeitsmarkt zu machen.
Frau Wolf und die Grünen sind zur Mitarbeit selbst-
verständlich herzlichst eingeladen!
Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): 15 Jahre gibt es nun
schon die Möglichkeit, Arbeitsverhältnisse zu befristen –
beschäftigungsfördernd sollte das wirken. Aber noch nie
waren die Arbeitslosenzahlen so hoch wie in den vergan-
genen 15 Jahren. Das so genannte Beschäftigungsförde-
rungsgesetz war schon damals falsch, und es gibt keinen
Grund, diese immer wieder verlängerte Regelung nun für
alle Ewigkeit festzuschreiben. Die einzigen, die davon
profitieren, sind die Arbeitgeber: Sie wären weiter in der
Lage, Arbeitnehmer, die sie eigentlich dauerhaft benöti-
gen, nur vorübergehend einzustellen. Und das ist dann
nichts anderes als die Verlängerung der Probezeit von
Neueingestellten auf bis zu zwei Jahre. Fragen Sie doch
einmal die Betriebsräte der Bäckereikette Kamps oder die
wenigen, die es bei McDonalds gibt: Sie werden Ihnen
genau das bestätigen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10239
(C)
(D)
(A)
(B)
Die CDU/CSU behauptet in ihrem Gesetzentwurf, die
Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverträgen habe
sich als eines der erfolgreichsten arbeitsmarktpolitischen
Instrumente erwiesen. Ja, wo sind sie denn, die Arbeits-
plätze, die es sonst nicht gegeben hätte? Die Befristung
führt doch in Wahrheit nicht zu mehr Jobs, sondern dazu,
dass die Arbeitgeber sich die neuen Kolleginnen und Kol-
legen in den ersten ein bis zwei Jahren völlig gefügig ma-
chen können, wie es die NGG formuliert, die übrigens die
ersatzlose Streichung der Befristung fordert.
Mit der Befristungsregelung werden außerdem gerade
die Chancen von jungen Menschen beschnitten und nicht
befördert. 1998 waren über 40 Prozent der befristet be-
schäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwi-
schen 15 und 19 Jahre alt und die zweitgrößte Gruppe der
Betroffenen waren die 20- bis 24-Jährigen. Mit der Befris-
tung spalten Sie die Belegschaften in solche mit relativ si-
cheren, dauerhaften Arbeitsplätzen und solche mit vorü-
bergehenden Jobs. Dies höhlt die Solidarität aus und pro-
duziert Duckmäuser, die sich dreimal überlegen, ob sie für
ihre Rechte kämpfen, wenn damit eine Verlängerung des
Arbeitsvertrags auf dem Spiel steht.
Von diesen Arbeitsverhältnissen gibt es immer mehr.
Seit Beginn der 90er-Jahre ist jede dritte Neueinstellung
befristet und nach DGB-Angaben hatten 1999 2,8 Milli-
onen Menschen – das sind rund 9 Prozent – einen befris-
teten Arbeitsvertrag. Auch hier hat der Osten mal wieder
den Kürzeren gezogen; denn in den neuen Ländern waren
14 Prozent der Beschäftigten betroffen, in den alten Län-
dern 8 Prozent.
Es ist nicht so, dass die Menschen befristet arbeiten
wollen; das sind tatsächlich nur 3 Prozent. Mehr als ein
Fünftel der befristet Beschäftigten gibt an, befristet zu ar-
beiten, weil keine andere Chance auf einen Job besteht.
Sie werden also schlicht in die Befristung gezwungen.
Das heißt, sie leben in ökonomischer und sozialer Unsi-
cherheit und können nicht langfristig planen; denn in ei-
nem befristeten Job wird der Kündigungsschutz zur
Farce, wie der IG-Metall-Vize Jürgen Peters zu Recht be-
merkt.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat 2 000 Betriebsräte be-
fragt. Ergebnis: Der Anteil der auf Dauer beschäftigten
Arbeiter und Angestellten ist nach Angaben knapp der
Hälfte der befragten Betriebsräte in den vergangenen vier
Jahren drastisch gesunken, während die Zahl der befriste-
ten Jobs steigt. Das ist doch der klassische Drehtüreffekt.
Unbefristete Arbeitsverhältnisse werden durch befristete
ersetzt. Im Übrigen: Wenn diese Regelung am Jahresende
ausläuft, ist die befristete Einstellung ebenso möglich,
wie andere Formen der Flexibilität, um die es Ihnen ja
ausschließlich geht, wenn es dafür sachliche Gründe, wie
zum Beispiel eine unsichere Auftragslage des Unterneh-
mens, gibt. Darauf weisen Sie sogar in Ihrem Gesetzent-
wurf hin. Auch Mutterschafts-, Erziehungsurlaubs- und
Krankheitsvertretungen sind weiterhin möglich. Und weil
es diese Möglichkeiten gibt, ist es sinnvoller, die Befri-
stung auslaufen zu lassen und gesetzliche Rahmenrege-
lungen zum Schutz der Beschäftigten zu schaffen, die
konkrete Ausgestaltung aber den jeweiligen Tarifparteien
zu überlassen, so wie es der DGB vorgeschlagen hat.
Dass die CDU einen solchen Gesetzentwurf vorlegt
und Herr Hundt und Herr Göhner ihn auf das Schärfste
begrüßen und sogar Leiharbeitsfirmen das Recht zugeste-
hen wollen, befristet einzustellen, das kann ich ja noch
nachvollziehen. Dass aber Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, die Sie 1996 gegen die Befris-
tung gestimmt haben, heute eine unbefristete Verlänge-
rung der bestehenden Regelung für „unbedingt ange-
zeigt“ halten, wie die Kollegin Wolf sich zitieren lässt,
zeigt ganz deutlich: Sie sind längst in der Mitte der Ge-
sellschaft angekommen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Berichts: Migrationbericht
(Tagesordnungspunkt 8)
Lilo Friedrich (Mettmann) (SPD): Wie wichtig die
Fragen der Zu- und Einwanderung in Deutschland sind,
zeigt sich täglich. Die aktuelle Diskussion um die Green
Card, die Reaktionen auf die viel beachtete und, wie ich
meine, sehr beachtenswerte Rede von Bundespräsident
Johannes Rau sind hierfür nur einige Beispiele.
Deutlich wird dabei immer: Migrationspolitik und In-
tegration sind die zentralen Zukunftsaufgaben unserer
Gesellschaft. Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft
und Kultur in unserem Land zusammenleben, ist längst zu
einer Tatsache geworden, die sich nicht mehr ändern wird.
Wer sich weigert, dies anzuerkennen, schürt gefährliche
Stimmungen in der Bevölkerung.
Wir werden auch zukünftig mit der Zuwanderung von
Arbeitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern,
Aussiedlern und Flüchtlingen leben, und zwar aus gutem
Grund: Wir sind auf Zuwanderung angewiesen – aus wirt-
schaftlichen und demographischen, aber auch aus sozia-
len und kulturellen Gründen. Unser Land wird nicht nur
durch „Multikulti“ und Vielfalt bereichert. Menschen aus
anderen Ländern gründen in Deutschland Betriebe, bieten
Arbeits- und Ausbildungsplätze an. Sie zahlen Einkom-
mensteuer und Mehrwertsteuer. Sie leisten Beiträge zur
Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Damit
trägt die ausländische Bevölkerung dazu bei, dass wir
Wohlstand erwirtschaften und soziale Sicherheit finanzie-
ren können.
Doch das Zusammenleben fällt Menschen unter-
schiedlicher Herkunft nicht immer leicht. Es gibt Ängste
und Unsicherheiten bei der Begegnung mit Menschen und
Lebensweisen, die wir nicht kennen. Es stellt sich die
Frage, wie ein besserer Umgang miteinander gestaltet
werden kann.
Deshalb muss die Integrationsbereitschaft von Einhei-
mischen und Zuwanderern gefördert und unterstützt wer-
den. Je besser die notwendige Integration gelingt, desto
größer wird auch die Aufnahmebereitschaft werden. Für
eine gelungene Integration brauchen wir ein gesellschaft-
liches Klima, das eine sachliche Diskussion ermöglicht
und Ängste vor einer vermeintlich überhöhten Zuwande-
rung nimmt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10240
(C)
(D)
(A)
(B)
Leider wird die Diskussion um Zu- und Einwanderung
hierzulande jedoch oft sehr aufgeregt und wenig sachlich
geführt. Häufig führen wir Scheindebatten, statt uns mit
dem Thema des Zusammenlebens differenziert und in an-
gemessener Weise zu beschäftigen.
Daher ist es wichtig, die Daten und Fakten der Migra-
tion genau zu kennen. Erst auf der Grundlage gesicherter
Zahlen können wir die Entscheidungsfindung zu den The-
men Zuwanderung und Integration sinnvoll voranbrin-
gen. Was wir brauchen, ist aktuelles, vollständiges und
zugleich detailliertes statistisches Material. Die bislang
erstellten Statistiken erfüllen diese Anforderungen nur
teilweise.
Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir deshalb die
Bundesregierung auf, jährlich einen Migrationsbericht
vorzulegen, der unter Einbeziehung aller Zuwanderungs-
gruppen einen umfassenden Überblick über die jährliche
Entwicklung und die Ursachen der Zu- und Abwanderung
gibt. Wir alle brauchen einen solchen regelmäßigen Be-
richt. Auch von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden
und anderen Organisationen wird dies seit langem gefor-
dert.
Dieser Bericht soll informieren über den Zu- und Fort-
zug von Deutschen und Ausländern und die Binnenwan-
derung innerhalb der Europäischen Union. Darüber hi-
naus soll er präzise Daten liefern über die Anzahl der sich
in Deutschland aufhaltenden Flüchtlinge und über den
Zuzug von Aussiedlern. Ebenso gefordert sind Angaben
zur Anzahl der Werkvertrags-, Gast- und Saisonarbeit-
nehmer, der Grenzgänger sowie der ausländischen Stu-
dierenden.
Die Statistik soll auch Auskunft geben über die Anzahl
der Asylanträge, aufgegliedert nach Herkunftsland, Ge-
schlecht und Alter und über die Gesamtzahl der unan-
fechtbaren positiven Entscheidungen des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nach Her-
kunftsländern. Dabei sind auch Anerkennungen aufgrund
gerichtlicher Verpflichtungen aufzuführen. Nicht zuletzt
brauchen wir Angaben zur Anzahl der Ausweisungen und
Abschiebungen.
Mit Hilfe einer solchen jährlichen Migrationsstatistik
wird uns eine Entscheidungsgrundlage für ein problem-
orientiertes und vorausschauendes Handeln gegeben. Die
Diskussion um Zuwanderung und Integration kann dann
endlich versachlicht werden.
Welche möglichen Konsequenzen aufgrund der aufzu-
zeigenden Entwicklungen und Zahlenangaben zu ziehen
sind, sollte meines Erachtens erst dann entschieden wer-
den, wenn über die Situationsbeschreibung, die Zielvor-
gaben einer Migrations- und Integrationspolitik und über
die Wirkung von Maßnahmen Einigkeit besteht. Hierzu
brauchen wir eine offene Diskussion und einen breiten
Konsens. Um den Weg dahin beschreiten zu können, ap-
pelliere ich an alle Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges, unserem Antrag zuzustimmen.
Thomas Strobl (CDU/CSU): Zuwanderung ist ein
Thema, das uns in der Vergangenheit immer wieder be-
schäftigt hat und das uns auch in Zukunft wieder verstärkt
beschäftigen wird. Es ist ein Thema, das sicherlich oft Ge-
genstand überaus ideologisierter Debatten war. Dies ist
möglicherweise angesichts unserer jüngeren Geschichte
auch verständlich.
Allerdings haben sich die Zeiten geändert. Wir haben
weltweite Migrationsströme und zunehmende Einwande-
rung in die wohlhabenden Industrienationen. Durch die
rasch fortschreitende Globalisierung dringen immer mehr
Probleme aus fernen Ländern in unser Bewusstsein. Wir
werden gezwungen, uns damit auseinander zu setzen.
Wenn wir alle durch ein großes Internet vernetzt sind,
dann müssen uns zum Beispiel die politischen und recht-
lichen Verhältnisse in Entwicklungsländern eben ver-
stärkt interessieren, wenn wir erreichen wollen, dass sich
dort nicht Hacker niederlassen und unbehelligt weltweit
Milliardenschäden in unserer Wirtschaft anrichten, indem
sie Computerviren durch das Netz schicken. Also müssen
wir uns, ob es uns passt oder nicht, gewaltig umstellen.
Einmal von der Frage abgesehen, ob es uns mit einem
ständig geringer werdenden Potenzial an jungen Men-
schen gelingen kann, unseren hohen technologischen
Standard zu erhalten und immer wieder an der Spitze der
Innovation zu sein, müssen wir uns natürlich auch der
Frage stellen, wie unser Lebensstandard und die Sozial-
standards in unserem Land gehalten werden können bzw.
was wir ändern müssen und wie wir uns an die sich ver-
ändernde Situation anpassen müssen.
Nun wird immer wieder vorgebracht, dass die Delle in
unserer Bevölkerungsentwicklung durch verstärkte Ein-
wanderung begradigt werden könne. Das ist zunächst ein
bestechend logischer Gedanke: Wir gleichen einfach un-
sere eigenen Geburtendefizite durch die Förderung von
Zuwanderung in unser Land aus, durch Zuwanderung aus
Gesellschaften, die ohnehin Probleme mit Überbevölke-
rung haben.
Diese Annahme setzt aber voraus, dass es uns gelingt,
eine Einwanderung zu fördern, die das zu leisten vermag,
was wir benötigten, um sozusagen bevölkerungspolitisch
einigermaßen die von mir genannten Ziele zu erreichen.
Es müssten also Familien sein, die wesentlich mehr
Kinder als deutsche Familien bekommen. Dies ist bei Ein-
wanderern, nach allem was wir heute wissen, nur in der
ersten Generation der Fall. Schon in der zweiten Genera-
tion, bei den schon hier geborenen oder aufgewachsenen
Söhnen und Töchtern, ist dies nicht mehr so. Zumindest
diesbezüglich geht die Assimilierung relativ schnell.
Also kurz und gut: Wir bräuchten eine Einwanderung,
die nicht nur bezüglich der Zahl unser Vorstellungsver-
mögen vollkommen übersteigt; vielmehr müssten es auch
noch solche Einwanderer sein, die jung, kinderreich, gut
ausgebildet und integrationswillig sind.
Warum trage ich ihnen das alles vor? Ich trage das vor,
weil ich denke, dass es hohe Zeit ist, dass wir beim Thema
Zuwanderung und Ausländerpolitik nüchtern und sach-
lich mit Zahlen argumentieren, um uns nicht in Wolken-
kuckucksheimen naiver Zuwanderungseuphorie, wie sie
Rot-Grün nach wie vor pflegt, zu verlieren.
Der Migrationsbericht, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, zeigt ganz deutlich, dass sie noch immer nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10241
(C)
(D)
(A)
(B)
bereit sind, anzuerkennen, dass es beim Thema Zuwande-
rung schon lange nicht mehr um ein Feld der masochis-
tisch angehauchten Selbstbefriedigung linker Moralapo-
stel gegen den Faschismus geht; vielmehr geht es darum,
zu einer klaren Definition unserer deutschen Interessen zu
kommen. Dazu brauchen wir eine umfassende Statistik,
die als Grundlage für eine solche Definition dienen kann.
Soweit herrscht im Übrigen in diesem Haus grundsätzli-
cher Konsens.
Auch konstatieren wir mit großem Interesse und er-
kennen wir als Fortschritt bei Rot-Grün an, dass zumin-
dest Teile der Koalition zwischenzeitlich bereit sind, an-
zuerkennen, dass es unerlässlich für das Zusammenleben
von Deutschen und Ausländern in unserem Land ist, dass
wir viel mehr darauf achten, dass diejenigen, die zu uns
kommen, in unserer Gesellschaft integriert werden müs-
sen und dass dies natürlich nicht nur eine Bringschuld der
Deutschen ist, sondern dass auf der anderen Seite auch In-
tegrationsbereitschaft und -willen aufseiten der ausländi-
schen Mitbürger vorhanden sein müssen. Also erkennen
wir an, dass es sogar bei dieser rot-grünen Regierung Fort-
schritte gibt, die uns nicht verborgen geblieben sind.
Auch wir müssen uns im Übrigen bei dem Thema Zu-
wanderung von alten Grundsätzen verabschieden. Wir
wissen das und haben es zum Teil ja auch schon getan. Ich
denke, es besteht ganz ohne Zweifel auch die Chance, in
Deutschland auf einen Konsens in dieser wichtigen poli-
tischen Frage hinzuarbeiten. Dazu ist es aber – ich wie-
derhole mich – unerlässlich, dass wir klar und unvorein-
genommen eine Statistik erstellen, die uns alle In-
formationen liefert, die für die Definition einer Zuwande-
rungspolitik überhaupt grundlegend sind. Schon hier,
meine Damen und Herren von Rot-Grün, scheitert ein ver-
nünftiger politischer Ansatz an ihrer ideologischen Sicht-
weise, die sie beim Thema Zuwanderung nach wie vor ha-
ben.
Wir haben immer gesagt: Ein solcher Bericht macht
nur dann Sinn, wenn wir alles schonungslos darin unter-
bringen, auch Daten und Fakten, die manchem mögli-
cherweise nicht so ganz ins politische Konzept passen.
Also konkret reicht es eben nicht, nur aufzulisten, wer al-
les in unser Land kommt und wer möglicherweise auch
wieder geht. Es ist auch zwingend notwendig, dass wir
untersuchen und öffentlich machen, was die Menschen,
wenn sie bei uns sind, tun.
Wie viele haben Arbeit? Welche Altersgruppen und
Nationalitäten sind unter-, aber auch überdurchschnittlich
von Arbeitslosigkeit gezeichnet? Was bringen Ausländer
in die Sozialsysteme ein? Wie hoch sind die Belastungen
für unsere sozialen Systeme? Wie hoch sind die Kosten
für Gerichtsbarkeit und Verwaltung, für die Abwicklung
der verschiedenen Anerkennungsverfahren und der darin
enthaltenen Rechtsmittel? Dies alles sollte benannt sein,
nach Altersgruppen und Nationalität. Dies haben
CDU/CSU bei den Ausschussberatungen immer wieder
angemahnt. Wir haben es beantragt und es wurde mit der
Mehrheit von Rot-Grün abgelehnt. Heute liegt uns ein An-
trag vor, der einen Migrationsbericht vorsieht, der darüber
keinerlei Informationen enthalten soll.
Schon heute wissen wir, dass zurzeit jedes Jahr
1,5 Millionen Menschen von außerhalb der EU in die EU
einströmen. Wir wissen ferner, dass ein sehr hoher Pro-
zentsatz davon nach Deutschland will und auch kommt.
Wir wissen auch, dass es sich dabei eben in der Mehrheit
nicht um wohlgenährte, hoch qualifizierte, junge und kin-
derreiche Einwanderer handelt. Wenn wir diese Erkennt-
nis haben, dann müssen wir diese doch auch aussprechen
können.
Durch den Familiennachzug sind Personen nach
Deutschland gekommen, die nicht oder nur sehr kurze
Zeit noch in die deutschen Sozialversicherungssysteme
einbezahlt haben. Dennoch erhalten auch sie Hilfe in be-
sonderen Lebenslagen, zum Beispiel bei Krankheit, aus
der Sozialversicherung und aus der Sozialhilfe. Die Zahl
der ausländischen Sozialhilfeempfänger stieg dabei stän-
dig an, nämlich von 200 000 1985 auf 800 000 1992. Seit
1994 kommen dazu auch noch die Leitungsempfänger
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dies sind doch
Fakten, die in einen umfassenden Immigrationsbericht
hineingehören. Wie können wir denn ernsthaft darüber
diskutieren, Zuwanderung zu kanalisieren und zu be-
grenzen, wenn wir schon bei der Bestandsaufnahme so
tun, als sei die einzige Triebfeder vieler Einwanderer, die
wundervollen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, die
die schrödersche Green Card bietet.
Nun frage ich Sie: Wie sollen wir denn seriös über die
Frage der Zuwanderung in Zukunft diskutieren und ent-
scheiden, wenn sie uns und der deutschen Öffentlichkeit
die dafür entscheidenden Informationen vorenthalten
wollen? Meine Damen und Herren von Rot-Grün, dies
sind Informationen, die alle ehrlichen Steuer- und Bei-
tragszahler, übrigens nicht nur die deutschen, wissen soll-
ten. Es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit einer
Bundesregierung, die einen Immigrationsbericht verfasst,
auch diese Informationen darin aufzuführen und nicht
schon wieder von vornherein Tabuzonen zu errichten, die
allenfalls notwendig sind, um ein naives und falsches
Weltbild aufrechtzuerhalten.
Glauben sie denn im Ernst, meine Damen und Herren
von Rot-Grün, Sie kommen um diesen wichtigen Teil der
Bestandsaufnahme herum. Sie müssen einfach akzeptie-
ren, dass Ausländer, nur weil sie Ausländer sind, nicht
grundsätzlich besser sind als unsere deutschen Lands-
leute. Der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit
formulierte einmal in eindrucksvoller Eindeutigkeit:
Ich bin ja kein blinder Apologet der Einwanderungs-
gesellschaft. Ich möchte überhaupt weg von dieser
verbohrten Ideologie, die lautet: Es ist einfach toll,
wenn wir mehr Ausländer haben. Warum soll ein
Ausländer besser sein als ein Deutscher?
Der Berater Cohn-Bendits für multikulturelle Fragen,
Thomas Schmid – auch er ein Grüner –, kritisiert die
schönfärberischen Versprechungen einer „heilen Welt“,
die die, wie er sie nennt, naiven Vertreter einer multikul-
turellen Gesellschaft verbreiten. Schmid wörtlich:
Schaut man sich die Dokumente des rot-grünen Kon-
senses an, so erscheint die multikulturelle Gesell-
schaft eher als ein Garten Eden – ein friedliches Ne-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10242
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ben- und Miteinander der verschiedensten Nationa-
litäten und Ethnien, ein einziges großes Straßenfest,
auf dem alle miteinander reden, feiern, essen trinken,
und tanzen, ein großer linker Ringelpietz mit Anfas-
sen.
Schmid geht noch weiter, indem er sagt:
Es handelt sich bei der rot-grünen Ausländer- und
Zuwanderungspolitik um eine biedermeierliche
Latzhoseninvasion von unerträglicher Blauäugig-
keit, gutem Willen und sonst gar nichts.
Diese Einstellung zeigt sich im Übrigen auch bei der
Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers. Wenn wir dem
Gedanken, der darin enthalten ist, wirklich ernsthaft näher
treten wollen: „Wir wollen Einwanderung, aber kontrol-
liert vor allem wollen wir auch Kriterien aufstellen, wer
zu uns kommt“, dann können wir das ernsthaft doch nur
tun, wenn wir zumindest einmal eine klare Bestandsauf-
nahme machen, wer zu uns kommt und was die, die jetzt
schon da sind, uns nützen oder eben auch kosten. Dies ist
dann auch nur der Anfang. Wenn sie eine neue Zuwande-
rungspolitik wollen, meine Damen und Herren von Rot-
Grün – ich sage ihnen nochmals für die CDU/CSU: Wir
sind bereit darüber zu sprechen – dann kann dies nur funk-
tionieren, wenn alles auf den Prüfstand kommt.
Der Bevölkerungswissenschaftler Professor Dr. Joseph
Schmid von der Universität Bamberg hat in einem Artikel
in der „FAZ“ vom 31. Mai diesen Jahres Folgendes aus-
geführt: Ein Einwanderungsgesetz macht nur dann Sinn,
wenn es nicht durch andere Gesetze und Verwaltungspra-
xis ständig ausgebootet wird. Das heißt für Professor
Schmid konkret.
Die bestehende lockere Praxis in der Arbeitsmigra-
tion und im Familiennachzug wie auch unsere Asyl-
gesetzgebung müssen dann geändert werden, wenn
wir erreichen wollen, das die Zuwanderung in unser
Land in Zukunft durch uns verstärkt kontrolliert und
auch selektiert werden kann. Großzügige Familien-
zusammenführung, Staatsbürgerschaftsverleihung,
Aufenthaltsduldung nach abgelehntem Asylantrag,
hohe Arbeitslosenraten und hoher Sozialhilfeanteil
der ausländischen Bevölkerung müssten dann in die
Schranken verwiesen werden.
Da Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen
Koalition, einen Bericht wollen, der die Folgen von Zu-
wanderung für unsere Sozialsysteme tabuisiert und Ana-
lysen über die Probleme von Migration negiert, haben wir
einen Alternativantrag gestellt. Einen Bericht, der die
Wirklichkeit aus ideologischen Gründen ausblendet, lehnt
die CDU/CSU-Fraktion ab.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Diskussion um Zu- und Einwanderung wird
hierzulande oft sehr aufgeregt und wenig sachlich geführt.
Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, diese – für die Zu-
kunft der Bundesrepublik so entscheidende – Debatte in
den kommenden Monaten und Jahren ein wenig nüchter-
ner zu führen.
Daher gilt es, erst einmal die Fakten zu benennen. Und
genau dies soll mit dem jährlichen Migrationsbericht ge-
schehen.
Das Amt der Ausländerbeauftragten hat bereits im letz-
ten Jahr einen Migrations-Bericht vorgelegt, der die Zu-
wanderung und Abwanderung in den Neunziger Jahren
beschreibt.
Die Zahlen belegen zweierlei: Wir haben es mit einer
relevanten Einwanderung in die Bundesrepublik zu tun.
Zur Panikmache besteht aber kein Grund: Sowohl die
Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, als auch die
Zahl der Spätaussiedler liegt um ein Vielfaches niedriger
als zu Beginn des letzten Jahrzehntes.
Wir haben es aber auch mit einer hohen räumlichen
Mobilität von Ausländern und Deutschen und mit Ab-
wanderung und Zuwanderung zu tun, die nationale Gren-
zen überschreitet.
Hierauf muss sich Politik einstellen, sie muss gestalten.
Wer sich weigert, die Tatsache der Einwanderung anzuer-
kennen, gibt Gestaltungsmöglichkeiten unnötig aus der
Hand. In der Regelung der zukünftigen Zuwanderung und
in der Integration der Einwanderer liegen zentrale Zu-
kunftsaufgaben unserer Gesellschaft. Und ich danke un-
serem Bundespräsidenten, dass er nüchtern und sachlich
die vor uns liegenden Aufgaben beschrieben hat.
Eine Industrienation in der Mitte Europas wird auch
weiterhin mit Zuwanderung und Abwanderung von Ar-
beitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern, Aus-
siedlern und Flüchtlingen leben. Wir werden uns der Mi-
gration nicht entziehen können. Sie ist aus wirtschaftli-
chen und demographischen, aber – auf sie angewiesen –
auch in einer sich globalisierenden Welt aus sozialen und
kulturellen Gründen.
Ich begrüße es daher, wenn sich etwa der sächsische
Ministerpräsident Kurt Biedenkopf für eine gezielte Ein-
wanderung ausspricht, um die Innovationsfähigkeit des
Landes zu erhalten. Oder die Aufhebung des Arbeitsver-
botes für Flüchtlinge fordert.
Es ist richtig, dass wir eine Gesamtkonzeption der Zu-
wanderungspolitik im nationalen wie im europäischen
Rahmen brauchen. Wir brauchen eine Konzeption, die
den humanitären Verpflichtungen und den wirtschaftli-
chen und demographischen Erfordernissen gleicher-
maßen gerecht wird.
Wie Sie, meine Damen und Herren von der Union, al-
lerdings die Stirn haben können, jetzt von einer solchen
Gesamtkonzeption zu reden, nachdem Sie 16 Jahre lang
genau diese verhindert haben, bleibt mir unverständlich.
Bis zum heutigen Tag leiden wir darunter, dass sie jah-
relang das Faktum der Einwanderung negiert haben, ob-
wohl sie real da war. Trotz Konsequenzen für die Politik.
Keine systematische Gestalt, sondern Gestrüpp. Sie ha-
ben doch in der Vergangenheit den Begriff „Einwande-
rungsgesetz“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser.
Sie haben eine integrationspolitische Wüste und ein mi-
grationpolitisches Chaos hinterlassen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10243
(C)
(D)
(A)
(B)
Dieses Flickwerk müssen wir nun gänzlich neu zu-
sammensetzen und vor allem ergänzen, sei es im Staats-
angehörigkeitsrecht, sei es bei der Sprachförderung oder
im Arbeitsgenehmigungsrecht.
Hier sind wichtige Jahre vertan worden. Gesinnungs-
wandel und Besserung gestehe ich ja jedem zu, allein mir
fehlt der Glaube an ihre Ernsthaftigkeit. Sie nutzen die
Debatte um die Zukunftsaufgaben Integration und Zu-
wanderungsregulierung lediglich dazu, am Asylrecht zu
sägen.
Ihre Vorschläge ignorieren beharrlich die völkerrecht-
lichen Einbindungen der Bundesrepublik, den europä-
ischen Konsens und verkennen, das der Gipfel von Tam-
pere sich klar und deutlich für Genfer Flüchtlings-
konvention als Grundlage der europäischen Asylrechthar-
monisierung ausgesprochen hat. Ihre Vorschläge bleiben
dem Gedanken der Abschottung verhaftet. Die anstehen-
den Gestaltungsaufgaben werden ignoriert.
Wir stehen erst am Beginn der Diskussion um eine mo-
derne Einwanderungs- und Integrationspolitik, und zwar
in der Bevölkerung auch in der Politik.
Wir sollten diese Diskussion gelassen führen, und zwar
sachlich und auf der Grundlage gesicherter Zahlen und
Daten. Dass diese zur Zeit noch nicht für alle migrations-
relevanten Bereiche erhoben werden, hat der von uns vor-
gelegte Bericht deutlich gemacht. Diese Lücken können
hoffentlich mit dem vom Bundestag georderten jährlichen
Migrationsbericht geschlossen werden.
Denn wir sind auf gesichertes Zahlenmaterial als
Grundlage für migrationspolitische Entscheidungen an-
gewiesen. Eine Politik des trial and error können wir uns
in der Migrationspolitik nicht weiter erlauben (zum Bei-
spiel 1973/Anwerberstopp).
Wir werden Wege finden müssen, wie wir die Zuwan-
derung sozial gestalten und mit ausreichenden Integra-
tionangeboten verknüpfen.
Mit der Neukonzeption der Sprachförderung sind wir
da auf dem richtigen Weg. Vor allem aber brauchen wir
ein gesellschaftliches Klima, das eine sachliche Diskus-
sion ermöglicht und Ängste vor vermeintlich überhöhter
Zuwanderung nimmt.
Ich hoffe, dass der Migrationsbericht künftig einen
Beitrag dazu leisten wird.
Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Der vorliegende
Antrag der Koalition zielt auf die regelmäßige, das heißt,
jährliche Vorlage eines Berichtes der Bundesregierung an
das Parlament, der Auskunft über Umfang und Folgen von
Zu- und Abwanderungen in Deutschland geben soll. Die
F.D.P. hat diesem Antrag in den Ausschüssen zugestimmt;
denn wir teilen die Beurteilung, wonach ein unabweisba-
rer Bedarf nach einer Zusammenfassung der relevanten
statistischen Angaben zu Migrationsfragen besteht. Wir
teilen ebenfalls die Auffassung, dass ein solcher Bericht
als Entscheidungsgrundlage für ein problemorientiertes
und vorausschauendes Handeln der Politik von Bedeu-
tung ist.
Genau hier ist aber der springende Punkt: Mit Berich-
ten allein ist es nicht getan. Die Koalition ist kurz vor der
Halbzeit. Bei den brennenden Themen Bildung, Steuern,
Rente und eben auch Zuwanderung sind jetzt Konzepti-
onen gefragt und nicht nur Berichte. Sie können nicht im-
mer nur von der Hand in den Mund leben, indem Sie je-
weils vom tagesaktuellen Bedarf bestimmt kurzfristige
Anwerbeaktionen starten, wie in der derzeitigen Situation
der IT-Branche geschehen. Es muss analysiert werden,
welche Art Arbeitskräfte unsere Gesellschaft mittel- und
langfristig benötigt, gleichzeitig muss aber die gesetzliche
Grundlage für ihre Zuwanderung geschaffen werden.
Dies lehnt die Koalition, dies lehnt übrigens auch die
CDU/CSU ab. Sie haben den Entwurf eines Zuwande-
rungsbegrenzungs- und -steuerungsgesetzes, den die
F.D.P.-Fraktion vorgelegt hatte, gemeinschaftlich abge-
lehnt, obwohl die politische Notwendigkeit einer solchen
gesetzlichen Grundlage weithin anerkannt ist, übrigens
vielfach auch innerhalb Ihrer Parteien und Fraktionen.
Ich erneuere hier das Angebot, das ich gegenüber der
Kollegin Beck bereits am 11. Mai gemacht habe, die den
Eindruck erweckt hatte, dass sie sich nur an der Be-
zeichnung unseres Gesetzes störe. Ich sage Ihnen hier
nochmals: Wenn Sie bereit sind, unserem Gesetzentwurf
zu folgen, können Sie sich den Namen des Kindes aussu-
chen. Aber mit Berichten allein, mit kurzatmigen Green-
Card-Initiativen auf der rot-grünen oder mit populisti-
schen Kinder-statt-Inder-Kampagnen auf der schwarzen
Seite lösen Sie nicht die Probleme dieses Landes, sondern
verschlimmern sie. Dies ist keine verantwortungsvolle
Politik.
Ulla Jelpke (PDS): Eine Versachlichung der Debatte
um Migration und Asyl ist dringend erforderlich. Wir hof-
fen, dass der Migrationsbericht einen Beitrag dazu leistet.
Wir stimmen deshalb auch dem hier vorliegenden Antrag
zu.
Wie inhuman und undemokratisch die Politik in diesen
Fragen derzeit noch immer ist, dafür möchte ich ein paar
Beispiele nennen:
Erstes Beispiel. Die Bundesregierung weigert sich,
eine Vorlage der EU-Kommission zur Neuordnung des
Familiennachzugs in der EU zu akzeptieren. Die EU will,
dass alle Menschen beim Familiennachzug gleichberech-
tigt sind. Herr Schily erklärt, der Spielraum seiner Politik
werde dadurch zu eng. Herr Schily, wer Gestaltungspiel-
raum auf Kosten von Menschenrechten will, der zeigt da-
mit ein gestörtes Verhältnis zu Menschenrechten.
Zweites Beispiel. Heute lese ich in der Presse, dass in
Berlin die Anträge auf Einbürgerung nicht zu-, sondern
abnehmen. Das bestätigt die Sorgen, die wir nach Ihrem
faulen Kompromiss beim Staatsbürgerschaftsrecht nach
der Kampagne der CDU/CSU in Hessen hatten. Auf die-
sem Gebiet gibt es offenbar keinen Fortschritt.
Ich kann Ihnen weitere Beispiele aufzählen für ihre fa-
tale Politik. Sie halten die UN-Konvention über die
Rechte der Kinder nicht ein. Sie lehnen die UN-Konven-
tion für Wanderarbeit ab, weil diese Konvention gleiche
Rechte für Wanderarbeiter fordert. Sie ratifizieren die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10244
(C)
(D)
(A)
(B)
Konvention des Europarats zur Staatsbürgerschaft nicht,
weil diese Konvention die doppelte Staatsbürgerschaft er-
laubt. Frauenspezifische Fluchtgründe werden in diesem
Land noch immer nicht anerkannt, nicht staatliche Verfol-
gung gilt nicht als Asylgrund. Das alles zeigt: bei Men-
schenrechten und Gleichberechtigung steht diese Regie-
rung auch international weiter auf der Bremse.
Ein paar Sätze zur CDU/CSU. Ihre angebliche Kosten-
Nutzen-Rechnung für die Sozialversicherung ist miese
Stimmungsmache. Ich will Ihnen drei Gründe nennen:
Erstens. 30 Jahre lang haben Millionen so genannte Gast-
arbeiter ihre Beiträge in die Sozialversicherungen gezahlt
und damit vor allem die Rentenkassen subventioniert.
Jetzt werden diese Menschen älter, häufiger krank und sie
werden von Entlassungen stärker getroffen. Jetzt auf ein-
mal wollen sie eine Nutzen- und Kosten-Rechnung auf-
machen. Sie wissen genau, wie so eine Rechnung bei al-
ten Menschen aussieht! Natürlich zahlen ältere Leute we-
niger in die Sozialversicherung. Das nennen wir
Solidarität zwischen Generationen. Nur bei Ausländern
soll das nicht gelten. Da wollen sie miese fremdenfeindli-
che Stimmung machen, übrigens genauso wie die Rechts-
radikalen.
Zweitens. Flüchtlinge haben bei uns Arbeitsverbot.
Auch Migrantinnen und Migranten aus Nicht-EU-Län-
dern wie die Türkei sind auf dem Arbeitsmarkt nicht
gleichberechtigt. Statt diese Diskriminierung aufzuheben,
wollen sie diesen Menschen jetzt persönlich zum Vorwurf
machen, dass sie arbeitslos sind.
Ich finde es auch bezeichnend, dass bei Ihrem Antrag
fehlt, wie viele Steuern diese Menschen zahlen. Warum
soll davon nicht gesprochen werden? Etwa weil Sie dann
auf das Problem stoßen, dass Menschen, die Steuern zah-
len, keine demokratischen Rechte haben? Ich bin mir si-
cher: Wenn die Steuern von Migrantinnen und Migranten
erfasst würden, käme eine alte Wahrheit heraus: dass
nämlich die so genannten kleinen Leute, also auch Mi-
grantinnen, Migranten und Flüchtlinge, diesen Staat fi-
nanzieren, während Reiche und Industrie kaum etwas
zahlen, aber Milliarden aus dem Staatshaushalt einstrei-
chen.
Das passt natürlich nicht zu ihrer miesen Stimmungs-
mache und deshalb tauchen diese Probleme in Ihren An-
trag nicht auf.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
rin beim Bundesminister des Inneren: Wenn Demoskopen
Bundesbürger danach fragen, wie viele Ausländer denn
wohl in ihrer Stadt oder Region leben, weichen die Ant-
worten oft geradezu abenteuerlich weit von der Realität
ab. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern mit ver-
schwindend geringem Migrantenanteil nennen Befragte
manchmal fünf bis zehnfach überhöhte Zahlen. In kaum
einem anderen Bereich der Politik wird so viel missver-
standen, fehlgedeutet, durcheinandergewirbelt oder ge-
zielt desinformiert wie in der Migrationspolitik. Deshalb
kann man gar nicht genug aufklären und differenzieren.
Sachinformation und solide Daten sind unsere wich-
tigste Waffe gegen Angstmacherei. Deshalb begrüßt die
Bundesregierung die Forderung der Koalitionsfraktionen
zur Vorlage eines Migrationsberichtes, der Jahr für Jahr
aktualisiert werden soll. Natürlich gibt es bereits den aus-
führlichen Bericht der Ausländerbeauftragten, der gewiss
für alle in der Migrationspolitik Tätigen und an der Mi-
grationspolitik Interessierten eine wertvolle Grundlage
liefert. Er befasst sich mit der gesamten Situation der Ein-
wanderer einschließlich der sozialen Lage, der gesund-
heitlichen Versorgung, des Bildungsstandes und der Aus-
bildungschancen, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Der Migrationsbericht aber soll sich ganz auf die Wan-
derungsbewegungen konzentrieren; auch die oft vernach-
lässigte Ab-, Aus- und Weiterwanderung berücksichtigen,
insgesamt kürzer und knapper gefasst sein, kurz: ein leicht
handhabbares Nachschlagewerk, nützlich für aktuelle De-
batten und Gesetzesinitiativen – aber auch für eine breite
Öffentlichkeit. Die Bundesregierung wird die wesentli-
chen Ergebnisse des Migrationsberichts deshalb auch in
anschaulicher Form, salopp ausgedrückt, „unter die Leute
bringen“. Das kann gewiss auch erhitzte Gemüter beruhi-
gen, was der allgemeinen Debatte um Zuwanderung nur
gut tut.
Gut getan hat uns ja auch die so genannte Green-Card-
Inititiative der Bundesregierung. Es ist vielen in diesem
Lande endlich klar geworden, dass es – zumindest in be-
stimmten Bereichen – eine gewollte und gewünschte Mi-
gration gibt und dass hoch qualifizierte Ankömmlinge bei
uns keineswegs die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt
verschärfen, sondern – im Gegenteil – dringend gebraucht
werden und ihrerseits weitere Arbeitsplätze sichern und
neue schaffen. Zugleich sage ich aber ebenso deutlich:
Die Anwerbung der Computerspezialisten ist von der Ar-
beit an einem Zuwanderungsgesetz strikt zu trennen.
Für die Planung eines Zuwanderungsgesetzes brau-
chen wir eine langfristige Perspektive, eine sorgfältige
Aufklärungs- und Argumentationshilfe für die Bürger im
Interesse eines breiten Konsenses – und Antworten auf die
Frage, welche Wanderungsbewegungen etwa aus der Um-
setzung der EU-Richtlinie zur Familienzusammen-
führung und der Erweiterung der Union vor allem in den
mittelosteuropäischen Raum hinein entstehen können.
Auch dafür kann der Migrationsbericht ein solides Zah-
len- und Daten-Polster liefern.
Eine Mahnung möchte ich in diese Debatte einbringen.
Es mag ja für Kenner spannend sein, den Kurswechsel der
Union vom kräftigen Nein zum drängenden Ja zu einem
Zuwanderungsgesetz zu beobachten. Nur missfällt mir
zweierlei. Erstens die Sprache: Es schleicht sich eine
Wortwahl ein, in der viel geredet wird von Zuwanderern,
die uns nützen – und Asylbewerbern oder Flüchtlingen,
die angeblich eher eine Last sind. Ich weiß sehr wohl, dass
vorwiegend wirtschaftlich bedingte, gesteuerte Zuwande-
rung mit bestimmten Quoten sich an den Interessen des
Aufnahmelandes orientiert. Das ist überall in den klassi-
schen Einwanderungsländern der Fall. Aber es gibt eben
auch die humanitäre Pflicht des Staates, politisch Ver-
folgten und Opfern von Bürgerkriegen Zuflucht zu ge-
währen. Diese Pflicht kann – und das ist der zweite Punkt
meiner Kritik – nicht zum Tauschobjekt degradiert wer-
den. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zur Migrati-
onspolitik beide Arten des Zugangs nach Deutschland ge-
nannt: diejenige für Menschen, die uns brauchen – und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10245
(C)
(D)
(A)
(B)
diejenige für Menschen, die wir brauchen. Beide gegen-
einander aufzurechnen ist weder möglich noch vertretbar.
Zahlen und Fakten zur Migration sind ein wichtiges
Mittel gegen Angst und Unsicherheit. Damit sind sie auch
ein Beitrag zur Integration im Sinne eines besseren Ein-
vernehmens von deutschen und nichtdeutschen Bürgern.
Da es gleich anschließend um die Bekämpfung des
Rechtsextremismus und der Ausländerfeindlichkeit gehen
wird, liefere ich gleich noch eine weitere, wichtige Zahl
dazu: Für Integration und Reintegration, interkulturelles
Lernen, Information und Dokumentation, Maßnahmen
gegen Gewalt und Kriminalität sowie für Beratung und
Eingliederung geben die zuständigen Ressorts der Bun-
desregierung – das sind ihrer sechs – allein in diesem Jahr
393 Millionen DM aus. Auch das ist sicherlich gut zu wis-
sen!
Die Bundesregierung nimmt gern den Antrag für den
Migrationsbericht an und wertet ihn als Signal der neuen
Sachlichkeit.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung der Anträge:
– Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen;
– Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt sowie
Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetz
(... StrÄndG) (Tagesordnungspunkt 9 a und b
und Zusatztagesordnungspunkt 6)
Hans-Peter Kemper (SPD):Die Auseinandersetzung
mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-
semitismus gehört zu den wichtigsten innenpolitischen
Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Extremistische Ak-
tivitäten und die damit einhergehende Gewaltbereitschaft
sind längst keine zu vernachlässigenden Randprobleme
unserer Gesellschaft mehr. Die Zahl der rechtsextremis-
tisch motivierten Gewalttaten ist im vergangenen Jahr er-
neut angestiegen, auch wenn die Zahl der Mitglieder
rechtsextremer Parteien und Organisationen leicht rück-
läufig ist. Deswegen ist es gut, dass heute, wenn auch aus
verschiedenen Sichtweisen, die einzelnen Fraktionen
über dieses Thema diskutieren.
Die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit dem
Thema ist, so glaube ich, völlig unumstritten. Wer von uns
hat nicht noch das Bild, das Anfang des Jahres durch die
Weltpresse ging, als Neonazi grölend durchs Brandenbur-
ger Tor marschierten – wir erinnern und alle an die Hetz-
jagd auf einen Asylbewerber in Guben – oder die Schän-
dung des jüdischen Friedhofes in Weissensee vor Augen?
Es stimmt etwas nicht in unserem Staatswesen, wenn die
Synagoge in der Oranienburger Straße einer Festung
gleicht und aus Furcht unserer jüdischen Mitbürger vor
Anschlägen Sicherheitskontrollen größten Ausmaßes
durchgeführt werden. Diese rechtsextremen Gewalttaten
sind zutiefst verabscheuenswürdig.
Rechtsextreme Gewalt ist aber nur eine Seite des Pro-
blems. Auch die latente Ablehnung von Minderheiten und
Menschen anderer Herkunft und anderen Aussehens stellt
eine Gefahr für friedliches Miteinander dar und bietet erst
den Nährboden, auf dem rechtsextremes Handeln leider
zu gut gedeiht. Ich weiß genau wovon ich hier spreche,
werde ich doch häufig in meinem allernächsten Umfeld
mit dieser Ablehnung konfrontiert. Mich überkommt die
kalte Wut, wenn ich sehe, wie bestimmte konservative Po-
litiker mit diesem sensiblen Thema umgehen. Elefanten
im Porzellanladen sind dagegen leichtfüßige Gazellen.
Die Bundesregierung hatte ein Bündnis für Demokratie
und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt – an-
gekündigt und am 23. Mai dieses Jahres wurde dieses
Bündnis unter der Schirmherrschaft von Innenminister
Otto Schily mit einer Auftaktveranstaltung ins Leben ge-
rufen. Ich denke, das ist der richtige Ansatz; denn es geht
um mehr als um Gewalttaten kahlgeschorener Dumm-
köpfe. Es geht um mehr Toleranz in unserer Gesellschaft.
Und es geht um Integration und um die Verhinderung von
Diskriminierung. Ich bin deshalb dem Bundespräsidenten
Johannes Rau sehr dankbar für seine bewegende Rede zur
Notwendigkeit der Integration. Das wird das Thema der
nächsten Jahre werden. Wir müssen hier insbesondere bei
den jungen Menschen ansetzen, ihnen Hilfen geben und
sie zu Toleranz und einem friedlichen Miteinander be-
fähigen. Nur so kann es gelingen. Es wird aber nur gelin-
gen, wenn wir alle geschlossen daran arbeiten. Insofern ist
es durchaus begrüßenswert, dass auch die FDP ihren An-
trag auf die gleiche Basis stellt.
Die PDS macht es sich da etwas leichter: Sie will ein-
fach das Strafrecht verschärfen, ohne die Wurzeln dieses
Übels anzugreifen. Und die große Oppositionspartei? Sie
sagt zurzeit nichts. Sie ist hier noch mit Vergangenheits-
bewältigung beschäftigt. Sie übt sich in Schadensbegren-
zung in Sachen „Kinder statt Inder“ und doppelte Staats-
bürgerschaft. Da bin ich bei einem wichtigen Thema.
Wenn Ministerpräsidenten oder Möchtegernministerprä-
sidenten so mit dem Problem umgehen, wie es Herr Koch
in Hessen und Herr Rüttgers in Nordrhein-Westfalen ei-
nes vermeintlichen Vorteiles im Wahlkampf wegen getan
haben, braucht sich niemand über fehlende Integrations-
bereitschaft in der Bevölkerung zu wundern. Sie sind si-
cher nicht Täter oder Rechtsradikale, aber sie sind Vorla-
gengeber. Sie liefern rechtsradikalen Dummköpfen die
Argumente und vermeintliche Rechtfertigungen. Sie
schüren Fremdenangst und Konkurrenzdenken zwischen
Deutschen und Ausländern und schaden damit erheblich
den dringend erforderlichen Integrationsbemühungen. So
wurde die dämliche Rüttgersparole „Kinder statt Inder“ in
Nordrhein-Westfalen denn auch begierig von den Repu-
blikanern aufgegriffen. Dieser Slogan war dann auf vielen
Republikaner-Plakaten zu lesen, mit denen sie ganze
Städte zugepflastert haben. Die Menschen in NRWwaren
aber nicht so dumm, wie Herr Rüttgers gedacht hat. Sie
haben es gemerkt und mit ihrer Stimmabgabe Rüttgers
und seinen schändlichen Parolen eine deutliche Abfuhr
erteilt. Ich halte das für ein gutes Signal der Menschen in
NRW. Sie zeigen, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist
und die Gesellschaft sich auch in dieser Frage weiterent-
wickelt hat. Ich hoffe nur, dass nun auch der letzte Politi-
ker diese Signale verstanden hat. Wir wollen erreichen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10246
(C)
(D)
(A)
(B)
dass die Verurteilung von Rechtsextremismus, Fremden-
feindlichkeit, Antisemitismus und damit verbundenen
Gewalttaten kein Lippenbekenntnis bleibt, sondern in die
Praxis umgesetzt wird. Wir wollen Zuwanderung steuern
und uns massiv für die Integration der hier lebenden Aus-
länderinnen und Ausländer einsetzen. Dazu gehört auch
die Neugestaltung des Arbeitserlaubnisrechts für Asylbe-
werberinnen und -bewerber.
Wir brauchen einen verbesserten Schutz potentieller
Opfer rechtsextremer Straf- und Gewalttaten. Dazu
zählen wir in Zusammenarbeit mit den Ländern und
Kommunen die Schaffung von Anlaufstellen, die kon-
krete rechtliche und soziale Unterstützung bieten. Die so-
zialen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin-
gungen, die Rechtsextremismus und Gewalt begünstigen,
müssen wir ändern. Und hier sind wir mit unserem So-
fortprogramm zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit,
mit dem Programm der Familienministerin „Entwicklung
und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunk-
ten“ das der Tatsache Rechnung trägt, dass Kinder und Ju-
gendliche in sozialen Brennpunkten stärkeren Gefährdun-
gen ausgesetzt sind als in sozial gut strukturierten Umfel-
dern, mit dem Aktionsprogramm für eine gewaltfreie
Konfliktbewältigung und mit den Bemühungen des In-
nen- und Justizministeriums um eine verbesserte Verfol-
gung rassistischer Straftaten im Internet sowohl auf na-
tionaler, als auch auf europäischer und internationaler
Ebene sicherlich auf dem richtigen Weg.
Wir brauchen eine aktive, engagierte Jugendarbeit, die
sowohl den Schutz demokratisch orientierter Jugendli-
cher gewährleistet, aber auch Jugendliche betreut, die
durch rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemiti-
sche Taten auffallen oder damit sympathisieren. Die beste
Prävention gegen das Entstehen rechtsextremen Gedan-
kengutes ist immer noch eine engagierte Sozialarbeit im
Zusammenwirken mit dem Zeigen von Zivilcourage und
dem Entgegentreten rechtsextremistischer Propaganda.
Sicherlich kann die Politik nur die Rahmenbedingungen
für ein gewalt- und vorurteilsfreies Miteinander vorge-
ben. Um diese mit Leben zu erfüllen, ist jeder Einzelne
von uns gefordert: als Politiker, als Eltern, in Schule und
Betrieb. Wir brauchen politische Vorbilder, die mutig den
Weg zeigen, und die heißen nun mal nicht Rüttgers und
Koch.
Sebastian Edathy, (SPD):Wir sollten als Parlament
den falschen Eindruck vermeiden, dass Fragen der gesell-
schaftlichen Entwicklung unseres Landes weniger wich-
tig sind als etwa Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung.
Das Thema Rechtsextremismus ist mitnichten ein
Randthema. Es ist kein Thema, dem wir gewissermaßen
hin und wieder einen Blick schenken könnten, um dann –
ganz wörtlich gesprochen – zur Tagesordnung zurückzu-
kehren. Wir tun gut daran, uns klar darüber zu werden,
dass Rechtsextremismus nicht eine Art exotisches Phäno-
men ist, sondern eine ganz konkrete Herausforderung die-
ser Gesellschaft.
Ich hatte gestern ein Gespräch mit dem Leiter eines Ju-
gendvereins in Brandenburg, der seit Jahren einen inter-
nationalen Jugendaustausch organisiert. Dieser Mann
sagte mir, 90 Prozent der jungen Deutschen, mit denen er
vor Ort zu tun habe, seien gedanklich rechts orientiert.
Dann erzählte er mir von seiner Arbeit in den letzten Jah-
ren und sagte: „Wissen Sie, unsere Jugendlichen sind im-
mer noch rechts; aber es ist schon ein Erfolg, dass mitt-
lerweile unsere ausländischen Gäste nicht mehr körper-
lich bedroht werden.“
In den Medien spielt das Thema Rechtsextremismus
meist dann eine Rolle, wenn es zu Gewalt kommt. Seien
wir ehrlich: Auch viele von uns Parlamentariern werden
oft erst dann hellhörig, wenn neue Nachrichten von
Übergriffen, Attacken oder Anschlägen auf Fremde
oder vermeintlich Fremde die Runde machen. Rechtsex-
tremismus erschöpft sich aber eben nicht in rechts-
extremistischer Gewalt.
Der demokratische Staat ist nicht erst dann gefordert
und herausgefordert, wenn das Gewaltmonopol infrage
gestellt wird. Demokraten dürfen nicht erst angesichts po-
litisch motivierter Gewalttaten aufmerksam werden. Wer
andere verächtlich macht, wer die Würde des Menschen
allein schon verbal antastet, wer das eine Leben für wert-
voller als ein anderes hält, der stellt die Grundlagen unse-
res Gemeinwesens infrage.
Die Bewahrung unserer Demokratie verlangt eine stän-
dige Wachsamkeit, die wir erbringen müssen, weil zivili-
satorische Errungenschaften keine Selbstverständlichkeit
sind, sondern immer wieder vergegenwärtigt werden
müssen. Jede neue Generation muss sie sich aneignen. Zi-
vilisiertes und demokratisches Verhalten wird nicht ver-
erbt, sondern es muss gelernt werden. Es muss übrigens
nicht zuletzt auch vorgelebt werden.
Insofern ist der Ansatz sowohl des von meiner eigenen
Fraktion vorgelegten Antrages als auch des F.D.P.-Antra-
ges richtig, weil es eben nicht nur darum gehen kann, ei-
ner in Wort und Tat Ausdruck findenden rechtsextremisti-
schen Gesinnung zu begegnen, sondern weil es mindes-
tens genau so wichtig ist, alles dafür zu tun, das Entstehen
einer solchen Gesinnung zu verhindern.
Es gab und gibt seit Monaten eine öffentliche Debatte
darüber, ob in der Bundeshauptstadt Berlin das Demon-
strationsrecht verschärft werden sollte, ob etwa an be-
stimmten Plätzen und Orten eine Demonstration unzuläs-
sig sein sollte. Es wird wohl niemanden in diesem Haus
geben, der nicht entsetzt darüber ist, wenn, wie un-
längst geschehen, im Rahmen einer NPD-Demonstration
Stiefelträger durch das Brandenburger Tor marschieren
und junge Männer mit kurzen Haaren am Gelände des ge-
planten Denkmals für die ermordeten Juden Europas vor-
beilaufen und dabei rufen: „Heil Euch“.
Das ist wirklich schwer zu ertragenen, übrigens nicht
so sehr, weil dadurch das Ansehen unseres Landes im
Ausland leidet, sondern weil es für uns selbst beschämend
ist, dass es Mitbürger gibt, die so etwas tun, die höhnend
durch die Straßen ziehen und für Intoleranz und Ausgren-
zung demonstrieren.
Dem eigentlichen Problem begegnen wir dabei mit ei-
ner Debatte über das Demonstrationsrecht mit Sicherheit
nicht. Eine solche Debatte muss zwangsläufig oberfläch-
lich bleiben. Denn das Problem ist nicht das Demonstrie-
ren einer extremen Gesinnung, sondern das Haben einer
extremen Gesinnung. Zu glauben, ein Problem wäre nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10247
(C)
(D)
(A)
(B)
da, weil man es nicht sieht, weil es sich nicht manifestiert,
das ist ein Irrglaube.
Ich will, dass wir irgendwann feststellen können, dass
es keine Demonstrationen von Rechtsextremisten mehr
gibt. Aber ich will, dass der Grund dafür nicht ist, dass
solche Demonstrationen verboten sind, sondern dass sie
nicht stattfinden, weil niemand zu solchen Demonstratio-
nen hingeht. Solange das nicht so ist, müssen wir – so
schwer es ist – solche Demonstrationen nach meiner
Überzeugung ertragen. Es ist vielleicht auch nicht so ver-
kehrt, dass wir jenseits der Bonner Beschaulichkeit in
Berlin mit diesem Stück Realität konfrontiert sind, um
nicht zu vergessen, wie sehr wir gefordert sind. Das
Wegdrücken eines Problems, das Wegschauen trägt nicht
zur Lösung eines Problems bei.
Das gilt auch dafür, dass wir die Probleme in den neuen
Ländern nicht kleinreden, weil es vermeintlich rufschädi-
gend ist. Rechtsextremismus ist kein spezifisch ostdeut-
sches Problem, aber ist in den neuen Ländern insbeson-
dere aufgrund höherer sozialer Probleme vergleichsweise
stark ausgeprägt. Das müssen wir thematisieren. Unser
Antrag tut dies.
Ich wünsche uns eine gute und konstruktive Beratung
der vorliegenden Anträge in den Ausschüssen.
Ute Vogt (SPD): „Ohne Angst und Träumereien: Ge-
meinsam in Deutschland leben“. – Unter dieser Über-
schrift hat Bundespräsident Johannes Raum am 12. Mai
eine beeindruckende und wegweisende Rede gehalten.
Ohne Angst zu leben – dieses Recht muss unsere Demo-
kratie für die Menschen in unserem Land erreichen. Und
ohne Träumereien müssen wir diese Aufgaben angehen.
Rechtsextremismus setzt auf die Ängste der Bevölke-
rung. Gezielt werden Menschen diffamiert, ausgegrenzt
und zu Sündenböcken abgestempelt. Manche Rechtsex-
treme schrecken noch nicht einmal davor zurück, Men-
schen zu bedrohen oder ihnen gar Gewalt anzutun.
Wir wollen mit unserer Initiative im Deutschen Bun-
destag ein deutliches Signal setzen: für Toleranz und Mit-
einander, für Demokratie und für Schutz und Hilfe für
Opfer rechtsextremer Angriffe. Ich hoffe, dass wir uns
hier im Hause einig sind, dass sich dieses Thema nicht
zum Parteienstreit eignet. Bekämpfung von Rechts-
extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Sie braucht den Einsatz aller demokratischen Kräfte, im
Parlament genauso wie in der Bevölkerung.
Als Abgeordnete haben wir dabei eine Vorbildfunk-
tion. Es ist eine erschreckende Entwicklung, dass häufig
gerade junge Täter in der Überzeugung handeln, dass
rechtsextreme Aktionen insgeheim Zustimmung finden.
Dieses Bewusstsein wird überall dort verstärkt, wo man
rechtsextreme Entwicklungen verharmlost und diesen
nicht eindeutig entgegentritt. Wir haben dabei übrigens
genauso die Verpflichtung, nicht selbst dazu beizutragen,
dass Vorurteile verstärkt und Ängste gegen Menschen an-
derer Herkunft, Hautfarbe oder Religion geschürt werden.
Dies sage ich gerade auch in die Richtung derer, die in
Wahlkämpfen oft sehr leichtfertig der Versuchung nach-
gegeben haben, Themen wie Zuwanderung oder Asyl-
recht zur Stimmungsmache zu nutzen.
Ich will dies hier nicht weiter vertiefen, weil es uns mit
unserem Antrag darum geht, Gemeinsamkeiten herzustel-
len: eine gemeinsame, klare Absage an Diskriminierung
und Gewalt, ein gemeinsames Zeichen an die Bundesre-
gierung, dass der Bundestag sie bei ihrem Engagement in
diesem Themenfeld unterstützt.
Rechtsextremismus hat viele Ursachen. Es wäre ein
Trugschluss, wenn wir davon ausgehen würden, dass sich
vor allem sozial Benachteiligte aus Frust und Angst
rechtsextremen Ideologien zuwenden. Das Spektrum ist
viel breiter, sehr unterschiedlich und reicht bis hinein in
Universitäten. Daher brauchen wir auch ganz unter-
schiedliche Maßnahmen, um Rechtsextremismus zu be-
kämpfen.
Das eine ist der Einsatz für Demokratie, das Werben für
Toleranz und Verständnis und die Stärkung der Zivilcou-
rage. Hier sind wir gefragt, weil wir durch unsere Mög-
lichkeiten, uns öffentlich zu äußern, maßgeblich daran
mitwirken, welche Stimmung im Land herrscht. Die Rede
von Johannes Rau, die ich eingangs bereits erwähnt habe,
gibt uns den Auftrag, vorhandene Ängste und bestehende
Fremdheit nicht wegzudiskutieren. Aber sie gibt uns
ebenso den Auftrag, verbindend zu wirken und für Ver-
ständigung und Integration zu sorgen.
Dabei allein kann es jedoch nicht bleiben. Denn
ebenso wichtig wie das eigene Verhalten und die Appelle
und die Ermutigung zur Zivilcourage: sind die konkreten
Maßnahmen. Sie sind nicht einfach darzustellen, denn es
sind viele verschiedene Bausteine, die zusammenwirken.
Es sind Maßnahmen, die jungen Menschen eine Zu-
kunftsperspektive eröffnen: Das „Sofortprogramm zum
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit“ gehört hier genauso
dazu wie das Programm für die „Entwicklung und Chan-
cen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“. Es sind
Initiativen wie das Bündnis „Für Demokratie und Tole-
ranz – gegen Extremismus und Gewalt“ und direkte För-
derprogramme, mit denen Modelle in Zusammenarbeit
mit Ländern und Kommunen nach den Bedürfnissen vor
Ort gestaltet werden. Ebenso gehören dazu Anstrengun-
gen zur Integration von Menschen, die aus anderen Län-
dern zu uns kommen oder auch Investitionen in politische
Bildung und Hilfen für Jugendarbeit.
Die Liste ließe sich um einiges verlängern. Die Bun-
desregierung hat in vielen Bereichen und in fast allen Mi-
nisterien bereits wichtige Aktivitäten vorzuweisen.
Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute ein-
bringen, möchte an diese Arbeit anknüpfen. Wir haben be-
wusst auf einen langen analytischen Teil verzichtet und
uns auf klare Forderungen beschränkt.
Auch im Antrag der F.D.P. sehe ich Ansätze, die ich tei-
len kann. Mir greift er allerdings in vielen Bereichen zu
kurz, so wird er zum Beispiel den wichtigen Bereichen
Prävention und Ursachenbekämpfung nicht gerecht. Aber
vielleicht gelingt es uns im Verlauf der Beratungen in den
Ausschüssen, hier eine gemeinsame Linie zu finden.
Ich habe hier nur einige wenige Aspekte zur Sprache
bringen können. Das Thema ist aus meiner Sicht sehr zen-
tral, auch für die weitere Entwicklung der Demokratie.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10248
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Es ist ein Thema, das nicht nur uns, sondern auch viele
andere Länder in Europa und darüber hinaus beschäftigt.
Es ist notwendig, dass wir uns in den Ausschüssen die Zeit
nehmen, um hierzu eingehend zu beraten. Es ist unerläss-
lich, dass wir es nicht bei Appellen belassen, sondern
selbst handeln. Und ich würde mich freuen, wenn es uns
gelingen würde, unsere Initiativen „Gegen Rechtsextre-
mismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ge-
walt“ in der zweiten und dritten Lesung zu einer Zeit zu
beraten, bei der auch gewährleistet ist, dass die Botschaft
des Deutschen Bundestages die Bevölkerung erreicht.
Volker Kauder (CDU/CSU): In den letzten 50 Jahren
hat sich in Deutschland eine Gesellschaft entwickelt, die
von einem hohen Maß an Toleranz und individueller Frei-
heit, an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägt ist.
Doch trotz all dieser Errungenschaften, derer wir uns
heute erfreuen können und von denen man anfangs nicht
zu träumen gewagt hatte, fällt doch leider ein dunkler
Schatten auf unser Land.
Ausländerfeindliche Übergriffe, Antisemitismus,
rechtsextremistische Vorgänge aller Art ereignen sich in
der Bundesrepublik Deutschland in Besorgnis erregender
Zahl. Wie hoch die Anzahl strafrechtlich relevanter Vor-
gänge mit rechtsextremistischem Hintergrund auch genau
sein mag, sie ist inakzeptabel hoch.
Rechtsextremistische Vorgänge müssen uns hier in
Deutschland mehr aufschrecken als die Menschen in an-
deren Ländern Europas. Sie müssen uns stärker berühren,
denn wir alleine hatten als dunkelste Zeit unserer Ge-
schichte den todbringenden Nationalsozialismus!
Aus dieser schlimmen Zeit müssen wir gelernt haben,
wohin Rechtsextremismus führen kann. Mag auch der ak-
tuelle Verfassungsschutzbericht einen leichten Rückgang
des rechtsextremistischen Personenpotenzials registriert
haben, so darf uns das nicht dazu veranlassen, das Pro-
blem auf die leichte Schulter zu nehmen. Hinweise, dass
rechtsextremistische Straftaten bei uns keinen größeren
Umfang hätten als in anderen Ländern, dürfen uns nicht
beruhigen, mögen sie auch zutreffen.
Die Extremisten von rechts und links, die Fundamen-
talisten und ideologisch Verblendeten greifen unsere de-
mokratische Gesellschaft an. Ob sie für die Demokratie
zur wirklichen Gefahr werden können, hängt aber davon
ab, wie entschlossen sich die demokratische Gesellschaft
zur Wehr setzt. Wir brauchen vor dem Extremismus keine
Angst zu haben, solange wir die Sicherung der wehrhaf-
ten Demokratie als unsere tägliche Aufgabe betrachten:
Man muss dem Extremismus unmissverständlich und ent-
schlossen entgegentreten.
Ich denke, dass wir den Rechtsextremen tatsächlich
zuviel Bedeutung zumessen, ja, ihnen sogar zuviel zwei-
felhafte Ehre zukommen lassen würden, wenn wir ihnen
zutrauten, aus eigener Kraft diese Gesellschaft zerstören
zu können. Man muss sich fragen, ob es denn die richtige
Strategie ist, diese Leute auch noch dadurch zu ermutigen,
dass man in ihnen eine Gefahr für die Demokratie sieht,
ob es nicht vielmehr klüger wäre, ihnen klarzumachen,
dass ihre Versuche gänzlich wirkungslos bleiben werden!
Sie dürfen gar nicht erst in die Lage versetzt werden,
eine Gefahr für uns darzustellen. Eine solche Stärke könn-
ten sie nämlich nur erreichen, wenn wir unaufmerksam
und schwach werden würden. Der Deutsche Bundestag,
die Bundesregierung und die Parlamente und Regierun-
gen der Länder sind aber wachsam.
Der Verfassungsschutz erfüllt seine Aufgabe zu unse-
rer vollen Zufriedenheit.
Spätestens hier, muss übrigens jeder Verständige
überdeutlich erkennen, welch grundfalsche Entscheidung
es wäre, den Verfassungsschutz – dieses wirksame Instru-
ment im Kampf gegen den Rechtsextremismus – abzu-
schaffen, so wie die Grünen das verlangen.
Rechtsextremismus wird in Deutschland nicht tole-
riert!
Selbstverständlich ist es jetzt erforderlich, dass die ex-
tremistischen Gewalttaten der vergangenen Monate – wie
es sich für unseren Rechtsstaat ziemt – schnellstens und
umfassend aufgeklärt werden. Schuldige Straftäter müs-
sen ihre gerechte Strafe erhalten. Der Verfassungsschutz
muss weiter beobachten, was vor sich geht. Entschlosse-
nes Vorgehen ist gefragt, auch im Hinblick auf die kriti-
schen Blicke des Auslandes.
Zur überzeugenden Bekämpfung des Rechtsextremis-
mus gehört auch, vor anderen Formen des Extremismus
nicht die Augen zu verschließen. Auch wenn die Gefahr,
die uns vom Kommunismus droht, zurzeit recht klein er-
scheint, dürfen wir nicht auf dem linken Auge blind wer-
den. Extremistische Gruppen aus dem Ausland dürfen bei
uns ebenso keine Chance haben, unser Land darf für sie
nicht zum Aufmarschgebiet werden.
Weder Rechtsextreme noch Linksextreme, noch ex-
tremistische Gruppen von Ausländern dürfen den Ein-
druck bekommen, dass die freiheitlich-demokratische
Grundordnung in Deutschland von uns nicht wachsam –
und vor allem wirksam – verteidigt wird.
Wir sind wachsam und deshalb – das muss uns klar
sein – rufen schon die kleinsten rechtsextremistischen Ak-
tionen unsere besondere Aufmerksamkeit hervor.
Ich denke, dass wir von der rechtsextremistischen
Szene ein deutlich umfassenderes Bild als von allen an-
deren Gruppen haben, die eine potenzielle Gefahr für un-
sere Gesellschaftsordnung darstellen.
Ganz unmissverständlich sage ich: So soll es bleiben!
Zur Kultur des Erinnerns gehört auch, nicht zu ver-
schweigen, was es an Rechtsradikalismus in Deutschland
noch immer gibt.
Und solange wir über alle Taten dieser wenigen Außen-
seiter informiert sind – vom Körperverletzungsdelikt bis
zur Schmiererei – können wir handeln und haben so auch
die Gewissheit, dass unsere Demokratie nicht ernstlich in
Gefahr ist.
Eine wehrhafte Demokratie zu erhalten, wird uns umso
leichter gelingen, wenn wir gegenüber uns selbst und auch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10249
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öffentlich anerkennen, dass die überwältigende Mehrheit
der Deutschen für rechtsradikale Thesen und Handlungen
in keiner Weise empfänglich ist.
Umso mehr erfüllt uns mit Zorn, dass bei uns in
Deutschland noch immer und immer wieder jüdische
Gräber geschändet werden. Eine solche Tat ist abscheu-
lich! Menschen, die so etwas tun, schänden sich aber auch
selber. Ihnen müssen wir sagen, dass uns das nicht provo-
ziert, sondern entrüstet und dass wir mit aller Schärfe da-
gegen vorgehen.
Roman Herzog hatte völlig Recht, als er sagte: Bei uns
dürfen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen!
Zum Raum für rechtsradikale Umtriebe zähle ich auch
die Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Ich gebe zu, dass
ich mich häufig ärgere, wenn diese Außenseiter durch die
öffentlichen Diskussionen – vor allem auch durch Mel-
dungen in Presse, Funk und Fernsehen – erst eine Chance
erhalten, ihre extremen Parolen wirkungsvoll zu verbrei-
ten. Es macht mich zornig, dass diese Außenseiter solch
ein Forum geboten bekommen!
Oftmals wünschte ich mir – und ich meine, dass ich
hier für eine große Zahl unserer Mitbürger spreche –, dass
wir diese Leute einfach unbeachtet lassen könnten. Den-
noch, nach Abwägung aller Argumente, komme ich im-
mer wieder zu dem Schluss, dass im Kampf gegen den po-
litischen Extremismus nichts so wirksam ist wie eine gut
informierte Öffentlichkeit. Sie ist das schärfste Schwert
der Demokratie!
Bei aller Wachsamkeit und der notwendigen Abwä-
gung, welche Schritte zur Bekämpfung der einzelnen Ex-
tremismusarten in Deutschland unternommen werden,
dürfen wir nicht in blinden Aktionismus verfallen. Wir
müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wir dürfen dieses
ernste Thema nicht durch übertriebene Darstellungen in
Misskredit bringen.
Wer übertreibt, der riskiert, dass die Öffentlichkeit das
Problem nicht mehr ernst nimmt.
Lassen Sie uns also gemeinsam maßvoll darüber spre-
chen, wie wir den Rechtsextremismus weiterhin entschie-
den und erfolgreich in Schach halten können.
Dazu gilt es zunächst, eine Bestandsaufnahme zu er-
stellen, eine Bestandsaufnahme, die nicht schönt, nicht
kaschiert, sondern ungeschminkt die Fakten auf den Tisch
legt.
Wenn ich hier ansetze, dann finde ich sofort einen ekla-
tanten Widerspruch, sowohl im Verfassungsschutzbericht
1999 wie auch im F.D.P.-Antrag. Über den muss man of-
fen und ehrlich reden.
Auf der einen Seite, so heißt es im F.D.P.-Antrag, seien
die Taten der Rechtsextremen nicht gleichmäßig über die
Bundesrepublik Deutschland verteilt, sondern träten vor
allem in den neuen Bundesländern auf. Auf der anderen
Seite liest man dann aber, dass dem Eindruck entgegen-
gewirkt werden müsse, als handele es sich bei den rechts-
extremistischen Erscheinungsformen um ein Phänomen
der neuen Bundesländer.
Etwas verwaschen wird davon gesprochen, dass der
Rechtsextremismus in den neuen Ländern jünger und in
höherem Maße gewalttätig sei als in den alten Ländern.
Der aktuelle Verfassungsschutzbericht verkündet zwar
ebenso, dass regionaler Schwerpunkt der Delikte weiter-
hin das Gebiet der neuen Länder wäre. Wenn man aber
weiterliest – im Kapitel über die Verteilung der Gewaltta-
ten auf die Länder –, dann weist er die rechtsextrem ori-
entierten Gewalttaten bezeichnenderweise in zwei Statis-
tiken aus, die auf unterschiedlichen Ansätzen beruhen und
auch zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Während bei einer Aufstellung der Taten je
100 000 Einwohner die neuen Bundesländer an der Spitze
liegen, liegt in absoluten Zahlen gerechnet Nordrhein-
Westfalen an der Spitze und Niedersachsen schon auf
Platz vier.
Auch bei den schlimmsten Delikten, denen mit Todes-
folgen, spielten sich zwei in den alten Bundesländern und
eines in den neuen ab. Die Verlage, die wesentlich für die
Verbreitung rechter Propaganda verantwortlich sind –
also Hauptverantwortliche für den rechten Ungeist –, ha-
ben laut Verfassungsschutzbericht allesamt ihren Sitz in
den alten Bundesländern.
Natürlich weist die Rechnung je 100 000 Einwohner
auf ein bestimmtes Potenzial hin. Das steht außer Frage.
Doch wenn es uns tatsächlich auf die Verhinderung jeder
einzelnen Tat ankommt – und nur das kann unser Ziel
sein –, dann darf die absolute Zahl doch nicht völlig un-
berücksichtigt bleiben.
Nach 10 Jahren Einheit sind wir den Menschen in
Deutschland und uns selbst eine ehrliche Antwort schul-
dig. Von dieser Antwort hängt auch ganz entscheidend die
Strategie zur Bekämpfung rechtsextremistischer Strafta-
ten ab. Denn wenn es ein Phänomen der neuen Bundes-
länder sein sollte, dann müssten ja ganz andere Schritte
unternommen werden, als wenn es sich um ein gesamt-
staatliches Problem handelte.
Ja, in den neuen Ländern besteht wohl aktuell ein et-
was deutlicherer Handlungsbedarf als in den alten Län-
dern. Es gibt keinen Grund, dies zu leugnen.
Wir können uns gefahrlos zu dieser Situation beken-
nen, wenn wir uns unverzüglich der wichtigen Aufgabe
widmen, das Demokratieverständnis in den neuen Län-
dern noch weiter zu vertiefen.
Ich betone das hier nur, weil ich den Eindruck habe,
dass die F.D.P.-Fraktion die Frage für sich selbst so be-
antwortet hat, dass es eine Angelegenheit der neuen Län-
der ist, auch wenn man das nicht so offen aussprechen
möchte.
Anders kann ich mir einfach nicht erklären, dass der
hier vorgeschlagene Maßnahmenkatalog fast ausschließ-
lich die Jugendarbeit in den neuen Bundesländern betrifft.
Ich muss Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich
bin mir bei der Beantwortung der Frage bei weitem nicht
so sicher wie die Kollegen von der F.D.P. Der Rechtsex-
tremismus darf nicht zum Schwerpunktthema der neuen
Länder gemacht werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10250
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Außerdem darf es auch nicht zu einer Stigmatisierung
der Menschen in den neuen Bundesländern kommen.
Dies ist vor dem Hintergrund der absoluten Zahlen
überhaupt nicht gerechtfertigt. Darüber hinaus ist es auch
kontraproduktiv.
In den neuen Bundesländern leben schließlich Milli-
onen von Deutschen, die rechtes Gedankengut strikt ab-
lehnen. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus in den
neuen Ländern braucht das Mitmachen der Menschen
dort. Dazu muss man sie ermutigen.
Der Rechtsextremismus muss – meines Erachtens –
mindestens als ein deutschlandweites, wenn nicht sogar
als ein internationales Problem verstanden werden. Seine
Bekämpfung ist aber auf jeden Fall eine gesamtstaatliche
Aufgabe. Missstände an den extremen Rändern der Ge-
sellschaft sind und bleiben Missstände. Sie müssen durch
konsequentes Handeln auf allen Ebenen überwunden
werden.
Eine dieser Ebenen – das ist im Antrag der F.D.P. rich-
tig ausgeführt – ist die Jugendarbeit. Besonders hervorhe-
ben möchte ich hierbei Projekte der Bundeszentrale für
politische Bildung, die weitreichenden Erfolg haben kön-
nen. Auch Jugendaustauschprogramme – mit Ländern der
Europäischen Union und den USA – scheinen mir hier
sehr hilfreich zu sein. Sie sollten massiv gefördert wer-
den. Genauso wichtig ist es, Bürgerinitiativen zu unter-
stützen, die für die wehrhafte Demokratie eintreten und
darüber informieren.
Durch die im F.D.P.-Antrag genannten Mittel alleine
kann das Ziel aber nicht erreicht werden.
Die letzte Ebene – falls keine andere Wahl bleibt – ist
das Strafgesetzbuch.
Die Maßnahmen, die wir auf dieser Ebene ergreifen
wollen, müssen einerseits unsere Gesellschaftsform wirk-
sam schützen, andererseits aber auch immer so ausgelegt
werden, dass sie dem Rechtsstaat und der Verhältnis-
mäßigkeit nicht zuwiderlaufen.
Ein Entwurf zur Verschärfung des Strafrechts liegt uns
nun auf Vorschlag der PDS vor. Es gilt also, ihn auf Wirk-
samkeit und Rechtsstaatlichkeit zu untersuchen.
Der Antrag der PDS beruht auf dem Gedanken, be-
stimmte szenetypische Äußerungen, die von rechtsextre-
men Demonstranten zur Verherrlichung der NS-Zeit ver-
wendet werden, zukünftig zu strafbarem Unrecht zu ma-
chen. Der Sonderstraftatbestand sei notwendig, da die
Äußerungen bisher nicht nach den §§ 86, 86 a und 130
StGB strafbar sind.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich hier
erklären: Wir dürfen es nicht zulassen, dass Organisatio-
nen des Nationalsozialismus verherrlicht werden.
Deutschland besitzt seit vielen Jahren ein erprobtes
und ausgeklügeltes Normengeflecht, was die Strafbarkeit
von gegen die öffentliche Ordnung und den demokrati-
schen Rechtsstaat gerichtete Taten angeht. Unsere Ent-
schlossenheit, rechte Auswüchse nicht ungestraft zu las-
sen, haben wir damit unter Beweis gestellt. In den vor uns
liegenden Wochen werden wir nun ernsthaft prüfen müs-
sen, ob konkrete Vorgänge der letzten Wochen neue
Straftatbestände erfordern.
In diese Prüfung muss natürlich einbezogen werden,
ob mit dem Strafrecht erfolgreich bekämpft werden
kann, was hauptsächlich politisch und gesellschaftlich
bekämpft werden muss. Es muss genau beachtet werden,
welche Grenzen die Grundrechte setzten.
Bei den bisher bestehenden Normen handelt es sich um
diffizile Abwägungen zwischen dem Verbot, für verfas-
sungswidrige Ziele und Organisationen zu werben auf der
einen und dem Art. 5 Grundgesetz auf der anderen Seite.
Wir dürfen also keinesfalls leichtfertig sein, wenn wir
Parolen verhindern wollen, die nicht während des Dritten
Reiches als Parole mit spezifischer nationalsozialistischer
Bedeutung gebraucht wurden und daher heute nicht nach
§ 86 a StGB und auch sonst nicht bei Strafe bedroht sind.
Ich persönlich freue mich, dass ein Großteil der Be-
völkerung solche Parolen ablehnt. Es ist mir aber sehr
wichtig und ich betone mit Nachdruck, dass wir niemals
leichtfertig in das Recht der freien Meinungsäußerung
eingreifen dürfen. Demokratie lebt von der Meinungsfrei-
heit. Und wir wissen ja alle: Meinungsfreiheit ist immer
nur die Meinungsfreiheit des Andersdenkenden. Wer aber
glaubt, dass er unter Berufung auf dieses Grundrecht dem
Rechtsextremismus Vorschub leisten kann, der hat sich
geirrt.
Was ich damit sagen will, ist, dass wir vor allem sau-
bere Definitionen benötigen, falls wir uns zu einem sol-
chen Schritt entschließen sollten. Das gebietet schon das
Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde. Sollten wir
uns entscheiden, eine solche Rechtsnorm zu schaffen,
sehe ich also noch erhebliche Arbeit auf uns zukommen.
Eine solche Norm müsste natürlich auch für alle Arten des
verfassungsfeindlichen Extremismus in gleicher Weise
gelten.
Man sollte nicht der Frage ausweichen, ob man nicht
die öffentliche Verherrlichung der PKK genauso behan-
deln müsste wie die Verherrlichung bestimmter Orga-
nisationen des Dritten Reiches. Man müsste also genau
klären, welche Organisationen umfasst sein sollen und
welche nicht.
Vielleicht ist es sogar erforderlich, gesondert zu be-
stimmen, was strafrechtlich unter dem Begriff der „Ver-
herrlichung“ zu verstehen ist.
Überdies müssen wir uns schon jetzt über eines im Kla-
ren sein: Die Provokation durch Rechtsextremisten wird
durch einen neuen § 86 b nicht unterbunden. Es ist zu er-
warten, dass schon nach kurzer Zeit neue Parolen zu
hören sein werden, die uns betroffen machen, die
aber wieder nicht strafbar sein werden.
Schon aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich für
mich, dass der von der PDS vorgeschlagene Entwurf – so
wie er hier steht – wohl nicht der richtige sein dürfte.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10251
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Meine Gedanken gehen zusätzlich noch in eine weitere
Richtung. Ich denke, dass wir uns sehr genau überlegen
sollten, ob wir etwas politisch kriminalisieren wollen, was
eher im Schwerpunkt Dummheitsbekämpfung angesie-
delt sein müsste.
Wenn wir mit Mitteln des Strafrechts zu erreichen ver-
suchen, was uns mit den anderen Mitteln der Politik nicht
gelungen ist, wenn wir die Justiz anrufen, weil die Ju-
gendpolitik, die Sozialpolitik, die Arbeitsmarktpolitik
versagt haben, dann sollten wir immer darauf bedacht
sein, dass wir nur auf diejenigen zielen, die die Vordenker
menschenverachtender Thesen sind, die Rädelsführer,
und nicht auf jene kleinen Mitläufer, die auf anderem
Wege besser in unsere Gesellschaft zurückgeführt werden
könnten.
Viele junge Mitläufer, die bei den Rechtsextremisten
landen, fühlen sich als Verlierer gesellschaftlicher Ent-
wicklungen. Sie sind keine politischen Überzeugungstä-
ter. Bei manchem habe ich den Eindruck, dass er die ex-
tremistische Provokation als wirksames Mittel sieht, auf
sich und seine besondere Situation aufmerksam zu ma-
chen.
Wenn wir hier vorschnell verurteilen, vergeben wir
Chancen, diese jungen Leute ins demokratische Lager
zurückzuholen.
Damit ich nicht missverstanden werde: Natürlich müs-
sen rechtsextremistische Äußerungen und Taten schärf-
stens verurteilt und zurückgewiesen werden. Wir müssen
aber auch Hilfe anbieten. Neue Lebenschancen und Hoff-
nungen sind da oftmals geeignetere Mittel als das Straf-
recht.
Der wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Bundes-
länder kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Das
Gefühl gebraucht zu werden, ein geglücktes Leben führen
zu können, macht für Rechtsextremismus weniger anfäl-
lig.
Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist deshalb
mit Ächtung, Verboten und Strafen allein nicht erfolg-
reich zu gestalten. Dies ist im F.D.P.-Antrag durchaus
richtig erkannt worden. Aber – und da sind wir uns sicher
einig – wir brauchen vor allem Lebenschancen für diese
anfälligen jungen Menschen.
Den unbelehrbaren Rädelsführern müssen wir mit aller
Schärfe und konsequent entgegentreten. Da bin ich all den
mutigen Menschen in unserem Lande dankbar, die dies
öffentlich tun.
Die Unbelehrbaren müssen auch mit den Mitteln des
Strafrechts bekämpft werden, auch da sind wir uns einig.
Gestatten Sie es mir, abschließend noch eine andere ge-
dankliche Tür aufzustoßen.
Eingangs sagte ich es schon: Ich meine, dass das Pro-
blem des Rechtsextremismus durchaus auch ein interna-
tionales ist.
Ich spreche da von der Verfolgung extremistischer Ak-
tivitäten im Internet, welches uns zeigt, dass nationale
Maßnahmen alleine nicht weiterhelfen. Hier müssen wir
unsere Arbeit auf einem ganz anderen Niveau betreiben
als bisher. So wie wir die Kinderpornographie und andere
Perversitäten im Internet bekämpfen, muss auch der
Rechts- und Linksextremismus bekämpft werden. Hier
sehe ich eine wesentliche Zukunftsaufgabe vor uns liegen.
Die ersten notwendigen Ergänzungen im deutschen
Strafrecht sind durch das Informations- und Kommunika-
tionsdienstegesetz des Jahres 1997 vorgenommen wor-
den.
Nun muss eine neue Stufe der Zusammenarbeit mit den
Ländern der Europäischen Union und den USAangestrebt
werden. Dies gilt für einheitliche Strafnormen ebenso wie
für die Durchführung von Rechtshilfeersuchen. Nur so ist
ein wirksames Handeln zu bewerkstelligen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir auch auf dieser
Ebene nochmals die einschlägigen Strafrechtsnormen im
Hinblick auf die modernen Kommunikationstechnologien
anpassen müssen. Es besteht auf diesem Feld regelmäßig
der Anlass zur Kontrolle unserer Eingriffsmöglichkeiten.
Die modernen Kommunikationstechnologien befinden
sich mitten in einem revolutionären Umbruch. Wir stehen
erst am Beginn des Internetzeitalters. Bekanntlich wird
das Internet zur Begehung vielfältiger Straftaten mis-
sbraucht. Auch die extremistischen Straftäter haben
selbstverständlich vom ersten Tag an dieses neue Medium
für ihre Machenschaften genutzt. Wir müssen also am
Ball bleiben und uns fragen, ob unsere Mechanismen zur
Bekämpfung des politischen Extremismus auf dem neue-
sten Stand sind.
Wir hier in Deutschland sollten vor allem eines ver-
meiden: Wir sollten nicht arrogant sein und auf unseren
zum Teil veralteten Methoden beharren, sondern offen
sein und bestrebt zu lernen, gerade auch von unseren eu-
ropäischen Partnern.
Meine Damen und Herren, wir dürfen den Rechtsex-
tremismus nicht auf die leichte Schulter nehmen, wir dür-
fen uns aber auch nicht zu undurchdachten Schnellschüs-
sen hinreißen lassen. Unsere Maßnahmen müssen ein
wirksames Vorgehen ermöglichen und unser Vorgehen
muss schnell und entschieden sein.
Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir beraten heute ein Problem, auf das es keine
einfachen Antworten gibt; denn Rechtsextremismus ist
ein gesamtgesellschaftliches Problem. Besonders be-
drückend sind das immense Ausmaß rechtsextremer Ge-
walt, Überfälle auf Flüchtlinge, ausländische Mitbürger,
auf Obdachlose, Andersdenkende, Punker, Homosexu-
elle, Behinderte oder Menschen jüdischen Glaubens, die
Schändungen jüdischer Friedhöfe. Gerade in den fünf
neuen Ländern gibt es nun schon seit einiger Zeit Gebiete,
in denen sich diese potenziellen Opfergruppen nicht mehr
frei bewegen können, ohne um ihre Gesundheit oder gar
ihr Leben fürchten zu müssen. Diesem Problem müssen
wir uns stellen. Unser Ziel muss sein, in diesen Gebieten
die volle Bewegungsfreiheit auch für Minderheiten und
Gegner der Rechtsextremen wieder herzustellen.
Rechtsextreme Gewalt ist leider kein isoliertes und iso-
lierbares Problem. Die oft jugendlichen Gewalttäter wer-
den durch eine massive Propaganda beeinflusst, die Hass
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10252
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auf Minderheiten schürt und die von rechtsextremen und
neonazistischen Organisationen ausgeht. Das geschieht
zum Beispiel durch die Wahlkampagnen rechtsextremer
Parteien, durch Konzertveranstaltungen mit Nazi-Bands
oder im Internet. Dass diese Kampagnen bei vielen Men-
schen ankommen, zeigen etwa die Wahlergebnisse rechts-
extremer Parteien. Fremdenfeindliche Einstellungen, na-
tionalvölkisches Bewusstsein und Gewaltakzeptanz sind
keine vereinzelten Phänomene. In vielen Gegenden
gehören sie schon zum Mainstream unter Jugendlichen.
Wir müssen leider auch feststellen, dass viel zu viele
Menschen der rechtsextremen Gewalt heimlich zustim-
men oder ihr gleichgültig gegenüberstehen. Die Opfer der
Rechtsextremen und Neonazis gehören allzu oft zu denje-
nigen, die auch von der Gesellschaft ausgegrenzt und dis-
kriminiert werden. Die Gewalttäter sehen das nicht selten
als Legitimation, um zuzuschlagen. Aufgrund dieser ge-
sellschaftlichen Dimension des Problems kann und will
der Antrag der Regierungsfraktionen keine einfachen
Antworten geben. Er kann nur der Anfang und nicht das
Ende einer Diskussion sein. Aber er enthält eine Fülle von
konkreten Maßnahmen und guten Anregungen, die wich-
tige Schritte auf dem Weg zu einer Lösung des Problems
darstellen.
Wir treten dafür ein, dass die Bekämpfung rechtsextre-
mer Straftaten und vor allem der Gewalttaten ein Schwer-
punkt der Strafverfolgung werden muss. Wir wollen im
Rahmen des geltenden Rechts ein möglichst zeitnahes
Gerichtsverfahren. Das sind Maßnahmen, die der Gewalt
folgen. Wichtiger ist uns jedoch, an den Ursachen anzu-
setzen und dem gesellschaftlichen Anspruch der Bekämp-
fung des Rechtsextremismus gerecht zu werden.
Ich will hier Punkte aus dem Antrag hervorheben, die
uns besonders wichtig sind: Das sind der bessere Schutz
der Opfer, die Unterstützung von mit Rechtsextremen
konfrontierten Stellen und eine andere Ausrichtung der
Jugendarbeit. Erstens. Die Stärkung der Position, des
Schutzes und der Rechte der potenziellen Opfer ist eine
wichtige Komponente. Dem dienen die Modellprojekte
für eine Opferberatung, die auch jenen Menschen Unter-
stützung bieten sollen, die Angst vor weiteren Racheak-
ten der Neonazis haben, die den Weg an die Öffentlich-
keit scheuen oder die sich in unserem Rechtssystem nicht
so gut auskennen. Dem dienen Maßnahmen der Integra-
tion, die Schaffung eines modernen Staatsangehörigkeits-
rechts und – als nächste Schritte – die Vorlage eines Anti-
diskriminierungsgesetzes und die Neugestaltung der
gegenwärtigen Praxis der Erteilung des Arbeitserlaubnis-
rechts für Flüchtlinge. Über die Verbesserungen hinaus,
die diese Maßnahmen konkret für die Menschen bedeu-
ten, versuchen wir damit, Ausgrenzung zu vermindern
und Minderheiten wieder aktiv in die Mitte der Gesell-
schaft zu holen.
Zweitens: Wir werden die Aufklärung, Ausbildung und
Beratung der mit Rechtsextremen befassten Stellen ver-
bessern. Neben Ignoranz und schweigender Zustimmung
ist immer wieder auch festzustellen, dass Lehrer, Sozial-
arbeiter, kommunale Stellen oder Initiativen mit dem
konkreten Problem rechtsextremer Gewalt vor Ort über-
fordert sind. Hier gibt es bereits Ansätze bei den mobilen
Beratungsteams Brandenburg, deren gute Arbeit fortent-
wickelt, verbreitert und gefördert werden soll.
Damit komme ich zu dem dritten Punkt, auf den ich
näher eingehen möchte. Sicher ist es richtig, junge Men-
schen nicht aufzugeben, auch dann nicht, wenn sie in eine
gewalttätige rechtsextreme Szene hineingerutscht sind.
Da aber, wo sich Jugendsozialarbeit zu sehr auf diese
Gruppen konzentriert, hat das in einigen Jugendzentren zu
unhaltbaren Zuständen geführt: Neonazistischen Bands
wurden Übungsräume zur Verfügung gestellt, Gruppie-
rungen dieses Spektrums haben demokratisch orientierte
Jugendszenen aus Zentren verdrängt und diese als Basis
zur Rekrutierung weiterer Anhänger und als Ausgangs-
punkt für rechtsextreme Überfälle genutzt. Es ist an der
Zeit, diese so genannte Form der akzeptierenden Jugend-
arbeit kritisch zu überprüfen und die notwendigen Kon-
sequenzen zu ziehen. Vor allem müssen aber in denjeni-
gen Gebieten, die von Rechtsextremen dominiert werden,
geschützte Räume geschaffen werden, in denen sich de-
mokratisch orientierte Jugendszenen aufhalten und ent-
wickeln können, ohne dauernd irgendeiner Bedrohung
ausgesetzt zu sein.
Wir hoffen, mit diesen Maßnahmen die Zivilgesell-
schaft aktiv unterstützen und Zivilcourage stärken zu kön-
nen. Es kommt dabei auch darauf an, sich für die Werte
der Demokratie, Toleranz und Solidarität zu engagieren,
sich zu einer Gesellschaft aller hier lebender Menschen
und der Vielfalt der kulturellen, religiösen oder sexuellen
Minderheiten zu bekennen. Den vielen Initiativen, die
sich gegen Rechtsextremismus engagieren, möchte ich
für ihre Arbeit danken. Aber gerade für die Politik ist es
jenseits der Appelle an die Gesellschaft notwendig, das
eigene Verhalten selbstkritisch zu hinterfragen. Der im-
mer wieder festzustellende unsensible Umgang mit den
Themen Flucht und Zuwanderung auch in diesem Hause
trägt leider negativ zum gesellschaftlichen Klima bei.
Hier können und müs sen wir die Vorbildfunktion der Po-
litik ernstnehmen und selbst einen Beitrag zu mehr „Fair-
ständnis“ leisten.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.):Am Gründon-
nerstag diesen Jahres schleuderten zwei junge Männer, 17
und 18 Jahre alt, selbst gebaute Molotow-Cocktails gegen
die Synagoge von Erfurt. Beide Täter waren bereits früher
mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Beide waren den
Behörden wegen des Zeigens verfassungsfeindlicher
Symbole, wegen Sachbeschädigung und Körperverlet-
zung bekannt; der eine Täter einschlägig vorbestraft;
beide sollen die Tat begangen haben, um sich in der Szene
einen Namen zu machen.
Dieser Fall hat weit über die Grenzen Deutschlands hi-
naus Aufsehen erregt. Aber nicht immer wird so breit über
rechtsextremistische Straftaten berichtet. Man muss
manchmal schon die hinteren Zeitungsseiten lesen, um
beispielsweise zu erfahren, dass ein Tunesier von vier
Männern in der Straßenbahn in Frankfurt/Oder geschla-
gen worden ist; dass im Landkreis Ost-Vorpommern neun
vietnamesische Jugendliche von rechtsextremen Schlä-
gern überfallen wurden; dass ein 36-jähriger Iraner in der
Leipziger Straßenbahn von einem Mann mit Springerstie-
feln ins Gesicht getreten und mit einer Stange geschlagen
worden ist; dass zwei Jugendliche in Frankfurt/Oder
einen polnischen Studenten und wenige Stunden später
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zwei afghanische Asylbewerber mit Knüppeln angegrif-
fen haben; dass im brandenburgischen Belzig zwei junge
Männer wegen des Brandanschlages auf ein vorwiegend
von Vietnamesen bewohntes Haus verhaftet wurden. –
Dies sind nur einige Beispiele, die sich zwischen dem 2.
und 8. Mai dieses Jahres ereignet haben. Bereits an die-
sem kurzen Zeitraum wird deutlich, dass es sich hier nicht
um bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern dass wir es
mit einem Phänomen von höchster gesellschaftlicher Bri-
sanz zu tun haben. Die Verfassungsschutzberichte des
Bundes und der Länder belegen dies.
Sie belegen aber auch, dass die Taten nicht gleich-
mäßig über die Bundesrepublik verteilt sind. Regionaler
Schwerpunkt rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten
und Konzentrationspunkt des Potenzials gewaltbereiter
Rechtsextremisten sind die neuen Bundesländer. Der
Rechtsextremismus dort ist jünger und in höherem Maße
gewalttätiger und militanter als in den alten Ländern. Da-
bei gilt es, an dieser Stelle zwei Punkte ausdrücklich fest-
zuhalten: Bei den rechtsextremistischen Erscheinungsfor-
men handelt es sich nicht um ein Phänomen ausschließ-
lich der neuen Bundesländer. Auch in den alten Ländern
besteht nicht der geringste Anlass zur Verharmlosung.
Zum anderen geht es in diesem Zusammenhang nicht um
irgendwelche regionalen Schuldzuweisungen oder Vor-
würfe, sondern um die schlichte Feststellung, dass derar-
tige Umtriebe eine Gefahr für unsere Demokratie, für un-
sere Gesellschaft insgesamt darstellen. Deshalb ist es
auch nicht damit getan, die Taten zu beklagen und in die
üblichen Beschwörungsformeln einzustimmen, dass sich
Derartiges nicht wiederholen dürfe. Wir müssen vielmehr
an die Ursachen, an die Wurzeln des Problems herange-
hen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass rechtsex-
tremistische Straftäter die ganze Härte des Gesetzes zu
spüren bekommen müssen. Aber wir müssen auch die
präventiven Anstrengungen verstärken, um dieser fatalen
Entwicklung Herr zu werden. Dazu gehört die Erkenntnis,
dass die Ursachen für Rechtsextremismus vielfältig sind
und auf Defizite in Ausbildung und Bildung, im Eltern-
haus, in fehlender Infrastruktur für Jugendliche, im sozia-
len Umfeld und gelegentlich auch auf Gedankenlosigkeit
zurückzuführen sind. Ich will ausdrücklich die vielen Ini-
tiativen auf lokaler und regionaler Ebene anerkennen, die
von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen, kirchli-
chen und staatlichen Einrichtungen ergriffen worden sind.
Weniger vorzuweisen hat demgegenüber die Bundesre-
gierung, deren groß angekündigtes „Bündnis für Demo-
kratie und Toleranz“ bisher außer einer eher unglückli-
chen und zu Recht kritisierten Veranstaltung am 23. Mai
noch nicht viel zu Wege gebracht hat.
Wir müssen uns vor allem klarmachen, dass die Ver-
teidigung unserer demokratischen Gesellschaft etwas
kostet. Mit Reden allein ist es nicht getan. Deshalb schlägt
die F.D.P. in ihrem Antrag vor, beginnend mit dem Bun-
deshaushalt 2001 einen jährlichen Betrag von mindestens
250 Millionen DM für Projekte zur Förderung der kom-
munalen Jugendarbeit, insbesondere für politische Bil-
dung, soziales Engagement und für kulturelle Arbeit in
nichtstaatlichen Organisationen einzusetzen. Als Träger
dieser Projekte sollen insbesondere nichtstaatliche Orga-
nisationen in den neuen Bundesländern gefördert werden.
Die Länder werden aufgefordert, diese Mittel um ge-
meinsam mindestens 50 Millionen DM jährlich aufzu-
stocken. Darüber hinaus wollen wir unter anderem im
Rahmen von Städtepartnerschaften zwischen westdeut-
schen und ostdeutschen Städten Programme für Prakti-
kanten und Volontäre auf allen Ebenen der gewerblichen
und beruflichen Ausbildung und Tätigkeit auflegen, durch
die vor allem Jugendlichen und Berufsanfängern aus den
neuen Bundesländern die Möglichkeit geboten wird, in
industriellen und gewerblichen Unternehmen ihrer Wahl
zu arbeiten oder an einem ihrer Berufsausbildung ent-
sprechenden Lehrgang teilzunehmen. Ferner soll der Ju-
gendaustausch mit Frankreich und anderen westlichen
Ländern für die nächsten Jahre verstärkt Jugendlichen aus
den neuen Bundesländern vorbehalten werden. Dadurch
können wir den Horizont junger Menschen erweitern und
sie aus einer Umgebung herausholen, in der sie glauben,
ihre Anerkennung nur aus der Zugehörigkeit zu rechtsex-
tremen Gruppen oder so genannten Kameradschaften zu
erlangen.
Ich hoffe sehr, dass wir in den Ausschussberatungen zu
einem breiten Einvernehmen über konkrete Maßnahmen
kommen und dass sinnvolle Projekte nicht an der not-
wendigen Finanzierung scheitern. Denn wenn wir nicht
bald und wirksam handeln, wird unsere Gesellschaft ei-
nen viel höheren Preis zu bezahlen haben.
Ulla Jelpke (PDS): Schon seit Jahren ist eigentlich
vereinbart, über den Anstieg rechter Gewalttaten eine
große Debatte im Bundestag zu führen. Bekämpfung von
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemi-
tismus muss endlich ein Schwerpunkt der Arbeit der Bun-
desregierung, des Bundestages, der Länderregierungen
und der Kommunen sein.
Auch der neueste Verfassungsschutzskandal in Thürin-
gen gehört zu unserem Thema heute. Dass ein notorischer
vorbestrafter rechtsextremistischer Führungskader auf
den Gehaltslisten des thüringischen Verfassungsschutzes
geführt wird, ist ein Skandal. Statt Rechtsextremisten zu
bekämpfen, bevorzugen einige Schlapphüte in diesem
Land, zumal in CDU-regierten Ländern, offenbar weiter
eine Politik der Bagatellisierung und Verharmlosung.
Mit unserem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgeset-
zes wollen wir eine Lücke im Strafgesetz schließen. Wenn
Rechtsextremisten bei uns – offensichtlich ermuntert
durch Haider in Österreich – nationalsozialistische und
verbrecherische Organisationen wie die SS und die Waf-
fen-SS verherrlichen und dafür nicht verfolgt werden,
dann muss der Gesetzgeber einschreiten. Sie alle wissen,
was sich mit dem Namen der SS und der Waffen-SS ver-
bindet – Massaker wie in Oradour und Lidice, Untaten,
die in unseren europäischen Nachbarstaaten und auch bei
uns unvergessen sind.
In Köln hat die örtliche Presse entsetzt über diese Pa-
rolen berichtet. Strafanzeigen wurden gestellt – vergeb-
lich. Auch Interventionen aus der jüdischen Gemeinde
halfen nichts. Am Ende sah das NRW-Justizministerium
keine Möglichkeit, Strafverfahren gegen solche NS-Paro-
len einzuleiten.
Nicht anders waren die Erfahrungen in Magdeburg, in
Elmshorn und anderen Städten. Noch grotesker war es in
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Berlin. Hier schritten Polizeibeamte, als sie diese Parolen
hörten, sofort ein. Weil sie überzeugt waren, dass Strafta-
ten vorliegen, stellten sie die Personalien der Leute fest.
Trotzdem wurden am Ende die Ermittlungen eingestellt.
Die NPD-Leute stellten sogar, wie ich von der Staatsan-
waltschaft erfuhr, ihrerseits Strafanzeige gegen die Berli-
ner Polizeibeamten wegen angeblicher „Freiheitsberau-
bung“.
Ich finde, diesem Spuk muss ein Ende bereitet werden.
Diese Rechtslücke muss geschlossen werden. Die Ver-
herrlichung verbotener nationalsozialistischer Organisa-
tionen darf nicht länger straflos bleiben.
Es gibt eine gute Parole, die ich zu diesem Thema auf
antifaschistischen Aktionen in letzter Zeit gehört habe.
Diese Parole lautet: „Faschismus ist keine Meinung, son-
dern ein Verbrechen.“ So ist es. Es geht hier nicht um Mei-
nungsfreiheit, sondern um die Verherrlichung von Verbre-
chen. Dagegen müssen wir einschreiten.
Ein paar Bemerkungen noch zu den anderen Anträgen:
Ich lese mit Interesse, dass die F.D.P. jährlich 250 Milli-
onen DM zur Förderung der kommunalen Jugendarbeit
und der politischen Bildung ausgeben will. Auch die För-
derung des internationalen Jugendaustauschs ist sicher
richtig. Hier geschieht seit Jahren viel zu wenig. Ich finde
aber, wir sollten solche Projekte insbesondere auch für
Migrantinnen und Migranten einsetzen. Diese sind
Hauptopfer der rechten Angriffe. Bekämpfung von
Rechtsextremismus heißt auch: Hilfe, Unterstützung, So-
lidarität mit Migrantinnen und Migranten und Flüchtlin-
gen in diesem Land. Der Vorsitzende des Städte- und Ge-
meindebundes hat kürzlich gefordert, endlich Integra-
tionsprogramme nach niederländischem Vorbild in
Städten und Gemeinden aus Bundesmitteln zu fördern.
Ich finde, das sollten wir unterstützen.
Zum Antrag der Regierungsparteien fällt mir nicht viel
Gutes ein. Sie behaupten zum Beispiel, wir hätten ein mo-
dernes Staatsbürgerschaftsrecht. Das stimmt doch nicht!
Ihr neues Staatsbürgerrecht ist, wie alle Zahlen jetzt zei-
gen, keine Erleichterung für die 8 Millionen Migrantinnen
und Migranten bei uns. Im Gegenteil, diese Menschen
werden wieder enttäuscht. Ihre Rechtlosigkeit, ihre Dis-
kriminierung bleibt bestehen. Sie sagen weiter, sie woll-
ten das Arbeitserlaubnisrecht für Asylbewerberinnen und
Asylbewerber „neu gestalten“. Was heißt „neu gestalten“?
Schaffen sie endlich das Arbeitsverbot für diese Men-
schen ab! Ansonsten finde ich in Ihrem Antrag im We-
sentlichen schöne Worte.
Ich will noch ein Beispiel nennen: Sie fordern eine
„zeitnahe Verfolgung“ rechtsextremistischer Taten durch
die Gerichte.
Sie wissen doch, dass ihre eigene Regierung noch nicht
einmal diese Urteile erfasst! Seit Jahren frage ich jeden
Monat nach diesen Urteilen und bekomme keine Ant-
wort – weder von der alten Regierung noch von der neuen.
So sieht die Wirklichkeit aus. Die Politik des Innenminis-
ters zum Thema Rechtsextremismus ist eine Pleite, kon-
stantes Nullniveau. Es ist genauso wie beim Bündnis für
Toleranz, gegen Extremismus. Schöne Worte, aber keine
Taten.
Zivilcourage gegen Antisemitismus und Fremden-
feindlichkeit erfordert noch immer auch Zivilcourage ge-
gen staatliche Stellen, die diese Fremdenfeindlichkeit, die
Antisemitismus und Rechtsextremismus bagatellisieren,
wenn nicht sogar schützen und verteidigen. Das muss
endlich aufhören.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Für eine gemeinsame
europäische Position in der Frage der Raketen-
abwehr (National Missile Defense) (Tagesord-
nungspunkt 11)
Uta Zapf (SPD): Mit ihrem Antrag spricht die
CDU/CSU-Fraktion ein zentral wichtiges Thema der
zukünftigen globalen Sicherheitspolitik an, das uns sicher
lange Zeit intensiv beschäftigen wird, weil es europäische
und deutsche Interessen vital betrifft aber darüber hinaus
weltweit Bedeutung hat für das System nuklearer Abrüs-
tung und das nukleare Nichtverbreitungsregime. Auch die
Frage des Zusammenhaltens der Atlantischen Allianz ist
betroffen.
Der Vorwurf allerdings, die Bundesregierung habe eine
Stellungnahme vermissen lassen, ist grotesk und der Op-
positionsrolle geschuldet.
Sowohl der Verteidigungsausschuss als auch der Aus-
wärtige Ausschuss haben sich in mehreren ausführlichen
Diskussionen aufgrund von Berichten der Bundesregie-
rung mit dem Thema beschäftigt!
Wenn es denn so einfach wäre, bei diesem komplexen
Thema eine Position aus der Tasche zu zaubern! Hätte die
Bundesregierung ohne eingehende Konsultationen mit
den europäischen Ländern und ohne eingehende Konsul-
tationen im Bündnis Stellung beziehen sollen? Und wie
hätten Sie geschäumt, wenn ohne Befassung in den Fach-
ausschüssen entschieden worden wäre?
Worum geht es eigentlich? Vermutlich im Herbst will
der amerikanische Präsident über die Aufstellung eines
nationalen Raketenabwehrsystems in den USA entschei-
den. Es ist möglich, dass die Entscheidung auch erst von
einem neuen Präsidenten nach der Wahl gefällt wird.
Zweck dieses Abwehrsystems ist es, alle 50 Staaten der
USA vor feindlichen ballistischen (nuklearen) Raketen
durch ein effektives Abfangsystem zu schützen.
Der Aufbau soll in drei Phasen vor sich gehen. Phase 1
(bis 2005) soll in der Lage sein, einige einfache Raketen
abfangen zu können, mittels 20 Interzeptoren, die in
Alaska aufgebaut werden sollen.
Phase 2 umfasst 100 Interzeptoren, die einige auch
komplexere Sprengköpfe abfangen können sollen und
Phase 3 soll mittels 200 – 250 Systemen an zwei Standor-
ten einen Rundumschutz gegen feindliche Raketen aufge-
baut haben.
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Diese Abfangsysteme richten sich gegen Angriffe von
„Schurkenstaaten“ wie Nordkorea, Iran und Irak. Zu-
grunde liegt eine Bedrohungsanalyse, die besagt, dass ab
2005 diese Staaten in der Lage sein könnten, das Territo-
rium der USA mit Massenvernichtungsmitteln anzugrei-
fen.
Präsident Clinton hat seine endgültige Entscheidung
zur Aufstellung dieser Systeme von Bedingungen abhän-
gig gemacht;
1. technische Machbarkeit des Systems,
2. Bezahlbarkeit des Systems,
3. Stichhaltigkeit der Bedrohungsanalyse und
4. die Auswirkungen auf Rüstungskontrollregime und
die Beziehungen zu Russland.
Hinzuzufügen wären auch die Auswirkungen auf die
Partner der Allianz.
Die ersten beiden Kriterien müssen uns nicht interes-
sieren. Sie sind eine Angelegenheit der nationalen Ent-
scheidung.
Kriterium drei sollte uns interessieren, weil es auch für
uns darauf ankommt, mögliche Gefahren zu erkennen und
Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Allerdings sage ich aus-
drücklich, dass wir eine eigene Bewertung und realisti-
sche Einschätzung der Risiken vornehmen müssen,
ebenso auch eine vernünftige Analyse der Möglichkeiten
der Eindämmung dieser Gefahren. Wir müssen die Alter-
nativen zu einer Raketenabwehr sorgfältig prüfen. Dies ist
umso wichtiger, als die Bedrohungsanalyse nicht einfach
übernommen werden kann. Seriöse Wissenschaftler und
Analysten in den USA halten sie für weit übertrieben und
miotisch.
Zwei Beispiele sollen dies erhellen: Nordkorea, ein
bettelarmes Land, arbeitet an Trägertechnologie größerer
Reichweite: die Taepo-Dong-1-Rakete. Sie ist primitiv
und der den Westen überraschende Flugtest im August
1998 war auch nicht erfolgreich; die dritte Stufe versagte.
Dennoch gilt dieser Versuch als Alarmsignal und Nord-
korea als „Schurkenstaat“, der ein hohes zukünftiges Ri-
siko darstellt. Die USA haben Nordkorea ein Moratorium
für Raketentests „abgekauft“ und mit dem so genannten
„KEDO“-Programm Nordkorea von der Produktion waf-
fenfähigen spaltbaren Materials abgehalten. Zurzeit fin-
det ein spannender politischer Annäherungsprozess Nord-
koreas und Südkoreas statt, der eine Chance böte, Nord-
korea in die internationale Staatengemeinschaft ein-
zubinden.
Beispiel Iran: Im Iran findet von innen her ein Reform-
prozess statt, der ebenfalls die Chance der Einbindung
Irans in die internationale Staatengemeinschaft eröffnet
und einen „Schurkenstaat“ zum Partner wandeln könnte.
Diese Prozesse gilt es zu unterstützen!
Eine ganz andere und, wie ich meine, wesent-
lich,größere Gefahr ist durch eine Raketenabwehr oh-
nehin nicht zu bannen: die Gefahr des Terrorismus. Mas-
senvernichtungswaffen zu Schiff, zu Land oder im Ruck-
sack eingeschleppt, sind mit „Missile Defense“ nicht ab-
zuwehren. Angriffe per Internet und Computer auf die
sensible Infrastruktur hoch industrialisierter Staaten brau-
chen andere Abwehrstrategien! Organisierte Kriminalität
und Drogenhandel sowie illegaler Transfer von Klein-
waffen unterhöhlen und destabilisieren zivile Kulturen
und Demokratien in einem ungeheueren Ausmaß. Was wir
brauchen ist eine Kooperation aller zivilisierten Staaten,
ein globales Netzwerk der Abwehr dieser Gefahren!
Am stärksten wiegen Punkt 4 und Punkt 5. Welche Fol-
gen kann NMD, eine nationale Raketenabwehr, auf das
strategische Gleichgewicht und das Rüstungskontrollre-
gime haben? Welche Folgen für das Verhältnis zu Russ-
land? Welche Folgen für die Allianz und die transatlanti-
schen Beziehungen?
Kernpunkt all dieser Überlegungen ist, dass ein solches
Abwehrsystem das strategische Gleichgewicht stört. Der
ABM-Vertrag, also jener Vertrag zwischen Russland und
USA, der die gegenseitige Verwundbarkeit der früheren
Kontrahenten des Ost-West-Konfliktes garantieren soll,
gestattet jedem Land eine begrenzte Abwehrfähigkeit, die
ihm seine „Zweitschlagsfähigkeit“ erhalten soll. Das
„Gleichgewicht des Schreckens“ garantierte die Ab-
schreckung vor einem Angriff, weil jeder Protagonist ver-
wundbar blieb.
Eine nationale Raketenabwehr verletzt den ABM-Ver-
trag. Wenn keine Einigung mit den Russen zu erzielen ist,
werden die USA aus dem Vertrag austreten.
Ob Einigung oder nicht – beide Versionen können
schwer wiegende Folgen für die Nichtvertreibung von
Massenvernichtungswaffen – insbesondere Nuklearwaf-
fen – haben, das internationale System der Abrüstung und
seine Weiterentwicklung erheblich stören oder gar zer-
stören, das Verhältnis zu Russland in den Kalten Krieg
zurückwerfen und zu einem weltweiten Rüstungswettlauf
führen.
China würde sich nuklearer Abrüstung völlig verwei-
gern und die Modernisierung seiner nuklearer Waffensys-
teme mit vermehrter Anstrengung vorantreiben. Indien
und Pakistan würden sich in ihrem Schritt zur Atommacht
bestätigt sehen und andere Länder des asiatisch-pazifi-
schen Raumes könnten folgen. Auch im Nahen Osten
könnten neue Nuklearwaffenstaaten entstehen. Das
Worst-Case-Szenario heißt: totaler Zusammenbruch des
Nichtverbreitungsregimes.
Unsere Aufgabe aber müsste sein, die wirksamen An-
strengungen um weitere Abrüstung zu fördern. In unse-
rem Interesse liegt es, mit Russland gemeinsame Sicher-
heit zu organisieren.
Die Reduzierung nuklearer Waffen in Start II und Start
III sind im höchsten sicherheitspolitischen Interesse Eu-
ropas. Auch wenn Russland und Europa in einen solchen
Schutzschild einbezogen wären, wären die Wirkungen auf
das weltweite Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Non-
proliferationsregime unabsehbar.
Wer wie die CDU/CSU sagt, wir müssen mit unseren
Partnern, mit Russland und den USA, eine transatlanti-
sche Initiative zur Bekämpfung der Proliferation auf den
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Weg bringen, muss dies bedenken. Bei Akzeptanz eines
Abwehrsystems setzen wir den Nichtverbreibungsver-
trag, die Chemiewaffenkonvention, das Atomteststoppab-
kommen und alle anderen Abrüstungs- und Rüstungskon-
trollvereinbarungen auf das Spiel.
Die USA scheinen entschlossen, eine nationale Rake-
tenabwehr zu installieren. Angesichts der möglichen Fol-
gen scheinen mir die Überlegungen, ob dadurch Zonen
unterschiedlicher Sicherheit entstehen, fast belanglos.
Mir scheint eher, dass wir uns mit Überlegungen zu einer
europäischen Beteiligung auf den Weg begeben, unsere
Sicherheit selbst zu unterminieren.
Lassen Sie uns bei diesem komplexen Thema eine se-
riöse Diskussion führen. Lassen Sie uns nach der besten
Lösung suchen für uns und für die Zukunft unserer Kin-
der.
Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Auf einmal
kommt ein Thema in der öffentlichen Debatte unseres
Landes hoch, das lange Zeit in Europa einfach ignoriert
worden ist. Spätestens seit dem Beschluss des US-Kon-
gresses, den Aufbau einer nationalen Raketenabwehr
(NMD) durch ein Gesetz zu beschließen, spätestens seit
Mitte letzten Jahres wäre Zeit gewesen, sich in Deutsch-
land und Europa mit diesem Thema auseinander zu set-
zen. Doch eine intensive Diskussion darüber hat nicht
stattgefunden.
Auch darin zeigt sich wieder eine politisch gefährliche
Unart, die sich in letzter Zeit wie ein roter – genauer: rot-
grüner – Faden durch unsere politische Landschaft zieht.
Die unbeschwerte Leichtigkeit des Seins lässt es – genährt
von einem Gemisch aus übertriebener Amerikaskepsis,
Technologiefeindlichkeit und Unwilligkeit, strategisch zu
denken – nicht zu, sich mit Themen intensiv zu beschäfti-
gen, die dem politischen Common Sense zuwiderlaufen.
Sozusagen als Krönung dieser Empfindlichkeit musste
der deutsche Bundeskanzler den amerikanischen Präsi-
denten bei den Gesprächen in Berlin auf die Gefahr eines
neuen Rüstungswettlaufs hinweisen. So recht hatte er aber
nichts in der Tasche oder im Hinterkopf, was eine schlüs-
sige deutsche Position zum amerikanischen Vorhaben der
Raketenrüstung darstellen würde.
Die geschickte Initiative des russischen Präsidenten
Putin, mit einem Angebot zur gemeinsamen Entwicklung
eines Raketenabwehrsystems Clinton in die diplomati-
sche Defensive zu bringen, ist ein Meisterstück. Wie weit
es tragen wird, wird sich zeigen. Kein Meisterstück ist da-
gegen der Versuch unserer Regierung, Europa und das
wichtigste mitteleuropäische Land aus dieser Diskussion
herauszuhalten und stattdessen die Rolle des Oberbeden-
kenträgers zu spielen. Wer nichts außer Bedenken vor-
trägt, kann auch auf den Verlauf der Dinge nicht kon-
struktiv einwirken.
Es ist durchaus Skepsis hinsichtlich der Erfolgschan-
cen, aber auch hinsichtlich der sicherheitspolitischen Aus-
wirkungen des amerikanischen Projekts angebracht.
Nicht angebracht ist es jedoch, sich der Realität dieses
Projekts zu verweigern, die positiven Aspekte nicht auf-
zunehmen und an ihrer Entfaltung nicht mitzuarbeiten.
Wenn die in den letzten Wochen vielfach dargestellte
Bedrohungsanalyse, wie sie der „Rahmsfeld-Report“,
aber auch der Proliferationsbericht des BND ausführen,
zutrifft, dann ist die Frage einer Abwehr gegen solche Be-
drohungen legitim.
Für uns Europäer ergeben sich vor allen drei wichtige
Aspekte:
Erstens. Wie können wir uns vor Bedrohungen, insbe-
sondere der südlichen Peripherie unseres Kontinents,
schützen?
Zweitens. Wie können wir eine Abkoppelung innerhalb
der NATO in Zonen unterschiedlicher Sicherheit verhin-
dern?
Drittens. Wie können wir Europäer unsere strategi-
schen Interessen im Dialog mit Russland und den USA
bewahren?
Diesen Fragen muss man sich stellen. Bis heute ver-
missen wir ein Konzept der Regierung, das auf diese Fra-
gen Antwort gibt. Ein solches Konzept könnte mehrere
Elemente beinhalten. Im Sinne einer Anti-Proliferations-
Initiative sollte man darauf hinzuwirken, den strategi-
schen Dialog zur effizienten Weiterentwicklung der ver-
traglichen Rüstungskontrolle gemeinsam mit den USA
nachhaltig zu unterstützen, gleichzeitig die Bereitschaft
zur technologischen und militärischen Kooperation zu er-
klären für den Fall, dass eine überzeugende Rüstungs-
kontrolllösung nicht durchsetzbar sein sollte auf eine ein-
heitliche europäische Position hinzuwirken und Russland
in solche Überlegungen mit einzubeziehen.
Wir Europäer können uns der Frage eines Schutzschir-
mes vor Raketen, die auch unser Territorium potenziell
bedrohen, nicht entziehen. Allein die Existenz solcher
Waffen schränkt Europa in seiner politischen Handlungs-
fähigkeit ein. Die damit verbundene Diskussion ist des-
halb von zentraler Bedeutung für unsere Sicherheit. Diese
Diskussion nicht angestoßen zu haben und – nachdem sie
von uns angestoßen wurde – nicht angemessen führen zu
wollen, ist ein strategischer Fehler der Sicherheitspolitik
dieser rot-grünen Regierung. Ich fordere sie auf, meine
Damen und Herren von der Koalition, dieses Versäumnis
zu korrigieren. Stimmen auch Sie unserem Antrag zu!
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):Die ameri-
kanischen Pläne einer nationalen Raketenabwehr haben
eine sicherheitspolitische Diskussion ausgelöst, in der die
europäischen NATO-Mitglieder bislang keine gemein-
same Position gefunden haben, ja nicht einmal den Ver-
such unternommen haben, ihre vitalen Interessen gemein-
sam zu definieren. Wir sollten uns davor hüten, NMD und
TMD als technologische Muskelspiele unserer amerika-
nischen Verbündeten zu betrachten, mit denen sie als ein-
zig verbliebene Großmacht ihre militärische Überlegen-
heit dokumentieren wollen. Die Amerikaner haben eine
intensive sicherheitspolitische Bedrohungsanalyse vorge-
nommen. Sie betrachten Raketen mit größerer Reich-
weite, die von Schwellenländern wie Iran, Pakistan, In-
dien, Nordkorea oder auch Libyen entwickelt werden und
eines Tages auch eingesetzt werden können, zu Recht als
eine reale Gefahr.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juni 2000 10257
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Wenn davon eine Bedrohung für den amerikanischen
Kontinent ausgeht, dann gilt das umso mehr für Europa.
Der Proliferationsbericht des Bundesnachrichtendienstes,
der vor einigen Monaten erschienen ist, geht davon aus,
dass der Irak schon in wenigen Jahren über Trägersys-
teme verfügt, in deren Reichweite die Bundesrepublik
Deutschland fast vollständig fällt. Deshalb müssten wir
eigentlich sensibler als die Amerikaner für solche Ent-
wicklungen sein, weil wir den genannten Ländern näher
liegen. Die Debatte über ein Raketenabwehrsystem bringt
sicherheitspolitisch eine neue Qualität, zu der die europä-
ischen Partner eine einheitliche Position entwickeln müs-
sen.
Im Zeitalter des Kalten Krieges beruhte Sicherheit auf
der gegenseitigen Abschreckung, das heißt auf dem stra-
tegischen Gleichgewicht von Offensiv-Waffen. Diese si-
cherheitspolitische Ordnung setzte bei allen Beteiligten
ein hohes Maß an Rationalität voraus. Die meisten
Schwellenländer, von denen heute eine neue Form der Be-
drohung ausgeht, sind aber politisch instabil und in ihrer
politischen Führung unberechenbar. Deshalb wird in den
Augen unserer amerikanischen Partner neben der Präven-
tion und der Abschreckung auch die Verteidigungsfähig-
keit gegen irrationale Formen der Aggression zu einem
unverzichtbaren Bestandteil der Sicherheitspolitik.
Natürlich können wir innerhalb der NATO keine Zo-
nen unterschiedlicher Sicherheit akzeptieren. Deshalb
dürfen wir zu NMD nicht schweigen, wir müssen auf die
Diskussion in Amerika einwirken und unsere Interessen
artikulieren. Das heißt zuallererst: Wenn die Vereinigten
Staaten ein Raketenabwehrsystem installieren, muss ein
vergleichbarer Schutz für Europa entstehen, um die Bünd-
niskohäsion zu wahren, die für Amerikas eigene Sicher-
heit unverzichtbar ist. Es ist auch unser Interesse, einen
Rüstungswettlauf in Asien zu vermeiden. Deshalb müssen
wir uns als Europäer gemeinsam engagieren und die De-
batte über NMD als Hebel für weltweite sicherheitspoliti-
sche Absprachen nutzen. Dabei muss Europa eine aktive
Rolle spielen und mit einer Stimme sprechen. Sonst wer-
den wir sicherheitspolitisch marginalisiert. Wir fordern
die Bundesregierung auf, mit unseren Partnern schnellst-
möglich eine gemeinsame europäische Strategie in der
Frage der Raketenabwehr zu entwickeln.
Wir sind gegen eine kurzfristige Entscheidung des am-
tierenden amerikanischen Präsidenten noch vor den Prä-
sidentschaftswahlen im November. Dann müssen wir den
Vereinigten Staaten aber umgehend signalisieren, dass
wir uns an der Weiterentwicklung des Rüstungskontroll-
regimes und an der Debatte über die neue Bedeutung der
Verteidigung für die globale Sicherheitsordnung kon-
struktiv beteiligen werden. Die Bundesregierung muss
aktiv werden, damit wir in der Frage der Raketenabwehr
nicht als sicherheitspolitische Verlierer dastehen.
Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): In Sachen US-
amerikanischer Pläne zu einem Nationalen Raketenab-
wehrsystem hat sich die Bundesregierung zu spät positio-
niert. Frühzeitig hätte sie unserem großen Bündnispartner
USAihre Bedenken signalisieren müssen, nicht öffentlich
und oberlehrerhaft, sondern diplomatisch geschickt, aber
bestimmt. So hätte eine immer offensichtlicher werdende
Verhärtung der Beziehungen zwischen Deutschland und
Amerika verhindert werden können. Außenminister
Fischer ist eben nicht Genscher oder Kinkel, nicht einmal
zu einer Miniaturausgabe reicht es.
Zunächst ist es angebracht, zumindest zwei Ebenen der
Betrachtung deutlich auseinander zu halten: Die erste ist
eine militärische und – weil es sich um das Nationale Ra-
ketenabwehrsystem handelt – eine zuvorderst US-ameri-
kanische. Niemand – und dies umfasst ganz ausdrücklich
auch den Deutschen Bundestag – kann unseren amerika-
nischen Freunden und Partnern das Recht abschneiden,
ein eigenes auf nationalen Sicherheitsperzeptionen ruhen-
des Raketenabwehrsystem aufzubauen. Sehr wohl darf, ja
geradezu muss es aber Aufgabe und wohlverstandene Ver-
pflichtung von Partnern und insbesondere von Freunden
sein, auf einige Punkte kritisch hinzuweisen und einen zu-
sätzlichen, in unserer Konstellation eher europäischen
Blickwinkel einzufügen.
Damit komme ich nicht nur zur politischen Dimension
des Projektes, sondern auch zu den dezidierten Versäum-
nissen der gegenwärtigen, grünen Außenpolitik. Die
wichtigsten Konsultationen müssen den NATO-Partnern,
insbesondere den USA gelten. Denn in Europa darf es
keine Zonen unterschiedlicher oder gar divergierender Si-
cherheit geben. Die Entkopplung dieser Sicherheitszonen
würde unweigerlich zu einer Schwächung der NATO und
damit auch ihrer Glaubwürdigkeit nach außen führen.
Unilaterale, mit den Bündnispartnern nicht abgestimmte
und eher innenpolitisch orientierte Alleingänge können
auch zu Einengungen der außenpolitischen Spielräume
der Amerikaner selber führen.
Hier müssen wir den Amerikanern auch verdeutlichen,
dass die Abrüstungsprozesse der vergangenen Jahre zu
fragil sind, um leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu werden.
Lassen Sie mich nur an den ABM-Vertrag des Jahres 1972
oder die aktuelle Ratifizierung des START-II-Vertrages
mit Präsident Putin erinnern. Für Deutschland muss es da-
rum gehen, einerseits das Momentum der von Putin in die
Diskussion gebrachten Vorschläge zu weltweiter Abrüs-
tung zu nutzen und andererseits die zur Zeit stattfindende
Diskussion zu einer wirklichen Zukunftsfähigkeit des
ABM-Vertrages zu nutzen.
Aber, Herr Minister Fischer: Da ist die Entfaltung von
Initiativkraft und aktives Zugehen auf unsere Partner ge-
fordert. Diplomatische Außenpolitik ist gefordert und
nicht medienorientierte. Undifferenzierte Urteile über
Schurkenstaaten - lassen Sie mich einräumen, dass ich
schon von dem Begriff nicht viel halte - verstellen da eher
den Blick auf eine realistische Einzelbetrachtung der be-
troffenen Staaten. Es kann eben nicht im Interesse einer
kohärenten Sicherheitsanalyse sein, den Irak, Libyen und
Nordkorea in einem Atemzug zu nennen.
Es ist vielmehr .die Aufgabe von Minister Fischer end-
lich dafür zu sorgen, dass die EU mit Russland und unse-
ren osteuropäischen Nachbarn in eine Analyse der poten-
ziellen Bedrohungen der Sicherheit Europas eintritt. Die
deutsch-französischen Konsultationen in Mainz morgen
bieten da einen ersten, guten Anlass. Verschließen Sie also
Ihre Augen nicht vor Risiken und Bedrohungen, die nicht
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so monströs daherkommen, wohl aber größte Gefahren-
potenziale für ganze Zivilisationen in sich bergen können.
Basispazifistische Bedenkenträgerei kann sich überaus
gefährlich für unser Land auswirken.
Zusammenfassend kann das gegenwärtige Vorgehen
der Regierung nur als verspätet, zögerlich und der Kom-
plexität des Problemfeldes nicht angemessen bezeichnet
werden. Es ist höchste Zeit für die Bundesregierung, die
die internationale Abrüstung zu einer ihrer höchsten
außenpolitischen Prioritäten erklärt hat, endlich selbst ak-
tives Engagement an den Tag zu legen. Dies setzt aller-
dings voraus, dass der Außenminister zunächst selbst
weiß, was er will.
Heidi Lippmann (PDS): Die Auswirkungen, die die
amerikanischen Planungen für den internationalen Welt-
frieden haben können, sind kaum abschätzbar. Angesichts
dessen sollten der Deutsche Bundestag und die Bundesre-
gierung alles in ihrer Macht Stehende tun, um Druck auf
die USA auszuüben, von ihren Plänen Abstand zu neh-
men.
Nicht nur würde der ABM-Vertrag zwischen Russland
und den USAeinseitig aufgekündigt und seine Ergebnisse
gefährdet, sondern Militärexperten gehen davon aus, dass
NMD weltweit ein neues Wettrüsten zur Folge haben
wird. Obwohl die diesjährige Überprüfungskonferenz
zum Atomwaffensperrvertrag ein in Ansätzen durchaus
positives Ergebnis vorzuweisen hat, ist die Befürchtung,
NMD würde den gesamten nuklearen Abrüstungsprozess
nicht nur zum Stillstand bringen, sondern die Neuent-
wicklung von Atomwaffen, konventionellen Waffensyste-
men, aber auch Weiterentwicklungen im biologischen und
chemischen Waffenbereich nach sich ziehen, mehr als be-
rechtigt.
Dass sich die amerikanischen Pläne weniger gegen die
Staaten richten, die insbesondere von den Amerikanern
als „Schurkenstaaten“ bezeichnet werden, sondern in ers-
ter Linie gegen China und Russland, liegt auf der Hand.
Die Wahrscheinlichkeit, dass – vorausgesetzt Nordkorea,
der Iran, Irak oder andere so genannten Rogue-States ver-
fügten tatsächlich über die technologischen Möglichkei-
ten – einer dieser Staaten die USAmit Interkontinentalra-
keten angreifen würde , ist überaus gering, denn jeder mi-
litärische Angriff eines Staates gegen die USA wäre ein
staatlicher Selbstmord.
In einem Gespräch am Rande der UN-Konferenz zum
Atomwaffensperrvertrag Anfang Mai hat der chinesische
Vertreter bereits die Konsequenzen Chinas aus der Er-
richtung eines Raketenabwehrsystems der USA deutlich
zum Ausdruck gebracht, nämlich die Entwicklung neuer
Atombomben, neuer Atomwaffentests und der Wieder-
einstieg in die Produktion von waffenfähigem Nuklear-
material. Einer nuklearen Aufrüstung Chinas würde nicht
nur Indien folgen, sondern natürlich auch Pakistan. Ange-
sichts der Krisenstimmung in Asien und der vielfältigen
ethnischen Konflikte wären die Folgen für die internatio-
nale Sicherheit katastrophal.
Der Einstieg in eine neue Rüstungsspirale würde auch
dazu führen, dass der Menschheit nicht unbeträchtliche
Ressourcen entzogen würden, die für die Bearbeitung der
zunehmenden globalen Probleme benötigt werden. Milli-
arden von Dollars, die in neue Waffen investiert werden,
können nicht mehr für öffentliche Wohlfahrtsprogramme,
für die Bekämpfung von Armut und Umweltkatastrophen
aufgewandt werden. Diese Fehlleitung von Ressourcen
trägt dazu bei, die Krisenpotenziale in der Welt zu ver-
mehren, und damit steigt auch die Gefahr, dass bewaff-
nete Konflikte zunehmen. Der auf rüstungspolitische Ant-
worten fixierte Wunsch nach absoluter Sicherheit ver-
schärft somit nur die Sicherheitsprobleme.
Ein derartig konfrontativer Ansatz wird nicht dazu bei-
tragen, die Probleme der Welt im 21. Jahrhundert zu lö-
sen. Statt eines internationalen Wettrüstens ist verstärkte
internationale Kooperation geboten, wenn die wirtschaft-
lichen, sozialen, ökologischen und entwicklungspoliti-
schen Fragen der Gegenwart und Zukunft angegangen
werden sollen. Es geht in der Welt von heute und morgen
um gemeinsame Sicherheit. Deshalb sollten die Vereinten
Nationen gestärkt werden. Deshalb bedarf es eines Inte-
ressensausgleichs zwischen den reicheren und den ärme-
ren Nationen ebenso wie internationaler Vereinbarungen
über die Reduzierung der Rüstungsgefahren.
Der Versuch, sich mit dem Aufbau einer Raketenab-
wehr „unangreifbar“ machen zu wollen, muss als der Ver-
such der einzig verbliebenen Weltmacht interpretiert wer-
den, jederzeit unilateral agieren zu können. Der Verlust an
Einflussmöglichkeiten derjenigen, die keine oder nur we-
nig Atomwaffen haben, wird diese zu neuen Rüstungs-
programmen animieren, weil sie fürchten müssen, durch
eine noch „unangreifbarer“ gewordene Macht noch stär-
ker in ihren Einflussmöglichkeiten beschnitten zu wer-
den. Die Welt wird durch diese Konfrontationspolitik
nicht friedlicher und sicherer, im Gegenteil.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie ge-
genüber der Regierung der Vereinigten Staaten von Ame-
rika die strikte Ablehnung des NMD-Vorhabens und der
einseitigen Aufkündigung des ABM-Vertrags deutlich
macht. Sie sollte sich bei den europäischen NATO-Part-
nern und innerhalb der Europäischen Union für eine Ini-
tiative gegen das NMD-Vorhaben und für das Festhalten
am ABM-Vertrag einsetzen. Und die Bundesregierung
sollte sich für neue nukleare und konventionelle Abrüs-
tungsverhandlungen unter Einschluss der USA, der
NATO, der EU, Russlands und Chinas einsetzen, mit dem
Ziel weiterer vertraglicher Beschränkungen sämtlicher
Bestände an Personal und Waffen aller Kategorien und ei-
ner Verbesserung der Rüstungskontrollmechanismen.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Das von amerikanischer Seite vorangetriebene Projekt
einer nationalen Raketenabwehr ist in diesen Monaten
Gegenstand intensiver Erörterungen innerhalb der NATO
und in zahlreichen bilateralen Kontakten, zuletzt beim
Besuch von US-Präsident Clinton in Deutschland.
Die Bundesregierung hat hierzu eine klare Position: Es
wäre illusionär und politisch deshalb falsch, den Verei-
nigten Staaten das Recht zu bestreiten, die Maßnahmen
zu treffen, die sie für die Gewährleistung ihrer Sicherheit
für zwingend erforderlich halten. Es ist eine nationale
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Entscheidung der USA, aber sie hat weitreichende inter-
nationale Auswirkungen. Wir dürfen daher erwarten, dass
die USA die vielfältigen Implikationen einer Entschei-
dung über ein NMD-System für ihre Verbündeten ange-
messen berücksichtigt.
Aus Sicht der Bundesregierung kommt es auf drei
Kernpunkte an:
Erstens. Das dichte Netz nuklearer Rüstungskontrolle
und Abrüstung muss erhalten und gestärkt werden.
Zweitens. Neue Rüstungswettläufe müssen vermieden
werden.
Drittens. Der Zusammenhalt des Atlantischen Bünd-
nisses muss gewahrt bleiben.
Eine Realisierung von NMD stünde im Widerspruch zu
den geltenden Regelungen des ABM-Vertrags von 1972,
der Raketenabwehrsysteme eng begrenzt. Eine einseitige
Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die USA könnte
unabsehbare Folgen für das gesamte Netzwerk der ver-
traglichen Rüstungskontrolle haben, das gerade Europa
einen großen Zugewinn an Sicherheit gebracht hat. Die
europäischen Staaten sind nicht ABM-Vertragspartner,
wären aber von einer solchen Entwicklung in erheblichem
Maße betroffen. Wir begrüßen deshalb die jüngsten Ge-
spräche zwischen den USA und Russland, insbesondere
die Gemeinsame Erklärung über den Erhalt der strategi-
schen Stabilität und die Vereinbarungen über weitere
Schritte der Zusammenarbeit und zur Reduzierung nu-
klearer Waffen. Entscheidende Fragen im Hinblick auf die
auch von den USA angestrebte einvernehmliche Anpas-
sung des ABM-Vertrags bleiben allerdings auch nach dem
Gipfel in Moskau weiter offen.
In den Vereinigten Staaten wächst die Aufmerksamkeit
dafür, dass wichtige Nuklearstaaten das geplante
NMD-System als gegen sich gerichtet empfinden. Ein
neues Wettrüsten, etwa in Asien oder im Weltraum, oder
eine Beschleunigung der Proliferation von Massenver-
nichtungswaffen als Folge einer amerikanischen Statio-
nierungsentscheidung würde weltweit weniger statt mehr
Sicherheit schaffen. Zudem kann ein solches Raketenab-
wehrsystem, selbst wenn es sich als technisch realisierbar
erweisen sollte, nicht das gesamte Bedrohungsspektrum
abdecken.
Eine mögliche Entscheidung für ein NMD-System
sollte deshalb nach Auffassung der Bundesregierung be-
gleitet werden von einem starken Signal für nukleare Ab-
rüstung – vor allem durch ein START-III-Abkommen –
und von Initiativen zur Nichtverbreitung von Massenver-
nichtungswaffen. Zu solchen Initiativen wird Europa sei-
nen Beitrag leisten, aber auch die USA und Russland tra-
gen hierfür maßgebliche Verantwortung. Für uns bleibt
auch in Zukunft die Verhinderung der Proliferation durch
politische und vertragliche Instrumente prioritär.
All diese komplexen Fragen, die auch den Zusammen-
halt des Bündnisses berühren, werden zwischen europä-
ischen und amerikanischen Partnern offen und vertrau-
ensvoll diskutiert. Vorrangiges Ziel bleibt unsere gemein-
same Sicherheit innerhalb der Nordatlantischen Allianz.
Eine Entscheidung des amerikanischen Präsidenten über
eine Dislozierung des geplanten NMD-Systems ist noch
nicht getroffen. Es ist auch nach dem russisch-amerikani-
schen Gipfel nicht klar, wann sie getroffen werden wird.
Die Bundesregierung wird die deutschen Sicherheits-
interessen in enger Abstimmung mit ihren europäischen
Partnern auch weiterhin nachdrücklich in den Meinungs-
bildungsprozess auf beiden Seiten des Atlantik einbrin-
gen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der
Bundesregierung über Maßnahmen zur Förde-
rung des Radverkehrs (Tagesordnungspunkt 13)
Heide Mattischeck (SPD): Radfahrer und Radfahre-
rinnen sind eine zähe Spezies: Trotz aller konzentrierten
Bemühungen in den meisten deutschen Städten und Ge-
meinden ist es noch nicht gelungen, Fahrradfahrer und
Fahrradfahrerinnen endgültig auszurotten. Im Gegenteil:
Obwohl sie in den meisten Städten widrigste Umstände
vorfinden, um sich im Straßenverkehr zu behaupten,
wächst die Zahl der Radler und Radlerinnen. Das ist gut
so.
In unserer von Werbung geprägten und auf Außenwir-
kung bedachten Zeit ist es auch gut festzustellen, dass das
Image der Radler und Radlerinnen immer besser wird: Sie
sind sportlich, dynamisch, körperbewusst, individualis-
tisch, wendig. Sie bewegen sich energiesparend, umwelt-
freundlich, leise. Leider verderben ein paar Rowdys das
gute Image.
Wer an den Wochenenden oder den späten Nachmitta-
gen auf den Landstraßen unterwegs ist, dem begegnen im-
mer häufiger drahtige Herren ab 50, die in den Trikots der
berühmtesten Radsport-Förderer sich knackig und fit hal-
ten.
Wenn wir die gesamtwirtschaftlich positiven Effekte
des Fahrradfahrens auflisten, dürfen wir gerade den letz-
ten Punkt nicht unter den Tisch fallen lassen: eingesparte
Kosten im Gesundheitssystem. Dazu kommen die klassi-
schen positiven Faktoren des Radfahrens als Wirtschafts-
faktor: Umsatzsteigerungen bei den Reiseveranstaltern, in
der Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe und
nicht zuletzt 8 Milliarden DM Umsatz bei Herstellern,
Handel und Werkstätten.
Vor diesem Hintergrund sollte man meinen, der Fahr-
radverkehr würde auf allen Ebenen, von Bund, Ländern
und Gemeinden, seit Jahren mit größtmöglichem Wohl-
wollen und bester Förderung unterstützt. Das ist leider
nicht der Fall.
Umso mehr begrüße ich, dass jetzt die Bundesregie-
rung eine Bestandsaufnahme vorgelegt hat zur Bedeutung
und zur weiteren Förderung des Fahrradverkehrs.
Autoverkehr ist schon heute ein perfektes System, wie
eine Darstellung im Bericht der Bundesregierung zeigt.
Vom Radverkehr heute zum „Radverkehr als System“ ist
noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen.
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Ich begrüße es deshalb sehr, dass die jetzige Bundesre-
gierung trotz der besonderen Zuständigkeit der Kommu-
nen bei Investitionen und anderen Infrastrukturmaßnah-
men (Abstellplätze, Wegweisung usw.) auch die beson-
dere Verantwortung des Bundes hervorhebt: Es gibt seit
dem letzten Jahr einen Bund-Länder-Arbeitskreis, der
auch den Sachverstand von Verbänden wie dem ADFC
und dem VCD abfragt und mit einbezieht. Unser Ziel
muss sein, in einer gemeinsamen Anstrengung zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden das Fahrrad zu einem Be-
standteil des gesamten Verkehrssystems zu machen.
Es gibt noch viel zu tun: Es fehlen zum Beispiel Me-
thoden zur standardisierten Potenzialabschätzung. Weit-
gehend unerforscht sind auch die Voraussetzungen für die
Nutzung/Nichtnutzung des Fahrrades vor allem als All-
tagsverkehrsmittel. Der Hinweis auf Wetter und Topogra-
phie reicht hier nicht aus. Das Wetter ist in Berlin nicht
schlechter als in Münster, Berge sind hier nicht höher als
in Erlangen. Deshalb wird die Bundesregierung einschlä-
gige Forschungsprojekte ausschreiben. Eine Anhörung im
Ausschuss im Herbst kann ebenfalls weitere Erkenntnisse
bringen – besonders auch aus den Nachbarstaaten wie den
Niederlanden und Dänemark.
Lassen Sie mich noch zu drei Punkten speziell Stellung
nehmen, erstens zu investiven Maßnahmen zur Verbesse-
rung der Radwege: Der Bau von Radwegen an Bundes-
straßen in der Baulast des Bundes muss fortgesetzt wer-
den; denn wir wollen eine fahrradfreundliche Infrastruk-
tur, die das Radfahren überall möglich macht. Allerdings
liegt die Hauptlast bei Ländern und Kommunen. Wir wis-
sen, dass man schon mit relativ geringem Aufwand viel
für die Fahrradinfrastruktur erreichen kann.
Zweitens zum Rechtsrahmen: Ohne Ge- und Verbote
kommen wir leider nicht aus. Die StVO und die StVZO
sind auch für den Fahrradverkehr von Bedeutung. Eine
Öffnung von bestimmten Einbahnstraßen – Tempo-30-
Zonen – als Dauerregelung würde ich für sehr gut halten.
Drittens zur Verkehrssicherheit: Fahrradfahrer sind be-
sonders unfallgefährdet (Kinder unter 15 Jahren, ältere
Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen). Zwar sind die
Unfallzahlen rückläufig. Dennoch bleibt auf der Tages-
ordnung: Die Verbesserung der Verkehrssicherheit muss
verstärkt werden.
Der nächste Bericht des BMVBWzum Fahrradverkehr
sollte dem psychologischen Aspekt des Knackigkeitsge-
winns durch Fahrradfahren bei Herren über 50 mehr Auf-
merksamkeit widmen. Das würde die öffentliche Auf-
merksamkeit für den Bericht wahrscheinlich steigern und
einen besseren Debattenplatz sichern.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Diese
erste Bestandsaufnahme des Radverkehrs in Deutschland
geht auf eine Initiative der CDU/CSU/F.D.P.-Bundes-
regierung aus dem Jahr 1994 zurück. Seit der Zeit hat sich
viel zur Förderung des Fahrradverkehrs getan. Bis dahin
waren 6 200 km Radwege an Bundesstraßen fertigge-
stellt: Die neue Schwerpunktbildung Anfang der 90er-
Jahre hat dafür gesorgt, dass es jetzt, im Jahr 2000,
15 000 km Radweg an Bundesstrassen gibt.
Seit der Zeit wurden die Mittel im GVFG auf 1 Milli-
arde DM jährlich aufgestockt und die Fördermöglichkei-
ten auch auf die Schaffung unter anderem von Bike-and-
Ride-Anlagen erweitert. Seit der Zeit gilt für die DB AG
die Regelmitnahme für Fahrräder. Sie betrug 1991
818 000 im Schienenpersonennahverkehr und verdop-
pelte sich bis 1998 auf 1,6Millionen. In den Fernzügen ist
sie von 200 000 Anfang der 90er-Jahre auf 600 000 im
Jahr 1998 angestiegen.
Seit der Zeit hat der Fahrradtourismus, bedingt auch
durch verstärkte Initiativen der Länder und Gemeinden,
zur Verdoppelung der Zahlen geführt, sodass zum Bei-
spiel Schleswig-Holstein mit einem Marktanteil von
11 Prozent noch vor den Niederlanden mit 10 Prozent und
Spanien mit 7,5 Prozent führend wurde. Die Bundesför-
derung hat auch in anderen Bundesländern zu einem deut-
lichen Zuwachs geführt.
Seit der Zeit ist es zu einer grundlegenden Novellie-
rung der StVO im Sinne von mehr Sicherheit für den Rad-
verkehr gekommen. In 7 Punkten zum Radverkehr ist
die StVO 1997 zu einer wirklichen Unfallverhütungs-
vorschrift erweitert worden. Diese Maßnahmen haben mit
dazu geführt, dass die Anzahl von Radfahrunfällen von
74 000 im Jahr 1993 auf 68 879 im Jahr 1998 verringert
werden konnte. Aber es muss noch mehr getan werden.
Fahrräder haben keine Knautschzone. Im Konflikt mit
dem motorisierten Verkehr ist der Radler immer der
Schwächere – im Verhältnis zum Fußgänger jedoch der
Stärkere. Bei allen Überlegungen zur Förderung des Fahr-
radverkehrs haben die Fragen der Verkehrssicherheit im
Vordergrund zu stehen. Besonders Radfahrer im Kindes-
alter (15 373 Kinder unter 15 Jahren waren im Jahr 1998
betroffen) und radfahrende Seniorinnen und Senioren
(237, das heißt 37 Prozent aller getöteten Fahrradfahrer
waren über 65 Jahre alt) sind hohen Unfallrisiken ausge-
setzt. Fast 90 Prozent aller Fahrradunfälle geschehen in-
nerorts. Die präventiven Verkehrssicherheitsmaßnahmen
durch Kindergärten, Schulen und den Verkehrssicher-
heitsverbänden bis hin zum ADFC haben ganz wesentlich
zu einer größeren Sicherheitsorientierung beigetragen.
Doch diese Herausforderung bleibt eine Daueraufgabe,
nimmt man die Unfallentwicklung zum Maßstab.
Mehr Attraktivität des Fahrradverkehrs, mehr Mobi-
litätsraum für das Rad, mehr Schwerpunktsetzung für
60 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer in der Bun-
desrepublik bleiben eine Aufgabenverantwortung für
Bund, Länder und Kommunen gemeinsam, auch wenn in
der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern der
Fahrradverkehr seine verkehrspolitische Begleitung vor
Ort haben muss. Ein nationales Fahrradforum mit Koor-
dinierungs- und Orientierungsfunktionen als Bindeglied
zwischen den verschiedenen Ebenen wäre ein geeigneter
Schritt zu einer gesamtheitlichen Radverkehrspolitik.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet, dass aus-
gehend von der vorgelegten Bilanz noch in diesem Jahr
folgende Maßnahmen und Initiativen von der Bundesre-
gierung vorgenommen werden – dafür legt die Union ei-
nen 10-Punkte-Plan vor –:
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Erstens. Wir brauchen ein mit den Bundesländern, den
Städte-, Gemeinde- und Landkreisen abgestimmtes Ge-
samtkonzept zur Förderung des Fahrradverkehrs in der
Bundesrepublik.
Zweitens. Wir sind für die Schaffung eines Deutschen
Fahrradforums unter Einbeziehung der politischen wie
gesellschaftlichen Verantwortungsträger aus diesem Be-
reich.
Drittens. Wir halten steuerpolitische Maßnahmen für
die Förderung des Radverkehrs für sinnvoll, ähnlich wie
sie derzeit in den Niederlanden bereits mit Erfolg prakti-
ziert werden. Dazu gehört auch die Anhebung der Kilo-
meterpauschale für radfahrende Pendler, die derzeit
14 Pfennig für Radfahrer und 70 Pfennig für Autofahrer
beträgt.
Viertens. Wir erwarten von der rot-grünen Bundesre-
gierung ein mit allen abgestimmten Maßnahmenkatalog,
wie das Unfallrisiko für Radfahrerinnen und Radfahrer
weiter reduziert und das Sicherheitsniveau angehoben
werden kann.
Fünftens. Wir plädieren für eine erste Ideenskizze zur
Schaffung eines bundesweiten Radwegenetzes, zu der
auch eine Vereinheitlichung der Radverkehrsweisung
gehören sollte.
Sechstens. Wir bestehen auf der Rücknahme der Öko-
steuer für den ÖPNV. Die starke Mehrkostenbelastung ist
kontraproduktiv zur Absicht, auf dem Weg zur Arbeit oder
Ausbildung im Umweltverbund eine umweltverträgliche
Alternative zum Auto attraktiv zu gestalten.
Siebtens. Wir sehen nicht ein, dass im Gegensatz zu
den Vorjahren weniger für das GFVG ausgegeben wird
und bleiben bei unserer Auffassung, jährlich 1 Milliarde
DM zu investieren. Nur dann ist der Bau von Radwegen
gesichert.
Achtens. Wir regen eine Erweiterung der vorgesehenen
zwei Bundesradtouren um vier weitere an, die wie zum
Beispiel der Ostsee-Wanderweg eine touristische Bedeu-
tung haben.
Neuntens. Wir meinen, dass bei dem bereits erfreuli-
chen Bestand an Radwegen und den vielen vernetzten
Radwanderrouten der Fahrradtourismus zum Schwer-
punktthema des Auslandsmarketing gemacht werden
muss.
Zehntens. Wir sehen noch wesentlichen Ausbauspiel-
raum im Dienstleistungsangebot auf den Bahnhöfen und
bei der DBAG, um auch hier die Umsteigepotenziale vom
Auto auf das Rad noch mehr auszuschöpfen.
Diese Maßnahmen sind notwendig, weil die Bundesre-
gierung in ihren Vorstellungen zur Fahrradförderung bei
Lippenbekenntnissen bleibt, nur in einem einzigen Punkt
wirklich konkret wird. In Zukunft soll aus der beidspuri-
gen Nutzung von Einbahnstraßen für Radfahrer ein Dau-
errecht werden. Jedoch gibt es im Fahrradbericht keine
Angaben zum Radwegeausbau, keine Hinweise zur Steu-
erentlastung für Radfahrerinnen und Radfahrer, keine
Perspektiven für den Fahrradtourismus in Deutschland,
keine Mittelanhebung für die Verkehrssicherheit für Rad-
ler. Im Gegenteil: Senkungen der Geldbeträge. Nein,
diese Regierung hat keine ihrer Zusagen an Radfahrer vor
der Wahl eingehalten. „Versprochen – gebrochen“ gilt lei-
der auch hier.
Dabei bietet der Radverkehr große Umsteigepoten-
ziale, denn fast 50 Prozent aller Wege, die von Pendlern
mit dem Auto zurückgelegt werden, sind kürzer als 5 km.
Am Gesamtaufkommen in unserem Land beträgt der An-
teil des Radverkehrs circa 12 Prozent, in den Niederlan-
den dagegen über 27 Prozent. Wer gegen umweltbelas-
tenden Verkehr ist, wer für Verkehrsvermeidung ist, der
muss mehr auf das Fahrrad setzen. Holland und auch Dä-
nemark zeigen, welche Ziele zu erreichen sind.
Die Förderung des Radverkehrs in Deutschland ist von
der von Union und FDP geführten Regierung beispielhaft
und mit Konzept betrieben worden. Dieser Maßstab sollte
auch in Zukunft gelten.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Fahrradfahren ist energiesparend und um-
weltfreundlich, ja es ist schlichtweg ideal auf kurzen We-
gen, in der Stadt und auf dem Land. Trotzdem ist das Fahr-
rad in Deutschland bis heute ein bei weitem unterschätz-
tes Verkehrsmittel – mit den Worten der Bundesregierung:
„Der Verkehrsträger Fahrrad hat ein deutlich höheres Po-
tenzial als sein derzeitiger Anteil am Gesamtpersonenver-
kehr von 11 Prozent. Nach seriösen Schätzungen lassen
sich in Ballungsgebieten bis zu 30 Prozent der Pkw-Fahr-
ten auf den Radverkehr verlagern.“ Deshalb ist eine
Fahrraddebatte im Bundestag gut und notwendig. Wir
sollten nicht immer nur über Bahn und Auto debattieren.
In den Niederlanden hat heute das Fahrrad einen Anteil
von 27 Prozent an allen Wegen, in einzelnen Städten bis
zu 55 Prozent. Werte, die zumindest bei günstiger Topo-
graphie auch in Deutschland erreichbar sind! Die Fahr-
radstadt Münster hat einen innerstädtischen Radverkehrs-
anteil von über 40 Prozent. In Troisdorf nahm der Rad-
verkehr durch ein Modellprojekt binnen acht Jahren um
30 Prozent zu.
Halten wir also fest: Das Potenzial des Fahrrades als
Alltags- und Freizeitverkehrsmittel wird massiv unter-
schätzt.
Noch bemerkenswerter sind indes einige finanzielle
Fakten, auf welche die Bundesregierung ebenfalls in
jüngster Zeit hingewiesen hat. Die Förderung des Rad-
fahrens ist nämlich vergleichsweise preiswert. 1991 – lei-
der gibt es keine neueren Zahlen – gaben die westdeut-
schen Großstädte für den ÖPNV 110 bis 180 DM pro Ein-
wohner und Jahr, für den motorisierten Straßenverkehr 60
bis 250 DM pro Einwohner und Jahr, für den Fahrradver-
kehr einschließlich Zuschüsse in der Regel aber weniger
als 5 DM pro Einwohner und Jahr.
Gute Radverkehrsförderung erfordert also keine Un-
summen.
Eine Stadt, die bislang fast gar nichts für den Fahrrad-
verkehr getan hat, kann bereits mit insgesamt 400 DM pro
Einwohner und Jahr ausgesprochen fahrradfreundlich
werden. Realistisch sind Investitionen in Jahresraten von
25 bis 50 DM pro Einwohner und Jahr. Selbst für eine
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Stadt wie Berlin bedeutet das gerade einmal mindestens
80 Millionen DM pro Jahr – deutlich weniger als ein Ki-
lometer U-Bahn-Tunnel kostet. Und selbstverständlich
können Kommunen für den Radverkehr auch Mittel des
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes in Anspruch
nehmen, was aber bis heute leider kaum geschieht. Weni-
ger als 2 Prozent der GFVG-Mittel fließen bislang zu-
gunsten des Fahrrades.
Radverkehr ist vorwiegend, aber nicht ausschließlich
eine kommunale Angelegenheit: Das Fahrrad eignet sich
besonders für kurze Wege und als Alternative zum Auto,
bei dem mehr als 40 Prozent aller Fahrten bereits spätes-
tens nach 5 Kilometern enden. Das Fahrrad als Alltags-
verkehrsmittel muss man also vor allem innerstädtisch
fördern.
Das Fahrrad hat aber darüber hinaus auch eine große
Bedeutung für Freizeit und Tourismus. Es ist – vor allem
in Kombination mit der Bahn – das ideale Freizeitver-
kehrsmittel, mit dem durchaus auch Entfernungen von
mehreren Dutzend Kilometern am Wochenende oder
mehreren Hundert Kilometern im Urlaub zurückgelegt
werden können. Der Radfahrer stößt aber gerade auch hier
auf große Hindernisse: Freizeitrouten sind nicht ausrei-
chend miteinander vernetzt und fehlen in vielen Gegen-
den immer noch. Die Beschilderung der vorhandenen
Routen lässt of zu wünschen übrig. Während der Autofah-
rer dank Vorgaben der StVO seit Jahrzehnten von einer
hervorragenden Beschilderung profitiert, gibt es Ver-
gleichbares im Radverkehr deutschlandweit praktisch
nicht. Jede Radtour wird damit zur Suche nach dem rich-
tigen Weg und mancher Unfall von Radfahrern auf für sie
ungeeigneten Straßen könnte verhindert werden, wenn es
flächendeckend sinnvoll konzipierte, gut ausgeschilderte
Radverkehrsnetze gäbe.
Der Fahrradbericht der Bundesregierung listet Nach-
barstaaten auf, die den Radverkehr auch auf nationaler
Ebene fördern. Nicht nur typische „Fahrradländer“ wie
die Niederlande und Dänemark, sondern auch die
Schweiz, Großbritannien und sogar Norwegen sind hier-
bei zu nennen. Die Situation in Deutschland ist dagegen
geprägt von einigen vorbildlichen Kommunen, denen ge-
genüber die meisten Städte und Kreise keine systema-
tische Radverkehrsförderung betreiben, von Ländern, die
sich bis heute nicht auf eine einheitliche Wegweisung für
Radfahrer einigen konnten, und vom Bund, der im Zeit-
raum 1993 bis 1999 im Durchschnitt gerade einmal 120
Millionen DM jährlich für den Radwegebau an Bundes-
straßen ausgegeben hat.
Rot-Grün ist jetzt dabei, die Trendwende zugunsten
des Fahrrades einzuleiten. Zunächst einmal wurde im
März 1999 der erste Fahrradbericht einer deutschen Bun-
desregierung veröffentlicht, nachdem er unter Verkehrs-
minister Wissmann, längst fertig gestellt, monatelang
nicht veröffentlicht worden war. Dieser Bericht, der unter
Mitwirkung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs,
ADFC, entstanden ist, stellt eine bemerkenswert ehrliche
Bestandsaufnahme dar und zeigt eine Fülle von Verbesse-
rungsvorschlägen auf.
SPD und Grüne waren sich daher einig, dass dieser Be-
richt als offizielle Beratungsgrundlage ins Parlament und
in die Ausschüsse gehört. Dort soll es noch in diesem Jahr
eine Anhörung zum Thema Fahrradverkehr geben, bei der
auch deutlich werden wird, dass Fahrradförderung nicht
nur ein Anliegen der Verkehrspolitik ist, sondern auch
sehr wichtig für weitere Bereiche ist: für den Umweltsek-
tor, weil das Fahrrad umweltverträglichster Verkehrsträ-
ger ohne Schadstoff- und CO2-Ausstoß ist und nur einenminimalen Flächenbedarf hat; für die Gesundheitspolitik,
weil jede Radfahrt ein Beitrag für mehr Gesundheit und
weniger Mittelbedarf der Krankenversicherungen ist; für
die Wirtschaft: In den Niederlanden geben Radfahrer
jährlich eine Milliarde Gulden für das Radfahren aus;
Fahrradindustrie und Serviceeinrichtungen können erheb-
lich profitieren. Die eingesparten Staukosten und vermie-
denen Ausgaben für den öffentlichen Verkehr betragen in
den Niederlanden jährlich rund 5 Milliarden Gulden. Und
schließlich könnte auch der Tourismus erheblich profitie-
ren, wobei Radfahrtourismus meist Inlandstourismus und
als solcher schon heute ein wesentlicher Wachstumsfak-
tor ist.
Ziel einer Anhörung im Verkehrsausschuss unter Be-
teiligung weiterer Ausschüsse sollte es sein, den Stellen-
wert des Fahrrades in der Verkehrspolitik deutlich zu er-
höhen und in Form eines nationalen Radverkehrsplans zu
konkretisieren, in dem die verschiedensten Initiativen pro
Fahrrad zusammengefasst werden: bei Öffentlichkeitsar-
beit, Infrastruktur, Verkehrssicherheit, Raum- und Stadt-
planung, Tourismus und als Wirtschaftsfaktor-Industrie,
Serviceeinrichtungen.
Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Der vorliegende
Fahrradbericht der Bundesregierung soll dazu beitragen,
dem Fahrrad als Verkehrsmittel die ihm gebührende Rolle
zu verdeutlichen und der Politik die Gelegenheit zu ge-
ben, diesen umweltfreundlichen Verkehrsträger angemes-
sen zu fördern und sich über mögliche Verlagerungspo-
tenziale zu seinen Gunsten klar zu werden. Vor diesem
Hintergrund begrüßt die F.D.P.-Bundestagsfraktion die
außerordentlich umfangreiche Darstellung von Daten und
Fakten zum Fahrradverkehr, die das Verkehrs- und Bau-
ministerium zusammengetragen hat. Es betrifft übrigens
auch Daten und Fakten, die nicht in die Zuständigkeit des
Bundes fallen.
Die F.D.P. verzeiht Ihnen auch die etwas einseitige lo-
bende Darstellung der vergangenen rot-grünen Aktivitä-
ten in Nordrhein-Westfalen. Die Bürger haben bei den
Kommunalwahlen und bei der Landtagswahl gezeigt, was
sie von der dortigen, gegen das Auto gerichteten Ver-
kehrspolitik halten.
Der Fahrradbericht ist allerdings aus der Sicht der
Liberalen in mancher spannenden Frage nicht hinreichend
aussagekräftig. Es fehlt leider völlig fundiertes Material
zur Bewertung der Frage, welche Wirkung die in der
vergangenen Wahlperiode weitgehend einvernehmlich
verabschiedete Fahrradverordnung entfaltet hat. Der lapi-
dare Hinweis, dass sich die Einbahnstraßenregelung nach
Auffassung der Bundesregierung bewährt hat, ist schlicht
und ergreifend unzureichend. Aussagen über Verlage-
rungspotenziale zulasten anderer Verkehrsträger als dem
motorisierten Individualverkehr fehlen völlig. Der Ab-
schnitt über den Radtourismus verkürzt sich auf die
schlichte Aussage, dass der Radtourismus mittlerweile in
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mehreren Regionen erhebliche wirtschaftliche Bedeutung
habe. Das ist ja wohl eindeutig zu wenig Gewicht. Gerade
im touristischen Freizeit- und Urlaubsverkehr liegt ein er-
hebliches Potenzial.
Die Zeit in dieser kurzen Debatte reicht nicht aus, um
weitere Einzelheiten dieses Fahrradberichtes anzuspre-
chen. Dies mag den Fachberatungen in den Ausschüssen
vorbehalten bleiben. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird
aktiv daran mitwirken, in den Fachberatungen den Bericht
zu ergänzen und zu nutzen, um zumindest auf Bundese-
bene die Rolle des Fahrrads im Verkehrsgeschehen durch
konkrete Maßnahmen und Vorschläge stärken zu helfen.
Der im Fahrradbericht unter Abschnitt IX. beschriebene
Handlungsbedarf ist völlig substanzlos und muss drin-
gend mit konkreten Maßnahmen in Bundeszuständigkeit
aufgefüllt werden. Nur so bekommt der Fahrradbericht
der Bundesregierung einen Sinn.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Gestatten Sie eine Annähe-
rung an das Thema Radverkehr auf eine dreifach unge-
wöhnliche Art:
Zunächst der internationale Aspekt: Nach Angaben des
Worldwatch Institute gibt es weltweit 900 Millionen
Fahrräder – rund doppelt so viel wie Pkw.
Zweitens der energiepolitische Ansatz. Der Weltum-
radler Wolfgang Reiche hat die folgende Rechnung auf-
gestellt: Um 1 Kilogramm Gewicht auf einem Fahrrad 1
Kilometer weit zu transportieren, werden lediglich 0,63
Joule oder 0,15 Kalorien benötigt ... Unter Vorgabe einer
bestimmten Menge Energie kommt ein übliches Auto
durchschnittlich 200 Meter weit – ein Fahrrad dagegen
über 4,5 Kilometer oder 22-mal weiter.
Drittens zum Thema Geschwindigkeit: Wir haben
heute in den Ballungszentren beim PKW-Verkehr eine
tagesdurchschnittliche Geschwindigkeit von rund 20 bis
25 km/h. Für Los Angeles wurde sogar eine solche von
17 km/h ermittelt. All das entspricht der Geschwindigkeit
eines – zugegebenermaßen sportlichen – radelnden Men-
schen. Wobei unser Täve noch schneller ist.
Nähme man diese drei Ansatzpunkte ernst, dann
müsste das Thema Radverkehr im Zentrum der interna-
tionalen und nationalen Verkehrspolitik stehen. Der UN-
Generalsekretär würde dann im Mountainbike die Um-
welt-Gipfel besteigen. Die deutschen Richtlinien der Po-
litik würden von einem „Kanzler aller Fahrräder“
bestimmt und nicht von „Schröders Road Show“. Der
mächtigste Interessenverband in deutschen Landen wäre
der ADFC und nicht der ADAC. Doch so ist es nicht. Auto
und Flugzeug dominieren. Wir debattieren heute zum ers-
ten Mal in einem deutschen Bundesparlament einen Be-
richt zum Radverkehr. Die Verkehrsstatistik hat bis vor
kurzem den gesamten nicht motorisierten Verkehr
schlicht ignoriert und definierte Mobilität ausschließlich
als motorisierte.
Als Mannesmann vor einigen Jahren in Schweinfurt
Fichtel und Sachs übernahm, wurde dort die Fahrradferti-
gung abgestoßen mit der expliziten Begründung, diese
passe nicht „zum Image eines großen Autozulieferers“.
Schließlich findet diese Debatte zu einer Stunde statt,
wo alle Medien und der ÖPNV abgeschaltet sind.
All das hat zumindest auch mit der folgenden Statistik
zu tun: Der addierte Umsatz der 100 größten Unterneh-
men der Welt entfällt zu 60 Prozent auf die Bereiche Öl,
Auto, Reifen und Flugzeuge. Daher die Absurdität eines
PKW-Verkehrs, bei welchem – so der Bericht – 50 Pro-
zent der PKW-Fahrten im Entfernungsbereich unter fünf
Kilometern liegen und 10 Prozent sogar im Bereich unter
1 Kilometer stattfinden. Völlig richtig konstatiert da die
Studie: Das Verlagerungspotenzial auf Rad – ich ergänze:
und auf Füße und ÖPNV – ist hier gewaltig. Prima die
Beispiele aus Münster, Troisdorf und Erlangen. Hübsch
auch, wenigstens ein paar Blicke in andere Länder zu wer-
fen, die uns auf diesem Gebiet oft weit voraus sind.
Noch nicht erkennbar ist, dass der Bericht den Worten
Taten folgen lassen würde. Es war doch kein Zufall, dass
die erste verkehrspolitische Maßnahme von Herrn
Klimmt darin bestand, die Bußgelder für Radfahrende
drastisch zu erhöhen. Dazu schrieb die durchaus au-
tofreundliche Berliner „Morgenpost“:
Ein derart weltfremder Gedanke fällt keinem Satiri-
ker ein. Er muss in einer Amststube geboren sein ...
Radfahrer zu identifizieren ist mangels Kennzeichen
schwierig. Sie dingfest zu machen für uniformierte
Fußgänger schier unmöglich. Preschen demnächst
Streifenwagen mit Rotlicht und Sirene durch die
Menge, um Rad-Rüpeln Knöllchen zu überreichen?
Doch Klimmt lässt Eichel & Co. nicht verkommen.
Gestatten Sie mir auch einen ungewöhnlichen Schluss.
Radfahren hat auch einen philosophischen Aspekt – dies
war jedenfalls die Auffassung des Dramatikers Georg
Kaiser im Jahr 1932:
Längst bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass
der Menschheit das Fahrrad geschenkt ist als Aus-
gleich für alle Plagen der Technik ... Das Fahrrad in-
thronisiert die Privatperson. Es macht sie unabhän-
gig von Hilfsmitteln. Der Radfahrer tritt zu – und dis-
tanziert sich. Zweifellos ist er eine gefährliche Figur
der Gegenwart ... Der Antivereinler. Der beschleu-
nigte Individualist. Ein enteilendes, sattelfestes ICH.
Kurt Bodewig, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Das Fahr-
rad gewinnt als Freizeitsport und als Verkehrsmittel im-
mer mehr an Bedeutung. Es ist heute aktueller denn je.
Nicht nur in Deutschland und nicht erst seit den großen
sportlichen Erfolgen des Teams Deutsche Telekom, son-
dern weltweit nimmt der Fahrradverkehr deutlich zu. In
den letzten Jahren ist ein wahrer Fahrrad-Boom zu ver-
zeichnen.
Statistisch gesehen besitzt fast jeder Bundesbürger ein
Fahrrad; mehr als 75 Millionen Fahrräder gibt es in
Deutschland. Fahrrad fahren ist gesund, umweltfreund-
lich, kostengünstig und macht dazu auch noch Spaß.
Und gerade für junge Menschen, die noch keinen Füh-
rerschein besitzen, ist das Fahrrad häufig das wichtigste
Fortbewegungsmittel.
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35 Prozent der Fahrradfahrer benutzen den „Drahtesel“
in der Freizeit, 30 Prozent beim Einkauf und immerhin
rund 35 Prozent bei Fahrten zur Arbeit und Ausbildung.
Dies zeigt: Über Zweidrittel des Radverkehrs ist kein
Freizeitverkehr. In günstigen Fällen sind Verlagerungen
vom PKW auf das Fahrrad im Bereich von 10 – 30 Pro-
zent durchaus möglich.
Insbesondere im Kurzstreckenbereich bis drei Kilome-
ter ist das Fahrrad geradezu das optimale Verkehrsmittel:
Es benötigt wenig Raum, steht ohne Wartefrist zur ständi-
gen Verfügung und bringt Sie direkt an Ihr Ziel, wobei die
Suche nach einer geeigneten Parkfläche weitgehend ent-
fällt. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in Bal-
lungsräumen das Fahrrad für immer mehr Menschen zum
beliebten Verkehrsmittel bei der Ausübung ihrer individu-
ellen Mobilität wird.
Die Bundesregierung wird mit Engagement dafür ein-
treten, dass Radfahren in Deutschland noch beliebter
wird. Ich denke hier zum Beispiel an die Anpassung der
Verhaltensvorschriften zugunsten der Radfahrer, die För-
derung von Radfahrausbildung und Verkehrserziehungs-
projekten sowie die Entwicklung neuer Konzepte im Rah-
men der Öffentlichkeitsarbeit. Wir treten für eine fahrrad-
freundliche Verkehrsinfrastruktur ein, die den Radverkehr
überall im Land möglich macht.
Zu den Investitionen in Radwege: Zwischen 1981 und
1998 hat der Bund Radwege an Bundesstraßen von ins-
gesamt 6350 km Länge in Höhe von rund 1,9 Milliarden
DM gefördert. Ziel ist, rund 650 Kilometer – davon 150
Kilometer in den neuen Bundesländern – weiter auszu-
bauen. Insgesamt werden in diesem Jahr etwa 15 000 Ki-
lometer Fahrradwege an Bundesstraßen zur Verfügung
stehen.
Nun komme ich zu einem sehr wichtigen Bereich, der
auch das Motto dieser Veranstaltung ist: die Sicherheit im
Fahrradverkehr. Zur Erhöhung der Sicherheit des Fahr-
radverkehrs entwickeln wir die Straßenverkehrsordnung
weiter. Dabei soll der Radverkehr erleichtert und sicherer
werden. Zur Verbesserung der integrierten Radverkehrs-
infrastruktur wurden beispielsweise rechtliche und ver-
kehrstechnische Maßnahmen umgesetzt. Die so genannte
Radfahrernovelle von 1997 räumt Radfahrern erweiterte
Rechte ein, wie zum Beispiel die Benutzung der Fahrbahn
auf Sonderstreifen. Dennoch sollte nicht übersehen wer-
den: Statistisch ist das Unfallrisiko eines Radfahrers min-
destens um das doppelte höher als bei Fußgängern und
PKW-Fahrern. Die Sicherheit des Radverkehrs ist deshalb
ein wichtiger Bestandteil der Verkehrssicherheitsarbeit
der Bundesregierung.
In diesem Zusammenhang möchte ich aber darauf hin-
weisen, dass auch Radfahrer Rücksicht auf andere Ver-
kehrsteilnehmer nehmen müssen. Denn so wie beispiels-
weise Autos ein Risiko für Radfahrer darstellen können,
können unzweifelhaft auch Radler für Autofahrer eine
Gefahr bedeuten.
Des Weiteren erhalten wir häufig Schreiben von Bür-
gerinnen und Bürgern, die sich über bedenkenloses Ver-
halten von Radfahrern auf Gehwegen beschweren. Ich ap-
pelliere deshalb an alle Freunde des Fahrrads: Benutzen
Sie ihr Gefährt immer mit Bedacht und Rücksicht auf an-
dere Verkehrsteilnehmer!
Für zahlreiche Aufklärungskampagnen im Bereich der
Verkehrssicherheit, die beispielsweise von Verkehrsver-
bänden wie der Deutschen Verkehrswacht durchgeführt
werden, stellen wir erhebliche finanzielle Mittel zur Ver-
fügung.
Allein in diesem Jahr werden wir insgesamt 22 Milli-
onen DM für die Verkehrssicherheitsarbeit aufbringen.
Wir sichern damit die Durchführung zahlreicher Auf-
klärungsprojekte.
Darüber hinaus arbeiten wir mit Unterstützung der
Wissenschaft und den Verkehrssicherheitsverbänden an
einem neuen Straßenverkehrssicherheitsprogramm 2000,
das wir noch in diesem Jahr vorlegen wollen. Ein wichti-
ger Bestandteil dieses Programms wird die Aufklärung
sein. Ziel ist es, durch positive Motivation, gezielte Auf-
klärung und wirksame Vermittlung des Gedankens von
Fairness und Rücksichtnahme die Sicherheit im Straßen-
verkehr nachhaltig zu verbessern. Dabei brauchen wir die
Unterstützung aller Beteiligten in der Gesellschaft; die
Verkehrssicherheit ist ein Thema, das uns alle angeht.
Die Bundesregierung unterstützt die Förderung des
Radverkehrs und leistet damit ihren Beitrag im Rahmen
der genannten Maßnahmen. Wichtig ist uns dabei die
ganzheitliche Betrachtung: Das Radverkehrssystem sollte
in die regionalen Gesamtverkehrskonzepte unter Berück-
sichtigung aller Verkehrsteilnehmer eingebunden werden.
Langfristiges Ziel der Bundesregierung ist das Zusam-
menspiel von Infrastruktur, Dienstleistungen, Informa-
tion und Kommunikation. Wie im Bereich Straße und
Schiene wird dieser Systemgedanke auch dem Fahrrad-
verkehr neue Impulse geben für die bessere Ausschöp-
fung des Potenzials und damit zur Erhaltung und Siche-
rung der Gesamtmobilität beitragen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Entlastung der
Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 –
Vorlage derHaushaltsrechnung und Vermögens-
rechnung des Bundes (Jahresrechnung 1999)
(Tagesordnungspunkt 16)
Hans Georg Wagner (SPD): Das Bundesministe-
rium der Finanzen hat die Jahresrechnung 1999 vorge-
legt und Entlastung beantragt. Eine Entlastung kann ich
namens der Koalition zwar formal jetzt noch nicht ertei-
len, da die Beratungen im Rechungsprüfungsausschuss
und Haushaltsausschuss abzuwarten sind. Ich kann und
will aber der rot-grünen Koalition, der Bundesregierung
und insbesondere dem Bundesministerium der Finanzen
schon gerne jetzt Folgendes bescheinigen: Es ist gelun-
gen, aus einer denkbar schlechten Ausgangslage
heraus – nämlich dem Waigel-Entwurf für 1999 – mit
dem ersten rot-grünen Haushalt im Jahr 1999 die Wende
in der Finanz- und Haushaltspolitik einzuleiten und ei-
nen wichtigen Schritt hin zur Sanierung der Bundesfi-
nanzen zu tun.
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Es ist üblich, dass der Entlastungsantrag zur Jahres-
rechnung jeweils ohne Debatte an den Haushaltsaus-
schuss überwiesen wird, und es ist schon erstaunlich, dass
ausgerechnet die CDU/CSU-Fraktion zur Jahresrechnung
1999 eine Debatte beantragt hat. Sie wollte uns damit
wohl die Gelegenheit geben, nochmals die unsolide Haus-
haltspolitik der zu Recht in die Opposition abgewählten
Kohl/Waigel-Regierung zu geißeln. Wie sah denn das Er-
gebnis Ihrer Haushaltspolitik in den letzten drei Jahren
vor dem Regierungswechsel aus?
1996 lag die Nettokreditaufnahme mit 78,3 Milliar-
den DM um sage und schreibe 17,3 Milliarden DM über
der Summe der Investitionen von 61 Milliarden DM und
damit der Verfassungsgrenze des Art. 115 des Grundge-
setzes. Dieser Haushalt war schlicht verfassungswidrig.
1997 lag die Nettokreditaufnahme mit 63,7 Milliar-
den DM wiederum deutlich über den Investitionsausga-
ben von 56,4 Milliarden DM. Die Lücke wäre noch deut-
lich größer gewesen, wenn nicht Privatisierungseinnah-
men von rund 10 Milliarden DM zum Stopfen der Löcher
eingesetzt worden wären.
Im Haushaltsplan für 1998 schossen die veranschlag-
ten Einmaleinnahmen aus Privatisierungen und ähnlichen
Aktionen dann auf die Schwindel erregende Höhe von
34 Milliarden DM. Nur durch Verscherbeln von Bundes-
vermögen in dieser exorbitanten Höhe konnte die Netto-
kreditaufnahme im Plan in etwa auf die Höhe der Investi-
tionsausgaben begrenzt werden.
Und im Waigel-Entwurf für 1999 waren nicht nur wie-
derum Einmaleinnahmen von rund 12 Milliarden DM
veranschlagt, außerdem fehlten schlicht Veranschlagun-
gen in einem Volumen von rund 10 Milliarden DM. Un-
ser Kassensturz nach dem Regierungswechsel hatte
ergeben, dass die abgewählte Regierung Haushaltsbe-
lastungen in dieser Größenordnung entgegen allen ver-
fassungsrechtlichen Regeln von Haushaltswahrheit und -
klarheit unterschlagen hat.
Die rot-grüne Bundesregierung hat aber nicht nur eine
völlig unsolide Finanzierungsstruktur des Bundeshaus-
halts als Erblast übernommen, sondern in der Anhäufung
über die Jahre auch eine exorbitante Staatsverschuldung.
1982, bei Amtsantritt der Regierung Helmut Kohl, betru-
gen die Schulden des Bundes 314 Milliarden DM. 1990,
im Jahr der Wiedervereinigung, waren sie auf 600 Milli-
arden DM gestiegen. Ende 1998 lagen sie bei fast 1,5 Bil-
lionen DM – eine Steigerung auf das 2,5-fache gegen-
über 1990 und das 5-fache gegenüber 1982.
Dadurch waren fast ein Viertel der Steuereinnahmen,
82Milliarden DM, im Haushaltsplan 1999 allein für Zins-
zahlungen gebunden. Der Bund muss für Zinszahlungen
am Tag 225 Millionen DM ausgeben. Mit dem Geld von
nur 3 Minuten Zinszahlungen des Bundes kann man
schon ein Einfamilienhaus bezahlen.
Die Trendwende hin zu einer soliden Finanzpolitik ist
schon mit der Verabschiedung des Bundeshaushalts 1999
gelungen. Die Zuwachsrate der Ausgaben konnte auf
1,2 Prozent abgesenkt und die Nettokreditaufnahme auf
53,5 Milliarden begrenzt werden. Die SPD-Fraktion ist
dem Bundesfinanzminister außerordentlich dankbar
dafür, dass er es geschafft hat, den Plan nicht nur einzu-
halten, sondern durch konsequente Sparanstrengungen im
Vollzug besser als ursprünglich geplant abzuschließen.
Die Neuverschuldung konnte auf 51,1 Milliarden DM
reduziert werden. Das sind 2,4Milliarden DM weniger als
veranschlagt und 5,3 Milliarden DM weniger als im Vor-
jahr. Der erfolgreiche Jahresabschluss ist ein wichtiger
Schritt auf dem Weg zur Sanierung der Staatsfinanzen.
Diesen Weg sind wir mit dem Bundeshaushalt 2000
bei einer geplanten Nettokreditaufnahme von 49,5 Milli-
arden DM konsequent weiter gegangen und werden die
Neuverschuldung weiter Schritt für Schritt zurückführen.
Ziel ist ein ausgeglichener Haushalt ohne Neuverschul-
dung bis zum Jahr 2006. Die Sanierung der Staatsfinan-
zen schafft wichtige Voraussetzungen zur Stärkung von
Wachstum und Beschäftigung sowie für nachhaltige Steu-
ersenkungen für die Bürger und die Wirtschaft. Diese Sa-
nierung der Staatsfinanzen sind wir in etwas längerer Per-
spektive der nächsten Generation schuldig, damit sie nicht
mit einer zu hohen Hypothek bei der Lösung der aus dem
demographischen Wandel resultierenden Probleme vor-
belastet ist.
Die CDU/CSU-Opposition hat bereits bei Vorlage des
Jahresabschlusses für 1999 herumgekrittelt. Sie wollten
schon Anfang diesen Jahres, als der Haushaltsabschluss
für 1999 veröffentlicht wurde, die Fakten nicht zur
Kenntnis nehmen und haben falsche Behauptungen auf-
gestellt.
So beträgt die bereinigte Steigerungsrate des Haushalts
1999 lediglich 0,6 Prozent und nicht 6 Prozent, wie von
Ihnen behauptet. Die Differenz beruht auf Sondereffek-
ten, die noch teilweise von der alten Bundesregierung be-
gründet worden waren. Diese Sondereffekte will ich Ih-
nen auch gern nochmals darstellen, um Sie wenigstens
jetzt auf den haushalterischen Tugendpfad von Wahrheit
und Klarheit zurückzuführen: 6 Milliarden DM aufgrund
der erstmalig ganzjährigen Wirkung des zusätzli-
chen Rentenzuschusses, der aus der am 1. April 1998 in
Kraft getretenen Umsatzsteuererhöhung finanziert wird,
9,1 Milliarden DM bei den Zuschüssen an die gesetzliche
Rentenversicherung aufgrund der beschlossenen Entla-
stungsmaßnahmen für die Rentenversicherung, die durch
Einnahmen aus der Ökosteuerreform abgedeckt werden,
8,2 Milliarden DM aufgrund der erstmaligen Veranschla-
gung der Ausgaben zur Abdeckung des Defizits der Post-
unterstützungskassen, die durch Dividendeneinnahmen
und durch Privatisierungserlöse aus dem Bereich der
Postnachfolgeunternehmen finanziert wurden. Sie hatten
diese Veranschlagung entgegen den Grundsätzen von
Haushaltswahrheit und -klarheit unterlassen.
Genauso fehlerhaft ist auch die von Ihnen erwähnte an-
gebliche „Explosion“ der konsumtiven Ausgaben. Sie un-
terschlagen dabei bewusst, dass der Rückgang der Inves-
titionsausgaben von 58,2 Milliarden DM auf 56 Milliar-
den DM glücklicherweise auf Minderausgaben bei den als
investiv eingeordneten Gewährleistungen des Bundes be-
ruht. Minderausgaben, die zwar als Investitionen zu bu-
chen sind, aber der wirtschaftlichen Entwicklung wahr-
lich nicht geschadet haben.
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Außerdem haben wir erstmals die von Ihnen bis dahin
nicht befolgte Forderung des Bundesrechnungshofes rea-
lisiert, die bislang pauschal als investiv gewerteten Aus-
gaben für die Kostenerstattung für Strukturanpassungs-
maßnahmen nach dem SGB III nach konsumtiven und
investiven Ausgaben zu differenzieren. Hierdurch verrin-
gert sich in der Tat das investive Volumen des Etats des
Arbeitsministers um rund 1,1 Milliarden DM. Haushalts-
klarheit und Haushaltswahrheit war bei Ihnen ja jahrelang
unbekannt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen weiteren
schlichtweg falschen Punkt Ihrer Behauptungen hinwei-
sen. Die Privatisierungseinnahmen sind 1999 gegenüber
1998 klar rückläufig und nicht etwa angestiegen. 1999
sind rund 13 Milliarden DM an Privatisierungserlösen für
den Bundeshaushalt erzielt worden, und dies einschließ-
lich des Forderungsverkaufs von Bahndarlehen. 1998 la-
gen die vergleichbaren Einnahmen noch bei 25 Milliar-
den DM. Und im Haushaltsplan für 2000 sinken die
Privatisierungseinnahmen drastisch weiter auf 3,5 Milli-
arden DM. Hier wird ein ganz klarer Trend deutlich, den
auch Sie nicht leugnen können.
Zu guter Letzt bleibt festzuhalten, dass wir mit dem
erstmalig von uns zu verantwortenden Haushalt 1999 den
Einstieg in eine finanzpolitische Wende vollzogen haben,
zu der Sie überhaupt nicht mehr fähig waren und die wir
mit den folgenden Haushalten und der von uns in der Fi-
nanzplanung vorgegebenen Linie auch konsequent wei-
terführen werden.
Josef Hollerith (CDU/CSU): Ich erspare mir nicht, zu
würdigen, dass die Arbeit im Rechnungsprüfungsaus-
schuss sachlich erfolgt und das Klima menschlich ist.
Dafür möchte ich den Kolleginnen und Kollegen ganz
herzlich danken. Namentlich danke ich der Vorsitzenden,
der Kollegin Uta Titze-Stecher, für ihre menschlich ge-
prägte Führung dieses Ausschusses. Es ist nicht von un-
gefähr, dass allein im Rechnungsprüfungsausschuss im
Unterschied zu allen anderen Ausschüssen nur ein Be-
richterstatter für den gesamten Ausschuss zu einem Ta-
gesordnungspunkt eingesetzt ist. Ich betone ausdrücklich,
dass in diesem Ausschuss die Frage, wer auf der Opposi-
tions- und wer auf der Regierungsbank sitzt, die geringste
Rolle spielt und im Vordergrund die sachliche und quali-
fizierte Arbeit steht, fernab jeder Polemik. Ich empfinde
es auch als angenehm, dass sich dies im Wechsel von Re-
gierung und Opposition nicht verändert hat. Dafür herzli-
chen Dank an die Kolleginnen und Kollegen. Allein von
der Zeit her wären die Abgeordneten nicht in der Lage, die
qualifizierte Arbeit des Controlling zu leisten, wenn uns
nicht ein hervorragender Apparat mit Argumenten, mit
qualifizierten Analysen und mit Sachverstand dabei un-
terstützte. Dies würdige ich in besonderer Weise und ver-
binde die Würdigung mit einem ausdrücklichen Dank an
Sie, Frau Präsidentin Dr. Hedda von Wedel. Wir schätzen
Ihre Arbeit, und ich bitte Sie herzlich, unseren Dank, un-
sere Würdigung und unsere Anerkennung auch Ihren Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern zu übermitteln.
Allerdings muss ich jetzt zur politischen Bewertung
des Haushaltsabschlusses 1999 kommen: Die Gesamtaus-
gaben 1999 lagen um 26 Milliarden DM (+ 5,7 v. H.)
höher als 1998: Es fand eine Aufblähung der Konsum-
ausgaben statt, während bei den Investitionen ein dickes
Minus steht (- 2,2 Milliarden DM gegenüber Soll 1999
und - 1,1 Milliarden DM gegenüber Ist 1998). Die Inves-
titionsquote erreicht 1999 mit 11,6 v. H. Negativrekord
und bis 2003 wird sie weiter auf 10,6 v. H. gesenkt. Das
ist das Gegenteil von wachstums- und beschäftigungsför-
dernder Politik.
Die Rentenausgaben des Bundes lagen 1999 um
18 Milliarden DM höher als 1998. Der Anteil an den ge-
samten Bundesausgaben ist auf 24,4 v. H. gewachsen
(1998: 21,9 v. H.). Bis 2003 steigt der Anteil dramatisch
auf über 30 v. H. an – ein gewaltiger Sprengsatz für den
Bundeshaushalt.
Die gesamtwirtschaftlichen Daten haben sich 1999
verschlechtert. Die Staatsquote ist gestiegen, die Steuer-
quote ist auf 22,9 v. H. gestiegen (1998: 22,0 v. H.) und
im Jahr 2004 verharrt sie mit 22,8 v. H. auf dem hohen Ni-
veau. Die Abgabenquote ist gestiegen.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit rot-grüner Poli-
tik liegen Welten. Die Ausgaben für Bildung, Wissen-
schaft und Forschung lagen 1999 um 541 Millionen DM
niedriger als im Soll. Für den Mittelstand wurden 1999
nur 2,1 Milliarden DM ausgegeben, das waren 378 Milli-
onen DM weniger als 1998.
In unvertretbarer Weise wurde die deutsche Landwirt-
schaft geschröpft.
Der Finanzminister sprach schon im Januar von einem
„erfolgreichen Jahresabschluss“. Sein Stolz auf 2,4 Milli-
arden DM weniger Nettokreditaufnahme und rund
2,9 Milliarden DM weniger Gesamtausgaben ist aber bei
bestem Willen nicht nachvollziehbar. Wer in einem Jahr,
in dem die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland
nur mit etwa 1,4 Prozent wächst, rund 6 Prozent höhere
Bundesausgaben zu vermelden hat, sollte in Sack und
Asche gehen und keine Jubeltöne anstimmen.
Die Union hat von Anfang an die Explosion der kon-
sumtiven Ausgaben im rot-grünen Haushalt 1999 kriti-
siert. Der Haushaltsabschluss belegt den absoluten Tief-
stand der Investitionen mit nur noch knapp 11,7 Prozent
der Gesamtausgaben. Es ist kein Wunder, dass die Bun-
desrepublik Deutschland beim Vergleich der Wachstums-
raten der Industrienationen auf dem vorletzten Platz lan-
det.
Im rot-grünen Haushalt 1999 wurden die Reformen im
Sozialbereich nicht weiter fortgesetzt; vielmehr wurden
die konsumtiven Ausgaben insbesondere im Bereich der
Alterssicherung um fast 30 Milliarden DM unverantwort-
lich ausgeweitet; gleichzeitig wurden die Steuern für je-
dermann kräftig erhöht – besonders durch die Einführung
der so genannten Ökosteuer.
Heute suchen viele rot-grüne Politiker die Verantwort-
lichen für die hohen Benzinpreise bei den Mineralölkon-
zernen und an den Finanzmärkten, die den Euro so unge-
recht schlecht bewerten. Aber die schwache Stellung des
Euro hat doch diese Regierung wesentlich mit verursacht.
Denn die Ökosteuer steht für den von den Finanzmärkten
durchschauten Versuch, die notwendigen Reformen in der
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Alterssicherung mit noch mehr Steuermilliarden wegzu-
manipulieren. Die Ökosteuer ist das Symbol der Reform-
unfähigkeit dieser Bundesregierung. Sie ist unmittelbar
und mittelbar für rund zwei Drittel des Anstiegs der Sprit-
preise verantwortlich.
Rot-Grün setzt die Privatisierungspolitik der früheren
Bundesregierung nicht nur bruchlos fort, sondern steigert
sie nach. Die in den vergangenen Jahren vielfach erhobe-
nen Vorwürfe rot-grüner Politiker, Waigel würde das „Ta-
felsilber der Bundesrepublik Deutschland verscherbeln“,
erweisen sich damit als platte und gezielte Propagan-
dalüge.
Zu Waigels Zeiten dienten die Privatisierungseinnah-
men dazu, die harten Reform- und Konsolidierungsmaß-
nahmen vor allem im Sozialbereich abzufedern, die sich
aufgrund des demographischen und gesellschaftlichen
Wandels in Deutschland, aber auch aufgrund der Globali-
sierung als notwendig erwiesen. Rot-Grün hat damals die
Reform- und Konsolidierungspolitik bösartig als soziale
Demontage diffamiert und im Bundesrat total blockiert.
Letzteres gilt auch für die Steuerreform.
Heute dienen Privatisierungseinnahmen nicht mehr der
zeitlich begrenzten Abfederung von Reform- und Konso-
lidierungsmaßnahmen, sondern vielmehr der Finanzie-
rung einer Ausweitung der sozial motivierten Konsum-
ausgaben des Staates. Das Haushaltsdesaster ist für den
Zeitpunkt absehbar, in dem ein „Verscherbeln von Tafel-
silber“ – jetzt stimmt der Begriff – mangels Masse nicht
mehr möglich ist. Wohlweislich hat die rot-grüne Bun-
desregierung für diesen Fall die weiteren Stufen der Öko-
steuer beschlossen.
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Jahresabschluss 1999 zeigt: Die Regierungskoali-
tion hat mit ihrem Konsolidierungskurs einen grundle-
genden Wandel in der Finanzpolitik eingeleitet. Die
Neuverschuldung wurde auf 51,1 Milliarden DM redu-
ziert. Das sind 2,4 Milliarden DM weniger als veran-
schlagt und 5,3 Milliarden DM weniger als 1998. Diese
Finanzpolitik des Bundes hat entscheidend dazu beigetra-
gen, dass die gesamtstaatliche Defizitquote mit 1,1 Pro-
zent ihren niedrigsten Wert seit 1989 erreichte.
Hervorzuheben ist auch, dass die Neuverschuldung die
Investitionsausgaben von 56 Milliarden DM um 4,9 Mil-
liarden DM unterschreitet. Damit liegt sie deutlich unter
der verfassungsrechtlichen Verschuldungsobergrenze des
Art. 115 GG. In 1998 lag der Abstand nur bei 0,7 Milliar-
den DM. In den zwei Jahren zuvor war die Neuverschul-
dung sogar höher als die Investitionsausgaben: 1996 um
17,3 Milliarden DM und 1997 um 7,3 Milliarden DM.
Der Jahresabschluss 1999 ist ein Erfolg der strikten
Haushaltsdisziplin der Bundesregierung. Die Gesamtaus-
gaben liegen mit 482,8 Milliarden DM um 2,9 Milliarden
DM unter dem veranschlagten Soll. Bereinigt um die Son-
dereffekte durch die erstmalige Veranschlagung von Zu-
schüssen an die Rentenversicherung, die wir aus der Um-
satzsteuer und der Ökosteuer gegenfinanziert haben, so-
wie von Zuschüssen an die Post-Unterstützungskassen
sind die Ausgaben nur um 0,6 Prozent gestiegen.
Auch auf der Einnahmenseite lässt sich ein erster Kon-
solidierungserfolg erkennen. Während 1998 noch Priva-
tisierungserlöse in Höhe von 19,8 Milliarden DM zur
Deckung von allgemeinen Ausgaben vereinnahmt wur-
den, sind es 1999 nur noch 5,1 Milliarden DM. Die
unsolide Politik der alten Bundesregierung, wachsende
Strukturelle Deckungslücken durch zunehmende Erlöse
aus Vermögensverwertungen auszugleichen, konnte und
durfte nicht fortgeführt werden.
Neben der soliden und sparsamen Haushaltsführung
wurden im Haushaltsjahr 1999 grundlegende Reform-
schritte im Steuer- und Abgabensystem und in den Struk-
turen des Bundeshaushalts verwirklicht. Beispiele hier-
für: eine Einkommensteuerreform mit Entlastungen für
Arbeitnehmer, Familien und Mittelstand, ein erster Ein-
stieg in die Ökosteuerreform, höhere Aufwendungen für
die aktive Arbeitsmarktpolitik sowie für Bildung und For-
schung und die Eingliederung von Schattenhaushalten der
alten Bundesregierung in den Bundeshaushalt.
Der erfolgreiche Jahresabschluss 1999 bildet eine so-
lide Grundlage, um den von der Regierungskoalition ein-
geschlagenen Konsolidierungskurs konsequent fortzuset-
zen und 2006 einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue
Schulden vorzulegen. Mit unserer soliden und nachhalti-
gen Finanzpolitik schaffen wir die Voraussetzungen für
mehr Wachstum und Beschäftigung sowie für Bürgerin-
nen, Bürger und Wirtschaft dauerhafte Steuerentlastun-
gen.
Jürgen Koppelin (F.D.P.): Zur Debatte steht heute
der Antrag des Bundesministeriums der Finanzen zur Ent-
lastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999.
Zu diesem Haushalt ist sicherlich mehr zu sagen, als es in
den vorgesehenen dreieinhalb Minuten, die mir zur Ver-
fügung stehen, möglich ist. Daher werde ich mich nur auf
einige wesentliche Punkte beschränken.
Erstens. Der Haushalt 1999 ist mit 482,8 Milliarden
DM der größte in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Lässt man Sondereffekte wie die erstmalige
Veranschlagung von Zuschüssen an die Rentenversiche-
rung und an die Postunterstützungskassen weg, dann be-
deutet dies im Vergleich zum Jahr 1998 einen Anstieg in
Höhe von rund 6 Prozent oder, in Zahlen ausgedrückt, von
25,9 Milliarden DM.
Zweitens. Mit der Steigerung der Gesamtausgaben ein-
her ging der Anstieg der konsumtiven Ausgaben. Hier er-
folgte ein Aufwuchs von 6,8 Prozent bzw. 27,1 Milliarden
DM. Den größten Anteil davon belegten die Sozialausga-
ben sowie die Zinsausgaben. Sie erreichten zusammen
268 Milliarden DM oder 62,8 Prozent der konsumtiven
Ausgaben.
Drittens. Die Investitionsquote des Bundes ist im
Haushaltsjahr 1999 auf 11,6 Prozent gesunken und be-
deutet im Vergleich zum Haushaltsjahr 1998, in dem die
Investitionsquote bei 12,5 Prozent lag, eine erhebliche
Reduzierung. Dabei wurden die Investitionen durch eine
rein buchmäßige Anhebung des Gewährleistungsrisikos
um 1,4 Milliarden DM erhöht. Ohne diesen Faktor wären
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die Investitionsausgaben in der Gesamtsumme noch nied-
riger ausgefallen. Aber auch so hatten sie in 1999 mit 56
Milliarden DM den niedrigsten Stand seit Jahren.
Viertens. Der Zuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit
ist im Haushaltsvollzug um rund 3,7 Milliarden DM re-
duziert worden und ist Ausdruck einer fehlgeleiteten po-
litischen Einschätzung. Ich darf an dieser Stelle daran er-
innern, dass es die F.D.P.-Bundestagsfraktion war, die im
Zuge der Haushaltsberatung eine Absenkung des Titels
gefordert hat. Dieser Antrag ist seinerzeit von Ihnen ab-
gelehnt worden. Wäre man böswillig, könnte man die
Auffassung vertreten, dass der Zuschuss an die Bundes-
anstalt für Arbeit bewusst so hoch veranschlagt worden
ist, um die „Pflege“ der Nettokreditaufnahme zu betreiben
bzw. Spielräume für andere Mehrausgaben zu schaffen.
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass der erste von
Rot-Grün vorgelegte Haushalt nicht der große Wurf war.
Gemessen an den angekündigten Reformen und beab-
sichtigten Veränderungen muss man zu der Feststellung
gelangen: Dem Haushalt 1999 mangelte es an Gestal-
tungskraft und Veränderungswillen.
Ihre eigene Unfähigkeit und Tatenlosigkeit versuchten
Sie durch die Mär von den Haushaltslöchern und der Erb-
last zu überdecken. Mit dem Haushalt 1999 wurde ein
Jahr zur Weichenstellung für den Wirtschaftsstandort
Deutschland verschenkt. Unternehmen und Bürger hatten
nach Ihren vollmundigen Ankündigungen einiges erwar-
ten können – Sie haben alle enttäuscht.
Heidemarie Ehlert (PDS): Mit gewisser Verwunde-
rung habe ich diesen Tagesordnungspunkt zur Kenntnis
genommen. Obwohl die Bundesregierung für das Haus-
haltsjahr 1998 noch nicht entlastet ist, soll heute bereits
über die Entlastung für das Haushaltjahr 1999 diskutiert
werden.
Zwar wurde die Haushaltsrechnung und Vermögens-
rechnung des Bundes für das Jahr 1999 dem Haushalts-
ausschuss übergeben, allerdings liegen die Bemerkungen
des Bundesrechnungshofes zur Jahresrechnung 1999
dem Deutschen Bundestag noch nicht vor. Offensichtlich
will das Parlament schneller sein als der Bundesrech-
nungshof. Es ist gut, wenn Aufgaben ernst genommen
werden. Nur gehören zu einer sachbezogenen Debatte zur
Jahreshaushaltsrechnung 1999 nun mal die Feststellun-
gen des Bundesrechnungshofes. Noch ist dieser für die
Prüfung der Jahreshaushaltsrechnung zuständig und ich
warte bereits auf die kritischen Bemerkungen zum Um-
gang der Verwaltung mit den Haushaltsmitteln des Bun-
des. Noch immer ist die Verletzung von Haushaltsrecht
ein Kavaliersdelikt. Es kann und sollte nicht bei kriti-
schen Feststellungen zum Umgang mit Haushaltsmitteln
bleiben. Konsequenzen und positive Veränderungen zur
Durchsetzung von Haushaltsdisziplin, Haushaltsklarheit
und -wahrheit müssen in allen Bundesministerien durch-
gesetzt werden. Wer von den Bürgerinnen und Bürgern
Sparsamkeit verlangt, muss bei sich selbst anfangen.
Auch der sparsame und wirtschaftliche Umgang mit
Haushaltsmitteln ist ein wichtiger Beitrag zur Haushalts-
sanierung und zum Schuldenabbau.
Insofern ist es zum gegenwärtigen Stand noch nicht
möglich, sachkundig das Haushaltsjahr 1999 einzuschät-
zen. Heute kann es nur um die Überweisung der Jahres-
rechnung in den Haushaltsausschuss gehen und dieser
stimme ich zu.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Privatisierung und
Reorganisation des volkseigenen Vermögens
(Treuhandgesetz) (Tagesordnungspunkt 17)
Christel Deichmann (SPD): Sehr intensiv haben wir
uns in der Arbeitsgruppe innerhalb der SPD-Fraktion so-
wie im Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
mit den Konfliktpunkten im zukünftigen Umgang mit
dem Bodenreformland beschäftigt. Sicherlich ist die ge-
samte Situation, die hier so bildhaft von der PDS be-
schrieben wird, problematisch.
Doch wenn wir von diesem Bild einmal in die Realität
blicken, zeigt es sich, dass sich diese ganz anders darstellt.
Zehn Jahre nach dem Mauerfall und nur wenige Monate
von zehn Jahren deutscher Einheit entfernt ist der Weg
sehr klar: Auf Dauer kann eine gewisse Stabilität und Si-
cherheit in der Landwirtschaft nur durch Landerwerb ge-
währleistet werden. Es ist ein Irrglaube der PDS, dass al-
leine langfristige Pachtverträge genügend Zukunftssi-
cherheit für die agrarischen Betriebe bieten. Das heißt,
zum langfristigen soliden Fundament eines landwirt-
schaftlichen Unternehmens zählt auch ein gewisser Ei-
genanteil an den bewirtschafteten Flächen.
Natürlich waren zu Beginn langfristige Pachtverträge
sehr sinnvoll. Diese ermöglichten einen Einstieg in die
neuen – durch die Wende so stark veränderten – Bedin-
gungen. Es war auch sehr vernünftig, die ursprünglich für
einen Zeitraum von acht bis zehn Jahren festgesetzten
Pachtverträge zu verlängern.
Die Verlängerung der Pachtverträge für landwirt-
schaftliche Flächen, die im Eigentum der BVVG stehen,
auf 18 Jahre ist ein Schritt in Richtung Sicherheit, den
übrigens meine Fraktion schon in der vergangenen Legis-
latur gefordert hat.
Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit, wes-
halb die Pacht- und Privatisierungsregelungen, wie sie in
den Jahren zuvor gefunden wurden, von unserer Seite
nicht infrage gestellt werden dürfen. Um Sicherheit vor
allem für Investitionen zu geben und besonders die Be-
triebe im Veredelungsbereich zu unterstützen, haben wir
kurzfristig nach der Übernahme der Regierungsverant-
wortung die entsprechenden Pachtverträge auf eine Lauf-
zeit von 18 Jahren verlängert.
Ein Großteil der Probleme stammen tatsächlich aus
DDR-Zeiten – ein mir bekanntes Beispiel habe ich Ihnen
schon während unserer letzten Debatte zu diesem Thema
geschildert –; aber ich kann hier nur noch einmal wieder-
holen: Diese Probleme aus der Vergangenheit lassen sich
in den wenigsten Fällen reparieren. Niemand ist in der
Lage, die Vergangenheit zu verändern. Das Einzige, was
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wir in diesem Fall wirklich tun können, ist, einen für alle
Beteiligten tragbaren Kompromiss zu finden. Diesen hat
der Deutsche Bundestag in mühevoller Kleinarbeit in ei-
nem langen und zähen Prozess mit der Verabschiedung
der Flächenerwerbsverordnung und mit dem Entschädi-
gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz seinerzeit gefun-
den.
Bitte, meine Damen und Herren von der PDS, haben
Sie je bedacht, welches Fass ohne Boden Sie hier öffnen
wollen? Es ist Ihnen wieder einmal gelungen, falsche
Hoffnungen bei den Betroffenen zu wecken und sich
selbst in ein besseres Licht zu setzen, als Sie es in Wahr-
heit verdienen. Nur eine praktikable Lösung bieten Sie
nicht an. Sehr bedauerlich! Im Gegenteil, der Gesetzent-
wurf ist schon in einem erschreckenden Ausmaß wirk-
lichkeitsfern.
Vielleicht könnten mit Ihrem Gesetzentwurf tatsäch-
lich einige Schäden in gewissen Grenzen gehalten wer-
den; aber Sie tragen dann die Verantwortung dafür, dass
an anderen Punkten neue Probleme und Konflikte entste-
hen.
Es sollte doch nicht unser Ziel als Abgeordnete sein,
neue Konflikte zu schüren. Und in der Landwirtschaft gibt
es wohl wesentlich Wichtigeres zu tun.
Wir müssen doch dafür Sorge tragen, dass die Land-
wirtschaft in Ostdeutschland als eine wichtige wirtschaft-
liche Ebene der neuen Bundesländer ihren Stellenwert
beibehält. Wenn Sie uns in der Begründung des vorlie-
genden Gesetzentwurfes vorrechnen, dass das Bundesfi-
nanzministerium durch langfristige Verpachtung höhere
Einnahmen erzielt als durch Verkauf der Flächen, haben
Sie eigentlich schon selber ein wichtiges Argument für die
Unhaltbarkeit Ihres Vorschlages gegeben: Im Umkehr-
schluss bedeutet dies nämlich, dass den Unternehmen
durch laufende Zahlung des Pachtzinses langfristig mehr
Geld entzogen wird als nötig. Und Landwirte rechnen in
Generationen.
Meine Fraktion wird zusammen mit unserem Koaliti-
onspartner dafür sorgen, dass nach fast zehn Jahren deut-
scher Einheit die Aufgabe der abschließenden Organisa-
tion der Treuhand-Nachfolgeunternehmen erfolgreich
durchgeführt wird. Wir werden diese Aufgabe in ange-
messener Zeit und im dazu geeigneten Rahmen lösen.
Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir nicht
zustimmen.
Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): Die Partei
des Demokratischen Sozialismus hat mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf zu ihren Wurzeln und zu den Prakti-
ken der SED zurückgefunden. Die SED-Fortsetzungspar-
tei bekennt sich damit endlich offen zur Enteignung, Ver-
staatlichung, Zentralisierung und Dirigismus. Die PDS
will offensichtlich die derzeit geplante Neufassung des
Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes für die
Forderung instrumentalisieren, öffentliches Eigentum in
den neuen Bundesländern künftig nicht mehr vorrangig
zu verkaufen, sondern in öffentlicher Hand zu halten. Das
Ziel wird deutlich definiert: Der Staat muss Eigentümer
bleiben und darf allenfalls noch verpachten.
Zwischen den Zeilen des Gesetzentwurfs sind die wah-
ren Gründe zu erkennen: Vor einigen Monaten stellte Herr
Gysi publikumswirksam die neuen Thesen der PDS vor.
Auch dort werden Enteignung und Verstaatlichung als le-
gitime Mittel gepriesen und im Gegenzug Misstrauen ge-
genüber privatem Engagement gesät. In dem hier debat-
tierten Gesetzentwurf wird genau diese Position vertreten.
Wenn der Staat vom Prinzip her Grund und Boden oder
Beteiligungen nicht mehr vorrangig privatisieren soll,
werden längst überholte und in der Geschichte als un-
tauglich erwiesene Mittel reaktiviert.
Nicht erst seit dem Parteitag in Münster wissen wir,
dass die PDS in dieser Bundesrepublik noch nicht ange-
kommen ist. Bei der zunehmenden DDR-Verklärung auch
in den Führungszirkeln der Partei bezweifle ich, dass ihr
das in den nächsten 10 Jahren gelingen wird. Wer eine
ganze Volkswirtschaft an den Rand des Abgrundes ge-
führt hat, sollte nicht als Wirtschaftsspezialist auftreten
und sich mit entsprechenden Vorschlägen wenigstens
zurückhalten.
Anliegen des Treuhandgesetzes war und ist, Vermögen
nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu pri-
vatisieren und zu verwerten. Es schreibt aus gutem
Grunde vor, dass volkseigenes Vermögen in erster Linie
zu privatisieren ist. Private Investoren sind langfristig
stets bessere und effektivere Bewirtschafter von Gütern
als der Staat, denn sie sind durch das investierte Kapital
gezwungen, wirtschaftlich zu arbeiten.
Bereits in der Präambel des Treuhandgesetzes wird
festgestellt, dass nach den Erfahrungen der DDR vor al-
lem die unternehmerische Tätigkeit des Staates so rasch
und so weit wie möglich zurückgeführt werden soll. Diese
ordnungspolitische Positionierung gilt auch für die Frage,
ob die öffentliche Hand Grund und Boden als Eigentum
hält und langfristig verpachtet oder direkt veräußert.
Es gibt keinerlei stichhaltige Argumente dafür, auf
Dauer Grund und Boden in staatlichem Besitz zu behal-
ten. Die These der PDS, wonach die Vergabe von Nut-
zungsrechten für die Einnahmesituation des Bundes lang-
fristig vorteilhaft sei, ist eine typische Nebelkerze und
durch keinerlei Fakten zu belegen. Langfristige Nut-
zungsrechte mit entsprechenden Pachteinnahmen sind
zwar geeignet, fortlaufende Zinszahlungen des Bundes
abzusenken, doch ständige Unterhaltungs- oder sonstige
Verwaltungskosten für den Bund als Eigentümer sind
ebenfalls zu berücksichtigen.
Bei einer Privatisierung mit den entsprechenden Ein-
nahmen erhält der Bund hingegen die Möglichkeit, bereits
seine Nettokreditaufnahme zu minimieren und damit
künftige Zinszahlungen zu vermeiden, bevor sie
überhaupt entstehen. Es gibt keine Alternative zur weite-
ren Veräußerung vorhandener Vermögenswerte nach aus-
gewogenen Kriterien, womit die Einnahmesituation der
BVVG bzw. der BvS und mittelbar auch des Bundes ver-
bessert werden kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf der PDS knüpft an die
Novellierung des Entschädigungs- und Ausgleichsleis-
tungsgesetzes an. Die Bundesregierung will – nach ent-
sprechender Kritik der Brüsseler EU-Kommission – die
Verbilligungsmöglichkeiten beim Landkauf einschränken
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und schießt mit ihren Plänen deutlich über das vorgege-
bene Ziel hinaus. Auch das muss noch debattiert werden.
Doch bereits jetzt ist klar, dass die voraussichtlich mit
der Novellierung einhergehenden höheren Kaufpreise
kein Argument dafür sind, künftig Flächen nur noch zu
verpachten, statt sie zu privatisieren.
Für mich steht als primäres Ziel die weitere Förde-
rung der Entwicklungsmöglichkeiten landwirtschaftli-
cher Betriebe im Vordergrund. Dabei wird gerade in den
neuen Ländern die Eigentumsbildung weiterhin unter-
stützt. Dementsprechend müssen auch künftig die Ver-
billigungsmöglichkeiten des EU-Rechts bei einem Ver-
kauf ausgeschöpft und möglichst hohe Verbilligungs-
möglichkeiten gewährt werden. In benachteiligten
Gebieten waren beispielsweise Verbilligungssätze von
75 Prozent erlaubt, jetzt sind es immerhin noch 50 Pro-
zent.
Wenn solche Verbilligungsmöglichkeiten auch künftig
ausgeschöpft werden, bedarf es keiner neuen gesetzlichen
Schwerpunktsetzung zugunsten langfristiger Nutzungs-
rechte.
Davon unberührt bleibt neben der vorrangigen Privati-
sierung auch eine Verpachtung an finanziell schwächere
Betriebe weiterhin möglich. Dies hat die BVVG in ihrer
Tätigkeit unter Beweis gestellt und damit gezeigt, dass
Privatisierungsvorrang nicht in Widerspruch zu Verpach-
tungsmöglichkeiten in begründeten Fällen steht.
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die frei
gewählte Volkskammer der DDR hat am 17. Juni 1990
das Treuhandgesetz beschlossen. Hierin heißt es: „Die
Treuhandanstalt ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts.
Sie dient der Privatisierung und Verwertung des volksei-
genen Vermögens nach den Prinzipien der sozialen
Marktwirtschaft“, § 2, Abs. 1. In § 1, Abs. 6 Treuhandge-
setz heißt es in Bezug auf das landwirtschaftliche Eigen-
tum: „Für die Privatisierung und Reorganisation des
volkseigenen Vermögens in der Land- und Forstwirt-
schaft ist die Treuhandschaft so zu gestalten, dass den
ökonomischen, ökologischen, strukturellen und eigen-
tumsrechtlichen Besonderheiten dieses Bereiches Rech-
nung getragen wird.“
Dies ist in den ersten Jahren nach der Vereinigung der
beiden deutschen Staaten nach teilweise sehr kontrover-
sen Diskussionen geschehen. Es wurden unter anderem
gesetzliche Regelungen für die Anpassung der landwirt-
schaftlichen Betriebe an die Rahmenbedingungen des
EU-Binnenmarktes und zur Klärung des Eigentums an
Grund und Boden sowie zur Zusammenführung von Bo-
den- und Gebäudeeigentum erlassen. Zentral sind in die-
sem Zusammenhang das Landwirtschaftsanpassungsge-
setz, das Sachenrechtsbereinigungsgesetz sowie das
Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. Diese
Gesetze wurden in den vergangenen Wahlperioden mehr-
fach angepasst, um Problempunkte, die sich in der Praxis
ergaben, auszuräumen.
Aufgrund dieser differenzierten gesetzlichen Regelun-
gen konnte den Erfordernissen der Landwirtschaft im
schwierigen Umstrukturierungsprozess Rechnung getra-
gen werden. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Landwirt-
schaft nicht wie viele andere Wirtschaftszweige einfach
„weggebrochen“ ist, sondern dass sie sich als leistungs-
starker und wettbewerbsfähiger Sektor hat etablieren kön-
nen. Allerdings konnten und können die betreffenden Ge-
setze Unrecht aus der Vergangenheit nur sehr begrenzt
heilen. Ich bin der Auffassung, dass dies durch ein Gesetz
kaum zu leisten ist und dass es daher nur um einen Aus-
gleich der verschiedenen Ansprüche geht.
Die PDS problematisiert in ihrem Gesetzentwurf den
hohen Anteil an Pachtflächen in den ostdeutschen Land-
wirtschaftsbetrieben. Richtig ist die Feststellung, dass der
Anteil von landwirtschaftlichen Pachtflächen in Deutsch-
land allgemein ansteigt. Aber es handelt sich hierbei um
einen Effekt des Strukturwandels nach dem Prinzip: Auf-
gabe des Betriebes aus wirtschaftlichen oder Altersgrün-
den und Verpachtung der Flächen an weiter wirtschaf-
tende Interessenten, von privat an privat! Der Verbleib
von land- und forstwirtschaftlichen Flächen in der öffent-
lichen Hand ist nur in bestimmten Fällen sinnvoll, dann
nämlich, wenn sich dadurch ein übergeordnetes gesell-
schaftliches Ziel besser erreichen lässt, wie es etwa bei
den Naturschutzflächen von gesamtstaatlicher Bedeutung
aktuell diskutiert wird.
Der Pachtflächenanteil landwirtschaftlicher Betriebe
in den neuen Bundesländern übersteigt häufig 90 Prozent
der bewirtschafteten Fläche. Vor dem Hintergrund der
wirtschaftlichen Eckwerte vieler Betriebe wird sich daran
auch kurzfristig nicht viel ändern. Deshalb hat der Päch-
terschutz für uns Vorrang vor den kurzfristigen Interessen
eines Erwerbers. Die Bundesregierung hat daher zu Be-
ginn des vergangenen Jahres verfügt, dass die mit der
BVVG abgeschlossenen langfristigen Pachtverträge auf
18 Jahre ausgeweitet werden können, wenn der jeweilige
Betrieb dies wünscht. Damit wird den jetzt wirtschaften-
den Betrieben eine aus unserer Sicht ausreichende Pla-
nungssicherheit gegeben. Wer aus wirtschaftlichen Grün-
den am vergünstigten Flächenerwerb nach EALG nicht
teilnehmen kann oder will, der hat in der Regel die Mög-
lichkeit, bis mindestens in das Jahr 2012 zu wirtschaften
und zu disponieren, ob er Kaufoptionen wahrnehmen
möchte oder nicht.
Grundsätzlich bietet das Eigentum an der bewirtschaf-
teten Fläche die zentrale Basis eines jeden landwirt-
schaftlichen Betriebes. Die PDS fordert demgegenüber in
ihrem Gesetzentwurf, aus der Not eine Tugend zu ma-
chen, nach dem Motto: Weil „die Landwirtschaft sich im-
mer stärker zu einer Pachtlandwirtschaft“ entwickelt, soll
Pacht der Regelfall und Kauf die Ausnahme werden.
Gleichzeitig liefern Sie, werte Kolleginnen und Kolle-
gen von der PDS, aber das Gegenargument zu ihrer For-
derung: Sie behaupten, es sei zum Vorteil der landwirt-
schaftlichen Betriebe, wenn diese nicht kaufen, sondern
langfristig pachten würden. Im nächsten Satz rechnen Sie
dann aber vor, dass es ein Vorteil für den Fiskus wäre,
wenn er nicht einmalige Verkaufserlöse, sondern langfris-
tige Pachtzahlungen einnehmen könnte. Sie kalkulieren
dabei Einnahmen für den Bund in Höhe von jährlich 200
Millionen DM. Ihnen scheint entgangen zu sein, dass Sie
damit die Liquidität der Betriebe schwächen, dass Sie
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Finanzkraft aus den Betrieben abziehen, die Sie angeblich
mit diesem Gesetzentwurf stärken wollen.
Dieser innere Widerspruch Ihres Gesetzentwurfes lässt
sich nicht auflösen. Es gibt im Treuhandgesetz keinen ein-
zigen Hinweis darauf, dass mit „Privatisierung“ vom da-
maligen Gesetzgeber etwas anderes gemeint gewesen sein
könnte als die Herstellung bzw. Wiederherstellung von
Privateigentum im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches
an Grundstücken, Immobilien und Wirtschaftsgütern.
Und ich sehe auch heute, zehn Jahre danach, keinen An-
lass, diese Auffassung zu relativieren. Meine Fraktion
wird daher der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
die Angelegenheiten der neuen Länder folgen und den
Gesetzentwurf ablehnen.
Jürgen Türk (F.D.P.): Die PDS zeigt mit ihrem Ge-
setzentwurf zur Änderung des Treuhandgesetzes einmal
mehr, dass sie noch immer der sozialistischen Land- und
Forstwirtschaft à la DDR verhaftet ist. Sie zielt mit ihrem
Gesetzesänderungsvorschlag eindeutig darauf ab, mit al-
len ihr zu Gebote stehenden Mitteln die weitere Privati-
sierung von Bodenreformland in den neuen Bundeslän-
dern zu verhindern. Nach ihren Vorstellungen sollten die
Restbestände des Bodenreformlands in Staatsbesitz ver-
bleiben und lediglich verpachtet werden.
Mit ihrem Gesetzentwurf versucht die PDS, dies den
anderen Parteien schmackhaft zu machen. So verweist sie
darauf, dass die Pacht langfristig gesehen eine für den
Staat stabil fließende Einnahmequelle wäre.
Das aber ist stark zu bezweifeln. Denn, wie die PDS
selbst in ihrem Gesetzentwurf hervorhebt, liegen die Rest-
flächen „in ihrer Mehrheit in benachteiligten Gebieten“.
Im Klartext heißt das, dass sie für Pächter nicht sehr
verlockend sein dürften. Ihre Attraktivität wird im Rah-
men von EU-Erweiterung und Globalisierung weiter sin-
ken. Statt mit Einnahmen ist also am Ende viel eher damit
zu rechnen, dass der Staat auf den Flächen sitzen bleibt
und sie ihm nichts als Ausgaben bescheren.
Zudem argumentiert die PDS, dass es manche land-
wirtschaftliche Betriebe finanziell überfordern könnte,
die von ihnen gepachteten Flächen zu kaufen, und Inves-
titionen in für sie wichtige Bereiche verhindern würde.
Diese Besorgnis ist offensichtlich aufgetaucht, seit die
EU-Kommission im Dezember 1998 beanstandet hat,
dass nicht nur Alteigentümer, sondern auch Neueinrichter
und Nachfolger von landwirtschaftlichen Produktionsge-
nossenschaften verbilligt Agrar- und Forstflächen in den
neuen Bundesländern erwerben können.
Die Regierungskoalition beschloss daraufhin eine No-
vellierung des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungs-
gesetzes, die zu einem Ansteigen der Kaufpreise um 20
bis 30 Prozent führt. Davon sind übrigens auch Altei-
gentümer betroffen, was von der F.D.P. als bewusste Be-
schneidung der Interessen der Alteigentümer angesehen
wird.
Grünen-Minister Trittin setzte dem noch eines drauf
und will land- und forstwirtschaftlich genutzte naturrele-
vante Flächen an Naturschutzverbände verschenken, wo-
mit er Eigentumsrechte mit Füßen tritt. Außerdem duldet
der mühsam mit der europäischen Kommission erreichte
Kompromiss zum Flächenerwerbsprogramm noch nicht
einmal das Herausnehmen eines einzigen Hektars aus der
Privatisierung. Anstatt den Schutz des Eigentums weiter
zu verletzen, sollte die Bundesregierung die bereits ein-
getretenen Diskriminierungen beim Verkauf beseitigen.
Das neue Bundesnaturschutzgesetz muss die bisherige
Ausgleichsregelung und einen Vorrang für den Vertrags-
naturschutz enthalten.
Um auf den Vorschlag der PDS zurückzukommen:
Wenn landwirtschaftliche Betriebe mit dem Kauf der von
ihnen genutzten Flächen tatsächlich überfordert sein soll-
ten, würde die Verpachtung auch aus Sicht der F.D.P. Sinn
machen, aber nur dann. Ansonsten halten wir den Vorstoß
der PDS für einen erneuten Versuch, bewährte marktwirt-
schaftliche Grundlagen auszuhebeln. Es versteht sich von
selbst, dass die F.D.P. dabei nicht mit von der Partie ist.
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