Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b sowieZusatzpunkt 5 auf.a) Abgabe einer Erklärung der BundesregierungFrieden braucht Entwicklungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten AdelheidTröscher, Friedhelm Julius Beucher, Lothar Mark,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNENEntwicklungszusammenarbeit mit Kuba– Drucksache 14/3128 –
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Zu Be-ginn dieses Jahrhundert steht die internationale Politik vorder Aufgabe, der Spaltung zwischen Nord und Süd – undteilweise auch Ost – sowie zwischen Arm und Reich mitallen Möglichkeiten entgegenzuwirken.Die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als 2 US-Dollar täglich überleben, ein Viertel der Menschheit hatsogar weniger als 1 US-Dollar täglich zur Verfügung.Während hier bei uns mancher die Informationsflut durchneue Medien kaum noch bewältigen kann und entspre-chende Schwierigkeiten hat, befinden sich in den ärmstenLändern gerade einmal 0,3 Prozent aller Internetan-schlüsse weltweit.Das globale Armutsproblem hat sich verschärft. Wersich heute die Schlagzeilen der Agenturmeldungen an-sieht, wird feststellen: Es ist ein Schlüsselproblem für dieNord-Süd-Beziehungen und es ist die Wurzel vieler glo-baler Risiken und Friedensgefährdungen. Es verstärkt dasBevölkerungswachstum und verschärft den Migrations-druck, es erschwert die Verwirklichung der sozialen undpolitischen Menschenrechte und erzeugt Verteilungskon-flikte um Wasser oder landwirtschaftlich nutzbares Landoder um andere Ressourcen.Es ist das entwicklungspolitische Grundverständnisdieser Bundesregierung: Entwicklungspolitik soll dazubeitragen, dass die Menschen in allen Weltteilen dieChancen, die sich durch die Globalisierung und das Endedes politischen Blockdenkens ergeben, zu ihrem Vorteilnutzen können.
Wir müssen und wir wollen verhindern, dass ganze Re-gionen und Bevölkerungsgruppen ins Abseits geraten.9921
106. SitzungBerlin, Freitag, den 19. Mai 2000Beginn: 9.00 UhrKein Teil der Welt kann ohne die anderen Teile sein Über-leben sichern und Zukunft gestalten. Alle Seiten müssenTeil einer globalen Verantwortungsgemeinschaft werdenund sich so verhalten, dass das Überleben zukünftiger Ge-nerationen gesichert wird. An diesem Leitbild nachhalti-ger Entwicklung richten wir unsere Politik aus.
Die Globalisierung beschleunigt unser Leben insge-samt. Soziale Gerechtigkeit wird in keinem Land dieserErde, auch nicht in den Industrieländern, auf Dauer zuhalten sein, wenn wir nicht auch international dafür kämp-fen. Wir wollen die Globalisierung sozial, ökologisch,menschlich gestalten helfen. Wir wollen eine sozial ge-rechte Weltordnungspolitik verwirklichen.
Unser Bundespräsident Johannes Rau hat das so aus-gedrückt:Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang zwi-schen gerechter Entwicklung und gesichertem Frie-den auf der Welt. Wir müssen den Ursachen vonSpannungen und Konflikten zu Leibe rücken, bevordaraus Kriege und Bürgerkriege entstehen.Aber werden angesichts der Lücke zwischen diesenHerausforderungen und den Schreckensnachrichten, diewir jeden Abend auf den Fernsehschirmen zum Beispielaus Afrika sehen, viele Menschen denken: Ist das nicht einvöllig aussichtsloses Unterfangen? Es mehren sich auchin der internationalen Presse Schlagzeilen wie „Out ofAfrica“.Ich möchte an dieser Stelle Richard Holbrooke zitie-ren, der versucht hat, zwischen Äthiopien und Eritrea zuvermitteln. Er sagt:Wenn Sie so handeln, als wäre Afrika wirklich dervergessene Kontinent, dann wird er sich schnellzurückmelden. Wir werden trotzdem hineingezogen,nur wird der Preis höher sein, als wenn wir frühzei-tig gehandelt hätten. Afrikas Probleme lassen sichnicht auf Afrika begrenzen.Recht hat er.
Was dort passiert, geht uns alle an. Deshalb müssen wiruns frühzeitig einschalten.Mit Sierra Leone droht ein weiteres Land tief in Bür-gerkrieg, Hass und Hoffnungslosigkeit zu versinken. Ichappelliere an uns alle: Die Vereinten Nationen dürfen vorLeuten, die sich Rebellen nennen, aber kriminelle Gangs-ter sind, die Kindern die Hände abhacken und Menschenterrorisieren, nicht zurückschrecken.
Die UN-Truppen sind trotz allem die Hoffnung dieserMenschen, die bereits vergewaltigt, beraubt, verstümmeltworden sind. Jetzt erwarten sie voller Angst und Erstar-rung die nächsten Mordtaten. Lassen wir nicht zu, dass dieWeltgemeinschaft dem Völkermord wie in Ruanda hilf-und tatenlos zusieht! Das müssen wir gemeinsam verhin-dern.
Denken wir auch an Simbabwe. 20 Jahre hatteMugabe Zeit, mit der Unterstützung der internationalenGemeinschaft eine echte Landreform zu verwirklichen.Er hat sie nicht genutzt, sondern Vetternwirtschaft zulas-ten der Armen bei der Landvergabe betrieben. Jetzt gehtes ihm nicht um eine Landreform, sondern darum, seineRegierungsmacht mit Terror und Gewalt zu halten.
Die ganze Region – das müssen wir hier sehr deutlich sa-gen – des südlichen Afrika ist gefordert: Die Gewalt, dieMugabe anheizt, muss beendet werden. Sie schadet denZukunftschancen des ganzen südlichen Afrika, das drin-gend Arbeit, Investitionen, ja Frieden braucht.
Ich nenne ferner Äthiopien und Eritrea. Hier tragenauch die Industriestaaten Mitverantwortung für einenKrieg, der – Kriege sind alle absurd – wirklich das Absur-deste ist, was man sich vorstellen kann. Es ist eineSchande, dass das Waffenembargo erst so spät beschlos-sen worden ist. Jetzt muss es aber auch umgesetzt werden.
Denn wenn es nach zwölf Monaten weitergeht wie zuvor,ist die Entwicklung vorprogrammiert.Ich habe jetzt nur einzelne Situationen herausgegriffen.Die Ursachen der Kriege und Konflikte sind vielfältig undkaum auf einen Nenner zu bringen. Neben den sehr un-terschiedlichen internen Rahmenbedingungen ist aber fürAfrika insgesamt zu erkennen: Die Kolonialzeit hat ihreSpuren hinterlassen. Willkürliche Grenzziehung und Un-terdrückung von Ethnien prägen noch heute das Zusam-menleben in vielen Ländern. Dabei wurden Afrikaner undAfrikanerinnen häufig überhaupt nicht gefragt.Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die polari-sierenden Koordinatensysteme wegbrechen lassen. Damithaben sich auch Macht erhaltende und oft Diktaturen kon-servierende Strukturen aufgelöst. Das ist positiv. Aber nunbrechen auch alle zuvor unterdrückten Konflikte wiederauf.Ich sage an dieser Stelle: Wir müssen alle dazu beitra-gen, dass die internationale Verantwortung stärker wahr-genommen wird. Insbesondere Europa muss sich noch
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stärker als bisher engagieren. Aus den bitteren Erfahrun-gen, die wir gemacht haben, müssen wir Konsequenzenziehen. Ich weiß, was ich da sage; dabei denke ich auchan meine Haltung zu diesen Fragen in früheren Jahren.Die Möglichkeiten der UN, Friedenstruppen schnell undin ausreichender Stärke und Ausrüstung in Absprache mitafrikanischen Ländern zu mobilisieren, um gewalttätigeAuseinandersetzungen frühzeitig zu verhindern, müssenverstärkt werden, so wie es Kofi Annan und Boutros-Ghali vorgeschlagen haben.
Ich weiß, was ich sage, wenn ich im Folgenden anfüge:Gleichzeitig sollte zum Beispiel bei der Weltbank da-durch, dass bestimmte Länder Finanzmittel zur Verfü-gung stellen, ein Fonds geschaffen werden, der dazu die-nen sollte, den Sicherheitssektor in krisengefährdetenLändern frühzeitig zu reformieren,
bevor sich Rebellen des Staates bemächtigen oder ganzeStaaten ohne jede Regierung sind. Dann ist es nämlich zuspät. Man sollte diesen Bereich in den betroffenen Län-dern rechtzeitig reformieren.
Ich fände es zudem schön – Konsequenzen blieben si-cher nicht aus –, wenn auch im UN-Sicherheitsrat endlichdie Stimme des afrikanischen Kontinents vernehmbarwäre.
Aber diese Situation überdeckt – das bedrückt uns jaalle, die wir heute Morgen hier zusammengekommensind –, dass es in Afrika auch Erfolge und Hoffnungengibt. Diese Hoffnungen müssen wir unterstützen. Staatenwie zum Beispiel Mali zeigen, dass es möglich ist, Kon-flikte auch friedlich zu regeln. Länder wie zum BeispielSüdafrika, Benin, Ghana, Mosambik oder Tansania stim-men uns trotz all der dort vorhandenen Probleme hoff-nungsvoll. Hier haben die gemeinsamen Bemühungen mitPartnerregierungen Früchte getragen.In unserer Entwicklungszusammenarbeit unterstützenwir diese hoffnungsvollen Ansätze und vor allen Dingendie regionale Integration der verschiedenen sich in Afrikabefindenden Regionalorganisationen. Denn wir alle ha-ben gelernt: Eine regionale Zusammenarbeit schafft Frie-den und Wohlstand. Dem wollen wir mit unserer Forde-rung Nachdruck verleihen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Chancen diesesKontinents – und auch die vieler Entwicklungsländer inanderen Kontinenten – werden durch einen anderenschrecklichen Sachverhalt gefährdet: Jeden Tag steckensich weltweit 16 000 Menschen mit Aids an. DieseKrankheit ist nicht nur eine persönliche Tragödie für diebisher mehr als 50 Millionen infizierten Menschen. DieseKrankheit bedeutet mittlerweile auch eine soziale undwirtschaftliche Katastrophe für die betroffenen Entwick-lungsländer. Diese Katastrophe ist viel zu lange verdrängtworden.Besonders betroffen ist Afrika südlich der Sahara. Dortleben heute 23 Millionen mit HIV infizierte Menschen.Allein den afrikanischen Kontinent kostet diese Seuche1,4 Prozent seines Wirtschaftswachstums. Alle Bereichedes gesellschaftlichen Lebens sind davon dramatisch be-troffen.Ein Problem, das alle betrifft und solche Auswirkungenhat, muss von allen gemeinsam angepackt werden. Des-halb begrüße ich die „Internationale Partnerschaft gegenAids in Afrika“. Sie ist ein ermutigendes Beispiel. Siebringt alle Beteiligten aus dem privaten und dem öffentli-chen Sektor international zusammen. Ich möchte an die-ser Stelle an die deutsche Pharmaindustrie appellieren,sich bei der Bekämpfung dieser Seuche unter anderemdurch die Bereitstellung bezahlbarer Medikamente oderdurch eine verstärkte Impfstoffforschung zu engagieren.Vor allen Dingen aber ist bedeutsam – das ist ein ent-wicklungspolitischer Aspekt ersten Grades; das betoneich in jedem Land, das ich besuche –: Diesem Themamuss in den Entwicklungsländern das Tabu genommenwerden. Nur offene Diskussionen, und zwar beginnend ander Spitze der politisch Verantwortlichen in den betroffe-nen Ländern, führen zu Verhaltensänderung, Erfolg undHoffnung.
Da, wo dies der Fall ist, zum Beispiel in Uganda, zeigtsich: Diese Seuche kann eingedämmt und überwundenwerden.Wir wollen uns engagieren, um Armut und wirtschaft-liche Stagnation zu überwinden. Die internationale Ge-meinschaft hat folgendes Ziel – die Bundesregierung be-kräftigt dies –: Bis zum Jahre 2015 soll der Anteil der inabsoluter Armut lebenden Menschen – das sind heute1,3 Milliarden Menschen – halbiert werden. Das ist einhoch gestecktes Ziel. Wir wollen dazu beitragen und allesdafür tun, damit wir dieses Ziel erreichen.Wir haben in jüngster Zeit, vor allem seit dem Regie-rungswechsel, bedeutende Initiativen gestartet und umge-setzt. Ich möchte an dieser Stelle auf die Entschuldungs-initiative hinweisen, die für die ärmsten und am höchstenverschuldeten Entwicklungsländer eine Entschuldung ineinem Umfang von 70 Milliarden US-Dollar bewirkt –dies haben wir bei Weltbank und IWF finanziell abgesi-chert – und die es in Verbindung mit der Armutsbe-kämpfung in den betroffenen Ländern ermöglicht, dassdie Menschen, vor allem Kinder und Frauen, Bildung er-halten, dass ein Gesundheitssektor aufgebaut wird, dassinsgesamt dazu beigetragen wird, dass arme Menscheneine Chance haben, ihre Zukunft selbst zu gestalten.Der Bundeskanzler hat anlässlich des EU-Afrika-Gip-fels in Kairo zusätzlich für die ärmsten, am höchsten ver-schuldeten Länder den Erlass aller Handelsschulden
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angekündigt. Es ist ein großartiger Erfolg der Initiativedes Bundeskanzlers,
dass sich die anderen bilateraler Gläubiger diesem 100-prozentigen Erlass der Handelsschulden gegenüber die-sen Ländern angeschlossen haben.Wir sehen in all diesen Initiativen eine Chance für diePartnerländer, die Partizipation der Menschen zu fördern.Dabei werden die Nichtregierungsorganisationen undKirchen in die Kooperation und den Dialog einbezogen.Jetzt ist die Entschuldung von Uganda, Mosambik, Bo-livien, Mauretanien und Tansania beschlossen worden;das entspricht einer Entlastung von insgesamt 14 Milliar-den US-Dollar. Bis Ende 2000 rechnen wir mit Ent-schuldungsbeschlüssen für weitere 15 Länder. Damit wirdfür Millionen von Menschen die Bürde der Verschuldunggelockert, die bisher die Bemühungen ihrer Länder umEntwicklung und Frieden behindert hat.Wenn die Partnerländer ihre eigenen Strategien ent-wickeln – und das sollen sie; das ist ja das Ziel der Ar-mutsbekämpfung und der Entschuldung –, wie sie die Ar-mut in ihren Ländern bekämpfen können, wie sie in Bil-dung und Gesundheit investieren wollen, und zwar nachdem Prinzip einer verantwortlichen Regierungsführung,wenn sie also beispielsweise Sektorprogramme im Be-reich Bildung und Gesundheit vorlegen, dann muss sichauch das Verhalten der Geber verändern. Länder wie Tan-sania rechnen uns vor, dass sie, wenn sie mit jedem Gebereinzeln reden, etwa 2 000 Koordinierungsgespräche imJahr führen müssen. Wir müssen dazu beitragen, dass Ko-ordination und Arbeitsteilung für alle verwirklicht wird.Das heißt auch, dass sich die Geber besser absprechenmüssen, damit nicht jedes einzelne Land alles machenmuss. Wir sollten gemeinsam Sektorprogramme finan-zieren, wenn sie haushaltspolitisch transparent und kon-trollierbar sind und wenn die Ansätze sinnvoll sind undvorher mit der internationalen Gemeinschaft abgestimmtworden sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Geld spielt in derEntwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle; das istklar. Aber das ist nicht alles. Fast noch wichtiger ist es,den Einsatz der Mittel effektiver zu gestalten.
Dies realisieren wir durch unsere Schwerpunktsetzung,nämlich indem wir die Zahl der Kooperationsländer redu-zieren. Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit etwa 128 Ko-operationsländer vorgefunden. Aber das Gießkannenprin-zip nutzt doch weder den Entwicklungsländern noch ist eswirklich sinnvoll.
Diese Zeiten müssen vorbei sein. Durch eine stärkereSchwerpunktsetzung und eine bessere Verzahnung unse-rer Arbeit können wir die Wirksamkeit der Mittel zuguns-ten der Entwicklungsländer erhöhen.Wir haben eine Liste mit 70 Kooperationsländern vor-gelegt. Bei deren Erstellung haben wir uns daran orien-tiert, ob die Zusammenarbeit im Hinblick auf die wirt-schaftlichen, sozialen, ökologischen und politischenGestaltungsziele erforderlich ist, welche Möglichkeitenzu einer Verbesserung durch Entwicklungszusammenar-beit dadurch eröffnet werden, wie die Leistungen der an-deren bilateralen und multilateralen Partnerländer sindund wie die internen Rahmenbedingungen im Partnerlandaussehen.Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich be-tonen, dass es unser Ziel ist, bei jedem Aspekt der Ent-wicklungszusammenarbeit Demokratie und Schutz derMenschenrechte zu verwirklichen. Wenn wir mit Partner-ländern zusammenarbeiten, dann tun wir dies gerade ausdiesem Grund. Wir helfen denen, die Staatsstrukturen –ein Steuer-, ein Rechts- und ein Gesundheitssystem – auf-bauen wollen. Wir stärken die Zivilgesellschaft. Aber wirtragen auch dazu bei, dass soziale und wirtschaftlicheMenschenrechte verwirklicht werden. In diesem Punktbleibt in zahlreichen Entwicklungsländern noch viel zutun.
Bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds ha-ben wir in den letzten Monaten wichtige Reformschritteeinleiten können. Letztlich ist es gelungen, wichtige Prin-zipien einer sozialen Marktwirtschaft in den internationa-len Beziehungen zu verankern.Eine Kommission des US-Kongresses möchte in die-sem Punkt anscheinend das Rad der Geschichte zurück-drehen. Folgte man der Mehrheitsempfehlung des so ge-nannten Meltzer-Berichtes, würde die Vorbeugung undBewältigung von Finanz- und Entwicklungskrisen imKern den viel beschworenen freien Marktkräften überlas-sen werden. In der Folge sollte die Weltbank ihre Funk-tion als Entwicklungsbank verlieren, sich nur noch alsEntwicklungsagentur auf Afrika konzentrieren müssenund keine Kredite mehr an Schwellenländer geben kön-nen.Meltzer übersieht dabei, dass auch in den Schwellen-ländern noch immer Hunderte Millionen armer Men-schen und damit insgesamt ein Drittel aller Armen welt-weit leben. Der freie Markt schafft aber gerade nicht aussich selbst heraus die notwendigen demokratischen Insti-tutionen und korruptionsfreien Verwaltungen in den Part-nerländern. Uns geht es darum, dass die Weltbank auchbei den Schwellenländern das Mandat und die finanziel-len Mittel behält, um Armutsbekämpfung in diesen Län-dern voranzubringen.
Nur ein sehr großes Land kann sich angesichts derGlobalisierung vielleicht schwache Institutionen leisten.Die große Mehrheit der Länder und der Menschen inder Welt braucht dagegen bei der Globalisierung starke
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internationale Institutionen. Dies ist auch nötig, wenn wirden Anspruch nicht aufgeben wollen, die Globalisierungsozial, gerecht und ökologisch nachhaltig zu gestalten.Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die die-sem Ziel entgegenstehenden Vorschläge des Meltzer-Be-richtes nicht Realität werden. Diese würden zulasten derArmen sowie zu Lasten des Aufbaus demokratischerstaatlicher Institutionen gehen und daher das weltweiteKonfliktpotenzial bedrohlich verschärfen.Der Meltzer-Bericht bleibt auch in einem anderen Be-reich weit hinter den Entwicklungen und Überzeugungenzurück, die wir in der Bundesregierung bereits umsetzen.Sowohl in vielen Unternehmen der privaten Wirtschaft alsauch in der Entwicklungspolitik gibt es die gemeinsameÜberzeugung, dass Probleme, die weltweit anzupackensind, nur gemeinsam gelöst werden können.Ersichtlich ist dies für den Sektor der Wasserversor-gung. Bereits heute leben viele Menschen in der Weltohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Im Jahr 2025werden es weit mehr als 1 Milliarde Menschen sein.Kriege um Wasser sind vorprogrammiert, wenn nichtsgeschieht. Das jährliche Investitionsvolumen in diesemBereich würde aber pro Jahr 180 Milliarden US-Dollarausmachen. Damit ist klar, dass das niemand aus der öf-fentlichen Entwicklungszusammenarbeit allein finanzie-ren kann. Daher arbeiten wir im Rahmen der Entwick-lungspartnerschaft mit der Wirtschaft zusammen. Bereitsheute kooperieren wir mit 100 deutschen Unternehmen.Es gibt auf den Feldern des Klimaschutzes und der Solar-energie riesige Chancen. Wir freuen uns, dass es möglichist, diese Chancen zusammen mit der deutschen Wirt-schaft zu verwirklichen, und dass es in diesem Bereich ge-meinsame Überzeugungen gibt.
Es geht uns darum, dazu beizutragen, die Chancen desWelthandels für die ärmsten Entwicklungsländer zu nut-zen. Die Bundesregierung setzt sich deshalb dafür ein, dieMärkte der Industrieländer gerade für die Exporte der ar-men Länder zu öffnen. Allein die stärkere Liberalisie-rung derMärkte für Agrarprodukte würde den Entwick-lungsländern zusätzliche Einnahmen von rund 40Milliar-den US-Dollar pro Jahr einbringen.Zur sozialen Gestaltung gehört auch, dass sich dieBundesregierung darum bemüht, den Kernarbeitsnormender Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, weltweitGeltung zu verschaffen.
Wir setzen uns für die Bekämpfung von Zwangsarbeit so-wie die Verhinderung von ausbeuterischer Kinderarbeitein und sorgen dafür, dass freie Gewerkschaften überall inder Welt diskriminisierungsfrei arbeiten können. Neu ist,dass wir diese Kernarbeitsnormen als wichtiges Elementunseres entwicklungspolitischen Kriteriums „sozial ver-antwortliche Marktwirtschaft“ eingeführt haben; denndiese Prinzipien gehören überall in der Welt zu einer so-zial verantwortlichen Marktwirtschaft.
Es ist aber klar, dass kein Entwicklungsland akzeptie-ren wird, dass diese Regeln in der WTO verankert werden,solange die Regeln der WTO immer noch als letztlich ein-seitig zugunsten der Industrieländer angelegt verstandenwerden. Deshalb werden wir in diesem Bereich einenwichtigen Kompromiss zwischen allen Beteiligten veran-kern müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Signalfür eine sich verändernde Welthandelsordnung zugunstender Entwicklungsländer ist das Abkommen der Europä-ischen Union mit den AKP-Staaten. Unser Ministeriumhat die entsprechenden Verhandlungen, vor allen Dingenim Bereich des Handels, federführend geleitet. Ich freuemich, dass ein Abkommen entstanden ist, das unter dengegebenen Bedingungen das Optimum für die Entwick-lungsländer erreichen konnte. Es steht mit den Regelun-gen der WTO in Übereinstimmung und ist gleichzeitigentwicklungspolitisch die beste Lösung. Selbst nach 2008kann es noch lange Übergangsfristen geben, in denen sichdie Märkte der afrikanisch-karibisch-pazifischen Staatengründlich auf das an die Region angepasste Freihandels-abkommen vorbereiten können.Die Verhandlungen waren schwierig. Aber sie habengezeigt, dass Europa und die Entwicklungsländer ein zeit-gemäßes Fundament für eine Wirtschaftszusammenarbeitschaffen können. Ich bin froh und hoffe, dass es möglichsein wird, dass viele Länder dieses Abkommen in Suvaoder an anderer Stelle Anfang Juni verabschieden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierunghat sich bei den Beratungen in Brüssel für die Einbezie-hung von Kuba in das Abkommen der EuropäischenUnion mit den afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländernausgesprochen. Auch wenn Kuba seinen Antrag auf Mit-gliedschaft in diesem Abkommen zunächst zurückgezo-gen hat und bei der Unterschrift unter das Abkommennicht dabei sein wird, sollte die Perspektive der Mitglied-schaft in diesem Abkommen nicht aufgegeben werden.
Schon als ich Europaabgeordnete und zuständig fürMittelamerika war, war es meine feste Überzeugung, dassdas Prinzip der regionalen Kooperation friedens- undwohlstandsfördernd ist. Genau diesen Integrationsansatzin Bezug auf regionale Wirtschaftspartnerschaftsabkom-men sieht das neue Abkommen zwischen der EU und denafrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern vor.Diese Grundhaltung leitet auch unser Entwicklungs-programm mit Kuba, wohin ich in den nächsten Tagen rei-sen werde. Bei diesem Entwicklungsprogramm geht esum die Bekämpfung der Wüstenbildung und darum, dassdie arme Bevölkerung eine Chance erhält, die landwirt-schaftlichen Potenziale besser nutzen zu können. Fernergeht es darum, die Kooperation in der Region Mittelame-rika zu fördern.
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul9925
Wir setzen auf einen Wandel durch Zusammenarbeit.Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Diejenigenvon der Opposition, die sich zu diesem Bereich äußern,müssen einfach zur Kenntnis nehmen, was in vielen Inter-views gesagt wird. Selbst BDI-Chef Henkel, der sicher-lich nicht mein enger politischer Freund ist, hat heute ge-sagt, Selbstbeschränkung gegenüber Kuba sei unsinnig.
Ich sage Ihnen: Das war eigentlich auch der alten Bun-desregierung bekannt. Aber sie hat sich, wie in vielen an-deren Fragen auch, nicht daran gewagt. Wir als Bundes-regierung übernehmen unsere Verantwortung;
wir wollen in unserer Entwicklungspartnerschaft Wandeldurch Zusammenarbeit bewirken.Sie haben in vielen Bereichen feststellen können, dasswir versuchen, Frieden durch Partnerschaft und Ent-wicklung zu erreichen. Wir versuchen gleichzeitig im en-geren Sinne unserer entwicklungspolitischen Arbeit,Krisenindikatoren einzubauen, damit Konflikte frühzeitigerkennbar werden. Wir verwirklichen den Zivilen Frie-densdienst. Wir arbeiten im Bundessicherheitsrat im Sin-ne einer restriktiven Waffen- und Rüstungsexportpolitikund wir wollen vor allen Dingen dazu beitragen, dass dieAnhäufung von Kleinwaffen in der Welt endlich beendetwird.
Diese Waffen, die oft ursprünglich aus Europa kommen,befördern aufgrund ihrer leichten Handhabbarkeit denEinsatz von Kindersoldaten, gegen den wir auf allen Ebe-nen eintreten.Wir wollen mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropaebenso wie in der Region des Kaukasus einen Beitrag zurVölkerverständigung und zum Frieden leisten.Sie sehen, dass die Aufgaben, die vor uns liegen, um-fassend und umfangreich sind. Sie haben mit dem Kernunserer politischen Arbeit zu tun, um den es augenblick-lich in allen Bereichen geht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchteich noch sagen: Alles, was wir tun, muss sich daran ori-entieren, was wir für die Kinder, die nach uns leben wer-den, erreichen können. Sie sollen lernen können, statt zurKinderarbeit gepresst oder als Kindersoldaten miss-braucht zu werden. Sie sollen Hoffnung und Chancen ha-ben. Noch immer sterben weltweit 11 Millionen Kindervor dem 5. Lebensjahr.Mancher von Ihnen war dabei, wenn ich in afrikani-schen oder anderen Ländern war und Schulen eröffnethabe, die mit deutscher Unterstützung gebaut wurden.Wenn ich den Kindern in die Augen sehe, muss ich an et-was denken: Als ich zur Schule gegangen bin, waren dieSchulen bei uns noch zerstört. Als ich in die Schule ge-gangen bin, waren wir auf internationale Solidarität ange-wiesen. Ich bin stolz darauf und freue mich, dass unserLand, das selbst internationale Solidarität empfangen hat,heute einen Beitrag dazu leisten kann, dass Menschen inanderen Regionen der Welt, dass die Kinder dieser Weltvon uns Solidarität empfangen können.
Ich habe mit Johannes Rau, dem Bundespräsidenten,der in diesen Fragen sehr engagiert ist, begonnen undmöchte mit ihm abschließen. Er hat gesagt:Die nächste Generation wird uns daran messen, wieweit wir der wichtigsten Aufgabe ... gerecht gewor-den sind: Weltweit eine Kultur des Friedens und derGerechtigkeit zu schaffen!Wir sind entschlossen, unsere Verantwortung wahrzuneh-men.Ich bedanke mich herzlich.
Ich erteile dem Kolle-
gen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungser-klärung sollte den Titel „Frieden braucht Entwicklung“haben. In diesem Zusammenhang kann man nur feststel-len: Frieden braucht auch Solidarität, aber Solidaritätverweigert diese Bundesregierung den armen Menschen,den Benachteiligten auf dieser Erde.
Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass der Bun-deskanzler heute Morgen hier ist.
Aber der Bundeskanzler ist für die Erfüllung der aufdem Kölner G7-Gipfel beschlossenen Verpflichtung ver-antwortlich, die öffentlichen EntwicklungshilfemittelDeutschlands zu steigern. Das Gegenteil ist der Fall. DieMittel werden in der mittelfristigen Finanzplanung umrund 1 Milliarde DM gekürzt.
Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.
Der Bundeskanzler hat übrigens in die Debatte einge-führt, dass es, was Fachkräfte betrifft, eine stärkere inter-nationale Kooperation geben sollte. Gleichzeitig aberkürzt die Regierung – Inder sind ja im Moment stark imGespräch – die Anzahl der Stipendienplätze für die Zu-sammenarbeit mit indischen ingenieurwissenschaftlichen
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul9926
Instituten. Dies betrifft also gerade die Leute, mit denenwir in Wissenschaft und Wirtschaft stärker zusammenar-beiten wollen. Auch hier gibt es also ein Auseinander-klaffen von Anspruch und Wirklichkeit.
Eins hat mich dann doch ein bisschen gewundert, FrauMinisterin. Sie haben viel über die Weltbank und die in-ternationalen Finanzorganisationen gesprochen – alles inOrdnung; darüber müssen wir auch viel reden –, aber überdie deutschen Durchführungsorganisationen, über dievielen, die sich in Deutschland für die Entwicklungspoli-tik engagieren, haben Sie kein Wort verloren – kein Wortüber die Nichtregierungsorganisationen, kein Wort überdie Kirchen, kein Wort über die politischen Stiftungen. Esist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass über dieseDinge überhaupt nicht gesprochen worden ist.
Man will nämlich durch die so genannte Internationali-sierung der Argumentation verschleiern, dass man dendeutschen Durchführungsorganisationen, den staatlichenund nichtstaatlichen, nicht die ausreichenden Mittel zurVerfügung stellt, die für eine internationale Solidaritätnotwendig wären. Das ist der entscheidende Punkt.
Nun, Frau Ministerin, haben Sie darauf hingewiesen,dass Sie die Zahl der Kooperationsländer verringernwollen. Möglicherweise – das werfe ich Ihnen gar nichtvor – sind Sie nicht über alle Details in Ihrem Hause in-formiert, aber klar ist: Wenn Sie sich einmal die Mühegemacht hätten, sich die Rahmenplanung, also das opera-tive Geschäft Ihres Ministeriums der letzten Jahre anzu-schauen, dann hätten Sie festgestellt, dass wir nie mehr alsetwa 68 oder 70 oder 72 Länder in dieser Rahmenplanunghatten, also das, was Sie uns jetzt als großen Erfolg ver-kaufen wollen.Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wich-tiger ist die Katalogisierung, die Klassifizierung, die Sievornehmen. Die ist außenpolitisch schädlich, und sie istdarüber hinaus noch amateurhaft.
Sie ist nämlich rein willkürlich. Oder wie können Sie je-mandem erklären, dass Georgien Schwerpunktland ist,während Aserbaidschan und Armenien es nicht sind?Diese Klassifizierung ist doch widersprüchlich.Da erklären Sie hier große Dinge zu Nigeria, plädierendafür, dass ein wichtiges afrikanisches Land möglicher-weise Mitglied der Weltsicherheitsrates wird, aber Nige-ria, wo der Außenminister bei seinem Besuch einengroßen Kooperationsmechanismus angekündigt hat,taucht in Ihrer Liste unter 1 und 2, also unter den Schwer-punktländern, gar nicht auf.Noch grotesker wird es bei Simbabwe.Wir haben be-reits am 29. Oktober des letzten Jahres die Bundesregie-rung gedrängt, dass sie entschieden gegen das Mugabe-Regime vorgeht. Nichts haben Sie getan, sondern erstjetzt im April, da es in Simbabwe wirklich brennt, habenSie endlich auf dem Afrikaforum der deutschen Wirt-schaft politisch die deutlichen Worte gefunden, die auchin Ordnung sind, sowohl was den Bundeskanzler als auchwas Sie, Frau Ministerin, anbetrifft. Das war in Ordnung,aber vielleicht hätten Sie schon vor einem halbenJahr deutlich Ihre Initiativen starten können, um HerrnMugabe in seinen Aktionen zu bremsen.Jetzt kommt aber wieder ein kritischer Punkt: Sim-babwe, jahrzehntelang ein Schwerpunktland deutscherZusammenarbeit, taucht ebenfalls unter den Schwer-punktländern in Ihren Kategorien überhaupt nicht auf.Wie müssen das eigentlich die Menschen in Simbabweverstehen? Wie muss das eigentlich die Opposition inSimbabwe verstehen? Wir müssen eine Politik machen,die sich gegen Mugabe richtet, aber nicht gegen die Be-völkerung in Simbabwe, und da setzen Sie mit Ihrer Klas-sifizierung das falsche Zeichen.
Es gibt ohnehin keine klaren, erkennbaren Kriterien.Dass bei Kuba gewisse alte Reminiszenzen wach werden –gut, das ist Ihre Geschichte.
Damit habe ich persönlich keine Probleme. Wenn HerrHenkel dafür plädiert, frage ich: Wer hindert die deutscheWirtschaft daran, wenn sie das für richtig hält, sich inKuba wie auch in anderen totalitär regierten Ländernwirtschaftlich zu engagieren? Das ist deren Entscheidung.Es geht aber darum, dass die Bundesregierung plant, eineoffizielle staatliche Zusammenarbeit mit Kuba aufzuneh-men,
und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kriterien:marktwirtschaftliche Öffnung, Respektierung des Rechts,Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Ent-scheidungsprozessen. Nichts dergleichen ist in Kuba er-kennbar. Nein, die Bundesregierung erklärt im zuständi-gen Fachausschuss ausdrücklich, die Menschenrechtssi-tuation in Kuba habe sich in den letzten Monatenverschlechtert. Was soll das eigentlich? Sie sagen uns im-mer, Ihre Kriterien seien die Voraussetzungen für die Zu-sammenarbeit mit einem Land. Wenn die Vorausset-zungen aber nicht erfüllt sind, dann können Sie doch miteinem solchen Land keine staatliche Entwicklungszusam-menarbeit aufnehmen.
Stärken Sie die Kräfte der so genannten Bürgergesell-schaft, der Zivilgesellschaft! Stärken Sie die Kirchen!Stärken Sie die Nichtregierungsorganisationen in Kuba,
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Klaus-Jürgen Hedrich9927
die darauf hinwirken können, dass sich eines Tages auchdieses Land auf den Weg zur Demokratie macht!In der Klassifizierung ist nicht erkennbar, nach wel-chen Kriterien sie vorgegangen sind. Nehmen wir einLand wie Paraguay. Viele wissen gar nicht genau, wo esliegt.
– Immer mit der Ruhe, Sie können gleich ein paar Be-merkungen dazu machen.Nachdem Paraguay den Weg der Demokratie gegangenist, haben wir uns ganz bewusst – übrigens einvernehm-lich im zuständigen Fachausschuss – dafür entschieden,die Zusammenarbeit mit Paraguay aufzunehmen. Jetzttaucht Paraguay in der Gesamtliste überhaupt nicht mehrauf. Aber die Bundesregierung verweigert die Auskunftdarüber, warum das so ist. Man wird doch wohl nachfra-gen dürfen, warum bestimmte Länder in der Liste stehenund bestimmte Länder nicht.
Die Ministerin hat lang und breit auf die Zusammen-arbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und desPazifik Bezug genommen. Sie hat im Vorfeld dieser Ver-handlungen erklärt, für die Bundesregierung sei es klar,dass das Prinzip der guten Regierungsführung – oder aufNeuhochdeutsch: Good Governance – unverzichtbar sei.Dieses Prinzip taucht aber im Vertragswerk gar nicht auf.Auf die konkrete Frage, warum das so ist, bekommen wirdie Antwort – übrigens auch vom zuständigen EU-Kom-missar, Herrn Poul Nielson in Brüssel –: Die afrikani-schen Länder haben damit Probleme, weil der Eindruckerweckt werden könnte, man würde Bedingungen, alsoKonditionalität für die Zusammenarbeit zugrunde legen.Genau das ist aber das, worüber wir uns im Parlamentimmer einig waren: Wenn in einem Land die Rahmenbe-dingungen nicht stimmen, dann ist eine umfangreiche Zu-sammenarbeit nicht möglich.
Dies nicht in ein Vertragswerk zu schreiben, muss Mugabeund andere ermutigen, weil sie damit rechnen können,dass es die Europäer nicht so ernst nehmen. Damit wer-den völlig falsche Zeichen gesetzt.Ein Letztes, was Sie zu Recht angesprochen haben,Frau Ministerin, ist die Problematik der sich ständig wei-ter verbreitenden Krankheit Aids. Es ist leider nicht daseinzige Problem, aber ein sehr ernst zu nehmendes. Es istübrigens – wir sollten uns vor einer gewissen Arroganzhüten – inzwischen nicht mehr nur ein Problem Afrikas.Uns werden dramatische Zahlen aus Südostasien, geradeaus dem indischen Subkontinent, berichtet. Wir hörendramatische Zahlen auch aus Osteuropa. Es ist richtig,dass Sie sich um dieses Problem kümmern wollen. IhreHaushaltszahlen besagen aber wieder genau das Gegen-teil. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Sie verkündendas eine und tun nicht das, was Sie sagen. Das ist schäd-lich für die Menschen in unseren Partnerländern der Drit-ten Welt.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Kollege Hedrich, aus Zeiten, in denen wir noch inder Opposition waren, habe ich entwicklungspolitischeDebatten sehr gut in Erinnerung. Ich kann mich nicht da-ran erinnern, dass damals vonseiten der Opposition überein Gebiet, das so sensibel ist, in einer derart konfrontalenArt und Weise diskutiert worden ist. Wir sollten auf die-sem Gebiet all unsere Kräfte bündeln, um die Politik ge-meinsam voranzutreiben,
aber hier nicht in kleinkarierter Weise aufrechnen, wie Siees getan haben. Dies kann ich jedenfalls nicht nachvoll-ziehen.Die internationale Solidarität und besonders die So-lidarität mit den armen Ländern war und ist immer eineWurzel des Engagements der Grünen. Ohne die zahllosenMenschen in den NGOs, in den kirchlichen Gruppen, inden Dritte-Welt-Initiativen, deren Arbeit von unschätzba-rem Wert war und ist, gäbe es den alten – auch grünen –programmatischen Satz „global denken, lokal handeln“eigentlich nicht, nach dem wir heute unsere Entwick-lungspolitik mehr und mehr ausrichten. Keines der globa-len Zukunftsprobleme wird ohne internationale Zusam-menarbeit zu bewältigen sein.Noch sind wir – darüber besteht wohl Einigkeit – vonder Umsetzung international akzeptierter Ziele weit ent-fernt, die in allererster Linie folgende sind: die Armut ent-scheidend zu senken, die Grundvoraussetzungen in denBereichen Bildung und Gesundheit zu schaffen und – dasist mir besonders wichtig – nachhaltiges Wachstum zu si-chern, ohne die globalen Umweltressourcen zu ruinieren.
Wenn wir in unserem Land die regenerativen Ener-gien – Sonne, Wind und Wasser – in unvergleichlicherWeise fördern, dann ist das für uns gut. Aber eine solcheFörderung wirkt sich noch viel segensreicher auf die Ent-wicklungsländer aus, weil die Nutzung dieser regenerati-ven Energien und die Anwendung daran angepassterTechniken dort Motor für eine ökonomische Entwicklungsein können und die globalen Umweltressourcen bewah-ren können.
Die Entwicklungspolitik leistet aufgrund ihrerlangjährigen Erfahrung mit anderen Kulturen, Gesell-schaften und politischen Systemen einen unerlässlichenBeitrag zu einer ökologisch und sozial ausgeglicheneren
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Klaus-Jürgen Hedrich9928
Entwicklung in den Ländern, mit denen wir zusammenar-beiten.Wo müssen wir weiterarbeiten? Auf welche Bereichemüssen wir unsere Arbeit noch stärker fokussieren? Wirmüssen die Verschuldung der Entwicklungsländer nochsehr viel stärker senken. Der Bundeskanzler hat in Kölnund in Kairo in diesem Punkt mit Entschuldungsinitiati-ven, die es in diesem Umfang schon lange nicht mehr ge-geben hat, erfolgreich Zeichen gesetzt. Wir ermutigen ihn,auf diesem Weg weiterzugehen.
Wir müssen begreifen, dass Umweltprobleme nicht anden Grenzen Halt machen. Die Vereinbarung internatio-naler Umweltabkommen ist ohne Alternative, wie bei-spielsweise in den Bereichen Klimaveränderung, Erhaltder biologischen Vielfalt und Kampf gegen das Vordrin-gen der Wüsten. Das alles sind Beispiele für Aufgaben,die vor uns liegen. In diesen Bereichen sichert Umwelt-politik Räume für Menschen, und zwar für ihre unmittel-bare Existenz. Dadurch hat sie dort noch eine ganz andereBrisanz als bei uns.
Die Umweltabkommen müssen mit den Entwicklungs-ländern umgesetzt werden. Die Lösung von Umweltpro-blemen, ohne beispielsweise China und Indien ins Boot zuholen, ist schlechterdings unmöglich. Wer diese Ländergewinnen möchte, muss allerdings auch im eigenen Landbeispielhaft handeln. Die Regierungskoalition geht diesenWeg.Wir brauchen aber auch ein verbessertes Handels-system mit sozialen und ökologischen Normen, dieauch den Entwicklungsländern mehr Chancen zur Teil-nahme bieten. Entwicklungsländer müssen – darauf hatdie Ministerin hingewiesen – etwa im Bereich der Land-wirtschaft Mehreinnahmen erzielen können. Wir müssenWege finden, die Erkenntnisse der modernen Medizinauch für die nutzbar zu machen, die sie heute noch nichtbezahlen können.
Die Bekämpfung von Aids, Malaria und Seuchen ist –auch darüber besteht Einigkeit – eine Aufgabe, die wir in-tensivieren müssen. Die Bundesregierung wird weitereinternationale Initiativen ergreifen, so wie sie es bereitsgetan hat.Man braucht zur Arbeit an diesen zentralen Zukunfts-fragen einen langen Atem. Die grüne Fraktion, die grüneMinisterin, unsere Parlamentarische StaatssekretärinUschi Eid und die Bundesregierung insgesamt haben ihn.Wir wünschen uns an diesem Punkt das gleiche nichtnachlassende Engagement.Danke schön.
Kollege Schlauch, es
hätte eine Zwischenfrage gegeben, aber deren Beantwor-
tung ist nun nicht mehr möglich.
Ich erteile dem Kollegen Joachim Günther, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlauch,auch Ihnen ist bekannt, dass die Ministerin noch nichtMitglied der Grünen ist; andernfalls haben wir etwas ver-passt.
„Frieden braucht Entwicklung“, so lautet das Themaunserer heutigen Debatte. Ich glaube, diesem Thema kön-nen wir alle zustimmen. Wer dieses Ziel erreichen will,der muss dafür Voraussetzungen schaffen. Aus dieserSicht habe ich in einigen Unterlagen nachgeschaut. FrauMinisterin, ich habe bewundert, mit welchem Elan Sie indiese Legislaturperiode hineingegangen sind und welcheZielstellungen Sie sich für diesen Abschnitt vorgenom-men haben. Im Koalitionsvertrag, der vor eineinhalb Jah-ren von Rot-Grün geschlossen worden ist, steht in der Ru-brik „Entwicklungspolitik“ wörtlich:Um dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Zielnäher zu kommen, wird die Koalition den Abwärt-strend des Entwicklungshaushaltes umkehren undvor allem die Verpflichtungsermächtigungen konti-nuierlich und maßvoll erhöhen.Das ist aus heutiger Sicht reine Satire.
Auch die Ankündigung im Koalitionsvertrag, manwolle Hermes-Bürgschaften zukünftig nach ökologi-schen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichts-punkten gewähren, ist eine Art Zynismus. Man möge mirbitte erklären, wie Hermes-Bürgschaften für die Ausrüs-tung von Kernkraftwerken mit rot-grünem Ökologiever-ständnis in Einklang gebracht werden können oder wasdie Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudamms inChina, der die Zwangsumsiedlung von Hunderttausendenvon Menschen zur Folge hat, mit sozialen und entwick-lungsverträglichen Kriterien zu tun hat.
– Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin ja dafür, dasssolche Atomkraftwerke und solche Projekte, die techni-schen Fortschritt schaffen, auch in Zukunft mit Her-mes-Bürgschaften abgesichert werden. Ich bin aber dage-gen, dass ein Teil der Grünen damit Polemik betreibt, so-dass wir am Ende als diejenigen dastehen, die dieseEntwicklung stoppen wollen. Darin besteht der Unter-schied.
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Rezzo Schlauch9929
Während Ihr Haushalt – das muss man einmal so sagen –nicht nur mit der Heckenschere, sondern leider auch mitder Motorsäge zusammengestutzt wurde, währendBeiträge zu internationalen Organisationen wie dem Welt-entwicklungsprogramm UNDP oder dem Kinderhilfs-werk UNICEF drastisch gekürzt werden, verkündet dieMinisterin unverdrossen die deutsche Verantwortung fürweltweite Solidarität und für globale Zukunftssicherung.Das ist zwar von der Sache her richtig, es sind sich aberalle einig: Wir müssen Schwerpunkte finden. Sie habenheute einige dieser Schwerpunkte angesprochen.Wir sollten uns einig sein: Entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit muss darauf hinauslaufen, dass die ent-sprechenden Staaten unabhängig von der Entwicklungs-hilfe werden. Die Pflege der Zusammenarbeit zwischenden entwickelten Staaten ist dann jedoch im Verantwor-tungsbereich der Außenpolitik zu sehen. Eine Vielzahlvon ehemaligen Entwicklungsländern, die heute keineHilfe von außen mehr benötigen, bestätigen Ihnen eigent-lich diese These.Entwicklungspolitik kann immer nur einen komple-mentären Beitrag zur Außen- und Sicherheitspolitik leis-ten.
Die F.D.P.-Fraktion hat deshalb den Antrag gestellt, demBeispiel anderer großer Geberländer zu folgen und dasBMZ und das AA zusammenzulegen. Wenn man Ihrejüngsten Reden liest und Ihre heutige Rede sehr aufmerk-sam verfolgt hat, Frau Ministerin, dann kann man ja auchden Eindruck gewinnen, dass das AA zum BMZ kommt.Das würde zwar gut zur Politik von Herrn Fischer passen;aber ob Sie das erreichen, dessen bin ich mir noch nichtsicher.Anstatt die Chancen der Globalisierung für die Ent-wicklungsländer herauszustreichen und zu nutzen, warbis vor kurzem noch vor ihren „negativen Trends undAuswirkungen“ gewarnt worden. Heute sprachen Sieschon vom Nutzen der Globalisierung. In einer Ihrer letz-ten Grundsatzreden sprachen Sie vom „internationalenSpekulationskapitalismus“. Wenn ich diese Aussagensehe, dann muss ich sagen, dass das eigentlich Klischeesder 70er-Jahre sind, über die wir hinaus sind. Damals ginges um die „neue Weltwirtschaftsordnung“. Das wurdeüberwunden. Heute sprechen Sie von gerechter Weltord-nungspolitik. Ich glaube nicht, dass wir mit dem BMZ dieUmkehrung der internationalen Einflüsse erreichen kön-nen.Wir sollten uns darauf besinnen, unsere Strukturrefor-men mutig anzugehen. Wir sollten im Endeffekt dafür sor-gen, dass Themen wie gute Regierungsführung, Men-schenrechtskonditionen, Eigenverantwortung, Deregulie-rung, Schwerpunktsetzung – diese Themen haben wir alsPartei schon in unser Programm hineingebracht; Sie ha-ben sie heute auch genannt – in den Mittelpunkt gerücktwerden. Gefehlt hat mir aber der zweite Teil: Zur interna-tionalen Zusammenarbeit gehören auch Freihandel undmarktwirtschaftliche Strukturen. Diese Themen stehenbereits im Mittelpunkt unserer entwicklungspolitischenLeitlinien. Anders wird man eine Entwicklung dieser Län-der nicht erreichen können.
Immerhin sehen wir mit Genugtuung, dass einige un-serer Ideen von Ihnen aufgegriffen worden sind, zum Bei-spiel die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unterneh-men in der Entwicklungspolitik. Bis vor kurzem war dieIdee Gewinn bringender Entwicklungsprojekte noch einunantastbares Tabu. Wir wissen aber, dass sie von hohementwicklungspolitischen Nutzen sind. Aber Not machtteilweise auch erfinderisch, muss man hier sagen. War esbis vor kurzem noch verpönt, über deutsche Investoren imAusland zu sprechen,
die in der Entwicklungspolitik tätig sind,
so tragen sie heute schon zu einem guten Teil dazu bei, be-stimmte Haushaltslücken zu überbrücken.
Die von Ihnen, Frau Staatssekretärin Eid, angekün-digte regionale Konzentration der Entwicklungspolitikist aus unserer Sicht ein richtiger Anspruch. Ich finde esauch gut, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf70 Partnerländer mit unterschiedlichen Schwerpunktenkonzentriert wurde. Über die Art der Länder und den In-halt kann man sicherlich immer diskutieren.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass wirbei der Entwicklungsfinanzierung künftig noch stärkerauf in- und ausländische Ressourcen zurückgreifen müs-sen.
Durch die stärkere Einbeziehung des Privatsektors in Fi-nanzierung und Betrieb von Infrastrukturprojekten kanndie Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit aufallen Gebieten erhöht werden.Wir sehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die F.D.P. wirdnoch vor der Sommerpause ihre entwicklungspolitischenLeitlinien vervollständigen und dann hoffentlich mit allenin einen guten Dialog treten.Danke schön.
Nun erteile ich der
Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit der heutigen Regierungserklärung zur Entwicklungs-zusammenarbeit setzt die Bundesregierung ein positivesSignal; denn erstmals ist die Entwicklungszusammenar-beit überhaupt Thema einer Regierungserklärung in derBundesrepublik.
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Joachim Günther
9930
Es ist ein großer Tag für uns Entwicklungspolitikerinnenund -politiker. So kommen die Entwicklungspolitik undihre Notwendigkeit allmählich in die Köpfe der Men-schen hier. Dies weitet ihren Blick für die weltweiten Pro-bleme; das tut Not.
Kollegin Tröscher,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Nein!
– Weklisch net, würde ich jetzt auf frankfurterisch sagen.Ich möchte jetzt gerne meine Gedanken ausführen. Sieverstehen das sicherlich.
Dies ist Ausdruck für den Stellenwert, den wir, die Ko-alition, der Entwicklungszusammenarbeit beimessen. Esist auch eine gute Gelegenheit, Bilanz der letzten einein-halb Jahre – ich sage eineinhalb Jahre, nicht 16 Jahre – zuziehen, Perspektiven zu verdeutlichen und sich nicht inNörgeleien zu ergehen, Herr Hedrich. Natürlich haben wirin unseren Ausführungen nicht alles erwähnt, was erwäh-nenswert ist. Natürlich sind wir stolz auf unsere Durch-führungsorganisationen, auf unsere Stiftungen und auf dieNROs, ohne die die gesamte Zusammenarbeit nicht denk-bar ist.Wir haben auch dafür gesorgt, dass sie genügend Geld fürdie Projekte bekommen.
Ich danke den NROs, besonders den Kirchen und den Stif-tungen.Sie reden immer über das Geld und über den Haushalt,aber niemals über Strategien. Diese vermisse ich hier sehrbei Ihnen.
– Na, die haben Sie aber auch nicht hineingebracht. Daswar schon ein trauriger Anblick, den man hier hatte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungs-politik der Bundesregierung zeichnet sich dabei vor al-lem durch folgende Punkte aus:Erstens. Entwicklungspolitik gestaltet globale Rah-menbedingungen zugunsten der Entwicklungsländer. Vorallem die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung istein Paradebeispiel für eine erfolgreiche globale Struktur-politik. Natürlich muss sie ausgestaltet werden, aber derAnfang ist gemacht.
Auch die Verknüpfung von Armutsbekämpfung mit derPolitik von Weltbank und Internationalem Währungs-fonds, für die sich die Bundesregierung einsetzte, ist einganz wichtiger Baustein. Dies muss immer betrachtet undbeobachtet werden, damit das auch so bleibt.Zweitens. Entwicklungspolitik wird wieder als aktiveFriedenspolitik gestaltet. Ich verweise hier nur auf unsereInitiativen zum Zivilen Friedensdienst, zu Kindersoldatenund Kleinwaffen, aber auch zur Stärkung der Zivilgesell-schaft und demokratischer Strukturen in Entwicklungs-ländern.
Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für eine effi-zientere und kohärentere EU-Entwicklungspolitik ein. Er-wähnen möchte ich insbesondere die auf den Weg ge-brachten Maßnahmen für eine Reform des EEF, des Eu-ropäischen Entwicklungsfonds, und die Bemühungen umein zukünftiges Lomé-Nachfolgeabkommen. Das wurdeschon von der Ministerin ausgeführt. Ich denke, wir sindhier auf einem guten Weg.Viertens. Entwicklungspolitik ist globale Zukunftssi-cherung. Dies hat die Bundesregierung mit Programmenzum Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildungund der Verbesserung der Welternährung ja auch unterBeweis gestellt; alles übrigens in anderthalb Jahren.
Fünftens. Die Entwicklungspolitik reagiert schnell undflexibel auf Naturkatastrophen und Krisen. Uns allen sindder verheerende Wirbelsturm „Mitch“, das Erdbeben inder Türkei und die Katastrophen in Mosambik noch inErinnerung. Aber auch bei den Hilfen zum Wiederaufbauin Südosteuropa hat die Bundesregierung Handlungs-fähigkeit bewiesen.
Sechstens. Die Entwicklungszusammenarbeit der Bun-desregierung fördert gute Regierungsführung.Siebtens. Frauenrechte werden in der Entwicklungs-zusammenarbeit gestärkt und gefördert.
– Ja, die kommen zu kurz.Achtens. Wir nutzen das Zukunftsprogramm der Bun-desregierung zur Haushaltskonsolidierung auch zur Stei-gerung der Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte diesenacht Punkten noch weitere hinzufügen. Sie kennzeichnendie letzten anderthalb Jahre der Entwicklungspolitik derBundesregierung. Ich möchte an dieser Stelle der Minis-terin für ihr Engagement und ihr ständiges Treiben undauch der Bundesregierung herzlich dafür danken, dass wirschon so weit gekommen sind.
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Adelheid Trösche9931
Dies ist bedeutend mehr als das, was die Opposition indieser Woche als entwicklungspolitische Leitlinien vor-gestellt hat. Ich dachte, ich hörte hier heute ein wenigmehr. Es handelte sich eher um Nachrichten aus demRüttgers-Klub:
vollmundig im Titel, aber inhaltlich konzeptionslos, in-konsequent, widersprüchlich und provinziell.Erstens kritisiert die Union allen Ernstes unserBemühen zur Haushaltskonsolidierung. Richtig ist, dassdas BMZ wie alle anderen Ressorts einen Sparbeitrag zurHaushaltskonsolidierung erbringen musste.
Wäre die Vorgängerregierung – ich bin es eigentlich leid,das immer wieder zu sagen – mit den öffentlichen Mittelngenauso verantwortungsbewusst umgegangen wie wir dasjetzt tun, stünde auch die Entwicklungspolitik besser da.
Ich kann diese Leier einfach nicht mehr hören! Ich warteauf neue Konzeptionen.
– Dann hören Sie doch auf damit!Wie die Pläne der Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul zeigen, sind diese Einschnitte durchauseine Chance, die Wirksamkeit der Entwicklungszusam-menarbeit zu steigern. Gerade die angestrebte Konzentra-tion in der bilateralen Zusammenarbeit auf Schwerpunkt-länder, die besonders unserer Hilfe bedürfen, ist ein gutesBeispiel dafür, wie man mehr Effizienz erreichen kann.Natürlich kann man an der Länderliste noch herumnör-geln – das eine passt dem einen nicht, das andere dem an-deren nicht –, aber gezielte Maßnahmen machen mehrSinn, als dass jeder Geber alles überall macht.
Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen bilateralen Ge-bern, EU und multilateralen Nationen ist daher notwen-dig. Dies entspricht auch einer schon vor langer Zeit er-hobenen Forderung aus dem Parlament: nicht Gieß-kanne, sondern Konzentration. Frankreich hat übrigens50 Schwerpunktländer. Bei uns hätte dies schon längst ge-schehen müssen. Wenn Sie entsprechende Vorschläge inder Schublade hatten, Herr Hedrich, dann frage ich mich,warum Sie sie nicht umgesetzt haben.
Zweiter Punkt. Die Union kritisiert die Aufnahme derstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Oderwie es der Kollege Hedrich ausdrückt – so war es jeden-falls im Berliner „Tagesspiegel“ nachzulesen –, die Mi-nisterin solle nicht nach Kuba reisen, denn damit stärkesie bewusst das kubanische Gewaltregime.
Dann, Herr Kollege Hedrich, stärken auch Kirchen,politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen,die sich auf Kuba engagieren, das kubanische Gewaltre-gime. Dann stärken auch der Kollege Kraus, der KollegeGünther und ich, die Kuba besucht haben, das Gewaltre-gime. Wir waren im Januar auf Kuba und haben ganzdeutlich gegen die Verletzungen der MenschenrechteStellung bezogen. Wir waren gemeinsam der Ansicht,dass ein Wandel nur geschehen kann, wenn sich unsereLänder annähern. Heute morgen haben wir schon gehört,was Herr Henkel in diesem Zusammenhang gesagt hat.Erst vor wenigen Wochen hat die Bundesregierungeine Altschuldenregelung mit Kuba getroffen. So werdenHermes-Bürgschaften erst möglich. Erst jetzt wird sichdie deutsche Wirtschaft auf Kuba engagieren. Vorher hatsie es nicht getan.Richtig ist: Ohne politische und wirtschaftliche Refor-men und eine sie von außen unterstützende Politik wird esauf Kuba keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Ver-besserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölke-rung geben.
Nachhaltige Entwicklung braucht die unterstützende Po-litik von außen. Das gilt auch für viele andere Entwick-lungsländer. Ich denke, wir sind hier auf einem gutenWeg. Im Übrigen: Andere EU-Staaten und Kanada versu-chen schon seit langem, besseren Kontakt zu Kuba herzu-stellen.
Es gibt außerdem eine UN-Resolution gegen das Em-bargo der USA. Ich denke, wir sollten uns dieser Initiativejetzt aktiv anschließen.
Dritter Punkt: ziviler Friedensdienst. Die Union be-klagt ihn als Musterbeispiel für Effekthascherei, der nichtzur langfristigen Wahrung unserer Interessen beitrage.Das Gegenteil ist der Fall. Denn wir begreifen Entwick-lungspolitik auch als aktive Gestaltung von Friedenspoli-tik. Da spielt das neue Instrument des zivilen Friedens-dienstes eine gewichtige Rolle, weil wir durch speziellausgebildete Fachkräfte vor Ort einen Beitrag zur Media-tion und Vermittlung leisten wollen.
In diesem Bereich sind die NROs besonders engagiert.Wir unterstützen sie bei der Gestaltung dieses aktivenFriedensdienstes.Vierter Punkt. Welch ein Unsinn, der BundesregierungRessortscheuklappen vorzuwerfen! Wir waren es doch,die jahrelang gefordert haben, Entwicklungspolitik als
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Adelheid Trösche9932
Querschnittsaufgabe zu definieren und zu einer kohären-ten Verankerung dieses Politikfeldes zu kommen. Unserezahlreichen Anträge dazu haben Sie alle abgelehnt.Fünfter Punkt. Das starre Korsett der Struktur desEinzelplanes 23 müsse reformiert werden. Ich erinneremich an viele Diskussionen und Debatten, in denen derKollege Schuster immer wieder auf diesen Punkt hinge-wiesen hat. Wir haben gemeinsam für Reformengekämpft. Da klingt es schon abenteuerlich, wenn derKollege Hedrich vom Saulus zum Paulus wird. Sie habenjahrelang die Chance für wirksame Reformen vertan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Die Leitlinien der CDU sind vor allem aus einemGrund schlimm: Nicht nur, dass wichtige Entwicklungender entwicklungspolitischen Diskussion nicht aufgegrif-fen werden, dass Armutsbekämpfung und soziale Gerech-tigkeit kaum Gewicht erhalten und Gender- und Gleich-berechtigungsfragen überhaupt nicht thematisiert werden,nein, am Schlimmsten ist eigentlich, dass das Wort„Frauen“ überhaupt nicht vorkommt.
Wer aber entwicklungspolitische Prozesse positiv ge-stalten will, der kommt nicht daran vorbei, festzustellen,dass es die Frauen sind, die den Schlüssel für eine nach-haltige Entwicklung in den Händen halten.
Insofern hat das Papier der CDU wahrlich Rüttgers-Ni-veau. Es ist inkonsequent und widersprüchlich, enttäu-schend dünn und inhaltlich konzeptionslos.
Kollegin Tröscher, Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.
Ich komme zum Schluss.
Wir vollziehen mit der heutigen erstmaligen Regie-
rungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit einen
symbolischen Akt. Die Entwicklungspolitik steht, wie an-
dere Politikfelder auch, vor der Aufgabe, ihre Rolle im
Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Ihre
gesellschaftliche und internationale Akzeptanz hängt von
einer realistischen Einschätzung ihrer Reichweite ab.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Das haben wir
schon bis jetzt gemacht; wir sollten es auch weiterhin tun.
Danke sehr.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Erika Reinhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
In den Reden hier ist
immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, dass man
mit Kuba nun endlich eine wirtschaftliche Zusammenar-
beit beginnt. Jetzt habe ich doch einmal die Frage, ob denn
Ihre Anträge, die Sie einmal gestellt haben, noch gelten.
So haben Sie damals in einem Antrag die Regierung
aufgefordert, zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein,
weil das als Unterstützung der Diktatur verstanden wer-
den könne. Allenfalls, so heißt es weiter, könnten Projekte
– insbesondere über Nichtregierungsorganisationen –
gefördert werden, die direkt der Not leidenden Bevöl-
kerung, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften
und Reformen zugute kommen. In jedem Fall müsse die
Demokratisierung vorangehen.
All diese Punkte sind bis jetzt nicht erfüllt. Deshalb
stellt sich für mich schon die Frage: Haben Ihre eigenen
Worte noch Geltung?
Kollegin Tröscher,
Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Ich kann das kurz
machen. – Der Antrag, den Sie zitieren, ist vielleicht vor
100 Jahren gestellt worden. Aber es gibt ja Ent-
wicklungen, denen wir uns öffnen. Zu Kuba haben wir
jetzt einen Antrag gestellt, der dem von Ihnen zitierten di-
ametral entgegensteht. Ich kenne den Antrag, den Sie zi-
tiert haben, nicht.
Wir unterhalten auch Beziehungen zu vielen anderen
Staaten – insbesondere afrikanischen –, die Diktaturen
sind. Wir hoffen, durch Zusammenarbeit, durch Entwick-
lung der Zivilgesellschaft eine Annäherung zu erreichen
und dazu beizutragen, dass sich diese Länder demokrati-
sieren. Diesen Freiraum wollen wir nutzen. Das tun wir
im Falle Kuba in der nächsten Zeit.
Auch bei Ihnen gibt es viele, die so denken wie wir,
was das Embargo der USA gegenüber Kuba und die Ent-
wicklungsmöglichkeiten dort anbelangt. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg und sollten der Ministerin
Glück wünschen, damit sie ein Stück weiterkommt.
Nun hat Kollege
Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich kann bei sehr vielem andas anknüpfen, was die Frau Ministerin hier ausgeführthat, und will das mit meinen Intentionen machen.Für mich ist sicher, dass das krasse Missverhältnis zwi-schen Armut und Reichtum, zwischen Einfluss undOhnmacht, zwischen kultureller Dominanz und der Zer-störung nationaler Kulturen auf Dauer nicht aufrechtzuer-halten ist – und, so will ich dazu setzen, auch nicht
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Adelheid Trösche9933
aufrechterhalten werden darf. 1,4 Milliarden Menschen –jeder Vierte – leben heute unterhalb der Armutsgrenze,aber das Vermögen der drei reichsten Männer der Welt istgrößer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Län-der. Diese 48 Länder, in denen ein Zehntel der Weltbe-völkerung lebt, haben einen Anteil von nur 0,3 Prozent amWelthandel; der ganze afrikanische Kontinent 1,1 Pro-zent. Die Länder der so genannten Dritten Welt sind mit2 170 Milliarden US-Dollar verschuldet.Ich finde, wer von Armut spricht, darf über Reichtumnicht schweigen. Dieser Teil fehlte etwas in der Rede derMinisterin;
deswegen will ich das ergänzen: Täglich werden Devisenmit einem Gegenwert von 1,5 Billionen US-Dollar aufden Finanzmärkten umgesetzt, was etwa dem Gesamtvo-lumen der Devisenbestände aller Zentralbanken der Weltentspricht. 97 Prozent dieser Umsätze haben nichts mitProduktion zu tun, sondern sind rein spekulativ, und80 Prozent der Kapitalbewegungen haben eine Anlage-dauer von weniger als sieben Tagen.Oder werfen wir einen Blick auf die ständig wachsendeMacht der transnationalen Konzerne: 10 Prozent aller Be-schäftigten auf der Erde – die Landwirtschaft ausgenom-men – arbeiten bei einem der 44 000 transnationalen Un-ternehmen. Das Volumen der weltweiten Übernahmenund Fusionen betrug 1999 3,1 Billionen Dollar.All dies lastet besonders auf den Menschen der so ge-nannten Dritten Welt. Dies sind die Probleme der Ent-wicklung. Wenn sie nicht gelöst werden, drohen viele derKonflikte in gewaltsame Auseinandersetzungen umzu-schlagen.34 Kriege wurden schon 1999 gezählt. Denken wir ge-meinsam an Angola, Kongo, Äthiopien, Eritrea, denkenwir an die Kaschmir-Region oder den Kaukasus.Soziale Wohlfahrt und ökologische Vernunft sind auchein Weg, um Krieg zu vermeiden und Gewalt zu bekämp-fen – ich finde, der beste Weg.
Vieles von dem, was ich angesprochen haben, wird inden armen Zonen der Welt ausgetragen, hat aber seine Ur-sachen in der Politik der reichen Zonen der Welt. Ich habeden Eindruck, dass zwei Begriffe für fast alles Unver-nünftige zur Rechtfertigung herangezogen werden: „Glo-balisierung“ und „Markt“.Oder zusammengezogen: dieBedingungen der globalisierten Märkte. Nur stehen hinterden anonymen Begriffen „Globalisierung“ und „Markt“konkrete Interessen. Auch über diese darf man nichtschweigen.Frieden durch Entwicklung bedarf einer anderenAußenpolitik. Sie muss auf wirtschaftlichen Ausgleich,auf Recht und Zivilität setzen. Frieden und Entwicklungfordern eine Veränderung der Politik des InternationalenWährungsfonds und der Weltbank, Schuldenerlass undeine stärkere Regulierung der internationalen Finanz-märkte. Seitdem ein bestimmter Kollege in diesem Par-lament fehlt, werden ja diese Probleme auch von denRegierungskoalitionsparteien nicht mehr angesprochen,was ich bedauere. Beides bedauere ich, will ich dazu sa-gen.
– Ich habe den Namen nicht genannt. Ihr wisst ja, wen ichmeine.Wer Frieden durch Entwicklung will, darf sich aus mei-ner Sicht nicht an Rüstungsexporten beteiligen. Das wi-derspricht dem.Frieden durch Entwicklung verträgt sich aus meinerSicht nicht mit einer unipolaren Welt, in der die USA daserste und das letzte Wort haben. Wenn sich Frieden durchEntwicklung durchsetzen soll, muss sich die Politik än-dern, auch und gerade ,wie ich finde, die Außenpolitik un-seres Landes.Ich möchte abschließend zwei kurze Bemerkungen zuden vorliegenden Anträgen machen. Zuerst will ich einDilemma ansprechen, das ich bei dem Entschließungs-antrag Regierungsfraktionen sehe. Erstens stellen wir inRechnung, dass wir eine in dieser Frage engagierteMinisterin haben.
Wir wollen nicht, dass die Widerstände gegen sie größerwerden. Sie hat genügend Probleme, auch in ihrer Partei,sich durchzusetzen.
– Das weiß man doch.Zweitens: Der Antrag ist analytisch gut und in seinen For-derungen mehrheitlich vernünftig. Wenn Sie etwas weni-ger Eigenlob hineingeschrieben hätten – lassen Sie sichdoch einmal von anderen loben, anstatt sich immer selbstzu loben –,
wenn Sie in diesem Antrag klarer „Nein“ zu Rüstungsex-porten gesagt hätten, hätte man ihm zustimmen können.So bleibt nur eine Enthaltung.Jetzt gibt es keine Kürnote, aber ich möchte doch sa-gen: Was die Ministerin angeht, meinerseits eine lobendeEnthaltung.
Ich fand die Rede, die hier gehalten wurde, auch bemer-kenswert.
– Dann braucht sie sich ja nicht selbst zu loben.Ein letzter Satz zu Kuba: Das, was ich hier von Kolle-gen der CDU gehört habe, ist wirklich politische Steinzeitoder Eiszeit.
– Dr. Christian
Ruck [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)
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Jeder hier im Hause weiß doch – wir wissen es alle, redenwir doch einmal darüber! –, dass das US-Embargo gegenKuba weder sinnvoll noch moralisch gerechtfertigt unddurchzuhalten ist.
Wenn die deutsche Politik hier einen anderen Weg geht,dann werden demokratische Entwicklungen gestärkt undgestützt, dann gibt es eine kooperative Zusammenarbeit.So souverän wie Italien oder Spanien sollte auch die deut-sche Politik gegenüber Kuba sein.Etwas mehr Mut, trauen Sie sich, Frau Ministerin! Einegute Reise und viel Erfolg in Kuba!
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Tobias Marhold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nachdem sich die Diskussion um die IT-Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen ja offensichtlich nichtzum Stimmensammeln geeignet hat,
möchte ich dieses Thema in einen ganz anderen Zusam-menhang stellen, den der Entwicklungspolitik.Es erscheint Ihnen vielleicht ungewöhnlich, wenn ichin der entwicklungspolitischen Debatte von neuen Tech-nologien spreche. Doch wird der Zusammenhang schnellklar, wenn wir uns die in den letzten Jahren merklich ge-wandelte Definition von Armut betrachten.Armut ist nicht allein als Mangel an Nahrung, Ein-kommen und finanziellen Ressourcen zu verstehen, son-dern beinhaltet auch den fehlenden Zugang zu Bildungs-möglichkeiten, Gesundheitsdiensten, politischer Partizi-pation, Dienstleistungen und Infrastruktur.
Sprechen wir in diesem Zusammenhang von dem Zielder europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die Ent-wicklungsländer in den Weltmarkt zu integrieren, mussder Bildung besondere Aufmerksamkeit zukommen;denn ohne gut ausgebildete einheimische Fachkräfte inausreichender Anzahl kann sich in Zukunft kein Land inunserer globalisierten Welt im zunehmenden Wettbewerbbehaupten.
Das sehen wir zurzeit nur allzu deutlich an den entspre-chenden Diskussionen in unserem eigenen Land. DenStaaten des Südens muss daher der Zugang zu Informa-tionen über das internationale Netzwerk anhand vonTechnologietransfers ermöglicht werden. Bildung ist da-bei ein Schlüsselelement der nachhaltigen Armutsbe-kämpfung.
Damit steht die Entwicklungszusammenarbeit vorzwei großen Herausforderungen: die Basisversorgung derBevölkerung in den Entwicklungsländern zu sichern so-wie im Bildungsbereich die Alphabetisierung voranzu-treiben und gleichzeitig die Ausbildung von Fachkräften,vor allem in der Informationstechnik, auf hohem Niveauzu ermöglichen.Die neuen Technologien bieten dabei den Ländern desSüdens eine einmalige Chance; denn in den Schlüssel-branchen wie beispielsweise dem Maschinenbau oder derchemischen Industrie haben die weniger entwickeltenLänder keine Möglichkeit mehr, den gewaltigen Vor-sprung der Industrienationen aufzuholen. Hingegen eröff-nen sich für alle Staaten dieser Welt durch die Informati-onstechnologien völlig neue Perspektiven, übrigens auchfür Deutschland, das ebenso erst am Anfang dieses Ent-wicklungsprozesses steht.Sicher ist es wichtig, den Menschen langfristig eineGrundversorgung, wie Nahrung, sauberes Wasser undeine Grundbildung, zu garantieren, aber genauso notwen-dig – oder zukünftig noch wichtiger ist es, ihnen den An-schluss an die Zukunftsbranche der Welt zu ermöglichen.
Dabei bietet das weltweite Datennetz Möglichkeiten, de-nen selbst Deutschland bis vor kurzem noch nicht denrichtigen Stellenwert beigemessen hat.Lassen Sie mich folgendes Beispiel nennen: Das vomBMZ finanzierte Alumni-Programm für ehemalige Stu-dierende aus Entwicklungsländern erlaubt durch den Ein-satz der neuen Kommunikationstechnologie, der Alumni-Entwicklungsländer-Datenbank des Deutschen Akademi-schen Austauschdienstes, einen intensiven Informa-tionsaustausch, der es ausländischen Studierenden trotzder Rückkehr in ihre Heimatländer ermöglicht, am not-wendigen Wissensaustausch teilzunehmen.Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir bei dieserDiskussion nicht vergessen: Mit der Verbreitung des In-ternets kann der Abwanderung der Fachkräfte nach Eu-ropa und in die USAwirksam entgegengesteuert werden,denn durch die vernetzte Welt ist es unerheblich, ob eineFachkraft aus Bolivien oder aus München agiert.Auch müssen wir uns gerade im Bereich der Informa-tionstechnologie für ein verstärktes, auch finanzielles En-gagement der Privatwirtschaft einsetzen. Instrumentewie die Public Private Partnership, also die Zusammenar-beit zwischen der öffentlichen Hand und der privatenWirtschaft, bieten dabei gute Voraussetzungen.Meine Damen und Herren, wir müssen also das einetun, ohne das andere zu lassen. Arbeiten wir an der Ver-wirklichung der weltweiten Grundversorgung aller Men-schen und fördern wir gleichzeitig eine Entwicklung auf
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hohem technologischen Niveau, um den betroffenen Staa-ten eine Perspektive aus eigener Kraft zu eröffnen!
Haben diese Länder im IT-Bereich erst einmal Fuß gefasstund sich dadurch weitere Einnahmequellen erschlossen,ist dies ein zusätzlicher Meilenstein bei dem Kampf umihre finanzielle Unabhängigkeit von den reichen Indus-trieländern. Unserer Unterstützung können sie sich dabeisicher sein.Darüber hinaus bieten die neuen Technologien eineweitere Chance, die oft vergessen wird und die für michbesonders wichtig ist, nämlich die Einbeziehung desgroßen Potenzials der Frauen dieser Länder. Wie wir allewissen, liegt die Zukunft der Entwicklungsländer maß-geblich in den Händen der Frauen.
Gerade die Frauen sind es aber, die überproportional vonArmut betroffen sind. Verantwortlich für die Kinderver-sorgung tragen sie zusätzlich noch die Haupterwerbslast.Es ist allseits bekannt, dass in den Ländern, in denenFrauen am besten gebildet sind, die Entwicklung aller ge-sellschaftlichen Bereiche am weitesten fortgeschritten ist.Das hat unter anderem auch positive Auswirkungen aufdie Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damitauf eine geringere Kindersterblichkeit und eine geringereAnzahl von Geburten und Krankheiten.Frauen haben jedoch in den männerdominierten Ge-sellschaften in technischen Arbeitsfeldern kaum eine Ge-legenheit, eine Ausbildung zu erhalten. Wenn man aber inZukunft von jedem Punkt der Erde ohne großen techni-schen Aufwand kommunizieren und Dienstleistungen er-bringen kann, schafft das auch für Frauen eine realistischeBerufsperspektive. Deshalb müssen Frauen nicht nur beiProjekten der Armutsbekämpfung, sondern verstärkt auchbei der qualifizierten Ausbildung einbezogen werden.
Ziel unserer Politik muss daher sein, jedem Land dieMöglichkeit zu geben, sich auf die globalisierte Welt, dievom technologischen Fortschritt vorangetrieben wird,vorzubereiten. Da stehen wir in Deutschland und Europaganz klar in einer besonderen Verantwortung, übrigensgerade gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Dennwer, wenn nicht wir, muss heute handeln?Genau wie bei der bilateralen Entwicklungszusam-menarbeit muss auch in der EU-Entwicklungszu-sam-menarbeit der Bildung und Ausbildung stärkeres Ge-wicht zukommen. Der jetzige Zeitpunkt ist günstig, da aufder europäischen Ebene über eine neue Strategie für diegemeinsame Entwicklungszusammenarbeit diskutiertwird. Eine ressortübergreifende Abstimmung aller außen-politischen Instrumente ist daher geboten. Nationale Ei-telkeiten einzelner Mitglieder der Europäischen Unionhaben da keinen Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafürsorgen, dass die Staaten des Südens im internationalenWettbewerb eine faire Chance erhalten. Wenn wir heutehandeln, profitieren auch wir in Zukunft von der gestärk-ten Position der Entwicklungsländer. Denn Prävention istimmer besser und natürlich für unsere Haushalte aufDauer leichter zu verkraften.Die Bundesrepublik Deutschland muss dafür Sorgetragen, dass die in den Entwicklungsländern vorhandenenPotenziale zur Elitenbildung ausgeschöpft werden, undmuss die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräftenunterstützen.
Die neuen Technologien dürfen nicht an den armen Län-dern vorbeigehen. Das würde zu einer weiteren Ver-schlechterung ihrer Position auf dem Weltmarkt führenund sie für immer an das untere Ende der Staatengemein-schaft verbannen. Arbeiten wir daran, dass der nächsteBill Gates – besser: eine entsprechende Frau – aus Kame-run kommt!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dies war die erste
Rede des Kollegen Marhold. Herzliche Gratulation!
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Ruck,
CDU/CSU.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! „Frieden braucht Entwick-lung“ – dieses Motto kann jeder von uns unterschreiben.Leider müssen wir konstatieren, dass uns die Entwick-lungsprobleme auch im neuen Jahrtausend treu gebliebensind und uns auch ins neue Jahrtausend gefolgt sind.Aber mit der Globalisierung kommt ein neuer Akzenthinzu. Globalisierung ist eigentlich die weltweite Ver-netzung der Leistungsfähigen. Das ist auch für viele Ent-wicklungsländer eine große Chance. Die Entwicklungs-länder insgesamt haben beim Anteil am Welthandel dop-pelt so viel erreicht wie der Rest der Welt.Aber nicht alle Entwicklungsländer sind positiv be-troffen. Die Globalisierung geht an Hunderten Millionenvon Menschen der Entwicklungsländer spurlos vorbei. Imneuen Jahrtausend steckt darin das Risiko, dass sich diesozialen Konflikte innerhalb der Länder vergrößern, stattsich zu verringern, dass sich Migrationsbewegungen ver-stärken, statt zu verebben, dass Stellvertreterkriege ganzneuer Art ausbrechen, Ordnungsrahmen von gewählten
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Demokratien unterminiert werden und der Druck auf dienatürlichen Lebensgrundlagen weiter zunehmen wird.Vor diesem Hintergrund sind für die Entwicklungspo-litik drei Elemente von größter Bedeutung: Erstens derAufbau und die Durchsetzung verlässlicher internationa-ler Spielregeln mit sozialer und ökologischer Verantwor-tung; darauf ist schon hingewiesen worden. Zweitens. Esmüssen in der internationalen Entwicklungshilfe und Zu-sammenarbeit im Rahmen des Globalisierungsprozessesdie richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt werden.Drittens die Einflussnahme im Interesse von Good Go-vernance.Darauf ist die Politik der rot-grünen Bundesregierungabzuklopfen. Hier sieht es trotz Lob und Eigenlob nochsehr mager aus. In puncto internationale Spielregeln gingdie Debatte um eine Reform der Welthandelsordnung anDeutschland vorüber, obwohl wir eigentlich mit der so-zialen Marktwirtschaft ein Erfolgsmodell anzubieten hät-ten, das auch international tauglich wäre.
Bei der Diskussion über Weltbank und IWF produ-zierte die Bundesrepublik zwar Schlagzeilen, aber nurbeim stümperhaften Kampf um den Chefsessel beim IWF.Die Vereinte-Nationen-Politik der Bundesregierungsiecht in Wirklichkeit genauso dahin wie die Entwick-lungspolitik der Vereinten Nationen selbst. Das einzig Be-merkenswerte war, dass neben viel Überflüssigem wirk-lich vernünftige Programme und Projekte, zum Beispielder Bevölkerungsfonds der UN, von uns zusammenge-strichen wurden.Auch bei der internationalen Entschuldungskampa-gne, die Sie sich, Frau Ministerin, etwas übertrieben ganzallein auf Ihre Fahnen heften, gratulieren wir erst dann,wenn die Ernte eingefahren ist. Ich sage Ihnen ganz ehr-lich: Ihr gestriger Beitrag, den ich nur am Fernseher ver-folgen konnte – daher konnte ich leider nicht eingreifen –
reizt mich natürlich sehr. Sie haben gesagt, eine Ent-schuldung gebe es erst seit dem Zeitpunkt, seitdem SieMinisterin seien. Das ist nachweislich falsch. Denn dieWahrheit ist, dass das jetzt Geplante – wir stehen dahinterund wünschen dazu viel Erfolg – bisher nur zu Luftbu-chungen geführt hat. Es ist noch keine einzige müde Markgeflossen. Wir stehen zwar zum Beispiel bei Bolivien undUganda ante portas. Aber es ist noch nichts umgesetztworden, wohingegen unter Ihren Vorgängern – das sollteman der Ehrlichkeit halber bei solchen Diskussionen er-wähnen – 9 Milliarden DM erlassen wurden.
Auch beim zweiten Punkt, bei der sachlichen Schwer-punktsetzung, ist Kritik angebracht. Es ist richtig, dass dasWasser zum Schwerpunktthema geworden ist; aber dashat noch die alte Bundesregierung eingeleitet.Der Zivile Friedensdienst, so fürchte ich, wird einFlop; denn das, was er leisten kann, gibt es schon, und das,was er eigentlich leisten müsste, nämlich in einemgefährlichen und gewalttätigen Umfeld Frieden stiften,kann er nicht.Entscheidend hinsichtlich Ihrer Schwerpunktsetzungist aber, dass die kurz- und mittelfristige Kürzungsorgieim BMZ-Haushalt ausgerechnet die Felder trifft, die alsGlobalisierungshilfe von zentraler Bedeutung wären,
zum Beispiel die Armutsorientierung, die Bildung, HerrMarhold, die Sozialstrukturhilfe und die Bevölkerungs-und Umweltpolitik. Vor dem Hintergrund der Globalisie-rung müssten wir eigentlich die Selbsthilfekräfte der Be-nachteiligten besonders stärken, die Funktionsfähigkeitvon Staat, Demokratie und Verwaltung und den Kampfgegen Umweltkatastrophen. Sie aber erreichen durch dieKürzungen genau das Gegenteil. Wir stehen hinter Ihnen,wenn Sie sich in Zukunft im Trend gegen diese Kürzun-gen aussprechen. Wenn Sie dagegen kämpfen, kämpfenwir mit Ihnen.Auch nach Ihren vollmundigen Ankündigungen nachIhrer Amtsübernahme reizt es einmal mehr, die Wahrheitzu beleuchten; das haben Sie gestern Abend weniger ge-tan. Frau Tröscher, dass Sie vom Haushalt nichts mehrhören wollen, kann für uns natürlich nicht Leitfaden derPolitik sein. Die Behauptungen, an den Haushaltskür-zungen sei die vorhergehende Regierung schuld, sind ein-fach falsch. Die Haushaltskürzungen sind erstens Schuldder falschen Schwerpunktsetzung der jetzigen Regierungund zweitens Schuld des ehemaligen FinanzministersLafontaine, der einmal schnell 30 Milliarden DM ver-frühstückt hat.
Diese 30Milliarden DM sind der eigentliche Grund dafür,warum Ihr Haushalt in Schwierigkeiten ist.Auch die Zahlen, die gestern genannt worden sind, sindfalsch. Während unserer Regierungszeit – das warschmerzlich genug – mussten wir von 1993 bis 1998 Kür-zungen von 8,2 Milliarden DM – das war die Rekord-höhe –auf 7,9 Milliarden DM hinnehmen. Nach der mit-telfristigen Finanzplanung wäre eine weitere Absenkungdes Plafonds um 36 Millionen DM erfolgt. Und was ma-chen Sie? – Sie kürzen die Mittel in einem Jahr um8,7 Prozent und die Plafondabsenkung beträgt nicht36 Millionen DM, sondern 960 Millionen DM. Das kanndoch wohl nicht unsere Schuld sein.Deswegen fordern wir die Einlösung Ihres nächstenVersprechens – Sie haben gestern gesagt: Was wir zuge-sagt haben, packen wir an –, nämlich mehr Geld für dieEntwicklungshilfe und nicht weniger. Wir fordern aucheine Weiterentwicklung der Inhalte und Instrumente, zumBeispiel ein Sektorprogramm zur Reform und Stärkungdes öffentlichen Dienstes, eine konsistente Energiekon-zeption für Entwicklungsländer und die Einrichtung einerpolitischen Notfallhilfe, mit der viel schneller als bisherpolitische Hilfestellung geleistet werden kann.Was die Diskussion um die Länderkonzentration anbe-langt, so hat Herr Hedrich dazu schon das Wesentliche ge-sagt. Ich halte den bisherigen Verlauf der Abgrenzung fürschädlich. Es gibt ein wirklich gutes Abgrenzungskrite-rium, mit dem man gleichzeitig die Arbeitsteilung mit derEU voranbringen könnte, und zwar die Absorptions-,
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Regulierungs- und Koordinationsfähigkeit von Entwick-lungsländern.
Dieses Kriterium ist logisch und nachvollziehbar undrichtet außenpolitisch keinen Schaden an.Ein außenpolitischer Schaden aber tritt ein, wennausgerechnet die Zusammenarbeit mit Schwellenländern,zum Beispiel mit Malaysia und Argentinien, eingestelltwird. Wir sind es doch, die von diesen Ländern etwas wol-len, nicht umgekehrt. In Malaysia zum Beispiel wollenwir den Tropenwald retten. Wenn wir die Zusammenar-beit mit diesen Ländern aufgeben, haben wir uns jedeMöglichkeit der Einflussnahme genommen.Das ist der dritte und ebenfalls entscheidende Punkt:die Einflussnahme auf Good Governance. Auch dazugibt es Kritik. Zum einen gibt es in dem AKP-Abkommeneinen Punkt, wo wir und auch Sie sich nicht entscheidenddurchgesetzt haben, nämlich in der Frage der Sanktionen.Das ist innerhalb der EU eine offene Flanke. Zudem be-deuten die Kürzungen im BMZ-Haushalt, vor allem in derFZ: weniger Geld, weniger Einfluss. Die Entschuldungwiegt das in keiner Weise auf.Nehmen wir einmal an, die Entschuldung kommtwirklich zustande, was wir alle hoffen! Dann stehen960 Millionen DM weniger im Haushalt. Dem stehen 60bis allenfalls 80 Millionen DM entgegen, die Sie den Ent-wicklungsländern aus der Entschuldung pro Jahr prak-tisch geben. Sie kürzen also um das Zehnfache dessen,was die Entwicklungsländer durch die Entschuldung be-kommen. Da kann man wirklich nicht von einem fairenDeal sprechen.
Lassen Sie mich auch noch das Folgende sagen. Wirkritisieren die mangelnde Unterstützung des BMZ unddessen Entwicklungspolitik durch das Auswärtige Amtund andere Ressorts. Bezeichnenderweise war ja zu Be-ginn der Debatte, als Sie, Frau Ministerin, sprachen, keineinziger von Ihren Kollegen im Raum.
Beim Einzug in das Außenministerium haben die grünenChefs ihren umweltpolitischen Anspruch abgelegt. Auchwenn sich die Umweltsituation gerade in den Entwick-lungs- und Schwellenländern dramatisch zuspitzt undselbst viele unserer eigenen, ökologisch orientierten Ent-wicklungsprojekte politisch hochgradig gefährdet sind:Fischer und Volmer riskieren dazu diplomatisch nichts.Das gilt leider auch für Afrika. In der Tat sind vieleafrikanische Politiker dabei, jede Glaubwürdigkeit, jedesRenommee und auch jede politische Existenzberechti-gung zu verspielen. Was sich in Äthiopien und Eritreaabspielt, ist zynisch und unverschämt.
Frau Ministerin, es sind nicht nur die Industrienationen,die dorthin Waffen verkaufen. Es ist vor allem Russland,
das von Verkäufen an beide Seiten profitiert hat und denSanktionsbeschluss so lange hinausgezögert hat, dassbeide Seiten genug Waffen haben, um noch jahrelang wei-ter kämpfen zu können. Das ist ein Skandal, der von unsnur außenpolitisch bekämpft werden kann.
Genauso zynisch sind das Kriegsengagement einerganzen Reihe von armen Staaten in Krisengebieten, dasAufhetzen zur rassistischen Gewalt in Simbabwe und dietraurige Solidarität mit diesen gefährlichen Vorgängenauch durch den südafrikanischen Staatspräsidenten. Dasmuss man auch sagen; das hat mich ebenfalls enttäuscht.Ich werfe der Bundesregierung, dem Bundeskanzler unddem Bundesaußenminister zuvörderst vor, dass sie für denFrieden und die Entwicklung in Afrika nichts riskieren,was diplomatisch und politisch wehtun könnte, dass esauch kein Afrika-Konzept gibt, das diesen Namen ver-dient. Joschka Fischer schließt fünf Botschaften in Afrikaund joggt dann werbewirksam durch die Pyramiden vonGiseh. Das ist meiner und unserer Ansicht nach zu wenig.
Diese Unkollegialität gegenüber der Entwicklungspo-litik wird nur noch durch das Finanzministerium in denSchatten gestellt, insbesondere durch die Person desStaatssekretärs Overhaus und die Art und Weise, wie erdie Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe „VillaBorsig“ – die Insider wissen, wovon ich spreche – abge-bürstet hat. Ich glaube, dass deshalb der AWZ ein Rechtdarauf hat, dass Finanzminister Eichel uns einmal per-sönlich Rede und Antwort steht und uns in Zukunft einenGesprächspartner aus seinem Hause mitgibt, der die Ent-wicklungspolitik nicht ruinieren will.
Kollege Ruck, Ihre
Zeit ist schon deutlich überschritten.
Dann fasse ich zu-sammen:
Gegen Ihre symbolischen Gesten, Frau Ministerin, habeich nichts einzuwenden; Ihre werbewirksamen Auftrittesind wichtig, damit man Entwicklungspolitik begreiflichmachen kann. Wir haben auch nichts gegen flotteSprüche. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen,dass entgegen allen vollmundigen Ankündigungen die
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Dr. Christian Ruck9938
deutsche Entwicklungspolitik durch Rot-Grün in eineKrise gestürzt wurde und den wachsenden Herausforde-rungen derzeit nicht gerecht werden kann.
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Heidemarie
Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion.
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich möchte an die Adresse derer,
die mich angesprochen haben, Folgendes sagen. Ich be-
ziehe mich zunächst auf die Frage der Entschuldungs-
initiative. Ich finde, die Probleme, die ich heute ange-
sprochen habe, sind so groß, dass wir die Diskussion
wirklich nicht im Kleinklein führen sollten. Vielmehr
sollten wir sie so führen, dass wir gemeinsam Ergebnisse
erzielen können.
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Sie
haben uns vorgeworfen, dass wir eine Entschuldungs-
initiative im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar haben
mobilisieren können und dass das den deutschen Bundes-
haushalt vergleichsweise wenig belastet. Ich finde, das ist
kein Vorwurf. Mit einem vergleichsweise nicht so hohen
Anteil haben wir ein Maximum für die Menschen in der
Welt erreicht. Das kann doch kein Vorwurf an uns sein.
Wir haben uns doch sinnvoll und richtig verhalten.
Ein zweiter Punkt. Ich danke den Kollegen, die ver-
sucht haben, sachlich zur Frage der Länderliste zu dis-
kutieren. In entwicklungspolitischen und außenpoliti-
schen Fragen setzen die Menschen in der Welt auf Konti-
nuität und Verlässlichkeit. Bitte lassen Sie uns die
Länderliste sachlich diskutieren.
Ich habe wirklich nicht verstanden, Herr Kollege
Hedrich, worin Ihr Vorwurf besteht. Sie haben einerseits
behauptet, wir hätten nicht frühzeitig genug die Entwick-
lungszusammenarbeit mit Simbabwe eingestellt. An-
schließend haben Sie uns vorgeworfen, wir hätten es nicht
als Partnerland mit aufgeführt. Was ist denn jetzt Ihr Vor-
wurf? Sie müssen doch an dieser Stelle die Auswirkungen
entsprechend mit bedenken.
Ich möchte den Sachverhalt klarstellen. In Bezug auf
Simbabwe haben wir die Entwicklungszusammenarbeit
im finanziellen Bereich zu dem Zeitpunkt eingefroren,
als sich Simbabwe in den Kongokrieg eingeschaltet hat,
also schon weit früher. Was wir durchführen – dazu stehe
ich –, sind die Projekte, die der armen Bevölkerung nut-
zen. Unser Prinzip ist: Wir werden die arme Bevölkerung
nicht für ihre schlechte Regierung bestrafen, und das wer-
den wir auch durchhalten.
Wir haben Simbabwe selbstverständlich als potenzielles
Partnerland mit genannt.
Zu Herrn Ruck: Sie hatten, als im Zusammenhang mit
Lomé zwischen EU- und AKP-Staaten verhandelt wurde,
die Chance, die Frage der verantwortungsvollen Regie-
rungsführung zu verankern. Ich lege Wert darauf, dass
unter unserer Verhandlungsführung im Abkommen zwi-
schen der EU und den afrikanisch-karibisch-pazifischen
Ländern das Prinzip der verantwortungsvollen Re-
gierungsführung verankert worden ist. Damit wird deut-
lich, dass in Fällen – das ist jedem AKP-Staat klar –
schwerer Korruption im Land selbst die Möglichkeit der
Unterbrechung der finanziellen Hilfe vonseiten der Euro-
päischen Union gegeben ist. Das finde ich gut, weil ich
dafür bin, dass in solchen Fällen die entsprechenden
Sanktionen vollzogen werden; denn Korruption heißt, die
arme Bevölkerung in den betroffenen Ländern zu strafen
und ihnen das Geld vorzuenthalten. Deshalb haben wir
das verankert und dazu stehen wir auch.
Kollegin Wieczorek-
Zeul, die drei Minuten sind vorüber.
Gut.
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner
Schuster das Wort.
Lieber KollegeChristian Ruck, ich freue mich, wenn diese Debatte denEindruck vermittelt, dass der nächste Bundestagswahl-kampf vom Thema Entwicklungszusammenarbeit ent-schieden wird. Das wäre ein Novum. Aber dies erinnertmich an die Apostelgeschichte, in der der Saulus zumPaulus wurde. Ihr habt offensichtlich euer Damaskus reinzufällig jetzt nach 16 Jahren Gestaltungsmöglichkeit.Es ist sicher euer gutes Recht und eure Pflicht, uns zukritisieren. Aber tut das bitte schön mit Augenmaß. Wennihr wirklich wollt, dass die Entwicklungspolitiker in derRegierungskoalition erreichen, dass der Haushalt imJahre 2001 verbessert wird, dann müsst ihr uns seriöseVorschläge unterbreiten und könnt nicht einfach nurWahlkampfgetöse machen. Ihr habt gesagt, es habe sichnichts verändert. Dazu will ich euch ein paar Fragen stel-len.Herr Hedrich und ich haben seit Jahren immer wiederdarauf hingewiesen, wie groß die Ineffizienz auf europä-ischer Ebene ist. Jetzt bewegt sich etwas in Brüssel. Ist dasnichts?Wir haben darauf hingewiesen, dass Post-Lomé struk-turell geändert werden muss. Die Frau Ministerin hat daszusammen mit ihren drei Kolleginnen geschafft. Ist dasalles nichts?
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Dr. Christian Ruck9939
Bei der multilateralen Entschuldung, Herr Hedrich,gab es 1986 – ich war noch nicht dabei – einen einstim-migen Beschluss im Bundestag. Passiert ist damals nichts,aber jetzt tut sich etwas. Ist das alles nichts?Die PPP – sie ist von euch mehrfach angekündigt wor-den, ich habe dabei eine Menge vom KollegenPinger gelernt – wird jetzt Realität. Ist das nichts?Entwicklungszusammenarbeit findet zum ersten Malwieder die Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien, undzwar dank der hervorragenden Präsentation der Ministe-rin. Ist das eigentlich alles nichts?
Wir haben zum Beispiel die Kernarbeitszeitnorm in dieILO eingebaut. Ist das nichts?
Sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU, lieberChristian Ruck, eine Aufgabe haben wir gemeinsam,nämlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalbder Fraktion für „Frieden braucht Entwicklung“ zu wer-ben. Dies ist aber leider nicht umsonst zu haben.
Herr Kollege Ruck,
Sie haben Gelegenheit zu antworten.
Herr Präsident, ich
bin zweimal angesprochen worden, sodass ich jetzt sechs
Minuten lang reden kann, oder?
– Herr Kubatschka, ich bestätige Ihnen nicht allzu viel.
Ich habe zunächst eine Gegenfrage an Werner
Schuster: Sind die Kürzungen in Höhe von 960 Milli-
onen DM auch nichts?
Nun komme ich auf die Intervention der Frau Ministe-
rin zu sprechen. Ich möchte noch einmal sagen: Wir wün-
schen der Entschuldungskampagne viel Glück. Ich halte
es aber für übertrieben, dass Sie sich immer hinstellen und
sagen: Diese 70 Milliarden Dollar habe ich verbrochen
und die wiegen praktisch diese 960 Millionen DM pro
Jahr auf, um die wir kürzen müssen. Diese Rechnung
stimmt weder politisch noch mathematisch.
Wir könnten gern weniger über diese Zahlen sprechen,
wenn Sie nicht immer die Unwahrheit über die wirkliche
Entwicklung Ihres Haushalts im letzten Jahrzehnt sagen
würden – siehe gestern – und wenn – das muss ich leider
auch sagen – die Koalition nicht immer so riesige Ver-
sprechen wie zum Beispiel vor einem drei viertel oder hal-
ben Jahr machen würde, aber genau das Gegenteil macht.
Es kann niemand von uns als Opposition verlangen, dass
wir, liebe Adelheid Tröscher, sagen: Die Regierung
möchte das nicht mehr hören, deswegen sagen wir es auch
nicht. Das kann wirklich kein Mensch von uns verlangen.
Ich habe einige Punkte, die du bei mir als Defizite kri-
tisiert hast, ausdrücklich in positivem Sinne angespro-
chen. Die Bewegung auf der EU-Ebene ist ein positiver
Schritt. Aber es bleibt trotzdem dabei, worauf wir immer
alle Wert gelegt haben: Entschuldung nur gegen Kon-
ditionierung, zum Beispiel bezogen auf die Armuts-
bekämpfung. Dies muss wasserdicht, zum Beispiel mit
NGOs, vereinbart werden. Dazu gibt es zwei Dinge: Das
Erste ist, dass in der EU nur der Fall der schweren Kor-
ruption geregelt ist, sonst nichts. Das ist zu wenig.
Das Zweite sind die Entschuldungsprogramme.
Noch kein einziges Mal ist der Beweis dafür angetreten
worden, dass es so – wie Sie das auch mittragen – auch
funktioniert. Es funktioniert noch nicht in Bolivien und es
funktioniert auch noch nicht in Uganda. Wir können gern
darüber fachsimpeln, was zum Beispiel in Bolivien pas-
siert. In Bolivien wird es so, wie es bisher läuft, nicht
klappen, ganz einfach deshalb, weil die NGOs das, was
geplant ist, nicht mittragen können.
Wir können gern im Detail darüber diskutieren, aber
lassen Sie uns jeweils fair und sportlich bei der Wahrheit
bleiben, auch hinsichtlich dessen, was Ihre Vorgänger ge-
tan haben.
Es ist wahr, dass wir in 16 Jahren nicht alles richtig ge-
macht und auch nicht alle Probleme gelöst haben. Ich darf
aber daran erinnern, dass die Kriterien und die Schwer-
punktsetzung von Herrn Spranger ausdrücklich von Ihnen
übernommen worden sind. Sie haben 16 Jahre lang ge-
wartet. Jetzt können Sie alles besser machen. Nach fast
zwei Jahren werden wir Sie doch wohl fragen dürfen: Was
ist aus den großen Versprechen geworden? Dies lassen
wir uns nicht nehmen. Manches, das vielleicht im Sande
versickert ist, werden wir wieder ausgraben.
Nun erteile ich der
Kollegin Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, das Wort.
Dr
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Nach der ganzen parteipolitischen Polemik würdeich gern den Versuch unternehmen und auch die Opposi-tion dazu einladen, zu prüfen, ob wir hinsichtlich desKerns des Verständnisses von Entwicklungspolitik immernoch Gemeinsamkeiten haben oder nicht.Deswegen möchte ich gern drei Gedanken zumgrundsätzlichen Verständnis von Entwicklungspolitikäußern. Erstens zum Verständnis von Entwicklungs-partnerschaft: Zu lange haben wir unsere Partnerländerin ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Leistungswillenunterschätzt. Zu lange haben wir diese Länder aus einerpaternalistischen und sehr eurozentristischen Sichtweise
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Dr. R. Werner Schuster9940
heraus in eine passive Rolle gedrängt. Das will diese Bun-desregierung zurechtrücken und korrigieren helfen. Wirstellen deshalb die Hilfe zur Selbsthilfe in den Kontext ei-ner Entwicklungspartnerschaft, um den Realitäten in un-seren Partnerländern besser Rechung zu tragen.Diese Kurskorrektur von der Entwicklungshilfe zurEntwicklungspolitik war längst überfällig, um wieder denAnschluss an den aktuellen Stand der internationalen ent-wicklungspolitischen Diskussion zu finden.
Was heißt das nun für unsere praktische entwicklungs-politische Arbeit? Wir müssen darauf drängen, dassgrundlegende Aufgaben der nationalen Politik von denStaatsregierungen unserer Partnerländer verantwortlichund eigenständig wahrgenommen werden. Wir müssenoffen sein für alle Formen der Eigeninitiative dort. Wirmüssen uns als Geber davor hüten, mit Blaupausen zuagieren, und wir müssen die selbstbestimmten Entwick-lungsstrategien unserer Partner ernst nehmen.Wir müssen unseren Partnerländern verdeutlichen,dass Entwicklungszusammenarbeit nur komplementär zuEigenanstrengungen zum Zuge kommen kann.
Entwicklungspartnerschaft bedeutet auch, dass unsereEntwicklungspolitik nicht als isoliertes Politikfeld, son-dern nur als ganzheitlicher Ansatz erfolgreich sein kann.
Wir bemühen uns deshalb um eine möglichst kohärenteGesamtpolitik, auch wenn dies nicht einfach ist, und diestun wir sowohl in der bilateralen Zusammenarbeit alsauch im internationalen Rahmen. Wir haben bereitsSchritte unternommen, unsere Entwicklungspolitik mög-lichst effizient mit anderen Politikfeldern zu vernetzen,um so den quantitativen und qualitativen Nutzen unsererZusammenarbeit zu maximieren. Das zeigen zum Bei-spiel die Mitgliedschaft des Ministeriums im Bundessi-cherheitsrat und die Diskussionen und Entscheidungenüber Rüstungsexporte.Meine zweite Bemerkung: Entwicklung braucht einenlangen Atem. All das, was hier zum Beispiel zu Bolivienoder Uganda eingefordert worden ist, eine ganz schnelleEntschuldung, haucht genau nicht diesen langen Atem,Herr Ruck. Ich bitte Sie, statt auf Schnelligkeit und Quan-tität auf Qualität zu setzen.
Entwicklung funktioniert nicht von heute auf morgen.Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich hoch komplexegesellschaftliche Umwälzungsprozesse nur in kleinenSchritten vollziehen und nicht immer unserem europä-ischen Entwicklungsraster entsprechen. Darum müssenwir Geduld aufbringen und versuchen, auch alternative,das heißt auch andere Entwicklungsmuster zu verstehenund zu unterstützen.Geduld bedeutet aber nicht Langmut. Wir dürfen un-sere Partner nicht aus ihrer Verantwortung für eine ent-wicklungs- und armutsorientierte Politik entlassen.
Wir müssen unseren Partnerländern – das ist sehr wich-tig, das vergessen wir häufig – auch das Recht auf Fehlereinräumen und dürfen uns nicht als Lehrmeister aufspie-len.
Ich sage dies, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dassgerade heute, da wir die Katastrophe in SierraLeone vor Augen haben, da der brutale Krieg zwischenEritrea und Äthiopien herrscht, diese Ansicht auf Kritikstößt. Trotzdem meine ich, dass wir im Prinzip unserenPartnerländern auch Fehler zugestehen müssen.Nur so können wir einen ernsthaften und auf gegensei-tigem Respekt beruhenden Dialog führen, Entwicklungenin diesen Ländern früher und besser einschätzen und ge-meinsam über Entwicklungsalternativen nachdenken.Um der Vielfalt der kulturellen, sozioökonomischen undhistorisch gewachsenen Realitäten gerecht zu werden,müssen wir noch viel stärker als bisher flexible Instru-mente entwickeln und einsetzen.Meine dritte und letzte Bemerkung: Ich glaube – ge-rade auch, wenn ich mir meine Partei ansehe –, wir habenmanchmal vergessen, dass WirtschaftswachstumGrundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung ist. EineVielzahl von Ländern hat es bewiesen: Um ein langfristighohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, müssen undwollen die Entwicklungsländer am Welthandel teilhabenund die positiven Effekte der Globalisierung ausschöpfen.Es geht also darum – ich zitiere den Präsidenten derWeltbank –, „die Herausforderungen der Einbeziehung“einer globalen Zukunftsfähigkeit zu meistern. Gemeint istdamit die Notwendigkeit, die Entwicklung menschlich zugestalten und die Schwachen und Verletzlichen am Randeder Gesellschaft in die Mitte zu nehmen. Diesen Heraus-forderungen müssen wir uns stellen und dürfen Globali-sierung nicht immer als Bedrohung für die Entwicklungs-länder begreifen.
Es ist daher auch die Aufgabe der Entwicklungspolitik,unsere Partnerländer für den Weltmarkt fit zu machen.Dazu unterstützen wir sie beim Aufbau einer leistungs-fähigen Wirtschaft und treten für ein umfassenderesMitspracherecht der Entwicklungsländer im internatio-nalen Rahmen ein. Das heißt beispielsweise, dass wir unsin bilateralen Projekten zur Kleingewerbeförderungebenso wie bei der Gestaltung der Welthandelsordnungfür unsere und mit unseren Partnerländern engagieren.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid9941
Zugleich wollen wir mit unserer Entwicklungszu-sammenarbeit dazu beitragen, dass das wirtschaftlicheWachstum im Einklang mit der Natur und sozial verträg-lich gestaltet wird. Somit leistet unsere Entwick-lungspolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssi-cherung für alle.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichdanke insbesondere der Ministerin, HeidemarieWieczorek-Zeul, dass sie zum ersten Mal eine Regie-rungserklärung zum Thema Entwicklungszusammenar-beit abgegeben hat. Es ist ein symbolisch sehr wichtigerFortschritt.Aber wir können uns mit Symbolen nicht zufrieden ge-ben. Die Lage ist viel zu ernst. In vielen Ländern der Drit-ten Welt ist die Lage gefährlich gespannt. Die Globalisie-rung der Weltwirtschaft hat nicht etwa verhindert, son-dern eher befördert, dass die Schere zwischen Arm undReich, insbesondere innerhalb der Länder, weiter ausei-nander klafft. Das weitere Aufklaffen dieser Schere isteine der ganz großen Ursachen für gefährliche Konflikte.Insofern ist gerade im Kontext der Globalisierung Ent-wicklung eine der besten Formen des Friedenserhalts.
Es ist besorgniserregend, wenn der globale Wettbe-werb um höchste privatwirtschaftliche Kapitalrenditendie Geberländer dazu veranlasst, einen Wettbewerb umsinkende Staatsquoten zu veranstalten und dabei auchdie Entwicklungshilfe zu kürzen.
Was ist zu tun? Der schon genannte Meltzer-Berichtgeht exakt in die falsche Richtung.
Der Report behauptet unter lauter Beteuerungen, es geheihm um die Ärmsten, die meisten Länder hätten nun Zu-gang zu den privaten Kapitalmärkten. Bei 15 Prozent Zin-sen ist das eine zynische Strategie gegenüber den Ärmstenund auch gegenüber der Umwelt und gegenüber jederlangfristig angelegten Entwicklungspolitik.
Bildung, Forschung und Infrastruktur werfen keine15 Prozent Zinsen ab.Entwicklungszusammenarbeit ist eines der großenQuerschnittsthemen auch für die neugegründeteEnquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirt-schaft“.Wir sehen mit großer Freude, dass sich unter Ih-rer Führung, Frau Ministerin, das BMZ auf eine enge Zu-sammenarbeit mit dieser Kommission eingestellt hat. Wirerwarten davon fruchtbare Fortschritte. Ich bedanke mich.
Weil wir erst am Anfang sind, ist das Zukunftsmusik.Deswegen möchte ich ein paar Worte zu dem sagen, wasuns alle in den letzten zehn Jahren vor und nach dem Erd-gipfel in Rio de Janeiro insbesondere in Bezug auf dienachhaltige Entwicklung beschäftigt hat.In Sonntagsreden wird oft so getan, als gäbe es garkeine Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung.
Die wunderschönen Worte „sustainable development“,nachhaltige Entwicklung, gehen einem leicht über dieLippen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr häufig so, dassEntwicklung auf mehr und nicht etwa auf weniger Natur-verbrauch hinausläuft. Wenn 6 Milliarden Menschenden Lebens- und Wirtschaftsstil erreichen, den wir vor-führen – gleichzeitig stellt sich Deutschland gerne alsWeltmeister im Umweltschutz dar –, dann ist die Erdeökologisch am Ende. Das heißt, gerade bei uns müssenwir eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Technolo-giestile entwickeln, damit nachhaltige Entwicklung welt-weit zustande kommen kann.
Für uns ist das ein Programm der Modernisierung. Für dieEntwicklungsländer ist es angesichts von Wasser– undEnergieknappheit sowie des Mangels an Geld für Roh-stoffimporte eine Frage des Überlebens. Ich sehe mit Ge-nugtuung, dass sich die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit dieses Themas systematisch annimmt.
Herr Kollege Schlauch hat bereits die Wichtigkeit derinternationalen Umweltabkommen erwähnt. Die Konven-tion zum Schutz der biologischen Vielfalt hat für dieNord-Süd-Beziehungen eine herausragende Bedeutung.Der Norden muss dabei aufpassen, dass er seine eigeneGlaubwürdigkeit nicht gefährdet. Mit Empörung habendie Menschen in Südasien vor fünf Jahren reagiert, als dasEuropäische Patentamt in München der amerikanischenFirma Grace ein Patent auf das Öl aus dem Niembaum er-teilt hat, um es als Pestizid zu nutzen. Die Inder haben dasÖl seit Jahrhunderten selbstverständlich genutzt. Nun sol-len sie auf einmal Patentgebühren dafür zahlen.Das ist nun glücklicherweise ein Beispiel mit einemHappy End; denn vor etwa zwei Wochen hat das Europä-ische Patentamt dieses Patent widerrufen. Daraufhinwurde vor zwei Tagen in Nairobi, wo gerade dieVertragsstaatenkonferenz über die Konvention zumSchutz der biologischen Vielfalt abgehalten wird, einFreudentanz aufgeführt und symbolisch ein Niembaumgepflanzt. Hier haben Nichtregierungsorganisationen ausdem Norden und dem Süden seit Jahren politischen Druck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid9942
ausgeübt und wesentlich dazu beigetragen, dass sich end-lich ein Politikwandel – in diesem Fall bis hin zum Euro-päischen Patentamt – vollzogen hat.Herr Kollege Hedrich hat vollkommen Recht, wenn ersagt – das ist aber für die Regierung und für die sie tra-genden Koalitionsfraktionen überhaupt nichts Neues –,dass die Rolle der Nichtregierungsorganisationen garnicht überschätzt werden kann. Ohne die Kooperationzwischen der demokratischen Öffentlichkeit in den Staa-ten und den Nichtregierungsorganisationen wäre ein sol-cher Fortschritt völlig undenkbar.
Die Globalisierung beschert uns ein spannendes undneuartiges Dreieck zwischen dem Staat, der Wirtschaftund der Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaftmüssen ein großes Interesse daran haben, dass insbe-sondere im internationalen Wirtschaftsgeschehen mehrTransparenz einzieht. Eine der unter Globalisierungsge-sichtspunkten interessantesten Nichtregierungsorganisa-tionen ist vor einigen Jahren in Berlin gegründet worden,nämlich Transparency International, eine Nichtregie-rungsorganisation, die sich spezifisch mit der Be-kämpfung des Betrugs und der Korruption beschäftigt.
Die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit kooperieren auf das Engste mit TransparencyInternational, um die Glaubwürdigkeit der Geberländer,der Nehmerländer und der Privatwirtschaft wieder herzu-stellen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eineNichtregierungsorganisation die Politik wesentlich mit-gestalten kann.
Der Druck von demokratischen Öffentlichkeiten, Kon-sumentengruppen und sogar von Investoren auf die Pri-vatwirtschaft ist entscheidend dafür, dass Entwicklungund Frieden weltweit zustande kommen. „Friedenbraucht Entwicklung“, so heißt es sowohl in der Regie-rungserklärung als auch in unserem Antrag. Frieden undEntwicklung in einer globalisierten Wirtschaft brauchenden Frieden stiftenden Druck der demokratisch gesinntenKräfte der Öffentlichkeit in Nord und Süd.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entsch-ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/3388. Wer stimmtdafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-schließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSUund F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-men.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 14/3128 und 14/3396 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Angelegenheiten derneuen Länder
– zu der Unterrichtung durch die BundesregierungJahresbericht 1999 der Bundesregierung zumStand der deutschen Einheit– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/ DIE GRÜNENFortsetzung der Berichterstattung der Bundes-regierung zum Stand der deutschen Einheit– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MichaelLuther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUWeiterführung des Jahresberichtes der Bun-desregierung zum Stand der deutschen Einheit– Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715,14/2608 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias SchubertDr. Michael Lutherb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, VeraLengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUInvestitionsförderung verstetigen – regionaleWirtschaftsstrukturen stärken– Drucksache 14/2242 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusHaushaltsausschussc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Angelegenheiten derneuen Länder zu dem Antrag derAbgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-DieterGrill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUStrompreise in Deutschland angleichen – neueStromsteuern im Osten aussetzen– Drucksachen 14/1314, 14/2404 –
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid9943
Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias SchubertDr. Michael LutherWerner Schulz
Jürgen TürkGerhard Jüttemannd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. PaulKrüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ,Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUFörderung technologieorientierter Unterneh-mensgründungen in den neuen Ländern fort-setzen– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz,Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der PDSFörderung und Unterstützung von techno-logieorientierten Unternehmensgründungen
bedarfsgerecht weiterentwickeln
– Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954 –Berichterstattung:Abgeordnete Jelena HoffmannNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser De-batte ist der Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal den Berichtzum Stand der deutschen Einheit aus dem vergangenenJahr. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einige An-merkungen zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in denneuen Ländern und auch zur Angleichung der Lebensver-hältnisse zu machen, einem Thema, das die Ostdeutschensehr bewegt.Dabei hat für die Menschen die Angleichung der Ein-kommen natürlich ein ganz besonderes Gewicht. Was denöffentlichen Dienst betrifft, sind wir zurzeit in derSchlichtung. Ich persönlich habe in den zurückliegendenMonaten aus meinen Hoffnungen – bei aller gebotenenZurückhaltung – keinen Hehl gemacht. Ich will deswegenzu Beginn meiner Rede ausdrücklich sagen: Ich bin sehrzuversichtlich, dass es den Tarifparteien gelingen kann,eine Perspektive für die Angleichung aufzuzeigen, die –das ist mir besonders wichtig – den finanziellen Leis-tungsmöglichkeiten der ostdeutschen Länder und Ge-meinden entspricht.Die Perspektiven für den Aufbau Ost sind gut. Immerdeutlicher wird das verarbeitende Gewerbe in Ost-deutschland zum konjunkturellen Zugpferd. ZweistelligeWachstumsraten bei den wichtigsten Kennziffern, vomExport bis hin zu den Ausbildungsplätzen im Handwerk,zeigen, dass der Osten auf dem richtigen Weg ist. Das istkeine Schönfärberei. Natürlich gibt es daneben nochschmerzhafte Anpassungsprozesse, vor allen Dingen inder ostdeutschen Bauwirtschaft, die auf die Arbeitsmarkt-situation des gesamten Ostens durchschlagen.Aber die Trendwende ist geschafft. Die positiven Sig-nale sind überdeutlich. Die Industrie in den neuen Bun-desländern wächst schon heute schneller als die im Wes-ten. Die in den letzten Wochen und Monaten gelegentlichgeäußerten Befürchtungen, die neuen Länder könnten aufDauer vom Wirtschaftswachstum und von der steigendenBeschäftigung im Land abgekoppelt sein, sind deshalbunbegründet.
Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass dasmittelständisch geprägte verarbeitende Gewerbe in Ost-deutschland im ersten Quartal dieses Jahres einen Pro-duktionsanstieg von 13,3 Prozent gegenüber dem Vor-jahr verbuchen konnte.
Das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe wächst damit fastzweieinhalbmal so schnell wie das in den alten Bundes-ländern. Das gleiche Bild zeigt sich erfreulicherweise beiden Auftragseingängen und bei den Erwartungen der ost-deutschen Unternehmen. Ich erinnere an das letzte Kon-junkturbarometer, das vor kurzem im „Handelsblatt“ er-schienen ist. Ich sage ganz klar: Der Osten ist auf demrichtigen Weg.
Besonders freut mich: Das schlägt auch auf den Ex-port durch – jahrelang eine große Schwachstelle der ost-deutschen Wirtschaft. Mit einem Plus von 10,5 Prozentverzeichnete das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe1999 einen außerordentlichen Exporterfolg. Damit wuch-sen die ostdeutschen Ausfuhren deutlich schneller als dieAusfuhren in den alten Bundesländern, und das übrigensnicht nur in traditionellen Bereichen, in denen der Ostenauch in der Vergangenheit schon stark war: beispielsweisebeim Maschinenbau, bei der Elektronik oder im Fahr-zeugbau. Die ostdeutschen Ausfuhren stiegen auch in Be-reichen der so genannten Spitzentechnologie: in der Me-dizintechnik, in der Optik oder auch in der Datenverar-beitung. Ostdeutsche Produkte fassen zunehmend auf deninternationalen Märkten Fuß und sind in der Lage, denharten Wettbewerb zu bestehen.Meine Damen und Herren, der Export wird zu einerwichtigen Säule des Wachstums im Osten. Immer deutli-cher wird das verarbeitende Gewerbe zum Träger derKonjunktur im Osten. Das ist die neue Qualität desWachstums. Darüber sollten wir alle uns in diesem Hausefreuen.
Die Exportquote hat natürlich noch nicht den west-deutschen Wert erreicht; das ist völlig klar. Wir liegen et-was über der Hälfte des Wertes in den alten Bundeslän-
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Vizepräsidentin Petra Bläss9944
dern. Im vergangenen Jahr stieg die Exportquote in Ost-deutschland auf 18,4 Prozent. In den ersten beiden Mona-ten dieses Jahres stieg sie jedoch auf 20,7 Prozent. Das istein gewaltiger Sprung, der zeigt, dass der Exportboom –Herr Kollege Türk, wir haben im Ausschuss darüber ge-redet –, der in den alten Bundesländern greift, nicht anOstdeutschland vorbeigeht. Auch das ist ein wichtiges Si-gnal, meine Damen und Herren.
Deutlich sind auch die Signale hinsichtlich der Be-schäftigungssituation. Im verarbeitenden Gewerbe gibtes einen Beschäftigungszuwachs; 1999 betrug derArbeitsplatzzuwachs rund 1,4 Prozent. Im Februar diesesJahres lag die Zahl der Beschäftigten im verarbeitendenGewerbe bereits um 2,5 Prozent über dem Vorjahreswert.Auch hier gehen die Zahlen also nach oben; das ist dierichtige Entwicklung.
Besonders freut mich, dass es auch bei den Ausbil-dungsplätzen positive Signale gibt. Nicht nur hat sich –das haben wir mehrfach debattiert – über das wichtige Ju-gendsofortprogramm des letzten Jahres zum ersten Maldie sich in den zurückliegenden Jahren immer weiter öff-nende Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Aus-bildungsplätzen in Ostdeutschland wieder etwas ge-schlossen, wenn auch nicht so wie in den alten Bundes-ländern. In diesem Jahr – Sie haben die April-Zahlen vorkurzem debattiert – gibt es Signale, dass nun auch im be-trieblichen Bereich die Zahl der Ausbildungsplätze nachoben geht. Die regionalen Handwerkskammern melden,wie gestern geschehen, dass die Handwerksbetriebe auf-grund der guten wirtschaftlichen Entwicklung fast18 Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr anbie-ten. Über diese positiven Signale sollten wir uns allefreuen, meine Damen und Herren.
Dieser Erfolg kommt nicht von selbst. Dahinter stehenin erster Linie – ich sage das ganz deutlich – die harte Ar-beit und der Einsatz der Ostdeutschen und natürlich auchdie konsequente Politik der Förderung des Aufbaus Ost,der Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, die wich-tige aktive Arbeitsmarktpolitik, die Verstärkung von For-schung und Entwicklung in Ostdeutschland und schließ-lich die Gründung von innovativen Unternehmen sowiedie gezielte steuerliche Entlastung von kleinen und mit-telständischen Unternehmen, die Kernpunkt unsererSteuerreform ist. Deshalb werden wir an diesem Kurs,meine Damen und Herren, ausdrücklich festhalten.
Insbesondere ertragsschwache kleinere und mittlereUnternehmen – von ihnen gibt es in den neuen Ländernbekanntlich überproportional viele – profitieren von derschrittweisen Senkung des Eingangssteuersatzes auf15 Prozent und von der Anhebung des Grundfreibetrags.Gerade in Ostdeutschland versteht übrigens niemand,worin der Vorteil einer weiteren Senkung des Spitzen-steuersatzes liegen soll. Die Ertragssituation der Unter-nehmen in Ostdeutschland liegt weit unter dem westdeut-schen Durchschnitt. Von einer weiteren Senkung des Spit-zensteuersatzes, wie von der Opposition gefordert, wür-den vor allen Dingen Unternehmen profitieren, die ein zuversteuerndes Einkommen von weit über 120 000 DM ha-ben. Diese, meine Damen und Herren, muss man in Ost-deutschland mit der Lupe suchen. Deshalb sage ich aus-drücklich noch einmal: Spitzenverdiener, die hier begüns-tigt werden sollen, sitzen überwiegend in den altenBundesländern und nicht in Ostdeutschland.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu einer aktu-ellen Forderung, die von der CDU/CSU in dieser Wochezu vernehmen war: Mit ihrer Forderung, im Zusammen-hang mit der Steuerreform entweder den Spitzensteuer-satz auf 35 Prozent zu senken oder den Solidaritätszu-schlag abzuschaffen, bricht bei der CDU eine klare an-tiostdeutsche Haltung durch.
Sie wollen die Regierung im Vermittlungsausschusszwingen, entweder Spitzenverdiener, die in den altenBundesländern sitzen, zu entlasten oder dem Solidarpaktdie finanzielle Grundlage zu entziehen. Das tun Sie,während wir gerade darangehen, einen zweiten Solidar-pakt auszuhandeln.
Die Verlierer bei einer solchen Forderung, die Sie sich aufdie Fahnen geschrieben haben, sitzen in beiden Fällen inOstdeutschland. Ich habe die Debatte gestern aufmerksamverfolgt. Sie haben nichts zu dieser Forderung gesagt. Ichbin gespannt, ob Sie sich hier hinstellen, vielleicht auch inder Person der Parteivorsitzenden, und diese Forderungzurücknehmen; sie zeugt nämlich eindeutig von einerfeindlichen Haltung gegenüber dem Osten.
Zum Schluss möchte ich noch ausdrücklich sagen, dieFörderung und die Unterstützung vor allen Dingen inno-vativer Prozesse bleiben ein ganz zentraler Punkt beimAufbau Ost. Ich bin sehr froh, wie gut, wie umfangreichund wie durchschlagend gerade auch die neu konzipiertenFörderprogramme des Bundes dabei greifen. Ich möchtedabei das Thema Inno-Regio wenigstens noch einmal an-sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister,
gestatten Sie, bevor Sie das tun, eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Luft?
Ich würde dieses gerne im Zusammenhang beenden.
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Staatsminister Rolf Schwanitz9945
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie können die Zwi-
schenfrage nur jetzt zulassen, denn danach ist die Rede-
zeit vorbei.
Ich möchte trotzdem im Zusammenhang vortragen.
Ich bin sehr froh, wie gut Inno-Regio an dieser Stelle
greift. Die Überlegung, verstärkte Kooperationen aufzu-
bauen und Netzwerke zwischen Wirtschaft, wissenschaft-
lichen Einrichtungen und Verwaltungen zu knüpfen, ist
ein richtiger Schritt gewesen. Bei vielen Besuchen dieser
Projekte vor Ort merkt man, dass ein Ruck durch die Re-
gion geht und es als etwas Wichtiges und Neues, als eine
Chance begriffen wird, solche Innovationsprozesse aus
den Regionen heraus zu entwickeln.
Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich aus-
drücklich: Wir sollten diese Erfolge nicht kleinreden und
auch nicht vor dem Hintergrund einseitiger parteipoliti-
scher Interessen die wirtschaftliche Situation schlechtre-
den.
Die Signale sind klar: Die Entwicklung im Osten zieht an
und die Menschen, die dafür vor Ort in Ostdeutschland
gesorgt haben, können zu Recht auf diese Entwicklung
stolz sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die Frak-
tion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Günter Nooke.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,Ihnen scheint die Rede nicht so sehr gefallen, zumindestSie nicht überzeugt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck zeigtejedenfalls keine Begeisterung.
Bezüglich der Ausführungen zum Solidaritätszu-schlag möchte ich anmerken, dass es hier darum geht,dass wir das Geld für den Osten organisieren. Entschei-dend ist, was hinten herauskommt. Wenn sich am Endenebenbei auch eine Vereinfachung beim Steuerrecht erge-ben sollte, haben wir überhaupt nichts dagegen.Bei seiner Regierungserklärung hat sich der Bundes-kanzler letzte Woche über schöne Arbeitsmarkt- undWirtschaftszahlen gefreut. Dabei gab es bei objektiverBetrachtung – das entspricht ja auch dem, was jetzt hiergesagt wurde – dazu überhaupt keinen Grund. Mir kamdas vor, als wenn sich der Besitzer eines Hauses, dessenDach undicht ist, über eine bessere Großwetterlage freut,weil es dann weniger hereinregnet. Nein, zur Freude gibtes längst noch keinen Anlass. Kluge Hausbesitzer freuensich nicht über schönes Wetter, sondern reparieren dieDächer möglichst schnell. Herr Bundeskanzler, das habenSie bisher versäumt.Der Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche hierim Hause deutlich gemacht, welche Bedeutung er denneuen Ländern zumisst. Im Zusammenhang mit einigenZahlen über Wirtschafts- und Ausbildungsplätze spracher, wie immer vermeintlich leicht und locker, von „bei unsim Westen“ und damit implizit von den Ostdeutschen als„ihr“ und „euch“.
Herr Gysi musste den Kanzler daran erinnern, dass auchder Osten zu Deutschland gehört. Wenn die Sache nicht soernst wäre, könnte man lästern: Hier sind alte und neueSpalter unter sich. Aber ich glaube, wir alle sind uns ei-nig – nicht nur in dieser Debatte über die deutsche Ein-heit –: Wir in Deutschland gehören zusammen; wir sindgemeinsam für Erfolg und Misserfolg verantwortlich.
Der Aufbau Ost geht uns alle an. Er bleibt eine Aufgabefür alle Deutschen. Damit meine ich nicht, der Westen gibtdas Geld und der Osten gibt es aus. Vielmehr geht es da-rum, diese Aufgabe als materielle und geistige He-rausforderung für alle – im Westen wie im Osten der Re-publik – zu begreifen.Während die einen denken, dem Osten gehe es schonviel zu gut, kommen die anderen aus dem Zustand desKlagens und des Selbstmitleides nicht heraus. Weder Jam-mern noch Schönreden, sondern Fakten sind gefragt.Diese Fakten, Herr Bundeskanzler, sind bedrückend. Al-lein im April – und das bei schönem Wetter – gab es55 000 mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist. Die Ju-gendarbeitslosigkeit im Osten ist um 20 Prozent gestie-gen. Das sind Ihre Arbeitslosen, Herr Bundeskanzler.
Ihre Zahl nimmt ständig zu. Aber die Menschen im Ostenhaben dafür kein Verständnis. Sie wollen teilhaben an derwirtschaftlichen Entwicklung und sich in die Gesellschafteinbringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach tatenlos zusehen.Wir werden nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise denRadikalen von links und rechts die Wähler zutreiben. Wirwerden uns mit eigenen Konzepten einmischen.
Bleiben wir erst einmal bei den Zahlen. Unglaublichviel wurde erreicht, dank der Initiative der Menschen inden neuen Bundesländern, dank der Hilfe aus West-deutschland und dank der alten Bundesregierung unterHelmut Kohl.
Wir dürfen aber am Ernst der derzeitigen Lage nicht vor-beireden, so wie es Staatsminister Schwanitz gerade getanhat. Während die Arbeitslosenquote doppelt so hoch istwie in Westdeutschland, beträgt das Gesamtsteuerauf-
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kommen je Einwohner weniger als 30 Prozent von demder westdeutschen Länder. In Westdeutschland wird jähr-lich mehr Vermögen vererbt, als in ganz Ostdeutschlandvorhanden ist.Der teilungsbedingte Nachholebedarf bei der Infra-struktur wurde kürzlich von den führenden Wirtschafts-forschungsinstituten mit etwa 40 bis 45 Prozent berech-net. Das sind keine akademischen Zahlen. Sie zeigen viel-mehr konkret den Stand der wirtschaftlichen Entwicklungin den neuen Ländern. Der Sachverständigenrat hat 1999festgestellt, dass Personen- und Gütertransporte in denneuen Ländern durchschnittlich 20 Prozent zeitaufwendi-ger sind als in den alten Ländern. Die Zahlen sehen alsonicht gut aus.Doch die Regierung hat auch hier Glück: Eine verant-wortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Stand-ort neue Bundesländer kaputtzureden. Ich fordere Sie,Herr Bundeskanzler, aber auf: Nehmen Sie sich einmalein paar Stunden Zeit und schauen sich diese Zahlen ge-nau an!Herr Bundeskanzler, wir reden heute über Ihre Ver-säumnisse beim Aufbau Ost.
Der Wanderzirkus Ihres Kabinetts führt Sie meist nur zuden fein gedeckten Tafeln in den Staatskanzleien derneuen Länder.
Aber die Wirklichkeit ist sehr viel rauer. Um im Bild vonvorhin zu bleiben: An unserem deutschen Haus ist dasDach am Westgiebel undicht geworden. Der Ostgiebel istaber noch gar nicht gedeckt. Herr Bundeskanzler, Sie sindjetzt der Bauleiter. Bauen Sie dieses Haus Deutschland!Legen Sie die Pläne der Chefsache Aufbau Ost vor! Nen-nen Sie Ihr Ziel! Die Verringerung der Arbeitslosigkeitkann es ja nicht sein; denn dann hätten Sie hier und heuteIhr Scheitern eingestehen müssen.
Erst wenn Sie wissen, was Sie wollen, lohnt es sich,qualifizierte Handwerker zu beauftragen und den Bau-fortschritt zu kontrollieren. Setzen Sie die richtigen Prio-ritäten! Es reicht nicht aus, den Westgiebel zu streichen,wenn die Ostseite noch offen ist. Keinem in Deutschlandist geholfen, wenn unser Haus nur auf einer Seite be-wohnbar ist.
– Das ist doch gerade unser großes Problem. Hören Sieeinmal zu!Nie zuvor in den letzten zehn Jahren haben so vieleMenschen in den neuen Bundesländern daran gedachtwegzuziehen. Die Prognose ist niederschmetternd: 1 Mil-lion Menschen in den nächsten zehn Jahren. Gerade diejungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen Ost-deutschland. Leerstand und Geisterstädte in Ostdeutsch-land sind die Folge. Anders als 1990 gehen sie nicht nurnach Westdeutschland, sondern auch nach Übersee.Deutschland verliert viel zu viele gute Leute. Das ist dieRealität, Herr Bundeskanzler. Da hilft es wenig, mit derScheinlösung Green Card gute Leute aus Indien abzuwer-ben. Eines zeigt doch Ihre Kampagne auch: So attraktivwie Deutschland einmal vor Jahrzehnten für jugoslawi-sche Putzfrauen oder türkische Gemüsehändler war, ist esfür indische Computerspezialisten lange nicht. Das hatGründe. Deutschland ist im internationalen Vergleich kei-neswegs immer Spitze, sondern meist nur Mittelklasse.
Wenn einer aus dem Ausland rein will, dann darf er nicht.Das muss sich ganz schnell ändern.Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum die Situa-tion in den neuen Bundesländern besonders schlimm ist.Beim größten ostdeutschen Unternehmen, dem ostdeut-schen Braunkohleverstromer VEAG – mit 6 500 Arbeits-plätzen von 20 000 Beschäftigten im Bereich der Braun-kohlewirtschaft insgesamt – verfolgte die Bundesregie-rung offenbar eine Strategie im Interesse westdeutscherprotagonistischer Anteilseigner.
Der Wirtschaftsminister hatte freie Hand, über ein Stabi-lisierungsmodell zu verhandeln, das fast ein Jahr Zeit kos-tete – wertvollste Zeit, die andere Unternehmen zurMarktpositionierung nutzen konnten. Bundeswirtschafts-minister Müller hat hier auf das falsche Pferd gesetzt.
Er kam zwar aus dem richtigen Stall, aber er lief auf derfalschen Rennbahn.
Er wollte Atomausstieg mit Braunkohle verrechnen, aberhat dabei nicht beachtet, dass in der Politik nicht – wie inder Wirtschaft – die Bilanzen über die Macht, sondern dieMacht über die Bilanzen entscheidet. Warum sollten denndie westdeutschen Energiekonzerne frühzeitig Zuge-ständnisse machen? Oder hat er wirklich gedacht, dergrüne Koalitionspartner sei neben dem ideologisch be-gründeten Atomausstieg an einem tragfähigen energiepo-litischen Gesamtkonzept interessiert?
Wir haben ausländische Unternehmen zur Übernahmeder VEAG-Anteile bereits zu einem Zeitpunkt aufgefor-dert, als uns die Bundesregierung noch weismachenwollte, das sei gar nicht nötig. Der Wirtschaftsministerfehlt heute, daher muss ich mich an den Herrn Chef-sachenkanzler wenden: Wie soll ich dieses Verhaltenwerten, grob fahrlässig oder bedingt vorsätzlich? Das isteine Frage, auf die wir eine Antwort erwarten, und zwarnicht hier, sondern in Form von Ergebnissen.Wer verhandelt eigentlich mit den Wettbewerbsbehör-den und bemüht sich, dass ein großes Regionalversor-gungsunternehmen mit abgegeben werden muss, damitdie VEAG einen eigenen Zugang zu den Kunden erhält?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Günter Nooke9947
Sorgen Sie dafür, dass – nachdem 1990 den westdeut-schen Stromkonzernen erlaubt wurde, die DDR-Staats-monopolisten unter sich aufzuteilen – wenigstens ein in-ternational wettbewerbsfähiges Stromunternehmen inOstdeutschland übrig bleibt.
Wir erwarten nicht Geld von Eichel, um die VEAG als ei-genständiges Unternehmen zu erhalten, sondern einfachEngagement der Bundesregierung.
Der Aufbau der neuen Länder braucht endlich wirk-same Impulse. Ein West-Ost-Gefälle kann nicht hin-genommen werden.Dies ist ein Zitat aus dem Arbeitsprogramm der Bundes-regierung von 1999. Schön, dass wir in dieser Aussageübereinstimmen. Doch, wie gesagt, nicht an ihren Worten,sondern an den Taten sollt ihr sie erkennen – und die Bi-lanz fällt eindeutig aus!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?
Jetzt erst einmal nicht.
Wollten Sie zur VEAG fragen, Frau Luft?
– Gut, dann bitte.
Herr Kollege Nooke, wie ist
Ihre Position zu der aus den Reihen des Arbeitnehmerflü-
gels der Christlich-Demokratischen Union erhobenen
Forderung – geäußert neulich von Ihrem Parteikollegen
Eppelmann –, recht bald eine Ost-West-Angleichung bei
den Löhnen herbeizuführen? Ist das in Ihrer Fraktion in-
zwischen Mehrheitsposition oder ist das eine Einzel-
meinung, mehr auf – was man immer uns vorwirft – po-
pulistische Wirkung gemünzt? Wie ist Ihre Meinung
dazu?
Sehr geehrte KolleginLuft, das ist eine ernst zu nehmende Position in unsererFraktion. Nur, ich rede hier nicht über das Verteilen, son-dern über den Standort Ostdeutschland und über Wirt-schaftspolitik.
Deshalb müssen wir die Löhne im produktiven Bereichimmer mit im Blick haben.Meine Damen und Herren, da ich so etwas vermutethabe, lassen Sie mich noch einmal ausführen, was „belas-ten“ hier eigentlich heißt. Sinnbild dafür ist doch die Öko-steuer. Hunderttausende von Pendlern in den neuen Bun-desländern werden dadurch tagtäglich zusätzlich belastet,weil sie weite Wege zurücklegen müssen. Die Umbrücheauf dem Arbeitsmarkt fordern auch heute noch diesen ho-hen Tribut. Immerhin sind heute 80 Prozent der Menschenim Osten nicht mehr dort beschäftigt, wo sie vor derWende beschäftigt waren. Die Menschen wollen bei ihrerFlexibilität aber nicht überproportional durch höhereSpritkosten belastet werden. Auch dort könnte man denMenschen helfen. Ebenfalls nicht vergessen sindüberproportionale Belastungen im Bundeshaushalt 2000,die der Osten zu tragen hat. Dies nennt die Bundesregie-rung „wirksame Impulse“.Wie soll es weitergehen? Die Pressespatzen pfeifen esbereits von den Dächern: Mit dem Thesenpapier des Bun-desfinanzministers „Aufbau Ost – Perspektiven der För-derung durch den Bund“ sollen weitere Programme fürdie neuen Länder zurückgeführt werden.Aufbau Ost verkommt zunehmend zum Rückbau Ost.Wenn dies nicht der Wahrheit entsprechen sollte, fordereich den Bundesfinanzminister auf, zu bestätigen, dass esmit ihm bis zum Jahre 2004 keine weiteren Kürzungenbeim Aufbau Ost geben wird. Ich sage Ihnen bereits jetzt:Der Bundesfinanzminister wird eine solche Zusage nichtgeben.Noch eine klare Bemerkung zum Sparen, weil michdas gestern wirklich geärgert hat.
Wir waren und sind nicht gegen das Sparen. Im Gegenteil,die Vorschläge der Unionsfraktion hätten sogar zu weni-ger Ausgaben im aktuellen Haushalt geführt als die Maß-nahmen der Bundesregierung. In den 80er-Jahren wuchsunter Unionsführung der Schuldenstand des Bundes deut-lich langsamer als in den 70er-Jahren und auch langsamerals der Schuldenstand in den Bundesländern.
– Das ist völlig richtig. – Aber Herr Eichel hat hier nochetwas anderes erwähnt: Sie haben nämlich so getan, alshätten Sie das Sparen erfunden. Aber was er tut, ist nichtsanderes, als die deutsche Einheit immer wieder schlecht-zureden.
– Hören Sie doch mal zu!Er hat in der Steuerreformdebatte gefragt: Was werdenunsere Kinder sagen, wenn sie 2010 deutlich mehr Schul-den haben als beispielsweise dänische Kinder? Ich kannIhnen die Antwort geben. Unsere Kinder werden sagen:Wir beteiligen uns gern am Schuldenabbau. Ihr habt 1990mit der deutschen Einheit die richtige Entscheidung ge-troffen. Meine Kinder werden noch hinzufügen: Sonstwäre unsere Reise nach Amerika nämlich an Mauer undStacheldraht hier kurz vor der Tür schon gescheitert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Günter Nooke9948
Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wahr, dasswir für die Wiedervereinigung und die damit verbunde-nen Kosten Schulden gemacht haben. Ich bereue keineeinzige Mark für den Aufbau Ost. Ich kenne niemanden inder Union, der diese Ausgaben bereut, selbst wenn wir mitdem Wissen von heute sagen, vielleicht wäre das eine oderandere auch effizienter gegangen.Wir haben keinen Unsinn finanziert. Wir haben nachall den großen deutschen Misserfolgen – und davon gibtes genug – das größte, sinnvollste und friedlichste Projektfinanziert, das Deutschland im 20. Jahrhundert jemals miteigener Kraft betrieben hat.
Wir haben etwas zu reparieren versucht, was zuvor zweiDiktaturen in Deutschland angerichtet haben. Die deut-sche Einheit ist deshalb keine Schuldenlast, sie ist einehistorische Investition in die Zukunft Deutschlands undeines neuen Europa.Wir sind noch beim Stichwort „belasten“. Auf der Ein-nahmeseite will der Bundesfinanzminister beispielsweisedie Preise für Bundeseigentum massiv erhöhen und da-mit den gleichen Effekt erzielen: Mehreinnahmen für dieöffentliche Hand und Belastungen für die Bürger. Konn-ten Erwerber von land- und forstwirtschaftlichen Flächenin den neuen Ländern noch bis Ende 1998 Flächen um biszu 65 Prozent verbilligt erwerben und damit sowohl dieNachteile der Vergangenheit ausgleichen wie auch denAufbau landwirtschaftlicher Betriebe stützen, so schnei-det die Bundesregierung nunmehr dieses Programm aufmaximal 35 Prozent zurück. Selbst in bereits abgeschlos-sene Kaufverträge wird eingegriffen.
Noch ein konkretes Beispiel: „Chancen verspielt“.Deutschland profitiert vom Export, so die führenden Wirt-schaftsinstitute in ihrem aktuellen Frühjahrsgutachten.Der schwache Euro trägt – ob gewollt oder ungewollt –dazu bei. Die wesentlichen Zahlen sind bekannt, aber ichwill sie wiederholen: Die Prognose für Deutschland liegtmit 2,8 Prozent pro Jahr merklich unter den Wachstums-raten Europas.Was die Bundesregierung als Erfolg feiert, ist in Wahr-heit die weitere Abkoppelung vom europäischen Wachs-tumspfad. Es kommt schlimmer: Es ist in Wahrheit vor al-lem auch die weitere Abkoppelung Ostdeutschlands vonden gesamtdeutschen und weltwirtschaftlichen Chancen.Denn das ostdeutsche Wachstum wird 2000 und 2001 weitunter den 2,8 Prozent für Gesamtdeutschland liegen.Nach den bescheidenen 1,2 Prozent in den ostdeutschenFlächenländern im Jahre 1999 wird das Inlandsproduktwohl durchschnittlich nur um 2 Prozent in 2000 zuneh-men. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Spa-nien wird mit 3,9 Prozent ungefähr doppelt so stark stei-gen wie das in Ostdeutschland. In Portugal sind es3,5 Prozent, 4,8 Prozent in Polen und 5 Prozent in Ungarn.Sind ostdeutsche Arbeiter schlechter als Portugiesen oderPolen? Ganz sicher nicht.
Die Bundesregierung koppelt Ostdeutschland nicht nurvon Westdeutschland, sondern genauso von Europa ab.Eigentlich wollten die Menschen in den neuen Bundes-ländern den Abstand zum Westen verringern und nichtvon Polen eingeholt werden. Die neuen Länder müssenalso stärker am Exportboom teilhaben; da sind wir uns si-cher einig mit der Bundesregierung. Der Anteil der neuenLänder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz istaber mit circa 6 Prozent weiter viel zu niedrig. Im verar-beitenden Gewerbe liegt der Anteil des Auslandsumsatzesam Gesamtumsatz bei nur 18 Prozent. Damit ist er um dieHälfte niedriger als die vergleichbare Exportquote west-deutscher Unternehmen.
Westdeutschland ist Exportweltmeister, Ostdeutsch-land spielt in der Regionalliga. Da wirkt es schon zynisch,wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärungletzte Woche gesagt hat: Lasst uns ein bisschen Freude da-ran haben, dass es unserer Exportwirtschaft gut geht.
Die frühzeitige Stärkung des ostdeutschen Exporteshätte zu einer wesentlich stärkeren Partizipation Ost-deutschlands geführt. Ich erinnere an den Antrag unsererCDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Absatzförderung Ost,den wir zuerst vorgelegt haben.
Bereits 1999 wurde die Entwicklung verschlafen. DieWeichen wurden falsch gestellt, bei der EU-Osterweite-rung wurden keine klaren Aussagen getroffen. Da mussman sich über die negative Wirtschaftsentwicklung inBezug auf die mittel- und osteuropäischen Staatennicht wundern. Betrug der Export 1998 noch 98 Milliar-den DM, so betrug er im Jahre 1999 nur noch 84 Milliar-den DM.Was ist zu tun, um den Aufbau Ost wieder voranzu-bringen? Die Zahlen in den Ländern des Ostens Deutsch-lands sind nicht gut. Aber das Ziel kann nur eine sichselbst tragende Wirtschaftsentwicklung sein. Heute feh-lende Investitionstransfers sind schon morgen Sozial-transfers. Die neuen Länder bleiben auf absehbare Zeiteine große nationale Herausforderung, eine Aufgabe, dieRegierung und Opposition gleichermaßen fordert. Wirsind bereit, mit Ihnen zusammen Bilanz zu ziehen und ausden Erfahrungen der letzten zehn Jahre die richtigenSchlüsse für die Zukunft abzuleiten. Wir wollen keine Ge-gensätze konstruieren, wo keine sind, sondern klareSchwerpunkte setzen.Ganz kurz die wichtigsten Punkte. Wir brauchen eineFörderpolitik aus einem Guss. Die Leistungen für dieneuen Länder, die Staatsminister Schwanitz in der Liste
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Günter Nooke9949
zusammengefasst hat, müssen im kommenden Haushalterhalten bleiben. Mit Mogelpackungen sollte es erst garnicht versucht werden.
Wir sollten uns zunehmend von der Vorstellung tren-nen, der Osten müsse den Westen kopieren und ihn da-durch einholen. Wer ständig Vergleiche zieht und merkt,dass der Abstand sogar größer wird, fällt weiter zurück.Diese auch mentale Sperre muss überwunden werden.Vielleicht stimmt die Formel „Überholen, ohne einzuho-len“ ja doch. Wir erleben den Wechsel von einer Industrie-zu einer Wissens- und Ideengesellschaft. In diesem Pro-zess müssen wir neue Ziele definieren; industrielleLeuchttürme bleiben wichtig, Hightech-Signale sind ge-nauso notwendig. Es geht darum, in den Zukunftsberei-chen sowohl schneller als auch besser zu sein. Das magunrealistisch klingen; aber nur wer das Unmögliche an-strebt, kann das Mögliche erreichen.Gleichwohl braucht eine solche Förderpolitik auchkünftig ein solides Fundament. Die Zahlen zu Beginn ha-ben es deutlich gemacht: Investitionen in die Infrastruktursind das A und O. Investitionen in Straßen, Schienen,Datenautobahnen bleiben für eine Volkswirtschaft überle-bensnotwendig. Sie stärken den Standort Ost und regen zuneuen Ansiedlungen an. Haben Sie den Mut, Herr Bun-deskanzler, künftig weniger Geld für den zweiten unddritten Arbeitsmarkt und mehr für den ersten Arbeits-markt zur Verfügung zu stellen!
Die Menschen verdienen echte Perspektiven in Dauerar-beitsplätzen.
Die Luftbuchungen bei der Bundesanstalt für Arbeit kannich überhaupt nicht akzeptieren. Wirklich neue Arbeits-plätze schafft nämlich nur die Wirtschaft.
Diesen Punkt halte ich für äußerst wichtig. Wir solltenden Bürgern nicht den Eindruck vermitteln, die öffentli-che Hand allein könne mit Steuergeldern den weiterenAufbau der neuen Bundesländer bewältigen. Die Politikkann Impulse geben, sie kann anregen und überzeugen.Aber sie kann und darf sich nicht auf die Rolle des Heils-bringers festlegen lassen. Wir brauchen die Unterstützungder Wirtschaft, vor allem die der eigenen westdeutschenWirtschaft. Ich bin mir hier nicht zu schade, auch zu sa-gen: Wir müssen an den Patriotismus der Unternehmer inDeutschland appellieren.
Bundeskanzler Kohl hatte diesen entscheidenden An-satz bereits 1993 erkannt, als er die Wirtschaft für den So-lidarpakt I mit an den Tisch geholt und dort Zusagen zu-gunsten des Ostens erhalten hat. Wir brauchen eine Ein-kaufsoffensive nicht nur für ostdeutsche Produkte,sondern zum Beispiel auch für ostdeutsche Dienstleistun-gen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
Sie sind jetzt schon weit über die Redezeit. Ich bitte Sie,
zum Schluss zu kommen.
Es gab ja eine Zwi-
schenfrage.
Ich möchte das noch zu Ende führen: Wir müssen
Dienstleistungen, Anwaltsleistungen und auch Versiche-
rungsleistungen in Ostdeutschland einkaufen.
Ich lasse aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die ande-
ren Punkte, die ich noch nennen wollte, weg.
Ich möchte aber an dieser Stelle noch auf Folgendes deut-
lich hinweisen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie wirklich bremsen. Sie hatten eine reichliche
Redezeit und die ist jetzt vorbei.
Wir müssen das nächste
Mal über die in den neuen Bundesländern im Bildungs-
und Studienbereich bestehenden Fehlentwicklungen spre-
chen. Da sehen die SPD-geführten Länder ganz schlecht
aus.
Während die CDU-geführten Länder das Abitur nach
zwölf Jahren übernommen haben, haben die SPD-geführ-
ten Länder Wettbewerbsvorteile leichtfertig aus der Hand
gegeben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie noch einmal erinnern.
Ich höre auf.
Ich möchte als Letztes einen Vorschlag machen:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
ich möchte Ihnen nicht unbedingt das Mikrofon abschal-
ten. Deshalb wäre es gut, Sie würden von sich aus das
Rednerpult verlassen.
Dann bedanke ich michfür Ihre Aufforderung.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Schubert,
SPD-Fraktion.
Herr Kollege Nooke,
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede wörtlich gesagt – ich zi-
tiere –: „Eine verantwortliche Opposition hat kein Inte-
resse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzure-
den.“ Ich stelle nach Ihrer Rede fest: Sie haben weiter
nichts getan, als den Standort Ost schlechtzureden.
Sie haben nicht nur den Standort Ost schlechtgeredet, son-
dern auch die gesamte Debatte ideologisiert. Sie sind auf-
grund Ihrer ideologischen Vorprägung nicht bereit, das,
was der Kanzleramtsminister im Hinblick auf die Daten
und Fakten in Ostdeutschland gesagt hat, positiv zu wür-
digen. Ich verlange von Ihnen als Opposition nicht, dass
Sie Hurra schreien. Wenn Sie aber von uns und übrigens
auch vom Bundeskanzler
als Gesprächspartner ernst genommen werden wollen,
dann verlange ich von Ihnen, dass Sie zumindest die Fak-
ten zur Kenntnis nehmen. Das war der erste Punkt.
Ein zweiter Punkt – er passt übrigens zu der ideologi-
sierten Unverantwortlichkeit, die Sie hier zum Besten ge-
geben haben –: Ich war gespannt auf Ihre Antwort auf die
von Ihnen gestellte rhetorische Frage: Was ist zu tun? Was
Sie in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, verehr-
ter Herr Nooke, war außer lauer Luft und der Aussage,
dass die Politik nicht zuständig sei – auch das habe ich
gehört – der Hinweis: Wir machen weiter so, wie das Herr
Kohl begonnen hat. Genau das ist ein wesentliches Pro-
blem dafür, weshalb wir zurzeit in Ostdeutschland nicht
nur glänzen, sondern auch vor schwierigen Situationen
stehen.
Wenn Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen neue
Wege eingeschlagen und neue Strategien ergriffen haben,
die zu wirken beginnen, dann sind Sie für uns – es tut mir
wirklich Leid – ein unverantwortlicher Oppositionspoliti-
ker, mit dem sich im Grunde genommen ein Dialog nicht
lohnt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Nooke,
zur Erwiderung bitte.
Sie hätten mich ja ausre-
den lassen können – ich hätte nur noch eine Minute ge-
braucht –, dann wäre dies jetzt nicht nötig gewesen, Herr
Schubert.
Ich habe ausgeführt, dass wir nicht einfach sagen kön-
nen, die Bauwirtschaft gehe zurück, da wir in Ost-
deutschland diese Investitionen zum einen für den Aufbau
der Infrastruktur und zum anderen für die Verbesserung
der Situation auf dem Arbeitsmarkt und für höhere
Wachstumsraten bräuchten. Wir brauchen keine neue Ver-
teilungsdebatte, wie die Lohnangleichung aussehen muss.
Vielmehr brauchen wir einen sich selbst tragenden Wirt-
schaftsaufschwung. Ich habe Sie aufgefordert, im Hin-
blick auf all diese Punkte und auf den Export aus den ver-
gangenen zehn Jahren die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Aber was ich nicht machen kann, ist, die wirklich be-
drückenden Zahlen schönzureden. Ich kann einfach nicht
so tun, als sei das Problem Ostdeutschland mit dem Ge-
fälle zwischen Nord und Süd in Westdeutschland zu ver-
gleichen. Das ist nicht richtig. Herr Schubert, wir müssen
uns klarmachen: Der Aufbau Ost ist eine nationale He-
rausforderung. Das sollte Ihre Fraktion der Bundesregie-
rung deutlich machen. Es kann nicht sein, dass der Auf-
bau Ost so nebenher angegangen wird, keiner den zustän-
digen Staatsminister kennt und der Kanzler in diesem
Zusammenhang immer den Eindruck erweckt, als sei er
gelangweilt.
Es geht darum – davon bin ich sehr überzeugt –, zu ver-
hindern, dass der Osten Deutschlands zum Mezzo-
giorno wird. Es wäre nett, wenn der Kanzler in diesem
Sommer seinen Urlaubsaufenthalt von Positano nach Ost-
deutschland verlegen
– das wäre doch gut – und sich dort einmal umschauen
würde. Es gibt dort schöne Ecken. Aber es gibt noch un-
wahrscheinlich viel zu tun.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner inder Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünender Kollege Werner Schulz.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Günter Nooke, ich halte es für falsch, den Zustand derdeutschen Einheit am Gesichtsausdruck des Kanzlers ab-lesen zu wollen.
Das war schon früher nicht möglich. Da hing alles,
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obwohl es durchaus Aufwärtstendenzen gab. Aber ichglaube, es ist falsch, wenn man den Aufschwung Ost alseine politische Face-Lifting-Veranstaltung betrachtet.
Es handelt sich vielmehr um eine ernsthafte und anstren-gende Angelegenheit, von der ich glaube, dass wir siedurch Parlamentsdebatten nicht allein voranbringen wer-den – damit enttäusche ich dich aufgrund deines geradegezeigten Einsatzes vielleicht –; denn dies hängt von derLeistungsbereitschaft und der Tatkraft der Leute in denneuen Bundesländern und von den politischen Maßnah-men der Bundesregierung, auch dieser Bundesregierung,ab. Deshalb ist es nicht angebracht, alles pauschal inBausch und Bogen zu kritisieren.
Es ist ein Pauschalvorwurf, wenn gesagt wird, dieseRegierung habe kein Konzept. Ich kenne das, mir kommtdas Ganze irgendwie sehr vertraut vor.
Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten wir nicht nurunsere Rollen getauscht, sondern zugleich auch unsereTexte.
– Dass ich mich in meiner Kritik wiederhole, darf Siedoch wirklich nicht wundern. Einiges ist ja so geblieben;da muss noch nachgebessert werden.Anfang der 90er-Jahre war die Kritik, dass es keinKonzept gab, durchaus berechtigt. Aber mittlerweile gibtes ein Konzept. Und ein Bestandteil dessen ist, GünterNooke, dass wir mit den erfolgreichen Teilen der altenBundesregierung, die es ja gegeben hat – das stellen wirüberhaupt nicht in Abrede –, fortfahren.
Zudem gibt es einen Reparaturplan, also einen Plan, waswir alles in Ordnung bringen, wo es Fehler und Fehlallo-kationen gegeben hat. Das ist Ihnen bekannt. Wir haben jagerade bezüglich der Entwicklung der Kapazitäten in derBauwirtschaft damit zu kämpfen, dass Kapital auf dergrünen Wiese im wahrsten Sinne des Wortes in denSand gesetzt worden ist. Die Überkapazitäten, dieserNormalisierungsprozess im Bauwesen, haben also mitden Fehlern der alten Bundesregierung zu tun.Und wir haben Ansätze, zum Beispiel die Konzentra-tion auf Innovations- und Investitionsförderung. Hier gibtes völlig neue Gesichtspunkte. Ich bitte also zu berück-sichtigen, dass diese Regierung ein gestrafftes neues Kon-zept hat.Wenn ich mir allerdings einige Ihrer Anträge anschaue,die heute zur Diskussion stehen, zum Beispiel den Antragzur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregie-rung zum Stand der deutschen Einheit, so muss ich fest-stellen, dass wir dies bereits 1995 gefordert haben. Da-mals haben Sie sich mit Händen und Füßen dagegen ge-wehrt, dass es überhaupt einen solchen Bericht gibt.
Jetzt kann er nicht lange genug weitergeführt werden.Jetzt soll es ihn bis 2005 geben. Ich habe nichts dagegen.Aber wir dürfen bestimmte Dinge nicht durcheinanderbringen.Ich erinnere an die Anpassung der Strompreise.Günter Nooke, wir haben doch in der Volkskammer ge-meinsam gegen den Stromvertrag gekämpft.
Das ist doch die Ursache dafür, dass es zur Lex VEAG,dass es durch die erhöhten Strompreise zu einem Stand-ortnachteil für ostdeutsche Betriebe gekommen ist. Wo-mit wir es jetzt zu tun haben, ist das Abräumen von Feh-lern der Regierung Kohl – um dies einmal ganz klar zu sa-gen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, bitte.
Das ist ein wichtiges
Thema. Ich glaube nicht, dass sich die deutsche Strom-
wirtschaft mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um die deut-
sche Solidarität zwischen Ost und West geht. Das will ich
ganz deutlich sagen.
Herr Kollege Schulz, es ist mir schon wichtig, dies zu
Rede von: Unbekanntinfo_outline
DiesesJahr, das wir durch die VEAG verloren haben, weil einunsägliches Stabilisierungsmodell umzusetzen versuchtwurde, welches jetzt gescheitert ist, geht zu Ihren Lasten.
Stimmen Sie mir darin zu, Herr Werner Schulz, dass esnicht nur in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, son-dern dass es hier auch ganz konkrete Fehler der jetzigenBundesregierung gibt?Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Günter Nooke, was die ostdeutsche Stromwirt-schaft anbelangt, so haben wir acht Jahre verloren.
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Womit wir uns jetzt herumschlagen – ich wiederhole es –,sind die Fehler, die am Anfang gemacht wurden, indem imGrunde Monopolstrukturen erhalten und ausgeweitetworden sind, indem drei westdeutsche EVUs die gesamteostdeutsche Stromwirtschaft übernommen haben, diesesGebiet in gewisser Weise wie ein Sondergebiet behandeltworden ist und Wettbewerb überhaupt nicht möglich war.Wir haben jetzt einen neuen Ansatz der Privatisierung, umüberhaupt ausländisches Kapital hereinholen und eineneigenständigen ostdeutschen Stromkonzern erst einmalaufbauen zu können. Das ist doch der Punkt.
– Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man nichtmehr weiß, was man getan hat. Wir haben es doch mit derso genannten PSA-Formel – Privatisierung, Sanierung,Abwicklung – zu tun gehabt.
Dies ist häufig in einem Projekt, einem Betrieb erfolgt.Noch heute gibt es eine Schmierspur, die nach Leunaführt. Ich will gar nicht alles, womit wir zu tun haben, auf-rollen.Wir haben, um einen Kalauer bzw. Kohlauer aufzu-greifen, 1998 keine blühenden Landschaften übernom-men, sondern eher eine Landschaft im Umbruch, imZwielicht. Auf der einen Seite ging es um eine Verbesse-rung der materiellen Ausstattung der Lebensbedingungen.Das geht auf die alte Bundesregierung zurück. Da ist vielpassiert; das kann niemand in Abrede stellen. Jeder, derdie Städte im Osten besucht, weiß, was dort in Bezugauf den Städtebau und den Wohnungsbau geschehen ist,dass die Lebensbedingungen vorangebracht worden sind.Auf der anderen Seite erleben wir Defizite im Hinblickauf den Aufbau einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähi-gen Wirtschaftsstruktur. Das sind im Grunde genommendie Schwächen. Es ist auch müßig, immer wieder zu be-tonen, dass der Osten beim Wachstum zurückbleibt.
Das gilt dann, wenn man das gesamte Bruttoinlandspro-dukt betrachtet. Dort ist das der Fall. Aber wenn man esdifferenziert betrachtet, Kollege Türk, sieht das andersaus: Wir haben zwar einen Rückgang in der Bauwirt-schaft, aber wir haben zweistellige Wachstumsraten beiden interessanten, modernen Branchen, bei der IT-Bran-che, in der Medizintechnik, in der Biotechnik und ande-ren. Man muss sich das also schon etwas genaueranschauen. Es sind im Osten vor allen Dingen kapital-intensive Betriebe aufgebaut worden und weniger arbeits-intensive Betriebe.Das ist auch ein Grund dafür, dass es diese hohe Ar-beitslosigkeit gibt. Ursprünglich waren es einmal 9 Mil-lionen Beschäftigte, jetzt sind es noch 6 Millionen. Wirhaben dort eine extrem hohe Arbeitslosenquote; sie istdoppelt so hoch wie im Westen, keine Frage. Wenn manverdeckte Arbeitslosigkeit mit einrechnet, haben wir eineArbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent. Allerdings gibt esauch eine wesentlich höhere Erwerbsquote, bezogen aufdie Bevölkerungszahl. Auch das ist hochinteressant. Auchdarüber muss man diskutieren.
– Nein, das habe ich immer betont, Paul Krüger. So ist esdoch nicht.Das sind interessante Phänomene, die man nicht so ein-fach abtun kann. Man kann nur nicht sagen: Die Er-werbsneigung der ostdeutschen Frauen ist zu hoch; wennes die nicht gäbe, könnten wir das Problem lösen. Das istIhr Ansatzpunkt; ihn teile ich nicht.
– Ich kenne diesen Ausdruck von Kurt Biedenkopf; es istdie Wahrheit. Er hat zusammen mit Meinhard Miegel dieAuffassung vertreten: Wenn man die Erwerbsneigung derostdeutschen Frauen wieder auf die drei Ks zurückdrän-gen kann, also Kinder, Kirche, Küche, dann ist die Sachegeritzt und dann könnte man einen gewissen Gleichstandherstellen.
Was ich interessant finde – das sollte man vielleichtauch einmal betrachten –, ist dieAnnäherungbei denReal-einkommen in Ost und West. Wenn man sich den vor-letzten Wochenbericht des DIW anschaut, wird man aufdas interessante Phänomen stoßen, dass es in dieser Frageim Westen eher eine Rückentwicklung gibt. Die Zahl – so-weit ich sie jetzt in Erinnerung habe – lag da im Schnittbei 38 000 DM und ist jetzt auf etwa 37 000 DM zurück-gegangen, während sie im Osten von 24 000 DM auf30 000 DM gestiegen ist. Das heißt, es findet eine An-gleichung der Einkommensverhältnisse und damit auchder Lebensverhältnisse statt. Man muss auch berücksich-tigen, dass man im Osten heutzutage da und dort immernoch etwas preiswerter lebt.
– Vielleicht nicht da, wo Sie, Herr Jüttemann, herkom-men; ich weiß es nicht. Wir leben im Moment im Ostenauf einem Niveau, das 85 Prozent des Westniveaus ent-spricht. Das kann man sagen. Es hat eine Annäherung ge-geben.Man sollte auch vorsichtig sein, inwieweit man dieForderung nach Angleichung der Löhne kurzfristighochschrauben sollte, wie die PDS das beispielsweise tut.Das ist ein ambivalentes Problem. Im Moment ist dasLohnniveau im Osten ein Standortvorteil. Ich kann aber
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auch sehr gut verstehen, dass die Leute eine Perspektivebrauchen, damit sie sehen können: Wie geht es weiter?Wie entwickeln sich die Löhne? Dazu sage ich: SchauenSie sich beispielweise einmal den öffentlichen Dienst an.Wenn wir im öffentlichen Dienst Ihre Forderung, dieLöhne anzugleichen, erfüllen würden, dann würde das zuEntlassungen führen; das müssen Sie fairerweise hinzu-fügen. Die Beschäftigtenquote im öffentlichen Dienst,bezogen auf 1 000 Einwohner, liegt im Westen bei etwa20 Beschäftigten; in Sachsen sind es 23, in Sachsen-An-halt 33 und in Brandenburg sind es, glaube ich, 27. Dasheißt, die Zahlen im Osten liegen weit höher als im Wes-ten. Das würde bedeuten, dass wir, wenn wir im öffentli-chen Dienst im Osten zu vergleichbaren Kosten arbeitenwollten, einen Beschäftigungsabbau vornehmen müssten.Die gleiche Lohnsumme würde sich also auf wenigerBeschäftigte verteilen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja.
Herr Kollege Schulz, was ichbei Ihrer Argumentation nicht verstehe, ist, warum Sie nurvon der Kostenseite her diskutieren. Es gibt ja zum Bei-spiel die gesetzliche Bestimmung, wonach jedem Kind abdem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zur Verfü-gung stehen muss. Dies ist in den alten Bundesländern beiweitem noch nicht erreicht, in den neuen Bundesländernkonnte es zum Glück erhalten werden. Auch das ist eineUrsache dafür, dass die Quote im öffentlichen Dienst inden neuen Bundesländern höher ist als in den alten Bun-desländern.Wenn Sie nur über die Kosten diskutieren und dabeivöllig wegwischen, welche Aufgaben durch die öffentli-che Hand erfüllt werden, kommen wir, so glaube ich,nicht zu einem sinnvollen Vergleich. Damit können wirdie gesellschaftlichen Aufgaben, die anstehen, nicht be-wältigen.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Das war mehr eine Feststellung, die ich nicht ein-mal widerlegen kann. Ich glaube bloß, dass die Garantieauf einen Kindergartenplatz nicht die hohe Beschäfti-gungsquote im öffentlichen Dienst auslöst. In diesemFall haben Sie Recht, auf der anderen Seite ist es aber so,dass der öffentliche Dienst, dass die Verwaltungen imOsten einfach überbesetzt sind. Das wissen wir, das ist einProblem.Bei den Lehrern wurde das Problem gelöst, indem dieLehrer im öffentlichen Dienst blieben und teilweise fürweniger Geld arbeiten. Das ist eine kreative Lösung undman sollte sie nicht angreifen und sagen, sie müssten jetztalle gleich bezahlt werden. Wir haben das auch deshalbgemacht, damit die Leute – das halte ich für den besserenWeg – in Beschäftigung bleiben und dafür auf einen ge-wissen Teil ihres Einkommens verzichten.
Wir haben eine positive Einkommensentwicklung – siegeht zwar manchen nicht schnell genug –, aber man mussaufpassen, dass sie nicht kontraproduktiv wird.
Wenn man sich die Entwicklung bei den Arbeitsplätzennäher anschaut, sieht man, dass im Osten jährlich 15 000bis 20 000 neue Arbeitsplätze hinzukommen. Das heißt,der Osten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung über-haupt nicht abgekoppelt. Im Gegenteil: Das kommt in dennächsten Jahren noch besser zum Tragen. Das hat derBundeskanzler letzte Woche in seiner Regierungserklä-rung bereits ausgeführt.Hier muss natürlich – ich will das jetzt nicht vertiefen,denn wir haben bereits gestern diese Diskussion geführt –die Steuerreform, das Steuerentlastungsgesetz gewür-digt werden. Ich finde, es hat vor allen Dingen positiveAuswirkungen auf den Osten. Der Osten gehört wirklichzu den Gewinnern des Steuerentlastungsgesetzes, undzwar nicht nur bei den privaten Einkommen. Dort ist dasGros der Entlastung zu erwarten, weil es im Osten über-wiegend mittlere und kleine Einkommen gibt. Familienmit Kindern werden durch das erhöhte Kindergeld, dieExistenzfreibeträge und die Senkung des Eingangssteuer-satzes besser gestellt. Hier wirkt sich das Gesetz aus. DasDIW hat festgestellt – das wurde eingangs schon er-wähnt –, dass das Realeinkommen der Haushalte zuge-nommen hat.Aber auch die kleinen und mittelständischen Betriebeim Osten sind im Vorteil. Es werden zum Beispiel, wasvon der CDU/CSU, so von Herrn Rauen, an anderer Stellekritisiert wird, die reinvestierten Gewinne besser gestellt.Das, was hier vorgenommen wird, lohnt sich gerade fürExistenzgründer, deren Kapitaldecke dünn ist. Das sindüberwiegend Betriebe im Osten, für sie ist das rentabel.Das gilt genauso für die Anrechnung der Gewerbesteuerauf die Einkommensteuer. Auch das zahlt sich für vieleaus; denn sie können das komplett absetzen. Die Steuer-reform ist, wenn Sie so wollen, ein sehr mittelstands-freundliches Konzept für den Osten.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die ostdeut-schen CDU-Abgeordneten daran herumkritteln. Da habensie selbst während der Regierungszeit von Helmut Kohlmehr Mut gehabt und sind hervorgetreten und haben ihreeigenen Interessen vertreten. Ich hoffe, dass zumindestdie ostdeutschen Ministerpräsidenten, auch die der CDU-regierten Länder, nicht gegen ihre eigenen Interessen imBundesrat stimmen werden.
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Denn wer gegen das Steuerentlastungsgesetz stimmt, derstimmt gegen das Wirtschaftswachstum im Osten, derspricht sich gegen die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus
und vertieft auf diese Weise auch die Spaltung zwischenOst und West.
Ich würde Ihnen empfehlen, das noch einmal gründlichzu überlegen und Ihre Haltung zu revidieren.
– Darüber haben wir gestern schon ausführlich diskutiert.Ich will das hier nicht vertiefen, aber es ist tatsächlich so.Ihr Einwand, dass wir darüber reden müssen, erschüttertmich nicht sonderlich. Das tun wir doch hier.
Wir haben überhaupt keinen Grund, beim Aufbau Osteinen Gang zurückzuschalten, denn die Sache läuft re-lativ gut. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass dieEntwicklung noch auf hohe gesamtstaatliche Transfersangewiesen ist.Deswegen wird es in der nächsten Zeit auch darauf an-kommen, dass wir einen neuen Solidarpakt schließen, da-mit das Föderale Konsolidierungsprogramm fortgesetztwird.Anknüpfend an die Debatte zum vorherigen Tagesord-nungspunkt Entwicklungshilfe möchte ich sagen: Auchhier gilt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müs-sen aufpassen, dass keine große Wunschliste zusammen-gestellt wird, die sich möglicherweise aus den Gutachtender fünf Institute ableitet und zur Folge hat, dass großeLeistungen zur Erfüllung dieser Ansprüche erbracht wer-den müssen.Wir müssen uns die Entwicklung im Osten – auch hin-sichtlich der Infrastruktur – genauer und differenzierteransehen. In einigen Bereichen ist die Infrastruktur in denneuen Bundesländern mittlerweile moderner als in den al-ten Bundesländern, so zum Beispiel bei der Telekommu-nikation. Dort liegen Zukunftsinvestitionen unter derErde. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Ver-kehrsinfrastruktur, hinken wir nach wie vor hinterher.Dort muss nachgerüstet werden. Dies bezieht sich nichtnur auf die 19 Verkehrsprojekte deutsche Einheit mit ei-nem Volumen in Höhe von 65 Milliarden DM, übrigensvon der alten Bundesregierung unterfinanziert. Deswegenhaben wir hier auch so große Schwierigkeiten.Bei manchen Dingen müssen wir uns im Osten selbst-kritisch an die eigene Nase fassen. Wir haben uns vielfachlänger mit der Umbenennung einer Straße als mit ihremZustand und ihrer Qualität beschäftigt. Den Kommunenwar es wichtiger, sich zu überlegen, wie eine Straßeheißen sollte, als festzulegen, wie sie aussehen sollte. Esgeht also darum, wie wir Fördermittel abrufen und wo wirsie einsetzen.Wir wissen, dass wir nach wie vor in das Bildungssys-tem investieren müssen. Die Bildungseinrichtungen, zumBeispiel die Schulen, sind nach wie vor in einem schlech-ten Zustand. Die Attraktivität der Hochschulen lässt nochzu wünschen übrig. Deswegen ist der Zulauf zu den ost-deutschen Hochschulen noch nicht befriedigend. Demge-genüber sind wir bei vielen weichen Standortfaktoren,was Dienstleistungen anbelangt, mittlerweile modernerals der Westen.Für den Abschluss des Solidarpaktes II kommt es sehrdarauf an, ob der Osten in der Lage ist, zwischen seinenWünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden, ober seine Bedürfnisse genau benennt und ob er auf die So-lidarität des Westens, der alten Bundesländer, bauen kann.Ich glaube, das Beste, was der Osten selbst leistenkann, ist die Konzentration auf Erneuerung, auf Innova-tion. Insofern finde ich es hochinteressant, dass derInnenminister von Sachsen einen Vorschlag zur Länder-fusion unterbreitet hat. Er bezog sich nicht nur aufBerlin und Brandenburg, sondern er schlug vor, Sachsen,Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt zusammenzule-gen. Ich weiß, dies führt zu großen Debatten. Dabei gehtes um Identitäten, gewachsene Bindungen und derglei-chen mehr. Aber wir müssen uns heute in diesem kompli-zierten Europa schon darüber verständigen, wie man Re-gionen in Deutschland wettbewerbsfähig und leistungs-fähig machen kann, wie das Ganze zusammengefügtwerden kann. Wir müssen auch überlegen, ob wir allesimmer nur in Form eines hochkomplizierten Länderfi-nanzausgleichs regeln können, oder ob vieles nicht durcheine Länderfusion einfacher und kostengünstiger geregeltwerden könnte.Hier kommen zumindest interessante Denkanstöße ausdem Osten. Ich glaube, damit und nicht durch ein La-mento auf schwachem Niveau kann er auf sich aufmerk-sam machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um denBericht zur deutschen Einheit. Dieser liest sich in Teilenwie ein Lamento oder eine Selbstbeweihräucherung, ob-wohl dies nicht sein Zweck ist. Es geht hier vielmehr umFakten. Und ohne Fakten kann man die Ursachen nichtbeseitigen, das heißt, wenn man sie nicht erkennt und be-nennt.
Aber dies setzt sich fort: In der vorigen Woche hat derKanzler seine Regierungserklärung zur „modernen Wirt-schaftspolitik“ abgegeben. Sie war eine einzige Be-weihräucherung und Schönrederei.
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Werner Schulz
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Heute geht es mit dem Staatsminister so weiter. Ich glaubenicht, dass man den Aufbau Ost so betreiben kann. Ichglaube auch nicht, dass dies eine gute Voraussetzung fürdie Schaffung der deutschen Einheit ist, denn der AufbauOst ist nach wie vor eine Voraussetzung für die deutscheEinheit.Vieles, was negativ ist oder so ausgelegt werdenkönnte, taucht im Bericht nicht auf. Ich habe ihn mir wirk-lich sehr genau angesehen. Bei der Zahl der Patentanmel-dungen beispielsweise gibt es zwischen Ost und West im-mer noch große Unterschiede. Dazwischen liegen Welten.Ein weiteres Beispiel: In dem Bericht findet sich keineinziges Wort darüber, dass im Sommer 1999 eine Haus-haltssperre für alle vom Wirtschaftsministerium geför-derten Forschungs- und Entwicklungsprogramme in denneuen Bundesländern verfügt wurde. Diese Sperre, diesesHin und Her hat der ostdeutschen Forschungslandschaftgeschadet.
Ungeachtet aller anders lautenden Beteuerungen setzt dieBundesregierung diesen Zickzackkurs in der Forschungs-förderung auch jetzt noch fort. Auch in diesem Jahr wurdebereits eine Haushaltssperre von 6 Prozent verhängt.Das Weglassen solcher wichtiger Daten und Fakten imBericht erinnert mich in fataler Weise an ein Argumentaus Zeiten der alten DDR: Man darf dem politischen Geg-ner keine Munition liefern. – Das bringt uns aber wirklichnicht weiter. Die Folge ist, dass uns jetzt ein Bericht vor-liegt, der nicht ausgewogen ist. Er liefert keine objektiveZustandsanalyse, die wir brauchen,
um beim Aufbau Ost gemeinsam voranzukommen.
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür Sorgezu tragen, dass die künftigen Berichte über die Entwick-lung in Ostdeutschland deutlich differenzierter Auskunftgeben.
Im Jahresbericht wimmelt es geradezu von Beteuerun-gen der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wolle,um den Aufbau Ost zu befördern. Aber Versprechen sinddas eine, Taten das andere. Ein weiteres Beispiel: Zwarhat die Bundesregierung die von uns 1997 begonnene und1999 ausgelaufene Fördermaßnahme „FUTOUR“ bis2003 verlängert. Aber während wir damals für 200 Tech-nologieunternehmen noch 500 Millionen DM zur Verfü-gung hatten, sehen Sie hier heute lediglich 140 MillionenDM vor.
Mit Sicherheit wird das nicht sehr viel weiterhelfen. Dasreicht nicht. Wenn man also Entscheidungen wie diesetrifft, dann braucht man sich wirklich nicht zu wundern,warum keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden –
und das bei einer Arbeitslosigkeit von jetzt circa 20 Pro-zent im Osten.Legt man also an den Kanzler, der nicht da ist, die Lattean, die er für sich selbst zum Maßstab gemacht hat, näm-lich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dann hat erdie Latte im Osten gerissen, denn im letzten Jahr gab esim Osten fast 55 000 Menschen mehr ohne Arbeit. Darü-ber kann man natürlich nicht mit einem einfachen „Wei-ter so“ hinweggehen, sondern man muss untersuchen, wieman das ändern kann.
Wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit, die heute schonangesprochen worden ist, hinzurechnet, dann sieht esnatürlich noch schlimmer aus.Ihr Ausweg ist: Wir legen beim zweiten Arbeitsmarktetwas drauf. Ich glaube, das ist ein Schuss, der inzwischenwirklich nach hinten losgeht.
Um sachlich zu bleiben: Der zweite Arbeitsmarkt ist javon uns allen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt ge-dacht. Man muss ganz realistisch feststellen, dass dasnicht mehr aufgeht. 5 Prozent kommen in den ersten Ar-beitsmarkt, und diejenigen, die im zweiten Arbeitsmarktbeschäftigt sind, belasten den ersten. Das ist kontrapro-duktiv. Da muss man sich wirklich – ich bin dafür, dasswir das gemeinsam machen – überlegen, wie man das än-dern kann.
Die Regierung ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass amersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze entstehen – das ist jaihre generelle Aufgabe –, und die entsprechenden not-wendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.Die gestern verabschiedete ungerechte Steuerreform –so will ich sie einmal bezeichnen – kann es nicht sein.Trotz gegenteiliger Behauptungen, die heute immer wie-der vorgetragen wurden, belastet sie die Kleinen und Mitt-leren.
Das kann natürlich nicht die Rahmenbedingung sein, inder der Aufbau Ost vorangebracht werden könnte.
Aber es gibt ja noch Chancen. Die Entscheidung überdie Steuerreform steht bald im Bundesrat an. Wir habenzum Beispiel den Brandenburger MinisterpräsidentenManfred Stolpe, der sich dafür einsetzen will, dass hiernachgebessert wird. Ich meine, Sie bessern ja ohnehinschon ständig nach. Warum dann nicht auch an dieserSteuerreform, um das einmal wieder auf die Füße zu stel-len?
Die Stunde der Wahrheit kommt bald im Bundesrat.
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Jürgen Türk9956
Außerdem sind wir der Meinung, dass insbesondereOstdeutschland ein flexibles Tarifvertragsrecht braucht.
Das ist natürlich für ganz Deutschland eine sinnvolle For-derung, aber insbesondere für den Osten, denn dort gibt eskein Tarifvertragsrecht mehr, weil keiner mehr daran teil-nimmt. Wir haben dort also einen totalen Wildwuchs.40 Prozent der Unternehmen sind noch dabei. Ich kannSie namens der F.D.P. nur auffordern, dort wieder Ord-nung zu schaffen, damit der Flächentarif im Osten nichtvöllig verschwindet. Hier muss endlich etwas gemachtwerden; er muss reformiert werden.Dass wir bei den Lohnzusatzkosten eine Entlastungbrauchen, ist klar. Es muss also schnell etwas in SachenRentenbeitragspunkte gemacht werden. Das kann mannicht auf das nächste Jahr verschieben und hier, wie so oft,auf das Bundesverfassungsgericht warten. Wir müssenuns schneller einigen und dürfen das Thema nicht endlosverschieben, wie wir es bei der Steuerreform erlebt haben.Ostdeutschland braucht, Herr Staatsminister Schwanitz,auf keinen Fall die Ökosteuer,
die kleine und mittlere Unternehmen, besonders imTransportgewerbe, in ihrer Existenz gefährdet. Man kannnicht immer sagen – das ist totaler Unsinn –, dass sie ins-besondere dem Osten etwas bringe. Man muss das maluntersuchen und sich mit den Leuten, die davon betroffensind, unterhalten und fragen, ob das wirklich so ist oderob man nicht doch etwas anderes machen müsse.Warum, Herr Schwanitz, haben Sie solche den AufbauOst gefährdenden Belastungen zugelassen? Es ist dochIhre Aufgabe, keine Maßnahmen zuzulassen, die insbe-sondere den Osten belasten. Denn für den Osten war ge-rade Entlastung und nicht zusätzliche Belastung angesagt.Oder hatten hier etwa die Grünen das Sagen?Nein, Herr Schwanitz, Gesundbeten und Schönreden – sohabe ich das heute empfunden –, wie Sie das auch heutewieder in der „Freien Presse“ betrieben haben, bringt denAufbau Ost nicht weiter. Es ist doch nicht Ihre Aufgabe,auf ein Wachstum im Jahre 2002 – so steht es im Inter-view – zu verweisen, das zufälligerweise ein Wahljahr ist.Wir müssen jetzt etwas tun, damit der Aufbau Ost nichtabgehangen wird.
Es stellt sich außerdem die Frage, warum der „Berichtüber gesamtwirtschaftliche und unternehmerische An-passungsfortschritte in Ostdeutschland“ – so etwas gab eseinmal – von der Bundesregierung 1999 abgeschafftwurde. Etwa deshalb, weil es keine Fortschritte mehrgibt? Oder deshalb, weil darin festgestellt wurde, dass dieKapitalausstattung der Arbeitsplätze erst 70 Prozentdes Westniveaus erreicht hat? Das hat natürlich etwasmit Arbeitsproduktivität zu tun. Wenn ich nur 70 Prozentder Kapitalausstattung habe, ist es schwer, die gleiche Ar-beitsproduktivität zu erreichen.Sie machen sich und uns etwas vor, wenn Sie die In-dustrie mit einem Wachstum von 6 Prozent als Hoff-nungsträger aufbauen. Sie haben davon gesprochen, dassdas Wachstum im letzten Quartal einen zweistelligen Werterreicht habe. Aber eine Schwalbe – sprich: ein solchesQuartalsergebnis – macht noch keinen Sommer. Daraufkann man nicht bauen. Lassen Sie die konjunkturelle Lagein der Welt ein bisschen einbrechen – und schon brichtOstdeutschland wieder weg.Warum wird die Misere in der ostdeutschen Bauwirt-schaft nicht analysiert? Wir reden zwar immer davon,dass es sie gibt, aber man muss sie doch auch einmal ana-lysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen darausziehen. Ich habe erwartet, dass das in dem „Jahresbericht1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschenEinheit“ geschieht. Sich hier hinzustellen und zu sagen,dass sich der überhitzte Bausektor wieder abkühlenmüsse, ist doch eine billige Aussage, die nicht weiterhilft.Ich weiß auch, dass der Bausektor etwas überhitzt war.Aber man muss natürlich nach Lösungen suchen. Dasmuss man insbesondere dann, wenn man weiß, dass eininvestitionshemmendes Infrastrukturloch von 300 Milli-arden DM besteht. Es ist also nicht nach einer Beschäfti-gungstheorie für die Bauwirtschaft zu suchen; vielmehrmüssen wir hier erst einmal diese 300Milliarden DM auf-bringen.Sparen und Schuldenabbau sind wichtig. Das unter-stützen wir auch weiterhin. Wenn aber der Aufbau Ostrückläufig ist, dann werden Sie aus dem Sparstrumpf balddas Doppelte herausnehmen müssen. Das kann nicht Sinnund Zweck der Sache sein.Im Übrigen: In den immer leerer werdenden Platten-bausiedlungen tickt eine Zeitbombe. Das muss manbei dieser Gelegenheit sagen. Hier steht neben der Alt-schuldenbefreiung eine umfassende Wohnumfeldverbes-serung, einschließlich eines schonenden Rückbaus, an.Das alles sind sinnvolle und notwendige Leistungen fürdie Not leidende Bauwirtschaft. Es geht hier also nicht umBeschäftigungstheorie, sondern um sinnvolle Arbeit.Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Betreuung neugegründeter und bereits länger am Markt vorhandenerkleiner und mittlerer Unternehmen durch die Hausban-ken. Hier sollte darüber nachgedacht werden, ob nichtnach dem Vorbild der Deutschen Ausgleichsbank Förder-banken Leistungen, einschließlich qualifizierter Bera-tung, aus einer Hand anbieten.Zum Schluss fordere ich Sie auf: Verhindern Sie, dassdie Zahl der Großbetriebe in Ostdeutschland noch weiterabnimmt – dort gibt es schon jetzt zu wenige –, indem Sieden ostdeutschen Kohle- und Energieversorgern beider Suche nach neuen Anteilseignern und deren Etablie-rung mehr als bisher helfen. Hier muss ich Sie, HerrSchwanitz, fragen: Wo waren Sie? Das ist unser letztesgroßes Vorhaben; denn nur eine zügige Entflechtung wirdzu stabilen und wettbewerbsfähigen Unternehmen führen.Die Chance ist da!Als Cottbuser sage ich Ihnen: Wir brauchen ostdeutsche„Energie“, aber in der Ersten Bundesliga.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Jürgen Türk9957
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Türk,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Ich denke, dass das ein echter
Beitrag zur deutschen Einheit wäre.
Ich sage Ihnen allen: Glück auf!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für die
SPD-Fraktion die Kollegin Jelena Hoffmann.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu Hausein meinem Wahlkreis in Chemnitz bin und mit den Men-schen rede oder Betriebe besuche oder einfach durch dieStadt gehe, dann bin ich stolz auf das, was wir in den letz-ten zehn Jahren erreicht haben.
Wir haben bei weitem noch keine blühenden Land-schaften, außer vielleicht zu dieser Jahreszeit im Erzge-birge. Ich weiß, dass für viele die Angleichung der Ver-hältnisse in Ost und West noch viel zu langsam voran-kommt. Aber die Veränderungen sind klar und deutlicherkennbar. Wer diese nicht sieht, der ist wirklich blind,Herr Nooke. Das, was wir schon aufgebaut haben, kannsich sehen lassen.Ich möchte an dieser Stelle auf Ihre Rede eingehen,Herr Nooke. Ich habe Sie oft im Ausschuss reden gehört.Aber heute haben Sie mich unheimlich enttäuscht. Ichhabe vier Jahre beobachtet, wie Ihre Fraktion den Wirt-schaftsstandort Deutschland im Deutschen Bundestagschlechtgeredet hat.
Jetzt machen Sie das mit Ostdeutschland. Dann wundernSie sich auch noch, dass die Menschen aus Ostdeutsch-land weggehen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Bei-trag für die Einheit von West- und Ostdeutschland ist.
Ich möchte wiederholen: Das, was wir aufgebaut ha-ben, kann sich sehen lassen. In den neuen Ländern stehendie produktivsten Automobilfabriken. Durch zahlreicheUnternehmensgründungen sind neue und meistens leis-tungsfähige Strukturen entstanden. Über 530 000 Unter-nehmen sind aufgebaut worden. Dort arbeiten mehr als3,2 Millionen Menschen. Die Produktivität ist stetig ge-stiegen. Beim Aufbau eines modernen Kapitalstocks istdie ostdeutsche Wirtschaft ein gutes Stück vorangekom-men. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert. Wirhaben schon vieles geschafft. Darauf können und müssenwir auch stolz sein, Herr Nooke.Dennoch müssen wir in vielen Bereichen deutlich zu-legen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dürfte inOstdeutschland erst bei circa 60 Prozent des westdeut-schen Niveaus liegen. Die niedrigen Löhne im Osten be-deuten meiner Meinung nach – darüber kann man sehrkontrovers diskutieren – einen direkten Kaufkraftverlustfür die meistens regional agierende einheimische Wirt-schaft. Die industrielle Basis ist noch immer nicht ausrei-chend. Die noch immer zu hohen Arbeitslosenzahlen sindein Beleg für viele ungelöste Probleme. Dieses Feld mussmit Nachdruck bearbeitet werden. Dabei werden wir unddie Bundesregierung die ostdeutschen Betriebe auch wei-terhin nach Kräften unterstützen.Staatliche Förderungen sind in vielen Bereichen nochimmer unerlässlich, zum Beispiel bei Investitionen undInnovationen sowie bei Existenzgründungen. Die Inves-titionsförderung bleibt auch weiterhin der Schwerpunktder Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern. Deshalbhaben wir die I-Zulage zuerst auf 10 Prozent bzw. fürkleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent verdop-pelt und dann noch einmal um 25 Prozent erhöht.Zur gezielten Förderung des Mittelstandes kann manan drei Punkten des „betrieblichen Lebenszyklus“ an-knüpfen: an der Förderung von Existenzgründungen, ander Wachstumsphase und schließlich an der Übergabe aneinen Nachfolger.Der erste Aspekt – Existenzgründung – ist gerade fürden Aufbau stabiler wirtschaftlicher Strukturen in denneuen Ländern von ganz entscheidender Bedeutung.
Wir brauchen unbedingt mehr Mut, mehr Engagementund mehr Unternehmenskultur, um ein solides Fundamentfür nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Dochoft reichen Mut und Engagement nicht aus. Oft brauchtman auch finanzielle Unterstützung.Besondere Akzente setzen wir bei der Stärkung vonInnovationsfähigkeit und Forschungskompetenzen.Neben Programmen wie PRO INNO, Inno-Net, BTU,Inno-Regio – ich hoffe, Sie, liebe Oppositionskollegen,haben noch nicht vergessen, dass wir trotz aller Spar-zwänge für die Folgejahre in diesem Bereich eine „Zu-kunftsmilliarde“ vorgesehen haben – möchte ich beson-ders das Programm FUTOUR ansprechen.Zu den beiden Anträgen von CDU/CSU und PDS, dieheute unter anderem beraten werden, möchte ich sagen:Es sieht ganz danach aus, als wäre der Schuss nach hintenlosgegangen, da wir das, was Sie fordern, bereits machen,und zwar auf ökonomisch vernünftige Weise.
Wir haben die richtige Entscheidung getroffen, indemwir das Programm FUTOUR über das Haushaltsgesetz2000 verlängern. Wie ich aus dem Wirtschaftsministe-rium erfahren habe, ist das Programm sehr erfolgreich an-gelaufen. Bislang sind 180 Betriebe in den Genuss vonFUTOUR gekommen. Die Berliner, vor allen Dingen dieOstberliner, können sich besonders freuen, weil in Ost-berlin 55 Unternehmensgründungen realisiert wordensind. In Sachsen wurden 38 und in Sachsen-Anhalt 29neue Unternehmen gegründet.Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen,dass zum Beispiel in meinem Wahlkreis Chemnitz Ver-fahren in Lasertechnik entwickelt wurden und dass welt-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 20009958
weit agierende Hightechunternehmen im Bereich opti-scher Prüf- und Messtechnik entstanden sind. In Zwickauist ein weltweit neues System zur Nutzung der Energie beiLuftaustauschprozessen erfunden worden.Ich möchte Sie fragen: Wissen Sie, was Synotec-Psychoinformatik ist? Nein? – Ich wusste es auch nicht. –Dann müssen Sie mit mir nach Geyer im Erzgebirge fah-ren, weil dort daran gearbeitet wird – das alles dank unse-rer Unterstützung. Allein in Südwestsachsen sind 1999durch die Unterstützung von Existenzgründungen imTechnologiebereich 964 Arbeitsplätze in 206 neuen Un-ternehmen entstanden.
Das hat Roman Herzog mit seiner „Ruck“-Rede gemeint.Aber das haben Sie nicht einmal begriffen, geschweigedenn umgesetzt.
In diesen speziellen Förderprogrammen wirkt natür-lich unsere Politik der wirtschaftsfreundlichen Rah-menbedingungen.Das Zukunftsprogramm 2000 gibt unsein gutes Stück der finanzpolitischen Handlungsspiel-räume zurück, die wir für den Aufbau Ost ganz dringendbrauchen. Auch die Steuersenkungen werden zu einemInvestitionsschub führen, der – davon bin ich überzeugt –gerade den Ostbetrieben zugute kommen wird. Wir habendie aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt und bemühenuns nachhaltig, das Ausbildungsproblem zu lösen.Alle diese Maßnahmen sind gut und richtig. Wir brau-chen sie dringend, um die Probleme zu lösen, die zwei-felsohne noch anstehen. Ich bin die Letzte, die dafür wäre,die Probleme unter den Teppich zu kehren.
Wir müssen uns aber auch bewusst machen, was die Men-schen in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon er-reicht haben. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen hal-ten, dann gewinnen wir auch die Kraft und Motivation,die Aufgaben zu meistern, die noch vor uns liegen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus derKrise an die Spitze ist hart, manchmal sehr hart, aber erlohnt sich auf jeden Fall, vor allen Dingen im Interesse derMenschen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ihre Zuversicht hinsichtlich der Ent-
wicklung der Realeinkommen Ost, Herr Kanzleramtsmi-
nister Schwanitz, würde ich ja gern teilen. Aber die Rea-
lität spricht leider eine andere Sprache. Wie Sie wissen,
kämpft die ÖTV gegenwärtig unter anderem um die
Angleichung derLöhne und GehälterOst an das West-
niveau. Derzeit werden im Osten nur 86 Prozent gezahlt.
Hauptgegner der ÖTV ist dabei das Bundesinnenministe-
rium,
das diese Angleichung nach Möglichkeit auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag verschieben will. Hochinteressant ist in
diesem Zusammenhang eine Dienstinformation des Bun-
desministeriums des Inneren an die obersten Bundes-
behörden und andere unterstellte Institutionen. Darin
heißt es, dass für die beabsichtigte Einstellung eines bis-
her im Westen beschäftigten Arbeitnehmers im Tarifge-
biet Ost der Osttarif anzuwenden sei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Jüttemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lengsfeld?
Frau Lengsfeld, IhreFragen sind niveaulos. Lassen wir das lieber, danke.
Die dadurch entstehenden Einkommensverluste könn-ten jedoch – so heißt es in dem Schreiben – zu Problemenbei der Personalgewinnung führen. Als Konsequenz wirdin der BMI-Information Folgendes ausgeführt:Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,erhebe ich – im Einvernehmen mit dem Bundesmini-sterium der Finanzen – keine Bedenken, wenn dieserArbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West einge-stellt wird und anschließend in das Tarifgebiet Ostwechselt.Im Klartext heißt das nichts anderes als das Einverständ-nis der Bundesregierung zur Tarifangleichung Ost anWest, allerdings nur für Leute aus dem Westen. So viel zurviel zitierten Behauptung, vor dem Gesetz seien allegleich! Seit Heinrich Heine hat sich offenbar nicht allzuviel verändert:
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,Ich kenn auch die Herren Verfasser;Ich weiß, sie tranken heimlich WeinUnd predigten öffentlich Wasser.
Noch ein Wort zur Angleichung der Löhne in Ost undWest: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatin seiner jüngsten Studie vom 10. Mai erstmalig die Ten-denz einer solchen Einkommensangleichung registriert.Die durchschnittlichen Jahreseinkommen der HaushalteOst seien 1997 – neuere Zahlen standen nicht zur Verfü-gung – auf 85 Prozent des Westniveaus angestiegen.Interessant ist die Begründung: Neben den steigendenLöhnen im Westen führt das DIW hier nämlich auch die
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Jelena Hoffmann
9959
seit 1992 rückläufigen Realeinkommen im Westen an.Setzt sich diese Tendenz fort, wird die Angleichungder Löhne – das Gleiche gilt im Übrigen auch für dieLebensverhältnisse im Allgemeinen – eine Angleichungnach unten sein. Das heißt, das allgemeine Niveau wirdgesamtgesellschaftlich abgesenkt. Das kann ja wohl we-der im Interesse der Bevölkerung im Osten noch der imWesten sein.
Lassen Sie mich diese Tendenz noch an einem Beispielbelegen: Am 6. März dieses Jahres erhielt der Betriebsratder niedersächsischen Firma Hemeyer-VerpackungenBad Lauterberg die Nachricht vom Unternehmer, dass dasWerk am 31. Dezember 2000 seine Pforten schließen undnach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt umsiedeln werde.
Ähnliches vernimmt man aus der Firma Brandt Zwiebackaus Hagen, die es nach Thüringen zieht.Was ist der Hintergrund solcher Umzüge, die es ge-häuft bei kleineren Firmen im ehemals grenznahen Raumgibt? Erstens locken natürlich im Osten die Fördermittelder Gemeinschaftsaufgabe. Zweitens werden im Osten inaller Regel weniger Arbeitskräfte eingestellt, als im Wes-ten entlassen werden. Drittens bekommen sie durchwegentschieden weniger Lohn. Viertens schließlich ist derStand der Mitbestimmung im Osten, also gewerkschaftli-che Vertretung, gewerkschaftliche Stärke, Betriebsräteusw., weitaus niedriger, fast null. Das wissen Sie dochselbst.Unterm Strich heißt das alles nichts anderes, als dassgesamtgesellschaftlich gesehen schon einmal erreichtesoziale Standards abgebaut werden und damit das Ge-samtniveau der Lebensverhältnisse gesenkt wird. Dafürwerden auch noch staatliche Fördermittel ausgereicht.
Die PDS-Fraktion hält solche Vorgänge für einen eindeu-tigen Missbrauch von öffentlichen Geldern und fordertdie Veränderung der Förderrichtlinien dahin gehend, dassein solcher Missbrauch verhindert wird.
Zum ersten Jahresbericht der deutschen Einheit, dendie neue Bundesregierung vorgelegt hat, möchte ich nurso viel sagen, dass er im Gegensatz zu früheren Berichteneine Reihe realistischer Einschätzungen des tatsächli-chen, in vielen Fragen unbefriedigenden Zustandes ent-hält. Man findet in ihm darüber hinaus eine Reihe vonStichworten und Maßnahmen, die durchaus zur Verbesse-rung der Situation beitragen könnten. Der entscheidendeMangel des Berichts ist jedoch, dass er keine erkennbareStrategie enthält, um die Hauptprobleme der neuen Län-der in einem klar abgesteckten Zeitraum zu lösen. Hierzugehört der Abbau der Massenarbeitslosigkeit im Zusam-menhang mit einem sich selbst tragenden kontinuierli-chen wirtschaftlichen Aufschwung. Ohne eine solcheStrategie wird die Angleichung der Lebensverhältnissein der gewünschten Form, also ohne Abschwung West, je-doch nicht zu haben sein.Wir halten deshalb die Frage, ob der Jahresbericht zurdeutschen Einheit zukünftig in der bisherigen oder in ei-ner veränderten Form vorgelegt wird, für nicht so ent-scheidend. Wichtig ist allein der Inhalt; wichtig ist, dassder nächste Bericht endlich eine solche Strategie, verbun-den mit einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensver-hältnisse, enthält, den die PDS ebenso kontinuierlich ein-fordert, wie sich die Regierung seiner Aufstellung bisherverweigert.
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu unse-rem FUTOUR-Antrag. Auf nachdrückliche Erinnerungder PDS hat die Bundesregierung im Zuge der Haushalts-beratungen 1999 eine Verlängerung des ProgrammFUTOUR bis 2003 realisiert.
Besonders der Verband der Innovativen Unternehmenhatte auf die prekäre Situation technologieorientierter Un-ternehmen aufmerksam gemacht. Deshalb hat die PDS dieBundesregierung aufgefordert, zukünftig ostdeutscheindustrielle Forschungsvereinigungen und -verbände ander Ausgestaltung neuer Förderprogramme zu beteiligen.Wie der VIU treten auch wir für eine langfristig angelegteProgrammlaufzeit von zehn Jahren ein. Gründern vontechnologieorientierten Unternehmen in den neuen Bun-desländern, aber auch in strukturschwachen Regionen deralten Bundesrepublik soll eine Förderung zugesichertwerden. Die Förderung soll vorrangig auf die Gründungvon technologieorientierten Unternehmen mit ökolo-gisch-sozialer Ausrichtung konzentriert werden, die inregionale und Landesentwicklungskonzeptionen struktur-politisch eingebunden werden, um so einen ökologisch-sozialen Umbau zu unterstützen.Zum CDU-Antrag zur Angleichung der Strompreiseund zur Aussetzung der Stromsteuern im Osten nur einSatz: Das klingt zwar alles recht gut, läuft aber am Endeauf nichts anderes als auf die Subventionierung derVEAG-Eigentümer mit öffentlichen Mitteln hinaus. Die-sen Großkonzernen in Ostdeutschland käme das sichersehr gelegen; aber letztlich lässt sich mit diesem Antragnicht ein einziges Problem lösen: nicht das der Überkapa-zitäten, nicht das der Sicherung der Arbeitsplätze bei derVEAG und auch nicht das der ökologischen Energiege-winnung.In diesem Rahmen möchte ich noch ein anderes Bei-spiel erwähnen. Keine Antwort ist ja auch eine Antwort.In der Fragestunde des brandenburgischen Landtageskam es zu einem Eklat. Die Landesregierung verweigertezum zweiten Mal die Antwort auf eine Anfrage der PDS-Abgeordneten Esther Schröder. Diese bestand auf einerOffenlegung der Personalstruktur im Landesdienst hin-sichtlich der Ost- oder Westherkunft der Bediensteten.Diese Anfrage hatte sie schon vor Wochen einmal gestellt,war aber mit der Begründung zurückgewiesen worden,dass der dafür notwendige Aufwand nicht angebracht seiund zehn Jahre nach der Wende die geographische Her-
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Gerhard Jüttemann9960
kunft keine Rolle mehr spielen dürfe. Die Abgeordneteäußerte gestern vor dem Parlament den Verdacht, dass ost-deutsche Bewerber noch heute schlechtere Karten beimVersuch des Eintritts in den Landesdienst hätten als Be-werber aus den alten Ländern, obwohl sie ihre Ausbildungnach der Wende gemacht haben.
Die gleiche Frage könnte man doch einmal den anderenLandesparlamenten im Osten stellen, wie viele Bedien-stete dort prozentual aus den neuen Bundesländern kom-men. Hat man denn kein Vertrauen in die Menschen? Ak-zeptiert man die Bildung, die sie genießen, einfach nicht?Oder ist der wahre Grund, dass wir im Osten einfach nochnicht anerkannt werden? Es wird höchste Zeit, dass sichhier etwas ändert.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debattefindet an einem fast historisch zu nennenden Tag statt;denn am gestrigen 18.Mai vor zehn Jahren wurde in Bonnvon Theo Waigel und Walter Romberg der Staatsvertragüber die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- undSozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund der DDR unterzeichnet.
Lieber Herr Staatsminister Schwanitz, diese Tatsache hät-ten Sie in Ihrer Rede ruhig einmal erwähnen können.
Dieser Vertrag war ein erster entscheidender Schritt aufdem Weg zur deutschen Einheit. Mit ihm begann einneuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Der Vertragentsprach der Forderung nach nationaler Solidarität undden Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheitund Wohlstand. Dieser Vertrag wurde sowohl im Deut-schen Bundestag als auch in der Volkskammer der DDRfraktionsübergreifend mit großer Mehrheit gebilligt.Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass imBundesrat zwei Ministerpräsidenten dagegen stimmten.Es handelt sich um den jetzigen Bundeskanzler Schröder– er ist nicht mehr anwesend; die Debatte scheint ihn sowie damals auch heute nicht zu interessieren –
und den ehemaligen Finanzminister Lafontaine. Ich er-wähne das der Vollständigkeit halber; denn bei manchenDebattenbeiträgen der Koalition hatte man heute den Ein-druck, Sie hätten die Einheit gegen die CDU erkämpft.Dem war aber nicht so.
Dieser Vertrag war die Grundlage für die Einführungder sozialen Marktwirtschaft in der DDR und damit dieGrundlage für das wirtschaftliche ZusammenwachsenDeutschlands. Bereits in der letzten Debatte zum Jahres-bericht, die wir am 11. November des letzen Jahres führ-ten, waren wir uns fraktionsübergreifend einig, dass seit-dem unbestreitbar große Erfolge beim Aufbau Ost erzieltwurden. Diese Erfolge sollten wir nicht kleinreden.
– Sie von der SPD können ruhig klatschen.Am deutlichsten werden die Erfolge, wenn wir uns dieKrisenanalyse des letzten Vorsitzenden der StaatlichenPlankommission, Gerhard Schürer, vom 30. Okto-ber 1989 anschauen. Sie enthält zum Beispiel die Aus-sage:Allein ein Stoppen der Verschuldung der DDR würdeim Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbarmachen.Das war die Wahrheit aus Sicht der Staatlichen Plankom-mission der DDR des Jahres 1989. Seitdem haben wir –dank gesamtdeutscher Solidarität und dank der Leis-tungsbereitschaft in Ost und West – ein großes Stück desWeges zurückgelegt und viel erreicht.Aber bei der heutigen Debatte muss auch ausgespro-chen werden, dass die wirtschaftliche Angleichung inDeutschland seit Mitte der 90er-Jahre stagniert und unterRot-Grün zum Stillstand gekommen ist. Herr Schwanitzund Herr Schulz, Sie können zwar viele Zahlen vorlegen,Sie kommen aber nicht an der Tatsache vorbei – ich sagedas mit Bedacht –, dass seit Mitte der 90er-Jahre die wirt-schaftliche Angleichung zum Stillstand gekommen ist.Das müssen wir ändern.Schauen Sie sich einmal die Wachstumsraten an! Siemüssen sie erst zur Kenntnis nehmen und können sie danninterpretieren. Während in der ersten Hälfte der 90er-Jahre die Wirtschaft im Osten mit einer Rate von bis zu10 Prozent wuchs, wächst sie seit vier Jahren langsamerals die im Westen: um 1,7 Prozent gegenüber 2,3 Prozentim Jahre 1997; um 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent imJahre 1998, um 1,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent imJahre 1999 und dieses Jahr voraussichtlich nur noch um2,2 Prozent gegenüber 2,8 Prozent. Seit vier Jahren gehtalso die Schere wieder auseinander, Herr Schwanitz.
– Sie regieren aber seit fast zwei Jahren.Nehmen Sie zum Beispiel das BruttoinlandsproduktOst je Einwohner. In 1991 betrug es 30 Prozent des West-wertes. Bis 1994 stieg es rasant auf 53 Prozent und stag-niert seitdem bei rund 55 Prozent des Westwertes. DieSteuerdeckungsquote Ost hatte in 1991 einen Ausgangs-punkt von 22,3 Prozent und stieg bis auf 50 Prozent in1995. Auf diesem Niveau sind wir geblieben.
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Gerhard Jüttemann9961
Herr Schulz, das sind die wesentlichen wirtschaftli-chen Zahlen. Sie können natürlich auch die eine oder an-dere positive Zahl finden. Aber das sind die wichtigstenKerndaten. Im europäischen Rahmen betrachtet lässt sichsagen: Die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands liegtnach wie vor stabil unter 75 Prozent des EU-Durch-schnitts und damit auf dem Niveau vieler südeuropäischerRegionen und Länder wie Portugal, Sizilien und Grie-chenland. Deutschland droht also, wenn Sie, HerrSchwanitz, nicht handeln – Sie haben im Augenblick dieRegierungsverantwortung –, eine dauerhafte wirtschaftli-che Spaltung. Das akzeptieren wir von der Union nicht.
Anstatt dem Aufbau Ost neue Impulse zu geben, hat dierot-grüne Bundesregierung seit 1998 bei den Investitio-nen überproportional gekürzt.
Die allgemeine Investitionsquote im Bundeshaushaltsinkt kontinuierlich – von 12,5 Prozent in 1998 auf11,6 Prozent in 1999 bis auf 10,6 Prozent im Jahre 2003.Das besondere Opfer dieser rückläufigen Investitions-quote sind die Verkehrswegeinvestitionen Ost. Wir wis-sen alle: Verkehrswege sind von ganz besonderer Bedeu-tung für die wirtschaftliche Entwicklung. Unser KollegeWolfgang Dehnel aus der CDU-Landesgruppe Sachsen,der hinter mir als Schriftführer sitzt, hat das in derSchkeuditzer Erklärung im Januar dieses Jahres für dieLandesgruppe überzeugend herausgearbeitet: Ohne Ver-kehrswegeinvestitionen gibt es keinen wirtschaftlichenAufschwung.
Was aber hat die Bundesregierung unternommen, HerrSchwanitz? Die Bundesregierung hat am 3. November1999 ein vom Bundesverkehrsminister – er ist nicht da;ihn scheint das nicht zu interessieren – aufgelegtes Inves-titionsprogramm – besser wäre der Name „Investitions-verhinderungsprogramm“ gewesen – für die Jahre 1999bis 2002 beschlossen,
was, Frau Kaspereit, die Verkehrsinvestitionen in dieserLegislaturperiode um 3,5 Milliarden DM zurückführt.Insbesondere im Osten kürzen Sie. Sie haben die Schie-nenanbindung Mitteldeutschlands, das Verkehrsprojektdeutsche Einheit Nr. 8, gestoppt. Deswegen haben wirjetzt den Schildbürgerstreich, dass der neue LeipzigerFlughafen ohne ICE-Anschluss ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kolbe,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Kaspereit?
Wenn es nicht von der
Redezeit abgeht, ja.
Herr Kollege Kolbe, kön-
nen Sie mir bitte die Höhe der Unterdeckung im Verkehrs-
wegeplan der alten Bundesregierung nennen?
Frau Kollegin, Sie ver-
wechseln permanent den Verkehrswegeplan mit dem
Haushaltsplan. Der Haushaltsplan ist ein Finanzierungs-
plan; der Verkehrswegeplan ist ein Investitionsplan. Ich
kann nur feststellen, dass zu unserer Regierungszeit ge-
baut worden ist – und die Bauten sind auch bezahlt wor-
den –,
während Sie die Bauten gestoppt haben. An dieser Tatsa-
che kommen Sie nicht vorbei. Wenn das so weitergeht,
dann warten wir noch 20 Jahre auf eine Autobahn zwi-
schen den beiden großen Städten Leipzig und Chemnitz
mit einer halben Million und einer drittel Million Ein-
wohner. Das ist doch keine zukunftsorientierte Politik.
Die ausbleibenden Infrastrukturmaßnahmen behindern
die weitere wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands
und führen sogar dazu, dass die Abwanderung aus dem
Osten, die uns alle ganz besonders große Sorgen macht,
weitergeht. Wir kommen nicht um die Feststellung
herum: Unter Schröder und Schwanitz ist der Aufbau Ost
von der Chefsache zur Nebensache degradiert worden.
Die CDU wird dafür sorgen, dass er wieder zur Chefsache
wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten
Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren Kollegen! Der Kollege Jüttemann hat ge-meint, in die Debatte ein Schreiben aus dem Bundesin-nenministerium einführen zu müssen.
– Lassen Sie mich doch darauf eingehen! Es ist ja interes-sant, Informationen dazu zu bekommen.Ich habe nicht die Absicht, mit der Debatte auf dasSchlichtungsverfahren im Rahmen der Tarifverhandlun-gen für den öffentlichen Dienst Einfluss zu nehmen. Abereinige Feststellungen sind, so denke ich, notwendig.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Manfred Kolbe9962
Das erwähnte Schreiben betrifft die Frage der Perso-nalgewinnung. Bei dem Absatz, der hier zitiert worden ist,dürfen Sie folgenden Satz nicht übersehen:Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,– sohatderMitarbeiter ausdemMinisteriumgeschrieben–erhebe ich keine Bedenken, wenn dieser Arbeit-nehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestelltwird.Das betrifft meiner Kenntnis nach ganz wenige Fälle, dieman an einer Hand abzählen kann, ist also keine generelleVorgabe, die die Tarifstruktur berührt.Herr Kollege Jüttemann, der Bund verhält sich in die-ser Frage solidarisch mit den neuen Bundesländern undden Kommunen. Ich kann nur den Kollegen Milbradt zi-tieren, der an den Tarifgesprächen unmittelbar beteiligtist. Er weist zu Recht darauf hin, dass er, wenn es umTransferleistungen geht, zunächst einmal daran denkt, dieTransferleistungen für Investitionen zu verwenden undnicht für Tariferhöhungen, und dass auch der Abstand zurfreien Wirtschaft – das Lohnniveau im Osten liegt näm-lich bei 75 Prozent des Westniveaus – deutlich erkennbarbleiben muss. Ich glaube nicht, dass wir im öffentlichenDienst eine Anhebung auf 100 Prozent verantworten kön-nen, wenn in der freien Wirtschaft nur 75 Prozent gezahltwerden.Das sind die Bedingungen, an denen man sich orien-tieren muss. Man kann sehr viel wünschen; das tue ichauch. Ich hätte ja persönlich überhaupt nichts dagegen,wenn wir auf 100 Prozent steigern würden. Allerdingssollten dann im Osten netto nicht mehr als 100 Prozentherauskommen. Das wäre auch nicht die richtige Lösung.Ich wäre dankbar, Herr Kollege Jüttemann, wenn Siedie Polemik, die aus Ihren Kreisen in diesem Bereich be-trieben wird, etwas zurückfahren könnten und den Men-schen reinen Wein – Sie haben über Wein und Wasser ge-sprochen – über die wahren Gegebenheiten in den neuenBundesländern einschenken würden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung der
Kollege Jüttemann, bitte.
Ich habe wörtlich vorge-
lesen. Es stimmt ja wohl. Die Frage ist doch: Wie gehen
Sie an die Sache heran? Sie billigen möglicherweise ei-
nem Beamten, der im Ostteil arbeiten will, zu, über einen
Umweg erst im Tarifgebiet West eingestellt zu werden,
aber dann zurück ins Tarifgebiet Ost zu kommen und
Westgehalt zu bekommen. Es ist doch keinem Normal-
bürger hier verständlich zu machen, dass heute zwei be-
amtete Schutzpolizisten nebeneinander die gleiche Arbeit
machen, von denen der eine länger arbeitet und 15 Pro-
zent weniger Lohn kriegt. Das können Sie nach zehn Jah-
ren Wiedervereinigung niemandem erklären. Versetzen
Sie sich einmal in die Situation. Hätte die alte Bundesre-
gierung den Menschen 1990 so etwas erzählt, hätte man
die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das
wäre unfassbar gewesen.
Zehn Jahre nach der Wende versuchen Sie, mit Taschen-
spielertricks westlichen Kollegen Dinge zugute kommen
zu lassen, und die östlichen Kollegen haben keine
Chance. Das ist doch die wahre Situation. Ich habe kein
Wort falsch vorgelesen. Natürlich sagen Sie, es betreffe
bloß wenige Fälle. Das können wir schlecht prüfen. Aber
es betrifft Fälle; das ist die Tatsache.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
der Debatte ist jetzt die Kollegin Ingrid Holzhüter für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kollegin-nen und Kollegen! Ich will eingangs auf Äußerungen wie„Schönrederei“ usw. zurückkommen. Ich denke, eine an-gemessene Portion Stolz
in den neuen Ländern ist angebracht.
Da leben nämlich flexible, intelligente und fleißige Leutemit einer Biografie, hinter der sie sich nicht immer ver-stecken müssen nach dem Motto: Das war ja DDR. Ichdenke, wir müssen ein bisschen offensiver mit den Din-gen umgehen und dürfen nicht so tun, als hätten wir auchan dieser Stelle noch die Teilung zwischen gut und böse,zwischen intelligent und faul oder wie auch immer.
Das ist doch in der Öffentlichkeit oft ein Thema. Wir müs-sen dafür sorgen, dass das endlich aus den Köpfen ver-schwindet, dass hier der eine jammert und da der andererudert, und dass wir alle daran denken: Wir haben überallsone und solche.
Der Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zumStand der deutschen Einheit setzt im Vergleich zu den Vor-gängerberichten deutlich neue Akzente. Es ist der ersteBericht der neuen Regierung. Er macht deutlich, dassbeim Aufbau Ost eine Menge erreicht wurde. DurchSchwerpunktsetzung ist der vorliegende Bericht der Bun-desregierung übersichtlicher und lesbarer geworden.Lieber Herr Türk, es kann also nun endlich konkret nach-vollzogen werden, welche der aufgeführten Leistungenwirklich in den Aufbau Ost geflossen sind, und der unsin-nige Mix aus so genannten Transferleistungen, die Ost
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Bundesminister Otto Schily9963
und West inzwischen gleichermaßen zustehen, ist endlichverschwunden.
Der Bericht zeigt auch auf, wo es noch drückende Pro-bleme bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwi-schen Ost und West gibt und welche mit Priorität ange-gangen werden müssen.Der Aufbau Ost ist von dieser Bundesregierung ausguten Gründen zur Chefsache erklärt worden. RolfSchwanitz wurde die Aufgabe des Beauftragten der Bun-desregierung für die Angelegenheiten der neuen Länderübertragen und es gibt einen neuen Bundestagsausschussfür Angelegenheiten der neuen Länder. Damit wird deut-lich, wo wir den Aufbau Ost ansiedeln.Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Erreichung einerEinheit in der Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein derMenschen; dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt.Dieses Ziel haben wir trotz aller Bemühungen noch nichterreicht. Wir versprechen keine Wunder und wir habenauch noch einen langen Weg vor uns. Aber einige Voraus-setzungen haben wir schon geschaffen. Wir haben dashöchste Wachstum seit dem so genannten Einheitsboom,wir haben über 3 Prozent mehr Lehrstellen, und wenn wirden Prognosen glauben dürfen – ich glaube an die Zu-kunft –, dann werden wir demnächst 300 000 neue Jobshaben.Die Politik der Bundesregierung hat also Erfolg. DieFörderprogramme für die berufliche Erstausbildung inden neuen Ländern, auf die ich noch zu sprechen kommenmöchte, belegen dies exemplarisch.Leider ist es so, dass die konjunkturellen Impulse inden neuen Ländern und Berlin noch nicht ausreichendzum Tragen gekommen sind. Die vielen Versäumnisse derVergangenheit lassen sich eben nicht kurzfristig beheben.Bundeskanzler Schröder hat darauf hingewiesen, dasses bei den Ausbildungsplatzangeboten im Osten weiterhinProbleme gibt. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass imZuge der ostdeutschen Transformationsprozesse ganzeBranchen weggebrochen sind, sodass einige Betriebe feh-len. Aber es gibt, wie auch im Westen, Betriebe, die nichtausbilden. Hier müssen wir etwas tun, wobei ich nichtvergesse, dass es für kleine und mittlere Betriebe manch-mal schwierig ist auszubilden. Da müssen wir ihnen hel-fen, auch durch schon ausgebildete Hightechkräfte, damitsie auf diesem Gebiet noch etwas nachbessern können.Es wird erwartet, dass die Industrie im Osten gerade indiesem Bereich schon bald schneller wachsen wird als imWesten. Fachleute bestätigen, dass die neuen Länder baldmodernere Strukturen aufweisen werden als die altenLänder. Sie werden also im wahrsten Sinne neue Ländersein.Noch ein Wort zur überbetrieblichen Ausbildung.Diese ist oft besser als ihr Ruf und keine „Discountaus-bildung“. Ich höre sogar oft, dass man sich in diesen Be-trieben oft sehr viel intensiver um die Auszubildendenkümmert als in den gewinnorientierten Firmen.Wenn uns die Opposition nun vorwirft, wir würden dieJugendlichen dort nur parken, so hat sie sich durch dieseAussage selbst gründlich disqualifiziert.
Es bleibt notwendig, die gezielten arbeitsmarktpoliti-schen Anstrengungen fortzusetzen. Das Riester-Pro-gramm trägt dazu bei. Doch, wie schon angedeutet, auchdie Wirtschaft muss in dieser Richtung etwas tun.Aber die Fahrtrichtung stimmt. Ich nenne einigeSchlaglichter. Die Aprilbilanz 2000 deutet auf eine Stei-gerung der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin; dieAusbildungslücke in den neuen Ländern ist jedoch nochgroß. Mit den neu erarbeiteten Ausbildungsverordnungenin den neuen Berufen ist auch hier ein erster Schritt getan,um Ausbildungsprofile und sich schnell veränderndewirtschaftliche Betätigungsfelder neu aufeinander abzu-stimmen. Gerade im Bereich der Dienstleistungen zeich-nen sich weitere Wachstumsfelder ab, die durch das Be-rufsbildungsgesetz, die Handwerksordnungen usw. bisjetzt nicht erfasst werden.Das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ desBMBF hat seit seinem Beginn im Juli 1995 einen wesent-lichen Beitrag zur Mobilisierung geleistet. Allein im Zeit-raum vom 1. März bis zum 31. August 1999 wurden über14 000 Ausbildungsplätze zugesagt, von denen in der Re-gel 70 Prozent realisiert werden. Dieses Programm wer-den wir fortführen.
Auch durch die von den Kammern durchgeführten Pro-gramme „Ausbildungsberater“ und „Lehrstellenwerber“wurden im letzten Jahr mehrere tausend Ausbil-dungsplätze geschaffen.Für das Programm „Ausbildungsberater“ sind für 2000Fördermittel in Höhe von 2 Millionen DM eingeplant.Das ist doch etwas!
Ich möchte an dieser Stelle auf das Riester-Programmeingehen. Das Ziel dieses Sofortprogrammswar der Ab-bau der Jugendarbeitslosigkeit. Es gab bis zum 31. De-zember 1999 219 055 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.Allein in Ostdeutschland sind so 72 787 Jugendliche zueiner Ausbildung gekommen. Auch in diesem Jahr stehenwieder 2 Milliarden DM für dieses Programm zur Verfü-gung.
Auch die Zusage der Wirtschaft, bis 2003 60 000 neueAusbildungsplätze im IT-Bereich zur Verfügung zu stel-len, weist in die richtige Richtung.Aber wir brauchen nicht nur IT-Fachleute, sondernauch andere Fachkräfte. Nicht jeder Jugendliche ist eingeborener Akademiker. Viele Jugendliche haben eherhandwerkliche Fähigkeiten. Auch Jugendliche ohne einenqualifizierten Schulabschluss dürfen von uns nicht ver-nachlässigt werden. Es gibt auch im nicht akademischenRaum durchaus zukunftsträchtige Berufe.
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Ingrid Holzhüter9964
Wir dürfen nicht vergessen, dass es neben der Unter-qualifizierung noch ein weiteres Handicap gibt: dieÜberqualifizierung. Das ist gerade in den neuen Ländernder Fall. Ich kenne Frauen mit akademischer Ausbildung,denen, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, seitens poten-zieller Arbeitgeber gesagt wird: Sie sind überqualifiziert;Sie sind mir zu teuer. Dann gibt es noch die Menschen, dieälter als 45 Jahre alt sind und angesichts unseres Jugend-wahns teilweise überhaupt keine Chancen mehr haben.Wir werden zwar immer älter; aber ab 45 gehören wirschon fast zum alten Eisen. Ich packe alles noch hervor-ragend, obwohl ich schon über 45 bin, wie viele von Ih-nen.Die Bundesregierung hat die Probleme auf dem Wegzur Vollendung der inneren deutschen Einheit im Augeund weist dies im vorliegenden Bericht nach.Meine Redezeit ist knapp; aber trotzdem will ich denGoldenen Plan Ost erwähnen. Ich bin auch Sportpoliti-kerin. Ich denke, dass es ein gutes Zeichen ist, dass wirauch an anderen Stellen zur Gleichheit beitragen möch-ten.
Der Bundeshaushalt steckt natürlich den Rahmen ab.Das wissen Sie so gut wie wir. Trotzdem liefert der vor-liegende Bericht den notwendigen Überblick, was insge-samt noch zu tun ist und was wir tun können.
Der Bericht liefert kompakte Informationen. Denn auchwir als Parlament sind aufgefordert, etwas zu tun. Wirkönnen und wollen ja nicht alles der Regierung überlas-sen.Als so genannter „Wossi“ mit Berliner kommunalerErfahrung sage ich Ihnen: Wir sind auf dem richtigenWeg. Deshalb bitte ich um zustimmende Kenntnis-nahme des vorliegenden Jahresberichtes. Ich fordere dieBundesregierung auf, uns die Fortführung des Berichtesin gleicher Weise zur Kenntnis zu geben.Ich bedanke mich für die gute Arbeit.
Ein bisschen weniger zu jammern und sich etwas mehr zufreuen wäre – auch für unser Haus – eine ganz gute Sache.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der Kol-
lege Dr. Paul Krüger, Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere aus dem Jah-resbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deut-schen Einheit.Seit der Wiedervereinigung sind beachtliche Fort-schritte in der Angleichung der Lebensverhältnissezwischen Ost- und Westdeutschen erreicht worden.Ich finde, das ist eine positive Aussage, die ich aus-drücklich unterstreichen will.
Das ist – so muss man hier feststellen – natürlich in ersterLinie auf die Arbeit der alten Bundesregierung zurückzu-führen und nicht auf die der neuen Bundesregierung.
Denn ich hatte heute manchmal den Eindruck, als ob füralle positiv zu verzeichnenden Entwicklungen die jetzigeRegierung verantwortlich sei.
Ich zähle Ihnen einige Fakten auf, die positiv sind: dieAngleichung der sozialen Bedingungen insbesondere imBereich des Gesundheitswesens, der Aufbau der Kommu-nikations- und Verkehrsnetze, bei denen es noch immerviele Defizite gibt, der Wohnungsbau und vor allen Din-gen die Wohnungssanierung, die Zahl der Existenzgrün-dungen und deren Entwicklung sowie – nicht zu verges-sen – die Umwelt- und Altlastensanierung. Diesen Kata-log könnte man erweitern. Ich zähle diese Dinge deshalbauf, damit Sie nicht behaupten können, wir würden allesmies machen. Im Gegenteil – Herr Nooke hat deutlich da-rauf hingewiesen –, es gibt eine positive Entwicklung –dies ist immer wieder zu konstatieren – und die haben wirgestaltet.
Trotzdem scheint es heute in den neuen Bundesländerneine gewisse Stagnation – man möchte fast sagen: eineResignation – zu geben. Herr Schwanitz, da stimme ichmit Ihrer Einschätzung nicht überein.Die neue Bundesregierung muss sich fragen lassen:Wo sind die Ursachen für die stagnierende Unterneh-mensentwicklung, das stagnierende Wachstum und diezunehmende Zahl von Insolvenzen zu suchen? Womitsind die rückläufigen Investitionen zu begründen?
Einen Grund dafür hat Herr Kolbe hier aufgezeigt: DerBundeshaushalt weist rückläufige Investitionszahlen aus.Es ist klar, dass diese daraus resultierenden Einbrücheauch den Bausektor belasten. – Was ist der Grund für dieStagnation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für dieStagnation der Zahl der Arbeitslosen bei gleichzeitigemWegfall von Arbeitsplätzen in einem enormen Umfang?Zur schlechten Stimmung tragen auch emotionale Fak-toren bei; darauf geht der Bericht ein. Dort steht: Die Ver-wirklichung der deutschen Einheit ist mehr als finanzielleHilfen und wirtschaftliches Wachstum. Die innere Ein-heit braucht auch eine emotionale Basis. – Ich frage
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Ingrid Holzhüter9965
mich: Wer ist eigentlich verantwortlich für die schlechteStimmung, die hier eingetreten ist? Die neue Bun-desregierung hat es innerhalb eines Jahres geschafft, dasVertrauen, das viele Bürger gerade in Ostdeutschland insie gesetzt haben, massiv und nachhaltig zu erschüttern.Dafür gibt es leider viele Beispiele.
Lassen Sie mich einige Beispiele dafür aufführen,warum die Menschen erkannt haben, dass der Aufbau Ostfür die neue Bundesregierung nicht Herzens-, sondernnur Chefsache ist. Schauen Sie sich einmal dieMehrbelastungen an! Die Ökosteuer zum Beispiel be-lastet die ostdeutschen Haushalte und Unternehmen in be-sonderem Maße. Die Mineralölsteuererhöhung benach-teiligt die Vermögens- und Einkommensschwachen beigleicher Belastung natürlich überproportional. Dies giltauch für die Flächenländer, die dünn besiedelten Länderin Ostdeutschland.
Genauso ist es mit der mittelständischen Wirtschaft.Es ist eben nicht so, wie Sie heute gesagt haben. Die mit-telständische Wirtschaft wird durch die Steuerreform, dieSie gestern verabschiedet haben, verstärkt belastet.
Herr Schwanitz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie sagen,in Ostdeutschland gebe es nur kleine Unternehmen. Wirhaben nicht nur Existenzen mit kleinen Einkommen bzw.kleinen Gewinnen. Gerade die Unternehmen im innovati-ven Bereich brauchen Gewinne, die sie wieder einsetzenkönnen, um wachsen zu können. Genau an dieser Stelleaber greifen Sie ein. Damit blockieren Sie das Wachstumin Ostdeutschland.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie habenden Transrapid auf das Abstellgleis geschoben. Das trifftOstdeutschland ganz besonders hart.
Man muss es sich einmal vorstellen: 30 Jahre lang ist ent-wickelt worden. Alle möglichen Regierungen haben die-ses Projekt unterstützt. Aber jetzt, da es sozusagen baureifist, stellen Sie es auf das Abstellgleis.
Das trifft die neuen Länder besonders hart.
Sie machen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik; da-rauf ist heute schon eingegangen worden.
Ich will noch ein Beispiel nennen, das mich besondersbekümmert. Der A3XX ist das größte IndustrieprojektEuropas, welches derzeit verwirklicht wird. Ich habe mirgestern von der Dasa die Zahlen geben lassen. Die DASAgibt an, dass durch dieses Projekt 15 600 direkte Arbeits-plätze und 31 200 indirekte Arbeitsplätze – macht zusam-men 46 800 Arbeitsplätze – in Deutschland geschaffenwerden.
Die Masse dieser Arbeitsplätze wird jedoch nicht in Ost-deutschland entstehen. Im Gegenteil, dort wird fast keinArbeitsplatz entstehen, und das, obwohl die Bundesregie-rung auf diese Entwicklung natürlich nachhaltig Einflusshat; denn sie soll auch dieses Projekt fördern, und zwarmit einem enormen Investitionsvolumen. Wir wissen alle,dass die Flugzeugindustrie in Deutschland mit Unter-stützung des Staates aufgebaut worden ist. Trotzdemkümmert sich dieser Bundeskanzler, der jetzt leider nichtmehr hier ist, keinen Deut darum, dass aufgrund diesesProjekts in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklen-burg-Vorpommern, mehr Arbeitsplätze entstehen. Dashalte ich für einen politischen Skandal.
Wenn Sie solche Maßnahmen beschließen, dürfen Siesich nicht wundern, dass in der Folge die Konjunktur inOstdeutschland einbricht, dass die Arbeitslosigkeit nichtsinkt, sondern stagniert, und dass gleichzeitig Arbeits-plätze vernichtet werden bzw. nicht entstehen können.Eine weitere Folge sind die Abwanderung von Leistungs-trägern, insbesondere von qualifizierten Jugendlichen,und der Wohnungsleerstand, den wir allenthalben bekla-gen müssen. Herr Nooke ist darauf eingegangen.Meine Damen und Herren, wir müssen eine positiveStimmung erzeugen. Dass es Beispiele dafür gibt, dasswir sie erzeugen können, kann ich Ihnen sagen. Ichnenne das Programm „FUTOUR“. Die Mittel für„FUTOUR“ waren im letzten Haushalt gestrichen wor-den; das Programm sollte 1999 auslaufen. Im Haushalt für2000 waren keine Mittel dafür enthalten. Wir haben unsdaraufhin bemüht, mit einem Antrag und durch massiveIntervention das Programm wieder zu starten. Das ist unsnach langem Kampf gelungen. Die Bundesregierung hatdas eingesehen. Warum sollte man das von dieser Stelleaus nicht positiv erwähnen? Die Bundesregierung hat un-sere Initiative aufgegriffen und hat das Programm verlän-gert. Dadurch können – das hat heute schon jemand ge-sagt – in den neuen Bundesländern viele Arbeitsplätzeentstehen. Wir können doch auch anders. Warum orien-tieren wir uns nicht mittelfristig an diesen positiven Bei-spielen?Deshalb fordere ich Sie und die Bundesregierung auf:Nehmen Sie in dieser Hinsicht Vernunft an. Sorgen Siedafür, dass eine positive Stimmung in den neuen Bundes-ländern entstehen kann. Machen Sie eine mittel-standsfreundliche Steuerreform. Realisieren Sie die Trans-rapid-Strecke von Berlin nach Hamburg. Machen Sie eineArbeitsmarktpolitik, die den Arbeitslosen eine echteChance auf Dauerarbeitsplätze sichert. Setzen Sie sich fürden A3XX-Standort in Mecklenburg-Vorpommern ein.
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Dr.-Ing. Paul Krüger9966
Dann haben die Menschen in Ostdeutschland und hat nichtzuletzt die Wiedervereinigung wieder eine echte Chance.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich möchtezuerst zu dem etwas sagen, was Herr Krüger gerade zumA3XX vorgetragen hat. Herr Krüger, Sie sind bei diesemThema in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender stetsso vorgegangen, dass Sie das Fell des Bären immer schonverteilt haben, ehe er überhaupt erlegt war.
Sie wissen ganz genau, dass bis heute dazu keine Ent-scheidung getroffen wurde.
Sie haben in der Anhörung, die Sie veranstaltet haben,versucht, die Vertreter von Airbus Industrie zu einer Aus-sage zu nötigen. Sie wissen ganz genau, dass das Vertre-ter der Wirtschaft sind, denen Sie keine Vorschriften ma-chen können. Den Gefallen, eine Aussage zu treffen, ha-ben sie Ihnen auch nicht getan. Sie haben aber sowohl derLandesregierung von Mecklenburg-Vorpommern alsauch der Bundesregierung bestätigt, dass sie alles getanhaben, um eine Ansiedlung vorzubereiten und zu ermög-lichen. Das wollte ich hier noch einmal gesagt haben.
Nun zur Sache. Bei der Berichterstattung zum Standder deutschen Einheit konzentriert sich die neue Bundes-regierung künftig auf eine aktuelle und insgesamt auchkürzere und prägnante Darstellung. Wir werden zukünftigdie Zahlungsströme herausstellen, die der wirtschaftli-chen Entwicklung ausschließlich in Ostdeutschland in be-sonderer Weise zugute kommen. Da gehören solcheDinge wie BAföG und Kindergeld überhaupt nicht mit hi-nein. Das haben Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, ja immer in Ihre Zahlenspiele mit hinein ge-nommen. Wir haben uns dann immer über diese großenZahlen gewundert, mit denen Sie argumentiert haben. Ichbegrüße, dass die neue Bundesregierung einen Weg desehrlichen Umgangs mit den Zahlen gewählt hat.Insgesamt – das lässt sich für jedermann erkennen –setzt die Koalitionsregierung neue Maßstäbe beim Auf-bau Ost. Lassen Sie mich das wie folgt begründen:Erstens. Um in Zukunft, was die Entwicklung derneuen Bundesländer betrifft, noch handlungsfähig zusein, ist es unumgänglich, die Staatsfinanzen zu sanieren.Das jahrelange Wirtschaften auf Pump und die sich darausergebende enorme Zinsbelastung haben dramatische Aus-wirkungen gerade für den Gestaltungsspielraum in Ost-deutschland. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternativezur Haushaltskonsolidierung.Wenn es uns gelingt – ichbin davon überzeugt, dass es uns gelingt –, die Staatsver-schuldung abzubauen, werden wir die freigesetzten Mit-tel, die wir dann nicht mehr für Zinsen ausgeben müssen,zum Beispiel in die Infrastruktur der neuen Bundesländerlenken. Da haben wir die Mittel, die uns heute fehlen,dringend nötig.
Zweitens. Die neue Bundesregierung hat ein Steuer-entlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das insbeson-dere den Menschen in Ostdeutschland zugute kommt.
Die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozentund der erhöhte Steuerfreibetrag stärken gerade die vielenBezieher niedriger Einkommen
und Familien mit geringem Einkommen. Sie wissen ge-nauso gut wie ich, Herr Türk, dass gerade jene überpro-portional in den neuen Bundesländern vorhanden sind.
– Jawohl! Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage im Be-reich des Handels und des Handwerks und stärkt nicht zu-letzt die Kaufkraft. Das ist doch ein positiver Effekt, denwir alle wollen.
Wir machen eine Unternehmensteuerreform, von derdie kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ost-deutschland besonders profitieren werden. Entgegen allenBehauptungen ist dies deshalb der Fall, weil in den neuenLändern die kleinen und privaten Personengesellschaftenvorherrschend sind.
Viele Unternehmen kommen, was das Betriebsergeb-nis betrifft, gar nicht erst in die Gelegenheit, den von derUnion favorisierten gesenkten Spitzensteuersatz zahlenzu müssen. Das wissen Sie doch ganz genau.
Der liegt für so manche Personengesellschaft in ganz wei-ter Ferne. Denen helfen wir aber nur dadurch, dass wir denEingangssteuersatz – in Verbindung mit dem Steuerfrei-betrag – heruntersetzen.
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Dr.-Ing. Paul Krüger9967
Hinzu kommt: Die Anrechenbarkeit der Gewerbe-steuer auf die Einkommensteuer führt zu einer Stärkungder Eigenkapitalbasis in den Betrieben.
Das schafft Investitionsanreize, die sich längerfristig auchauf dem Arbeitsmarkt niederschlagen werden.Beides – die Haushaltskonsolidierung und die bereitsim Vorfeld angekündigte Steuerentlastung für die Unter-nehmen – hat in Deutschland einen Aufschwung bewirkt,wie es ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat.
Nach Zeiten der Stagnation gehen die Arbeitslosenzah-len in den alten Ländern deutlich nach unten. Die Preis-steigerungsraten bleiben stabil. Das ist – nebenbei ge-sagt – ein besonders sozialer Faktor auch für die Men-schen in Ostdeutschland.
Motor bei dieser Entwicklung ist die Exportwirtschaft.Zwar auf niedrigem Niveau, aber doch ebenfalls deut-lich – das ist sehr erfreulich, darauf hat der Staatsministerhingewiesen – entwickeln sich die Exportchancen auchfür die ostdeutschen Unternehmen. Wir unterstützen mitunserer Fraktion und dem Ausschuss für Angelegenheitender neuen Länder einen Antrag zur „Stärkung von Absatzund Export der ostdeutschen Wirtschaft“.Es geht uns darum, kleinen Unternehmen und zahlrei-chen Neugründern zu helfen, die nach wie vor erheblicheSchwierigkeiten haben, auf internationalen Märkten Fußzu fassen. Bei ihnen fehlt es oft am Know-how, an ausrei-chenden finanziellen Mitteln und am Einsatz modernerInformationstechnologien. Hier werden wir flankierendeHilfen anbieten und wir ermuntern die Wirtschaft sowiedie Regierungen der neuen Länder, ihre Export- und Ab-satzhilfen fortzuführen. Man kann beispielsweise Unter-stützung bei Messeauftritten im In- und Ausland oder imBereich der sprachlichen Hilfestellung leisten.Das prognostizierte Wachstum von 2,8 Prozent in die-sem Jahr und die positiven Aussichten für das nächste Jahrsind die Voraussetzung für einen deutlichen Abbau der Ar-beitslosigkeit, auch im Osten. In Ostdeutschland wird sichdieser Effekt, der in den alten Bundesländern bereits ein-getreten ist, zwar zeitversetzt und von einem niedrigenNiveau ausgehend, ebenfalls einstellen. Davon bin ichüberzeugt.Erfreulich ist das wirtschaftliche Wachstum in denneuen Bundesländern im Bereich des verarbeitenden Ge-werbes von 5 Prozent im Jahre 1999. Das Institut für Wirt-schaftsforschung Halle hält in diesem Jahr 6,5 Prozent fürmöglich. Diese Zahlen – dessen bin ich mir bewusst –werden allerdings durch die nicht befriedigende Entwick-lung im Bauhauptgewerbe beeinträchtigt. Das ist hier be-reits mehrere Male angesprochen worden, und wir wissenalle, dass sich hier gegenwärtig noch ein Strukturwandelvollzieht.Drittens. Wir gestalten die Wirtschaftsförderung ge-zielter und effizienter, und zwar gerade vor dem Hinter-grund der notwendigen Überprüfung und Anpassung anveränderte Rahmenbedingungen. Die Bundesregierunghat mit einem Bündel von Maßnahmen den AufschwungOst vorangetrieben. Dabei kommt der Förderung von In-novation, Forschung und Entwicklung sowie deren Ver-netzung mit der Wirtschaft eine große Bedeutung zu.Beispielgebend sei hier das Programm Inno-Regio ge-nannt, das regionale Initiativen in einem Wettbewerb mo-bilisiert. Es hat exemplarische Funktion für eine neue För-derpolitik des Bundes. Das muss man doch zur Kenntnisnehmen!
Das Programm PRO INNO, das die Forschungskoope-ration zwischen Unternehmen und mit Forschungsein-richtungen im In- und Ausland einschließlich eines zeit-weiligen Personalaustausches fördert, ist ein weiteresBeispiel. Daneben tun wir etwas im Bereich der zukunfts-orientierten Wirtschaftsförderung.Ich hätte mir gewünscht, die alte Bundesregierungwäre hier ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dannhätten die neuen Bundesländer heute Vorreiter auf diesemGebiet sein können. Auch die aktuelle Green-Card-Kam-pagne verdeutlicht, dass im Osten Chancen im Zuge derUmstrukturierung der Ausbildung vergeben wurden.Auch das muss man an dieser Stelle einmal deutlich sa-gen.
Die Bundesregierung setzt neue Akzente bei derRisikokapitalfinanzierung von Existenzgründern. So wurdedas ERP-Innovationsprogramm, das von der Kreditan-stalt für Wiederaufbau durchgeführt wird, seit Januar 1999um eine Beteiligungsvariante – hier handelt es sich um vollhaftendes Risikokapital anstelle von Bankdarlehen – er-gänzt.Viertens haben wir bei der Arbeitsmarktpolitik ge-handelt. Angesichts der immer noch erheblichen Arbeits-losigkeit in den neuen Ländern ist dies auch unverzicht-bar. Mein Wahlkreis liegt in Mecklenburg-Vorpommernzwischen Müritz und dem Oderhaff, einer landschaftlichsehr reizvollen Gegend. Aber trotz einer aufstrebendenTourismuswirtschaft gibt es dort immer noch eine struktu-rell bedingte Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent.Daher hat das Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit eine große Bedeutung für dieÜberwindung der Arbeitslosigkeit.
Erfreulich ist, dass sich alle Bündnispartner ihrer Verant-wortung bewusst sind. Dies ist keine „Quasselbude“, wieSie es immer beschrieben haben. Vielmehr zeigen diejüngsten maßvollen Tarifeinigungen in der BauindustrieOstdeutschlands, wie dieser Verantwortung Rechnung ge-tragen wird.
Gerade den arbeitslosen Jugendlichen haben wir mitunserem JUMP-Programm wieder eine Perspektive ge-geben. Ich war in den Arbeitsämtern meines Wahlkreises.
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Frank Hempel9968
In den Gesprächen mit den Leitern dieser Arbeitsämter istmir bestätigt worden, dass diese Initiative greift und dassauch erfolgreiche Eingliederungen in den ersten Arbeits-markt zu verzeichnen waren.All die von mir aufgezeigten Beispiele machen deut-lich, dass die Bundesregierung neue Akzente setzt, dasssie gehandelt hat und weiterhin handeln wird, um die Pro-bleme in Ostdeutschland einer Lösung zuzuführen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme gleich zum Ende. –
Dazu bedarf es allerdings auch weiterhin des solidari-
schen Handelns aller Bundesländer. Dies gilt auch im
Hinblick auf den ab 2004 neu zu gestaltenden Solidar-
pakt II.
Den Bemühungen der bayerischen Landesregierung so-
wie Baden-Württembergs, die die Intention haben, sich
aus der Verantwortung für Ostdeutschland zu verabschie-
den, werden wir auch in Zukunft energisch entge-
gentreten.
Die Bundesregierung bemüht sich aus meiner Sicht
nach Kräften, den Aufbau Ost voranzutreiben.
Die CDU-geführten Länder müssen sich aber genau über-
legen, –
Herr Kollege,
dies muss nun wirklich der letzte Satz sein.
– ob sie mit ihrer Ablehnung
der Spar- und Steuerbeschlüsse von Hans Eichel letzten
Endes die Voraussetzungen für den weiteren Aufbau Ost
blockieren.
Ich danke.
Zu einer Kurzin-
tervention erhält der Kollege Krüger das Wort. Sie haben
dann die Möglichkeit zu antworten.
Herr Hempel, Sie
haben mich vorhin direkt angesprochen. Ihre Aussage
kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb bitte ich die Kol-
legen um Verzeihung, dass ich ihre wertvolle Zeit jetzt
noch in Anspruch nehme.
– Lassen Sie doch Ihre unqualifizierten Störungen.
Herr Hempel, so einfach, wie Sie es dargestellt haben
und wie Sie es sich machen, ist es leider nicht. Wenn so-
wohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung
nichts weiter tun, als das Konzept für den Standort Ros-
tock/Laage, das dazu dienen sollte, die Endmontage des
Großflugzeuges A3XX dort anzusiedeln, zu übergeben
und danach zu schweigen bzw. lediglich auf irgendwel-
chen Veranstaltungen, an denen in der Regel kaum Publi-
kum von außen teilnimmt, den Eindruck zu vermitteln
versuchen, dass man für diesen Standort kämpfen würde,
dann reicht das nicht.
Die gesamte Flugzeugindustrie in Deutschland ist
durch massive staatliche Interventionen in den 60er-,
70er- und 80er-Jahren entstanden ist. Dies wissen Sie al-
les. Die Gelder, die gezahlt worden sind, um diese Indus-
trie aufzubauen, gehen in die Milliarden. Es waren brutto
etwa 15 Milliarden DM. Es sind Rückzahlungen erfolgt,
sodass in diese Industrie netto etwa 10,2 Milliarden DM hi-
neingeflossen sind. Heute wäre dies wegen der internatio-
nalen Wettbewerbskontrolle gar nicht mehr möglich.
Das Konsortium Airbus International hat vor, ein neues
Großflugzeug zu bauen. Der Entwicklungsaufwand
beläuft sich auf etwa 11 Milliarden Dollar. Allein in
Deutschland entstehen – dies mögen sich alle auf der
Zunge zergehen lassen – 46 800 neue Arbeitsplätze; so
prognostiziert von der deutschen Airbus.
Wir wollen, dass Mecklenburg-Vorpommern zusätz-
lich zu dem marginalen Anteil, den die neuen Bundeslän-
der an der Zulieferindustrie haben, trotz Konkurrenz mit
den vielen westdeutschen Standorten eine Chance
bekommt, dort wieder Flugzeuge zu bauen. In die-
sem Land wurden vor dem Krieg von etwa 20 000 Men-
schen Flugzeuge gebaut, so wie im Chemiedreieck die
Chemieindustrie und in anderen Regionen, so in Sachsen,
die Mikroelektronikindustrie angesiedelt war oder ist.
Da kann man sich darüber streiten, ob es möglich ist,
einen Endmontageplatz für ein solches Flugzeug auf die
grüne Wiese zu setzen. Wir haben uns dafür eingesetzt,
und da die Bundesregierung hier nicht gehandelt hat, son-
dern Herr Schröder sich sogar durch aktives Handeln für
den Hamburger Standort eingesetzt hat, haben wir ge-
meint, wir müssen dagegen etwas unternehmen.
Deshalb haben wir mit dem gesamten Ausschuss –
übrigens auch mit Ihren Stimmen – diese Anhörung
durchgeführt und versucht, die Öffentlichkeit darauf auf-
merksam zu machen, welcher politische Skandal es ist,
wenn die neue Bundesregierung sich mit keinem Feder-
strich dafür einsetzt, dass tatsächlich in Mecklenburg-
Vorpommern wieder Flugzeugbau stattfindet.
Herr KollegeKrüger, eine Kurzintervention dauert wirklich nur dreiMinuten.
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Frank Hempel9969
Dafür werden wir
weiter kämpfen, und ich bin auch hoffnungsfroh, dass es
uns gelingen wird, hier zumindest im Zulieferbereich ei-
niges zu tun. Aber wesentlich mehr Engagement durch die
Bundesregierung hätte man hier nicht nur erwarten dür-
fen, sondern müssen.
Herr Krüger, wir hatten ja
nichts gegen die Anhörung, aber man kann sich dann nicht
hinstellen und die Vertreter von Daimler-Chrysler und
von Airbus Industrie zu einer Aussage nötigen. Das wis-
sen Sie doch ganz genau.
Sie wissen auch genau, wie sensibel dieses Thema ei-
gentlich zu behandeln gewesen wäre, denn wenn sich
zwei streiten, freut sich in der Regel der Dritte, in diesem
Fall Toulouse.
Zunächst einmal muss das Ding nach Deutschland
kommen, und dann können wir uns darüber unterhalten.
Das war immer unsere Intention. Ansonsten sind wir da
überhaupt nicht unterschiedlicher Meinung.
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Sie haben sich da
strategisch nicht vernünftig verhalten. Das muss ich Ihnen
immer wieder vorwerfen.
Danke. Ichschließe damit die Debatte. Wir kommen zu den Abstim-mungen und Überweisungen.Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung desAusschusses für Angelegenheiten der neuen Länder aufDrucksache 14/2608 zu drei Vorlagen zum Stand derdeutschen Einheit.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung, den Jahresbericht 1999 der Bundes-regierung zum Stand der deutschen Einheit zur Kenntniszu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen derCDU/CSU angenommen worden.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sehr spät. Ichbemühe mich, die Verhandlungen hier bei allem, was pas-siert, einigermaßen zügig durchzubringen. Bitte unter-stützen Sie mich doch dabei.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPDund des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortsetzung derBerichterstattung der Bundesregierung zum Stand derdeutschen Einheit auf Drucksache 14/2238 anzunehmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommenworden, aber die CDU/CSU hat sich enthalten.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion derCDU/CSU zur Weiterführung des Jahresberichts der Bun-desregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Druck-sache 14/1715 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P.und PDS angenommen worden.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/2242 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antragder Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Strompreise inDeutschland angleichen – neue Stromsteuern im Ostenaussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1314 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen derCDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen wor-den.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag derFraktion der CDU/CSU zur Fortsetzung der Förderungtechnologieorientierter Unternehmensgründungen in denneuen Ländern auf Drucksache 14/2954.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1594für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist einstimmig angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zurbedarfsgerechten Weiterentwicklung der Förderung undUnterstützung von technologieorientierten Unterneh-mensgründungen: Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag aufDrucksache 14/2152 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen desganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommenworden.Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 20009970
Haltung der Bundesregierung, insbesondere desdeutschen Außenministers Joseph Fischer, zuden europapolitischen Aussagen des BürgersJoschka Fischer am 12. Mai 2000
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derAbgeordnete Dr. Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Außenminis-ter ist rechtzeitig zurück aus Indien, von einer sehr wichti-gen Reise, die wir ausdrücklich begrüßen, und wir habenheute wenigstens kurz die Möglichkeit, sehr wichtige eu-ropapolitische Vorstellungen dort zu diskutieren, wo sieeigentlich hingehören, nämlich im Parlament, meineDamen und Herren.
Seit langer Zeit fordert die F.D.P. eine Grundsatzdis-kussion über Ziele und Finalität des europäischen Inte-grationsprozesses. Insofern, Herr Fischer – damit hierkeine Missverständnisse entstehen –, begrüßen wir einegrundsätzliche Diskussion über Europa ausdrücklich. Esgibt in Ihren Überlegungen ja auch eine Menge guter Vor-stellungen von Herrn Genscher, von Herrn Kinkel: Ver-fassungsidee, föderative Struktur. Das ist wahrlich nichtsNeues. Am Gedenktag von Robert Schuman ist ausJoschka Fischer kein zweiter Robert Schuman entstanden,aber es ist eine solide Grundlage.Wir haben heute nicht die Zeit, über die ganze Sache zusprechen. Aber es gibt zwei wichtige Knackpunkte. Ers-tens. Die F.D.P. wendet sich gegen jede aufgewärmteForm einer Kerneuropaidee. Wir wollen umgekehrt, dasswir möglichst viele Versuche machen, alle Länder einzu-beziehen. Wir sind auch gar nicht der Meinung, dassdie sechs Gründerländer die integrationsfreundlichstenLänder sind, Herr Fischer. Wir sollten Länder wie dieskandinavischen Länder, insbesondere Finnland und an-dere Länder, in der Avantgarde nicht ausschließen.
Zweitens. Der Zweikammervorschlag bedarf eineräußerst sorgfältigen Erörterung. Es ist eine gute Idee. Die-ser Punkt sollte aber nicht außerhalb des Parlamentes,sondern hier diskutiert werden; denn er betrifft unsereMöglichkeiten, unsere Rechte in vitaler Weise.Der Kernpunkt der Aktuellen Stunde ist jedoch folgen-der: Warum sind dies nur Äußerungen von Ihnen privat inder Universität? Dagegen haben wir nichts, aber warumsind dies keine Vorschläge der Bundesregierung?
Meine Damen und Herren, es ist doch interessant:Wir haben Stellungnahmen der Sozialdemokraten. Wirhaben Stellungnahmen der Christdemokraten. Wir habenStellungnahmen der Freien Demokraten.
– Es gibt aber bisher, Herr Schlauch, überhaupt keine Stel-lungnahme vonseiten der Grünen zu Herrn Fischers Vor-schlägen.
Ich kann nur sagen, dass das eine schwache Vorstellungist.Herr Fischer, große Initiativen waren immer Initiativenzweier oder dreier Länder. Ich erinnere an die Colombo-Genscher-Initiative, die sehr wichtig war. Ich erinnere andie Initiative von Herrn Genscher zum Weimarer Dreieckmit Herrn Kubiczewski und Herrn Dumas. Die Frage ist:Inwieweit ist das ein persönlicher deutscher Alleingang?Inwieweit sind das Vorstellungen, die unser wichtigsterPartner, Frankreich, teilt, was bei solchen Initiativen im-mer entscheidend ist?Der entscheidende Punkt aber ist, Herr Fischer: Siemachen den dritten vor dem ersten Schritt. Heute geht esdarum, zu fragen, welche Zwischenschritte es gibt. Wobleibt die Umsetzung? Visionen sind gut, meine Damenund Herren. Aber in zehn Jahren haben die Grünen mit derkonkreten Gestaltung der Regierungspolitik in SachenEuropa sowieso nichts mehr zu tun, meine Damen undHerren.
Deshalb, verehrte Sozialdemokraten, fordere ich HerrnFischer auf: Kehren Sie zu einer realistischen Europapol-itik zurück! Derzeit gehen von Deutschland keine kon-kreten Fortschritte aus.Herr Schlauch, nehmen Sie zur Kenntnis, dass dieF.D.P. die Grünen bei den letzten wichtigen Wahlen ge-schlagen hat und dass die Freidemokraten inzwischen diedritte Kraft sind!
Die Zustimmung zu Europa ist bei uns und in denneuen Beitrittsstaaten Osteuropas rückläufig. Wir brau-chen endlich konkrete Schritte. Wir brauchen einedeutsch-französische Initiative.
Herr Fischer, beenden Sie die unsägliche BehandlungÖsterreichs,
die inzwischen in vielen kleinen Staaten, insbesondereauch in Osteuropa, die Befürchtung ausgelöst hat, dassgroße Staaten mit kleinen immer so umgehen könnten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer9971
Das ist ein ernstes Problem. Reden Sie einmal mit Vertre-tern der baltischen Staaten über dieses Problem!
Wann wird endlich der konkrete Zeitplan für dieOsterweiterung vorgelegt?
Die Debatte, die in Polen über Europa geführt wird, istäußerst negativ.Es ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, Herr Fischer, alsAußen- und Europaminister die Stabilität der europä-ischen Währung, das wichtigste europäische Projekt, zuverteidigen. Heute hat der Euro erneut einen historischenTiefstand erreicht: unter 0,90 US-Dollar! Selbst die Euro-päische Zentralbank, die zu Recht zu politischer Neutra-lität verpflichtet ist, hat heute mitgeteilt: Die Euro-Schwäche ist hausgemacht. Die Euro-Staaten kommenbei der Lösung ihrer Arbeitsmarktprobleme nicht voran.Wir brauchen ernsthafte reformerische Anstrengungen,damit vor Einführung des europäischen Geldes der Eurowieder stärker wird.Dies sind die konkreten Schritte, die wir von Ihnen er-warten. Wir erwarten nicht nur Visionen von Ihnen. DieseSchritte müssen bitte im Namen der Bundesregierung undnicht im Namen eines Privatmannes angekündigt und ge-tan werden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Haussmann,was wollen Sie eigentlich? Einmal beklagen Sie dasFehlen von Visionen bei der Bundesregierung in SachenEuropapolitik. Dann wird von einem überzeugtenEuropäer etwas ausgeführt. Anschließend fordern Siewieder konkrete Schritte. Ich frage nur: Was wollen wireigentlich mehr? Endlich ist eine Debatte über Europaangestoßen worden, deren Fehlen wir in der Vergangen-heit ständig beklagt haben. Jetzt ist sie endlich da!
Die Rede, mit der diese Debatte angestoßen worden ist,hat ein überzeugter Unionsbürger und Europäer, unserAußenminister, gehalten. Ich finde, diese Debatte ist auchüberfällig. Es ist notwendig, dass wir diese Debatte überEuropa im Parlament und in unserem Land führen. Es istauch notwendig, dass unsere Partner diese Debatteführen.Herr Fischer hat es vor einer Woche in seiner Rede aufden Punkt gebracht: Ist die Europäische Union mit künf-tig 27 oder mehr Mitgliedstaaten noch tragfähig, wenn diebisher üblichen Methoden der Integration angewandtwerden? Man muss nicht alle seine Überlegungen teilen.Es handelt sich schließlich um eine Diskussion. Wir wa-ren uns darüber einig, dass wir auch hier im Parlamenteine breit angelegte Debatte führen müssen. Die gegen-wärtige Regierungskonferenz zeigt auch – ich möchte aufIhre Rede eingehen, Herr Dr. Haussmann –: Eine größerwerdende Europäische Union, die wir alle wollen,benötigt nicht nur eine andere Statik, sondern vor allemauch eine andere Perspektive und eine Vision. Diese hatJoschka Fischer vor einer Woche sehr deutlich zum Aus-druck gebracht.
Vor wenigen Tagen haben wir uns – insofern gibt es ei-nen Konsens – der Rede Robert Schumans und seiner Ge-danken erinnert. Dabei ist auch das Thema einer europä-ischen Föderation aufgegriffen worden. Es ist in der Tatwichtig, eine breit angelegte Diskussion über die Frage zuführen: Was bedeutet eigentlich „europäische Födera-tion“? Natürlich kann man über manches, was Sie, HerrAußenminister, gesagt haben, unterschiedlicher Auffas-sung sein. Aber mit den Fragen: „Wie nehme ich die Bür-gerinnen und Bürger bei diesem Prozess in Europa mit?Warum erscheint vielen bei uns Europa als superferneBürokratie?“ ist ein wichtiger Anstoß gegeben worden.Über diesen Anstoß sollten wir in den folgenden Debattenim Bundestag und an anderen Stellen diskutieren.Weil gelegentlich – zu Recht oder zu Unrecht – Kritikgeäußert worden ist, will ich gar nicht auf die vielenMäkeleien aus den Reihen der CDU/CSU, die es vor al-lem in Presseveröffentlichungen gegeben hat, eingehen;stattdessen will ich mich auf einen wesentlichen Punktkonzentrieren: Joschka Fischer hat davon gesprochen – esist wichtig, das herauszuheben –, dass es mit ihm keinKerneuropa als Exklusivklub gibt. Dies haben andereUnionsbürgerinnen und -bürger, auch aus Ihrer Fraktion,vor einigen Jahren ganz anders gesehen; insofern ist dasein ganz deutliches Signal gegenüber anderen.
Der Leitsatz dieser Diskussion muss lauten: Differen-zierung in der Europäischen Union ohne Diskriminierunganderer. Diese Europäische Union ist in der Tat auch beidieser Vision offen für andere Länder.Wir Sozialdemokraten fanden und finden diese Redezukunftsweisend. Es war vor allem eine integrations-freundliche Rede, die es verdient, einer breiten Debatteunterzogen zu werden. Ich wünsche mir vor allem, dasswir dies in den nächsten Wochen – das müssen wir in die-sem Parlament entsprechend regeln – tun werden. Ichhoffe zugleich, Herr Außenminister, dass Ihre fulminanteRede vor der Humboldt-Universität einen Impuls für dielaufende Regierungskonferenz gibt.Dabei können sicherlich nicht alle Fragen in den nächs-ten Monaten geklärt werden. Vor dem Hintergrund des-sen, was wir in den nächsten Jahren in Europa leistenmüssen, ist es wichtig, dass wir auf der Regierungskonfe-renz in konkreten Punkten weiterkommen. Signale ausden verschiedenen Mitgliedstaaten und von Regierungen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Dr. Helmut Haussmann9972
zeigen, dass Sie einen wichtigen Impuls gegeben haben.Sie haben sich nicht hinter diplomatischen Floskeln ver-schanzt, sondern Herzblut für dieses Europa gezeigt. Ichglaube, das ist auch für die laufende Debatte wichtig.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ihre Rede in der Humboldt-Universität, HerrBundesaußenminister, war ein wichtiger Beitrag zu derFrage, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. Es ist gut,dass wir im Parlament Gelegenheit haben, einmal über diedamit verbundenen Gedanken zu sprechen.
Ich unterstütze dabei ausdrücklich Ihre Idee einesVerfassungskompromisses zwischen den Nationalstaatenund Europa. Wir sollten ein wenig die Hitze aus der De-batte nehmen. Wir sind im Plenarsaal des Deutschen Bun-destages, im Reichstagsgebäude; auf der einen Seite be-findet sich die Bundesflagge und auf der anderen Seite dieEuropaflagge. Diese historische Synthese zwischen Eu-ropa und den Nationalstaaten kommt in diesem Raumsymbolisch zum Ausdruck. Ich finde es interessant, dievon Ihnen aufgeworfenen Ideen einmal weiterzudenken.
Unser Ziel sind die vereinigten Nationalstaaten von Eu-ropa.Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort in die De-batte einführen. Herr Kollege Gloser und andere Kollegenhaben im Vorfeld Äußerungen gemacht, die den Sachver-halt nicht treffen. Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung ei-ner europäischen Föderation, Herr Bundesaußenminister,und mit der Ausgestaltung dieses Vorschlages sind Sie –das muss ich Ihnen sagen – auf dem Boden der Program-matik angekommen, die CDU und CSU in den letztenJahren entwickelt haben. Das begrüßen wir.
Dabei erscheint uns aber kritikwürdig, dass Sie denDenkanstoß, der beispielsweise in dem von WolfgangSchäuble und Karl Lamers erarbeiteten Papier vorgelegtwurde, nämlich die Idee eines Kerneuropas, absolutfalsch interpretieren. Kein Mensch, der diese Papiere ge-lesen hat, kommt zu einer solchen Interpretation, wie siebedauernswerterweise Herr Gloser vorgenommen hat.Natürlich ist die Idee der Union von einem Kerneuropa –im Gegensatz zu dem, was Sie ihr unterstellen – eine Ideedes Integrationszugewinnes und der Integrationsbe-schleunigung; sie ist eine Idee, wie wir Europa effizienter,transparenter und handlungsfähiger machen können. Siewollen ja auch, dass diejenigen, die das wollen, das auchkönnen. Vielleicht liegt darin die Chance zu einem ge-meinsamen Projekt. „Gravitationszentrum“, „Kompe-tenzabgrenzung“ und „Verfassungsvertrag“ sind Begriffe,die in der Union entwickelt worden sind und erfreulicher-weise bei Ihnen auftauchen. Auch das will ich in dieserDebatte einmal sagen.
In der Tat seltsam ist – Herr Kollege Haussmann hat esangesprochen – die Trennung zwischen dem Bundes-außenminister Fischer und dem Bürger Fischer. Ich willhierüber gar keine Scherze machen. Aber gerade der Bun-desaußenminister und die gesamte Bundesregierung sindgefordert, aus dem lähmenden Stillstand in der Regie-rungskonferenz, für den die Regierung Mitverantwortungträgt, in ganz konkreten Fragen herauszukommen. Siekönnen nicht einfach sagen: Ich verabschiede mich vonmeinem Amt und trage eine große Vision vor, weil ich mitder konkreten Wirklichkeit nicht fertig werde. Vielmehrsind hier im Parlament und zusammen mit den europä-ischen Partnern Initiativen zu entwickeln, wie wir konkretzu mehr Integration und zu einer klaren Kompetenzab-grenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten unddamit zu einer höheren Effizienz und Transparenz in Eu-ropa kommen. Wir wollen Ihnen nicht durchgehen lassen,dass Sie zwar eine Vision liefern, die wir gerne diskutie-ren und auch interessant finden, dass zugleich aber auf derRegierungskonferenz die konkreten Dinge auf der Streckebleiben.
Jetzt möchte ich in kurzen Stichworten darauf hinwei-sen, dass die Risiken und Nebenwirkungen Ihres Planesnatürlich auch im Blick zu halten sind. Ein Binnenmarkt,der sich in Kerne auflöste, wäre das Gegenteil dessen, waswir wollen; darauf ist eben schon einmal hingewiesenworden. Kern-Europa muss eine Zugewinnchance in sichbergen und als Integrationskern ausgestaltet werden. Esdarf keinen Rückfall in das Intergouvernementale geben,sondern wir müssen hin zu mehr Integration. Darauf müs-sen wir gemeinsam achten.
Ich persönlich halte übrigens die Euro-Zone schon für ei-nen solchen Kern, aus dem heraus sich das entwickelnkann.Warum ist Europa so schwerfällig? Zwei Punkte: Ers-tens gibt es eine ungute Kompetenzvermischung zwi-schen Europa und den Nationalstaaten und zweitens keineklare Gewaltenteilung, sondern ein Durcheinander vonExekutive und Legislative im Rat. Hierzu Folgendes wie-derum nur in Stichworten: Ihre negative Bewertung derersten Kammer, also des Europäischen Parlaments, teileich ausdrücklich nicht. Das Parlament ist der wahre Ge-winner von Amsterdam. Es ist auch kompetenter und ef-fektiver geworden. Ihr Vorschlag eines Parlamentes ausDoppelmandataren führte zu einem gelähmten Riesen;dann würde man weder die Aufgaben in Brüssel noch diein Berlin richtig wahrnehmen können, insbesondere nicht
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Günter Gloser9973
die Kontrollfunktion. Deswegen bin ich für eine Stärkungdes Europäischen Parlaments.
Der letzte Gedanke: Die Minister und ihre Beamtenfühlen sich – das ist eine Entwicklung, an der wir auch un-seren Anteil haben – im Rat quasi allzuständig: für die eu-ropäische Gesetzgebung, für die europäische Exekutive,also für das Erlassen und das Durchführen von Gesetzen.Sie haben auch im Rahmen der jetzt bestehenden Verträgeeine Chance, diese zweite Kammer, also den allgemeinenRat, so auszugestalten, dass es mit dieser Vermischung einEnde hat und hier ein Fortschritt eintritt. Wir laden Sie ein,Ihre Vision in den Handlungsfeldern, auf denen Sie han-deln können, ein Stück weit Wirklichkeit werden zu las-sen. Dabei sollte der Privatmann Fischer dem Bundes-außenminister Fischer vielleicht ein paar Tipps für die Re-gierungskonferenz geben und dafür sorgen, dass es zumehr Kompetenzabgrenzung, einer stärkeren Selbstbe-schränkung des Rates, zu höherer Effizienz und mehrTransparenz kommt.Der Weg zu den Vereinigten Nationalstaaten vonEuropa lohnt eine gemeinsame Anstrengung. Es war indiesem Hause immer Tradition, dass wir in den großenFragen der Europapolitik zusammenzufinden versuchten,dass wir zusammen diskutierten und das Ergebnis derDiskussion gemeinsam vertraten. Ihr Plan bietet einenAnsatzpunkt für eine solche gemeinsame Initiative. Las-sen Sie uns sie angehen!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mirhat sich bisher noch nicht erschlossen, was eigentlich dieRatio dieser Aktuellen Stunde sein soll.
Ist es wirklich der Vorwurf, dass der Außenminister alsUnionsbürger eine wegweisende Rede hält? Das rechtfer-tigt wohl wirklich keine Aktuelle Stunde.Sie müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen,dass es keine Kritik, sondern Unterstützung zum Beispielaus dem Bundeskanzleramt gab. Das war oft in den Zei-tungen zu lesen. Insofern konstruieren Sie Widersprücheinnerhalb der Regierung, die keineswegs existieren. Dannwurde die Haltung der Fraktionen angesprochen. Ich kannIhnen davon berichten, dass der europapolitische Spre-cher der SPD und der der Grünen, also Herr KollegeGloser und ich, bei dieser Rede anwesend waren.
Ich habe in einer Erklärung, die auch über den Ticker lief,unmittelbar nach der Rede diese Rede sehr begrüßt undgehe auch weiterhin davon aus, dass diese Rede einenenormen Schub für die europapolitische Debatte darstellt.Ein Kabinett stimmt über Gesetzentwürfe, über Haushalteund politische Maßnahmen, aber nicht über Visionen ab.
Insofern können wir durchaus nachvollziehen, dass Ihnenwährend Ihrer 16-jährigen Regierungszeit der Sinn für vi-sionäre Politik ziemlich abhanden gekommen ist.
Viele diesbezügliche Erfahrungen haben Sie ja nicht ge-macht.Eröffnen Sie also keine Nebenkriegsschauplätze, son-dern stellen Sie sich der Debatte über das, was angestoßenworden ist!
Dazu ist die Aktuelle Stunde nicht der richtige Ort.
Ich frage mich, warum Sie sich geweigert haben, hier indiesem Hause darüber eine vereinbarte Debatte zu führen.
Wir hätten dann Zeit gehabt, auch inhaltlich tiefer gehendzu diskutieren.
Nein, Sie eröffnen Nebenkriegsschauplätze, um mitlockeren Sprüchen über das, was diese Rede enthält, hin-wegzutäuschen. Das ist ein Punkt, der hier nicht in Ver-gessenheit geraten darf.
Die Rede enthält Visionen. Das ist der notwendigeDenkanstoß. Sie aber entfachen eine Neiddebatte.
Ihre einzige Vision besteht offensichtlich in der Hoffnungauf erneute Regierungsbeteiligung. Das haben Sie ja auchhier ganz deutlich zum Ausdruck gebracht.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu der Bedeutungdieser Rede sagen. Ich glaube, dass die Bedeutung erstensdarin liegt, dass die vor sich hindümpelnde Europadebattenicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirk-lich einen ganz kräftigen Impuls erhalten hat.
Das zeigen auch die positiven Reaktionen in den anderenEU-Ländern. Dort ist dieser Ball aufgenommen worden.Ich hoffe, dass auch Sie diesen Ball in Zukunft inhaltlichund politisch aufnehmen,
mitdiskutieren und nicht Debatten über Nebenkriegs-schauplätze führen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Peter Hintze9974
Zweitens liegt die Bedeutung darin, dass mit dieserRede ein Tabubruch einherging, weil endlich offen über„Finalität“ gesprochen und diskutiert wurde und nicht ge-meinsam geschwiegen wurde. Das Schweigen ist ja einElement, das Ihre Europapolitik in den letzten Jahren sehrstark geprägt hat.
Es wird endlich eine Debatte geführt, wie wir über Re-gierungskonferenzen hinaus zu einer gemeinsamen Vor-stellung von Europa kommen. Dieser tabuisierte Bereichwurde nun offen zur Diskussion gestellt. Ich kann Sie nurauffordern: Beteiligen Sie sich ernsthaft an dieser De-batte!
Der dritte wichtige Punkt ist, dass es Joschka Fischerin seiner Rede gelungen ist, sehr verschiedene und isoliertgeführte europapolitische Diskurse zusammenzuführen.Es gab die Debatte um ein Kerneuropa, es gibt die Debatteum Kompetenzen innerhalb Europas, es gibt den Verfas-sungsdiskurs, Diskussionen über die Demokratisierungder EU und die Föderalismusdebatte. Alle diese Debattenwurden relativ isoliert geführt. Aber in dem Entwurf, indieser Vision einer Föderation Europa ist es gelungen, al-les, was bisher puzzlehaft nebeneinander lag, zusammen-zufügen. Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb hat dieRede eine solche Bewegung ausgelöst und einen solchenAnstoß gegeben, der die Debatte in Europa hoffentlichdauerhaft bereichert.Insofern hoffe ich, dass dieser Anstoß, der der Debattedamit gegeben worden ist, sich nicht auf die heutige Ak-tuelle Stunde beschränkt. Ich kann Sie nur auffordern, mituns gemeinsam diesen Ball aufzunehmen, ihn weiterzu-spielen
und das Momentum, das dadurch ausgelöst wurde, auf-rechtzuerhalten. So kann ein weiterer Schub in RichtungIntegration ausgelöst werden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich finde die Formulierung des Themas dieserAktuellen Stunde ausgesprochen witzig. Es ist dochvielleicht schon eine Stunde wert, dass man zu einemwitzig formulierten Thema reden kann.
– Okay, das war es dann auch schon.Ich habe auch eine plausible Erklärung dafür, warumeine Trennung zwischen dem Außenminister und dem Pri-vatmann Fischer vorgenommen wurde: Das ist ein Me-dientrick, auf den wir alle abgefahren sind.
Auch ich war natürlich außerordentlich neugierig, was derPrivatmann Fischer im Gegensatz zum AußenministerFischer sagen kann. Der Trick ist gelungen; denn wir de-battieren heute über dieses Thema.
Schluss mit diesen Vorbemerkungen, zur Sache selbst:Für mich hatte und hat das Ziel „Vereinigte Staaten vonEuropa“ – Außenminister Fischer benutzt ja diesen Be-griff nicht; ich glaube, er benutzt ihn bewusst nicht –, einföderatives Staatswesen, begründet auf Wohlfahrt undDemokratie, eine ganz starke Anziehungskraft, wenn-gleich ich zugeben muss: Ich habe mir das Zustandekom-men immer ganz anders vorgestellt. Es gibt darüber aucheine längere theoretische Debatte in der Linken.Die Vereinigten Staaten von Europa, gegründet aufeine demokratische Verfassung, bedingen – ich glaube,hier hat Fischer Recht – einen Vertrag, der die Rechte derNationalstaaten und der Föderation demokratisch und zu-gleich sensibel bestimmt. Nationalstaat und europäischeIntegration können in ein neues, sinnvolles und beidersei-tig nützliches Verhältnis gebracht werden. Die europä-ische Einheit – das ist meine feste Überzeugung – musseine Einheit in der Vielfalt sein und darf sich nicht aufZentralisierung gründen.
Einheit in der Vielfalt ist die Chance für einen gemeinsa-men Weg zu einem geeinten Europa.Ein föderales Europa – dieser Gedanke ist in der Rededes Außenministers nicht vorhanden – braucht in diesemSinne eine europäische Staatsbürgerschaft. Ich kann mirgut vorstellen, dass wir alle über eine doppelte Staatsbür-gerschaft verfügen werden: eine nationalstaatliche undeine europäische. Gerade dieser Gedanke einer gemeinsa-men Staatsbürgerschaft weist über nationalstaatlicheIdentitäten hinaus. Ich weiß sehr gut, dass diese Fragenauch in der politischen Linken Europas höchst umstrittensind. In der politischen Linken habe ich viele Freunde, diesich mit solchen Gedanken nur wenig anfreunden können.Ich halte allerdings diese Gedanken für zukunftsfähig undperspektivisch.Obwohl ich, wie ich gerade ausgeführt habe, den An-stoß des Außenministers interessant finde, liest sich seineRede – so war mein Eindruck; ich habe sie nicht gehört,sondern gelesen – über weite Teile sehr blutleer. In dieserRede kommen die Menschen – die tatsächlichen Men-schen, um die es ja geht – gar nicht vor. Die in Europa le-benden Menschen sind bei Außenminister Fischer offen-kundig nur eine Fiktion, irgendeine Komponente ange-sichts dessen, was als Motor der Integration angesehenwird.
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Christian Sterzing9975
Der Außenminister benennt drei Faktoren: den Euro,das gemeinsame Recht und die gemeinsame Militärpoli-tik. Zugegeben: Das sind wichtige Faktoren. Aber es fin-det sich kein Wort über gemeinsame Beschäftigungs- undSozialpolitik, über kooperative Bildungspolitik und ver-nünftige Umweltpolitik. Ein Mehr an Erwerbsarbeit, so-zialer Sicherung, Umweltstandards und Bildung, einMehr an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oderSchwesterlichkeit könnte die Menschen für Europa auf-schließen und den Menschen Ängste vor Europa nehmen.
Das müssen wir erreichen. Ein vereintes Europa von obenwird es nicht geben. Wir müssen die Ängste vor diesemEuropa gemeinsam abbauen. Darüber fand sich in derRede kein Wort.In der Rede von Außenminister Fischer – ich solltevielleicht „Privatperson Fischer“ sagen – wird auch nichtdarüber nachgedacht – das hat mich schon sehr gewundert –,warum Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremis-mus in Europa zunehmen, obwohl deren Bekämpfung einwichtiger Schritt zum vereinten Europa wäre. Der Bun-despräsident hat das in seiner Rede am gleichen Tag ge-tan. Mit dem Timing müssen sich andere auseinander set-zen.
Offensichtlich hat der Außenminister Europas Grenzenfest im Kopf. Aber gehören nicht Weißrussland, dieUkraine und auch Russland zu Europa? Zumindest nach-denken muss man wohl darüber. Es darf nicht zu einerAbschottung kommen. Das europäische Haus, dasjetzt gebaut werden muss, wird immer – wie ich hoffe:gute – Nachbarn haben.Warum, so frage ich, sollen europäische Interventions-kräfte, für die nach den Worten des Außenministers derKosovo der Anstoß war, uns Europäer – verzahnt mit derNATO – zusammen bringen? Die militärische Zusam-menarbeit wird Europa nicht einigen. Wenn Europa undFrieden in Europa und gegenüber der Welt nicht mehr ineinem Atemzug genannt werden können, dann nimmt Eu-ropa Schaden.Ich glaube, dass das Europa, das der Außenministervorgestellt hat, von oben gedacht ist. Mein Europa sollvon unten wachsen. Noch besser wäre es, wenn an diesemEuropa von oben und unten gleichzeitig gearbeitet würde.Lassen Sie mich einen letzten Gedanken sagen. Wennman die Vereinigten Staaten von Europa ernsthaft will,muss dieser Prozess für alle Länder offen sein: für kleineund große Staaten, für Länder der ersten Stunde und fürLänder, die später hinzukommen, für Länder aus demOsten und für die aus dem Süden.Dass die deutsch-französische Zusammenarbeit dabei ei-nen herausragenden Platz einnimmt, ist historisch er-wachsen, begründbar und nicht zu ersetzen. Ein Europader unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir be-reits heute. Ich glaube aber, dass das etwas anderes ist alsder Vorschlag eines Kerneuropas. Mit einer Trennung inKern und Rest entstünde ein Bündnis im Bündnis. Dieswird, einmal geschaffen, seine eigene Dynamik entfalten.Das wäre aus meiner Sicht kein Weg zur Integration, son-dern ein Hindernis auf diesem Weg.Einen letzten Satz: Ich würde sehr vorsichtig mit demBegriff der „Finalität“ dieses Prozesses sein. Ich hoffe,dass er unumkehrbar ist; sichergestellt ist es noch nicht.Es wird keine Finalität eines solchen Weges geben, wenner ein Prozess bleibt – genauso wie es kein Ende der Ge-schichte gibt. Es wird ein offener, zu gestaltender Prozessbleiben, der noch nicht final ist.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Michael Roth.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehrcke,merken Sie sich diesen Tag: Die PDS-Fraktion hat seltenso viel Applaus von der F.D.P. erhalten. Das wird sicher-lich in die Annalen Ihrer Fraktion eingehen.
– Galt der Beifall jetzt mir, Herr Westerwelle?
– Wunderbar, der Tag wird gut.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist – ich sage daseinmal in aller Offenheit – eigentlich schnurzpiepegal, obzukunftsweisende Reden von Unionsbürgern, Europäernoder
glücklicherweise bundesdeutschen Außenministern ge-halten werden. Es kommt auf den Inhalt an. Es ist etwasvorgetragen worden, was sicherlich einer langen und in-tensiven Debatte bedarf, vor allem auch hier im Bundes-tag. Insofern freue ich mich auch ein bisschen über dieAktuelle Stunde,
weil sie mir Gelegenheit gibt, etwas zu dem einen oderanderen Punkt anmerken zu dürfen.Die Verfassungsdebatte ist belebt worden. Die Vor-schläge des Außenministers betten sich ja in zahlreicheandere Vorschläge ein: Helmut Schmidt, Valéry Giscardd´Estaing, Jacques Delors, die drei Weisen haben etwasvorgelegt, Außenminister Védrine hat sich geäußert, kürz-lich gab es eine Veröffentlichung des HochschulinstitutesFlorenz, in der es auch um die zukünftige Struktur der Eu-ropäischen Verträge geht. Ich finde diese Einbettung wun-derbar.Ich finde es auch gut, Herr Kollege Hintze, wenn Siehier vor dem Bundestag erklären, dass wir zur Zusam-menarbeit bereit sein müssen, und Ihre Bereitschaft dazuunterbreiten, wobei ich im Augenblick das Problem
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Wolfgang Gehrcke9976
weniger aufseiten der Koalitionsfraktionen sehe. Michtreibt eher die Sorge um, dass aus dem Süden dieser Re-publik immer wieder Schwadronaden bis nach Berlin vor-dringen, die alles andere als integrationsfreundlich sind.Insofern müssen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen fürRemedur, für Ordnung sorgen
und klare Vorschläge unterbreiten. Das ist zumindest dieMeinung der SPD-Fraktion.Ich will eine Anmerkung zu den Vorschlägen für einKerneuropa machen. Herr Lamers hat diesbezüglich vorein paar Jahren etwas sehr Kluges zum Ausdruck ge-bracht. Jedoch haben Sie damals – im Gegensatz zumAußenminister Fischer – einen massiven Fehler gemacht.Sie haben nämlich in Ihrem Papier explizit einige Mit-gliedstaaten benannt, die diesem Kerneuropa angehörensollen; andere wiederum haben Sie nicht genannt. Dannsind Sie sehr umständlich wieder zurückgerudert. Ichmeine, die Fairness gebietet es, Herr Lamers, dass heutenoch einmal deutlich gesagt wird: Der Nukleus, das „Gra-vitationszentrum“, von dem Herr Fischer gesprochen hat,meint etwas anderes als die Ideen, die Sie im Rahmen Ih-rer Vorschläge zu einem Kerneuropa unterbreitet haben.
Die Verfassungsdebatte ist meines Erachtens notwen-dig, weil wir bei unseren zahlreichen Debatten hier imBundestag über die Regierungskonferenzen an einem re-lativ enttäuschenden Punkt angelangt sind. Wir hangelnuns bei jeder Regierungskonferenz von einem kurz- undmittelfristigen Problem zum nächsten,
obwohl wir wissen, dass wir auf den Regierungskonfe-renzen – auch in Nizza – nicht alles Notwendige auf denWeg bringen können, was die Bürgerinnen und Bürgervon uns erwarten. Umso wichtiger ist es, dass wir nebenden kurz- und mittelfristigen Schritten, die auf den Re-gierungskonferenzen auf den Weg gebracht werden, einelangfristige Perspektive entwickeln. Das ist mit der Redevon Außenminister Fischer geschehen.Ich appelliere auch an Offenheit. Es gibt nun einmal inEuropa verschiedene Denkschulen, es gibt auch verschie-dene Modelle. Es gibt eine eher intergouvernementale Li-nie und eine eher integrationsfreundliche Linie. In derBundesrepublik gilt eher die zweite Linie. Wir solltendiese Differenzen auch nicht unter den Tisch kehren.Es muss mit unseren Partnern in Europa ganz offenüber diese verschiedenen Modelle geredet werden. Nurwenn wir Argumente kraftvoll und überzeugend herüber-bringen, können wir auch überzeugen für unsere Linieund für die Vorschläge, die von Vertretern der Bundesre-gierung und von Vertretern des Bundestages gemachtwerden.
Ich halte auch nichts von einem Streit um Terminolo-gien. Wir sollten uns über die Frage unterhalten: Was isteigentlich unser Ziel? Das wurde auch in dieser Rede klaranvisiert. Wir wollen ein demokratischeres, ein hand-lungsfähigeres und ein bürgernäheres Europa.Wir sollten auch gar keine Angst vor Begriffen haben.Ich habe kein Problem damit, von einer europäischen Ver-fassung zu reden. Auch von der Föderation kann man re-den. Begriffe sind nicht das Entscheidende. Es geht da-rum: Was steht hinter diesen Begriffen?Einen Punkt sehe ich allerdings – das ist auch schon er-wähnt worden – etwas anders als der Kollege Fischer.Wenn wir eine Parlamentarisierung in Europa anstreben,sollten wir nicht abgehen von dem Weg der direktendemokratischen Legitimation der Mitglieder des Europä-ischen Parlaments.
Ich glaube, dass die Bundestagsabgeordneten wahrlichgenug zu tun haben und nicht noch einzelne Aufgaben inBrüssel übernehmen sollten. Das ist meine ganz persönli-che Auffassung. Nur mit einer Parlamentarisierung ma-chen wir auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich,worum es bei einer Europawahl geht. Im Augenblick istdas nicht klar. Wenn sich bei einer Wahl des EuropäischenParlaments dann irgendwann in der Konsequenz eineneue Mehrheit widerspiegelt und deutlich wird, wer über-haupt in der europäischen Regierung sitzt, welche politi-sche Kraft in Europa gestalterisch tätig wird, haben wireine ganze Menge erreicht.Ich glaube, das war eine mutige Rede. Europa brauchtMut und Europa braucht mutige Bürgerinnen und Bürger.Wenn einer unter den mutigen Bürgerinnen und Bürgerndann Joschka Fischer heißt, ist das meines Erachtensnichts Schlechtes, sondern etwas sehr Gutes.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer,Sie haben am Freitag eine wirklich bemerkenswerte Redegehalten, die Anerkennung verdient. Wir hätten uns dieseRede vom deutschen Außenminister gewünscht unddarüber reden wir hier.
Sie sprachen in Ihrer Rede selber von Einschränkun-gen, denen Sie unterliegen. Sie sagten, das sei Ihre per-sönliche Zukunftsvision. Sie sagten dort, den Außenmi-nister würden Sie jetzt definitiv weit hinter sich lassen.Wie geht das eigentlich, wenn man Außenminister ist?Sie sprachen von der beengenden Rolle des deutschen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Michael Roth
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Außenministers, die es Ihnen nicht erlaube, derartige zu-kunftsträchtige Ausführungen zu machen. Wer beengtSie? Was beengt Sie? Beengt Sie die Bundesregierung?Beengt Sie der Kanzler? Beengt Sie Ihre eigene Partei, soetwas hier zu sagen?
Ich finde, es ist notwendig, dass jemand Anstöße gibt.Das ist zu Recht gewürdigt worden, übrigens ausdrück-lich auch von der Fraktion der Freien Demokraten. Aberes ist notwendig, meine Damen und Herren, dass dann imDeutschen Bundestag eine solche Debatte stattfindet. Wasist das denn für ein Parlamentsverständnis, wenn man hiereine Debatte beantragt, weil ein Privatmann eine Redehält, der zufällig noch Minister ist? Setzt man eigentlichals Minister mal einen Hut auf und setzt ihn dann wiederab und wenn man ihn abgesetzt hat, darf man sagen, wasman will, und wenn man ihn aufgesetzt hat, darf man nursagen, was andere ihm vorgegeben haben?
Wir wünschten, dass solche zukunftsträchtigen Aus-führungen – und das waren sie – die Politik der Bundes-regierung wären und nicht die Politik des PrivatmannesJoschka Fischer.
Sie haben angekündigt, hier zu sprechen. Sie stehenauch auf der Rednerliste und das ist gut. Allein das zeigt,dass die von uns beantragte Debatte hier Sinn macht. Siehaben jetzt gleich die Gelegenheit, hier zu sprechen, übri-gens dann als Außenminister Fischer. Kommen Sie nichtauf die Idee, gleich als Privatmann zu uns zu sprechen.
Hier sprechen Sie als Außenminister und wir möchtengleich von Ihnen als Außenminister hören: Sind die klu-gen Ausführungen der künftige Leitfaden der europä-ischen Politik der deutschen Bundesregierung? Ich findees ausgesprochen interessant, was der LangstreckenläuferFischer uns zu erzählen hat, aber die Außenministermei-nung ist gefragt. Wenn jemand Außenminister ist, muss erauch wie ein Außenminister handeln.
Der frühere deutsche Außenminister Hans-DietrichGenscher, der Ehrenvorsitzende der F.D.P., hat das, wieich finde, in einem bemerkenswerten Artikel im „Tages-spiegel“ in dieser Woche öffentlich ausgeführt. Ehre,wem Ehre gebührt. Er sagt dort:Die Bundesregierung gewinnt damit nach anfängli-cher Abstinenz europapolitisches Profil. FischersVorstellungen sind weit reichend; sie werden auchWiderspruch hervorrufen, aber die Richtung stimmt.
Besser kann man es in wenigen Sätzen nicht ausdrücken.Es ist notwendig, dass Sie sich zu Ihrer Rolle alsAußenminister bekennen. Natürlich wissen wir alle,warum Sie vor einer Woche, kurz vor der Wahl, unbedingtin der Humboldt-Universität sprechen wollten:
Sie haben sich davon eine Wirkung erhofft. Ich finde es,offen gestanden, einen reichlich fragwürdigen Akt, dassSie am selben Tag wie der Bundespräsident eine Konkur-renzrede zu seiner Berliner Rede halten mussten. Dasbleibt Ihnen überlassen. Es ist in meinen Augen eine Stil-frage. Die Verfassungsorgane, Privatmann Fischer undBundespräsident Rau werden sich damit noch auseinan-der setzen.Es ist wirklich eine bemerkenswerte Debatte, die Sieangestoßen haben; das soll anerkannt werden. Aber es istauch mein Parlamentsverständnis, dass Sie als deutscherAußenminister, wenn Sie solche Anstöße geben, gegen-über diesem Parlament, das Sie als Regierungsmitgliedschließlich zu kontrollieren hat, erklären: „Das ist unserWeg“ oder „Das ist nicht unser Weg“, auch damit wir,wenn wir uns als Parlamentarier mit Ihren einzelnen Vor-schlägen auseinander setzen möchten, wie es Herr Kol-lege Roth und andere vorhin getan haben, nicht damit ver-tröstet werden können: Das hat der Außenminister garnicht gesagt, das geht Sie als Abgeordnete gar nichts an.Diese Rede hatte zu Recht eine große internationaleWirkung. Sie hätten sie deswegen auch mit Ihren Amts-kollegen, wenigstens mit einigen von ihnen, abstimmenmüssen. So muss man, aus unserer Sicht jedenfalls,europapolitische Initiativen starten. Die Bundesregierungfährt schlecht damit, wenn sie zunächst einmal, gewisser-maßen als Minenhund, den Privatmann Fischer demAußenminister Fischer vorgehen lässt, bevor sie sich viel-leicht anschließend verhaftet fühlt.Der deutsche Bundeskanzler hat, wie wir vom Regie-rungssprecher erfahren durften, im Kabinett mit freundli-chem Nicken darauf reagiert. Dann hätten wir das auchhier gern einmal gehört! Sie sprechen jetzt gleich. SagenSie zu uns, zum Deutschen Bundestag, zu dem Verfas-sungsorgan Bundestag, zu den Volksvertreterinnen undVolksvertretern, die wir alle gewählt sind: Das ist der Kursder Regierung.
Dann haben Sie auch unseren Respekt und unsere Aner-kennung dafür.
Aber bei der Vorstellung, dass der Außenminister alsPrivatmann reden kann, weil er sich ansonsten zu beengtfühlt, kann man nur sagen: Machen Sie sich frei, HerrFischer, geistig gesehen!
Für die Bun-desregierung erteile ich nun dem Außenminister JoschkaFischer das Wort.
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Dr. Guido Westerwelle9978
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinneremich an die letzte Debatte, die etwas später am Tagstattgefunden hat, über die ganz wichtige Frage der Regie-rungskonferenz, bei der es auch um einen Bedeu-tungsverlust des Deutschen Bundestages ging; darinwaren sich die wenigen anwesenden Europapolitikerin-nen und Europapolitiker einig. Jene Debatte hat wenig In-teresse gefunden. Die heutige Debatte zeigt – das hat derKollege Westerwelle gerade nachhaltig demonstriert –,dass sie weit über die Europapolitiker hinausreicht. Dasist gut so.
– Dass Sie neuerdings sich selber Beifall klatschen, HerrWesterwelle, finde ich interessant. Aber bitte.
Ich möchte das jetzt nicht vertiefen, obwohl ich Lusthätte; denn Sie haben mich gerade in einer Rede, in dermindestens 38-mal das Wort „Außenminister“ vorkam,dazu verpflichtet, als Außenminister zu sprechen, und daswill ich auch tun.
Aber gestatten Sie mir doch eine Vorbemerkung. Siemögen das glauben oder nicht, aber das hat mit denWahlen wirklich nichts zu tun gehabt. Die Rede war seitlangem geplant.
– Dass die F.D.P. das so sieht und dass Sie so denken, kannich ja verstehen. Aber glauben Sie mir – das wissen auchKollegen aus der Opposition, die mich in der Europapoli-tik schon länger kennen –: Erstens bin ich nicht der Mei-nung, dass man mit einem solchen Thema landespolitischgroße Wählerströme bewegen kann, zweitens war dieseRede nicht ohne Risiko, was die öffentliche Reaktion be-trifft, und drittens wissen alle, dass es mir hier wirklichum die Sache geht. Insofern war der 50. Jahrestag einerbedeutenden und zentralen Rede von Robert Schuman dereigentliche Anlass. Herr Westerwelle, vielleicht könnenauch Sie eines Tages nachvollziehen, wie wichtig das füreinen überzeugten Europäer ist.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eineweitere Vorbemerkung. Sie haben ja aus dem von Hans-Dietrich Genscher im „Tagesspiegel“ erschienenen Arti-kel zitiert – ich bedanke mich nachdrücklich für diesenArtikel sowie für das, was Sie, Herr Hintze, gesagt haben;ich komme darauf gerne noch einmal zu sprechen –, derdie Überschrift „Allons, enfants de l’Europe: FolgtFischers Initiative!“ hatte. Wenn das die Haltung derF.D.P. ist, dann bedanke ich mich auch bei der F.D.P.
Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Westerwelle,etwas intensiver mit der Tradition meines Amtsvorgän-gers – von Hans-Dietrich Genscher, der ein bedeutenderVorgänger von mir und ein großer Liberaler ist, kann mansehr viel lernen, vor allen Dingen, was das jeweiligeVorgehen betrifft – und damit beschäftigt, wie er vorge-gangen ist, wenn er einen neuen Akzent setzen wollte,bei dem er nicht so ohne Weiteres davon ausgehen konnte,dass es dabei schon um die Schlussabstimmung ging – derBeginn einer Debatte ist nach Meinung derjetz-igen Bundesregierung und der Koalitionsfraktionenkeine Schlussabstimmung. In diesem Zusammenhangmöchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: KollegeGenscher hat in diesem Artikel zu Recht geschrieben,Außenminister Fischer habe mit seiner Europarede einegute Tradition des Auswärtigen Amtes als Ideengeber undMotor der Europapolitik fortgesetzt. Da kam kein Wortder Kritik über den Privatmann bzw. den Bundestagsab-geordneten, den Sie ja sehr gering einschätzen.Auf die deutsch-italienische Initiative für eine Politi-sche Union im Jahre 1981 folgte – das ist für mich der ent-scheidende Punkt – 1988 der konzeptionelle Vorstoß desAA, sprich: von Hans-Dietrich Genscher, zur Währungs-union. Es war – das ist aus dem Deckblatt ersichtlich undalle, die damals beteiligt waren, erinnern sich noch sehrgut – seine persönliche Initiative. Dafür gab es damalsGründe. Dies war eine Initiative, mit der er völlig Rechthatte und die später zur Politik der Bundesregierung bzw.der damaligen Koalition und somit historische Wirklich-keit wurde. Aber angestoßen hatte er dies auf eine ähnli-che Art und Weise wie ich.Herr Westerwelle, regen Sie sich also ab. Von Hans-Dietrich Genscher kann man sehr viel lernen. Das kannich Ihnen nur empfehlen.
Nun zur Sache. Ich freue mich über die heutige Diskus-sion. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Diskussionbei nächster Gelegenheit etwas ausführlicher fortsetzenkönnten. Diese Debatte hat es nicht verdient, sie auf dasNiveau kurzfristiger parteipolitischer Interessen herun-terzuziehen.
Interessen werden dann, wenn Entscheidungen anstehen,wichtig genug. Im Rahmen der dann stattfindenden Re-gierungskonferenz mag ein solches Vorgehen angemessensein.Aber wir stehen doch vor der Situation, dass nach derhistorischen Herausforderung von 1989/1990, die bisheute nicht wirklich durchdacht und bewältigt wurde, Eu-ropa zusammengefunden hat. Nach 1945 gab es zwei zen-trale Entscheidungen, die das Schicksal unseres Konti-nents grundsätzlich verändert haben, nämlich zum einendie Tatsache, dass die USA auf diesem Kontinent geblie-ben sind. Zum anderen die zentrale Entscheidung vonRobert Schuman sowie Jean Monnet und dann auf deut-scher Seite von Adenauer und all den anderen Europäern,
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statt auf das Prinzip des Gleichgewichts der Mächte zusetzen, das zu der Katastrophe von zwei Weltkriegen undzur Selbstzerstörung Europas geführt hat, in Europa einneues Prinzip zu kreieren und durchzusetzen, also auf dasEuropa der Integration zu setzen. Dies führte zum Zu-sammenführen der materiellen Interessen mit dem Fern-ziel der Vollendung der europäischen Integration und derSchaffung eines wie auch immer gestalteten einheitlichenEuropas.Von der Erarbeitung dieser Idee ging es im Laufe derZeit über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hinzur Gemeinsamen Schlussakte, schließlich zur Europä-ischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion.Nur, dies hatte einen Nachteil: Erzwungen durch die Tei-lung Europas und auch Deutschlands war diese Idee im-mer nur in Westeuropa zu Hause. Die Ost- und Mitteleu-ropäer konnten sich nicht daran beteiligen; sie warendurch den Eisernen Vorhang von diesem Projekt getrennt.Die Tatsache, dass 1989/1990 Mauer und Stacheldrahtgefallen sind, führte dazu, dass wir jetzt vor der histori-schen Notwendigkeit der Erweiterung stehen.
Diese Erweiterung ist beim Europäischen Rat in Helsinkibeschlossen worden. Insofern ist die Position, die besagt,dass es über die Dimension, über die Außengrenzen derUnion Unklarheiten gebe, nicht richtig. Diese Frage istdurch die Beschlüsse von Helsinki definiert worden.Die Verhandlungen mit 12 neuen Kandidaten werdenaufgenommen. Das bedeutet aber in der Konsequenz,dass sich die Union spätestens jetzt die Frage stellenmuss, wie denn eine Union mit 27 oder gar 30 Mitglied-staaten funktionieren und stark bleiben kann, sich alsonicht zurückentwickelt zu Handlungsunfähigkeit oderStagnation.
Ich halte die Erweiterung historisch für unverzichtbar. Eu-ropas Sicherheit darf nicht zwei Prinzipien folgen; daswürde den Integrationsprozess gefährden. Dies zwingtuns diese Debatte auf.Es war übrigens mein Kollege Hubert Védrine, der mirdiese Frage zum ersten Mal gestellt hat. Und die Diskus-sion zwischen uns läuft bereits seit November 1998. DiePlanungsstäbe wurden eingeschaltet, mehr und mehr aberauch die Minister selbst.Ein bilateraler Besuch von mir in Portugal hat schließ-lich dazu geführt, dass die Präsidentschaft diese Diskus-sion zum ersten Mal auch beim Informellen Rat auf denAzoren im Kreise der Kollegen eröffnet hat. Das war einehervorragende Diskussion, in der genau diese Themenbesprochen wurden. All das, was dort zusammengeflos-sen ist, wurde mit der französischen Seite auf der Ebeneder Außenminister und der Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter seit November 1998 intensivst diskutiert, ohne dasseine Harmonisierung unserer Positionen stattgefundenhat.Aber man kann doch auch beim besten Willen nicht er-warten, dass bereits zu Beginn einer Debatte über einesolch entscheidende Frage, über die Frage, wie eineUnion mit 30 Mitgliedstaaten als politisches Subjektfunktionieren kann, fertige Konzepte vorliegen werden.Zunächst muss die Debatte beginnen.
Ich muss mich auch beim Kollegen Lamers bedanken;denn er hat mich anlässlich eines Abendessens vor vielenMonaten auf einen ganz entscheidenden Punkt gebracht.Er hat insistiert und die Notwendigkeit angesprochen,dass die Erweiterung nicht zu einem Erlahmen des Inte-grationsprozesses führen darf. Ansonsten nämlich wäredie Erweiterung selbst gefährdet. Das macht die Schwie-rigkeit dieses Prozesses aus.Wir hatten vor etwa drei Wochen mit Jacques Delorsund Richard von Weizsäcker ein Brainstorming, das eben-falls überaus nützlich und hilfreich war. Und wenn mannoch die Interventionen von Helmut Schmidt und Giscardd’Estaing und die jetzigen Äußerungen des Kommis-sionspräsidenten Prodi hinzunimmt, dann wird doch klar,dass wir angesichts der Herausforderung, eine Union mit30Mitgliedstaaten funktionsfähig halten zu müssen, nichtmehr ausschließlich nach der Methode Monnet vorgehenkönnen.Ich stimme allen zu, Herr Kollege Hintze, die sagen,dass wir uns nicht auf die Intergouvernementalisierung,das heißt: auf die Regierungsarbeit, zurückziehen dürfen,so wichtig sie auch als Bindeglied sein kann. Es stellt sichletztendlich die Frage der Vergemeinschaftung. Man mussallerdings die praktischen Probleme berücksichtigen, diees schon heute gibt.Herr Kollege Gehrcke, das ist natürlich ein offener Pro-zess. Man kommt aber an einen Punkt, wo ein neues Ka-pitel aufgeschlagen wird. Das heißt im Klartext: In demMoment, da sich Teile der Europäischen Union oder dieganze Union entscheiden, den Schritt zur Vollendung derUnion zu gehen, wird ein Kapitel beendet und ein neuesaufgeschlagen. Das bedeutet Finalität. Meine These ist,dass wir uns in den praktischen Problemen festlaufen wer-den, wenn wir die Finalitätsdebatte heute nicht beginnen,weil wir als Europäer, als überzeugte Integrationisten an-gesichts dieser historischen Herausforderung kneifenwerden. Und diesen Prozess habe ich mit meiner Redeversucht anzustoßen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Eu-ropäer – ich lege das jetzt bewusst überparteilich an,weil sich dies nicht an Parteigrenzen festmacht – versu-chen müssen, die rationalen Gründe, die hinter der Euro-Skepsis stecken, zu berücksichtigen. Ganz entscheidendsind in diesem Zusammenhang – das halte ich für ratio-nal – die Intransparenz – so erscheint es den Bürgern – deseuropäischen Institutionen- und Entscheidungsgeflech-tes, die Angst, etwas zu verlieren, was man kennt, woman sich zu Hause fühlt, was auch den Charakter einer
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Bundesminister Joseph Fischer9980
Schutzgarantie hat, zum Beispiel soziale Schutzgarantieoder Grundrechtsschutzgarantie, gegenüber Superstruk-turen, die man nicht durchschaut. Hier hält man an einemNationalstaat fest und daraus speist sich meines Erachtenseine Euro-Skepsis, die man ernst nehmen muss.Wenn man gleichzeitig aber weiß, dass an einer Voll-endung der Integration im 21. Jahrhundert – wie schnelles auch immer gehen mag – kein Weg vorbeiführt, undwenn man gleichzeitig sieht, dass die Nationalstaaten undvor allen Dingen die Nationen mit ihrer Geschichte, ihrerSprache und ihrer Kultur auf für uns nicht absehbare ZeitRealität bleiben werden, dann heißt die Aufgabe: Wiekönnen wir dies in ein europäisches Integrationskonzeptzusammenführen? Wir gehen also weg von einer abstrak-ten bundesstaatlichen Konstruktion und hin zu einervollen Übertragung der Kernsouveränitäten und der Über-tragung alles dessen, was unverzichtbar europäisch gere-gelt werden muss, auf die europäische Ebene. DieseFöderation sollte auf selbstbewussten Gliedern, auf Na-tionalstaaten, die fortexistieren werden, gründen.
Schauen Sie, das war mein Problem mit der AktuellenStunde. Ich wollte hier meine Position erläutern. Dannkommt der Parlamentarische Geschäftsführer der F.D.P.-Fraktion und sagt – formal zu Recht übrigens –, dass ichmeine Redezeit überschritten hätte.
Ich kann meine Position aber nicht in den vorgesehenenacht Minuten darlegen.
– Wenn Sie die Kritik vorbringen, ich hätte es hier machensollen, dann können Sie mir jetzt doch nicht sagen: Er re-det aber länger als acht Minuten!
Sonst muss ich ähnliche Schlagworte produzieren wie an-dere hier. Ich glaube, damit wäre der Sache nicht gedient.Ich würde das gern zu Ende bringen.
Der entscheidende Punkt, Kollege Hintze, ist für michnicht die Kritik an den Europa-Abgeordneten. Ich weiß,was sie leisten, wie schwer es ist, was sie tun, und dass esteilweise hervorragend ist, was sie leisten. Vielmehr zieltmeine Kritik auf die Institution – ich habe mich in dieserFrage auch bei anderen Kollegen erkundigt –: Die Anbin-dung dieses Parlaments an die politische Realität, an dieMenschen im Land ist völlig unzureichend.
Das ist keine Schuld des Parlaments; damit Sie mich hiernicht missverstehen. Dieses Problem geht zurück auf dievon den Sprachen und den Kulturen gezogenen Grenzen.Die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wiebringt man die politischen Eliten, die von den Bürgerin-nen und Bürgern aller Parteien identifiziert werden, in dieVerantwortung für dieses Europa? Es wird nicht funk-tionieren, wenn man hier eine abstrakte Trennung vor-nimmt. Es gibt unterschiedliche Optionen; ich habe sie er-wähnt. Eine haben Sie angesprochen.Ich bin der festen Überzeugung: Wir, die wir jetzt dieseDebatte führen, müssten sie auch beispielsweise mit derfranzösischen Seite und mit Partnern aus allen Mitglieds-ländern führen. Es sollte eine Debatte zwischen politi-schen Eliten sein, die in ihren jeweiligen Ländern Verant-wortung tragen. Das Ziel sollte sein, das zusammenzufü-gen.Wir werden nie ein einheitliches europäisches Staats-volk, sondern immer nur Staatsvölker haben. Das ist dergroße Unterschied zu den USA. Das liegt daran, dass Eu-ropa ein sehr geschichtsträchtiger Kontinent mit unter-schiedlichen Sprachen und Kulturen ist. Deswegen habeich an die Konstruktion mit den zwei Kammern gedacht.Wenn jemandem etwas Besseres einfällt, um das Problemzu lösen, wäre ich dafür offen. Mich interessiert die prak-tische Lösung und nicht eine sozusagen nur theoretischePositionierung. Ich habe lange darüber nachgedacht, aberin Abwägung aller Faktoren komme ich zu keinem ande-ren Vorschlag.Gestatten Sie mir, dass ich das Folgende auch nochkurz anspreche. Diese europäische Föderation wäre eineschlanke Föderation, die sich auf die Kernsouveränitätenund auf das unbedingt europäisch Notwendige konzen-trieren würde. Gleichzeitig würde es eine Souveränitäts-teilung mit fortexistierenden Nationalstaaten geben. Die-ses müsste in einem Verfassungsvertrag definiert werden.Das wäre dann die Subsidiarität als Verfassungswirklich-keit, wie sie etwa auch der Realität unserer Verfassungentspricht.Wie kann der Weg dorthin aussehen? Der erste Schrittist die verstärkte Zusammenarbeit. Das ist der entschei-dende Punkt, an dem diese perspektivische Debatte Aus-wirkungen auf die Regierungskonferenz haben wird. Zudem Treffen mit dem französischen Präsidenten, dem Pre-mierminister und dem Außenminister wollen der Bundes-kanzler und ich nachher aufbrechen. Das wird dort sicherauch eine Rolle spielen. Unser Ziel ist es, dass dieRegierungskonferenz unter französischer Präsidentschaftpraktisch ein Erfolg wird. Das ist der entscheidendePunkt.
Gleichzeitig wird dieser Erfolg einen weiteren Schritterforderlich machen. Ein Bindeglied wird dabei die ver-stärkte Zusammenarbeit und die Diskussion darüber, wiesie formal und inhaltlich ausgestaltet wird, sein. DieserPunkt wird auch über die nächste Regierungskonferenzhinaus von Bedeutung sein.Ich bin der Meinung, dass sich über kurz oder lang dieFrage stellen wird, ob Einzelne vorangehen sollen.
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Bundesminister Joseph Fischer9981
Meine Überzeugung ist: Einzelne werden in der Diskus-sion vorangehen. Wenn dann allerdings die Europäer mer-ken, dass es ernst wird, wie etwa im Zusammenhang mitder Wirtschafts- und Währungsunion, werden viele nach-ziehen. Das heißt, das Avantgardemodell – ich kann demKollegen Lamers nur Recht geben, er hat das in den Me-dien geäußert – wird ein Movens sein.Aber angesichts der Erfahrungen mit der Wirtschafts-und Währungsunion glaube ich, ehrlich gesagt, bezüglichder praktischen Perspektive nicht mehr, dass ein solcherKern entstehen wird. Ich glaube eher, dass sich viele derheutigen Mitglieder dafür entscheiden werden. Sie mussdabei offen bleiben für die neuen Mitglieder – auch dasmuss völlig klar sein –, sie darf nicht exklusiv, sondernmuss inklusiv sein.Es führt kein direkter Weg von der verstärkten Zusam-menarbeit in die Föderation, in den Verfassungsvertrag, indie Souveränitätsteilung, sondern das wird eines Tagesein politisch notwendiger Sprung sein. Er wird noch vieleDiskussionen erfordern. Das ist auch die Position desAußenministers Joschka Fischer. Ich würde mich freuen,Herr Westerwelle, wenn Sie das so ähnlich sähen. Ichharre Ihrer Unterstützung.
Sie haben es si-
cherlich gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab
hier vorne einige Debatten. Ich will Sie nun über den
Sachverhalt aufklären. Normalerweise hat die Bundesre-
gierung in einer Aktuellen Stunde ein Rederecht von zehn
Minuten. Wenn sie darüber hinaus redet, tritt § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung in Kraft, wenn das eine Fraktion
beantragt. Das hat soeben die F.D.P. getan, das heißt, es
wird im Anschluss an diese Aktuelle Stunde noch eine
Debatte über diesen Punkt geben. Damit verlängert sich
die Debattenzeit über diesen Punkt.
Es ist aber nicht richtig, Herr Kollege Koppelin – das
möchte ich Ihnen jetzt sagen –, dass Sie die Präsidentin
zwingen können, etwas vorzunehmen. Ich halte mich ge-
nau an die Geschäftsordnung. Sie erwerben nur Rechte.
Ich habe nicht die Möglichkeit, den Außenminister zu
zwingen, seine Rede zu unterbrechen. Das darf ich näm-
lich laut Geschäftsordnung nicht.
Ich glaube, wir haben das jetzt korrekt festgestellt. Im
Übrigen ist das kein Fall, der heute zum ersten Mal auf-
tritt, sondern er ist bereits bei vielen Regierungsreden in
der Vergangenheit vorgekommen.
Da es in der Aktuellen Stunde keine persönlichen Er-
klärungen gibt, rufe ich als nächsten Redner den Kollegen
Karl Lamers auf.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben bislangeine bemerkenswerte und gute Debatte geführt.
Wir sollten jetzt nicht in einen Streit über die Geschäfts-ordnung eintreten, zumal sonst die Gefahr besteht, dasswir uns nachher wieder verwässern und nicht der Sacheangemessen debattieren.Herr Minister, Sie haben zweifelsfrei das Verdienst, diebislang äußerst enge, ja gefährlich enge, fast beengte unddahinmarodierende Debatte über Europa wieder ange-stoßen und ihr – so hoffe ich – eine Perspektive gegebenzu haben, die der Herausforderung, vor der Europa steht,angemessen ist. Wenn Ihnen das endgültig gelungen seinsollte – das hängt nicht nur von uns ab –, dann haben Siesich ein großes Verdienst erworben. Ich bin der Letzte, dernicht bereit wäre, das anzuerkennen.Sie haben gesagt, wir brauchen angesichts der Oster-weiterung nicht nur ein vertieftes Nachdenken über Eu-ropa, sondern auch Antworten auf eine Herausforderung,die, gemessen an den bisherigen Herausforderungen,neuer Natur ist. Nun muss ich allerdings ein kritischesWort sagen: Das ist schon seit einiger Zeit bekannt, lieberHerr Fischer, und Wolfgang Schäuble und ich haben 1994aus genau diesem Grund erwähnt, dass wir mit Blick aufdie Erweiterung, die wir alle in diesem Haus genauso wol-len wie Sie, eine Lösung für Europa brauchen, das vieldifferenzierter sein wird, als es sich uns jetzt darbietet.Wir brauchen differenzierte Formen der Mitgliedschaft.Die Frage ist: Sind sie temporär oder dauerhaft und be-finden sie sich im institutionellen Rahmen oder außerhalbdesselben?Sie haben uns – das bedaure ich – in Ihrer Rede unter-stellt, wir hätten eine dauerhafte Differenzierung gewollt,obwohl das Papier nun wirklich vollkommen eindeutigist. Damals haben unsere französischen Freunde zu unse-rem großen Bedauern unseren Vorschlag diskreditiert,weil sie nicht antworten, sondern ausweichen wollten. Siehaben das getan, indem sie behaupteten, wir wollten dieanderen dauerhaft ausschließen, obwohl es in Wirklich-keit – das kann ich Ihnen unter vier Augen erzählen – pro-minente Franzosen gab, die genau das wollten. Es ist sogewesen, glauben Sie es mir. Sie sollten dies nicht wie-derholen. Ich sage das nur deswegen – es ist mir fast zudumm, dies zu sagen –, weil ich meine, dass wir klar fest-stellen müssen, wo wir einer Meinung sind und wo wirunterschiedlicher Meinung sind. In diesem Punkt sind wirganz klar einer Meinung. Damit will ich es bewenden las-sen.
Das Zweite ist: Einen Verfassungsvertrag habenWolfgang Schäuble und ich vor ziemlich genau einemJahr auch vorgeschlagen. Unser Vorschlag hat viel weni-ger Furore gemacht, aber wir haben ihn gemacht. Ichfreue mich, dass Sie auch hier sagen: Das ist ebenfallsmeine Meinung. – Auch Edmund Stoiber hat die Mög-lichkeit eines Verfassungsvertrages ausdrücklich aner-kannt. Dieser hat im Kern die Frage zu beantworten: Wermacht was, und zwar sowohl auf der jeweiligen Ebene alsauch zwischen den Ebenen? Dies haben Sie sich zu Eigengemacht.
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Bundesminister Joseph Fischer9982
Man kann eigentlich auch nicht anders denken, vor al-len Dingen dann nicht, wenn man wie Sie zu Recht sagt:Wir brauchen eine Teilung der Souveränitäten und die Na-tionalstaaten werden nicht einfach aufgelöst. Dies ist übri-gens ein Thema, über das wir noch nachdenken müssen.Es geht nicht nur um den Nationalstaat, sondern auch umdie Nation. Wenngleich beides nicht ganz voneinander zutrennen ist, sind es doch zwei verschiedene Dinge.Ich sage dies auch deswegen, lieber Herr Fischer, weilich Ihre soeben zum Ausdruck gebrachte Meinung überden europäischen Souverän – so will ich dies einmal nen-nen – nicht ganz teile. Natürlich wird es kein europäischesVolk geben, wie es heute die nationalen Völker, die Na-tionen gibt. Aber schon heute haben wir ein europäischesBewusstsein. Jedenfalls entwickelt sich eine Gemein-schaft, die sich ihrer selbst bewusst ist.Übrigens können wir nur dann wählen, wenn wir siebekommen. Das Europäische Parlament ist in mancherHinsicht ein Vorgriff auf diesen sich entwickelnden euro-päischen Demos. Aber wenn wir daran nicht glauben,sieht es sehr schlecht um die Zukunft der Demokratie inEuropa aus und wir wollen ja nicht nur ein starkes und ef-fizientes, sondern – wir müssen dies auch wollen – ein de-mokratisches Europa, damit es von den Bürgern aner-kannt wird.Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Chancen sagen.Sie werden sicher gelesen haben, was Alain Juppé, derneuerdings Berater des französischen Präsidenten für dieFragen der institutionellen Reformen ist und der ohne je-den Zweifel – ich sage es vorsichtig – einer der Eu-ropäischsten in dem uns nahe stehenden Lager, ein über-zeugter Europäer ist, gesagt hat: Wir müssen die Frage„Wer macht was?“ beantworten. Nun will ich dies nichtfür mich beanspruchen, aber Alain Juppé und ich habenüber diese Frage sehr eingehend gesprochen. Ich kann Ih-nen nur versichern: Dies ist nicht nur so dahingesagt. Erhat klar erkannt, dass wir in diese Richtung gehen müs-sen.Wenn es ihm gelingt, mit Frankreich – von dem Sie zuRecht gesagt haben, dass wir es für jeden europäischenFortschritt brauchen – einen „accord“ zu finden, habenwireine Chance, diese Regierungskonferenz so zu beenden,dass sie sicherstellt – was Sie meiner Meinung nach zuRecht in unserem persönlichen Gespräch zitiert haben –,dass der europäische Einigungsprozess, dass das politi-sche Projekt Europa auch nach dieser Erweiterung wei-tergeht. Dies liegt nicht nur im Interesse der heutigen Mit-glieder, sondern gerade auch im Interesse der zukünftigenMitglieder, die zu überzeugen allerdings unsere gemein-same und nicht ganz leichte Aufgabe sein wird.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Lamers,ich finde das, was Sie gerade gesagt haben, sehr beden-kenswert. Ich möchte daran anknüpfen. Was uns in Eu-ropa fehlt – das haben Sie gerade deutlich gesagt –, ist soetwas wie die Grundlage des europäischen Souveräns unddie Beantwortung der Frage, wer das denn sei. In den Na-tionalstaaten haben wir diesen Souverän sehr wohl. Ge-nau dies ist der Grundgedanke, den Joschka Fischer in denMittelpunkt seiner Rede gestellt hat und an den er an-knüpft.Jetzt befinden wir uns in einem Staatenverbund oder –wie die Politikwissenschaftler dazu sagen – in einer Mehr-ebenenpolitik, was dies auch immer sei.Gerade in dieserMehrebenenpolitik sind wir in einem ungeahnten Maßeeffizient, ob Sie als Beispiel den Euro, das SchengenerAbkommen oder andere Absprachen, die auf der regula-torischen Basis festgehalten worden sind, nehmen. Wirhaben dabei ein ungeheures Ausmaß an technischer Effi-zienz.Was aber fehlt – das hat Kollege Lamers eben ange-sprochen –, ist die Antwort auf die Frage nach der Legiti-mation mit dem Blick auf das, was künftig geschehen soll.Das Ganze hat sich jetzt mittlerweile fast bis an den Randjener Möglichkeiten der technischen Effizienz entwickelt.Aber was kommt danach? Was soll perspektivisch ausdiesem Europa werden, wenn die bisherigen Grenzen derwesteuropäischen Integration fast erreicht sind? Das istgenau das Problem, nämlich die Legitimationsbasis fürpolitisches Handeln. Sie konnte bei dem alten National-staat, der noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, aberan dessen Fundamenten der Legitimation es ja Problemegibt, leicht beschrieben werden. Wie kann eine neue Le-gitimation für das, was jetzt kommen wird – einerseits dieErweiterung, die wir alle wollen, und andererseits abereben auch das, was als Legitimation formuliert werdenmuss –, gefunden werden? Solange wir leben werden unddie, die hier im Plenum sind, ihre Politik machen werden,wird es kein europäisches Volk als Legitimationsbasis fürdas politische Handeln geben. Das ist wohl ziemlich si-cher.Norbert Elias sagt, was für politische Legitimationnötig sei, sei eine Wir-Identität. Diese Wir-Identität ist erstin Anfängen erkennbar. Insofern – davon müssen wir aus-gehen –: Solange wir mittelfristig Politik machen undKonzeptionen entwickeln, können wir diesen neuen Legi-timationsbedarf durch den alten Gedanken des Souveränsnicht decken.Wie soll dieser Bedarf, der für die Demokratie unver-zichtbar ist – damit ich hier nicht missverstanden wer-de –, gedeckt werden? Ich will nicht darüber reden, dasswir in der zukünftigen Entwicklung auf eine Legitimationverzichten möchten. Es ist sozusagen die Konstituente je-der demokratischen Politik, dass sie auf einen fundamen-talen Legitimationsbedarf bezogen sein muss. Wie kanndenn dieser Bedarf jetzt gedeckt werden?Wenn Sie sich das, was der Citoyen JoschkaFischer dazu gesagt hat, einmal anschauen, dann wissenSie meiner Meinung nach auch, was die Antwort daraufist: Wir brauchen ein zweites Grundelement neben dieser
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Karl Lamers9983
Idee des Souveräns. Es besteht darin, eine Debatte zu er-zeugen, Diskurse zu entwickeln. Das ist der zweite Punkt,auf den es ankommt.Es könnte doch sein, dass wir in eine Demokratieent-wicklung hineingehen, die sich anders als bisher versteht,nämlich als eine Demokratieentfaltung, die die Amerika-ner deliberative Demokratie nennen.Wenn Sie einmal lesen, was Jürgen Habermas dazuschreibt, oder wenn Sie sich die gesamte amerikanischeDebatte, angefangen bei den Kommunitaristen überRichard Rorty bis zu John Rawls – das müsste ja für Li-berale ein ganz wichtiger Autor sein –, anschauen, dannstellen Sie fest, dass der Grundgedanke eine Erweiterungvon Demokratie ist. Aber man kann doch nur dann diesesZiel ansteuern, wenn es Impulse gibt, wenn es Menschengibt – ob als Außenminister, ob als Staatsbürger –, diediese Debatte erzeugen. Genau das ist der entscheidendePunkt: Joschka Fischer erzeugt hier eine Debatte undkommt genau auf die entscheidenden Punkte, die künftigin der Entwicklung Europas wichtig sind.
Deswegen bin ich dankbar dafür, dass JoschkaFischer diese Rede gehalten hat, und ich bin überzeugt da-von, dass – das zeigt auch unsere Debatte hier – dieser Im-puls seine Folgen haben wird. Ich hoffe sehr, er wird dieFolge haben, dass nicht nur die Verbindungslinie zwi-schen Frankreich und Deutschland lebendig ist, die ja alsKernelement, als Motor dessen, was Integration heißt, dengesamten Integrationsprozess Europas getragen hat, son-dern es auch gelingt, diesen Prozess voranzutreiben.Nehmen Sie den Begriff, den er, wie ich finde, viel-leicht noch einmal überdenken sollte, nämlich den der Fi-nalität. Dieser Begriff kommt aus der französischen De-batte. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt auch deutlichmachen, dass wir einen eigenen Begriff entwickeln könn-ten. Ich würde viel lieber den Begriff „Zweck“, denImmanuel Kant benutzt hat, verwenden. Also: Zu wel-chem Zweck treiben wir diese Integration voran? Zu wel-chem Zweck nehmen wir die Erweiterung vor?Der wesentliche Zweck muss in einem dringenden drit-ten Schritt liegen. Der erste Schritt betraf die Integrationder letzten 50 Jahre. Der zweite Schritt wird die Erweite-rung sein. Der dritte Schritt muss meiner Meinung nachein neuer Gründungsakt für Europa sein. Dieser neue po-litische Gründungsakt kann die Teilung der Souveränitätsein, was Joseph Fischer sagt, um damit eine neue legiti-matorische Basis für ein gemeinsames Europa zu schaf-fen, die zu einem späteren Zeitpunkt den nach uns kom-menden Politikern eine Perspektive eröffnet, damit Eu-ropa seine eigene Souveränität als ein gemeinsamerSouverän wirklich entfalten kann. Insofern ist das, wasJoseph Fischer in Gang gesetzt hat, ein fruchtbarer Pro-zess, den wir dringend brauchen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlau-ben Sie mir, als neues Mitglied des Ausschusses für Eu-ropaangelegenheiten einige Anmerkungen zu machen.Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass dieDynamik der Europapolitik erlahmt ist. In der Bevölke-rung nehmen die Zweifel zu, ob das Ziel erreicht werdenkann, ein modernes, zukunftsorientiertes, vereintes unddemokratisch kontrolliertes Europa zu schaffen. Ich habeden Eindruck, dass die Bundesregierung für diese nega-tive Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahren die Ver-antwortung trägt.
Nehmen wir einmal die Ratspräsidentschaft aus demJahre 1999: Viele Punkte sind halbherzig angegangenworden. Bei der Osterweiterung wurde zum Beispielüberhaupt keine finanzielle Sicherung erreicht. Deutsch-land ist nicht mehr der Motor der europäischen Eini-gungspolitik.Deshalb ist es geradezu wohltuend, dass der deutscheAußenminister zwar nicht in seiner Ministerfunktion,aber doch als Bürger der Bundesrepublik Vorstellungenzur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozessesentwickelt hat, die die Bilanz unseres BundeskanzlersSchröder ein bisschen aufbessert, mit dem Ziel, eine en-gagierte, zukunftsorientierte Politik in Europa zu machen.Die Rede des Außenministers ist deshalb ein Eingeständ-nis des Scheiterns der bisherigen Europapolitik der Bun-desregierung.
Die Handlungsfähigkeit Europas muss gesichert wer-den. Die Gefahr der Selbstblockade der EuropäischenUnion droht uns. Die Klärung der europäischen Kompe-tenzzuordnung – dies ist ein entscheidender Punkt – unterden bestimmenden Gesichtspunkten der Subsidiarität imAmsterdamer Vertrag duldet keinen weiteren Aufschub.Es ist bemerkenswert, sehr geehrter Herr Minister, dassSie die langjährige Forderung Bayerns nach einer präzi-sen Kompetenzabgrenzung nicht nur aufgegriffen, son-dern darüber hinaus zu Recht als Hauptachse des Verfas-sungsvertrages bezeichnet haben.
Deswegen stellen wir die Forderung: Was nicht unbe-dingt EU-einheitlich geregelt werden muss, hat in natio-naler Kompetenz zu verbleiben, und zwar unabhängig da-von, welche Kompetenzen die Kommission inzwischenan sich gezogen hat. Die elementaren Interessen des Bun-des und der deutschen Länder müssen gewahrt werden.
Meine Damen und Herren, die EU-Osterweiterung –ich wohne unmittelbar an der Grenze zu Tschechien; des-wegen ist mir die Erweiterung ein Herzensanliegen; wir
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Gert Weisskirchen
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dürfen nicht nur von der Osterweiterung der EU sprechen,sondern wir können von der Wiedervereinigung Europassprechen – wird scheitern, wenn die Handlungsfähigkeitder Institutionen nicht sichergestellt werden kann. Für dieErweiterung der EU muss deshalb der entscheidendeGrundsatz lauten und gelten: Gründlichkeit vor Schnel-ligkeit.Die europäische Einigung ist nicht nur eine Abfolgeunzähliger EU-Gipfeltreffen und Regierungskonferen-zen. Gerade wegen der um sich greifenden Europamüdig-keit innerhalb der Bevölkerung müssen wir die Menschenmitnehmen und einbinden. Die positiven Seiten der euro-päischen Wiedervereinigung müssen den Menschen ver-mittelt werden. Europa und insbesondere die EU-Ost-erweiterung müssen in den Köpfen und auch – erlaubenSie mir diese Bemerkung – in den Herzen der Menschenverankert werden und eine entscheidende Rolle spielen.
Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Fischer, ist Ihrvorgeschlagenes System mit einem aus zwei Kammern,Abgeordneten- und Staatenkammer, bestehenden Europä-ischen Parlament als Legislative und mit einer europä-ischen Regierung als Exekutive grundsätzlich der richtigeWeg. Dieser Weg wird zum Beispiel von der BayerischenStaatsregierung und auch von unserem Ministerpräsiden-ten mitgetragen.Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Ich bin stolzdarauf, dass insbesondere die Bayerische Staatsregierungeuropäische Kompetenz nachweist, dass wir mit Nach-druck für Europa eintreten und dass die Europapolitik derBayerischen Staatsregierung und der CSU insgesamtgeradlinig und ehrlich ist. Bereits im Jahre 1993 ist dieBayerische Staatsregierung für ein Mehrkammersystemeingetreten.
Deshalb, Herr Außenminister, gilt heute ganz besonders:Nicht nur reden, sondern handeln und das als richtig Er-kannte in praktische Politik umsetzen!Dass der amtierende Außenminister als Privatmanneine Grundsatzrede zur Europapolitik hält, verwirrt uns.Vermutlich gibt es keine abgestimmte Haltung innerhalbder Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung derEU. Es stimmt uns nachdenklich, dass die Bundesregie-rung zum Teil konzeptionslos in die Europadiskussiongeht.Deutschland muss sich wieder an die Spitze des euro-päischen Einigungsprozesses stellen. Nutzen wir die his-torische Chance der europäischen Wiedervereinigung!Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbefinden uns längst in einer großen Debatte, die ur-sprünglich von der F.D.P.-Fraktion so nicht beantragtworden ist, die aber von ihr hätte beantragt werden kön-nen. Wenn ich mich frage: „Wie ist es dazu gekommen?“und mir den Titel der Aktuellen Stunde, die Unterschei-dung zwischen dem Bürger und dem AußenministerFischer sowie die Klagen, Herr Fischer müsse doch alsAußenminister für die Bundesregierung sprechen, vorAugen führe, dann stelle ich fest: Der Außenminister hatIhnen, Herr Westerwelle, geradezu eine Lektion in derFrage „Wie setzt man Themenschwerpunkte?“ erteilt. Erhat das an einem schönen Beispiel von Herrn Genscherdeutlich gemacht. Ich denke noch immer, dass die von derOpposition beantragte Debatte ursprünglich in eine an-dere Richtung zielte. Aber inzwischen dürften wir allewohl die Veröffentlichung der Rede von Herrn Fischer im„Staatsanzeiger“ beantragen. Wir alle schließen uns gernedem Lob der F.D.P. an.
Nachdem ich dies gesagt habe, lasse ich alles, was ichmir noch sonst an Polemik zurechtgelegt hatte, beiseiteund trenne zwischen dem Abgeordneten Lippelt und derFraktion der Grünen; denn das, was ich jetzt sagen werde,ist mit meiner Fraktion nicht abgestimmt, obwohl ichglaube, dass die Fraktion meinen Ausführungen gutenGewissens zustimmen kann.Wir befinden uns in der inhaltlichen Debatte. Deshalbsage ich Folgendes: Es gibt einige Punkte, über die wirweiter diskutieren müssen. Der eine Punkt, mit dem derBegriff „Finalität“ eng verbunden ist, betrifft die europä-ischen Grenzen. Dazu sage ich: Es ist ein großes Problem,wenn zu früh über die endgültigen Grenzen der EU dis-kutiert wird; denn die EU ist verpflichtet, für einen Trans-fer von Stabilität in den Raum der ehemaligen Sowjet-union zu sorgen.Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine an die Vorstellung,der EU beizutreten, geradezu klammert, dann muss ichauf das hinweisen, was der zuständige EU-Kommissar an-richtet, wenn er der Türkei eine Beitrittsperspektive eröff-net und der Ukraine nicht. Wir sind letztlich auch für dieAusgestaltung der ukrainisch-russischen Grenze verant-wortlich. Darüber nachzudenken ist eine Reaktion auf denProzess, in dem wir stehen. Stabilitätstransfer wird beiRegelungen ähnlich dem Schengener Abkommen nichtmöglich sein.Der Außenminister hatte einen persönlichen Grunddafür, zu sagen, dass er erst einmal als Privatmann spricht.Er hat für das, was er Visionen nennt, Modelle vorgege-ben: Senat, Bundesrat, Zweikammersystem. Ich denke,dass – im Ergebnis – die „obere“ Kammer früher oder spä-ter eine Staatenkammer sein wird, in der die EuropäischenRäte notwendigerweise vertreten sein müssen.Zur Idee des Doppelmandats möchte ich Folgendes sa-gen: Ich habe meine größten Bedenken, wenn wir – wie inden USAoder anderswo – versuchen, uns über ein Unter-haus mit einer einheitlichen Sprache usw. zu integrieren.Der entscheidende Ort wird das Europäische Parlamentsein müssen.
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Klaus Hofbauer9985
Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Die Imagination derMenschen wird durch nichts – auch nicht durch schöneund noch so gute Reden – so sehr gefesselt wie durch Aus-einandersetzungen. Eine, die wir erlebt haben, fand statt,als das Europäische Parlament die Europäische Kommis-sion, also seine Regierung, abgesetzt hat. Als das geschah,wussten alle, was in Europa vor sich geht.Ich bedaure ein bisschen, dass die kurzatmigen Ge-spräche in der Regierungskonferenz die Frage der Kom-mission offensichtlich kaum behandeln können. Vor Ab-schluss des Vertrages von Amsterdam haben die Franzo-sen einmal von einer Zahl zwischen sieben und zehnEU-Kommissaren gesprochen. Auf meine Frage anGiscard d’Estaing, ob das perspektivisch heiße, dassFrankreich vielleicht einmal keinen Kommissar stelle,antwortete er mit Ja und sagte, dass das damit verbundensein müsse.Nachdem Prodi zum neuen Präsidenten der EU-Kom-mission berufen worden war – diese schnelle Einigungwar wirklich ein Erfolg der jetzigen Bundesregierung –,haben wir, als er seine Kommissare bestimmen wollte, er-lebt, wo bestimmte Grenzen sind. Es wird ganz wichtigsein, dass sich die Regierungen an diesem Punkt auf Vor-schlagslisten zurückziehen und von festen Nennungen ab-rücken.
Herr Kollege
Lippelt, die Zeit.
Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin.
Der Präsident der Kommission sollte wie ein Regie-
rungschef in der Lage sein, sich ein Kabinett zusammen-
zustellen, das die Mehrheit im neu gewählten Europä-
ischen Parlament repräsentiert.
Meine Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung.
Auch deshalb habe ich als „privater“ Abgeordneter ge-
sprochen. Die Diskussion hatte einen schönen Anfang.
Wir müssen für den Anstoß zu dieser Diskussion und für
die Debattierlust unseres Außenministers dankbar sein.
Herr Kollege
Lippelt, das war doch so ein schöner Schlusspunkt.
Man kann den Gesprächen in Rambouillet nur den Erfolg
einer deutsch-französischen Initiative wünschen.
Meine Auffor-
derung an Sie war nur ein Vorschlag. – Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dassdie Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Univer-sität eine gute und wichtige Rede gewesen ist. Es war eineRede, die nach anderthalb Jahren der manchmal etwaskurzatmigen Politik, dem nationalen Schacher, der in Eu-ropa in den letzten Monaten vorgeherrscht hat, endlicheine Perspektive, eine Vision entgegensetzt. Insofernhalte ich den Ansatz Ihrer Kritik, Herr KollegeHaussmann, für nicht ganz richtig. Wir haben uns dochimmer die Diskussion um Visionen und Ziele gewünscht.
Im Übrigen können wir angesichts der Ausführungennicht nur von der F.D.P., sondern von fast allen Seiten desHauses mit viel Stolz sagen, dass wir auch jetzt noch ei-nen relativ starken Konsens über Europa haben. Das soll-ten wir an dieser Stelle einmal deutlich machen.
Die Rede von Herrn Fischer birgt viele Konsensmög-lichkeiten auch für die Zukunft in sich. Unser Land fährtdoch niemals besser, als wenn wir mit unseren europä-ischen Partnern und in der Welt untereinander einig sind.Dass es trotzdem einige kritische Punkte gibt, brauchtdann niemanden zu verwundern. Über sie werden wir unsauseinander setzen; sie sind ebenfalls, wenn ich es richtigsehe, fraktionsübergreifend angesprochen worden.Einig sind wir erstens darin – ich fand es gut, dass dieBundesregierung das eigentlich zum ersten Mal deutlichgemacht hat –, dass das Ziel der Osterweiterung als einerhistorischen Notwendigkeit, die in unserem Interesseliegt, wirklich glaubwürdig herübergekommen ist.
Zweitens ist in dieser Rede herübergekommen, dass eswichtig ist, wenn wir Europa gestalten wollen, zwischenKernkompetenzen, die wir nach Europa geben, und denübrigen Kompetenzen, die wir auf der nationalstaatlichenbzw. regionalen Ebene belassen, zu unterscheiden und dasin einem Verfassungsvertrag niederzulegen. Darüber be-stand absoluter Konsens, wenn ich das richtig sehe.
Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der ei-nen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, einGravitationszentrum oder einen Kern brauchen. Das istnichts Neues; das ist auch schon mehrfach gesagt worden.Mit dem Euro oder dem Abkommen von Schengen habenwir so etwas schon. Aber dass dieser Kern verstärkt wer-den muss, wenn sich die EU erweitert, wird – das glaubeich herausgehört zu haben – niemand wirklich infragestellen.Jetzt stellen sich aber doch auch ein paar kritische Fra-gen. Ich halte Herrn Fischers Bewertung der Möglichkei-ten und Chancen der Supranationalität für zu pessimis-tisch. Gerade wenn wir an Monnet erinnern, müssen wir
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Dr. Helmut Lippelt9986
doch feststellen, dass die Supranationalität – die Ver-flechtung der Ideen der Zusammenarbeit, zum Beispieldie Schaffung einer Kommission und eines Parlamentsauf europäischer Ebene – der eigentliche Integrationsfort-schritt war, der überhaupt erst Frieden auf diesem Konti-nent geschaffen und dafür gesorgt hat, dass wir nicht mehrgegeneinander Kriege führen.
Hier ist Herr Fischer zu pessimistisch, indem er jetzt alldas, was sich zukünftig tun soll, auf die intergouverne-mentale Ebene, also auf die Ebene zwischen den Regie-rungen, abschiebt. Das macht mich besorgt, denn er fängtdabei schon mit dem Europäischen Parlament an. Natür-lich muss man kritisieren, dass das Europäische Parla-ment nicht so demokratisch und bürgernah ist, wie wir esuns wünschen, dass es über viele parlamentarische Mög-lichkeiten nicht verfügt und dass unsere nationalen Elitensich oftmals nicht hineinwählen lassen. Wir haben sehrgute Europaparlamentarier; aber es könnte noch bessersein. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, essei klug, ein Doppelmandat zu schaffen und das Europa-parlament, das die Supranationalität mit am besten ver-körpert und eine der größten Errungenschaften des verge-meinschafteten europäischen Ansatzes ist, dadurch zu er-setzen, dass nur noch nationale Delegierte nach Brüsselgeschickt werden, die dort dann immer einmal auf einerKonferenz zusammensitzen. So würden weder die Kon-trollkompetenzen noch die Gesetzgebung und erst rechtnicht die Demokratie gestärkt. Ich glaube, dies ist dergrößte Irrtum der ganzen Rede von Herrn Fischer.
Überhaupt muss man sich fragen, ob das Schaffen vonverschiedenen Avantgarden außerhalb der EU-Verträgenicht letztlich auch die große Gefahr einer Erosion in sichbirgt, die Gefahr, dass wir europäische Identität verlieren.Es könnte eine Art Europa à la carte werden: Jeder picktsich die Form der Zusammenarbeit heraus, die er geradegerne hätte. Ich glaube nicht, dass dies der Minister in-tendierte. Aber die Gefahr ist da, wenn man sozusagenalle zukünftigen Avantgardechancen eines Kerns, derweiter voranschreitet, auf der Ebene der zwischenstaatli-chen Zusammenarbeit und nicht mehr in den Gemein-schaftsinstitutionen und dem Gemeinschaftshaushalt an-siedelt. Das ist die Gefahr dieser Rede, meine Damen undHerren.Dann muss man sich fragen, was eigentlich die Mittel-und Osteuropäer dazu sagen. Ich finde, dass das dasSchwierigste ist. Sie geben sich eine ungeheure Mühe, re-formieren ihre Staaten, nehmen Arbeitslosigkeit in Kauf,um einen unglaublichen Fortschritt zu machen, und be-kommen dann von Herrn Fischer quasi gesagt: Wenn ihrnach all diesen Anstrengungen letztlich in der Lage seid,in das europäische Mietshaus einzuziehen, dann sind einpaar bereits in die europäische Villa eingezogen; ihr seidsozusagen Mieter zweiter Klasse. Damit entmutigt mandiese Länder. Dem muss man mit allen Mitteln entgegen-wirken. Das sollten wir alle miteinander tun.Deshalb ist unbeschadet von allem Positivem, was sichin dieser Rede findet, festzuhalten, dass es fatal wäre,wenn in Mittel- und Osteuropa der Eindruck entstünde,als wären mit dieser Rede Formen von Abwehr und Isolie-rung verbunden. Es wäre fatal, wenn wir das, was HerrFischer als die Methode Monnet bezeichnet, links liegenlassen würden. Wir sollten ihn alle miteinander ein wenigerziehen, damit aus dem guten Kern der Rede etwas wirk-lich Vernünftiges für uns alle entwickelt wird.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich glaube, der Beitrag von HerrnPflüger hat gerade gezeigt, dass wir uns in der Diskussionjetzt auf dem richtigen Weg befinden. Es wurde deutlich,dass die Rede des Außenministers, in welcher Eigenschafter sie letztlich auch immer gehalten hat, längst überfälligwar.
– Herr Haussmann, bei jedem Wortbeitrag sagen Sie, erhätte sie gleich hier halten sollen. Ich kann es verstehen,dass man vielleicht ein wenig beleidigt ist, weil man beider Rede in der Humboldt-Universität nicht dabei war undüber sie in der Presse lesen musste. Es macht sich natür-lich auch gut, wenn die erstarkten Liberalen jetzt zu so ei-nem wichtigen außenpolitischen Thema eine AktuelleStunde beantragen. Das kann ich verstehen. Ich kann mirin dem Zusammenhang aber auch nicht die Bemerkungverkneifen, dass die Beiträge von Herrn Lamers oder vonHerrn Pflüger außenpolitisch viel konkreter waren als das,was ich von Ihnen und Herrn Westerwelle gehört habe.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich, wenn Sieschon eine Aktuelle Stunde hierzu beantragen, an diegroße Tradition liberaler Außenminister angeknüpft hät-ten. Diese Chance haben Sie vertan. Sie haben sich inErbsenzählerei ergangen, wann wer was in welcher Funk-tion gesagt hat und ob das alles so richtig war. Sie habenhier eine Chance verpasst Aber das ist nicht mein, sondernIhr Problem.
– Lassen Sie sich da auch einmal einladen, die nehmen Siebestimmt auch.
– Gut, sehr schön.
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Dr. Friedbert Pflüger9987
Ich möchte die derzeitige konstruktive Diskussion fort-führen und auf das eingehen, was Herr Pflüger gesagt hat.Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, dass die In-teressen, die Gefühlslage und die Geschichte unsererosteuropäischen Nachbarn sehr ernst zu nehmen sind. Ichglaube, dass es uns als Europapolitikerinnen und Europa-politiker auszeichnen würde, wenn wir auf der Grundlageder Rede des Außenministers weiterdiskutieren und das,was er angestoßen hat, weiterentwickeln würden, nämlichwie ein Gravitationszentrum aussehen kann, das nicht zueinem Europa à la carte und nicht zur Rosinenpickereiführt, und wie man deutlich machen kann, dass es eigent-lich im Interesse eines funktionierenden Gravitationszen-trums sein müsste, dass auch neue Mitglieder der Europä-ischen Union möglichst schnell in dieses Zentrum vor-stoßen.Anhand der Reaktionen, insbesondere auch anhand derÄußerungen des polnischen Außenministers, können wirfeststellen, dass man in diesen Ländern zwar verunsichertist, weil man nicht weiß, wohin die Reise führt, aberdurchaus auch offen dafür ist, darüber nachzudenken undsich in die Verhandlungen einzubringen, wie die Union soweiterentwickelt werden kann, dass am Ende alle, diewollen, die Chance haben, an diesem Beschleunigungs-prozess teilzunehmen und in dieses Gravitationsfeld hin-einzukommen.
Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich unterstrei-chen, dass der Außenminister in seiner Rede betont hat,dass dieses Gravitationszentrum wirklich für alle ein Ma-gnet sein soll, der sie förmlich anzieht, sich dort einzu-bringen. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und zu über-legen, wie wir als Parlamentarierinnen und Parlamenta-rier die Regierung dabei unterstützen können, diesumzusetzen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir unsimmer wieder und auch in der heutigen Debatte klar ma-chen müssen.Wichtig ist auch, dass man zwischen langfristigen Per-spektiven, mutigen Visionen und dem, was man so schöndas Tagesgeschäft nennt, unterscheidet. Wir müssen auf-passen, dass die jetzige Rede des Außenministers nichtzum Anlass genommen wird, zum Beispiel den Forde-rungskatalog für die Regierungskonferenz zu überziehenbzw. aufzublähen. Das würde wiederum die Gefahr mitsich bringen, dass wir durch unsere überzogenen Forde-rungen am Ende weniger erreichen, als wenn wir ge-schickt und auf bestimmte Fragen konzentriert verhan-deln würden. Auch in diesem Punkt müssen wir also ab-wägen.Zum Schluss ist gesagt worden – auch das kann ich un-terstreichen –, dass den Worten des Außenministers im-mer Taten folgen müssen. Ich glaube, das gilt nicht nur fürden Außenminister und die Regierungsmitglieder, son-dern für uns alle.
Wir müssen so sensibel über Europa diskutieren, dassdas Thema für die Bürgerinnen und Bürger interessant istund sie nicht abgeschreckt werden. In unseren Diskussio-nen dürfen wir nicht immer nur die Risiken, die ein sol-cher dynamischer Prozess mit sich bringt, in den Vorder-grund stellen – damit verunsichern wir die Bürger –, son-dern wir müssen die Chancen herausarbeiten. Auch darinliegt eine große Verantwortung für uns alle.Auch wenn es eben schon angesprochen worden ist,möchte ich Ihnen sagen: Hören wir auf die Unterüber-schrift des Artikels des ehemaligen Außenministers Gen-scher! Diese lautet: „Folgt Fischer“. Lasst uns in diesemSinn konstruktiv diskutieren!Vielen Dank.
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen
Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach § 44 Abs. 3 der Ge-
schäftsordnung könnte die F.D.P. eine zusätzliche Debatte
beantragen, da der Bundesaußenminister seine Redezeit
weit überzogen hat.
Es war richtig und gut, dass wir diese Aktuelle Stunde
beantragt haben, da der Bundesaußenminister zum ersten
Mal zu seiner Rede an der Humboldt-Universität in Ber-
lin in diesem Parlament Stellung nehmen konnte und wir
darüber diskutieren konnten. Wir sind dankbar für diese
Diskussion. Die F.D.P. ist der Auffassung, dass dieses
Thema weiter auf der Tagesordnung bleiben muss.
Der Bundesaußenminister hat uns davon unterrichtet,
dass er einen wichtigen Termin hat. Er hat deshalb vor-
zeitig die Debatte verlassen müssen. Wir akzeptieren das.
– Frau Kollegin, der Herr Bundesaußenminister hat uns
darüber informiert, dass er einen Termin hat und deshalb
die Debatte vorzeitig verlassen muss. Wir akzeptieren das –
das ist ein Entgegenkommen der Opposition –, weil wir
wissen, welchen Termin er wahrnimmt.
Wir verzichten also auf eine Debatte nach § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung. Das Thema bleibt aber weiter auf
der Tagesordnung.
Vielen Dank.Damit sind wir in der Lage, mit der ursprünglich vorgese-henen Tagesordnung fortzufahren.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Fortentwicklung derAltersteilzeit
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Dietmar Nietan9988
– Drucksache 14/3158 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/3392 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Meckelburgb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/3393 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Konstanze WegnerDietrich AustermannAntje HermenauJürgen KoppelinDr. Christa LuftDie Abgeordneten Rennebach, Meckelburg, Kolb,Deligöz und Grehn haben beantragt, ihre Reden zu Proto-koll geben zu dürfen.*) Ebenso soll die persönliche Er-klärung der Abgeordneten Hinsken, Feibel und Bleser zuProtokoll gegeben werden.**) Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent-wicklung der Altersteilzeit. Der Ausschuss für Arbeit undSozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/3392, denGesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derPDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-nommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowieZusatzpunkt 7 auf:18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit Schwerbehinderter– Drucksache 14/3372 –
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-nung
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie Integration von Menschen mit Behinderun-gen ist eine dringliche politische und gesell-schaftliche Aufgabe– zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte,Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUAlte Versprechen nicht erfüllt und neue Wegenicht gegangen – Bilanz der Behindertenpolitik– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDSVorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollenTeilhabe von Menschen mit Behinderungen oderchronischen Krankheiten am Leben der Gemein-schaft, zur deren Gleichstellung und zum Aus-gleich behinderungsbedingter Nachteile
– Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913 –Berichterstattung:Abg. Silvia Schmidt
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht derBundesregierung über die Beschäfti-gung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst– Drucksache 14/2415 –
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wirso.Interfraktionell wurde eine Debattendauer von einerStunde vereinbart, wobei die PDS sechs Minuten erhaltensoll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist es so beschlossen.
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer9989
*) Anlage 4**) Anlage 2 *) Anlage 5Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Abgeordnete Ulrike Mascher.
– Ich rufe die Abgeordnete Ulrike Mascher auf, die gleich-zeitig Parlamentarische Staatssekretärin ist.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wir haben Freitagnachmittag und
vielleicht ist es bisher schon etwas erschöpfend gewesen.
Der Arbeitsminister Walter Riester hat am 2. Dezem-
ber vergangenen Jahres in seiner Rede zum Welttag der
Behinderten folgende Feststellung getroffen:
Schwerbehinderte Menschen ... sind leistungsfähig
und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte.
Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder der
Behinderung angepasst ist, wenn Gebrauch gemacht
wird von den technischen Möglichkeiten, um einen
Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertenge-
recht auszustatten, dann können Schwerbehinderte
die gleiche Leistung erbringen wie Nichtbehinderte.
An dieser Stelle gab es Beifall im ganzen Haus.
Wir haben also alle gemeinsam die Überzeugung, dass
eine Integration Schwerbehinderter in das Arbeitsleben
möglich ist. Dafür müssen dann aber die Rahmenbedin-
gungen stimmen. Wir brauchen das notwendige Instru-
mentarium zur besseren Eingliederung Schwerbehinder-
ter in das Arbeitsleben. Die Koalition hat in der Koaliti-
onsvereinbarung angekündigt, dieses Instrumentarium zu
schaffen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter löst
dieses Versprechen ein. Es ist das Nahziel dieses Gesetzes,
die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten schon in den
nächsten zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu verrin-
gern.
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Entwicklung
von 1982 bis 1998 umkehren.
Frau Staatsse-
kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
Gerne, Herr Seifert.
Frau Staatssekretärin, es freut
mich, dass Sie das Zitat an den Anfang Ihrer heutigen
Rede gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich
im Anschluss daran sozusagen für die Regierung dafür
entschuldigen, dass der Deutsche Bundestag in der ver-
gangenen Woche ein Gesetz verabschiedet hat, das es
schwerbehinderten Menschen verbietet, Steuerberater zu
werden. Ich möchte einmal Ihre Meinung dazu hören, ob
es eine Chance gibt, dies in sehr kurzer Zeit zu revidieren?
Herr Seifert, ich habe mitmeiner Kollegin, Frau Hendricks, gesprochen, die auchdamals hier geredet hat und mit der Sie bereits eine Dis-kussion darüber geführt haben. Nach diesem Gesprächsteht fest, dass wir unabhängig von diesem Fall auch inanderen Berufsgesetzen prüfen werden, inwieweit darineinschränkende bzw. diskriminierende Regelungen fürSchwerbehinderte enthalten sind. Ich denke, dies ist einguter Anlass, um nicht nur in Bezug auf die Steuerberater,sondern insgesamt in allen Berufsgesetzen, die von ver-schiedenen Ressorts federführend betreut werden, nach-zuprüfen, ob sie Regelungen enthalten, die mit Art. 3 Ab-satz 3 des Grundgesetzes, der die Benachteiligung vonBehinderten verbietet, übereinstimmen. Sie haben dafüreinen wichtigen Anstoß gegeben und wir werden dasüberprüfen.
Ich wiederhole: Wir wollen die Entwicklung von 1982bis 1998 umkehren, die die Erfüllungsquote bei der Be-schäftigungspflicht von 5,9 Prozent im Jahre 1982 auf3,8 Prozent im Jahre 1998 hat sinken lassen. Wir wolleneine Entwicklung umkehren, die die Zahl der arbeitslosenSchwerbehinderten von 93 800 im Jahre 1981 auf 188 500im Jahre 1998 hat ansteigen lassen.Eine wesentliche Ursache für den seit Jahren rückläu-figen Anteil Schwerbehinderter an der Zahl der Beschäf-tigten in den Betrieben und Verwaltungen ist die Gestal-tung der Ausgleichsabgabe. Diese Abgabe hat ja nichtnur eine Ausgleichs-, sondern auch eine Antriebsfunktion.Die Entwicklung der letzten 16 Jahre zeigt, dass die Aus-gleichsabgabe nicht mehr so gewirkt hat, wie sie sollte.Deswegen sehen wir eine Neugestaltung zur Erhöhungder Wirksamkeit des Systems von Beschäftigungspflichtund Ausgleichsabgabe vor.Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung Schwerbe-hinderter bemühen und nur wenig unter der Pflichtquoteliegen, werden mit der Ausgleichsabgabe nicht stärker be-lastet als bisher. Sie zahlen also weiterhin 200 DM. Ar-beitgeber hingegen, die ihre Beschäftigungspflicht gröb-lich verletzen, zum Beispiel überhaupt keinen Schwerbe-hinderten beschäftigen, haben künftig eine höhereAusgleichsabgabe zu zahlen als bisher, bis zu 500 DMmonatlich.
– Gut, aber es ist doch ein Schritt in die richtige Richtung,Herr Seifert.
Wir wollen ein gestaffeltes System bei der Ausgleichs-abgabe. Je höher der Grad der Nichterfüllung, desto höherdie Ausgleichsabgabe. Für Kleinbetriebe ist eine Sonder-regelung vorgesehen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeits-plätzen haben nach wie vor 200 DM monatlich zu zahlen,wenn sie keinen Schwerbehinderten beschäftigen.Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang im-mer wieder darauf hingewiesen, dass die 6-Prozent-Quote
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer9990
nicht bedarfsgerecht, sondern übermäßig sei. Sie habendarauf hingewiesen, dass die Beschäftigungspflicht garnicht zu erfüllen sei. Sie haben darauf hingewiesen, dieEinstellungsbereitschaft der Arbeitgeber werde sich ver-größern, wenn die Quote auf 5 Prozent abgesenkt werde.Wir wollen mit der Veränderung der Quote die Arbeitge-ber jetzt beim Wort nehmen, mehr zu tun als bisher.
Aber diese Reduzierung der Pflichtquote ist an eineBedingung geknüpft. Wird die Zahl der arbeitslosenSchwerbehinderten bis Oktober 2002 nicht um 25 Prozent –das sind rund 50 000 – abgesenkt, dann kehren wir ab1. Januar 2003 automatisch wieder zu der bisherigenPflichtquote von 6 Prozent zurück.Genauso wichtig wie die Verbesserung des Systemsvon Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist es,diese Beschäftigungspflicht auch umzusetzen. Deswegenwollen wir sowohl die Rechte der Schwerbehindertenstärken als auch die Rechtstellung der Schwerbehinder-tenvertretung in Betrieben und Dienststellen verbessern.Innerbetrieblich sollen die Arbeitgeber mit der Schwerbe-hindertenvertretung und dem Betriebs- oder Personalratverbindliche Regelungen zur Integration Schwerbehin-derter vereinbaren.Weil schwerbehinderte Frauen es bei ihrer Eingliede-rung in Arbeit vielfach besonders schwer haben, sollen inder Integrationsvereinbarung Regelungen zur Beschäf-tigung eines angemessenen Anteils schwerbehinderterFrauen getroffen werden.
Von diesen Vereinbarungen erhalten die Hauptfürsorge-stellen und Arbeitsämter Kenntnis. Diese sollen danngeeignete Schwerbehinderte vorschlagen. Sie sollen sichschon im Vorfeld um die Qualifizierung von Schwerbe-hinderten kümmern, denn Arbeitgeber werden nur geeig-nete Schwerbehinderte einstellen. Schwerbehinderte, diefür den Arbeitsplatz geeignet sind, werden ihren Arbeits-platz auf Dauer behalten. An der Prüfung, ob Arbeits-plätze mit vorgeschlagenen Schwerbehinderten besetztwerden können, wird die Schwerbehindertenvertretungstärker beteiligt als bisher.Um für die 865 000 erwerbstätigen Schwerbehindertendie Arbeitsplätze sicherer zu machen, soll auch die be-triebliche Prävention ausgebaut werden. Schon bishergab es Pflichten der Arbeitgeber gegenüber beschäftigtenSchwerbehinderten. Diese Pflichten werden zu Rechtender Schwerbehinderten umgestaltet: Rechte auf einen be-hinderungsgerechten Arbeitsplatz, auf Beschäftigung ent-sprechend den Kenntnissen und Fähigkeiten, auf bevor-zugte Teilnahme an innerbetrieblichen Weiterbildungs-maßnahmen, auf Erleichterung der Teilnahme anaußerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen und aufTeilzeitarbeit, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Artund Schwere der Behinderung notwendig ist.Ein für Schwerbehinderte besonders wichtiger Schrittsoll bei der Arbeitsassistenz gegangen werden. Schwer-behinderte haben künftig gegenüber der Hauptfürsorge-stelle im Rahmen der begleitenden Hilfe einen aus derAusgleichsabgabe zu finanzierenden Anspruch auf Über-nahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.Einzelheiten bleiben einer Rechtsverordnung vorbehal-ten. Der Rechtsanspruch selbst ist jedoch nicht vom Er-lass der Verordnung abhängig, er soll ab In-Kraft-Tretendes Gesetzes gelten.Die Bundesanstalt für Arbeit und die Hauptfürsorge-stellen sind die beiden wichtigsten Verwaltungen, die fürdie Integration Schwerbehinderter in Arbeit, für die Be-schaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu sorgenhaben. Wir wollen die Arbeit der Arbeitsverwaltung da-durch verbessern, dass wir neben einer Verstärkung derVermittlungs- und Beratungsaktivitäten auch ein neuesInstrument, nämlich Integrationsfachdienste, einsetzenwollen. Diese neuen Integrationsfachdienste sollen ar-beitslosen Schwerbehinderten, die besondere Schwierig-keiten haben, in das Arbeitsleben integriert zu werden, zurVerfügung stehen, um ihnen die notwendige aufwendigeund personalintensive Unterstützung zu geben.Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Verschiedene Kol-leginnen und Kollegen, aber auch Werkstätten für Behin-derte, Organisationen und Verbände der Behindertenhaben die Befürchtung geäußert, dass die von uns allengewünschte Förderung der Beschäftigung von Schwerbe-hinderten, dass die Entwicklung neuer Instrumente, dieSchaffung von Integrationsfirmen, Integrationsabteilun-gen und Integrationsbetrieben, die Förderung von Werk-stätten für Behinderte beeinträchtigen könnte. Ich sagees deshalb noch einmal ganz deutlich: Die Möglichkeitzur Förderung insbesondere von Werkstätten für Behin-derte durch den Ausgleichsfonds des Bundesministeriumsfür Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des erforderli-chen Bedarfs und der verfügbaren Mittel bleibt unberührt.Da ändert sich das Gesetz nicht.Wir wollen aber hinsichtlich des Bedarfs an Werkstät-ten für Behinderte eine Erhebung machen, wieweit wirüber die 2003 zur Verfügung stehenden 200 000 Plätze inden Werkstätten für Behinderte hinaus noch regionaleSchwerpunkte für eine Verstärkung des Netzes der Werk-stätten für Behinderte brauchen. Wir werden Ende diesesMonats erste Gespräche dazu führen. Wir haben uns mitden Verbänden darüber verständigt, dass eine solche Be-darfserhebung notwendig und sinnvoll ist.Auch die weiteren besonderen Fördermöglichkeitenfür Werkstätten für Behinderte bleiben erhalten.
Arbeitgeber, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllenund Ausgleichsabgaben zu zahlen haben, können diesedurch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Be-hinderte reduzieren. Darüber hinaus sind Arbeitgeber deröffentlichen Hand verpflichtet, Aufträge, die von Werk-stätten für Behinderte durchgeführt werden können, be-vorzugt diesen Werkstätten anzubieten.Ich hoffe, dass damit Klarheit geschaffen worden ist,dass niemand, weder die Regierung noch die Koalitions-fraktionen, den Bestand und die Weiterentwicklung derWerkstätten für Behinderte durch die verstärkte Förde-rung der Beschäftigung von Schwerbehinderten auf dem
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Ulrike Mascher9991
allgemeinen Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise ein-schränken oder tangieren will.Alle Beteiligten, Arbeitgeber, Gewerkschaften undBehindertenorganisationen, haben dieses Konzept, dasich Ihnen jetzt in Kurzform vorgestellt habe, mit ent-wickelt. Es ist im Dialog entstanden. Das Ergebnis ist einKonsens. Dass er erreicht werden konnte, ist beachtlich.Ich denke, er lässt uns alle gemeinsam hoffen, dass wirdas hochgesteckte Ziel, die Arbeitslosigkeit in zwei bisdrei Jahren um rund 50 000 zu reduzieren, tatsächlich er-reichen.
Alle Beteiligten – das sage ich ausdrücklich noch einmal –sind guten Willens.Gehen wir gemeinsam an die Arbeit, verlieren wirkeine Zeit, nutzen wir die Chance des sich positiv ent-wickelnden Arbeitsmarktes auch für die Schwer-behinderten!Ich danke Ihnen!
Herr Kollege
Koppelin, wenn Sie mit den protokollarischen Anweisun-
gen fertig sind, können wir hier vielleicht fortfahren.
Ich habe einige formale Dinge bekannt zu geben. Zum
Tagesordnungspunkt 17, Altersteilzeit, teilt die CDU/
CSU mit, dass sie zustimmen wollte. Da lag ein Versehen
vor. Wir nehmen das protokollarisch zur Kenntnis. Damit
ist das korrigiert.
Außerdem bitten die Abgeordneten Schmidt-Zadel und
Strebl, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt
zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall.
Dann rufe ich jetzt als nächste Rednerin die Abgeord-
nete Claudia Nolte auf.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe nur,dass die heutige Debattenzeit nicht ein Omen für die neuePrioritätensetzung in diesem Politikbereich ist.
Das erste konkrete Vorhaben dieser Bundesregierung zurBehindertenpolitik hätte wahrlich mehr Aufmerksamkeitverdient.Wir beraten auch über einen Antrag, den alle in diesemHohen Hause unterstützt haben. Uns ist sehr wichtig, wasin diesem Antrag steht.Uns ist dieser Antrag vor allem deshalb wichtig, weilsich die Regierungskoalition darin ausdrücklich zurSchaffung eines SGB IX bekennt. Leider hat man ja imMoment den Eindruck, als ob sich bei der Arbeit an die-sem Vorhaben die gleichen Schwierigkeiten ergeben, wieauch wir sie hatten. Ich sage „leider“, weil wir natürlichsehr gerne sehen würden, wenn wir in diesem Bereich ei-nen großen Schritt nach vorne gehen könnten.Wir haben im Moment eher den Eindruck, dass dieRohentwürfe von Mal zu Mal weniger Substanz enthaltenund dass sich das große Ziel, zu einer stärkeren Homoge-nität in der Leistungserbringung und zu einer besserenVerzahnung der Reha- und Eingliederungsleistungenzu kommen, immer schwerer erreichen lässt. Ich fragebeispielsweise: Was beinhaltet die Aussage, dass derSozialhilfeträger künftig auch Rehaträger sein wird, kon-kret? Inwieweit gelten die Prinzipien für Rehaleistungendann künftig auch für die heute im BSHG stehenden Leis-tungen?
– Ich bin bei dem Antrag, in dem unter anderem gefordertworden ist, ein neues SGB IX zu schaffen. Ich bitte, daszu berücksichtigen. Ich finde das für die weitere Beratungwichtig.In den vorliegenden Entwürfen ist vom Wunsch- undWahlrecht wenig zu spüren.
Es besteht keine Klarheit darüber, welche Leistungen desSozialhilfeträgers als Rehaleistungen bewertet werdenund welche dann vielleicht nur noch zu den Hilfen zumLebensunterhalt zählen. Auch wird nicht deutlich, inwie-weit das Nachrangigkeitsproblem geklärt wird. Unklar istauch, ob die zu zahlende Eingliederungshilfe künftig voneinem zu erwartenden Erfolg abhängig gemacht wird, wiedas bei Rehaleistungen der Fall ist.Ich finde, das sind wichtige Fragen, die beantwortetwerden müssen und auf die in den vorliegenden Entwür-fen leider nicht klar eingegangen worden ist. Gerade weildie Zahl dieser Fragen eher mehr wird statt weniger,möchten wir die Regierung ausdrücklich bitten, zumin-dest in diesem Fall Qualität vor Schnelligkeit gehen zulassen.
Wir werden Ihnen keinen Vorwurf machen für den Fall,dass der Termin 1. Januar 2001 nicht zu halten ist – dasverspreche ich Ihnen –, wenn wir dadurch ein Gesetz er-reichen, das seinen Namen verdient und das wir alle unter-stützen können.
Ich habe deshalb schon frühzeitig den Vorschlag ge-macht, die Dinge, die man regeln muss, zum Beispiel dieIntegrationsfachdienste, die Integrationsbetriebe und an-deres, notfalls in einer vorgezogenen Novelle zumSchwerbehindertengesetz zu regeln. Daher finde ich essehr gut, dass die Regierung diese Idee aufgegriffen hat
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Ulrike Mascher9992
*) Anlage 5bzw. selber hatte und wir heute darüber diskutieren kön-nen. Denn uns allen geht es doch so: Wir betrachten diebei Schwerbehinderten bestehende hohe Arbeitslosen-quote von 18 Prozent für unhaltbar und erdrückend. Des-halb werden wir all das, was dazu dient, etwas zum Posi-tiven zu verändern, unterstützen.Aus diesem Grunde stellen wir auch fest: Die Grund-elemente des vorliegenden Gesetzentwurfes sind richtig.Wir halten es sehr wohl für akzeptabel, wenn, da die bis-herigen Regelungen zur Ausgleichsabgabe und Beschäf-tigungsquote nicht zum Erfolg geführt haben, versuchtwird, mit Modifizierungen mehr Anreize zur Beschäfti-gung von Schwerbehinderten zu schaffen. Integrations-fachdienste bzw. Integrationsprojekte aufzunehmen wargleichermaßen unser Anliegen. Wir halten den Versuch,die Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretungzu stärken und Prävention zu etablieren, für ebenso not-wendige Maßnahmen. Aus Erfahrung sind wir etwas vor-sichtiger, was die Prognose, 50 000 Schwerbehinderte inden ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, anbelangt.Wünschenswert ist dies ganz sicher.Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es leichter ist,allgemeine Grundsätze zu formulieren, als Grundsätze ineinen Gesetzestext zu gießen, was dann obendrein nochErfolg zeigen soll. Deshalb hoffe ich ganz einfach, dasswir während der weiteren Beratungen trotz des straffenZeitplans etwas Zeit für die Details haben werden.Ich möchte nämlich schon noch nachfragen können, obdie vorgesehene Form der Modifizierung von Beschäfti-gungsquote und Ausgleichsabgabe ihre Lenkungswir-kung erfüllt. Wenn wir dann Großbetriebe weniger belas-ten und den Mittelstand stärker belasten, ist die Len-kungswirkung falsch. Das sollte – insbesondere imRahmen der in diesem Zusammenhang stattfindendenAnhörungen – noch einmal durchgerechnet werden.
Ich würde auch prüfen, wie der folgende Punkt dennnun wirklich geregelt werden soll: Frau Mascher, Sie ha-ben soeben ausdrücklich betont, dass es keine Abstrichebei der Förderung von Werkstätten und von Wohnheim-plätzen für Behinderte gibt. Am Mittwoch dieser Wochesagten Sie uns aber, die Regierung habe im Rahmen derModifizierung der Ausgleichsabgabe nicht unbedingtMehreinnahmen geplant. Nun ist es eine Aufgabe der Ma-thematik: Wenn nicht mehr in den Topf kommt, aber mehrLeistungen finanziert werden sollen, muss dies zulastenirgendeiner anderen Sache gehen, die heute finanziertwird. Deshalb sind die bei den Verbänden und den ent-sprechenden Einrichtungen, zum Beispiel bei den Werk-stätten für Behinderte, bestehenden Ängste zu verstehenund gerechtfertigt.Diese Befürchtung kommt nicht von ungefähr, FrauMascher. In den Vorbesprechungen zu diesem Gesetzent-wurf ist von den Mitarbeitern Ihres Hauses gesagt wor-den, dass daran gedacht werde, die Förderung derWerkstätten für drei Jahre auszusetzen und sie danach,wenn Gelder da sind, vielleicht wieder einzuführen. Dasist es doch, was die Leute aufgeschreckt und ihnen Angstgemacht hat. Von daher sind die Befürchtungen gerecht-fertigt. Ich glaube, dass nur der Protest der Einrichtungdazu geführt hat, dass die Förderung nicht ausgesetztwird.Ich denke auch, dass die Begründung, die für dieseMaßnahme angeführt worden ist, nämlich dass man dasZiel hat, 3 500 Mitarbeiter der Werkstatt in den ersten Ar-beitsmarkt auszugliedern, was zu Ersparnissen führt, dieeine Investitionsförderung ermöglichen, vollkommenwirklichkeitsfremd ist. Das ist einfach nicht zu erreichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Nolte,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mascher?
Ja, wenn Sie die Uhr so-
fort anhalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das mache ich.
Gut.
Frau Kollegin Nolte, hat Ih-
nen Ihr Kollege Laumann die Beantwortung seiner Frage,
die schriftlich erfolgen musste, gegeben?
Die habe ich noch nicht
bekommen!
Darin findet sich nämlich eine
Zahl, die mir am Mittwoch nicht präsent war: Wenn wir
50 000 Schwerbehinderte zusätzlich beschäftigen, wer-
den wir durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe, die
bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten zu zahlen
ist, immerhin eine Steigerung der jährlichen Einnahmen
von 180 Millionen DM erreichen. Ich möchte aber beto-
nen, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die Ein-
nahmen gegen null fahren zu lassen. Aber die Sorge der
Werkstätten um ihre Behinderten ist ausgeräumt worden.
Es gibt bezüglich der Förderung kein Moratorium von
drei Jahren. Ich frage Sie, ob das inzwischen bei Ihnen
angekommen ist.
Frau Mascher, ich nehmedas gerne zur Kenntnis, muss aber darauf hinweisen, dassmeine Aussagen nicht von mir erfunden wurden. Die Aus-sagen erfolgten seitens Ihres Hauses. Wenn das inzwi-schen zurückgenommen worden ist – umso besser. Wasdie konkreten Zahlen angeht, so hoffe ich, dass uns in derAnhörung Besseres zur Prüfung vorgelegt wird. – VielenDank.Dass Integrationsfachdienste und Integrationspro-jekte institutionell abgesichert werden, ist richtig und not-wendig. Ob die starre Festlegung, dass pro Arbeitsamts-bezirk nur ein Integrationsfachdienst tätig sein soll, sinn-voll ist, wage ich dagegen zu bezweifeln. Wir haben schonheute viele Formen von Fachdiensten, die sich auf Behin-derungsarten spezialisiert haben. Dass die Zusammen-führung zu einem Integrationsfachdienst diese Arbeit
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Claudia Nolte9993
effizienter und wirkungsvoller macht, glaube ich nicht.Lassen Sie uns auch darüber sprechen, ob diese strengeFestlegung Sinn macht.Ich bin auch immer dann skeptisch, wenn wir aufRechtsverordnungen verwiesen werden. Das entzieht sichdann der parlamentarischen Beratung und Kontrolle.Deshalb wäre ich doch sehr daran interessiert, von dieserPraxis Abstand zu nehmen. Das betrifft im Übrigen auchdie Aufnahme der Möglichkeit, einen Arbeitsassistentenzu fordern. Wir begrüßen dieses neue Instrument in jedemFall; es ist notwendig. Näheres sollte aber bitte im Gesetzund nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden.
Die Beratung wird auch in dem Punkt interessant sein,inwieweit die Ziele der Prävention und Mitwirkung derSchwerbehindertenvertretung wirklich greifen oder obnicht nur eine Modifizierung des Verfahrens vorgenom-men wird, der Schwerbehindertenvertretung also eigent-lich gar nicht mehr Rechte eingeräumt werden.Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, mein hauptsächlicher Kritikpunkt – das widersprichtein bisschen dem, was Sie, Frau Mascher, sagten, nämlichdass alles abgestimmt sei und in großer Einigkeit erfolge –bezieht sich auf eine sehr grundsätzliche Frage. Wennman sich die ersten Konzeptionen dieses Gesetzentwurfesanschaut und diese mit dem jetzt vorliegenden Gesetzent-wurf vergleicht, dann stellt man doch erhebliche Verän-derungen fest. Diese sind vor allem der Tatsache geschul-det, dass Sie sich sehr darum bemüht haben, diesen Ge-setzentwurf von der Zustimmungspflicht zu befreien.
Da frage ich mich schon: Warum hat Ihr Minister Angstdavor, dieses Gesetz mit den Bundesländern in aller Kon-sequenz zu beraten und am Ende zu verabschieden? Siemüssen sich doch davor fürchten, irgendetwas nicht reali-siert zu bekommen.
– Ja, aber wir hatten Gründe.
Deshalb frage ich: Was sind Ihre Gründe?Aufgrund seiner Konstruktion bleibt dieses Gesetz einTorso; denn bestimmte Dinge können nicht geregelt wer-den. Es sind die Hauptfürsorgestellen, die einen Groß-teil der Aufgaben, die sich aus diesem Gesetz ergeben,erledigen müssen. Sie aber müssten, damit dies möglichwird, auch Veränderungen erfahren.Nur um die Zustimmungsfreiheit zu erreichen, sind dieHauptfürsorgestellen aus dem Gesetzentwurf herausge-nommen worden. Ich weiß noch gar nicht, wie Sie das amEnde umsetzen wollen.
Deswegen verstehe ich nicht, woher dieses Misstrauenkommt. Ich nehme an, dass das auch der Grund dafür ist,dass bestimmte Maßnahmen wie etwa die Präventionnicht in der ursprünglich vorgesehenen Form durchge-führt werden – dafür braucht man nämlich die Hauptfür-sorgestellen –, dass beispielsweise bei der Vereinbarungeines Integrationsplans die Hauptfürsorgestellen nichtstärker einbezogen werden und nur die Formulierung ge-wählt wurde, dass auch sie eingeladen werden können,oder dass nicht mehr in Bezug auf die Mitarbeit derHauptfürsorgestellen im Bereich der Integrationsprojektegeregelt wird, bei denen die Zuordnung der Hauptfürsor-gestellen zur Bundesanstalt für Arbeit nicht unbedingtfachlich begründet erscheint oder nachvollziehbar ist.Ich habe auch Sorge, ob die Umsetzung in dem vorge-sehenen Zeithorizont zu schaffen sein wird, gerade wennich berücksichtige, dass manche Maßnahmen bis Oktobergreifen sollen.Alles in allem heißt das, dass wir im Anhörungsver-fahren noch eine ganze Reihe von Punkten näher betrach-ten müssen. Ich betone noch einmal: Wir werden in die-sem Bereich nur erfolgreich sein, wenn wir konstruktivzusammenarbeiten.
Das Misstrauen, das sich hier niederschlägt, lässt michbefürchten, dass auch unsere konstruktive Zusammenar-beit beim SGB IX dadurch gefährdet werden könnte. Daswäre sehr bedauerlich. Ich habe die Hoffnung, dass wir inden Ausschussberatungen stärker einbezogen werden; dasfand bei diesen Gesetzen im Übrigen gar nicht statt. Wirwerden darauf achten, dass die Länder in einer Art undWeise beteiligt werden, dass sie guten Gewissens zustim-men können. Dadurch würde dieses Gesetz abgerundet.In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Kol-
legin Ekin Deligöz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FrauNolte, einige Ihrer Fragen sind ja noch offen.
Deshalb werden wir im Anschluss an diese Debatte heutenoch eine Obleutebesprechung durchführen, um eine An-hörung gerade zu dieser Thematik zu beschließen, in derdann alle Ihre offenen Fragen beantwortet werden kön-nen. Einer Sache können Sie sich allerdings schon jetztganz sicher sein: Die Regierung wird hier in Kooperationmit den Betroffenenverbänden und nach Rücksprache mitden Interessenvertretern eine sehr gute, solide Arbeit leis-ten –
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Claudia Nolte9994
im Interesse der behinderten Menschen und auch der nichtbehinderten Menschen in diesem Lande. Wir wollen Inte-gration verwirklichen und nicht nur in der Theorie Wortedarüber verlieren.
Zurück zur Sachlichkeit, die gerade bei dieser Thema-tik angebracht ist. Arbeitslosigkeit hat in der Tat sehr vieleFaktoren: Alter, Geschlecht, eine unzureichende Ausbil-dung, Langzeiterwerbslosigkeit. Wenn man diese Risiko-faktoren zusammen betrachtet, wird man feststellen, dassalle diese Faktoren gleichermaßen auf gehandicapte Per-sonen zutreffen. Meistens werden gehandicapte, schwer-behinderte Menschen aus dem Arbeitsleben aktiv ausge-grenzt, indem man ihnen eine Frühverrentung empfiehlt.Sie erhalten keine Chance mehr, in den Arbeitsmarktzurückzukehren. Häufig trifft das vor allem diejenigen,die etwas älter sind. Manche haben überhaupt gar keineMöglichkeit gehabt, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zufinden,
weil sie nicht die Möglichkeit hatten, eine Ausbildung ab-zuschließen, oder weil sie von vornherein nicht am Ar-beitsmarkt teilhaben konnten. Aus diesem Grunde ist dieArbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in diesemLande sehr hoch.Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch etwas Er-freuliches zu vermelden. Die Zahlen vom März 2000 be-sagen, dass die Behindertenarbeitslosigkeit im Vergleichzum Vormonat um 2,9 Prozent gesunken ist.Mit dem heute hier in der ersten Lesung eingebrachtenGesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbe-hinderter legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine um-fangreiche Integrationsförderung von Menschen mit Han-dicap vorsieht. Das Ziel, 50 000 neue Arbeitsplätze zuschaffen, muss sowohl von der parlamentarischen Seiteals auch von der Bundesregierung kritisch begleitet wer-den. Noch nie wurde ein Gesetzentwurf von einem derartgroßen Konsens in der Gesellschaft getragen wie der Ge-setzentwurf, der heute vorliegt.
Wir möchten die Beschäftigungsquote von schwer-behinderten Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent in-nerhalb kürzester Zeit senken und heben gleichzeitig dieStaffelung der Ausgleichsabgabe auf 500 DM an. DieAusgleichsabgabe, von den Arbeitgebern oft als Strafin-strument bezeichnet, ist kein Strafinstrument.
Sie ist eine außerordentliche Möglichkeit der sinnvollenLenkung der Unterstützungsleistungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Seifert?
Herr
Seifert, bitte.
Frau Kollegin Deligöz, die
Senkung der Pflichtquote auf 5 Prozent wird in Ihrem jetzt
vorgelegten Antrag damit begründet, dass es eine realisti-
sche Quote sei, die die Arbeitgeber seit langem fordern.
Gleichzeitig sagen Sie, wenn innerhalb von zweieinhalb
Jahren nicht zusätzliche 50 000 Arbeitsplätze geschaffen
werden, wird die Pflichtquote automatisch wieder auf
6 Prozent erhöht.
Können Sie meine Befürchtung entkräften, dass dann,
wenn die 50 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden,
gesagt wird, die 5 Prozent sind immer noch unrealistisch,
wir müssen sie weiter senken, anstatt sie wieder auf 6 Pro-
zent anzuheben, um damit die Pflicht deutlich zu machen,
die die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen
hat? Ihre Argumentation kann ich beim besten Willen
nicht verstehen.
HerrKollege Seifert, ich finde es ein wenig bedauerlich, dassSie immer von vornherein mit Vorwürfen kommen. Zumeinen haben wir gerade diese Problematik im Gesetzfestgeschrieben, zum anderen werden wir die Situationnicht verbessern, wenn wir nichts machen. Wir müssenjetzt zu Taten schreiten, um nach vorn zu kommen, umendlich einmal so etwas wie einen Paradigmenwechsel inder Behindertenpolitik zu erreichen.
Wenn wir nicht jetzt handeln, werden wir in zwei Jah-ren eine noch viel schlimmere Situation haben. Geradedeshalb ist es jetzt angebracht, diesen Gesetzentwurf ge-meinsam, auch mit Ihrer Unterstützung – ich schätze IhreUnterstützung ganz besonders, weil Sie aus Erfahrung re-den –, zu verabschieden,
damit wir in diesem Bereich endlich vorankommen.Ich möchte in dieser späten Stunde am Freitagnach-mittag zu der Ausgleichsabgabe als Strafinstrumentzurückkommen. Kein Arbeitgeber in diesem Land ist ge-zwungen, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Wenn dieBeschäftigungsquote erfüllt ist, wird auch nichts gezahlt.Solange aber die Erfüllung dieser Quote in diesem Landnicht selbstverständlich ist, solange einige Vorbehalte beiden Arbeitgebern vorherrschen, müssen wir – vielleichtleider, vielleicht erst recht – auf dieses Instrument zurück-greifen.Wir nehmen die Kritik von Arbeitgebern ernst, die da-von sprechen, dass sie zwar gern einen Schwerbehinder-ten einstellen würden, aber niemanden finden. Diese Kri-tik nehmen wir besonders ernst, wenn es darum geht, be-stimmte Stellen zu besetzen. Wir nehmen sie aberauch ernst angesichts des ganzen Gewirrs von Förder-und Unterstützungsmöglichkeiten, die in diesem Land
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Ekin Deligöz9995
bestehen, was dazu führt, dass die Arbeitgeber keinenÜberblick mehr haben bzw. ihn verlieren.Gerade aufgrund dieser Probleme möchten wir dieBundesanstalt für Arbeit zu einer engeren Zusammenar-beit heranziehen, um diese Probleme gemeinsam zu lö-sen. Wir setzen vor allem auf die Integrationsfachdiens-te, die bei der Vermittlung von behinderten Menscheneine gute und wichtige Arbeit leisten. Die herausragendenVermittlungserfolge – über 60 Prozent – lassen sich da-rauf zurückführen, dass sie eine gute Vorauswahl treffenund eine berufsbegleitende Beratung machen, dass sieProfile festschreiben, dass sie auf zahlreiche Arbeits-marktinstrumente zurückgreifen und für die Arbeitgeberzuverlässig sind. Weil sie ein verlässlicher Ansprechpart-ner sind, möchten wir diese Dienste auch weiterhin unter-stützen und ausbauen und dafür die Rahmenbedingungensicherstellen.Aber es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigungs-möglichkeiten für behinderte Menschen nur durch Ap-pelle an das soziale Gewissen geschaffen werden. Dasgreift zu kurz. Letztendlich interessiert es den Arbeitgeberauch nicht, welches Handicap jemand hat, sondern ihn in-teressiert, ob die Arbeit erledigt wird und ob der Arbeit-nehmer zuverlässig ist.Umso notwendiger ist es, adäquate Arbeitsplätze zufinden. Nur so lassen sich in einem Betrieb moderne undhumane Arbeitsbedingungen so verwirklichen, dass so-wohl die betroffenen Arbeitnehmer als auch der Arbeitge-ber zufrieden sind, Leistungsbereitschaft vorhanden istund auch die übrige Arbeitnehmerschaft in den Betriebenmit den neu eingestellten Arbeitnehmern kooperierenkann. Dies sollte nicht aus einem Zwang heraus gesche-hen, sondern weil man von der Qualität der Bewerberüberzeugt ist. Akzeptanz – und damit Unterstützung – le-diglich vonseiten der die Einstellung vornehmenden Per-sonen reicht nicht aus. Der Kollegenkreis ist besonderswichtig. Erst dann, wenn sich in einem Betrieb alle ge-meinsam für die Integration einsetzen, wird das Wort „In-tegration“ mit Leben erfüllt.Der entscheidende Punkt dieser Gesetzesnovelle liegtfür mich darin, den Arbeitsmarkt zu stärken, die Mitteldes Arbeitsmarktes einzusetzen, Arbeitsassistenz zu ge-währen, den Aus- und Aufbau von Integrationsfach-diensten zu fördern, Arbeitsmarktprogramme zu ent-wickeln, die besondere Gruppen von Schwerbehindertenansprechen und insbesondere auf die Probleme derschwerbehinderten Frauen eingehen, gleich bei der Aus-bildung anzufangen, schwerbehinderte Jugendliche anzu-sprechen und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermögli-chen. An diesem Punkt wird die Notwendigkeit eines Pa-radigmenwechsel in der Behindertenpolitik in diesemLand deutlich.
Ich bin etwas überrascht, dass uns immer wieder vor-gehalten wird, wir würden bei der Werkstättenförderungkürzen und damit Beschäftigungsmöglichkeiten ersterund zweiter Klasse schaffen. Oft haben sich die betroffe-nen Organisationen selbst immer wieder gewünscht undvon uns eingefordert, den Blick endlich einmal zu weitenoder von einer rein institutionellen Förderung in den Son-dereinrichtungen abzugehen.Was beabsichtigen wir? Wir wollen die Integrations-fachdienste in die Regelfinanzierung übernehmen, wirwollen Integrationsfirmen rechtlich stärken und wir wol-len einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschrei-ben. Das sind unsere Ziele. Für uns sind diese Menschenalle gleichermaßen arbeitsfähig. Das ist unser Ausgangs-punkt. Gerade dafür möchten wir die Rahmenbedingun-gen schaffen.Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schlusskommen. Der Weg in die Zukunft liegt für uns nicht indem Entweder-oder zwischen Werkstatt, Integrations-diensten, Arbeitsmarkt und institutioneller Förderung,sondern unser Weg ist der goldene Mittelweg. Wir wolleneinerseits die Erwerbsrealität wahrnehmen und daraufreagieren und andererseits Rahmenbedingungen schaffen,damit in diesem Bereich tatsächlich Integration stattfin-det. Teilhabe, Selbstbestimmung, Integration statt Aus-grenzung – das sind unsere Leitbilder, das ist unsere Mo-tivation.Ich freue mich, dass wir diesem Ziel heute einen Schrittnäher gekommen sind und wir in diesem Sinne weiterma-chen können.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren aufder Tribüne und draußen! Wir haben heute so viele An-träge und andere Dokumente zu dieser Debatte vorliegen,dass man kaum noch überschauen kann, was davon nungerade Gegenstand der Diskussion ist. Es handelt sichalso im Grunde genommen um eine allgemeine behinder-tenpolitische Debatte. Insofern ist es in Ordnung, dasssich jeder den Punkt heraussucht, den er für besonderswichtig erachtet.Ich finde es gut, dass wir im Bundestag seit dem Re-gierungswechsel wesentlich häufiger, wesentlich intensi-ver und auch zielorientierter über Behindertenfragen re-den, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fallwar. – Das ist aber jetzt erst einmal genug Lob für euch.
Jetzt müssen wir einmal zur Sache reden.
Es reicht nicht aus, dass hier ein paar Sozialpolitike-rinnen und Sozialpolitiker sitzen und einen guten Vor-schlag unterbreiten, wie wir in der Frage der Beschäfti-gung von schwerbehinderten Menschen vielleicht voran-
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Ekin Deligöz9996
kommen, während Ihre Justiz- oder Rechtspolitikerinnenund -politiker, Ihre Finanzpolitikerinnen und -politikernicht einmal wissen, dass Sie hier andauernd von einemParadigmenwechsel reden.
–Nein, ich kann das schon begründen.Vor einer Woche haben wir hier ein Gesetz verabschie-det, das von Ihnen, von Ihrer Regierung vorgelegt wordenist, in dem der eindeutig diskriminierende Satz steht, dassPersonen, die körperliche Gebrechen haben – den Begriff„körperliche Gebrechen“ gibt es in der Behindertenpoli-tik schon seit Jahren nicht mehr – oder bei denenSchwächen der geistigen Fähigkeiten nachgewiesen wer-den
– ja, ich komme gleich dazu –, zu einem bestimmten Be-ruf nicht zugelassen werden können, selbst wenn sie alleihre Prüfungen bestanden haben. Als das hier im Plenumdiskutiert wurde, rührte sich keine Hand aus Ihrer Frak-tion, Ihrer Koalition, wenigstens dem Antrag der PDS zu-zustimmen – und das aus rein parteipolitischen, taktischenGründen.
Es ist nicht zu akzeptieren, dass Sie Sachfragen hier nichtins Kalkül ziehen.
Insofern freue ich mich sehr, Frau Mascher, dass Sie jetztangekündigt haben, diesen Fakt in verschiedenen Berufs-gesetzen zu überprüfen. Ich hoffe, dass die Überprüfungauch zu Änderungen führt.Die zentrale Forderung der behinderten Menschen, dieauch dieses Jahr am 5. Mai, dem europaweiten Aktions-tag, gestellt wurde, war: Wir brauchen ein Gleichstel-lungs- und Diskriminierungsverbotsgesetz.
Das haben wir von Ihnen bisher nicht bekommen. Auf un-sere Anfrage an die Bundesregierung – die leider nur vomBMJ beantwortet wurde, offenbar ist das etwas anderesals die Bundesregierung – antwortete diese: Wir sind ge-rade dabei, den zivilrechtlichen Teil zu bearbeiten, das an-dere geht uns nichts an.Ja, gibt es denn etwa keine Diskriminierung im berufs-rechtlichen Teil? Gibt es keine Diskriminierung in allenanderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel im Bau-recht, im Personenbeförderungsrecht und so weiter? Istdas BMJ dafür nicht zuständig? Es will nicht zuständigsein, obwohl ein klarer Entwurf der Behindertenjuristin-nen und -juristen vorliegt, an dem man sich orientierenkönnte.Deshalb: So schön es ist, wenn wir ernsthaft darübernachdenken, wie wir 50 000 schwerbehinderte Menscheninnerhalb von zweieinhalb Jahren in Arbeit bekommen –da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite –, so unübersehbarbleibt, dass das Stückwerk ist, das keine klare Konzeptionerkennen lässt, die den Menschenrechts- und den Bürger-rechtscharakter des Themas, über das wir hier beraten,deutlich werden ließe. Sie machen daraus eine sozialpoli-tische Maßnahme, eine bildungspolitische Maßnahme,eine berufspolitische Maßnahme, aber keine wirklichmenschenrechtspolitische Frage.
Das ist der Punkt, den ich Ihnen ankreide.Wir haben – Frau Kollegin Nolte wies darauf hin –heute unter anderem über eine gemeinsame Entschlie-ßung abzustimmen, die alle Fraktionen dieses Hauseseingebracht haben; das will ich noch einmal hervorheben.Zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode konnten sichalle Fraktionen zu einer gemeinsamen Entschließungdurchringen.
– Frau Nolte, Sie sollten das nicht kleinreden. Es war einegroße Leistung, auch von Ihrer Fraktion, dass Sie überIhren Schatten gesprungen sind und Ihre ideologischenScheuklappen abgenommen haben.Diese gemeinsame Entschließung fußt auf drei Anträ-gen: sowohl von Ihnen, der SPD und den Grünen, als auchvon der CDU/CSU und von uns. Mit dem Antrag zumTeilhabesicherungsgesetz haben wir ein sehr umfangrei-ches und umfassendes Konzept im Bereich der Behin-dertenpolitik vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie derMenschenrechtsaspekt, der Bürgerrechtsaspekt zur Gel-tung gebracht werden kann und wie das Verbandsklage-recht, die arbeitspolitischen Maßnahmen, die Änderungenin vielen Einzelgesetzen und die Finanzierung durchge-setzt werden können.Ich sage noch einmal:Wir brauchen nicht nur das Rechtauf Arbeitsassistenz, so wichtig es ist, wir brauchen aucheine finanzielle Untersetzung des Rechts auf Arbeits-assistenz. Wir brauchen eine Definition dessen, was Sieunter notwendiger Arbeitsassistenz verstehen.
Wer definiert für wen, welche Assistenz er braucht? Wenndas medizinische Aspekte sind – dann gute Nacht. Wenndas finanzpolitische Aspekte sind – dann Mahlzeit. Wennes keine Menschenrechtsaspekte sind, brauchen wir nichternsthaft darüber zu diskutieren.Lange Rede, kurzer Sinn – ich will meine Redezeitnicht zu sehr überziehen –: Sie werden uns auf Ihrer Seitehaben, wenn wir in den praktischen Dingen vorankom-men. Sie werden aber die Menschen mit Behinderungenauf der Straße finden und uns an deren Seite und im Par-lament Laut gebend, wenn Sie nur Stückwerk liefern undkeine Konzeption dahinter steht, die uns insgesamt bür-gerrechtlich voranbringt – Menschen mit und ohne Be-hinderungen.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
Dr. Ilja Seifert9997
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention hat der Kollege Karl-Hermann Haack das Wort.
Frau Präsi-
dentin! Ich melde mich zu Wort wegen der Aussagen des
Kollegen Seifert, die sich auf das Gesetz bezogen, das wir
in der letzten Woche verabschiedet haben.
Als Beauftragter für die Belange der Behinderten kann
ich sagen, dass wir all das in dem Gleichstellungsgesetz
regeln werden, was er hier angesprochen hat. Das Pro-
blem liegt darin, dass wir mit allen 16 Ländern über Ge-
setze des Bundes reden müssen. Wir müssen alle Gesetze
der Länder, die dazugehörigen Verordnungen und Rege-
lungen durchlesen und darauf durchforsten, ob darin anti-
diskriminierende Vorschriften stehen. Es ist bereits in der
Vergangenheit versucht worden, dies in einer Arbeits-
gruppe zu erarbeiten. Aber nach meinen Recherchen ist
diese Arbeitsgruppe wegen des großen Arbeitsaufwandes
sanft entschlafen. Doch jetzt werden wir dies in irgendei-
ner Form zu leisten haben.
Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt ein Gleichstellungsge-
setz machen, dann gibt es mit Sicherheit jemanden, der
sagt, dass wir noch etwas vergessen haben. Ich bitte Sie
aber, es positiv zu bewerten, dass wir uns auf den Weg ge-
macht haben, und uns frühzeitig die Handreichungen zu
geben, die notwendig sind, damit ein solches Gesetz Er-
folg hat.
Zum Stand derDinge, die Sie anmahnen, Herr Seifert:
Es ist eine endgültige Klärung herbeigeführt worden, dass
Frau Justizministerin Däubler-Gmelin ein Dach über ein
„Antidiskriminierungsgesetz“ macht; so der Titel. Dieses
gilt für Menschen mit Behinderungen, für Ausländer,
sprachliche, ethnische Minoritäten und für das Problem
der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensge-
meinschaften. Darüber hinaus erarbeitet sie den zivil-
rechtlichen Teil.
Wir haben geklärt, dass in einem Verfahren erarbeitet
wird, wer den allgemeinen Teil des Gleichstellungsgeset-
zes unter Einbeziehung dessen, was Frau Däubler-Gmelin
macht, erarbeitet. Dazu habe ich – vereinbarungsgemäß
mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Mascher – die dafür zuständigen Parlamentarischen
Staatssekretäre der Ministerien für den kommenden
Freitag eingeladen. Ich habe sie gebeten, eine Erklärung
darüber abzugeben, inwieweit der Entwurf eines Gleich-
stellungsgesetzes des Forums behinderter Juristinnen und
Juristen eine Grundlage sein kann. Sie sehen, dass pro-
zessual alles gut organisiert ist.
Wenn wir am nächsten Freitag zu einem Ergebnis kom-
men und uns schriftlich dargelegt wird, was vom jeweili-
gen Ressort geleistet werden kann, dann muss auf Lei-
tungsebene des Bundesministeriums für Arbeit geprüft
werden, welche nächsten Schritte für ein Gleichstellungs-
gesetz unternommenwerden können.Nach derGeschäfts-
ordnung, nach dem Geschäftsverteilungsplan sind sowohl
die Justizministerin als auch der Bundesminister für Ar-
beit für ein solches Gesetz zuständig. Das ist der Grund
für den längeren Klärungsbedarf.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Kollege Dr. Seifert, bitte.
Herr Kollege Haack, ich danke
Ihnen für die Information. Sie haben mir sogar mehrere
Informationen gegeben.
Erstens. Wenn das Bundesjustizministerium bzw. die
Bundesregierung ein umfassendes Gleichstellungsgesetz
vorlegt, das wahrscheinlich sehr knapp formuliert sein
kann, dann werden Sie mich auf Ihrer Seite haben. Meine
Linie ist es immer gewesen, die verschiedenen so ge-
nannten Minderheiten nicht gegeneinander auszuspielen.
Herzlichen Dank! Ich hoffe, dass es bald vorgelegt wird.
Zweitens. Es gibt keinen Grund ich bitte Sie, dies zur
Kenntnis zu nehmen –, in der Zeit, in der ein Gleichstel-
lungsgesetz vorbereitet wird, Gesetze zu verabschieden,
mit denen diskriminierende Tatbestände festgeschrieben
werden.
Aber genau das haben Sie in der vergangenen Woche ge-
macht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das können
Sie auch nicht mehr ungeschehen machen. Um solche dis-
kriminierenden Tatbestände zu verbieten, benötigen wir
kein Diskriminierungsverbotsgesetz. Sie hätten sie ein-
fach nicht festschreiben dürfen.
Erlauben Sie mir – drittens – eine letzte Bemerkung:
Geschäftsverteilungspläne mögen für die Regierung sehr
wichtig sein.
Aber für Menschen mit Behinderungen ist ausschließlich
wichtig, welche Gesetze gelten und in Kraft gesetzt wer-
den und welche Botschaft wir von hier aus vermitteln,
also ob sie lautet: „Das Ganze ist ein bürokratischer Akt“
oder ob sie lautet: Wir wollen die Lebensbedingungen für
Menschen mit und ohne Behinderung verbessern, damit
sie so zusammenleben können, wie die Kollegin Deligöz
es beschrieben hat. Man muss sich im Umgang miteinan-
der zwanglos wohl fühlen können und einen Behinderten
auch einmal doof finden dürfen. Auch ich als Behinderter
muss Nichtbehinderte blöd finden dürfen. Das ist schließ-
lich eine Frage von Sympathie und Antipathie. So etwas
gibt es zwischen Menschen nun einmal. Wenn man einen
Behinderten doof findet, dann erfüllt man nicht gleich ei-
nen Diskriminierungstatbestand. Deshalb benötigen die
Behinderten – das möchte ich nicht verhehlen – einen leis-
tungsgesetzlichen Anspruch, der nichts mit der Sozial-
hilfe zu tun hat. Wenn Sie einen solchen Rechtsanspruch
nicht sicherstellen, dann bleiben die Behinderten leider
viel zu weit zurück.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Rednerin indieser Debatte ist die Kollegin Silvia Schmidt für dieSPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 20009998
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich bin enttäuscht angesichts
dessen, was hier vorgetragen worden ist; denn wir haben
in sehr kurzer Zeit etwas ganz Tolles und qualitativ
Hochwertiges geleistet. Das ist meine Überzeugung. Da
müssen Sie nicht den Kopf schütteln, Frau Nolte.
Von Ihnen habe ich etwas mehr erwartet. Auf der einen
Seite behaupten Sie, für Behinderte zu sprechen. Auf der
anderen Seite muss ich erleben, dass Sie für Verunsiche-
rung sorgen, gerade im Bereich der Förderung von Werk-
stätten für Behinderte, über die gestern ausführlich dis-
kutiert worden ist und zu der es auch Pressemitteilungen
vom Bundesarbeitsministerium gibt. Sie möchten zwar
mitarbeiten, verunsichern aber die Behinderten. Das kön-
nen unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
gar nicht gebrauchen.
Sie behaupten – ich hoffe, Sie haben den letzten Ent-
wurf des Gesetzes gelesen; das setze ich natürlich voraus,
wenn sie zu diesem Thema eine Rede halten –, es werde
nur ein Integrationsfachdienst eingerichtet. Tatsächlich
steht drin: „mindestens“ – das heißt, es werden mehrere
sein.
– Lassen Sie mich bitte ausreden! Die Hauptfürsorgestel-
len sind mit dabei. Das müssten Sie eigentlich vernom-
men haben.
Herr Seifert, über das Teilhabesicherungsgesetz ha-
ben wir bereits gesprochen. Ich hoffe, dass Sie, wenn es
um die Schaffung von 50 000 Arbeitsplätzen für Behin-
derte geht, genauso engagiert mitarbeiten werden, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Mensch
Arbeit hat, dann ist er nicht auf Sozialhilfe und Almosen
der Gesellschaft angewiesen. Das ist die Grundvor-
aussetzung. Behinderte Menschen wollen nicht nur einen
gesetzlichen Anspruch auf Zuwendungen haben; sie wol-
len auch mitarbeiten. Die Integration Behinderter in das
Arbeitsleben ist dieser Regierung besonders gut gelun-
gen, Herr Seifert.
Ich habe heute trotzdem ein sehr gutes Gefühl, denn
wir haben – ich habe das bereits am Anfang meiner Rede
erwähnt – einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt. Das ist ein
qualitativ hochwertiger Schritt. Wir werden mit diesem
Gesetz die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nachhaltig
verringern. Damit haben wir einen großen Schritt zur Ver-
wirklichung sozialer Gerechtigkeit getan; denn diejenigen
Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin diskrimi-
niert sind und benachteiligt werden, trifft die Arbeitslo-
sigkeit doppelt schwer.
Es gehört zu den Grundelementen unserer Sozialpolitik,
für die Beseitigung derartiger Ungerechtigkeiten einzu-
treten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Nolte?
Nein, das muss jetztnicht sein. Wir können gern im Ausschuss reden. Ich habeheute schon zu viel gehört.
Es ist einfach sozial ungerecht, wenn Menschen – auswelchem Grund auch immer – aus der Gesellschaft aus-geschlossen werden, wenn wir keine Möglichkeiten zurIntegration bieten und ihnen, kurz gesagt, die Teilhabe amgesellschaftlichen Leben verweigern.Wir werden mit unserem Gesetzentwurf einen erstenrichtigen Schritt gehen, um diese Missstände abzubauen.Es ist wichtig, dass es uns gelingt, innerhalb sehr kurzerZeit 50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu schaf-fen. Frau Staatssekretärin Mascher hat schon gesagt, mitwelchen rechtlichen Mitteln wir dieses Ziel erreichenwollen. Die Zustimmung der Verbände und der Gewerk-schaften sowie die Mitwirkung der Arbeitgeberverbändegeben uns Recht.Eine entscheidende Ursache für den großen Anteilder Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehindertenliegt in der unzureichenden Vermittlung und Betreuung.Schwerbehinderte brauchen eine gezielte Beratung, Schu-lung und Vermittlung, weil sie von vornherein auf demArbeitsmarkt benachteiligt sind.Das hat auch die meisten Arbeitsämter und Hauptfürsor-gestellen überfordert. An diesem Punkt setzen wir an.Jedes Arbeitsamt wird einen Ansprechpartner bekom-men, der für die Beratung Schwerbehinderter geschultwird und nur für deren Belange zuständig ist. Zusätzlichwird ein breites Netz an Integrationsfachdiensten ge-schaffen, und zwar wird es für jeden Arbeitsamtbezirkmindestens einen Fachdienst geben. Der Integrations-fachdienst kann von einem Verband eingerichtet werdenund aus einem Verbund mehrerer Verbände bestehen.Die Integrationsfachdienste werden auf die spezifi-schen Bedürfnisse, die Ausbildung, die Fähigkeiten, dieBehinderung und die Ansprüche einzelner Schwerbehin-derter zielorientiert eingehen. Sie werden dem Schwerbe-hinderten auch dann noch bei Problemen zur Seite stehen,wenn er auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits Fuß gefassthat. Wir haben damit auch die Chance, schwerbehinderteFrauen, Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind, undgerade Schwerbehinderte in den neuen Bundesländernvermehrt in den Arbeitsmarkt zu integrieren.Ich möchte Ihnen kurz ein Beispiel nennen: Ich hatteneulich ein Gespräch mit dem als Modelleinrichtung rea-lisierten Integrationsfachdienst in Wittenberg. Dieses Ge-spräch machte mir einfach Mut. So sagte man mir zumBeispiel, dass zunächst etwa 50 Prozent der privaten Fir-men und Unternehmen nicht einmal wissen, was einSchwerbehindertenausweis ist, was er bedeutet und wel-che Fördermittel sie erhalten können, wenn sie einenSchwerbehinderten einstellen. Nach einem klärenden
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9999
Gespräch mit den Unternehmen könnten Unsicherheitenausgeräumt und Ängste beseitigt werden, sodass einerEinstellung Schwerbehinderter nichts mehr im Wegsteht. – In diesem Bereich bestehen erhebliche Defizite,die wir gemeinsam mit den Verbänden, mit den Gewerk-schaften und mit den Arbeitgeberverbänden durch Infor-mation abbauen müssen.Übrigens sind wir damit voll im Trend; denn in der ak-tuellen Diversity-Diskussion geht es in vielen großen Un-ternehmen der USA schon darum, Talente, verschiedeneBegabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschied-lichster Gruppen zu nutzen, zum Beispiel in gemeinsamenTeams von Männern und Frauen, Behinderten und Nicht-behinderten, Alten und Jungen sowie Menschen verschie-denster Herkunft.Noch etwas anderes macht mir Mut: Die Vertreter derIntegrationsfachdienste sagten mir, dass etwa genausoviele schwerbehinderte Frauen wie schwerbehinderteMänner in Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarktvermittelt werden konnten. Den Weg der Integrations-fachdienste sollten wir weitergehen. Der Frauenanteil inden Werkstätten für Behinderte liegt bei 42,2 Prozent. Dasist eine relativ gute Zahl. Aber auch diese Frauen müssenden Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen.Bedenkt man diese erschreckende Benachteiligungschwerbehinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt, so kannman die Bedeutung von Integrationsfachdiensten, aberauch von Integrationsfirmen und -unternehmen gar nichthoch genug schätzen; denn sie haben bis jetzt 6 000Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen geschaf-fen. Zum ersten Mal gibt es für diese Dienste, für dieseFirmen und für diese Unternehmen mit unserem Gesetz-entwurf eine Rechtssicherheit.Das Forschungsprojekt „LIVE“ hat in einer umfang-reichen Studie herausgestellt, dass Erwerbstätigkeit, Aus-bildung und Beruf bei schwerbehinderten Frauen einenaußerordentlich hohen Stellenwert haben. Ich zitiere dieAussage einer im Rahmen der Studie befragten Frau:Ich glaube, dass Ausbildung für mich einen höherenStellenwert hat als für viele Nichtbehinderte, weilman einfach besser sein muss, um das Gleiche zu be-kommen wie Nichtbehinderte.In dieser Studie zeigten sich überwiegend so genanntegebrochene Berufsbiografien, wobei neben frauentypi-schen Gründen wie Erziehungsurlaub vor allem die Be-hinderung Ursache dafür war – also etwa bei Reduzierungder Stundenzahl –, dass man sich nicht gut gefühlt hat;Teilzeitarbeit gab es erst ab 55 Jahren. Die Studie zeigtweiter, dass bei den befragten Frauen immer großes Be-dauern und oft auch Resignation angesichts ihrer Berufs-biografien zu finden war.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schmidt, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Ja, das mache ich.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie dringend
notwendig es für den Gesetzgeber ist, endlich zu handeln.
Ich glaube, wir alle hier im Saal sind dieser Meinung. Wir
sind glücklich, dass endlich sehr viele Punkte wie zum
Beispiel der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz und
Teilzeitarbeit in unserem Gesetz verankert werden. Zum
Schluss betone ich noch einmal: Wir alle müssen gemein-
sam mit den Verbänden, den Arbeitgebern, den Arbeit-
nehmern und den Gewerkschaften dazu beitragen, soziale
Gerechtigkeit für die behinderten Mitbürger herzustellen.
Das ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft.
Wir nehmen diese Herausforderung an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3372 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung auf Drucksache 14/2913. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung
zur Abstimmung vom Kollegen Dr. Ilja Seifert gibt.*)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/2913, folgende
Anträge für erledigt zu erklären: Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Die Integration
von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche
politische und gesellschaftliche Aufgabe“, Drucksa-
che 14/2237, Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Alte
Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen –
Bilanz der Behindertenpolitik“, Drucksache 14/2234, so-
wie Antrag der Fraktion der PDS auf Vorlage eines Teil-
habesicherungsgesetzes, Drucksache 14/827.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung, diese An-
träge für erledigt zu erklären? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2415 und 14/3382 an die an der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 7. Juni 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.