Protokoll:
14106

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 106

  • date_rangeDatum: 19. Mai 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:13 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Tagesordnungspunkt 14: a) Abgabe einer Regierungserklärung: Frieden braucht Entwicklung . . . . . 9921 A b) Antrag der Abgeordneten Adelheid Tröscher, Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans- Christian Ströbele, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Entwicklungszu- sammenarbeit mit Kuba (Drucksache 14/3128 . . . . . . . . . . . . . . 9921 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion SPD sowie der Ab- geordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte Partnerschaft mit großer Zu- kunft (Drucksache 14/3396) . . . . . . . . . . . . . . . . 9921 B Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9921 C Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 9926 C Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9928 C Joachim Günther (Plauen) F.D.P. . . . . . . . . . . 9929 C Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9930 D Erika Reinhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9933 C Adelheid Tröscher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9933 C Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9933 D Tobias Marhold SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9935 A Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9936 D Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . . . . . . . 9939 A Dr. R. Werner Schuster SPD . . . . . . . . . . . . . . 9939 D Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9940 B Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 9940 D Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker SPD . . . . . . 9942 A Tagesordnungspunkt 15: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fort- setzung der Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Weiterführung des Jahresberichtes der Bundesregie- rung zum Stand der deutschen Ein- heit (Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715, 14/2608) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9943 C Plenarprotokoll 14/106 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 106. Sitzung Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 I n h a l t : b) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/CSU: Investitionsförderung verstetigen – regionale Wirtschaftsstrukturen stär- ken (Drucksache 14/2242) . . . . . . . . . . . . . 9943 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion CDU/CSU: Strom- preise in Deutschland angleichen – neue Stromsteuern im Osten aussetzen (Drucksachen 14/1314, 14/2404) . . . . 9943 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Krüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen in den neuen Ländern fortsetzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Förderung und Unterstützung von technologieorientierten Unterneh- mensgründungen (FUTOUR) bedarfs- gerecht weiterentwickeln (Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954) 9944 A Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 9944 B Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9946 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9948 B Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9951 A Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 B Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9951 D Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9952 D Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 9954 A Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9955 D Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD . . . . . . . . . 9958 A Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9959 B Manfred Kolbe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9961 A Sabine Kaspereit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9962 C Otto Schily SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9962 D Gerhard Jüttemann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9963 B Ingrid Holzhüter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9963 C Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 9965 B Frank Hempel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9967 A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 9969 B Frank Hempel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9970 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde betr. Haltung derBundes- regierung, insbesondere des deutschen Außenministers Joseph Fischer, zu den europapolitischen Aussagen des Bürgers Joschka Fischer am 12. Mai 2000 . . . . . . 9970 D Prof. Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . . . 9971 A Günter Gloser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9972 B Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 9973 A Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9974 B Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9975 B Michael Roth (Heringen) SPD . . . . . . . . . . . . 9976 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 9977 D Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 9979 A Karl Lamers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 9982 B Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . . 9983 C Klaus Hofbauer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9984 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9985 B Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 9986 B Dietmar Nietan SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9987 C Jürgen Koppelin F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . . 9988 C Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwick- lung derAltersteilzeit (Drucksachen 14/3158, 14/3392, 14/3393) 9988 D Tagesordnungspunkt 18: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit Schwerbehinderter (Drucksache 14/3372) . . . . . . . . . . . . . 9989 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozial- ordnung – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000II Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche po- litische und gesellschaftliche Aufgabe – zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Alte Versprechen nicht er- füllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpolitik – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Vorlage eines Gesetzes zur Siche- rung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemein- schaft, zur deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nach- teile (Teilhabesicherungsgesetz) (Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9989 C c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbe- hinderter im öffentlichen Dienst (Drucksache 14/2415) . . . . . . . . . . . . . 9989 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Doris Barnett, Silvia Schmidt (Eisleben), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Ab- geordneten Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesell- schaft – Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern (Drucksache 14/3382) . . . . . . . . . . . . . . . . 9989 D Ulrike Mascher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9990 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9990 B Claudia Nolte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9992 B Ulrike Mascher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9993 C Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9994 D Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9995 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9996 D Karl-Hermann Haack (Extertal) SPD . . . . . . 9998 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9998 C Silvia Schmidt (Eisleben) SPD . . . . . . . . . . . 9999 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10000 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10001 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken, Albrecht Feibel und Peter Bleser (alle CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Zweiten Ge- setzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Tagesordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . 10002 A Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: Die In- tegration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe, alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behin- dertenpolitik, Vorlage eines Gesetzes zur Si- cherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleich- stellung und zum Ausgleich behinderungsbe- dingter Nachteile (Tagesordnungspunkt 18 b) 10002 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fort- entwicklung derAltersteilzeit (Tagesordnungs- punkt 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10003 A Renate Rennebach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 10003 B Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 10004 C Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 10005 C Dr. Heinrich Leonhard Kolb F.D.P. . . . . . . . . 10006 A Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10006 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter (Tagesord- nungspunkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10007 B Regina Schmidt-Zadel SPD . . . . . . . . . . . . . . 10007 B Matthäus Strebl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 10008 D Dr. Heinrich Leonhard Kolb F.D.P. . . . . . . . . 10009 D Anlage 6 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10011 A Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 Silvia Schmidt (Eisleben) 10000 (C) (D) (A) (B) *) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10001 (C) (D) entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 19.05.2000Gisela DIE GRÜNEN Andres, Gerd SPD 19.05.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 19.05.2000* Brudlewsky, Monika CDU/CSU 19.05.2000 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 19.05.2000*Klaus Bury, Hans Martin SPD 19.05.2000 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 19.05.2000Herta Doss, Hansjürgen CDU/CSU 19.05.2000 Dreßler, Rudolf SPD 19.05.2000 Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 19.05.2000DIE GRÜNEN Fischer (Hamburg), CDU/CSU 19.05.2000Dirk Friedhoff, Paul K. F.D.P. 19.05.2000 Friedrich (Altenburg), SPD 19.05.2000Peter Friedrich (Bayreuth), F.D.P. 19.05.2000Horst Gebhardt, Fred PDS 19.05.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 19.05.2000 Hohmann, Martin CDU/CSU 19.05.2000 Hollerith, Josef CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Hornhues, CDU/CSU 19.05.2000Karl-Heinz Hübner, Carsten PDS 19.05.2000 Ibrügger, Lothar SPD 19.05.2000 Imhof, Barbara SPD 19.05.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Knake-Werner, PDS 19.05.2000Heidi Dr. Küster, Uwe SPD 19.05.2000 Lamp, Helmut CDU/CSU 19.05.2000 Matschie, Christoph SPD 19.05.2000 Mertens, Angelika SPD 19.05.2000 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 19.05.2000 Mosdorf, Siegmar SPD 19.05.2000 Müller (Berlin), PDS 19.05.2000Manfred Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 19.05.2000DIE GRÜNEN Ohl, Eckhard SPD 19.05.2000 Ostrowski, Christine PDS 19.05.2000 Oswald, Eduard CDU/CSU 19.05.2000 Pieper, Cornelia F.D.P. 19.05.2000 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 19.05.2000 Poß, Joachim SPD 19.05.2000 Reiche, Katherina CDU/CSU 19.05.2000 Roos, Gudrun SPD 19.05.2000 Rühe, Volker CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 19.05.2000 Scheffler, Siegfried SPD 19.05.2000 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 19.05.2000 Schmidt (Hitzhofen), BÜNDNIS 90/ 19.05.2000Albert DIE GRÜNEN Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 19.05.2000Hans Peter Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 19.05.2000 Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 19.05.2000 Schurer, Ewald SPD 19.05.2000 Dr. Solms, Hermann F.D.P. 19.05.2000Otto Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Stadler, Max F.D.P. 19.05.2000 Steen, Antje-Marie SPD 19.05.2000 Dr. Freiherr von CDU/CSU 19.05.2000Stetten, Wolfgang Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 19.05.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 19.05.2000 Wissmann, Matthias CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Wolf, Winfried PDS 19.05.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 19.05.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union (A) (B) Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ernst Hinsken, Albrecht Feibel und Peter Bleser (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Tagesordnungspunkt 17) Ich stimme gegen das Gesetz, weil erstens Altersteil- zeit für die kleinen und mittelständischen Betriebe zu kompliziert ist und grundsätzlich nicht den Bedürfnissen des Mittelstandes entspricht, zweitens Altersteilzeit eine Umverteilung von Arbeit und Geld ist und insbesondere den Großunternehmen zugute kommt, drittens durch Al- tersteilzeit die Sozialversicherungszweige belastet wer- den, weil eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Alters- rente (zum Beispiel mit Alter 60 wegen Altersteilzeit an- stelle mit Alter 63/65 ohne Altersteilzeit) mit erheblichen Beitragsausfällen in der Sozialversicherung (Ausfälle in der Arbeitslosen- und Krankenversicherung sowie in der gesetzlichen Rentenversicherung nur Teilkompensation durch Abschläge) verbunden ist – damit ist eine Senkung der Lohnnebenkosten nicht möglich –, viertens bisherige Frühverrentungsmodelle nicht mit einem positiven Be- schäftigungseffekt verbunden waren, fünftens zum Bei- spiel das Handwerk seine qualifizierten Mitarbeiter auch über das 60. Lebensjahr hinaus braucht. Anstatt der Fortentwicklung der Alterteilzeit sind tief- greifende Reformen bei allen drei Säulen der Alterssiche- rung dringend notwendig; insbesondere die betriebliche und private Altersvorsorge müssen gestärkt werden. Dafür sind die Rahmenbedingungen grundlegend zu ver- bessern. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Die Integration von Menschen mit Behinde- rungen ist eine dringliche politische und ge- sellschaftliche Aufgabe, – Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpoli- tik, – Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinde- rungen oder chronischen Krankheiten am Leben derGemeinschaft, zu deren Gleichstel- lung und zum Ausgleich behinderungsbe- dingter Nachteile (Tagesordnungspunkt 18 b) Zu meinem Abstimmungsverhalten in Verbindung mit der Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den An- trägen der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache 14/2237), der CDU/CSU (Drucksache 14/2234) und der PDS (Drucksache 14/827) möchte ich folgende Erklärung abgeben: Ich habe der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zugestimmt, weil sich hier alle Fraktionen – einschließlich der PDS – im Interesse von Menschen mit Behinderung auf einen vernünftigen Kompromiss verständigen konnten. Zu wichtigen Forderungen, die Behindertenorganisa- tionen, Selbsthilfegruppen, Wohlfahrtsverbände und Ein- zelpersönlichkeiten zum Teil seit über 20 Jahren erheben, konnte im interfraktionellen Antrag, der Bestandteil der Beschlussempfehlung ist, parteiübergreifend Einver- ständnis erzielt werden. Dazu gehören zum Beispiel: die Umsetzung des Be- nachteilungsgebotes des Grundgesetzes in ein wirksames Gleichstellungsgesetz; die Erhöhung der Chancen für dauerhafte Beschäftigung von Menschen mit Behinde- rungen auf dem ersten Arbeitsmarkt; ein harmonisiertes, vereinheitlichtes und transparentes Behindertenrecht; die Klärung der Rechtssystematik der Eingliederungshilfe im Zusammenhang mit der Befreiung von ihrer Nachrangig- keit; die Weiterentwicklung von Möglichkeiten zur Mo- bilität, die Beseitigung von baulichen, sprachlichen und anderen kommunikativen Barrieren; die Verantwortung für behindertenpolitische Fragen im europäischen Rah- men. Mit der Beschlussempfehlung existiert nach meinem Ermessen eine Grundlage für weiteres gemeinsames Ar- beiten. Diese Chance muss im Interesse der Betroffenen genutzt werden. Ich bin mir bewusst, dass mit der Zustimmung zur Be- schlussvorlage der Antrag der PDS zur Vorlage eines Teil- habesicherungsgesetzes als erledigt erklärt wird. Deshalb machte ich mir damals im Ausschuss für Arbeit und So- zialordnung ebenso wie heute im Plenum meine Ent- scheidung, der Beschlussvorlage zuzustimmen, nicht leicht. Auf der Basis dieses Beschlusses können aber wichtige Inhalte aus dem PDS-Antrag für ein Teilhabesi- cherungsgesetz weiter befördert werden. Da sehe ich zum Beispiel solche wichtigen Fragen wie Sicherung der uneingeschränkten Geltung der Menschen- und Bürgerrechte für Menschen mit körperlichen, geisti- gen, sensorischen und/oder psychischen Beeinträchtigun- gen; Ahndung von diskriminierenden Handlungen, Äuße- rungen und Verhaltensweisen; Einführung eigener Ver- bandsklagerechte für Behindertenorganisationen vor den Gerichten; Rechtsanspruch auf bedarfsgerechten Aus- gleich behinderungsbedingter Nachteile, unter anderem durch eine soziale Grundsicherung auf der Basis eines äquivalenten Behinderten- oder Teilhabesicherungsgel- des, die Einführung von bedarfsdeckenden persönlichen Budgets, die Gewährleistung einer individuell bezogenen und vergüteten persönlichen Assistenz und damit die An- erkennung und Umsetzung von Leistungsansprüchen nach dem Finalitätsprinzip. Weitere wichtige Fragen betreffen aktive Beschäfti- gungs- und Ausbildungspolitik für Menschen mit Behin- derungen, besondere Unterstützung der doppelt diskrimi- nierten behinderten Frauen, stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse und Ansprüche behinderter Kinder und ihrer Familien, aktive Informations- und Aufklärungs- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10002 (C) (D) (A) (B) pflicht aller Verwaltungsebenen gegenüber den Betroffe- nen und Pflicht zur aktiven Beseitigung diskriminierender Tatbestände bzw. behinderungsbedingter Benachteiligun- gen, Zusammenfassung und Vereinheitlichung der beste- henden Leistungen für Menschen mit Behinderungen, Be- seitigung bzw. Einschränkung vordergründiger Kosten- vorbehalte, die Menschen mit Behinderungen zum Teil als „lästige Kostenverursacher“ diffamieren (Rücknahme von § 3 a BSHG), Sicherung der vollen Teilhabe am Le- ben der Gemeinschaft durch Abbau und Beseitigung be- stehender sowie Verhinderung neuer baulicher, kommu- nikativer und sonstiger Barrieren in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Mit diesen Vorstellungen und Aufgaben sehe ich mich in Übereinstimmung – und die Bundesregierung weiter in der Pflicht! – mit den am 20. Dezember 1993 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlosse- nen „Rahmenbestimmungen für dieHerstellung derChan- cengleichheit fürMenschenmit Behinderungen (Standard Rules)“. Die Bundesrepublik Deutschland bekannte sich zu deren Umsetzung im nationalstaatlichen Rahmen. Ich fordere von der Bundesregierung – und werde gemeinsam mit der PDSmeinen Part dazu leisten –, dass die „Standard Rules“ auch umfassend im Kontext mit Art. 13 des Am- sterdamer Vertrages in Deutschland und Europa umge- setzt werden. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Ta- gesordnungspunkt 17) Renate Rennebach (SPD): Wir beraten heute ab- schließend über die zweite Stufe zur Fortentwicklung der Altersteilzeit. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkens- wert. Erstens: Die Koalition hat im vergangenen Jahr ein Gesetz zur Förderung der Altersteilzeit beschlossen und damit ein klares Zeichen gesetzt, ein Zeichen für mehr Be- wegung, für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Nichts anderes! Ich möchte gleich zu Beginn die polemi- sche Stimmungsmache aus den Reihen der Opposition aufnehmen, weil ich größten Wert darauf lege: Es ist – ausdrücklich – keine Aufforderung an die älteren Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz zu räumen, weil sie etwa nicht mehr gebraucht würden. Die- sem Eindruck, der von Handwerkspräsident Philipp im Schulterschluss mit der F.D.P. öffentlich lanciert wird, trete ich entschieden entgegen. Diese Unterstellung ver- kennt, dass die Bundesregierung mit der Altersteilzeit dem Wunsch vieler älterer Beschäftigter nach der Mög- lichkeit eines attraktiven Übergangs aus dem Erwerbsle- ben entgegenkommt. Es geht schließlich um die Frage, wie dieser gleitende Übergang aus dem Erwerbsleben or- ganisiert wird, damit gleichzeitig Beschäftigungseffekte eintreten und Auszubildende übernommen oder Arbeits- lose in Lohn und Brot kommen. Das ist die Aufgabe, der wir uns stellen. Wer aber versucht, den Konsens der Generationen – den wir brauchen – durch Angstmacherei zu zerstören, der hat in diesem Hause nichts verloren. Wer behauptet, Al- tersteilzeit würde den Druck auf ein frühzeitiges Aus- scheiden für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen, wer behauptet, wir wollten sie ins Abseits schie- ben, der sagt bewusst die Unwahrheit. Es steht außer Frage, dass wir die Erfahrungen der älteren Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer brauchen und dass wir den Aus- tausch der Generationen brauchen. Davon leben die Be- triebe und davon profitieren die Jungen. Aber beide, die Älteren und die Jungen, brauchen eine Chance. Dass Sie, verehrter Kollege Kolb, wie wir bei der Aus- schussberatung erfahren konnten, mit der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nichts am Hut haben, die Kol- leginnen und Kollegen von der CDU/CSU im Übrigen ebenso wenig, ist uns aus den letzten Jahren ja hinrei- chend bekannt. Mit Ihrem Ansinnen, die Älteren gegen die Jungen auszuspielen, erreichen sie allerdings eine Qualität, die mir langsam Sorge bereitet. Ein zweites Märchen, das Sie in die Welt gesetzt haben, ist, dass der Mittelstand mit der Altersteilzeit überhaupt nichts anfangen kann. Richtig ist: Gerade der Mittelstand kann die Altersteilzeit nun einführen. Die großen Betriebe in Deutschland haben in den letzten Jahren längst olym- piareife Belegschaften zusammengestellt. In vielen Be- trieben können Sie über Fünfzigjährige mit der Lupe su- chen. Wenn Sie sich der Realität zuwenden, sehen Sie, dass mit den Neuregelungen des vergangenen Jahres nicht al- lein das Verfahren für die Altersteilzeit vereinfacht und der Personenkreis ausgeweitet wurde. Es hat sich eine po- sitive Signalwirkung entfaltet, eine Signalwirkung für mehr Kreativität in den Verhandlungen der Tarifvertrags- parteien, weil wir die Spielräume erweitert haben. Alters- teilzeit ist dabei, zu einem Zukunftsmodell zu reifen, das Jung und Alt vereint. Altersteilzeit hat sich etabliert als elementarer Bestandteil tarifvertraglicher und betriebli- cher Regelung. In der Umsetzung der Altersteilzeitregelungen in über 375 Tarifverträgen hat sich allerdings gezeigt, dass es ei- ner weiteren Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbe- dingungen bedarf. Die Bundesregierung hat sich mit den Tarifpartnern im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf eine Ausweitung der Altersteil- zeit verständigt. Gleichzeitig werden die Bedingungen für die Förderung durch die Bundesanstalt für Arbeit gelockert und das Verfahren vereinfacht. Das belegt – und damit komme ich zum zweiten Punkt – die Bereitschaft und die Fähigkeit der Koalition, flexibel auf die arbeits- marktpolitischen Entwicklungen zu reagieren und die be- stehenden Regelungen zu konkretisieren. Wir haben nicht nur ein neues Denken eingeleitet, sondern begleiten den Entwicklungsprozess, indem wir die Gesetzeslage anpas- sen. Mit den Regelungen zur Altersteilzeit verbindet sich eine große Hoffnung für mehr Beschäftigung. Mit der zweiten Stufe zur Förderung der Altersteilzeit tragen wir unseren Teil dazu bei, der Altersteilzeit zu mehr Akzep- tanz zu verhelfen. Unsere Zielsetzung ist klar formuliert: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10003 (C) (D) (A) (B) Wir wollen den gleitenden Übergang aus dem Erwerbsle- ben erleichtern und die Wiederbesetzungsquote erhöhen, um zu mehr Beschäftigung zu gelangen. Das können und wollen wir nicht verordnen. Aber: Wir können die Rah- menbedingungen so gestalten, dass Altersteilzeit in zu- nehmendem Maße angenommen wird und von Arbeit- gebern wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als Motor für den Generationswechsel in den Betrieben ver- standen und anerkannt wird. Lassen Sie mich die Grundzüge des vorliegenden Ge- setzentwurfs skizzieren. Im Bündnis für Arbeit, Ausbil- dung und Wettbewerbsfähigkeit wurde vereinbart, die Geltungsdauer des Altersteilzeitgesetzes zu verlängern. Der Gesetzentwurf dient der Umsetzung der gemeinsa- men Erklärung vom 09. Januar 2000. Die Geltungsdauer wird um fünf Jahre bis 2009 verlängert, um eine langfris- tige betriebliche und individuelle Planung zu ermögli- chen. Die Förderhöchstdauer wird von fünf auf sechs Jahre erweitert, um die Akzeptanz der Altersteilzeit bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu erhöhen. Zur Stär- kung der Beschäftigungseffekte wird die für die Förde- rung maßgebliche Mindestbeschäftigungsdauer des Wiederbesetzers um ein Jahr von gegenwärtig drei auf künftig vier Jahre erhöht. Mit der Verlängerung der Gel- tungsdauer berücksichtigt die Koalition die demographi- sche Entwicklung und die zu erwartenden Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Tatsache, dass der Tarifab- schluss in der chemischen Industrie bereits eine Laufzeit bis 2009 vorsieht, belegt schließlich die Akzeptanz unse- res Entwurfs. Um das Verfahren weiter zu vereinfachen, führen wir eine Verordnung über pauschalisierte Nettobeträge des Altersteilzeitentgelts ein. Diese Vereinfachung hilft vor allem kleinen und mittelständischen Unternehmen bei der Errechnung des individuellen Aufstockungsbetrages. Im Zuge der Beratungen hat die Koalition weitere Ver- fahrensvereinfachungen beschlossen, die auch vonseiten der Betriebe gefordert wurden: Erstens. Die Berechnung der wöchentlichen Arbeits- zeit wird vereinfacht, um Missbrauch vorzubeugen und die Handhabung der Regelungen insgesamt zu erleich- tern. Dies ist wiederum eine Verbesserung für den Mittel- stand. Zweitens. Es werden Übergangsregelungen für Alters- teilzeitfälle eingeführt, die vor dem Datum des In-Kraft- Tretens vereinbart worden sind. Die Regelung sieht vor, dass die Richtlinien für Altersteilzeitarbeit sowie für die Mindestnachbesetzungsdauer nur für Vereinbarungen an- zuwenden sind, die nach In-Kraft-Treten des Gesetzes ge- troffen werden. Die Neuregelung der verlängerten Nach- besetzungsdauer gilt allerdings dann auch für Altfälle, wenn die verlängerte Förderdauer bereits angewendet wird. Drittens. Die erleichterten Bedingungen zum Arbeits- losengeld für Arbeitslose über 58 Jahre werden um fünf Jahre bis 2006 verlängert. Viertens. Analog dazu wird die Regelung zur Alters- rente nach Altersteilzeitarbeit nach SGB IV geändert. Eine seriöse Prognose darüber, in welchem Maße die Altersteilzeit von den Beschäftigten genutzt wird, ist nicht möglich. Die bisherige Resonanz gibt uns aber die be- rechtige Hoffnung, dass die Novellierung zur weiteren Ausweitung der Planungssicherheit und der Vereinfa- chungen, die wir heute beschließen werden, ein Erfolg wird. Die Umsetzung in den Tarifvereinbarungen hat sich bislang als überaus erfolgreich erwiesen: So gibt es in der Druckindustrie erstmals einen Tarifvertrag zur Altersteil- zeit; Metaller und Chemiewerker erhalten am Ende der Altersteilzeit sogar eine Abfindung, und das Land Rhein- land-Pfalz will zusätzliche Lehrer einstellen, weil sich eine Vielzahl älterer Lehrer – 900 – für die Altersteilzeit entschieden haben. Diese Beispiele belegen, dass das Modell der Altersteilzeit mittlerweile in unterschiedlichen Varianten praktisch umgesetzt wird. Wenn es gelingt, die Idee der Altersteilzeit in der vorliegenden Form weiter po- sitiv zu besetzen, haben wir eine weitere Chance für mehr Beschäftigung. Das sollte im Sinne aller sein. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Die Regie- rungskoalition feiert das zweite Gesetz zur Fortentwick- lung der Altersteilzeit als erneutes Highlight ihrer Sozial- politik. Ich will damit das Instrument der Altersteilzeit zur Entlastung des Arbeitsmarktes nicht klein reden. Aber aus zwei Gründen besteht für Rot-Grün keine Veranlassung, sich selber hierfür den sozialpolitischen Lorbeerkranz umzuhängen: Denn erstens wird das von Norbert Blüm bereits 1996 eingeführte Altersteilzeitmodell weiterent- wickelt – es ist eben keine Innovation, zu der wir eine neue Regierung gebraucht hätten – und zweitens ist die sonstige sozialpolitische Bilanz von Rot-Grün eher ma- ger. Das heute zu verabschiedende Gesetz ist die zweite Fortentwicklung des Instruments der Altersteilzeit binnen eines halben Jahres. Die erste gesetzliche Fortschreibung hat Rot-Grün im Herbst vergangenen Jahres eingebracht und verabschiedet, die zweite erfolgt heute. Dazwischen herrschte sozialpolitischer Winterschlaf; und schaut man auf die so genannten großen Vorhaben der Regierung in der Sozialpolitik, dann herrscht immer noch Frühjahrs- müdigkeit. Die beiden Schritte zur Fortentwicklung der Altersteilzeit sind aus dem Bündnis für Arbeit angestoßen worden; sie brauchen denselben Anstoß von anderen wie zum Beispiel auch bei der Rentenreform. Hier müssen wir Ihnen Termindruck machen, damit Sie endlich konkrete Angaben zu Ihren Rentenvorstellungen machen. Die bisherige Bilanz der rot-grünen Sozialpolitik ist mager. Wenn die SPD-Kollegin Rennebach bei ihrer Ein- bringungsrede im April meinte „Es weht ein neuer Wind in unserem Land!“, so trifft dies weder für die Sozialpoli- tik insgesamt noch für das Instrument der Altersteilzeit zu. Die Koalition hat eben nicht – wie Frau Rennebach es am 13. April behauptet hat – „mit der Fortentwicklung der Al- tersteilzeit ein neues Denken in Gang gebracht“. Das neue Denken hat bereits 1996 begonnen, als Norbert Blüm die Altersteilzeit zusammen mit den Vertretern im Bündnis für Arbeit auf den Weg gebracht hat. Altersteilzeit ist da- mals als kostengünstige Alternative zu den vorherigen teuren Frühverrentungswegen entwickelt worden. Und heute ist sie eine tarifvertragliche Alternative zu den nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10004 (C) (D) (A) (B) finanzierbaren Plänen einer „Rente mit 60“. Es wäre schön, wenn dies auch von der Koalition mal so deutlich gesagt würde. Die Altersteilzeit ist von Norbert Blüm als ein Instru- ment für die Tarifpartner geregelt worden. Es war auf Fortentwicklung durch die Tarifvertragsparteien angelegt. So ist es konsequent, dass dies auch passiert – sowohl zu unserer Regierungszeit als auch jetzt. Altersteilzeit ist inzwischen in vielen Tarifverträgen vereinbart, in unterschiedlichen Varianten und mit breiter Akzeptanz. Dementsprechend wird jetzt mit dem zweiten Fortentwicklungsgesetz – genauso wie beim ersten – die Anwendung des Altersteilzeitmodells noch flexibler ge- staltet: Die Geltungsdauer der Altersteilzeitförderung wird verlängert; die Förderhöchstdauer wird von fünf auf sechs Jahre verlängert; es gibt Klarstellungen und Verein- fachungen gegenüber der ersten Fortentwicklung. Damit besteht ein breiterer Rahmen, den die Tarifver- tragsparteien in eigener Verantwortung und freiwillig nut- zen können oder nicht. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt den Regelungen des zweite Fortentwicklungsgesetzes zu, um den Tarifpartnern diese größere Bandbreite zu ermög- lichen. Wir stimmen auch der – ursprünglich bis 31. De- zember 2000 befristeten – Verlängerung der Regelung des § 428 SGB III bis zum 31. Dezember 2005 zu; eine Rege- lung, die es über 58-jährigen Arbeitslosen ermöglicht, Ar- beitslosengeld auch dann zu beziehen, wenn sie nicht mehr arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nut- zen, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beseitigen. Die Vermittlungschancen für diesen Personenkreis sind zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin ungünstig. Voraussetzung für die Arbeitslosengeldzahlung bleibt weiterhin, dass sie sich verpflichten, zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine abschlagsfreie Altersrente in Anspruch zu nehmen. Da wir in den vergangenen Monaten häufig über die Altersteilzeitregelungen diskutiert haben, will ich heute auf eine breitere positive Würdigung dieses Modells ver- zichten. Anlässlich der Verabschiedung des erste Fortent- wicklungsgesetzes im Dezember 1999 haben wir verein- bart, dass nach einem Jahr von der Bundesregierung ein Bericht vorgelegt wird. Wir sollten jetzt diesen Bericht abwarten und dann auch kritische Punkte diskutieren: Wie entwickeln sich die Teilnehmerzahlen und die Kosten für öffentliche Kassen? Wie kann man das Verblockungsmodell, das überwie- gend angewandt wird, zugunsten eines wirklich gleiten- den Übergangs in den Ruhestand entwickelt werden? In welchen Branchen wird Altersteilzeit angewandt? Hat sich Altersteilzeit zu einer Regelung entwickelt, die auch vom Handwerk und Mittelstand akzeptiert ist? In welchem Umfang sind ausscheidende ältere Arbeit- nehmer wirklich durch Arbeitslose und Auszubildende er- setzt worden? Wie entwickelt sich die nicht geförderte Altersteilzeit, die lediglich tarifvertraglich vereinbart ist? Regelt sie nur das Ausscheiden oder begünstigt sie auch Neueinstellun- gen? Das Hauptaugenmerk sollten wir bei der Bewertung der Altersteilzeit auf das zukünftig wichtiger werdende Thema „Fachkräftemangel“ richten: Können wir es uns mittelfristig erlauben, immer mehr ältere Arbeitnehmer mit Erfahrung in den Ruhestand zu schicken? Lassen Sie uns den Bericht abwarten und dann gründ- lich werten! Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Al- tersteilzeit ist ein Stück Generationengerechtigkeit. Sie ermöglicht es älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern, ohne große finanzielle Belastungen aus dem Be- rufsleben auszusteigen – gleitend oder auch in einer Blocklösung. Gleichzeitig erleichtert die Altersteilzeit jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben. Wir haben zwar heute schon in einigen Branchen einen Fachkräftemangel. Einen generellen Arbeitskräftemangel aufgrund der demographischen Situation wird es jedoch erst in etwa 15 Jahren geben. Es wird demnach weiterhin einer aktiven Arbeitsmarktpolitik bedürfen, um die Ar- beitslosigkeit zu bekämpfen und um jungen Menschen eine Chance zu geben. An dieser Erkenntnis kommt eine pragmatische Politik nicht vorbei. Die Altersteilzeit boomt, und das ist nicht zuletzt ein Erfolg des Bündnisses für Arbeit. Bei den jüngsten Tarif- abschlüssen in der chemischen Industrie, im westdeut- schen Baugewerbe, in der Metallindustrie und in vielen anderen Branchen ist die Altersteilzeit ein wesentliches Instrument einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik. In Zukunft wird es kaum noch Tarifverträge geben ohne die Einführung oder die Verbesserung der Altersteilzeit. Bisher betreffen tarifvertragliche Regelungen insgesamt 14 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, 1,4 Millionen nehmen sie in Anspruch. Die Arbeitgeber zahlen nicht drauf, wenn sie eine Stelle wieder besetzen. Vor allem aber profitieren wir alle: Denn wenn junge Menschen eine Chance erhalten, werden ihre Talente nicht mehr vergeudet. Für den Bundeshaushalt ist die Altersteilzeit konkur- renzlos kostengünstig: Die Differenz zwischen Aufwand und Einsparung beläuft sich auf gerade mal 20 Millionen Mark – pro Jahr! Wo immer möglich, ist die Altersteilzeit damit um ein Vielfaches kostengünstiger als die Frühver- rentung oder Arbeitslosigkeit. Die rot-grüne Bundesregierung trägt ihren Teil dazu bei, um die Rahmenbedingungen für die Altersteilzeit weiter zu verbessern. Vor gut einem Jahr haben wir die Regelung auf Teilzeitbeschäftigte ausgedehnt. Das kommt insbesondere Frauen zugute. Wir haben den Nach- weis der Wiederbesetzung entbürokratisiert. Das macht die Regelung nun auch für kleine und mittlere Unterneh- men handhabbarer. An praktischen Notwendigkeiten ori- entieren sich auch die Änderungen, die wir heute be- schließen: Wir verlängern beispielsweise die Geltungs- dauer und erhöhen die Förderungshöchstzeit auf 6 Jahre. Das steigert die Attraktivität. Wir schaffen pragmatische Übergangsregelungern zwischen der alten und der neuen Regelung. Und wir vereinfachen die Praxis. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken an- fügen: Meine Fraktion ist der Überzeugung, dass das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10005 (C) (D) (A) (B) Grundkonzept, das hinter der Altersteilzeit steckt, Zu- kunft hat. Wir wünschen uns die Möglichkeit einer Le- bensphasenteilzeit. Wir möchten es unterstützen, wenn Menschen zeitweise ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihre bisherige Erwerbsbiographie unterbrechen und so lange anderen die Möglichkeit zur Arbeit oder zur praktischen Qualifikation eröffnen – während sie sich selbst zum Bei- spiel extern weiterbilden, mehr Zeit für ihre Kinder oder für die Pflege von Angehörigen nehmen oder sich eine persönliche Auszeit gönnen. Hier können wir, wie schon bei der Altersteilzeit, solidarische Rahmenbedingungen setzen, die den Menschen mehr Freiheit in ihrer Lebens- gestaltung und mehr Lebensqualität ermöglichen. Die Koalition und insbesondere wir Grüne schaffen Regelungen, damit nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern damit möglichst viele Menschen möglichst viele Freiheitsspielräume erhalten. Es geht also nicht um weni- ger, sondern um ein Maximum an Freiheit für alle. Und daran werden wir weiter arbeiten. Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Grundsätzlich hat sich an der skeptischen und ablehnenden Haltung der F.D.P.- Fraktion zur Altersteilzeit nichts geändert. Wir haben diese schon bei der Beratung des ersten Gesetzes zur Fort- entwicklung der Altersteilzeit zum Ausdruck gebracht. Auch jetzt ist festzustellen: Der Gesetzentwurf leistet weder einen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeits- losigkeit noch einen Beitrag zur Senkung der Lohnneben- kosten. Das glauben sie offensichtlich auch selbst nicht. Denn unter „Zielsetzung“ räumen sie in ihrem Gesetzent- wurf in entwaffnender Offenheit ein: Der Entwurf dient der Umsetzung der gemeinsamen Erklärung der Partner im Bündnis für Arbeit vom 9. Januar 2000. Nur, das ist keine ausreichende Begründung. Ich meine, der Deutsche Bundestag sollte sich nicht zum Handlanger machen lassen – Handlanger einer Runde von Funktionären ohne Mandat und demokratische Legitima- tion. Dafür sollten wir als Parlamentarier gemeinsam ein- treten und kämpfen. Denn in diesen Zirkeln findet – ohne ausreichende Be- teiligung des Mittelstandes – Interessenvertretung pur statt. Insbesondere die Grünen als angeblich „basisde- mokratische Partei“ müssten das eigentlich ablehnen. Stattdessen erleben wir hier eine gigantische Koalition aus SPD, Grünen, CDU/CSU und PDS. Aber zum Glück gibt es mit der F. D.P. eine Partei in Deutschland, die nicht jede Konsenssauce Beifall klatschend mitrührt. Wir sind mit unserer Ablehnung nicht allein. Der Mit- telstand, auch der ZDH, lehnt dieses Machwerk ebenfalls ab. Die Gründe sind gut nachvollziehbar. Das Gesetz be- lastet kleine und mittlere Unternehmen, die über die oh- nehin schon viel zu hohen Lohnnebenkosten die Frühver- rentung der überzähligen Mitarbeiter der großen bezahlen müssen. Bereits in diesem Jahr muss die Bundesanstalt für Arbeit laut Pressemitteilung vom 28. Januar 2000 für die Altersteilzeit 300 Millionen DM ausgeben. Zu den eben- falls nicht unerheblichen Belastungen für die Renten- und Krankenversicherung schweigen sie sich im Gesetzesent- wurf aus. Auch zunehmende Bauchschmerzen der BDA, bisher ja eher als Verfechter der Altersteilzeit bekannt, nähren die Befürchtung, dass da noch einiges auf uns zu- kommt – nicht zu vergessen auch die für kleine und mitt- lere Unternehmen schlechte Handhabbarkeit. Diese Un- ternehmen werden auch in Zukunft nur selten von der Möglichkeit der Altersteilzeit Gebrauch machen. Die Al- tersteilzeit ist eine Regelung für die Großen – die Kanz- lerunternehmen – nicht für den Mittelstand. Aber selbst wenn das Gesetz handhabbar wäre: Kleine und mittlere Unternehmen, etwa ein Handwerksunterneh- men, werden von der Altersteilzeit keinen Gebrauch ma- chen wollen. Denn: Jeder ältere Mitarbeiter trägt ein großes Stück Betriebserfahrung in sich. – Erfahrungen, die jüngere Mitarbeiter, die so genannten Wiederbesetzer, nicht haben, wenn überhaupt Facharbeiter auf dem Ar- beitsmarkt verfügbar wären. Eine frühere Verrentung die- ser Leistungsträger würde sich somit nachteilig für das Unternehmen auswirken. Ein irisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Ein neuer Besen kehrt gut, aber der alte kennt die Ecken.“ Schließlich sollten wir einen weiteren Punkt nicht übersehen: Professor Schneider von der Uni Linz hat in seinen Studien klar herausgearbeitet, dass es einen deutli- chen Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung und Schwarzarbeit gibt. Handwerker in der Nähe etwa von VW-Standorten mussten bei der seinerzeitigen Ver- kürzung der Wochenarbeitszeit schmerzhafte Erfahrun- gen machen. Das wird bei einer Ausweitung der Alters- teilzeit nicht anders sein. Das ist ja vollkommen ver- ständlich: Sie wollen Menschen zur Ruhe setzen, die sich für die Arbeit eigentlich noch durchaus fit fühlen. Es liegt doch in der Natur des Menschen, dass er sich für die viele freie Zeit eine ihn ausfüllende Beschäftigung sucht. Leid- tragende sind dann wieder einmal mittelständische Unter- nehmen, also die, die ohnehin die Hauptlast bei den Steu- ern und der Sozialversicherung tragen. Ich glaube, es ist an der Zeit, den Menschen endlich zu sagen: Die Altersteilzeit ist ein teurer Weg, ein Irrweg. Wir sollten den Mut haben, offen zu sagen, was den Ren- tenexperten – mit Blick auf die Lebensarbeitszeit – hinter verschlossenen Türen längst klar ist: Wir werden zukünf- tig nicht kürzer arbeiten können, sondern wieder länger arbeiten müssen. Wir lehnen den Gesetzentwurf wegen des grundlegend falschen Ansatzes ab. Dr. Klaus Grehn (PDS):Wir unterstützen die Koali- tionsfraktionen in ihrer Absicht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und gleichzeitig die Übergänge ins Rentensys- tem zu erleichtern. Ob dies mit dem vorgelegten Gesetz gelingt, ist nicht eindeutig zu bestimmen, Zweifel sind al- lemal berechtigt. Jene Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., die Fundamental- kritik an dem Gesetz üben, seien die Realitäten auf dem Arbeitsmarkt ins Gedächtnis zurückgerufen! Im April wa- ren von den mehr als 3,9 Millionen Arbeitslosen 22 Pro- zent oder rund 900 Tausend älter als 55 Jahre alt. Und das trotz aller Maßnahmen, um gerade in diesem Bereich das Ausmaß zu lindern. Erinnern Sie sich an die 900 000 in den NBL in den Vorruhestand geschickten Menschen, an Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10006 (C) (D) (A) (B) die 100 000, die die so genannte 58er-Regelung (Früh- verrentung) in Anspruch genommen haben. Diese Ent- wicklung ist nicht von den älteren Arbeitnehmern gewollt. Im Gegenteil! Diese Menschen wollen arbeiten. Ihre Ar- beitslosigkeit ist Folge einer rigiden Beschäftigungspoli- tik in Unternehmen und des dort sich rasch ausbreitenden Jugendwahns. Im Übrigen zeigt die geringe Inan- spruchnahme der Möglichkeit von Altersteilzeit, dass die älteren Arbeitnehmer eigentlich lieber ihre Arbeitsplätze behalten wollen. Wir glauben, dass es noch eine weitere Reihe von Gründen gibt, dass das Altersteilzeitgesetz nicht so wahrgenommen wird, wie wir es uns, im Inte- resse der jungen Menschen, die eine Chance zum Einstieg in das Berufsleben bekommen müssen, wünschen. Dazu gehört vor allem die unzulängliche finanzielle Ausstat- tung, die vielen Älteren es gar nicht ermöglicht das Ge- setz in Anspruch zu nehmen. 70 Prozent des Vollzeitnet- tos sind allgemein schon zu wenig; für unter und prekär Beschäftigte, für untertariflich Bezahlte, vor allem für Frauen käme die Inanspruchnahme einem Marsch in un- erträgliche Armut gleich. Hinzu kommt, dass die Renten- beiträge in der Folge geringer ausfallen. Richtig ist, dass die Geltungsdauer um 5 Jahre verlängert wird und so eine Entlastung des Arbeitsmarktes ermöglicht. Sinnvoll ist auch die Förderdauer von 5 auf 6 Jahre zu erhöhen, damit ältere Beschäftigte ein Jahr früher verkürzt arbeiten kön- nen und die Lücke zwischen Förderanspruch als älterer Arbeitsloser und Renteneintritt zu schließen sowie die Rentenabschläge zu verringern. Konsequent ist es, die Beschäftigung derjenigen, die für Ältere nachrücken von 3 auf 4 Jahre zu verlängern. Er- reicht werden soll, dass sich künftig 40 000 ältere Be- schäftigte für diesen Weg entschließen. Diese Größenord- nung ist angesichts der 1,5 Millionen, die von der Bun- desanstalt für Arbeit festgestellt wurden, bescheiden. Die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen zeigt, welche Bewegung auf dem Arbeitsmarkt möglich wäre. Zugleich wird deutlich, dass es weiterer Reformen in der Alters- teilzeit bedarf, um den Arbeitsmarkt merklich zu entla- sten. Insgesamt wäre ein individueller Rechtsanspruch auf Altersteilzeit dringend geboten, nicht nur wenn Tarif- vertrag, Betriebsvereinbarung oder Vergleichbares be- steht. Auch wenn eine solche Entwicklung mehr in Rich- tung von Renten mit 60 ginge, es würde vielen Beschäf- tigten, gerade auch jenen, die in nicht tariflich geregelten Bereichen arbeiten, eine Chance eröffnen früher kürzer zu treten. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- derter (Tagesordnungspunkt 18) Regina Schmidt-Zadel (SPD): Aus Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz ergibt sich die Verpflichtung für Politik und Gesellschaft, sich aktiv für die Integration behinderter Menschen in die Berufswelt einzusetzen. Wie vieles, wenn es um die Belange der behinderten Menschen geht, so liest sich auch diese Verpflichtung auf dem Papier sehr gut. Die Praxis indes sah dagegen bislang leider eher trau- rig aus: Von 1982 bis 1998 – also in der Zeit der Regierung Kohl – ist die Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten um über 21 Prozent gesunken. Die Quote der beschäftig- ten Schwerbehinderten sank in dieser Zeit von 5,8 Prozent im Jahre 1981 auf 3,8 Prozent im Jahre 1998. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten hat sich in der gleichen Zeit mehr als verdoppelt – ein wahres Armutszeugnis! Man kann diese Zahlen eigentlich nicht oft genug hier im Hause wiederholen. Belegen sie doch ganz eindeutig: Unsere Vorgängerregierung hat uns einen behindertenpo- litischen Scherbenhaufen hinterlassen. Schwerbehinderte wurden nicht in die Arbeitswelt integriert, sie wurden aus- gegrenzt. Für die neue Regierungskoalition war daher klar: Hier muss etwas geschehen. Die Integration behinderter Men- schen in Beruf und Ausbildung – und damit die gleichbe- rechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – darf nicht länger nur ein Lippenbekenntnis in behindertenpo- litischen Sonntagsreden sein. Es muss konkret und schnell etwas unternommen werden. Schon die Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 sah daher vor, durch Verbesserungen bei der Ein- gliederung Behinderter dem Benachteiligungsverbot Gel- tung zu verschaffen. Dieses Versprechen werden wir zü- gig einlösen. Heute – nach noch nicht einmal der Hälfte der Wahl- periode – beraten wir bereits in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter. Unser ehrgeiziges Ziel: die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten innerhalb der nächsten 24 bis 36 Monate um 50 000 zu verringern. Das Gesetz soll zum 1. Oktober 2000 in Kraft treten. Meine Damen und Herren von der F.D.P. und Union, die rot-grüne Koalition hat damit in nur einer halben Legisla- turperiode mehr für die Integration der Schwerbehinder- ten getan als Sie in 16 Jahren. Der Gesetzentwurf dafür ist gut, er erfüllt seinen Zweck. Und auch das möchte ich herausstreichen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist ganz wesentlich auch das Ergebnis eines intensiven Dialoges mit betroffenen Men- schen selbst, mit ihren Verbänden und Organisationen. Dies zeigt: Die jahrelang herrschende Sprachbarriere zwi- schen Politik und Betroffenen wurde endlich aufgebro- chen; ein intensiver, konstruktiv-kritischer und – wie Sie sehen werden – auch fruchtbarer Austausch hat begonnen. Auf diesem Wege konnten in den vergangenen Monaten viele wertvolle Anregungen aus Gesprächen und Erfah- rungen aus der Praxis eingearbeitet und der vorliegende Gesetzentwurf optimiert werden. Die vorliegende Gesetzesnovelle schafft nun die Rah- menbedingungen zur Entstehung einiger Tausend neuer Arbeitsplätze für Schwerbehinderte. Wie wollen wir diese Aufgabe meistern? Nach sorgfältiger Abwägung der mög- lichen Instrumente liegt folgendes Maßnahmenbündel auf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10007 (C) (D) (A) (B) dem Tisch: Das bisherige System von Beschäftigungs- pflicht und Ausgleichsabgabe wird umgestaltet und effek- tiver gemacht. Die Zahlen über die Beschäftigung Schwerbehinderter und die Erfüllungsquote bei der Be- schäftigungspflicht in den vergangenen rund 20 Jahren zeigen klar: Wir brauchen ein deutliches Signal an die Ar- beitgeber, viel mehr als bislang für die Integration von Schwerbehinderten zu tun. Die Absenkung des Pflichtsatzes von 6 auf 5 Prozent ist so ein Signal und ich hoffe, es wird von den Arbeitge- bern auch verstanden. Wir sind ihnen in diesem Punkt entgegengekommen und wir erwarten jetzt auch das ent- sprechende Entgegenkommen der Arbeitgeber. Die Pflichtquote ist um einen Prozentpunkt gesenkt worden; aber die moralische Messlatte, diese abgesenkte Quote nun auch wirklich zu erfüllen, liegt umso höher. Ich hoffe, die Wirtschaft ist sich dieser Verantwortung bewusst. Des Weiteren sieht der Gesetzentwurf vor, die Rechte der Schwerbehinderten und deren Vertretung zu stärken und durch besondere Verpflichtungen der Arbeitgeber auszubauen. Konkret bedeutet dies: Arbeitgeber werden künftig verpflichtet, mit der Schwerbehindertenvertre- tung eine umfassende Integrationsvereinbarung abzu- schließen und dabei auch Regelungen zur Beschäftigung von schwerbehinderten Frauen zu treffen. Der Gesetzentwurf stärkt die betriebliche Prävention durch die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung in den Betrieben. Die Dienstleistungen der Bundesanstalt für Arbeit und der Hauptfürsorgestellen werden intensiviert und besser genutzt. In allen Arbeitsämtern werden dafür besondere Stellen eingerichtet, die Arbeitgebern schnell und kompe- tent helfen. Durch Einbeziehung von Integrationsfach- diensten sollen Arbeitsämter bei der Vermittlung Schwer- behinderter entlastet werden. Die Bundesanstalt für Arbeit hat darauf hinzuwirken, dass solche Integrations- fachdienste in ausreichender Zahl eingerichtet werden. Sie soll grundsätzlich in jedem Arbeitsamtsbezirk einen Integrationsfachdienst eines Trägers oder eines Verbun- des verschiedener Träger beauftragen, der berufsbeglei- tende und psychosoziale Dienste umfasst, trägerübergrei- fend tätig wird und auch von der regional zuständigen Hauptfürsorgestelle beauftragt ist. Der Gesetzentwurf stellt dabei sicher, dass die vorhandene Trägervielfalt er- halten und zugleich ein Verbundsystem mit einem ein- heitlichen Ansprechpartner für Hilfesuchende aufgebaut wird. Ein weiteres Anliegen aus der Praxis war, dass ratsu- chende Personen künftig nicht nur in Form einer Zuwei- sung durch das Arbeitsamt die Leistungen des Integrati- onsfachdienstes in Anspruch nehmen können. Ratsu- chende oder deren Angehörige sollten vielmehr die Möglichkeit haben, sich selbst direkt an den Dienst zu wenden. Diese Frage sollten wir in den anstehenden Be- ratungen in den Ausschüssen noch diskutieren. Zum Schluss noch einige Anmerkungen zu den in der Novelle vorgesehenen Verbesserungen für die zahlrei- chen und für Schwerbehinderte so wichtigen Integrati- onsunternehmen. Integrationsunternehmen sind selbst- ständige Firmen, unternehmensinterne Betriebe oder Ab- teilungen zur Beschäftigung von Schwerbehinderten, de- ren Eingliederung in eine sonstige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf besondere Schwierigkeiten stößt. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Integrationsunter- nehmen über das bisherige Förderinstrumentarium hinaus künftig zusätzlich zu fördern. Vorgesehen sind Förderleis- tungen, die erheblich dazu beitragen können, die Wettbe- werbsfähigkeit solcher Unternehmen zu sichern – also Leistungen für Aufbau, Erweiterung, Modernisierung und Ausstattung einschließlich betriebswirtschaftlicher Bera- tung. § 53 a Abs. 3 wurde dabei so gestaltet, dass gut funk- tionierende Integrationsunternehmen keine Arbeitsplätze für Schwerbehinderte abbauen müssen. Darauf möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen, weil es hier Befürchtungen seitens der Integrationsfirmen gegeben hat. Festgelegt ist nun, dass Integrationsunternehmen mindestens 25 Prozent Schwerbehinderte beschäftigen müssen; ihr Anteil soll in der Regel 50 Prozent nicht über- steigen. In Ausnahmefällen, in denen zum Beispiel beste- hende Integrations- oder Selbsthilfefirmen in der Praxis bewiesen haben, dass wirtschaftliche Ergebnisse auch mit einem höheren Anteil an beschäftigten Schwerbehinder- ten erreicht werden können, soll auch ein höherer Anteil möglich sein. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- derter, die Integration behinderter Menschen in die Ar- beitswelt, ist auch vor dem Hintergrund des allgemeinen Rückgangs der Arbeitslosigkeit eine moralische Ver- pflichtung. Die Arbeitsmarktzahlen der letzten Monate und die optimistischen Prognosen für die kommenden Jahre lassen einen spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit erwarten. Da dürfen die Schwerbehinderten nicht am Rande stehen. Ohne die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltenen Maßnahmen würde die Schere künftig noch weiter auseinander klaffen, die Benachteiligung behin- derter Menschen auf dem Arbeitsmarkt noch gravierender sein. Lassen Sie uns gemeinsam – Gesetzgeber und Wirt- schaft – alles tun, damit auch die Schwerbehinderten ihren Platz in der Arbeitswelt finden. Matthäus Strebl (CDU/CSU): Durch das Diskrimi- nierungsverbot im Grundgesetz ist in den letzten Jahren ein neues Bewusstsein in der Behindertenpolitik eingetre- ten: Es geht heute weniger um „Fürsorge“ als um die Selbstbestimmung des behinderten Menschen. Wir unterstützen das Anliegen, in einem eigenen Sozi- algesetzbuch IX das Behindertenrecht zu straffen und ef- fizienter zu gestalten. Dabei stehen wir in einem engen Dialog mit den Fachverbänden. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und der län- geren Lebenserwartung wird das Behindertenthema, wird die Pflegebedürftigkeit und werden chronische Krankhei- ten zunehmen. Deshalb ist Behindertenpolitik auch Vor- sorgepolitik. Wir wollen mit dafür sorgen, dass ein Höchstmaß an Lebensqualität auch für den behinderten Menschen sichergestellt wird. Dazu bedarf es einer ge- meinsamen Strategie von Bundes-, Landes- und Kommu- nalpolitik. Es bedarf auch des Miteinanders der Tarifpart- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10008 (C) (D) (A) (B) ner, um mehr Beschäftigungschancen für behinderte Menschen zu erreichen. Die unionsgeführte Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die Bundesbehörden ihre Beschäftigungsquote von 6 Prozent seit Jahren erfüllen. Die SPD hat mit großen Ankündigungen eine neue Qualität der Behindertenpoli- tik angekündigt. Davon ist heute wenig zu spüren. Für die 7 Millionen behinderter Menschen und ihre Angehörigen hat sich 20 Monate nach dem Regierungswechsel nichts verändert. Der Versuch, mit der Beschäftigungsquote JoJo zu spielen, ist noch keine neue Qualität. Das ist der alte sozialdemokratische Glaube daran, dass durch staatliche Reglementierung menschliche Probleme zu lösen sind. Wir unterstützen eine realistische Quote, die dann aber nicht nur vom Bund und den unionsregierten Län- dern wie Bayern, sondern auch bei den SPD-regierten Ländern und Kommunen durchgesetzt wird. Deshalb ist es verwunderlich, dass die Bundesregierung den Bundes- ländern kaum Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt hat. Herr Riester mogelt sich an einer soliden Abstimmung mit den unionsgeführten Bundesländern vorbei. Offenkundig hat die Bundesregierung Angst vor zuviel Kompetenz. Kritische Begleitung unerwünscht. Eines ist überhaupt nicht nachvollziehbar: Wie wollen Sie die bestehenden Werkstätten für behinderte, neue In- tegrationsfirmen und persönliche Assistenz aus einer Aus- gleichsabgabe finanzieren, bei der Sie davon ausgehen, dass sie durch eine verstärkte Vermittlung sinken wird? Mit weniger Einnahmen mehr Ausgaben zu finanzieren, das ist Voodoo-Finanzierung. Im Interesse unserer gemeinsamen Zielsetzung bitte ich Sie: Streichen Sie den Finanzierungsvorbehalt, den sie im SGB IX vorgesehen haben. Dies ist auch der erklärte Wille aller Fachverbände in der Behindertenintegration. Der Bund hat sich in den letzten 20 Monaten massiv zulasten der Länder und Kommunen finanziell entlastet. Geben Sie einen Teil dieses Geldes in eine Behinderten- politik, die nicht nur schöne Wünsche verkündet, sondern praktisch und effizient hilft. Und gaukeln Sie den Men- schen nicht vor, dass dies zum Nulltarif möglich ist. Wir werden darauf achten, dass neue Einrichtungen, die Sie planen, nicht zulasten der bestehenden und be- währten Werkstätten gehen. Wir wollen kein Ausspielen der einen gegen die anderen bei sinkender Finanzierungs- grundlage und verschärftem Verteilungskonflikt. Wir wollen ein sinnvolles Miteinander! Lassen Sie uns ge- meinsam dafür sorgen, dass beispielsweise Integrations- firmen oder -abteilungen in die bestehenden Werkstätten gelegt werden, sodass eine Vernetzung stattfindet und auch hier Synergieeffekte genutzt werden können. Wir unterstützen nachhaltig das Ziel, 50 000 Schwerst- behinderte auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Ihre Arbeitslosigkeit ist die Folge der allgemeinen Arbeitslo- sigkeit. Für die Einstellungen sind die Arbeitgeber und die Betriebs- und Personalräte zuständig. Hier sollte überlegt werden, ob zuviel Regulierung nicht auch ein Einstel- lungshindernis ist. Es gilt der Grundsatz: „Weniger ist mehr.“ Starten Sie eine wirkliche Beschäftigungsoffensive durch die Nutzung der neuen elektronischen Medien, in- dem Sie die kleinen Personenunternehmen steuerlich stärker fördern. Damit nutzen Sie auch der Integration von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitsplätze entstehen nicht durch staatlichen Zwang; sie entstehen, wenn ein Unternehmen Perspektiven auf dem Markt hat und wenn es unbürokratisch über die Hil- fen bei der Einstellung von Schwerstbehinderten infor- miert wird. Durch die neuen elektronischen Heimarbeitsplätze und die Förderung von Nachbarschaftsbüros können zu- kunftsfähige und produktive Arbeitsplätze auch für Be- hinderte entstehen. Die Chancen der neuen Technologien kann man aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung kaum finden. Neue Qualität der Behindertenpolitik heißt für uns: weg von der Betreuung, hin zu einem selbstbestimmten Leben. Dazu wäre die Bereitstellung eines persönliches Budgets der richtige Weg. Der Behinderte soll nicht Bitt- steller, er soll auf dem Dienstleistungsmarkt auftretender Kunde sein. Wir wollen einen fairen Wettbewerb der Dienstleister für den Menschen. In Großbritannien und in den Niederlanden hat sich dies bewährt. Lasst uns eine parteiübergreifende, europä- ische Bestandsaufnahme einer effizienten und am Men- schen orientierten Behindertenpolitik erarbeiten. Dies wäre eine solide Grundlage und würde den Menschen hel- fen, ohne neue Bürokratien und Reglementierungen zu schaffen. Beseitigen Sie die Nachrangigkeit bei der Eingliede- rungshilfe – dies ist auch der erklärte Wunsch aller Be- hindertenverbände – und legen Sie das vor, was Sie vor der Wahl angekündigt haben: ein Gleichstellungsgesetz mit einem klaren zeitlichen Rahmen. 20Monate nach dem Regierungswechsel ist es Zeit zu handeln. Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Lassen Sie mich ein- leitend festhalten: Uns allen liegt die Verbesserung der Arbeits- und lntegrationschancen behinderter Menschen am Herzen. „Arbeit ist dem Menschen ein Bedürfnis wie Essen und Schlafen“, erkannte schon Wilhelm von Hum- boldt. Oft ist der Arbeitsplatz für behinderte Menschen die entscheidende Basis, von der aus sie sich ihre Integration in die Gesellschaft und damit mehr Lebensqualität erar- beiten. Ich bezweifele jedoch, dass Ihr Gesetzentwurf den behinderten Menschen in diesem Ansinnen nützt. Lassen Sie mich mehrere Punkte in Ihrem Gesetzent- wurf nennen, die das Ziel nicht nur verfehlen, sondern konterkarieren. Erstens. Die Einführung der Integrationsfachdienste wird unseres Erachtens zu einer Verschlechterung der Fi- nanzsituation der Behindertenwerkstätten führen. Wenn der Anteil der Ausgleichsausgabe, der bisher den Behin- dertenwerkstätten zukam, jetzt Integrationsfachdienste und -projekte sowie die Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz finanzieren soll, werden neue Plätze in den Behindertenwerkstätten nicht mehr zu Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10009 (C) (D) (A) (B) schaffen sein. Die Bundesregierung hat ja auch schon er- klärt, es würden nur noch schwerpunktmäßig neue Be- hindertenwerkstätten geschaffen. In der Fläche wird es zur Verwaltung des Status quo kommen. Sie nehmen den Behindertenwerkstätten die erforderlichen Mittel weg, um neue Instrumente zu schaffen. Diese reine Umvertei- lung von Mitteln auf dem Rücken der Schwächsten unse- rer Gesellschaft ist keine innovative Politik. Ich Frage auch: Wie sieht es mit den notwendigen In- vestitionen in die stationäre Behindertenhilfe, in Wohn- und Betreuungsstätten aus? Wie soll das finanziert wer- den? Zu dieser Frage gibt Ihr Gesetzentwurf nur nebulöse Antworten. Ich befürchte, die Behinderten werden wie- dereinmal in die Sozialhilfe verwiesen. Denn wenn sta- tionäre Behindertenhilfe, wenn Wohn- und Betreuungs- stätten nicht mehr durch die Sonderabgabe finanziert werden, müssen die überörtlichen Soziahilfeträger ein- springen. Zweitens. DieAnerkennung von Integrationsunterneh- men wird im neuen § 53 a SchwbG von Quoten abhän- gig gemacht. Der Anteil der Schwerbehinderten muss mindestens 25 Prozent betragen und soll 50 Prozent nicht überschreiten. Die Sollvorschrift von 50 Prozent ist un- sinnig. Alle jetzt bekannten, derzeit in Deutschland exis- tierenden Integrationsunternehmen beschäftigen mehr als 50 Prozent, in der Regel zwischen 55 und 60 Prozent Schwerbehinderte. Die im Gesetz vorgesehene Quotie- rung würde damit Arbeitsplätze für Schwerbehinderte in den existierenden Integrationsfirmen gefährden. Wollen Sie etwa, dass schon bestehende lntegrationsfirmen jetzt Behinderte entlassen müssen? Die 50-Prozent-Deckelung verkennt auch die Tatsa- che, dass nach Branche, Zusammensetzung der Aufträge und Anforderung an die Qualifikation der Mitarbeiter nur ganz verschiedene Beschäftigungsquoten wirtschaftlich tragfähig sind. Diese Fragen werden wir intensiv im Gesetzgebungs- verfahren diskutieren müssen. Drittens. Ihre Absicht, das innerbetriebliche Verhältnis des Arbeitgebers zu seinem schwerbehinderten Arbeit- nehmer gesetzlich zu regeln, halten wir für vollkommen unsinnig und inakzeptabel bürokratisch. Das ganze Kon- strukt der neuen §§ 14 ff. SchwbG, welche die Pflichten des Arbeitgebers und Rechte des Schwerbehinderten fest- schreibt, halten wir für verfehlt. Die in § 14 b SchwbG vorgesehene Integrationsverein- barung ist ein Paradebeispiel für die Neigung der rot-grü- nen Koalition zu möglichst bürokratisch-komplizierten Lösungen. Der Arbeitgeber soll mit der Schwerbehinder- tenvertretung eine verbindliche Integrationsplanung zu Arbeitsplatzgestaltung, Gestaltung des Arbeitsumfeldes, Arbeitszeit und -organisation entwickeln. Dem Arbeits- amt muss dies übermittelt werden. Welches Misstrauen gegenüber freier unternehmerischer Entscheidung spricht aus dieser Konzeption. Meinen Sie nicht, dass jeder Arbeitgeber, der sich über- legt, ob er einen Schwerbehinderten einstellt, nicht genau über diese Fragen nachdenkt und dies dann mit seinem schwerbehinderten Arbeitnehmer bespricht? Aber nein, getreu dem rot-grünen Motto: „Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht“, wird dieses Integrationsvereinba- rungsverfahren vorgeschrieben. Ich sage Ihnen jetzt schon voraus: Leider werden sich viele kleine und mittlere Unternehmer die Frage stellen, ob sie noch einen fünften Schwerbehinderten einstellen, wenn Sie den damit verbundenen bürokratischen Auf- wand nach den §§ 14 b und c SchwbG auslösen. Auch die Konzeption des in § 14 Abs. 4 SchwbG vor- gesehenen Anspruches auf Teilzeitarbeit wird viele Un- ternehmer abschrecken, stellt doch Ihre Formulierung nicht deutlich genug klar, dass dieser Anspruch für den Arbeitgeber zumutbar sein muss und nicht mit unverhält- nismäßigen Anforderungen verbunden sein darf. Eins steht jetzt schon fest: Mit diesen Vorschriften tun Sie den Betroffenen keinen Gefallen. Die Probleme bei der Integration Behinderter bestehen doch nicht in fehlenden Regeln, wie Sie in Ihrem rot-grü- nen Glauben an die Heilsbringung durch Gesetze meinen. Im Gegenteil: Ihr Gesetz wird zeigen: Je mehr sie regeln, desto weniger Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheidet sich der Arbeitsmarkt für Behinderte nicht wesentlich von dem für Nichtbehinderte. Sie quotieren, verwalten und bürokratisieren. Das zieht sich durch alle hier vorliegen- den Anträge. Eine Vorschrift hier, eine Quote dort und eine Kommission oder Vertretung, die alles regelt, muss auch noch geschaffen werden. Es gipfelt in der Forderung an die privaten Fernsehsender, einen bestimmten Prozent- satz von Sendungen mit Untertiteln oder Gebärdendol- metschern zu versehen. Sie sollten einmal in Erwägung ziehen, dass die vielen Vorschriften eben keine Vor-, sondern Nachteile für die Behinderten darstellen. Ich nenne hier nur den Kündi- gungsschutz. Wir wissen ja alle, dass bereits der reguläre Kündigungsschutz ein Einstellungshemmnis insbeson- dere für kleine und mittlere Unternehmen ist. Und Ihr Ge- setzentwurf geht ja von einer Beschäftigungspflicht erst ab 20 Beschäftigten aus. Die kleineren Betriebe lassen Sie außen vor. Dieses Potenzial könnten Sie aber auch in den Dienst der Sache stellen, wenn Sie bereit wären, Verände- rungen am geltenden Recht vorzunehmen. Der besondere Schutz, den unsere behinderten Arbeit- nehmer genießen, verhindert die Einstellung ganz massiv. Weil nämlich jeder Unternehmer immer daran denkt, dass es durchaus zu einer Situation kommen kann, wo es not- wendig wird, das Arbeitsverhältnis wieder zu lösen. Und hier wird es bei einem behinderten Mitarbeiter sehr schwierig. Dieses Problem werden Sie mit keiner Ausgleichsab- gabe der Welt lösen können. Das können Sie nur dann lösen, wenn Sie mit einer anderen Einstellung auf Be- hinderte zugehen. Sie wollen Behinderte grundsätzlich bevormunden und glauben nicht daran, dass auch Behin- derte Menschen sind, die sich eigenständig durchsetzen können und auch wollen. Ich wiederum glaube genau das. Ihre Gesetzgebung ist ein Klotz am Bein der Behinderten, die Sie damit in ihrer Entwicklung nur weiter behindern. Lösen Sie ihre gedanklichen Fesseln und denken Sie positiv. Wenn Sie in Arbeitgebern grundsätzlich schlechte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10010 (C) (D) (A) (B) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10011 (C)(A) Menschen sehen, die Behinderte nur widerwillig einstel-len und dann sowieso am liebsten sofort wieder entlassen wollen und daher mit Gewalt daran gehindert werden müssen, dann werden Sie auch keinerlei Erfolge bei der Bekämpfung der – leider zu hohen – Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter erzielen können. Anlage 6 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitge- teilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgese- hen hat. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/2817 Nr. 2.12 Drucksache 14/2817 Nr. 2.23 Drucksache 14/2952 Nr. 2.20 Drucksache 14/3050 Nr. 2.6 Drucksache 14/3050 Nr. 2.14 Drucksache 14/3050 Nr. 2.17 Drucksache 14/3146 Nr. 2.1 Drucksache 14/3146 Nr. 2.2 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 14/1016 Nr. 1.2 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/2747 Nr. 2.1 Drucksache 14/2747 Nr. 2.2 Drucksache 14/2747 Nr. 2.17 Drucksache 14/2747 Nr. 2.18 Drucksache 14/2747 Nr. 2.20 Drucksache 14/2747 Nr. 2.21 Drucksache 14/2747 Nr. 2.22 Drucksache 14/2747 Nr. 2.23 Drucksache 14/2747 Nr. 2.26 Drucksache 14/2747 Nr. 2.27 Drucksache 14/2747 Nr. 2.45 Drucksache 14/2747 Nr. 2.47 Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b sowie
Zusatzpunkt 5 auf.

a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Frieden braucht Entwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Adelheid
Tröscher, Friedhelm Julius Beucher, Lothar Mark,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller

(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba
– Drucksache 14/3128 –

(f ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte Partnerschaft mit großer Zukunft – Drucksache 14/3396 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag von Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache nach der Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (von der SPD und der PDS sowie von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Zu Be-
ginn dieses Jahrhundert steht die internationale Politik vor
der Aufgabe, der Spaltung zwischen Nord und Süd – und
teilweise auch Ost – sowie zwischen Arm und Reich mit
allen Möglichkeiten entgegenzuwirken.

Die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als 2 US-
Dollar täglich überleben, ein Viertel der Menschheit hat
sogar weniger als 1 US-Dollar täglich zur Verfügung.
Während hier bei uns mancher die Informationsflut durch
neue Medien kaum noch bewältigen kann und entspre-
chende Schwierigkeiten hat, befinden sich in den ärmsten
Ländern gerade einmal 0,3 Prozent aller Internetan-
schlüsse weltweit.

Das globale Armutsproblem hat sich verschärft. Wer
sich heute die Schlagzeilen der Agenturmeldungen an-
sieht, wird feststellen: Es ist ein Schlüsselproblem für die
Nord-Süd-Beziehungen und es ist die Wurzel vieler glo-
baler Risiken und Friedensgefährdungen. Es verstärkt das
Bevölkerungswachstum und verschärft den Migrations-
druck, es erschwert die Verwirklichung der sozialen und
politischen Menschenrechte und erzeugt Verteilungskon-
flikte um Wasser oder landwirtschaftlich nutzbares Land
oder um andere Ressourcen.

Es ist das entwicklungspolitische Grundverständnis
dieser Bundesregierung: Entwicklungspolitik soll dazu
beitragen, dass die Menschen in allen Weltteilen die
Chancen, die sich durch die Globalisierung und das Ende
des politischen Blockdenkens ergeben, zu ihrem Vorteil
nutzen können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir müssen und wir wollen verhindern, dass ganze Re-
gionen und Bevölkerungsgruppen ins Abseits geraten.

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(C)



(D)



(A)



(B)


106. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Kein Teil der Welt kann ohne die anderen Teile sein Über-
leben sichern und Zukunft gestalten. Alle Seiten müssen
Teil einer globalen Verantwortungsgemeinschaft werden
und sich so verhalten, dass das Überleben zukünftiger Ge-
nerationen gesichert wird. An diesem Leitbild nachhalti-
ger Entwicklung richten wir unsere Politik aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Globalisierung beschleunigt unser Leben insge-
samt. Soziale Gerechtigkeit wird in keinem Land dieser
Erde, auch nicht in den Industrieländern, auf Dauer zu
halten sein, wenn wir nicht auch international dafür kämp-
fen. Wir wollen die Globalisierung sozial, ökologisch,
menschlich gestalten helfen. Wir wollen eine sozial ge-
rechte Weltordnungspolitik verwirklichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Bundespräsident Johannes Rau hat das so aus-
gedrückt:

Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang zwi-
schen gerechter Entwicklung und gesichertem Frie-
den auf der Welt. Wir müssen den Ursachen von
Spannungen und Konflikten zu Leibe rücken, bevor
daraus Kriege und Bürgerkriege entstehen.

Aber werden angesichts der Lücke zwischen diesen
Herausforderungen und den Schreckensnachrichten, die
wir jeden Abend auf den Fernsehschirmen zum Beispiel
aus Afrika sehen, viele Menschen denken: Ist das nicht ein
völlig aussichtsloses Unterfangen? Es mehren sich auch
in der internationalen Presse Schlagzeilen wie „Out of
Africa“.

Ich möchte an dieser Stelle Richard Holbrooke zitie-
ren, der versucht hat, zwischen Äthiopien und Eritrea zu
vermitteln. Er sagt:

Wenn Sie so handeln, als wäre Afrika wirklich der
vergessene Kontinent, dann wird er sich schnell
zurückmelden. Wir werden trotzdem hineingezogen,
nur wird der Preis höher sein, als wenn wir frühzei-
tig gehandelt hätten. Afrikas Probleme lassen sich
nicht auf Afrika begrenzen.

Recht hat er.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Was dort passiert, geht uns alle an. Deshalb müssen wir
uns frühzeitig einschalten.

Mit Sierra Leone droht ein weiteres Land tief in Bür-
gerkrieg, Hass und Hoffnungslosigkeit zu versinken. Ich
appelliere an uns alle: Die Vereinten Nationen dürfen vor
Leuten, die sich Rebellen nennen, aber kriminelle Gangs-
ter sind, die Kindern die Hände abhacken und Menschen
terrorisieren, nicht zurückschrecken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Die UN-Truppen sind trotz allem die Hoffnung dieser
Menschen, die bereits vergewaltigt, beraubt, verstümmelt
worden sind. Jetzt erwarten sie voller Angst und Erstar-
rung die nächsten Mordtaten. Lassen wir nicht zu, dass die
Weltgemeinschaft dem Völkermord wie in Ruanda hilf-
und tatenlos zusieht! Das müssen wir gemeinsam verhin-
dern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Denken wir auch an Simbabwe. 20 Jahre hatte
Mugabe Zeit, mit der Unterstützung der internationalen
Gemeinschaft eine echte Landreform zu verwirklichen.
Er hat sie nicht genutzt, sondern Vetternwirtschaft zulas-
ten der Armen bei der Landvergabe betrieben. Jetzt geht
es ihm nicht um eine Landreform, sondern darum, seine
Regierungsmacht mit Terror und Gewalt zu halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die ganze Region – das müssen wir hier sehr deutlich sa-
gen – des südlichen Afrika ist gefordert: Die Gewalt, die
Mugabe anheizt, muss beendet werden. Sie schadet den
Zukunftschancen des ganzen südlichen Afrika, das drin-
gend Arbeit, Investitionen, ja Frieden braucht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.])


Ich nenne ferner Äthiopien und Eritrea. Hier tragen
auch die Industriestaaten Mitverantwortung für einen
Krieg, der – Kriege sind alle absurd – wirklich das Absur-
deste ist, was man sich vorstellen kann. Es ist eine
Schande, dass das Waffenembargo erst so spät beschlos-
sen worden ist. Jetzt muss es aber auch umgesetzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Denn wenn es nach zwölf Monaten weitergeht wie zuvor,
ist die Entwicklung vorprogrammiert.

Ich habe jetzt nur einzelne Situationen herausgegriffen.
Die Ursachen der Kriege und Konflikte sind vielfältig und
kaum auf einen Nenner zu bringen. Neben den sehr un-
terschiedlichen internen Rahmenbedingungen ist aber für
Afrika insgesamt zu erkennen: Die Kolonialzeit hat ihre
Spuren hinterlassen. Willkürliche Grenzziehung und Un-
terdrückung von Ethnien prägen noch heute das Zusam-
menleben in vielen Ländern. Dabei wurden Afrikaner und
Afrikanerinnen häufig überhaupt nicht gefragt.

Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die polari-
sierenden Koordinatensysteme wegbrechen lassen. Damit
haben sich auch Macht erhaltende und oft Diktaturen kon-
servierende Strukturen aufgelöst. Das ist positiv. Aber nun
brechen auch alle zuvor unterdrückten Konflikte wieder
auf.

Ich sage an dieser Stelle: Wir müssen alle dazu beitra-
gen, dass die internationale Verantwortung stärker wahr-
genommen wird. Insbesondere Europa muss sich noch




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
9922


(C)



(D)



(A)



(B)


stärker als bisher engagieren. Aus den bitteren Erfahrun-
gen, die wir gemacht haben, müssen wir Konsequenzen
ziehen. Ich weiß, was ich da sage; dabei denke ich auch
an meine Haltung zu diesen Fragen in früheren Jahren.
Die Möglichkeiten der UN, Friedenstruppen schnell und
in ausreichender Stärke und Ausrüstung in Absprache mit
afrikanischen Ländern zu mobilisieren, um gewalttätige
Auseinandersetzungen frühzeitig zu verhindern, müssen
verstärkt werden, so wie es Kofi Annan und Boutros-
Ghali vorgeschlagen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich weiß, was ich sage, wenn ich im Folgenden anfüge:
Gleichzeitig sollte zum Beispiel bei der Weltbank da-
durch, dass bestimmte Länder Finanzmittel zur Verfü-
gung stellen, ein Fonds geschaffen werden, der dazu die-
nen sollte, den Sicherheitssektor in krisengefährdeten
Ländern frühzeitig zu reformieren,


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

bevor sich Rebellen des Staates bemächtigen oder ganze
Staaten ohne jede Regierung sind. Dann ist es nämlich zu
spät. Man sollte diesen Bereich in den betroffenen Län-
dern rechtzeitig reformieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich fände es zudem schön – Konsequenzen blieben si-
cher nicht aus –, wenn auch im UN-Sicherheitsrat endlich
die Stimme des afrikanischen Kontinents vernehmbar
wäre.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Aber diese Situation überdeckt – das bedrückt uns ja
alle, die wir heute Morgen hier zusammengekommen
sind –, dass es in Afrika auch Erfolge und Hoffnungen
gibt. Diese Hoffnungen müssen wir unterstützen. Staaten
wie zum Beispiel Mali zeigen, dass es möglich ist, Kon-
flikte auch friedlich zu regeln. Länder wie zum Beispiel
Südafrika, Benin, Ghana, Mosambik oder Tansania stim-
men uns trotz all der dort vorhandenen Probleme hoff-
nungsvoll. Hier haben die gemeinsamen Bemühungen mit
Partnerregierungen Früchte getragen.

In unserer Entwicklungszusammenarbeit unterstützen
wir diese hoffnungsvollen Ansätze und vor allen Dingen
die regionale Integration der verschiedenen sich in Afrika
befindenden Regionalorganisationen. Denn wir alle ha-
ben gelernt: Eine regionale Zusammenarbeit schafft Frie-
den und Wohlstand. Dem wollen wir mit unserer Forde-
rung Nachdruck verleihen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Chancen dieses
Kontinents – und auch die vieler Entwicklungsländer in
anderen Kontinenten – werden durch einen anderen
schrecklichen Sachverhalt gefährdet: Jeden Tag stecken
sich weltweit 16 000 Menschen mit Aids an. Diese
Krankheit ist nicht nur eine persönliche Tragödie für die
bisher mehr als 50 Millionen infizierten Menschen. Diese

Krankheit bedeutet mittlerweile auch eine soziale und
wirtschaftliche Katastrophe für die betroffenen Entwick-
lungsländer. Diese Katastrophe ist viel zu lange verdrängt
worden.

Besonders betroffen ist Afrika südlich der Sahara. Dort
leben heute 23 Millionen mit HIV infizierte Menschen.
Allein den afrikanischen Kontinent kostet diese Seuche
1,4 Prozent seines Wirtschaftswachstums. Alle Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens sind davon dramatisch be-
troffen.

Ein Problem, das alle betrifft und solche Auswirkungen
hat, muss von allen gemeinsam angepackt werden. Des-
halb begrüße ich die „Internationale Partnerschaft gegen
Aids in Afrika“. Sie ist ein ermutigendes Beispiel. Sie
bringt alle Beteiligten aus dem privaten und dem öffentli-
chen Sektor international zusammen. Ich möchte an die-
ser Stelle an die deutsche Pharmaindustrie appellieren,
sich bei der Bekämpfung dieser Seuche unter anderem
durch die Bereitstellung bezahlbarer Medikamente oder
durch eine verstärkte Impfstoffforschung zu engagieren.

Vor allen Dingen aber ist bedeutsam – das ist ein ent-
wicklungspolitischer Aspekt ersten Grades; das betone
ich in jedem Land, das ich besuche –: Diesem Thema
muss in den Entwicklungsländern das Tabu genommen
werden. Nur offene Diskussionen, und zwar beginnend an
der Spitze der politisch Verantwortlichen in den betroffe-
nen Ländern, führen zu Verhaltensänderung, Erfolg und
Hoffnung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da, wo dies der Fall ist, zum Beispiel in Uganda, zeigt
sich: Diese Seuche kann eingedämmt und überwunden
werden.

Wir wollen uns engagieren, um Armut und wirtschaft-
liche Stagnation zu überwinden. Die internationale Ge-
meinschaft hat folgendes Ziel – die Bundesregierung be-
kräftigt dies –: Bis zum Jahre 2015 soll der Anteil der in
absoluter Armut lebenden Menschen – das sind heute
1,3 Milliarden Menschen – halbiert werden. Das ist ein
hoch gestecktes Ziel. Wir wollen dazu beitragen und alles
dafür tun, damit wir dieses Ziel erreichen.

Wir haben in jüngster Zeit, vor allem seit dem Regie-
rungswechsel, bedeutende Initiativen gestartet und umge-
setzt. Ich möchte an dieser Stelle auf die Entschuldungs-
initiative hinweisen, die für die ärmsten und am höchsten
verschuldeten Entwicklungsländer eine Entschuldung in
einem Umfang von 70 Milliarden US-Dollar bewirkt –
dies haben wir bei Weltbank und IWF finanziell abgesi-
chert – und die es in Verbindung mit der Armutsbe-
kämpfung in den betroffenen Ländern ermöglicht, dass
die Menschen, vor allem Kinder und Frauen, Bildung er-
halten, dass ein Gesundheitssektor aufgebaut wird, dass
insgesamt dazu beigetragen wird, dass arme Menschen
eine Chance haben, ihre Zukunft selbst zu gestalten.

Der Bundeskanzler hat anlässlich des EU-Afrika-Gip-
fels in Kairo zusätzlich für die ärmsten, am höchsten ver-
schuldeten Länder den Erlass aller Handelsschulden




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

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(C)



(D)



(A)



(B)


angekündigt. Es ist ein großartiger Erfolg der Initiative
des Bundeskanzlers,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


dass sich die anderen bilateraler Gläubiger diesem 100-
prozentigen Erlass der Handelsschulden gegenüber die-
sen Ländern angeschlossen haben.

Wir sehen in all diesen Initiativen eine Chance für die
Partnerländer, die Partizipation der Menschen zu fördern.
Dabei werden die Nichtregierungsorganisationen und
Kirchen in die Kooperation und den Dialog einbezogen.

Jetzt ist die Entschuldung von Uganda, Mosambik, Bo-
livien, Mauretanien und Tansania beschlossen worden;
das entspricht einer Entlastung von insgesamt 14 Milliar-
den US-Dollar. Bis Ende 2000 rechnen wir mit Ent-
schuldungsbeschlüssen für weitere 15 Länder. Damit wird
für Millionen von Menschen die Bürde der Verschuldung
gelockert, die bisher die Bemühungen ihrer Länder um
Entwicklung und Frieden behindert hat.

Wenn die Partnerländer ihre eigenen Strategien ent-
wickeln – und das sollen sie; das ist ja das Ziel der Ar-
mutsbekämpfung und der Entschuldung –, wie sie die Ar-
mut in ihren Ländern bekämpfen können, wie sie in Bil-
dung und Gesundheit investieren wollen, und zwar nach
dem Prinzip einer verantwortlichen Regierungsführung,
wenn sie also beispielsweise Sektorprogramme im Be-
reich Bildung und Gesundheit vorlegen, dann muss sich
auch das Verhalten der Geber verändern. Länder wie Tan-
sania rechnen uns vor, dass sie, wenn sie mit jedem Geber
einzeln reden, etwa 2 000 Koordinierungsgespräche im
Jahr führen müssen. Wir müssen dazu beitragen, dass Ko-
ordination und Arbeitsteilung für alle verwirklicht wird.
Das heißt auch, dass sich die Geber besser absprechen
müssen, damit nicht jedes einzelne Land alles machen
muss. Wir sollten gemeinsam Sektorprogramme finan-
zieren, wenn sie haushaltspolitisch transparent und kon-
trollierbar sind und wenn die Ansätze sinnvoll sind und
vorher mit der internationalen Gemeinschaft abgestimmt
worden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Geld spielt in der
Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle; das ist
klar. Aber das ist nicht alles. Fast noch wichtiger ist es,
den Einsatz der Mittel effektiver zu gestalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies realisieren wir durch unsere Schwerpunktsetzung,
nämlich indem wir die Zahl der Kooperationsländer redu-
zieren. Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit etwa 128 Ko-
operationsländer vorgefunden. Aber das Gießkannenprin-
zip nutzt doch weder den Entwicklungsländern noch ist es
wirklich sinnvoll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Zeiten müssen vorbei sein. Durch eine stärkere
Schwerpunktsetzung und eine bessere Verzahnung unse-

rer Arbeit können wir die Wirksamkeit der Mittel zuguns-
ten der Entwicklungsländer erhöhen.

Wir haben eine Liste mit 70 Kooperationsländern vor-
gelegt. Bei deren Erstellung haben wir uns daran orien-
tiert, ob die Zusammenarbeit im Hinblick auf die wirt-
schaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen
Gestaltungsziele erforderlich ist, welche Möglichkeiten
zu einer Verbesserung durch Entwicklungszusammenar-
beit dadurch eröffnet werden, wie die Leistungen der an-
deren bilateralen und multilateralen Partnerländer sind
und wie die internen Rahmenbedingungen im Partnerland
aussehen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich be-
tonen, dass es unser Ziel ist, bei jedem Aspekt der Ent-
wicklungszusammenarbeit Demokratie und Schutz der
Menschenrechte zu verwirklichen. Wenn wir mit Partner-
ländern zusammenarbeiten, dann tun wir dies gerade aus
diesem Grund. Wir helfen denen, die Staatsstrukturen –
ein Steuer-, ein Rechts- und ein Gesundheitssystem – auf-
bauen wollen. Wir stärken die Zivilgesellschaft. Aber wir
tragen auch dazu bei, dass soziale und wirtschaftliche
Menschenrechte verwirklicht werden. In diesem Punkt
bleibt in zahlreichen Entwicklungsländern noch viel zu
tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds ha-
ben wir in den letzten Monaten wichtige Reformschritte
einleiten können. Letztlich ist es gelungen, wichtige Prin-
zipien einer sozialen Marktwirtschaft in den internationa-
len Beziehungen zu verankern.

Eine Kommission des US-Kongresses möchte in die-
sem Punkt anscheinend das Rad der Geschichte zurück-
drehen. Folgte man der Mehrheitsempfehlung des so ge-
nannten Meltzer-Berichtes, würde die Vorbeugung und
Bewältigung von Finanz- und Entwicklungskrisen im
Kern den viel beschworenen freien Marktkräften überlas-
sen werden. In der Folge sollte die Weltbank ihre Funk-
tion als Entwicklungsbank verlieren, sich nur noch als
Entwicklungsagentur auf Afrika konzentrieren müssen
und keine Kredite mehr an Schwellenländer geben kön-
nen.

Meltzer übersieht dabei, dass auch in den Schwellen-
ländern noch immer Hunderte Millionen armer Men-
schen und damit insgesamt ein Drittel aller Armen welt-
weit leben. Der freie Markt schafft aber gerade nicht aus
sich selbst heraus die notwendigen demokratischen Insti-
tutionen und korruptionsfreien Verwaltungen in den Part-
nerländern. Uns geht es darum, dass die Weltbank auch
bei den Schwellenländern das Mandat und die finanziel-
len Mittel behält, um Armutsbekämpfung in diesen Län-
dern voranzubringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur ein sehr großes Land kann sich angesichts der
Globalisierung vielleicht schwache Institutionen leisten.
Die große Mehrheit der Länder und der Menschen in
der Welt braucht dagegen bei der Globalisierung starke




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
9924


(C)



(D)



(A)



(B)


internationale Institutionen. Dies ist auch nötig, wenn wir
den Anspruch nicht aufgeben wollen, die Globalisierung
sozial, gerecht und ökologisch nachhaltig zu gestalten.

Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die die-
sem Ziel entgegenstehenden Vorschläge des Meltzer-Be-
richtes nicht Realität werden. Diese würden zulasten der
Armen sowie zu Lasten des Aufbaus demokratischer
staatlicher Institutionen gehen und daher das weltweite
Konfliktpotenzial bedrohlich verschärfen.

Der Meltzer-Bericht bleibt auch in einem anderen Be-
reich weit hinter den Entwicklungen und Überzeugungen
zurück, die wir in der Bundesregierung bereits umsetzen.
Sowohl in vielen Unternehmen der privaten Wirtschaft als
auch in der Entwicklungspolitik gibt es die gemeinsame
Überzeugung, dass Probleme, die weltweit anzupacken
sind, nur gemeinsam gelöst werden können.

Ersichtlich ist dies für den Sektor der Wasserversor-
gung. Bereits heute leben viele Menschen in der Welt
ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Im Jahr 2025
werden es weit mehr als 1 Milliarde Menschen sein.
Kriege um Wasser sind vorprogrammiert, wenn nichts
geschieht. Das jährliche Investitionsvolumen in diesem
Bereich würde aber pro Jahr 180 Milliarden US-Dollar
ausmachen. Damit ist klar, dass das niemand aus der öf-
fentlichen Entwicklungszusammenarbeit allein finanzie-
ren kann. Daher arbeiten wir im Rahmen der Entwick-
lungspartnerschaft mit der Wirtschaft zusammen. Bereits
heute kooperieren wir mit 100 deutschen Unternehmen.
Es gibt auf den Feldern des Klimaschutzes und der Solar-
energie riesige Chancen. Wir freuen uns, dass es möglich
ist, diese Chancen zusammen mit der deutschen Wirt-
schaft zu verwirklichen, und dass es in diesem Bereich ge-
meinsame Überzeugungen gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht uns darum, dazu beizutragen, die Chancen des
Welthandels für die ärmsten Entwicklungsländer zu nut-
zen. Die Bundesregierung setzt sich deshalb dafür ein, die
Märkte der Industrieländer gerade für die Exporte der ar-
men Länder zu öffnen. Allein die stärkere Liberalisie-
rung derMärkte für Agrarprodukte würde den Entwick-
lungsländern zusätzliche Einnahmen von rund 40Milliar-
den US-Dollar pro Jahr einbringen.

Zur sozialen Gestaltung gehört auch, dass sich die
Bundesregierung darum bemüht, den Kernarbeitsnormen
der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, weltweit
Geltung zu verschaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir setzen uns für die Bekämpfung von Zwangsarbeit so-
wie die Verhinderung von ausbeuterischer Kinderarbeit
ein und sorgen dafür, dass freie Gewerkschaften überall in
der Welt diskriminisierungsfrei arbeiten können. Neu ist,
dass wir diese Kernarbeitsnormen als wichtiges Element
unseres entwicklungspolitischen Kriteriums „sozial ver-
antwortliche Marktwirtschaft“ eingeführt haben; denn

diese Prinzipien gehören überall in der Welt zu einer so-
zial verantwortlichen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Es ist aber klar, dass kein Entwicklungsland akzeptie-
ren wird, dass diese Regeln in der WTO verankert werden,
solange die Regeln der WTO immer noch als letztlich ein-
seitig zugunsten der Industrieländer angelegt verstanden
werden. Deshalb werden wir in diesem Bereich einen
wichtigen Kompromiss zwischen allen Beteiligten veran-
kern müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Signal
für eine sich verändernde Welthandelsordnung zugunsten
der Entwicklungsländer ist das Abkommen der Europä-
ischen Union mit den AKP-Staaten. Unser Ministerium
hat die entsprechenden Verhandlungen, vor allen Dingen
im Bereich des Handels, federführend geleitet. Ich freue
mich, dass ein Abkommen entstanden ist, das unter den
gegebenen Bedingungen das Optimum für die Entwick-
lungsländer erreichen konnte. Es steht mit den Regelun-
gen der WTO in Übereinstimmung und ist gleichzeitig
entwicklungspolitisch die beste Lösung. Selbst nach 2008
kann es noch lange Übergangsfristen geben, in denen sich
die Märkte der afrikanisch-karibisch-pazifischen Staaten
gründlich auf das an die Region angepasste Freihandels-
abkommen vorbereiten können.

Die Verhandlungen waren schwierig. Aber sie haben
gezeigt, dass Europa und die Entwicklungsländer ein zeit-
gemäßes Fundament für eine Wirtschaftszusammenarbeit
schaffen können. Ich bin froh und hoffe, dass es möglich
sein wird, dass viele Länder dieses Abkommen in Suva
oder an anderer Stelle Anfang Juni verabschieden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung
hat sich bei den Beratungen in Brüssel für die Einbezie-
hung von Kuba in das Abkommen der Europäischen
Union mit den afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern
ausgesprochen. Auch wenn Kuba seinen Antrag auf Mit-
gliedschaft in diesem Abkommen zunächst zurückgezo-
gen hat und bei der Unterschrift unter das Abkommen
nicht dabei sein wird, sollte die Perspektive der Mitglied-
schaft in diesem Abkommen nicht aufgegeben werden.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Schon als ich Europaabgeordnete und zuständig für

Mittelamerika war, war es meine feste Überzeugung, dass
das Prinzip der regionalen Kooperation friedens- und
wohlstandsfördernd ist. Genau diesen Integrationsansatz
in Bezug auf regionale Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men sieht das neue Abkommen zwischen der EU und den
afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern vor.

Diese Grundhaltung leitet auch unser Entwicklungs-
programm mit Kuba, wohin ich in den nächsten Tagen rei-
sen werde. Bei diesem Entwicklungsprogramm geht es
um die Bekämpfung der Wüstenbildung und darum, dass
die arme Bevölkerung eine Chance erhält, die landwirt-
schaftlichen Potenziale besser nutzen zu können. Ferner
geht es darum, die Kooperation in der Region Mittelame-
rika zu fördern.




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

9925


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir setzen auf einen Wandel durch Zusammenarbeit.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Diejenigen
von der Opposition, die sich zu diesem Bereich äußern,
müssen einfach zur Kenntnis nehmen, was in vielen Inter-
views gesagt wird. Selbst BDI-Chef Henkel, der sicher-
lich nicht mein enger politischer Freund ist, hat heute ge-
sagt, Selbstbeschränkung gegenüber Kuba sei unsinnig.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Ich sage Ihnen: Das war eigentlich auch der alten Bun-
desregierung bekannt. Aber sie hat sich, wie in vielen an-
deren Fragen auch, nicht daran gewagt. Wir als Bundes-
regierung übernehmen unsere Verantwortung;


(Dr. Peter Struck [SPD]: Wir sind mutig!)

wir wollen in unserer Entwicklungspartnerschaft Wandel
durch Zusammenarbeit bewirken.

Sie haben in vielen Bereichen feststellen können, dass
wir versuchen, Frieden durch Partnerschaft und Ent-
wicklung zu erreichen. Wir versuchen gleichzeitig im en-
geren Sinne unserer entwicklungspolitischen Arbeit,
Krisenindikatoren einzubauen, damit Konflikte frühzeitig
erkennbar werden. Wir verwirklichen den Zivilen Frie-
densdienst. Wir arbeiten im Bundessicherheitsrat im Sin-
ne einer restriktiven Waffen- und Rüstungsexportpolitik
und wir wollen vor allen Dingen dazu beitragen, dass die
Anhäufung von Kleinwaffen in der Welt endlich beendet
wird.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Diese Waffen, die oft ursprünglich aus Europa kommen,
befördern aufgrund ihrer leichten Handhabbarkeit den
Einsatz von Kindersoldaten, gegen den wir auf allen Ebe-
nen eintreten.
Wir wollen mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa
ebenso wie in der Region des Kaukasus einen Beitrag zur
Völkerverständigung und zum Frieden leisten.

Sie sehen, dass die Aufgaben, die vor uns liegen, um-
fassend und umfangreich sind. Sie haben mit dem Kern
unserer politischen Arbeit zu tun, um den es augenblick-
lich in allen Bereichen geht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich noch sagen: Alles, was wir tun, muss sich daran ori-
entieren, was wir für die Kinder, die nach uns leben wer-
den, erreichen können. Sie sollen lernen können, statt zur
Kinderarbeit gepresst oder als Kindersoldaten miss-
braucht zu werden. Sie sollen Hoffnung und Chancen ha-
ben. Noch immer sterben weltweit 11 Millionen Kinder
vor dem 5. Lebensjahr.

Mancher von Ihnen war dabei, wenn ich in afrikani-
schen oder anderen Ländern war und Schulen eröffnet
habe, die mit deutscher Unterstützung gebaut wurden.
Wenn ich den Kindern in die Augen sehe, muss ich an et-
was denken: Als ich zur Schule gegangen bin, waren die
Schulen bei uns noch zerstört. Als ich in die Schule ge-
gangen bin, waren wir auf internationale Solidarität ange-
wiesen. Ich bin stolz darauf und freue mich, dass unser
Land, das selbst internationale Solidarität empfangen hat,
heute einen Beitrag dazu leisten kann, dass Menschen in

anderen Regionen der Welt, dass die Kinder dieser Welt
von uns Solidarität empfangen können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich habe mit Johannes Rau, dem Bundespräsidenten,
der in diesen Fragen sehr engagiert ist, begonnen und
möchte mit ihm abschließen. Er hat gesagt:

Die nächste Generation wird uns daran messen, wie
weit wir der wichtigsten Aufgabe ... gerecht gewor-
den sind: Weltweit eine Kultur des Friedens und der
Gerechtigkeit zu schaffen!

Wir sind entschlossen, unsere Verantwortung wahrzuneh-
men.

Ich bedanke mich herzlich.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600100
Ich erteile dem Kolle-
gen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1410600200
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungser-
klärung sollte den Titel „Frieden braucht Entwicklung“
haben. In diesem Zusammenhang kann man nur feststel-
len: Frieden braucht auch Solidarität, aber Solidarität
verweigert diese Bundesregierung den armen Menschen,
den Benachteiligten auf dieser Erde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? – Gernot Erler [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass der Bun-
deskanzler heute Morgen hier ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Wir uns auch!)


Aber der Bundeskanzler ist für die Erfüllung der auf
dem Kölner G7-Gipfel beschlossenen Verpflichtung ver-
antwortlich, die öffentlichen Entwicklungshilfemittel
Deutschlands zu steigern. Das Gegenteil ist der Fall. Die
Mittel werden in der mittelfristigen Finanzplanung um
rund 1 Milliarde DM gekürzt.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Der Bundeskanzler hat übrigens in die Debatte einge-
führt, dass es, was Fachkräfte betrifft, eine stärkere inter-
nationale Kooperation geben sollte. Gleichzeitig aber
kürzt die Regierung – Inder sind ja im Moment stark im
Gespräch – die Anzahl der Stipendienplätze für die Zu-
sammenarbeit mit indischen ingenieurwissenschaftlichen




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
9926


(C)



(D)



(A)



(B)


Instituten. Dies betrifft also gerade die Leute, mit denen
wir in Wissenschaft und Wirtschaft stärker zusammenar-
beiten wollen. Auch hier gibt es also ein Auseinander-
klaffen von Anspruch und Wirklichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Eins hat mich dann doch ein bisschen gewundert, Frau
Ministerin. Sie haben viel über die Weltbank und die in-
ternationalen Finanzorganisationen gesprochen – alles in
Ordnung; darüber müssen wir auch viel reden –, aber über
die deutschen Durchführungsorganisationen, über die
vielen, die sich in Deutschland für die Entwicklungspoli-
tik engagieren, haben Sie kein Wort verloren – kein Wort
über die Nichtregierungsorganisationen, kein Wort über
die Kirchen, kein Wort über die politischen Stiftungen. Es
ist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass über diese
Dinge überhaupt nicht gesprochen worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sprechen mit ihnen, aber nicht unbedingt über sie!)


Man will nämlich durch die so genannte Internationali-
sierung der Argumentation verschleiern, dass man den
deutschen Durchführungsorganisationen, den staatlichen
und nichtstaatlichen, nicht die ausreichenden Mittel zur
Verfügung stellt, die für eine internationale Solidarität
notwendig wären. Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Nun, Frau Ministerin, haben Sie darauf hingewiesen,
dass Sie die Zahl der Kooperationsländer verringern
wollen. Möglicherweise – das werfe ich Ihnen gar nicht
vor – sind Sie nicht über alle Details in Ihrem Hause in-
formiert, aber klar ist: Wenn Sie sich einmal die Mühe
gemacht hätten, sich die Rahmenplanung, also das opera-
tive Geschäft Ihres Ministeriums der letzten Jahre anzu-
schauen, dann hätten Sie festgestellt, dass wir nie mehr als
etwa 68 oder 70 oder 72 Länder in dieser Rahmenplanung
hatten, also das, was Sie uns jetzt als großen Erfolg ver-
kaufen wollen.

Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wich-
tiger ist die Katalogisierung, die Klassifizierung, die Sie
vornehmen. Die ist außenpolitisch schädlich, und sie ist
darüber hinaus noch amateurhaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie ist nämlich rein willkürlich. Oder wie können Sie je-
mandem erklären, dass Georgien Schwerpunktland ist,
während Aserbaidschan und Armenien es nicht sind?
Diese Klassifizierung ist doch widersprüchlich.

Da erklären Sie hier große Dinge zu Nigeria, plädieren
dafür, dass ein wichtiges afrikanisches Land möglicher-
weise Mitglied der Weltsicherheitsrates wird, aber Nige-
ria, wo der Außenminister bei seinem Besuch einen
großen Kooperationsmechanismus angekündigt hat,
taucht in Ihrer Liste unter 1 und 2, also unter den Schwer-
punktländern, gar nicht auf.

Noch grotesker wird es bei Simbabwe.Wir haben be-
reits am 29. Oktober des letzten Jahres die Bundesregie-
rung gedrängt, dass sie entschieden gegen das Mugabe-
Regime vorgeht. Nichts haben Sie getan, sondern erst
jetzt im April, da es in Simbabwe wirklich brennt, haben
Sie endlich auf dem Afrikaforum der deutschen Wirt-
schaft politisch die deutlichen Worte gefunden, die auch
in Ordnung sind, sowohl was den Bundeskanzler als auch
was Sie, Frau Ministerin, anbetrifft. Das war in Ordnung,
aber vielleicht hätten Sie schon vor einem halben
Jahr deutlich Ihre Initiativen starten können, um Herrn
Mugabe in seinen Aktionen zu bremsen.

Jetzt kommt aber wieder ein kritischer Punkt: Sim-
babwe, jahrzehntelang ein Schwerpunktland deutscher
Zusammenarbeit, taucht ebenfalls unter den Schwer-
punktländern in Ihren Kategorien überhaupt nicht auf.
Wie müssen das eigentlich die Menschen in Simbabwe
verstehen? Wie muss das eigentlich die Opposition in
Simbabwe verstehen? Wir müssen eine Politik machen,
die sich gegen Mugabe richtet, aber nicht gegen die Be-
völkerung in Simbabwe, und da setzen Sie mit Ihrer Klas-
sifizierung das falsche Zeichen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Es ist nur Nörgelei! – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren doch Ihre Freunde!)


Es gibt ohnehin keine klaren, erkennbaren Kriterien.
Dass bei Kuba gewisse alte Reminiszenzen wach werden –
gut, das ist Ihre Geschichte.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, Menschenskind, Sie sind so borniert, dermaßen borniert!)


Damit habe ich persönlich keine Probleme. Wenn Herr
Henkel dafür plädiert, frage ich: Wer hindert die deutsche
Wirtschaft daran, wenn sie das für richtig hält, sich in
Kuba wie auch in anderen totalitär regierten Ländern
wirtschaftlich zu engagieren? Das ist deren Entscheidung.
Es geht aber darum, dass die Bundesregierung plant, eine
offizielle staatliche Zusammenarbeit mit Kuba aufzuneh-
men,


(Zuruf von der PDS: Ist doch vernünftig!)

und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kriterien:
marktwirtschaftliche Öffnung, Respektierung des Rechts,
Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Ent-
scheidungsprozessen. Nichts dergleichen ist in Kuba er-
kennbar. Nein, die Bundesregierung erklärt im zuständi-
gen Fachausschuss ausdrücklich, die Menschenrechtssi-
tuation in Kuba habe sich in den letzten Monaten
verschlechtert. Was soll das eigentlich? Sie sagen uns im-
mer, Ihre Kriterien seien die Voraussetzungen für die Zu-
sammenarbeit mit einem Land. Wenn die Vorausset-
zungen aber nicht erfüllt sind, dann können Sie doch mit
einem solchen Land keine staatliche Entwicklungszusam-
menarbeit aufnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Stärken Sie die Kräfte der so genannten Bürgergesell-

schaft, der Zivilgesellschaft! Stärken Sie die Kirchen!
Stärken Sie die Nichtregierungsorganisationen in Kuba,




Klaus-Jürgen Hedrich

9927


(C)



(D)



(A)



(B)


die darauf hinwirken können, dass sich eines Tages auch
dieses Land auf den Weg zur Demokratie macht!

In der Klassifizierung ist nicht erkennbar, nach wel-
chen Kriterien sie vorgegangen sind. Nehmen wir ein
Land wie Paraguay. Viele wissen gar nicht genau, wo es
liegt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen ziemlich genau, wo es liegt! Die CDU ist in Paraguay so verbreitet wie nirgendwo anders!)


– Immer mit der Ruhe, Sie können gleich ein paar Be-
merkungen dazu machen.

Nachdem Paraguay den Weg der Demokratie gegangen
ist, haben wir uns ganz bewusst – übrigens einvernehm-
lich im zuständigen Fachausschuss – dafür entschieden,
die Zusammenarbeit mit Paraguay aufzunehmen. Jetzt
taucht Paraguay in der Gesamtliste überhaupt nicht mehr
auf. Aber die Bundesregierung verweigert die Auskunft
darüber, warum das so ist. Man wird doch wohl nachfra-
gen dürfen, warum bestimmte Länder in der Liste stehen
und bestimmte Länder nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Alles provinzielle Nörgelei!)


Die Ministerin hat lang und breit auf die Zusammen-
arbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des
Pazifik Bezug genommen. Sie hat im Vorfeld dieser Ver-
handlungen erklärt, für die Bundesregierung sei es klar,
dass das Prinzip der guten Regierungsführung – oder auf
Neuhochdeutsch: Good Governance – unverzichtbar sei.
Dieses Prinzip taucht aber im Vertragswerk gar nicht auf.
Auf die konkrete Frage, warum das so ist, bekommen wir
die Antwort – übrigens auch vom zuständigen EU-Kom-
missar, Herrn Poul Nielson in Brüssel –: Die afrikani-
schen Länder haben damit Probleme, weil der Eindruck
erweckt werden könnte, man würde Bedingungen, also
Konditionalität für die Zusammenarbeit zugrunde legen.
Genau das ist aber das, worüber wir uns im Parlament
immer einig waren: Wenn in einem Land die Rahmenbe-
dingungen nicht stimmen, dann ist eine umfangreiche Zu-
sammenarbeit nicht möglich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dies nicht in ein Vertragswerk zu schreiben, muss Mugabe
und andere ermutigen, weil sie damit rechnen können,
dass es die Europäer nicht so ernst nehmen. Damit wer-
den völlig falsche Zeichen gesetzt.

Ein Letztes, was Sie zu Recht angesprochen haben,
Frau Ministerin, ist die Problematik der sich ständig wei-
ter verbreitenden Krankheit Aids. Es ist leider nicht das
einzige Problem, aber ein sehr ernst zu nehmendes. Es ist
übrigens – wir sollten uns vor einer gewissen Arroganz
hüten – inzwischen nicht mehr nur ein Problem Afrikas.
Uns werden dramatische Zahlen aus Südostasien, gerade
aus dem indischen Subkontinent, berichtet. Wir hören
dramatische Zahlen auch aus Osteuropa. Es ist richtig,
dass Sie sich um dieses Problem kümmern wollen. Ihre
Haushaltszahlen besagen aber wieder genau das Gegen-
teil. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Sie verkünden
das eine und tun nicht das, was Sie sagen. Das ist schäd-

lich für die Menschen in unseren Partnerländern der Drit-
ten Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Diese These ist falsch!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600300
Ich erteile dem Kolle-
gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410600400

Herr Kollege Hedrich, aus Zeiten, in denen wir noch in
der Opposition waren, habe ich entwicklungspolitische
Debatten sehr gut in Erinnerung. Ich kann mich nicht da-
ran erinnern, dass damals vonseiten der Opposition über
ein Gebiet, das so sensibel ist, in einer derart konfrontalen
Art und Weise diskutiert worden ist. Wir sollten auf die-
sem Gebiet all unsere Kräfte bündeln, um die Politik ge-
meinsam voranzutreiben,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


aber hier nicht in kleinkarierter Weise aufrechnen, wie Sie
es getan haben. Dies kann ich jedenfalls nicht nachvoll-
ziehen.

Die internationale Solidarität und besonders die So-
lidarität mit den armen Ländern war und ist immer eine
Wurzel des Engagements der Grünen. Ohne die zahllosen
Menschen in den NGOs, in den kirchlichen Gruppen, in
den Dritte-Welt-Initiativen, deren Arbeit von unschätzba-
rem Wert war und ist, gäbe es den alten – auch grünen –
programmatischen Satz „global denken, lokal handeln“
eigentlich nicht, nach dem wir heute unsere Entwick-
lungspolitik mehr und mehr ausrichten. Keines der globa-
len Zukunftsprobleme wird ohne internationale Zusam-
menarbeit zu bewältigen sein.

Noch sind wir – darüber besteht wohl Einigkeit – von
der Umsetzung international akzeptierter Ziele weit ent-
fernt, die in allererster Linie folgende sind: die Armut ent-
scheidend zu senken, die Grundvoraussetzungen in den
Bereichen Bildung und Gesundheit zu schaffen und – das
ist mir besonders wichtig – nachhaltiges Wachstum zu si-
chern, ohne die globalen Umweltressourcen zu ruinieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn wir in unserem Land die regenerativen Ener-
gien – Sonne, Wind und Wasser – in unvergleichlicher
Weise fördern, dann ist das für uns gut. Aber eine solche
Förderung wirkt sich noch viel segensreicher auf die Ent-
wicklungsländer aus, weil die Nutzung dieser regenerati-
ven Energien und die Anwendung daran angepasster
Techniken dort Motor für eine ökonomische Entwicklung
sein können und die globalen Umweltressourcen bewah-
ren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Entwicklungspolitik leistet aufgrund ihrer
langjährigen Erfahrung mit anderen Kulturen, Gesell-
schaften und politischen Systemen einen unerlässlichen
Beitrag zu einer ökologisch und sozial ausgeglicheneren




Klaus-Jürgen Hedrich
9928


(C)



(D)



(A)



(B)


Entwicklung in den Ländern, mit denen wir zusammenar-
beiten.

Wo müssen wir weiterarbeiten? Auf welche Bereiche
müssen wir unsere Arbeit noch stärker fokussieren? Wir
müssen die Verschuldung der Entwicklungsländer noch
sehr viel stärker senken. Der Bundeskanzler hat in Köln
und in Kairo in diesem Punkt mit Entschuldungsinitiati-
ven, die es in diesem Umfang schon lange nicht mehr ge-
geben hat, erfolgreich Zeichen gesetzt. Wir ermutigen ihn,
auf diesem Weg weiterzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Taten müssen folgen!)


Wir müssen begreifen, dass Umweltprobleme nicht an
den Grenzen Halt machen. Die Vereinbarung internatio-
naler Umweltabkommen ist ohne Alternative, wie bei-
spielsweise in den Bereichen Klimaveränderung, Erhalt
der biologischen Vielfalt und Kampf gegen das Vordrin-
gen der Wüsten. Das alles sind Beispiele für Aufgaben,
die vor uns liegen. In diesen Bereichen sichert Umwelt-
politik Räume für Menschen, und zwar für ihre unmittel-
bare Existenz. Dadurch hat sie dort noch eine ganz andere
Brisanz als bei uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Umweltabkommen müssen mit den Entwicklungs-
ländern umgesetzt werden. Die Lösung von Umweltpro-
blemen, ohne beispielsweise China und Indien ins Boot zu
holen, ist schlechterdings unmöglich. Wer diese Länder
gewinnen möchte, muss allerdings auch im eigenen Land
beispielhaft handeln. Die Regierungskoalition geht diesen
Weg.

Wir brauchen aber auch ein verbessertes Handels-
system mit sozialen und ökologischen Normen, die
auch den Entwicklungsländern mehr Chancen zur Teil-
nahme bieten. Entwicklungsländer müssen – darauf hat
die Ministerin hingewiesen – etwa im Bereich der Land-
wirtschaft Mehreinnahmen erzielen können. Wir müssen
Wege finden, die Erkenntnisse der modernen Medizin
auch für die nutzbar zu machen, die sie heute noch nicht
bezahlen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Bekämpfung von Aids, Malaria und Seuchen ist –
auch darüber besteht Einigkeit – eine Aufgabe, die wir in-
tensivieren müssen. Die Bundesregierung wird weitere
internationale Initiativen ergreifen, so wie sie es bereits
getan hat.

Man braucht zur Arbeit an diesen zentralen Zukunfts-
fragen einen langen Atem. Die grüne Fraktion, die grüne
Ministerin, unsere Parlamentarische Staatssekretärin
Uschi Eid und die Bundesregierung insgesamt haben ihn.
Wir wünschen uns an diesem Punkt das gleiche nicht
nachlassende Engagement.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600500
Kollege Schlauch, es
hätte eine Zwischenfrage gegeben, aber deren Beantwor-
tung ist nun nicht mehr möglich.

Ich erteile dem Kollegen Joachim Günther, F.D.P.-
Fraktion, das Wort.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1410600600
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlauch,
auch Ihnen ist bekannt, dass die Ministerin noch nicht
Mitglied der Grünen ist; andernfalls haben wir etwas ver-
passt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie falsch gehört!)


„Frieden braucht Entwicklung“, so lautet das Thema
unserer heutigen Debatte. Ich glaube, diesem Thema kön-
nen wir alle zustimmen. Wer dieses Ziel erreichen will,
der muss dafür Voraussetzungen schaffen. Aus dieser
Sicht habe ich in einigen Unterlagen nachgeschaut. Frau
Ministerin, ich habe bewundert, mit welchem Elan Sie in
diese Legislaturperiode hineingegangen sind und welche
Zielstellungen Sie sich für diesen Abschnitt vorgenom-
men haben. Im Koalitionsvertrag, der vor eineinhalb Jah-
ren von Rot-Grün geschlossen worden ist, steht in der Ru-
brik „Entwicklungspolitik“ wörtlich:

Um dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel
näher zu kommen, wird die Koalition den Abwärt-
strend des Entwicklungshaushaltes umkehren und
vor allem die Verpflichtungsermächtigungen konti-
nuierlich und maßvoll erhöhen.

Das ist aus heutiger Sicht reine Satire.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf: Realsatire!)

Auch die Ankündigung im Koalitionsvertrag, man

wolle Hermes-Bürgschaften zukünftig nach ökologi-
schen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichts-
punkten gewähren, ist eine Art Zynismus. Man möge mir
bitte erklären, wie Hermes-Bürgschaften für die Ausrüs-
tung von Kernkraftwerken mit rot-grünem Ökologiever-
ständnis in Einklang gebracht werden können oder was
die Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudamms in
China, der die Zwangsumsiedlung von Hunderttausenden
von Menschen zur Folge hat, mit sozialen und entwick-
lungsverträglichen Kriterien zu tun hat.


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist unter einer CDU/CSU-F.D.P.-Regierung gebaut worden!)


– Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin ja dafür, dass
solche Atomkraftwerke und solche Projekte, die techni-
schen Fortschritt schaffen, auch in Zukunft mit Her-
mes-Bürgschaften abgesichert werden. Ich bin aber dage-
gen, dass ein Teil der Grünen damit Polemik betreibt, so-
dass wir am Ende als diejenigen dastehen, die diese
Entwicklung stoppen wollen. Darin besteht der Unter-
schied.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Rezzo Schlauch

9929


(C)



(D)



(A)



(B)


Während Ihr Haushalt – das muss man einmal so sagen –
nicht nur mit der Heckenschere, sondern leider auch mit
der Motorsäge zusammengestutzt wurde, während
Beiträge zu internationalen Organisationen wie dem Welt-
entwicklungsprogramm UNDP oder dem Kinderhilfs-
werk UNICEF drastisch gekürzt werden, verkündet die
Ministerin unverdrossen die deutsche Verantwortung für
weltweite Solidarität und für globale Zukunftssicherung.
Das ist zwar von der Sache her richtig, es sind sich aber
alle einig: Wir müssen Schwerpunkte finden. Sie haben
heute einige dieser Schwerpunkte angesprochen.

Wir sollten uns einig sein: Entwicklungspolitische Zu-
sammenarbeit muss darauf hinauslaufen, dass die ent-
sprechenden Staaten unabhängig von der Entwicklungs-
hilfe werden. Die Pflege der Zusammenarbeit zwischen
den entwickelten Staaten ist dann jedoch im Verantwor-
tungsbereich der Außenpolitik zu sehen. Eine Vielzahl
von ehemaligen Entwicklungsländern, die heute keine
Hilfe von außen mehr benötigen, bestätigen Ihnen eigent-
lich diese These.

Entwicklungspolitik kann immer nur einen komple-
mentären Beitrag zur Außen- und Sicherheitspolitik leis-
ten.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!)

Die F.D.P.-Fraktion hat deshalb den Antrag gestellt, dem
Beispiel anderer großer Geberländer zu folgen und das
BMZ und das AA zusammenzulegen. Wenn man Ihre
jüngsten Reden liest und Ihre heutige Rede sehr aufmerk-
sam verfolgt hat, Frau Ministerin, dann kann man ja auch
den Eindruck gewinnen, dass das AA zum BMZ kommt.
Das würde zwar gut zur Politik von Herrn Fischer passen;
aber ob Sie das erreichen, dessen bin ich mir noch nicht
sicher.

Anstatt die Chancen der Globalisierung für die Ent-
wicklungsländer herauszustreichen und zu nutzen, war
bis vor kurzem noch vor ihren „negativen Trends und
Auswirkungen“ gewarnt worden. Heute sprachen Sie
schon vom Nutzen der Globalisierung. In einer Ihrer letz-
ten Grundsatzreden sprachen Sie vom „internationalen
Spekulationskapitalismus“. Wenn ich diese Aussagen
sehe, dann muss ich sagen, dass das eigentlich Klischees
der 70er-Jahre sind, über die wir hinaus sind. Damals ging
es um die „neue Weltwirtschaftsordnung“. Das wurde
überwunden. Heute sprechen Sie von gerechter Weltord-
nungspolitik. Ich glaube nicht, dass wir mit dem BMZ die
Umkehrung der internationalen Einflüsse erreichen kön-
nen.

Wir sollten uns darauf besinnen, unsere Strukturrefor-
men mutig anzugehen. Wir sollten im Endeffekt dafür sor-
gen, dass Themen wie gute Regierungsführung, Men-
schenrechtskonditionen, Eigenverantwortung, Deregulie-
rung, Schwerpunktsetzung – diese Themen haben wir als
Partei schon in unser Programm hineingebracht; Sie ha-
ben sie heute auch genannt – in den Mittelpunkt gerückt
werden. Gefehlt hat mir aber der zweite Teil: Zur interna-
tionalen Zusammenarbeit gehören auch Freihandel und
marktwirtschaftliche Strukturen. Diese Themen stehen
bereits im Mittelpunkt unserer entwicklungspolitischen
Leitlinien. Anders wird man eine Entwicklung dieser Län-
der nicht erreichen können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Immerhin sehen wir mit Genugtuung, dass einige un-

serer Ideen von Ihnen aufgegriffen worden sind, zum Bei-
spiel die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unterneh-
men in der Entwicklungspolitik. Bis vor kurzem war die
Idee Gewinn bringender Entwicklungsprojekte noch ein
unantastbares Tabu. Wir wissen aber, dass sie von hohem
entwicklungspolitischen Nutzen sind. Aber Not macht
teilweise auch erfinderisch, muss man hier sagen. War es
bis vor kurzem noch verpönt, über deutsche Investoren im
Ausland zu sprechen,


(Zuruf von der SPD: Was?)

die in der Entwicklungspolitik tätig sind,


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der F.D.P. etwa?)


so tragen sie heute schon zu einem guten Teil dazu bei, be-
stimmte Haushaltslücken zu überbrücken.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Die von Ihnen, Frau Staatssekretärin Eid, angekün-

digte regionale Konzentration der Entwicklungspolitik
ist aus unserer Sicht ein richtiger Anspruch. Ich finde es
auch gut, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf
70 Partnerländer mit unterschiedlichen Schwerpunkten
konzentriert wurde. Über die Art der Länder und den In-
halt kann man sicherlich immer diskutieren.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass wir
bei der Entwicklungsfinanzierung künftig noch stärker
auf in- und ausländische Ressourcen zurückgreifen müs-
sen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Durch die stärkere Einbeziehung des Privatsektors in Fi-
nanzierung und Betrieb von Infrastrukturprojekten kann
die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit auf
allen Gebieten erhöht werden.

Wir sehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die F.D.P. wird
noch vor der Sommerpause ihre entwicklungspolitischen
Leitlinien vervollständigen und dann hoffentlich mit allen
in einen guten Dialog treten.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600700
Nun erteile ich der
Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1410600800
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Regierungserklärung zur Entwicklungs-
zusammenarbeit setzt die Bundesregierung ein positives
Signal; denn erstmals ist die Entwicklungszusammenar-
beit überhaupt Thema einer Regierungserklärung in der
Bundesrepublik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Joachim Günther (Plauen)

9930


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist ein großer Tag für uns Entwicklungspolitikerinnen
und -politiker. So kommen die Entwicklungspolitik und
ihre Notwendigkeit allmählich in die Köpfe der Men-
schen hier. Dies weitet ihren Blick für die weltweiten Pro-
bleme; das tut Not.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410600900
Kollegin Tröscher,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1410601000
Nein!

(Heiterkeit bei der SPD)


– Weklisch net, würde ich jetzt auf frankfurterisch sagen.
Ich möchte jetzt gerne meine Gedanken ausführen. Sie
verstehen das sicherlich.


(Beifall bei der SPD)

Dies ist Ausdruck für den Stellenwert, den wir, die Ko-

alition, der Entwicklungszusammenarbeit beimessen. Es
ist auch eine gute Gelegenheit, Bilanz der letzten einein-
halb Jahre – ich sage eineinhalb Jahre, nicht 16 Jahre – zu
ziehen, Perspektiven zu verdeutlichen und sich nicht in
Nörgeleien zu ergehen, Herr Hedrich. Natürlich haben wir
in unseren Ausführungen nicht alles erwähnt, was erwäh-
nenswert ist. Natürlich sind wir stolz auf unsere Durch-
führungsorganisationen, auf unsere Stiftungen und auf die
NROs, ohne die die gesamte Zusammenarbeit nicht denk-
bar ist.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass sie genügend Geld für
die Projekte bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Keine einzige neue Mark!)


Ich danke den NROs, besonders den Kirchen und den Stif-
tungen.

Sie reden immer über das Geld und über den Haushalt,
aber niemals über Strategien. Diese vermisse ich hier sehr
bei Ihnen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Gestern Abend bei der frauenpolitischen Debatte gab es gar keine Strategien!)


– Na, die haben Sie aber auch nicht hineingebracht. Das
war schon ein trauriger Anblick, den man hier hatte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungs-
politik der Bundesregierung zeichnet sich dabei vor al-
lem durch folgende Punkte aus:

Erstens. Entwicklungspolitik gestaltet globale Rah-
menbedingungen zugunsten der Entwicklungsländer. Vor
allem die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung ist
ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche globale Struktur-
politik. Natürlich muss sie ausgestaltet werden, aber der
Anfang ist gemacht.


(Beifall bei der SPD)

Auch die Verknüpfung von Armutsbekämpfung mit der
Politik von Weltbank und Internationalem Währungs-
fonds, für die sich die Bundesregierung einsetzte, ist ein

ganz wichtiger Baustein. Dies muss immer betrachtet und
beobachtet werden, damit das auch so bleibt.

Zweitens. Entwicklungspolitik wird wieder als aktive
Friedenspolitik gestaltet. Ich verweise hier nur auf unsere
Initiativen zum Zivilen Friedensdienst, zu Kindersoldaten
und Kleinwaffen, aber auch zur Stärkung der Zivilgesell-
schaft und demokratischer Strukturen in Entwicklungs-
ländern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für eine effi-
zientere und kohärentere EU-Entwicklungspolitik ein. Er-
wähnen möchte ich insbesondere die auf den Weg ge-
brachten Maßnahmen für eine Reform des EEF, des Eu-
ropäischen Entwicklungsfonds, und die Bemühungen um
ein zukünftiges Lomé-Nachfolgeabkommen. Das wurde
schon von der Ministerin ausgeführt. Ich denke, wir sind
hier auf einem guten Weg.

Viertens. Entwicklungspolitik ist globale Zukunftssi-
cherung. Dies hat die Bundesregierung mit Programmen
zum Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildung
und der Verbesserung der Welternährung ja auch unter
Beweis gestellt; alles übrigens in anderthalb Jahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Fünftens. Die Entwicklungspolitik reagiert schnell und
flexibel auf Naturkatastrophen und Krisen. Uns allen sind
der verheerende Wirbelsturm „Mitch“, das Erdbeben in
der Türkei und die Katastrophen in Mosambik noch in
Erinnerung. Aber auch bei den Hilfen zum Wiederaufbau
in Südosteuropa hat die Bundesregierung Handlungs-
fähigkeit bewiesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sechstens. Die Entwicklungszusammenarbeit der Bun-
desregierung fördert gute Regierungsführung.

Siebtens. Frauenrechte werden in der Entwicklungs-
zusammenarbeit gestärkt und gefördert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])


– Ja, die kommen zu kurz.
Achtens. Wir nutzen das Zukunftsprogramm der Bun-

desregierung zur Haushaltskonsolidierung auch zur Stei-
gerung der Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte diesen
acht Punkten noch weitere hinzufügen. Sie kennzeichnen
die letzten anderthalb Jahre der Entwicklungspolitik der
Bundesregierung. Ich möchte an dieser Stelle der Minis-
terin für ihr Engagement und ihr ständiges Treiben und
auch der Bundesregierung herzlich dafür danken, dass wir
schon so weit gekommen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Adelheid Trösche

9931


(C)



(D)



(A)



(B)


Dies ist bedeutend mehr als das, was die Opposition in
dieser Woche als entwicklungspolitische Leitlinien vor-
gestellt hat. Ich dachte, ich hörte hier heute ein wenig
mehr. Es handelte sich eher um Nachrichten aus dem
Rüttgers-Klub:


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


vollmundig im Titel, aber inhaltlich konzeptionslos, in-
konsequent, widersprüchlich und provinziell.

Erstens kritisiert die Union allen Ernstes unser
Bemühen zur Haushaltskonsolidierung. Richtig ist, dass
das BMZ wie alle anderen Ressorts einen Sparbeitrag zur
Haushaltskonsolidierung erbringen musste.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aber einen überdurchschnittlichen!)


Wäre die Vorgängerregierung – ich bin es eigentlich leid,
das immer wieder zu sagen – mit den öffentlichen Mitteln
genauso verantwortungsbewusst umgegangen wie wir das
jetzt tun, stünde auch die Entwicklungspolitik besser da.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.])

Ich kann diese Leier einfach nicht mehr hören! Ich warte
auf neue Konzeptionen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Wir dieses auch nicht mehr!)


– Dann hören Sie doch auf damit!
Wie die Pläne der Bundesministerin Heidemarie

Wieczorek-Zeul zeigen, sind diese Einschnitte durchaus
eine Chance, die Wirksamkeit der Entwicklungszusam-
menarbeit zu steigern. Gerade die angestrebte Konzentra-
tion in der bilateralen Zusammenarbeit auf Schwerpunkt-
länder, die besonders unserer Hilfe bedürfen, ist ein gutes
Beispiel dafür, wie man mehr Effizienz erreichen kann.
Natürlich kann man an der Länderliste noch herumnör-
geln – das eine passt dem einen nicht, das andere dem an-
deren nicht –, aber gezielte Maßnahmen machen mehr
Sinn, als dass jeder Geber alles überall macht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen bilateralen Ge-
bern, EU und multilateralen Nationen ist daher notwen-
dig. Dies entspricht auch einer schon vor langer Zeit er-
hobenen Forderung aus dem Parlament: nicht Gieß-
kanne, sondern Konzentration. Frankreich hat übrigens
50 Schwerpunktländer. Bei uns hätte dies schon längst ge-
schehen müssen. Wenn Sie entsprechende Vorschläge in
der Schublade hatten, Herr Hedrich, dann frage ich mich,
warum Sie sie nicht umgesetzt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweiter Punkt. Die Union kritisiert die Aufnahme der
staatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Oder
wie es der Kollege Hedrich ausdrückt – so war es jeden-
falls im Berliner „Tagesspiegel“ nachzulesen –, die Mi-

nisterin solle nicht nach Kuba reisen, denn damit stärke
sie bewusst das kubanische Gewaltregime.


(Gernot Erler [SPD]: Oh!)

Dann, Herr Kollege Hedrich, stärken auch Kirchen,

politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen,
die sich auf Kuba engagieren, das kubanische Gewaltre-
gime. Dann stärken auch der Kollege Kraus, der Kollege
Günther und ich, die Kuba besucht haben, das Gewaltre-
gime. Wir waren im Januar auf Kuba und haben ganz
deutlich gegen die Verletzungen der Menschenrechte
Stellung bezogen. Wir waren gemeinsam der Ansicht,
dass ein Wandel nur geschehen kann, wenn sich unsere
Länder annähern. Heute morgen haben wir schon gehört,
was Herr Henkel in diesem Zusammenhang gesagt hat.

Erst vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung
eine Altschuldenregelung mit Kuba getroffen. So werden
Hermes-Bürgschaften erst möglich. Erst jetzt wird sich
die deutsche Wirtschaft auf Kuba engagieren. Vorher hat
sie es nicht getan.

Richtig ist: Ohne politische und wirtschaftliche Refor-
men und eine sie von außen unterstützende Politik wird es
auf Kuba keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Ver-
besserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölke-
rung geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nachhaltige Entwicklung braucht die unterstützende Po-
litik von außen. Das gilt auch für viele andere Entwick-
lungsländer. Ich denke, wir sind hier auf einem guten
Weg. Im Übrigen: Andere EU-Staaten und Kanada versu-
chen schon seit langem, besseren Kontakt zu Kuba herzu-
stellen.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Kanada hat ihn gerade eingestellt!)


Es gibt außerdem eine UN-Resolution gegen das Em-
bargo der USA. Ich denke, wir sollten uns dieser Initiative
jetzt aktiv anschließen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dritter Punkt: ziviler Friedensdienst. Die Union be-
klagt ihn als Musterbeispiel für Effekthascherei, der nicht
zur langfristigen Wahrung unserer Interessen beitrage.
Das Gegenteil ist der Fall. Denn wir begreifen Entwick-
lungspolitik auch als aktive Gestaltung von Friedenspoli-
tik. Da spielt das neue Instrument des zivilen Friedens-
dienstes eine gewichtige Rolle, weil wir durch speziell
ausgebildete Fachkräfte vor Ort einen Beitrag zur Media-
tion und Vermittlung leisten wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Bereich sind die NROs besonders engagiert.
Wir unterstützen sie bei der Gestaltung dieses aktiven
Friedensdienstes.

Vierter Punkt. Welch ein Unsinn, der Bundesregierung
Ressortscheuklappen vorzuwerfen! Wir waren es doch,
die jahrelang gefordert haben, Entwicklungspolitik als




Adelheid Trösche
9932


(C)



(D)



(A)



(B)


Querschnittsaufgabe zu definieren und zu einer kohären-
ten Verankerung dieses Politikfeldes zu kommen. Unsere
zahlreichen Anträge dazu haben Sie alle abgelehnt.

Fünfter Punkt. Das starre Korsett der Struktur des
Einzelplanes 23 müsse reformiert werden. Ich erinnere
mich an viele Diskussionen und Debatten, in denen der
Kollege Schuster immer wieder auf diesen Punkt hinge-
wiesen hat. Wir haben gemeinsam für Reformen
gekämpft. Da klingt es schon abenteuerlich, wenn der
Kollege Hedrich vom Saulus zum Paulus wird. Sie haben
jahrelang die Chance für wirksame Reformen vertan.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Leitlinien der CDU sind vor allem aus einem
Grund schlimm: Nicht nur, dass wichtige Entwicklungen
der entwicklungspolitischen Diskussion nicht aufgegrif-
fen werden, dass Armutsbekämpfung und soziale Gerech-
tigkeit kaum Gewicht erhalten und Gender- und Gleich-
berechtigungsfragen überhaupt nicht thematisiert werden,
nein, am Schlimmsten ist eigentlich, dass das Wort
„Frauen“ überhaupt nicht vorkommt.


(Beifall bei der SPD – Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Hört! Hört!)


Wer aber entwicklungspolitische Prozesse positiv ge-
stalten will, der kommt nicht daran vorbei, festzustellen,
dass es die Frauen sind, die den Schlüssel für eine nach-
haltige Entwicklung in den Händen halten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern hat das Papier der CDU wahrlich Rüttgers-Ni-
veau. Es ist inkonsequent und widersprüchlich, enttäu-
schend dünn und inhaltlich konzeptionslos.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410601100
Kollegin Tröscher, Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Auch vom Inhalt!)



Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1410601200
Ich komme zum Schluss.
Wir vollziehen mit der heutigen erstmaligen Regie-
rungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit einen
symbolischen Akt. Die Entwicklungspolitik steht, wie an-
dere Politikfelder auch, vor der Aufgabe, ihre Rolle im
Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Ihre
gesellschaftliche und internationale Akzeptanz hängt von
einer realistischen Einschätzung ihrer Reichweite ab.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Das haben wir
schon bis jetzt gemacht; wir sollten es auch weiterhin tun.

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410601300
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Erika Reinhardt,
CDU/CSU-Fraktion.


Erika Reinhardt (CDU):
Rede ID: ID1410601400
In den Reden hier ist
immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, dass man
mit Kuba nun endlich eine wirtschaftliche Zusammenar-
beit beginnt. Jetzt habe ich doch einmal die Frage, ob denn
Ihre Anträge, die Sie einmal gestellt haben, noch gelten.
So haben Sie damals in einem Antrag die Regierung
aufgefordert, zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein,
weil das als Unterstützung der Diktatur verstanden wer-
den könne. Allenfalls, so heißt es weiter, könnten Projekte
– insbesondere über Nichtregierungsorganisationen –
gefördert werden, die direkt der Not leidenden Bevöl-
kerung, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften
und Reformen zugute kommen. In jedem Fall müsse die
Demokratisierung vorangehen.

All diese Punkte sind bis jetzt nicht erfüllt. Deshalb
stellt sich für mich schon die Frage: Haben Ihre eigenen
Worte noch Geltung?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben wirklich nicht zugehört!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410601500
Kollegin Tröscher,
Sie haben Gelegenheit zur Antwort.


Adelheid Tröscher (SPD):
Rede ID: ID1410601600
Ich kann das kurz
machen. – Der Antrag, den Sie zitieren, ist vielleicht vor
100 Jahren gestellt worden. Aber es gibt ja Ent-
wicklungen, denen wir uns öffnen. Zu Kuba haben wir
jetzt einen Antrag gestellt, der dem von Ihnen zitierten di-
ametral entgegensteht. Ich kenne den Antrag, den Sie zi-
tiert haben, nicht.

Wir unterhalten auch Beziehungen zu vielen anderen
Staaten – insbesondere afrikanischen –, die Diktaturen
sind. Wir hoffen, durch Zusammenarbeit, durch Entwick-
lung der Zivilgesellschaft eine Annäherung zu erreichen
und dazu beizutragen, dass sich diese Länder demokrati-
sieren. Diesen Freiraum wollen wir nutzen. Das tun wir
im Falle Kuba in der nächsten Zeit.

Auch bei Ihnen gibt es viele, die so denken wie wir,
was das Embargo der USA gegenüber Kuba und die Ent-
wicklungsmöglichkeiten dort anbelangt. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg und sollten der Ministerin
Glück wünschen, damit sie ein Stück weiterkommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410601700
Nun hat Kollege
Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410601800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich kann bei sehr vielem an
das anknüpfen, was die Frau Ministerin hier ausgeführt
hat, und will das mit meinen Intentionen machen.

Für mich ist sicher, dass das krasse Missverhältnis zwi-
schen Armut und Reichtum, zwischen Einfluss und
Ohnmacht, zwischen kultureller Dominanz und der Zer-
störung nationaler Kulturen auf Dauer nicht aufrechtzuer-
halten ist – und, so will ich dazu setzen, auch nicht




Adelheid Trösche

9933


(C)



(D)



(A)



(B)


aufrechterhalten werden darf. 1,4 Milliarden Menschen –
jeder Vierte – leben heute unterhalb der Armutsgrenze,
aber das Vermögen der drei reichsten Männer der Welt ist
größer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Län-
der. Diese 48 Länder, in denen ein Zehntel der Weltbe-
völkerung lebt, haben einen Anteil von nur 0,3 Prozent am
Welthandel; der ganze afrikanische Kontinent 1,1 Pro-
zent. Die Länder der so genannten Dritten Welt sind mit
2 170 Milliarden US-Dollar verschuldet.

Ich finde, wer von Armut spricht, darf über Reichtum
nicht schweigen. Dieser Teil fehlte etwas in der Rede der
Ministerin;


(Beifall des Abg. Roland Claus [PDS])

deswegen will ich das ergänzen: Täglich werden Devisen
mit einem Gegenwert von 1,5 Billionen US-Dollar auf
den Finanzmärkten umgesetzt, was etwa dem Gesamtvo-
lumen der Devisenbestände aller Zentralbanken der Welt
entspricht. 97 Prozent dieser Umsätze haben nichts mit
Produktion zu tun, sondern sind rein spekulativ, und
80 Prozent der Kapitalbewegungen haben eine Anlage-
dauer von weniger als sieben Tagen.

Oder werfen wir einen Blick auf die ständig wachsende
Macht der transnationalen Konzerne: 10 Prozent aller Be-
schäftigten auf der Erde – die Landwirtschaft ausgenom-
men – arbeiten bei einem der 44 000 transnationalen Un-
ternehmen. Das Volumen der weltweiten Übernahmen
und Fusionen betrug 1999 3,1 Billionen Dollar.

All dies lastet besonders auf den Menschen der so ge-
nannten Dritten Welt. Dies sind die Probleme der Ent-
wicklung. Wenn sie nicht gelöst werden, drohen viele der
Konflikte in gewaltsame Auseinandersetzungen umzu-
schlagen.
34 Kriege wurden schon 1999 gezählt. Denken wir ge-
meinsam an Angola, Kongo, Äthiopien, Eritrea, denken
wir an die Kaschmir-Region oder den Kaukasus.

Soziale Wohlfahrt und ökologische Vernunft sind auch
ein Weg, um Krieg zu vermeiden und Gewalt zu bekämp-
fen – ich finde, der beste Weg.


(Beifall bei der PDS und der SPD)

Vieles von dem, was ich angesprochen haben, wird in

den armen Zonen der Welt ausgetragen, hat aber seine Ur-
sachen in der Politik der reichen Zonen der Welt. Ich habe
den Eindruck, dass zwei Begriffe für fast alles Unver-
nünftige zur Rechtfertigung herangezogen werden: „Glo-
balisierung“ und „Markt“.Oder zusammengezogen: die
Bedingungen der globalisierten Märkte. Nur stehen hinter
den anonymen Begriffen „Globalisierung“ und „Markt“
konkrete Interessen. Auch über diese darf man nicht
schweigen.

Frieden durch Entwicklung bedarf einer anderen
Außenpolitik. Sie muss auf wirtschaftlichen Ausgleich,
auf Recht und Zivilität setzen. Frieden und Entwicklung
fordern eine Veränderung der Politik des Internationalen
Währungsfonds und der Weltbank, Schuldenerlass und
eine stärkere Regulierung der internationalen Finanz-
märkte. Seitdem ein bestimmter Kollege in diesem Par-
lament fehlt, werden ja diese Probleme auch von den

Regierungskoalitionsparteien nicht mehr angesprochen,
was ich bedauere. Beides bedauere ich, will ich dazu sa-
gen.


(Beifall bei der PDS – Zurufe von der SPD)

– Ich habe den Namen nicht genannt. Ihr wisst ja, wen ich
meine.

Wer Frieden durch Entwicklung will, darf sich aus mei-
ner Sicht nicht an Rüstungsexporten beteiligen. Das wi-
derspricht dem.

Frieden durch Entwicklung verträgt sich aus meiner
Sicht nicht mit einer unipolaren Welt, in der die USA das
erste und das letzte Wort haben. Wenn sich Frieden durch
Entwicklung durchsetzen soll, muss sich die Politik än-
dern, auch und gerade ,wie ich finde, die Außenpolitik un-
seres Landes.

Ich möchte abschließend zwei kurze Bemerkungen zu
den vorliegenden Anträgen machen. Zuerst will ich ein
Dilemma ansprechen, das ich bei dem Entschließungs-
antrag Regierungsfraktionen sehe. Erstens stellen wir in
Rechnung, dass wir eine in dieser Frage engagierte
Ministerin haben.


(Beifall des Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD])


Wir wollen nicht, dass die Widerstände gegen sie größer
werden. Sie hat genügend Probleme, auch in ihrer Partei,
sich durchzusetzen.


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Dem widersprechen wir nicht!)


– Das weiß man doch.
Zweitens: Der Antrag ist analytisch gut und in seinen For-
derungen mehrheitlich vernünftig. Wenn Sie etwas weni-
ger Eigenlob hineingeschrieben hätten – lassen Sie sich
doch einmal von anderen loben, anstatt sich immer selbst
zu loben –,


(Zuruf von der SPD: Ihr macht das ja nicht!)

wenn Sie in diesem Antrag klarer „Nein“ zu Rüstungsex-
porten gesagt hätten, hätte man ihm zustimmen können.
So bleibt nur eine Enthaltung.

Jetzt gibt es keine Kürnote, aber ich möchte doch sa-
gen: Was die Ministerin angeht, meinerseits eine lobende
Enthaltung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich fand die Rede, die hier gehalten wurde, auch bemer-
kenswert.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Dass die sich untereinander loben, ist doch klar!)


– Dann braucht sie sich ja nicht selbst zu loben.
Ein letzter Satz zu Kuba: Das, was ich hier von Kolle-

gen der CDU gehört habe, ist wirklich politische Steinzeit
oder Eiszeit.


(Beifall bei der CDU/CSU) – Dr. Christian

Ruck [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!)




Wolfgang Gehrcke
9934


(C)



(D)



(A)



(B)


Jeder hier im Hause weiß doch – wir wissen es alle, reden
wir doch einmal darüber! –, dass das US-Embargo gegen
Kuba weder sinnvoll noch moralisch gerechtfertigt und
durchzuhalten ist.


(Beifall bei der SPD und der PDS – Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind aber in Deutschland und nicht in Kuba!)


Wenn die deutsche Politik hier einen anderen Weg geht,
dann werden demokratische Entwicklungen gestärkt und
gestützt, dann gibt es eine kooperative Zusammenarbeit.
So souverän wie Italien oder Spanien sollte auch die deut-
sche Politik gegenüber Kuba sein.

Etwas mehr Mut, trauen Sie sich, Frau Ministerin! Eine
gute Reise und viel Erfolg in Kuba!


(Beifall bei der PDS und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410601900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Tobias Marhold, SPD-Fraktion.


Tobias Marhold (SPD):
Rede ID: ID1410602000
Sehr geehrter Herr Präsident!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem sich die Diskussion um die IT-
Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen ja offensichtlich nicht
zum Stimmensammeln geeignet hat,


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schade!)

möchte ich dieses Thema in einen ganz anderen Zusam-
menhang stellen, den der Entwicklungspolitik.

Es erscheint Ihnen vielleicht ungewöhnlich, wenn ich
in der entwicklungspolitischen Debatte von neuen Tech-
nologien spreche. Doch wird der Zusammenhang schnell
klar, wenn wir uns die in den letzten Jahren merklich ge-
wandelte Definition von Armut betrachten.

Armut ist nicht allein als Mangel an Nahrung, Ein-
kommen und finanziellen Ressourcen zu verstehen, son-
dern beinhaltet auch den fehlenden Zugang zu Bildungs-
möglichkeiten, Gesundheitsdiensten, politischer Partizi-
pation, Dienstleistungen und Infrastruktur.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sprechen wir in diesem Zusammenhang von dem Ziel
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die Ent-
wicklungsländer in den Weltmarkt zu integrieren, muss
der Bildung besondere Aufmerksamkeit zukommen;
denn ohne gut ausgebildete einheimische Fachkräfte in
ausreichender Anzahl kann sich in Zukunft kein Land in
unserer globalisierten Welt im zunehmenden Wettbewerb
behaupten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sehen wir zurzeit nur allzu deutlich an den entspre-
chenden Diskussionen in unserem eigenen Land. Den
Staaten des Südens muss daher der Zugang zu Informa-
tionen über das internationale Netzwerk anhand von
Technologietransfers ermöglicht werden. Bildung ist da-

bei ein Schlüsselelement der nachhaltigen Armutsbe-
kämpfung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit steht die Entwicklungszusammenarbeit vor
zwei großen Herausforderungen: die Basisversorgung der
Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu sichern so-
wie im Bildungsbereich die Alphabetisierung voranzu-
treiben und gleichzeitig die Ausbildung von Fachkräften,
vor allem in der Informationstechnik, auf hohem Niveau
zu ermöglichen.

Die neuen Technologien bieten dabei den Ländern des
Südens eine einmalige Chance; denn in den Schlüssel-
branchen wie beispielsweise dem Maschinenbau oder der
chemischen Industrie haben die weniger entwickelten
Länder keine Möglichkeit mehr, den gewaltigen Vor-
sprung der Industrienationen aufzuholen. Hingegen eröff-
nen sich für alle Staaten dieser Welt durch die Informati-
onstechnologien völlig neue Perspektiven, übrigens auch
für Deutschland, das ebenso erst am Anfang dieses Ent-
wicklungsprozesses steht.

Sicher ist es wichtig, den Menschen langfristig eine
Grundversorgung, wie Nahrung, sauberes Wasser und
eine Grundbildung, zu garantieren, aber genauso notwen-
dig – oder zukünftig noch wichtiger ist es, ihnen den An-
schluss an die Zukunftsbranche der Welt zu ermöglichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei bietet das weltweite Datennetz Möglichkeiten, de-
nen selbst Deutschland bis vor kurzem noch nicht den
richtigen Stellenwert beigemessen hat.

Lassen Sie mich folgendes Beispiel nennen: Das vom
BMZ finanzierte Alumni-Programm für ehemalige Stu-
dierende aus Entwicklungsländern erlaubt durch den Ein-
satz der neuen Kommunikationstechnologie, der Alumni-
Entwicklungsländer-Datenbank des Deutschen Akademi-
schen Austauschdienstes, einen intensiven Informa-
tionsaustausch, der es ausländischen Studierenden trotz
der Rückkehr in ihre Heimatländer ermöglicht, am not-
wendigen Wissensaustausch teilzunehmen.

Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir bei dieser
Diskussion nicht vergessen: Mit der Verbreitung des In-
ternets kann der Abwanderung der Fachkräfte nach Eu-
ropa und in die USAwirksam entgegengesteuert werden,
denn durch die vernetzte Welt ist es unerheblich, ob eine
Fachkraft aus Bolivien oder aus München agiert.

Auch müssen wir uns gerade im Bereich der Informa-
tionstechnologie für ein verstärktes, auch finanzielles En-
gagement der Privatwirtschaft einsetzen. Instrumente
wie die Public Private Partnership, also die Zusammenar-
beit zwischen der öffentlichen Hand und der privaten
Wirtschaft, bieten dabei gute Voraussetzungen.

Meine Damen und Herren, wir müssen also das eine
tun, ohne das andere zu lassen. Arbeiten wir an der Ver-
wirklichung der weltweiten Grundversorgung aller Men-
schen und fördern wir gleichzeitig eine Entwicklung auf




Wolfgang Gehrcke

9935


(C)



(D)



(A)



(B)


hohem technologischen Niveau, um den betroffenen Staa-
ten eine Perspektive aus eigener Kraft zu eröffnen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Haben diese Länder im IT-Bereich erst einmal Fuß gefasst
und sich dadurch weitere Einnahmequellen erschlossen,
ist dies ein zusätzlicher Meilenstein bei dem Kampf um
ihre finanzielle Unabhängigkeit von den reichen Indus-
trieländern. Unserer Unterstützung können sie sich dabei
sicher sein.

Darüber hinaus bieten die neuen Technologien eine
weitere Chance, die oft vergessen wird und die für mich
besonders wichtig ist, nämlich die Einbeziehung des
großen Potenzials der Frauen dieser Länder. Wie wir alle
wissen, liegt die Zukunft der Entwicklungsländer maß-
geblich in den Händen der Frauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gerade die Frauen sind es aber, die überproportional von
Armut betroffen sind. Verantwortlich für die Kinderver-
sorgung tragen sie zusätzlich noch die Haupterwerbslast.
Es ist allseits bekannt, dass in den Ländern, in denen
Frauen am besten gebildet sind, die Entwicklung aller ge-
sellschaftlichen Bereiche am weitesten fortgeschritten ist.
Das hat unter anderem auch positive Auswirkungen auf
die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damit
auf eine geringere Kindersterblichkeit und eine geringere
Anzahl von Geburten und Krankheiten.

Frauen haben jedoch in den männerdominierten Ge-
sellschaften in technischen Arbeitsfeldern kaum eine Ge-
legenheit, eine Ausbildung zu erhalten. Wenn man aber in
Zukunft von jedem Punkt der Erde ohne großen techni-
schen Aufwand kommunizieren und Dienstleistungen er-
bringen kann, schafft das auch für Frauen eine realistische
Berufsperspektive. Deshalb müssen Frauen nicht nur bei
Projekten der Armutsbekämpfung, sondern verstärkt auch
bei der qualifizierten Ausbildung einbezogen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ziel unserer Politik muss daher sein, jedem Land die
Möglichkeit zu geben, sich auf die globalisierte Welt, die
vom technologischen Fortschritt vorangetrieben wird,
vorzubereiten. Da stehen wir in Deutschland und Europa
ganz klar in einer besonderen Verantwortung, übrigens
gerade gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Denn
wer, wenn nicht wir, muss heute handeln?

Genau wie bei der bilateralen Entwicklungszusam-
menarbeit muss auch in der EU-Entwicklungszu-sam-
menarbeit der Bildung und Ausbildung stärkeres Ge-
wicht zukommen. Der jetzige Zeitpunkt ist günstig, da auf
der europäischen Ebene über eine neue Strategie für die
gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit diskutiert
wird. Eine ressortübergreifende Abstimmung aller außen-
politischen Instrumente ist daher geboten. Nationale Ei-

telkeiten einzelner Mitglieder der Europäischen Union
haben da keinen Platz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafür
sorgen, dass die Staaten des Südens im internationalen
Wettbewerb eine faire Chance erhalten. Wenn wir heute
handeln, profitieren auch wir in Zukunft von der gestärk-
ten Position der Entwicklungsländer. Denn Prävention ist
immer besser und natürlich für unsere Haushalte auf
Dauer leichter zu verkraften.

Die Bundesrepublik Deutschland muss dafür Sorge
tragen, dass die in den Entwicklungsländern vorhandenen
Potenziale zur Elitenbildung ausgeschöpft werden, und
muss die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften
unterstützen.


(Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die neuen Technologien dürfen nicht an den armen Län-
dern vorbeigehen. Das würde zu einer weiteren Ver-
schlechterung ihrer Position auf dem Weltmarkt führen
und sie für immer an das untere Ende der Staatengemein-
schaft verbannen. Arbeiten wir daran, dass der nächste
Bill Gates – besser: eine entsprechende Frau – aus Kame-
run kommt!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410602100
Dies war die erste
Rede des Kollegen Marhold. Herzliche Gratulation!


(Beifall)

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Ruck,

CDU/CSU.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1410602200
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! „Frieden braucht Entwick-
lung“ – dieses Motto kann jeder von uns unterschreiben.
Leider müssen wir konstatieren, dass uns die Entwick-
lungsprobleme auch im neuen Jahrtausend treu geblieben
sind und uns auch ins neue Jahrtausend gefolgt sind.

Aber mit der Globalisierung kommt ein neuer Akzent
hinzu. Globalisierung ist eigentlich die weltweite Ver-
netzung der Leistungsfähigen. Das ist auch für viele Ent-
wicklungsländer eine große Chance. Die Entwicklungs-
länder insgesamt haben beim Anteil am Welthandel dop-
pelt so viel erreicht wie der Rest der Welt.

Aber nicht alle Entwicklungsländer sind positiv be-
troffen. Die Globalisierung geht an Hunderten Millionen
von Menschen der Entwicklungsländer spurlos vorbei. Im
neuen Jahrtausend steckt darin das Risiko, dass sich die
sozialen Konflikte innerhalb der Länder vergrößern, statt
sich zu verringern, dass sich Migrationsbewegungen ver-
stärken, statt zu verebben, dass Stellvertreterkriege ganz
neuer Art ausbrechen, Ordnungsrahmen von gewählten




Wolfgang Gehrcke
9936


(C)



(D)



(A)



(B)


Demokratien unterminiert werden und der Druck auf die
natürlichen Lebensgrundlagen weiter zunehmen wird.

Vor diesem Hintergrund sind für die Entwicklungspo-
litik drei Elemente von größter Bedeutung: Erstens der
Aufbau und die Durchsetzung verlässlicher internationa-
ler Spielregeln mit sozialer und ökologischer Verantwor-
tung; darauf ist schon hingewiesen worden. Zweitens. Es
müssen in der internationalen Entwicklungshilfe und Zu-
sammenarbeit im Rahmen des Globalisierungsprozesses
die richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt werden.
Drittens die Einflussnahme im Interesse von Good Go-
vernance.

Darauf ist die Politik der rot-grünen Bundesregierung
abzuklopfen. Hier sieht es trotz Lob und Eigenlob noch
sehr mager aus. In puncto internationale Spielregeln ging
die Debatte um eine Reform der Welthandelsordnung an
Deutschland vorüber, obwohl wir eigentlich mit der so-
zialen Marktwirtschaft ein Erfolgsmodell anzubieten hät-
ten, das auch international tauglich wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Diskussion über Weltbank und IWF produ-

zierte die Bundesrepublik zwar Schlagzeilen, aber nur
beim stümperhaften Kampf um den Chefsessel beim IWF.
Die Vereinte-Nationen-Politik der Bundesregierung
siecht in Wirklichkeit genauso dahin wie die Entwick-
lungspolitik der Vereinten Nationen selbst. Das einzig Be-
merkenswerte war, dass neben viel Überflüssigem wirk-
lich vernünftige Programme und Projekte, zum Beispiel
der Bevölkerungsfonds der UN, von uns zusammenge-
strichen wurden.

Auch bei der internationalen Entschuldungskampa-
gne, die Sie sich, Frau Ministerin, etwas übertrieben ganz
allein auf Ihre Fahnen heften, gratulieren wir erst dann,
wenn die Ernte eingefahren ist. Ich sage Ihnen ganz ehr-
lich: Ihr gestriger Beitrag, den ich nur am Fernseher ver-
folgen konnte – daher konnte ich leider nicht eingreifen –


(Lachen bei der SPD)

reizt mich natürlich sehr. Sie haben gesagt, eine Ent-
schuldung gebe es erst seit dem Zeitpunkt, seitdem Sie
Ministerin seien. Das ist nachweislich falsch. Denn die
Wahrheit ist, dass das jetzt Geplante – wir stehen dahinter
und wünschen dazu viel Erfolg – bisher nur zu Luftbu-
chungen geführt hat. Es ist noch keine einzige müde Mark
geflossen. Wir stehen zwar zum Beispiel bei Bolivien und
Uganda ante portas. Aber es ist noch nichts umgesetzt
worden, wohingegen unter Ihren Vorgängern – das sollte
man der Ehrlichkeit halber bei solchen Diskussionen er-
wähnen – 9 Milliarden DM erlassen wurden.


(Gernot Erler [SPD]: Das alles auf Pump!)

Auch beim zweiten Punkt, bei der sachlichen Schwer-

punktsetzung, ist Kritik angebracht. Es ist richtig, dass das
Wasser zum Schwerpunktthema geworden ist; aber das
hat noch die alte Bundesregierung eingeleitet.

Der Zivile Friedensdienst, so fürchte ich, wird ein
Flop; denn das, was er leisten kann, gibt es schon, und das,
was er eigentlich leisten müsste, nämlich in einem
gefährlichen und gewalttätigen Umfeld Frieden stiften,
kann er nicht.

Entscheidend hinsichtlich Ihrer Schwerpunktsetzung
ist aber, dass die kurz- und mittelfristige Kürzungsorgie
im BMZ-Haushalt ausgerechnet die Felder trifft, die als
Globalisierungshilfe von zentraler Bedeutung wären,


(Beifall bei der CDU/CSU)

zum Beispiel die Armutsorientierung, die Bildung, Herr
Marhold, die Sozialstrukturhilfe und die Bevölkerungs-
und Umweltpolitik. Vor dem Hintergrund der Globalisie-
rung müssten wir eigentlich die Selbsthilfekräfte der Be-
nachteiligten besonders stärken, die Funktionsfähigkeit
von Staat, Demokratie und Verwaltung und den Kampf
gegen Umweltkatastrophen. Sie aber erreichen durch die
Kürzungen genau das Gegenteil. Wir stehen hinter Ihnen,
wenn Sie sich in Zukunft im Trend gegen diese Kürzun-
gen aussprechen. Wenn Sie dagegen kämpfen, kämpfen
wir mit Ihnen.

Auch nach Ihren vollmundigen Ankündigungen nach
Ihrer Amtsübernahme reizt es einmal mehr, die Wahrheit
zu beleuchten; das haben Sie gestern Abend weniger ge-
tan. Frau Tröscher, dass Sie vom Haushalt nichts mehr
hören wollen, kann für uns natürlich nicht Leitfaden der
Politik sein. Die Behauptungen, an den Haushaltskür-
zungen sei die vorhergehende Regierung schuld, sind ein-
fach falsch. Die Haushaltskürzungen sind erstens Schuld
der falschen Schwerpunktsetzung der jetzigen Regierung
und zweitens Schuld des ehemaligen Finanzministers
Lafontaine, der einmal schnell 30 Milliarden DM ver-
frühstückt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese 30Milliarden DM sind der eigentliche Grund dafür,
warum Ihr Haushalt in Schwierigkeiten ist.

Auch die Zahlen, die gestern genannt worden sind, sind
falsch. Während unserer Regierungszeit – das war
schmerzlich genug – mussten wir von 1993 bis 1998 Kür-
zungen von 8,2 Milliarden DM – das war die Rekord-
höhe –auf 7,9 Milliarden DM hinnehmen. Nach der mit-
telfristigen Finanzplanung wäre eine weitere Absenkung
des Plafonds um 36 Millionen DM erfolgt. Und was ma-
chen Sie? – Sie kürzen die Mittel in einem Jahr um
8,7 Prozent und die Plafondabsenkung beträgt nicht
36 Millionen DM, sondern 960 Millionen DM. Das kann
doch wohl nicht unsere Schuld sein.

Deswegen fordern wir die Einlösung Ihres nächsten
Versprechens – Sie haben gestern gesagt: Was wir zuge-
sagt haben, packen wir an –, nämlich mehr Geld für die
Entwicklungshilfe und nicht weniger. Wir fordern auch
eine Weiterentwicklung der Inhalte und Instrumente, zum
Beispiel ein Sektorprogramm zur Reform und Stärkung
des öffentlichen Dienstes, eine konsistente Energiekon-
zeption für Entwicklungsländer und die Einrichtung einer
politischen Notfallhilfe, mit der viel schneller als bisher
politische Hilfestellung geleistet werden kann.

Was die Diskussion um die Länderkonzentration anbe-
langt, so hat Herr Hedrich dazu schon das Wesentliche ge-
sagt. Ich halte den bisherigen Verlauf der Abgrenzung für
schädlich. Es gibt ein wirklich gutes Abgrenzungskrite-
rium, mit dem man gleichzeitig die Arbeitsteilung mit der
EU voranbringen könnte, und zwar die Absorptions-,




Dr. Christian Ruck

9937


(C)



(D)



(A)



(B)


Regulierungs- und Koordinationsfähigkeit von Entwick-
lungsländern.


(Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Kriterium, das auch wir anerkannt haben! Insofern stimmen wir überein!)


Dieses Kriterium ist logisch und nachvollziehbar und
richtet außenpolitisch keinen Schaden an.

Ein außenpolitischer Schaden aber tritt ein, wenn
ausgerechnet die Zusammenarbeit mit Schwellenländern,
zum Beispiel mit Malaysia und Argentinien, eingestellt
wird. Wir sind es doch, die von diesen Ländern etwas wol-
len, nicht umgekehrt. In Malaysia zum Beispiel wollen
wir den Tropenwald retten. Wenn wir die Zusammenar-
beit mit diesen Ländern aufgeben, haben wir uns jede
Möglichkeit der Einflussnahme genommen.

Das ist der dritte und ebenfalls entscheidende Punkt:
die Einflussnahme auf Good Governance. Auch dazu
gibt es Kritik. Zum einen gibt es in dem AKP-Abkommen
einen Punkt, wo wir und auch Sie sich nicht entscheidend
durchgesetzt haben, nämlich in der Frage der Sanktionen.
Das ist innerhalb der EU eine offene Flanke. Zudem be-
deuten die Kürzungen im BMZ-Haushalt, vor allem in der
FZ: weniger Geld, weniger Einfluss. Die Entschuldung
wiegt das in keiner Weise auf.

Nehmen wir einmal an, die Entschuldung kommt
wirklich zustande, was wir alle hoffen! Dann stehen
960 Millionen DM weniger im Haushalt. Dem stehen 60
bis allenfalls 80 Millionen DM entgegen, die Sie den Ent-
wicklungsländern aus der Entschuldung pro Jahr prak-
tisch geben. Sie kürzen also um das Zehnfache dessen,
was die Entwicklungsländer durch die Entschuldung be-
kommen. Da kann man wirklich nicht von einem fairen
Deal sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Lassen Sie mich auch noch das Folgende sagen. Wir
kritisieren die mangelnde Unterstützung des BMZ und
dessen Entwicklungspolitik durch das Auswärtige Amt
und andere Ressorts. Bezeichnenderweise war ja zu Be-
ginn der Debatte, als Sie, Frau Ministerin, sprachen, kein
einziger von Ihren Kollegen im Raum.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Richtig! – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Volmer war auf jeden Fall da!)


Beim Einzug in das Außenministerium haben die grünen
Chefs ihren umweltpolitischen Anspruch abgelegt. Auch
wenn sich die Umweltsituation gerade in den Entwick-
lungs- und Schwellenländern dramatisch zuspitzt und
selbst viele unserer eigenen, ökologisch orientierten Ent-
wicklungsprojekte politisch hochgradig gefährdet sind:
Fischer und Volmer riskieren dazu diplomatisch nichts.

Das gilt leider auch für Afrika. In der Tat sind viele
afrikanische Politiker dabei, jede Glaubwürdigkeit, jedes
Renommee und auch jede politische Existenzberechti-

gung zu verspielen. Was sich in Äthiopien und Eritrea
abspielt, ist zynisch und unverschämt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Frau Ministerin, es sind nicht nur die Industrienationen,
die dorthin Waffen verkaufen. Es ist vor allem Russland,


(Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!)

das von Verkäufen an beide Seiten profitiert hat und den
Sanktionsbeschluss so lange hinausgezögert hat, dass
beide Seiten genug Waffen haben, um noch jahrelang wei-
ter kämpfen zu können. Das ist ein Skandal, der von uns
nur außenpolitisch bekämpft werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wurde vom Außenminister gemacht!)


Genauso zynisch sind das Kriegsengagement einer
ganzen Reihe von armen Staaten in Krisengebieten, das
Aufhetzen zur rassistischen Gewalt in Simbabwe und die
traurige Solidarität mit diesen gefährlichen Vorgängen
auch durch den südafrikanischen Staatspräsidenten. Das
muss man auch sagen; das hat mich ebenfalls enttäuscht.
Ich werfe der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und
dem Bundesaußenminister zuvörderst vor, dass sie für den
Frieden und die Entwicklung in Afrika nichts riskieren,
was diplomatisch und politisch wehtun könnte, dass es
auch kein Afrika-Konzept gibt, das diesen Namen ver-
dient. Joschka Fischer schließt fünf Botschaften in Afrika
und joggt dann werbewirksam durch die Pyramiden von
Giseh. Das ist meiner und unserer Ansicht nach zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Unkollegialität gegenüber der Entwicklungspo-

litik wird nur noch durch das Finanzministerium in den
Schatten gestellt, insbesondere durch die Person des
Staatssekretärs Overhaus und die Art und Weise, wie er
die Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe „Villa
Borsig“ – die Insider wissen, wovon ich spreche – abge-
bürstet hat. Ich glaube, dass deshalb der AWZ ein Recht
darauf hat, dass Finanzminister Eichel uns einmal per-
sönlich Rede und Antwort steht und uns in Zukunft einen
Gesprächspartner aus seinem Hause mitgibt, der die Ent-
wicklungspolitik nicht ruinieren will.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410602300
Kollege Ruck, Ihre
Zeit ist schon deutlich überschritten.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1410602400
Dann fasse ich zu-
sammen:


(Heiterkeit)

Gegen Ihre symbolischen Gesten, Frau Ministerin, habe
ich nichts einzuwenden; Ihre werbewirksamen Auftritte
sind wichtig, damit man Entwicklungspolitik begreiflich
machen kann. Wir haben auch nichts gegen flotte
Sprüche. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass entgegen allen vollmundigen Ankündigungen die




Dr. Christian Ruck
9938


(C)



(D)



(A)



(B)


deutsche Entwicklungspolitik durch Rot-Grün in eine
Krise gestürzt wurde und den wachsenden Herausforde-
rungen derzeit nicht gerecht werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410602500
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Heidemarie
Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1410602600
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich möchte an die Adresse derer,
die mich angesprochen haben, Folgendes sagen. Ich be-
ziehe mich zunächst auf die Frage der Entschuldungs-
initiative. Ich finde, die Probleme, die ich heute ange-
sprochen habe, sind so groß, dass wir die Diskussion
wirklich nicht im Kleinklein führen sollten. Vielmehr
sollten wir sie so führen, dass wir gemeinsam Ergebnisse
erzielen können.

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Sie
haben uns vorgeworfen, dass wir eine Entschuldungs-
initiative im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar haben
mobilisieren können und dass das den deutschen Bundes-
haushalt vergleichsweise wenig belastet. Ich finde, das ist
kein Vorwurf. Mit einem vergleichsweise nicht so hohen
Anteil haben wir ein Maximum für die Menschen in der
Welt erreicht. Das kann doch kein Vorwurf an uns sein.
Wir haben uns doch sinnvoll und richtig verhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein zweiter Punkt. Ich danke den Kollegen, die ver-
sucht haben, sachlich zur Frage der Länderliste zu dis-
kutieren. In entwicklungspolitischen und außenpoliti-
schen Fragen setzen die Menschen in der Welt auf Konti-
nuität und Verlässlichkeit. Bitte lassen Sie uns die
Länderliste sachlich diskutieren.

Ich habe wirklich nicht verstanden, Herr Kollege
Hedrich, worin Ihr Vorwurf besteht. Sie haben einerseits
behauptet, wir hätten nicht frühzeitig genug die Entwick-
lungszusammenarbeit mit Simbabwe eingestellt. An-
schließend haben Sie uns vorgeworfen, wir hätten es nicht
als Partnerland mit aufgeführt. Was ist denn jetzt Ihr Vor-
wurf? Sie müssen doch an dieser Stelle die Auswirkungen
entsprechend mit bedenken.

Ich möchte den Sachverhalt klarstellen. In Bezug auf
Simbabwe haben wir die Entwicklungszusammenarbeit
im finanziellen Bereich zu dem Zeitpunkt eingefroren,
als sich Simbabwe in den Kongokrieg eingeschaltet hat,
also schon weit früher. Was wir durchführen – dazu stehe
ich –, sind die Projekte, die der armen Bevölkerung nut-
zen. Unser Prinzip ist: Wir werden die arme Bevölkerung
nicht für ihre schlechte Regierung bestrafen, und das wer-
den wir auch durchhalten.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben Simbabwe selbstverständlich als potenzielles
Partnerland mit genannt.

Zu Herrn Ruck: Sie hatten, als im Zusammenhang mit
Lomé zwischen EU- und AKP-Staaten verhandelt wurde,
die Chance, die Frage der verantwortungsvollen Regie-
rungsführung zu verankern. Ich lege Wert darauf, dass
unter unserer Verhandlungsführung im Abkommen zwi-
schen der EU und den afrikanisch-karibisch-pazifischen
Ländern das Prinzip der verantwortungsvollen Re-
gierungsführung verankert worden ist. Damit wird deut-
lich, dass in Fällen – das ist jedem AKP-Staat klar –
schwerer Korruption im Land selbst die Möglichkeit der
Unterbrechung der finanziellen Hilfe vonseiten der Euro-
päischen Union gegeben ist. Das finde ich gut, weil ich
dafür bin, dass in solchen Fällen die entsprechenden
Sanktionen vollzogen werden; denn Korruption heißt, die
arme Bevölkerung in den betroffenen Ländern zu strafen
und ihnen das Geld vorzuenthalten. Deshalb haben wir
das verankert und dazu stehen wir auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410602700
Kollegin Wieczorek-
Zeul, die drei Minuten sind vorüber.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1410602800
Gut.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410602900
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner
Schuster das Wort.


Dr. R. Werner Schuster (SPD):
Rede ID: ID1410603000
Lieber Kollege
Christian Ruck, ich freue mich, wenn diese Debatte den
Eindruck vermittelt, dass der nächste Bundestagswahl-
kampf vom Thema Entwicklungszusammenarbeit ent-
schieden wird. Das wäre ein Novum. Aber dies erinnert
mich an die Apostelgeschichte, in der der Saulus zum
Paulus wurde. Ihr habt offensichtlich euer Damaskus rein
zufällig jetzt nach 16 Jahren Gestaltungsmöglichkeit.

Es ist sicher euer gutes Recht und eure Pflicht, uns zu
kritisieren. Aber tut das bitte schön mit Augenmaß. Wenn
ihr wirklich wollt, dass die Entwicklungspolitiker in der
Regierungskoalition erreichen, dass der Haushalt im
Jahre 2001 verbessert wird, dann müsst ihr uns seriöse
Vorschläge unterbreiten und könnt nicht einfach nur
Wahlkampfgetöse machen. Ihr habt gesagt, es habe sich
nichts verändert. Dazu will ich euch ein paar Fragen stel-
len.

Herr Hedrich und ich haben seit Jahren immer wieder
darauf hingewiesen, wie groß die Ineffizienz auf europä-
ischer Ebene ist. Jetzt bewegt sich etwas in Brüssel. Ist das
nichts?

Wir haben darauf hingewiesen, dass Post-Lomé struk-
turell geändert werden muss. Die Frau Ministerin hat das
zusammen mit ihren drei Kolleginnen geschafft. Ist das
alles nichts?




Dr. Christian Ruck

9939


(C)



(D)



(A)



(B)


Bei der multilateralen Entschuldung, Herr Hedrich,
gab es 1986 – ich war noch nicht dabei – einen einstim-
migen Beschluss im Bundestag. Passiert ist damals nichts,
aber jetzt tut sich etwas. Ist das alles nichts?

Die PPP – sie ist von euch mehrfach angekündigt wor-
den, ich habe dabei eine Menge vom Kollegen
Pinger gelernt – wird jetzt Realität. Ist das nichts?

Entwicklungszusammenarbeit findet zum ersten Mal
wieder die Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien, und
zwar dank der hervorragenden Präsentation der Ministe-
rin. Ist das eigentlich alles nichts?


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hören Sie doch zu, wenn ich rede!)


Wir haben zum Beispiel die Kernarbeitszeitnorm in die
ILO eingebaut. Ist das nichts?


(Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Ist die Kürzung nichts?)


Sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU, lieber
Christian Ruck, eine Aufgabe haben wir gemeinsam,
nämlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalb
der Fraktion für „Frieden braucht Entwicklung“ zu wer-
ben. Dies ist aber leider nicht umsonst zu haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410603100
Herr Kollege Ruck,
Sie haben Gelegenheit zu antworten.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1410603200
Herr Präsident, ich
bin zweimal angesprochen worden, sodass ich jetzt sechs
Minuten lang reden kann, oder?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt können Sie alles bestätigen, was wir gemacht haben!)


– Herr Kubatschka, ich bestätige Ihnen nicht allzu viel.
Ich habe zunächst eine Gegenfrage an Werner

Schuster: Sind die Kürzungen in Höhe von 960 Milli-
onen DM auch nichts?

Nun komme ich auf die Intervention der Frau Ministe-
rin zu sprechen. Ich möchte noch einmal sagen: Wir wün-
schen der Entschuldungskampagne viel Glück. Ich halte
es aber für übertrieben, dass Sie sich immer hinstellen und
sagen: Diese 70 Milliarden Dollar habe ich verbrochen
und die wiegen praktisch diese 960 Millionen DM pro
Jahr auf, um die wir kürzen müssen. Diese Rechnung
stimmt weder politisch noch mathematisch.

Wir könnten gern weniger über diese Zahlen sprechen,
wenn Sie nicht immer die Unwahrheit über die wirkliche
Entwicklung Ihres Haushalts im letzten Jahrzehnt sagen
würden – siehe gestern – und wenn – das muss ich leider
auch sagen – die Koalition nicht immer so riesige Ver-
sprechen wie zum Beispiel vor einem drei viertel oder hal-
ben Jahr machen würde, aber genau das Gegenteil macht.
Es kann niemand von uns als Opposition verlangen, dass
wir, liebe Adelheid Tröscher, sagen: Die Regierung

möchte das nicht mehr hören, deswegen sagen wir es auch
nicht. Das kann wirklich kein Mensch von uns verlangen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe einige Punkte, die du bei mir als Defizite kri-

tisiert hast, ausdrücklich in positivem Sinne angespro-
chen. Die Bewegung auf der EU-Ebene ist ein positiver
Schritt. Aber es bleibt trotzdem dabei, worauf wir immer
alle Wert gelegt haben: Entschuldung nur gegen Kon-
ditionierung, zum Beispiel bezogen auf die Armuts-
bekämpfung. Dies muss wasserdicht, zum Beispiel mit
NGOs, vereinbart werden. Dazu gibt es zwei Dinge: Das
Erste ist, dass in der EU nur der Fall der schweren Kor-
ruption geregelt ist, sonst nichts. Das ist zu wenig.

Das Zweite sind die Entschuldungsprogramme.
Noch kein einziges Mal ist der Beweis dafür angetreten
worden, dass es so – wie Sie das auch mittragen – auch
funktioniert. Es funktioniert noch nicht in Bolivien und es
funktioniert auch noch nicht in Uganda. Wir können gern
darüber fachsimpeln, was zum Beispiel in Bolivien pas-
siert. In Bolivien wird es so, wie es bisher läuft, nicht
klappen, ganz einfach deshalb, weil die NGOs das, was
geplant ist, nicht mittragen können.

Wir können gern im Detail darüber diskutieren, aber
lassen Sie uns jeweils fair und sportlich bei der Wahrheit
bleiben, auch hinsichtlich dessen, was Ihre Vorgänger ge-
tan haben.

Es ist wahr, dass wir in 16 Jahren nicht alles richtig ge-
macht und auch nicht alle Probleme gelöst haben. Ich darf
aber daran erinnern, dass die Kriterien und die Schwer-
punktsetzung von Herrn Spranger ausdrücklich von Ihnen
übernommen worden sind. Sie haben 16 Jahre lang ge-
wartet. Jetzt können Sie alles besser machen. Nach fast
zwei Jahren werden wir Sie doch wohl fragen dürfen: Was
ist aus den großen Versprechen geworden? Dies lassen
wir uns nicht nehmen. Manches, das vielleicht im Sande
versickert ist, werden wir wieder ausgraben.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410603300
Nun erteile ich der
Kollegin Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, das Wort.

Dr
Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410603400
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Nach der ganzen parteipolitischen Polemik würde
ich gern den Versuch unternehmen und auch die Opposi-
tion dazu einladen, zu prüfen, ob wir hinsichtlich des
Kerns des Verständnisses von Entwicklungspolitik immer
noch Gemeinsamkeiten haben oder nicht.

Deswegen möchte ich gern drei Gedanken zum
grundsätzlichen Verständnis von Entwicklungspolitik
äußern. Erstens zum Verständnis von Entwicklungs-
partnerschaft: Zu lange haben wir unsere Partnerländer
in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Leistungswillen
unterschätzt. Zu lange haben wir diese Länder aus einer
paternalistischen und sehr eurozentristischen Sichtweise




Dr. R. Werner Schuster
9940


(C)



(D)



(A)



(B)


heraus in eine passive Rolle gedrängt. Das will diese Bun-
desregierung zurechtrücken und korrigieren helfen. Wir
stellen deshalb die Hilfe zur Selbsthilfe in den Kontext ei-
ner Entwicklungspartnerschaft, um den Realitäten in un-
seren Partnerländern besser Rechung zu tragen.

Diese Kurskorrektur von der Entwicklungshilfe zur
Entwicklungspolitik war längst überfällig, um wieder den
Anschluss an den aktuellen Stand der internationalen ent-
wicklungspolitischen Diskussion zu finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was heißt das nun für unsere praktische entwicklungs-
politische Arbeit? Wir müssen darauf drängen, dass
grundlegende Aufgaben der nationalen Politik von den
Staatsregierungen unserer Partnerländer verantwortlich
und eigenständig wahrgenommen werden. Wir müssen
offen sein für alle Formen der Eigeninitiative dort. Wir
müssen uns als Geber davor hüten, mit Blaupausen zu
agieren, und wir müssen die selbstbestimmten Entwick-
lungsstrategien unserer Partner ernst nehmen.

Wir müssen unseren Partnerländern verdeutlichen,
dass Entwicklungszusammenarbeit nur komplementär zu
Eigenanstrengungen zum Zuge kommen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Entwicklungspartnerschaft bedeutet auch, dass unsere
Entwicklungspolitik nicht als isoliertes Politikfeld, son-
dern nur als ganzheitlicher Ansatz erfolgreich sein kann.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wie wahr!)

Wir bemühen uns deshalb um eine möglichst kohärente
Gesamtpolitik, auch wenn dies nicht einfach ist, und dies
tun wir sowohl in der bilateralen Zusammenarbeit als
auch im internationalen Rahmen. Wir haben bereits
Schritte unternommen, unsere Entwicklungspolitik mög-
lichst effizient mit anderen Politikfeldern zu vernetzen,
um so den quantitativen und qualitativen Nutzen unserer
Zusammenarbeit zu maximieren. Das zeigen zum Bei-
spiel die Mitgliedschaft des Ministeriums im Bundessi-
cherheitsrat und die Diskussionen und Entscheidungen
über Rüstungsexporte.

Meine zweite Bemerkung: Entwicklung braucht einen
langen Atem. All das, was hier zum Beispiel zu Bolivien
oder Uganda eingefordert worden ist, eine ganz schnelle
Entschuldung, haucht genau nicht diesen langen Atem,
Herr Ruck. Ich bitte Sie, statt auf Schnelligkeit und Quan-
tität auf Qualität zu setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ja, d´accord!)


Entwicklung funktioniert nicht von heute auf morgen.
Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich hoch komplexe
gesellschaftliche Umwälzungsprozesse nur in kleinen
Schritten vollziehen und nicht immer unserem europä-
ischen Entwicklungsraster entsprechen. Darum müssen
wir Geduld aufbringen und versuchen, auch alternative,

das heißt auch andere Entwicklungsmuster zu verstehen
und zu unterstützen.

Geduld bedeutet aber nicht Langmut. Wir dürfen un-
sere Partner nicht aus ihrer Verantwortung für eine ent-
wicklungs- und armutsorientierte Politik entlassen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir müssen unseren Partnerländern – das ist sehr wich-
tig, das vergessen wir häufig – auch das Recht auf Fehler
einräumen und dürfen uns nicht als Lehrmeister aufspie-
len.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich sage dies, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass
gerade heute, da wir die Katastrophe in Sierra
Leone vor Augen haben, da der brutale Krieg zwischen
Eritrea und Äthiopien herrscht, diese Ansicht auf Kritik
stößt. Trotzdem meine ich, dass wir im Prinzip unseren
Partnerländern auch Fehler zugestehen müssen.

Nur so können wir einen ernsthaften und auf gegensei-
tigem Respekt beruhenden Dialog führen, Entwicklungen
in diesen Ländern früher und besser einschätzen und ge-
meinsam über Entwicklungsalternativen nachdenken.
Um der Vielfalt der kulturellen, sozioökonomischen und
historisch gewachsenen Realitäten gerecht zu werden,
müssen wir noch viel stärker als bisher flexible Instru-
mente entwickeln und einsetzen.

Meine dritte und letzte Bemerkung: Ich glaube – ge-
rade auch, wenn ich mir meine Partei ansehe –, wir haben
manchmal vergessen, dass Wirtschaftswachstum
Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung ist. Eine
Vielzahl von Ländern hat es bewiesen: Um ein langfristig
hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, müssen und
wollen die Entwicklungsländer am Welthandel teilhaben
und die positiven Effekte der Globalisierung ausschöpfen.

Es geht also darum – ich zitiere den Präsidenten der
Weltbank –, „die Herausforderungen der Einbeziehung“
einer globalen Zukunftsfähigkeit zu meistern. Gemeint ist
damit die Notwendigkeit, die Entwicklung menschlich zu
gestalten und die Schwachen und Verletzlichen am Rande
der Gesellschaft in die Mitte zu nehmen. Diesen Heraus-
forderungen müssen wir uns stellen und dürfen Globali-
sierung nicht immer als Bedrohung für die Entwicklungs-
länder begreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist daher auch die Aufgabe der Entwicklungspolitik,
unsere Partnerländer für den Weltmarkt fit zu machen.
Dazu unterstützen wir sie beim Aufbau einer leistungs-
fähigen Wirtschaft und treten für ein umfassenderes
Mitspracherecht der Entwicklungsländer im internatio-
nalen Rahmen ein. Das heißt beispielsweise, dass wir uns
in bilateralen Projekten zur Kleingewerbeförderung
ebenso wie bei der Gestaltung der Welthandelsordnung
für unsere und mit unseren Partnerländern engagieren.




Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid

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Zugleich wollen wir mit unserer Entwicklungszu-
sammenarbeit dazu beitragen, dass das wirtschaftliche
Wachstum im Einklang mit der Natur und sozial verträg-
lich gestaltet wird. Somit leistet unsere Entwick-
lungspolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssi-
cherung für alle.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1410603500
Ich erteile dem Kolle-
gen Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion, das
Wort.


Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD):
Rede ID: ID1410603600
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
danke insbesondere der Ministerin, Heidemarie
Wieczorek-Zeul, dass sie zum ersten Mal eine Regie-
rungserklärung zum Thema Entwicklungszusammenar-
beit abgegeben hat. Es ist ein symbolisch sehr wichtiger
Fortschritt.

Aber wir können uns mit Symbolen nicht zufrieden ge-
ben. Die Lage ist viel zu ernst. In vielen Ländern der Drit-
ten Welt ist die Lage gefährlich gespannt. Die Globalisie-
rung der Weltwirtschaft hat nicht etwa verhindert, son-
dern eher befördert, dass die Schere zwischen Arm und
Reich, insbesondere innerhalb der Länder, weiter ausei-
nander klafft. Das weitere Aufklaffen dieser Schere ist
eine der ganz großen Ursachen für gefährliche Konflikte.
Insofern ist gerade im Kontext der Globalisierung Ent-
wicklung eine der besten Formen des Friedenserhalts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist besorgniserregend, wenn der globale Wettbe-
werb um höchste privatwirtschaftliche Kapitalrenditen
die Geberländer dazu veranlasst, einen Wettbewerb um
sinkende Staatsquoten zu veranstalten und dabei auch
die Entwicklungshilfe zu kürzen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Was ist zu tun? Der schon genannte Meltzer-Bericht
geht exakt in die falsche Richtung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Report behauptet unter lauter Beteuerungen, es gehe
ihm um die Ärmsten, die meisten Länder hätten nun Zu-
gang zu den privaten Kapitalmärkten. Bei 15 Prozent Zin-
sen ist das eine zynische Strategie gegenüber den Ärmsten
und auch gegenüber der Umwelt und gegenüber jeder
langfristig angelegten Entwicklungspolitik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bildung, Forschung und Infrastruktur werfen keine
15 Prozent Zinsen ab.

Entwicklungszusammenarbeit ist eines der großen
Querschnittsthemen auch für die neugegründete

Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirt-
schaft“.Wir sehen mit großer Freude, dass sich unter Ih-
rer Führung, Frau Ministerin, das BMZ auf eine enge Zu-
sammenarbeit mit dieser Kommission eingestellt hat. Wir
erwarten davon fruchtbare Fortschritte. Ich bedanke mich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weil wir erst am Anfang sind, ist das Zukunftsmusik.
Deswegen möchte ich ein paar Worte zu dem sagen, was
uns alle in den letzten zehn Jahren vor und nach dem Erd-
gipfel in Rio de Janeiro insbesondere in Bezug auf die
nachhaltige Entwicklung beschäftigt hat.

In Sonntagsreden wird oft so getan, als gäbe es gar
keine Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Die wunderschönen Worte „sustainable development“,
nachhaltige Entwicklung, gehen einem leicht über die
Lippen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr häufig so, dass
Entwicklung auf mehr und nicht etwa auf weniger Natur-
verbrauch hinausläuft. Wenn 6 Milliarden Menschen
den Lebens- und Wirtschaftsstil erreichen, den wir vor-
führen – gleichzeitig stellt sich Deutschland gerne als
Weltmeister im Umweltschutz dar –, dann ist die Erde
ökologisch am Ende. Das heißt, gerade bei uns müssen
wir eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Technolo-
giestile entwickeln, damit nachhaltige Entwicklung welt-
weit zustande kommen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für uns ist das ein Programm der Modernisierung. Für die
Entwicklungsländer ist es angesichts von Wasser– und
Energieknappheit sowie des Mangels an Geld für Roh-
stoffimporte eine Frage des Überlebens. Ich sehe mit Ge-
nugtuung, dass sich die deutsche Entwicklungszusam-
menarbeit dieses Themas systematisch annimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Schlauch hat bereits die Wichtigkeit der
internationalen Umweltabkommen erwähnt. Die Konven-
tion zum Schutz der biologischen Vielfalt hat für die
Nord-Süd-Beziehungen eine herausragende Bedeutung.
Der Norden muss dabei aufpassen, dass er seine eigene
Glaubwürdigkeit nicht gefährdet. Mit Empörung haben
die Menschen in Südasien vor fünf Jahren reagiert, als das
Europäische Patentamt in München der amerikanischen
Firma Grace ein Patent auf das Öl aus dem Niembaum er-
teilt hat, um es als Pestizid zu nutzen. Die Inder haben das
Öl seit Jahrhunderten selbstverständlich genutzt. Nun sol-
len sie auf einmal Patentgebühren dafür zahlen.

Das ist nun glücklicherweise ein Beispiel mit einem
Happy End; denn vor etwa zwei Wochen hat das Europä-
ische Patentamt dieses Patent widerrufen. Daraufhin
wurde vor zwei Tagen in Nairobi, wo gerade die
Vertragsstaatenkonferenz über die Konvention zum
Schutz der biologischen Vielfalt abgehalten wird, ein
Freudentanz aufgeführt und symbolisch ein Niembaum
gepflanzt. Hier haben Nichtregierungsorganisationen aus
dem Norden und dem Süden seit Jahren politischen Druck




Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
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ausgeübt und wesentlich dazu beigetragen, dass sich end-
lich ein Politikwandel – in diesem Fall bis hin zum Euro-
päischen Patentamt – vollzogen hat.

Herr Kollege Hedrich hat vollkommen Recht, wenn er
sagt – das ist aber für die Regierung und für die sie tra-
genden Koalitionsfraktionen überhaupt nichts Neues –,
dass die Rolle der Nichtregierungsorganisationen gar
nicht überschätzt werden kann. Ohne die Kooperation
zwischen der demokratischen Öffentlichkeit in den Staa-
ten und den Nichtregierungsorganisationen wäre ein sol-
cher Fortschritt völlig undenkbar.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Die Globalisierung beschert uns ein spannendes und
neuartiges Dreieck zwischen dem Staat, der Wirtschaft
und der Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaft
müssen ein großes Interesse daran haben, dass insbe-
sondere im internationalen Wirtschaftsgeschehen mehr
Transparenz einzieht. Eine der unter Globalisierungsge-
sichtspunkten interessantesten Nichtregierungsorganisa-
tionen ist vor einigen Jahren in Berlin gegründet worden,
nämlich Transparency International, eine Nichtregie-
rungsorganisation, die sich spezifisch mit der Be-
kämpfung des Betrugs und der Korruption beschäftigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der PDS)


Die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusam-
menarbeit kooperieren auf das Engste mit Transparency
International, um die Glaubwürdigkeit der Geberländer,
der Nehmerländer und der Privatwirtschaft wieder herzu-
stellen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine
Nichtregierungsorganisation die Politik wesentlich mit-
gestalten kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Druck von demokratischen Öffentlichkeiten, Kon-

sumentengruppen und sogar von Investoren auf die Pri-
vatwirtschaft ist entscheidend dafür, dass Entwicklung
und Frieden weltweit zustande kommen. „Frieden
braucht Entwicklung“, so heißt es sowohl in der Regie-
rungserklärung als auch in unserem Antrag. Frieden und
Entwicklung in einer globalisierten Wirtschaft brauchen
den Frieden stiftenden Druck der demokratisch gesinnten
Kräfte der Öffentlichkeit in Nord und Süd.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410603700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entsch-
ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/3388. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent-

schließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/3128 und 14/3396 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder

(17. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/ DIE GRÜNEN
Fortsetzung der Berichterstattung der Bundes-
regierung zum Stand der deutschen Einheit
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Weiterführung des Jahresberichtes der Bun-
desregierung zum Stand der deutschen Einheit
– Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715,
14/2608 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Dr. Michael Luther

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Vera
Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Investitionsförderung verstetigen – regionale
Wirtschaftsstrukturen stärken
– Drucksache 14/2242 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder (17. Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter
Grill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Strompreise in Deutschland angleichen – neue
Stromsteuern im Osten aussetzen
– Drucksachen 14/1314, 14/2404 –




Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid

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Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Dr. Michael Luther
Werner Schulz (Leipzig)

Jürgen Türk
Gerhard Jüttemann

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul
Krüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke),
Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Förderung technologieorientierter Unterneh-
mensgründungen in den neuen Ländern fort-
setzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz,
Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der PDS
Förderung und Unterstützung von techno-
logieorientierten Unternehmensgründungen

(FUTOUR) bedarfsgerecht weiterentwickeln

– Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jelena Hoffmann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser De-
batte ist der Staatsminister Rolf Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1410603800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal den Bericht
zum Stand der deutschen Einheit aus dem vergangenen
Jahr. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einige An-
merkungen zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in den
neuen Ländern und auch zur Angleichung der Lebensver-
hältnisse zu machen, einem Thema, das die Ostdeutschen
sehr bewegt.

Dabei hat für die Menschen die Angleichung der Ein-
kommen natürlich ein ganz besonderes Gewicht. Was den
öffentlichen Dienst betrifft, sind wir zurzeit in der
Schlichtung. Ich persönlich habe in den zurückliegenden
Monaten aus meinen Hoffnungen – bei aller gebotenen
Zurückhaltung – keinen Hehl gemacht. Ich will deswegen
zu Beginn meiner Rede ausdrücklich sagen: Ich bin sehr
zuversichtlich, dass es den Tarifparteien gelingen kann,
eine Perspektive für die Angleichung aufzuzeigen, die –
das ist mir besonders wichtig – den finanziellen Leis-
tungsmöglichkeiten der ostdeutschen Länder und Ge-
meinden entspricht.

Die Perspektiven für den Aufbau Ost sind gut. Immer
deutlicher wird das verarbeitende Gewerbe in Ost-
deutschland zum konjunkturellen Zugpferd. Zweistellige
Wachstumsraten bei den wichtigsten Kennziffern, vom
Export bis hin zu den Ausbildungsplätzen im Handwerk,

zeigen, dass der Osten auf dem richtigen Weg ist. Das ist
keine Schönfärberei. Natürlich gibt es daneben noch
schmerzhafte Anpassungsprozesse, vor allen Dingen in
der ostdeutschen Bauwirtschaft, die auf die Arbeitsmarkt-
situation des gesamten Ostens durchschlagen.

Aber die Trendwende ist geschafft. Die positiven Sig-
nale sind überdeutlich. Die Industrie in den neuen Bun-
desländern wächst schon heute schneller als die im Wes-
ten. Die in den letzten Wochen und Monaten gelegentlich
geäußerten Befürchtungen, die neuen Länder könnten auf
Dauer vom Wirtschaftswachstum und von der steigenden
Beschäftigung im Land abgekoppelt sein, sind deshalb
unbegründet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass das

mittelständisch geprägte verarbeitende Gewerbe in Ost-
deutschland im ersten Quartal dieses Jahres einen Pro-
duktionsanstieg von 13,3 Prozent gegenüber dem Vor-
jahr verbuchen konnte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN)


Das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe wächst damit fast
zweieinhalbmal so schnell wie das in den alten Bundes-
ländern. Das gleiche Bild zeigt sich erfreulicherweise bei
den Auftragseingängen und bei den Erwartungen der ost-
deutschen Unternehmen. Ich erinnere an das letzte Kon-
junkturbarometer, das vor kurzem im „Handelsblatt“ er-
schienen ist. Ich sage ganz klar: Der Osten ist auf dem
richtigen Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besonders freut mich: Das schlägt auch auf den Ex-
port durch – jahrelang eine große Schwachstelle der ost-
deutschen Wirtschaft. Mit einem Plus von 10,5 Prozent
verzeichnete das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe
1999 einen außerordentlichen Exporterfolg. Damit wuch-
sen die ostdeutschen Ausfuhren deutlich schneller als die
Ausfuhren in den alten Bundesländern, und das übrigens
nicht nur in traditionellen Bereichen, in denen der Osten
auch in der Vergangenheit schon stark war: beispielsweise
beim Maschinenbau, bei der Elektronik oder im Fahr-
zeugbau. Die ostdeutschen Ausfuhren stiegen auch in Be-
reichen der so genannten Spitzentechnologie: in der Me-
dizintechnik, in der Optik oder auch in der Datenverar-
beitung. Ostdeutsche Produkte fassen zunehmend auf den
internationalen Märkten Fuß und sind in der Lage, den
harten Wettbewerb zu bestehen.

Meine Damen und Herren, der Export wird zu einer
wichtigen Säule des Wachstums im Osten. Immer deutli-
cher wird das verarbeitende Gewerbe zum Träger der
Konjunktur im Osten. Das ist die neue Qualität des
Wachstums. Darüber sollten wir alle uns in diesem Hause
freuen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Exportquote hat natürlich noch nicht den west-
deutschen Wert erreicht; das ist völlig klar. Wir liegen et-
was über der Hälfte des Wertes in den alten Bundeslän-




Vizepräsidentin Petra Bläss
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dern. Im vergangenen Jahr stieg die Exportquote in Ost-
deutschland auf 18,4 Prozent. In den ersten beiden Mona-
ten dieses Jahres stieg sie jedoch auf 20,7 Prozent. Das ist
ein gewaltiger Sprung, der zeigt, dass der Exportboom –
Herr Kollege Türk, wir haben im Ausschuss darüber ge-
redet –, der in den alten Bundesländern greift, nicht an
Ostdeutschland vorbeigeht. Auch das ist ein wichtiges Si-
gnal, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)

Deutlich sind auch die Signale hinsichtlich der Be-

schäftigungssituation. Im verarbeitenden Gewerbe gibt
es einen Beschäftigungszuwachs; 1999 betrug der
Arbeitsplatzzuwachs rund 1,4 Prozent. Im Februar dieses
Jahres lag die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden
Gewerbe bereits um 2,5 Prozent über dem Vorjahreswert.
Auch hier gehen die Zahlen also nach oben; das ist die
richtige Entwicklung.


(Beifall bei der SPD)

Besonders freut mich, dass es auch bei den Ausbil-

dungsplätzen positive Signale gibt. Nicht nur hat sich –
das haben wir mehrfach debattiert – über das wichtige Ju-
gendsofortprogramm des letzten Jahres zum ersten Mal
die sich in den zurückliegenden Jahren immer weiter öff-
nende Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Aus-
bildungsplätzen in Ostdeutschland wieder etwas ge-
schlossen, wenn auch nicht so wie in den alten Bundes-
ländern. In diesem Jahr – Sie haben die April-Zahlen vor
kurzem debattiert – gibt es Signale, dass nun auch im be-
trieblichen Bereich die Zahl der Ausbildungsplätze nach
oben geht. Die regionalen Handwerkskammern melden,
wie gestern geschehen, dass die Handwerksbetriebe auf-
grund der guten wirtschaftlichen Entwicklung fast
18 Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr anbie-
ten. Über diese positiven Signale sollten wir uns alle
freuen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieser Erfolg kommt nicht von selbst. Dahinter stehen
in erster Linie – ich sage das ganz deutlich – die harte Ar-
beit und der Einsatz der Ostdeutschen und natürlich auch
die konsequente Politik der Förderung des Aufbaus Ost,
der Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, die wich-
tige aktive Arbeitsmarktpolitik, die Verstärkung von For-
schung und Entwicklung in Ostdeutschland und schließ-
lich die Gründung von innovativen Unternehmen sowie
die gezielte steuerliche Entlastung von kleinen und mit-
telständischen Unternehmen, die Kernpunkt unserer
Steuerreform ist. Deshalb werden wir an diesem Kurs,
meine Damen und Herren, ausdrücklich festhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insbesondere ertragsschwache kleinere und mittlere
Unternehmen – von ihnen gibt es in den neuen Ländern
bekanntlich überproportional viele – profitieren von der
schrittweisen Senkung des Eingangssteuersatzes auf
15 Prozent und von der Anhebung des Grundfreibetrags.
Gerade in Ostdeutschland versteht übrigens niemand,
worin der Vorteil einer weiteren Senkung des Spitzen-
steuersatzes liegen soll. Die Ertragssituation der Unter-

nehmen in Ostdeutschland liegt weit unter dem westdeut-
schen Durchschnitt. Von einer weiteren Senkung des Spit-
zensteuersatzes, wie von der Opposition gefordert, wür-
den vor allen Dingen Unternehmen profitieren, die ein zu
versteuerndes Einkommen von weit über 120 000 DM ha-
ben. Diese, meine Damen und Herren, muss man in Ost-
deutschland mit der Lupe suchen. Deshalb sage ich aus-
drücklich noch einmal: Spitzenverdiener, die hier begüns-
tigt werden sollen, sitzen überwiegend in den alten
Bundesländern und nicht in Ostdeutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu einer aktu-
ellen Forderung, die von der CDU/CSU in dieser Woche
zu vernehmen war: Mit ihrer Forderung, im Zusammen-
hang mit der Steuerreform entweder den Spitzensteuer-
satz auf 35 Prozent zu senken oder den Solidaritätszu-
schlag abzuschaffen, bricht bei der CDU eine klare an-
tiostdeutsche Haltung durch.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das haben Sie doch selber auch vor zwei Jahren gefordert!)


Sie wollen die Regierung im Vermittlungsausschuss
zwingen, entweder Spitzenverdiener, die in den alten
Bundesländern sitzen, zu entlasten oder dem Solidarpakt
die finanzielle Grundlage zu entziehen. Das tun Sie,
während wir gerade darangehen, einen zweiten Solidar-
pakt auszuhandeln.


(Beifall bei der SPD)

Die Verlierer bei einer solchen Forderung, die Sie sich auf
die Fahnen geschrieben haben, sitzen in beiden Fällen in
Ostdeutschland. Ich habe die Debatte gestern aufmerksam
verfolgt. Sie haben nichts zu dieser Forderung gesagt. Ich
bin gespannt, ob Sie sich hier hinstellen, vielleicht auch in
der Person der Parteivorsitzenden, und diese Forderung
zurücknehmen; sie zeugt nämlich eindeutig von einer
feindlichen Haltung gegenüber dem Osten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Unfug!)


Zum Schluss möchte ich noch ausdrücklich sagen, die
Förderung und die Unterstützung vor allen Dingen inno-
vativer Prozesse bleiben ein ganz zentraler Punkt beim
Aufbau Ost. Ich bin sehr froh, wie gut, wie umfangreich
und wie durchschlagend gerade auch die neu konzipierten
Förderprogramme des Bundes dabei greifen. Ich möchte
dabei das Thema Inno-Regio wenigstens noch einmal an-
sprechen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410603900
Herr Staatsminister,
gestatten Sie, bevor Sie das tun, eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Luft?


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1410604000

Ich würde dieses gerne im Zusammenhang beenden.




Staatsminister Rolf Schwanitz

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(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410604100
Sie können die Zwi-
schenfrage nur jetzt zulassen, denn danach ist die Rede-
zeit vorbei.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1410604200

Ich möchte trotzdem im Zusammenhang vortragen.

Ich bin sehr froh, wie gut Inno-Regio an dieser Stelle
greift. Die Überlegung, verstärkte Kooperationen aufzu-
bauen und Netzwerke zwischen Wirtschaft, wissenschaft-
lichen Einrichtungen und Verwaltungen zu knüpfen, ist
ein richtiger Schritt gewesen. Bei vielen Besuchen dieser
Projekte vor Ort merkt man, dass ein Ruck durch die Re-
gion geht und es als etwas Wichtiges und Neues, als eine
Chance begriffen wird, solche Innovationsprozesse aus
den Regionen heraus zu entwickeln.

Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich aus-
drücklich: Wir sollten diese Erfolge nicht kleinreden und
auch nicht vor dem Hintergrund einseitiger parteipoliti-
scher Interessen die wirtschaftliche Situation schlechtre-
den.


(Klaus Haupt [F.D.P.]: Aber auch nicht vorbeireden!)


Die Signale sind klar: Die Entwicklung im Osten zieht an
und die Menschen, die dafür vor Ort in Ostdeutschland
gesorgt haben, können zu Recht auf diese Entwicklung
stolz sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU: Wir sollten aber auch auf Schönfärberei verzichten!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410604300
Das Wort für die Frak-
tion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Günter Nooke.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410604400
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
Ihnen scheint die Rede nicht so sehr gefallen, zumindest
Sie nicht überzeugt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck zeigte
jedenfalls keine Begeisterung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Von Ihrem Gesichtsausdruck sind wir auch nicht begeistert! – Weitere Zurufe von der SPD)


Bezüglich der Ausführungen zum Solidaritätszu-
schlag möchte ich anmerken, dass es hier darum geht,
dass wir das Geld für den Osten organisieren. Entschei-
dend ist, was hinten herauskommt. Wenn sich am Ende
nebenbei auch eine Vereinfachung beim Steuerrecht erge-
ben sollte, haben wir überhaupt nichts dagegen.

Bei seiner Regierungserklärung hat sich der Bundes-
kanzler letzte Woche über schöne Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftszahlen gefreut. Dabei gab es bei objektiver
Betrachtung – das entspricht ja auch dem, was jetzt hier
gesagt wurde – dazu überhaupt keinen Grund. Mir kam
das vor, als wenn sich der Besitzer eines Hauses, dessen
Dach undicht ist, über eine bessere Großwetterlage freut,
weil es dann weniger hereinregnet. Nein, zur Freude gibt
es längst noch keinen Anlass. Kluge Hausbesitzer freuen

sich nicht über schönes Wetter, sondern reparieren die
Dächer möglichst schnell. Herr Bundeskanzler, das haben
Sie bisher versäumt.

Der Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche hier
im Hause deutlich gemacht, welche Bedeutung er den
neuen Ländern zumisst. Im Zusammenhang mit einigen
Zahlen über Wirtschafts- und Ausbildungsplätze sprach
er, wie immer vermeintlich leicht und locker, von „bei uns
im Westen“ und damit implizit von den Ostdeutschen als
„ihr“ und „euch“.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Was ist denn das für eine Polemik?)


Herr Gysi musste den Kanzler daran erinnern, dass auch
der Osten zu Deutschland gehört. Wenn die Sache nicht so
ernst wäre, könnte man lästern: Hier sind alte und neue
Spalter unter sich. Aber ich glaube, wir alle sind uns ei-
nig – nicht nur in dieser Debatte über die deutsche Ein-
heit –: Wir in Deutschland gehören zusammen; wir sind
gemeinsam für Erfolg und Misserfolg verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Aufbau Ost geht uns alle an. Er bleibt eine Aufgabe

für alle Deutschen. Damit meine ich nicht, der Westen gibt
das Geld und der Osten gibt es aus. Vielmehr geht es da-
rum, diese Aufgabe als materielle und geistige He-
rausforderung für alle – im Westen wie im Osten der Re-
publik – zu begreifen.

Während die einen denken, dem Osten gehe es schon
viel zu gut, kommen die anderen aus dem Zustand des
Klagens und des Selbstmitleides nicht heraus. Weder Jam-
mern noch Schönreden, sondern Fakten sind gefragt.
Diese Fakten, Herr Bundeskanzler, sind bedrückend. Al-
lein im April – und das bei schönem Wetter – gab es
55 000 mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist. Die Ju-
gendarbeitslosigkeit im Osten ist um 20 Prozent gestie-
gen. Das sind Ihre Arbeitslosen, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Zahl nimmt ständig zu. Aber die Menschen im Osten
haben dafür kein Verständnis. Sie wollen teilhaben an der
wirtschaftlichen Entwicklung und sich in die Gesellschaft
einbringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach tatenlos zusehen.
Wir werden nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise den
Radikalen von links und rechts die Wähler zutreiben. Wir
werden uns mit eigenen Konzepten einmischen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ingrid Holzhüter [SPD]: Hätten Sie einmal Ihr Dach gedeckt! Dann sähe das heute anders aus!)


Bleiben wir erst einmal bei den Zahlen. Unglaublich
viel wurde erreicht, dank der Initiative der Menschen in
den neuen Bundesländern, dank der Hilfe aus West-
deutschland und dank der alten Bundesregierung unter
Helmut Kohl.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Ach!)


Wir dürfen aber am Ernst der derzeitigen Lage nicht vor-
beireden, so wie es Staatsminister Schwanitz gerade getan
hat. Während die Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist
wie in Westdeutschland, beträgt das Gesamtsteuerauf-






(C)



(D)



(A)



(B)


kommen je Einwohner weniger als 30 Prozent von dem
der westdeutschen Länder. In Westdeutschland wird jähr-
lich mehr Vermögen vererbt, als in ganz Ostdeutschland
vorhanden ist.

Der teilungsbedingte Nachholebedarf bei der Infra-
struktur wurde kürzlich von den führenden Wirtschafts-
forschungsinstituten mit etwa 40 bis 45 Prozent berech-
net. Das sind keine akademischen Zahlen. Sie zeigen viel-
mehr konkret den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung
in den neuen Ländern. Der Sachverständigenrat hat 1999
festgestellt, dass Personen- und Gütertransporte in den
neuen Ländern durchschnittlich 20 Prozent zeitaufwendi-
ger sind als in den alten Ländern. Die Zahlen sehen also
nicht gut aus.

Doch die Regierung hat auch hier Glück: Eine verant-
wortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Stand-
ort neue Bundesländer kaputtzureden. Ich fordere Sie,
Herr Bundeskanzler, aber auf: Nehmen Sie sich einmal
ein paar Stunden Zeit und schauen sich diese Zahlen ge-
nau an!

Herr Bundeskanzler, wir reden heute über Ihre Ver-
säumnisse beim Aufbau Ost.


(Zuruf von der SPD: Oh!)

Der Wanderzirkus Ihres Kabinetts führt Sie meist nur zu
den fein gedeckten Tafeln in den Staatskanzleien der
neuen Länder.


(Frank Hempel [SPD]: Was ist denn das für ein Niveau?)


Aber die Wirklichkeit ist sehr viel rauer. Um im Bild von
vorhin zu bleiben: An unserem deutschen Haus ist das
Dach am Westgiebel undicht geworden. Der Ostgiebel ist
aber noch gar nicht gedeckt. Herr Bundeskanzler, Sie sind
jetzt der Bauleiter. Bauen Sie dieses Haus Deutschland!
Legen Sie die Pläne der Chefsache Aufbau Ost vor! Nen-
nen Sie Ihr Ziel! Die Verringerung der Arbeitslosigkeit
kann es ja nicht sein; denn dann hätten Sie hier und heute
Ihr Scheitern eingestehen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Erst wenn Sie wissen, was Sie wollen, lohnt es sich,
qualifizierte Handwerker zu beauftragen und den Bau-
fortschritt zu kontrollieren. Setzen Sie die richtigen Prio-
ritäten! Es reicht nicht aus, den Westgiebel zu streichen,
wenn die Ostseite noch offen ist. Keinem in Deutschland
ist geholfen, wenn unser Haus nur auf einer Seite be-
wohnbar ist.


(Zurufe von der SPD)

– Das ist doch gerade unser großes Problem. Hören Sie
einmal zu!

Nie zuvor in den letzten zehn Jahren haben so viele
Menschen in den neuen Bundesländern daran gedacht
wegzuziehen. Die Prognose ist niederschmetternd: 1 Mil-
lion Menschen in den nächsten zehn Jahren. Gerade die
jungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen Ost-
deutschland. Leerstand und Geisterstädte in Ostdeutsch-
land sind die Folge. Anders als 1990 gehen sie nicht nur
nach Westdeutschland, sondern auch nach Übersee.
Deutschland verliert viel zu viele gute Leute. Das ist die

Realität, Herr Bundeskanzler. Da hilft es wenig, mit der
Scheinlösung Green Card gute Leute aus Indien abzuwer-
ben. Eines zeigt doch Ihre Kampagne auch: So attraktiv
wie Deutschland einmal vor Jahrzehnten für jugoslawi-
sche Putzfrauen oder türkische Gemüsehändler war, ist es
für indische Computerspezialisten lange nicht. Das hat
Gründe. Deutschland ist im internationalen Vergleich kei-
neswegs immer Spitze, sondern meist nur Mittelklasse.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie auch!)

Wenn einer aus dem Ausland rein will, dann darf er nicht.
Das muss sich ganz schnell ändern.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum die Situa-
tion in den neuen Bundesländern besonders schlimm ist.
Beim größten ostdeutschen Unternehmen, dem ostdeut-
schen Braunkohleverstromer VEAG – mit 6 500 Arbeits-
plätzen von 20 000 Beschäftigten im Bereich der Braun-
kohlewirtschaft insgesamt – verfolgte die Bundesregie-
rung offenbar eine Strategie im Interesse westdeutscher
protagonistischer Anteilseigner.


(Susanne Kastner [SPD]: Wiederholen Sie das mit den Protagonisten noch einmal! – Ingrid Holzhüter [SPD]: Ideologie des Kalten Krieges! – Weitere Zurufe von der SPD)


Der Wirtschaftsminister hatte freie Hand, über ein Stabi-
lisierungsmodell zu verhandeln, das fast ein Jahr Zeit kos-
tete – wertvollste Zeit, die andere Unternehmen zur
Marktpositionierung nutzen konnten. Bundeswirtschafts-
minister Müller hat hier auf das falsche Pferd gesetzt.


(Susanne Kastner [SPD]: Die CDU hat heute auch auf das falsche Pferd gesetzt!)


Er kam zwar aus dem richtigen Stall, aber er lief auf der
falschen Rennbahn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.])


Er wollte Atomausstieg mit Braunkohle verrechnen, aber
hat dabei nicht beachtet, dass in der Politik nicht – wie in
der Wirtschaft – die Bilanzen über die Macht, sondern die
Macht über die Bilanzen entscheidet. Warum sollten denn
die westdeutschen Energiekonzerne frühzeitig Zuge-
ständnisse machen? Oder hat er wirklich gedacht, der
grüne Koalitionspartner sei neben dem ideologisch be-
gründeten Atomausstieg an einem tragfähigen energiepo-
litischen Gesamtkonzept interessiert?


(Sabine Kaspereit [SPD]: Ein bisschen Sachlichkeit würde dem Thema gut tun!)


Wir haben ausländische Unternehmen zur Übernahme
der VEAG-Anteile bereits zu einem Zeitpunkt aufgefor-
dert, als uns die Bundesregierung noch weismachen
wollte, das sei gar nicht nötig. Der Wirtschaftsminister
fehlt heute, daher muss ich mich an den Herrn Chef-
sachenkanzler wenden: Wie soll ich dieses Verhalten
werten, grob fahrlässig oder bedingt vorsätzlich? Das ist
eine Frage, auf die wir eine Antwort erwarten, und zwar
nicht hier, sondern in Form von Ergebnissen.

Wer verhandelt eigentlich mit den Wettbewerbsbehör-
den und bemüht sich, dass ein großes Regionalversor-
gungsunternehmen mit abgegeben werden muss, damit
die VEAG einen eigenen Zugang zu den Kunden erhält?




Günter Nooke

9947


(C)



(D)



(A)



(B)


Sorgen Sie dafür, dass – nachdem 1990 den westdeut-
schen Stromkonzernen erlaubt wurde, die DDR-Staats-
monopolisten unter sich aufzuteilen – wenigstens ein in-
ternational wettbewerbsfähiges Stromunternehmen in
Ostdeutschland übrig bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Frank Hempel [SPD]: Sagen Sie das dem Altkanzler!)


Wir erwarten nicht Geld von Eichel, um die VEAG als ei-
genständiges Unternehmen zu erhalten, sondern einfach
Engagement der Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Der Aufbau der neuen Länder braucht endlich wirk-
same Impulse. Ein West-Ost-Gefälle kann nicht hin-
genommen werden.

Dies ist ein Zitat aus dem Arbeitsprogramm der Bundes-
regierung von 1999. Schön, dass wir in dieser Aussage
übereinstimmen. Doch, wie gesagt, nicht an ihren Worten,
sondern an den Taten sollt ihr sie erkennen – und die Bi-
lanz fällt eindeutig aus!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410604500
Herr Kollege Nooke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410604600
Jetzt erst einmal nicht.

(Zurufe von der SPD und der PDS)


Wollten Sie zur VEAG fragen, Frau Luft?

(Dr. Christa Luft [PDS]: Nein, ich wollte Sie zum Ost-West-Gefälle fragen!)

– Gut, dann bitte.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1410604700
Herr Kollege Nooke, wie ist
Ihre Position zu der aus den Reihen des Arbeitnehmerflü-
gels der Christlich-Demokratischen Union erhobenen
Forderung – geäußert neulich von Ihrem Parteikollegen
Eppelmann –, recht bald eine Ost-West-Angleichung bei
den Löhnen herbeizuführen? Ist das in Ihrer Fraktion in-
zwischen Mehrheitsposition oder ist das eine Einzel-
meinung, mehr auf – was man immer uns vorwirft – po-
pulistische Wirkung gemünzt? Wie ist Ihre Meinung
dazu?


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410604800
Sehr geehrte Kollegin
Luft, das ist eine ernst zu nehmende Position in unserer
Fraktion. Nur, ich rede hier nicht über das Verteilen, son-
dern über den Standort Ostdeutschland und über Wirt-
schaftspolitik.


(Lachen bei der SPD)

Deshalb müssen wir die Löhne im produktiven Bereich
immer mit im Blick haben.

Meine Damen und Herren, da ich so etwas vermutet
habe, lassen Sie mich noch einmal ausführen, was „belas-
ten“ hier eigentlich heißt. Sinnbild dafür ist doch die Öko-
steuer. Hunderttausende von Pendlern in den neuen Bun-

desländern werden dadurch tagtäglich zusätzlich belastet,
weil sie weite Wege zurücklegen müssen. Die Umbrüche
auf dem Arbeitsmarkt fordern auch heute noch diesen ho-
hen Tribut. Immerhin sind heute 80 Prozent der Menschen
im Osten nicht mehr dort beschäftigt, wo sie vor der
Wende beschäftigt waren. Die Menschen wollen bei ihrer
Flexibilität aber nicht überproportional durch höhere
Spritkosten belastet werden. Auch dort könnte man den
Menschen helfen. Ebenfalls nicht vergessen sind
überproportionale Belastungen im Bundeshaushalt 2000,
die der Osten zu tragen hat. Dies nennt die Bundesregie-
rung „wirksame Impulse“.

Wie soll es weitergehen? Die Pressespatzen pfeifen es
bereits von den Dächern: Mit dem Thesenpapier des Bun-
desfinanzministers „Aufbau Ost – Perspektiven der För-
derung durch den Bund“ sollen weitere Programme für
die neuen Länder zurückgeführt werden.
Aufbau Ost verkommt zunehmend zum Rückbau Ost.
Wenn dies nicht der Wahrheit entsprechen sollte, fordere
ich den Bundesfinanzminister auf, zu bestätigen, dass es
mit ihm bis zum Jahre 2004 keine weiteren Kürzungen
beim Aufbau Ost geben wird. Ich sage Ihnen bereits jetzt:
Der Bundesfinanzminister wird eine solche Zusage nicht
geben.

Noch eine klare Bemerkung zum Sparen, weil mich
das gestern wirklich geärgert hat.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie ärgern mich schon seit zehn Minuten!)


Wir waren und sind nicht gegen das Sparen. Im Gegenteil,
die Vorschläge der Unionsfraktion hätten sogar zu weni-
ger Ausgaben im aktuellen Haushalt geführt als die Maß-
nahmen der Bundesregierung. In den 80er-Jahren wuchs
unter Unionsführung der Schuldenstand des Bundes deut-
lich langsamer als in den 70er-Jahren und auch langsamer
als der Schuldenstand in den Bundesländern.


(Susanne Kastner [SPD]: Das entspricht ja wohl nicht der Wahrheit! Das ist wohl völlig falsch!)


– Das ist völlig richtig. – Aber Herr Eichel hat hier noch
etwas anderes erwähnt: Sie haben nämlich so getan, als
hätten Sie das Sparen erfunden. Aber was er tut, ist nichts
anderes, als die deutsche Einheit immer wieder schlecht-
zureden.


(Lachen bei der SPD)

– Hören Sie doch mal zu!

Er hat in der Steuerreformdebatte gefragt: Was werden
unsere Kinder sagen, wenn sie 2010 deutlich mehr Schul-
den haben als beispielsweise dänische Kinder? Ich kann
Ihnen die Antwort geben. Unsere Kinder werden sagen:
Wir beteiligen uns gern am Schuldenabbau. Ihr habt 1990
mit der deutschen Einheit die richtige Entscheidung ge-
troffen. Meine Kinder werden noch hinzufügen: Sonst
wäre unsere Reise nach Amerika nämlich an Mauer und
Stacheldraht hier kurz vor der Tür schon gescheitert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Günter Nooke
9948


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wahr, dass
wir für die Wiedervereinigung und die damit verbunde-
nen Kosten Schulden gemacht haben. Ich bereue keine
einzige Mark für den Aufbau Ost. Ich kenne niemanden in
der Union, der diese Ausgaben bereut, selbst wenn wir mit
dem Wissen von heute sagen, vielleicht wäre das eine oder
andere auch effizienter gegangen.

Wir haben keinen Unsinn finanziert. Wir haben nach
all den großen deutschen Misserfolgen – und davon gibt
es genug – das größte, sinnvollste und friedlichste Projekt
finanziert, das Deutschland im 20. Jahrhundert jemals mit
eigener Kraft betrieben hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben etwas zu reparieren versucht, was zuvor zwei
Diktaturen in Deutschland angerichtet haben. Die deut-
sche Einheit ist deshalb keine Schuldenlast, sie ist eine
historische Investition in die Zukunft Deutschlands und
eines neuen Europa.

Wir sind noch beim Stichwort „belasten“. Auf der Ein-
nahmeseite will der Bundesfinanzminister beispielsweise
die Preise für Bundeseigentum massiv erhöhen und da-
mit den gleichen Effekt erzielen: Mehreinnahmen für die
öffentliche Hand und Belastungen für die Bürger. Konn-
ten Erwerber von land- und forstwirtschaftlichen Flächen
in den neuen Ländern noch bis Ende 1998 Flächen um bis
zu 65 Prozent verbilligt erwerben und damit sowohl die
Nachteile der Vergangenheit ausgleichen wie auch den
Aufbau landwirtschaftlicher Betriebe stützen, so schnei-
det die Bundesregierung nunmehr dieses Programm auf
maximal 35 Prozent zurück. Selbst in bereits abgeschlos-
sene Kaufverträge wird eingegriffen.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie wissen doch, woran das liegt!)


Noch ein konkretes Beispiel: „Chancen verspielt“.
Deutschland profitiert vom Export, so die führenden Wirt-
schaftsinstitute in ihrem aktuellen Frühjahrsgutachten.
Der schwache Euro trägt – ob gewollt oder ungewollt –
dazu bei. Die wesentlichen Zahlen sind bekannt, aber ich
will sie wiederholen: Die Prognose für Deutschland liegt
mit 2,8 Prozent pro Jahr merklich unter den Wachstums-
raten Europas.

Was die Bundesregierung als Erfolg feiert, ist in Wahr-
heit die weitere Abkoppelung vom europäischen Wachs-
tumspfad. Es kommt schlimmer: Es ist in Wahrheit vor al-
lem auch die weitere Abkoppelung Ostdeutschlands von
den gesamtdeutschen und weltwirtschaftlichen Chancen.
Denn das ostdeutsche Wachstum wird 2000 und 2001 weit
unter den 2,8 Prozent für Gesamtdeutschland liegen.
Nach den bescheidenen 1,2 Prozent in den ostdeutschen
Flächenländern im Jahre 1999 wird das Inlandsprodukt
wohl durchschnittlich nur um 2 Prozent in 2000 zuneh-
men. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Spa-
nien wird mit 3,9 Prozent ungefähr doppelt so stark stei-
gen wie das in Ostdeutschland. In Portugal sind es
3,5 Prozent, 4,8 Prozent in Polen und 5 Prozent in Ungarn.

Sind ostdeutsche Arbeiter schlechter als Portugiesen oder
Polen? Ganz sicher nicht.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Was hat denn das damit zu tun?)


Die Bundesregierung koppelt Ostdeutschland nicht nur
von Westdeutschland, sondern genauso von Europa ab.
Eigentlich wollten die Menschen in den neuen Bundes-
ländern den Abstand zum Westen verringern und nicht
von Polen eingeholt werden. Die neuen Länder müssen
also stärker am Exportboom teilhaben; da sind wir uns si-
cher einig mit der Bundesregierung. Der Anteil der neuen
Länder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz ist
aber mit circa 6 Prozent weiter viel zu niedrig. Im verar-
beitenden Gewerbe liegt der Anteil des Auslandsumsatzes
am Gesamtumsatz bei nur 18 Prozent. Damit ist er um die
Hälfte niedriger als die vergleichbare Exportquote west-
deutscher Unternehmen.


(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Westdeutschland ist Exportweltmeister, Ostdeutsch-
land spielt in der Regionalliga. Da wirkt es schon zynisch,
wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung
letzte Woche gesagt hat: Lasst uns ein bisschen Freude da-
ran haben, dass es unserer Exportwirtschaft gut geht.


(Zuruf von der SPD: Das, was Sie sagen, ist zynisch!)


Die frühzeitige Stärkung des ostdeutschen Exportes
hätte zu einer wesentlich stärkeren Partizipation Ost-
deutschlands geführt. Ich erinnere an den Antrag unserer
CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Absatzförderung Ost,
den wir zuerst vorgelegt haben.


(Frank Hempel [SPD]: Ach! Zwei Minuten vor uns!)


Bereits 1999 wurde die Entwicklung verschlafen. Die
Weichen wurden falsch gestellt, bei der EU-Osterweite-
rung wurden keine klaren Aussagen getroffen. Da muss
man sich über die negative Wirtschaftsentwicklung in
Bezug auf die mittel- und osteuropäischen Staaten
nicht wundern. Betrug der Export 1998 noch 98 Milliar-
den DM, so betrug er im Jahre 1999 nur noch 84 Milliar-
den DM.

Was ist zu tun, um den Aufbau Ost wieder voranzu-
bringen? Die Zahlen in den Ländern des Ostens Deutsch-
lands sind nicht gut. Aber das Ziel kann nur eine sich
selbst tragende Wirtschaftsentwicklung sein. Heute feh-
lende Investitionstransfers sind schon morgen Sozial-
transfers. Die neuen Länder bleiben auf absehbare Zeit
eine große nationale Herausforderung, eine Aufgabe, die
Regierung und Opposition gleichermaßen fordert. Wir
sind bereit, mit Ihnen zusammen Bilanz zu ziehen und aus
den Erfahrungen der letzten zehn Jahre die richtigen
Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Wir wollen keine Ge-
gensätze konstruieren, wo keine sind, sondern klare
Schwerpunkte setzen.

Ganz kurz die wichtigsten Punkte. Wir brauchen eine
Förderpolitik aus einem Guss. Die Leistungen für die
neuen Länder, die Staatsminister Schwanitz in der Liste




Günter Nooke

9949


(C)



(D)



(A)



(B)


zusammengefasst hat, müssen im kommenden Haushalt
erhalten bleiben. Mit Mogelpackungen sollte es erst gar
nicht versucht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sollten uns zunehmend von der Vorstellung tren-

nen, der Osten müsse den Westen kopieren und ihn da-
durch einholen. Wer ständig Vergleiche zieht und merkt,
dass der Abstand sogar größer wird, fällt weiter zurück.
Diese auch mentale Sperre muss überwunden werden.
Vielleicht stimmt die Formel „Überholen, ohne einzuho-
len“ ja doch. Wir erleben den Wechsel von einer Industrie-
zu einer Wissens- und Ideengesellschaft. In diesem Pro-
zess müssen wir neue Ziele definieren; industrielle
Leuchttürme bleiben wichtig, Hightech-Signale sind ge-
nauso notwendig. Es geht darum, in den Zukunftsberei-
chen sowohl schneller als auch besser zu sein. Das mag
unrealistisch klingen; aber nur wer das Unmögliche an-
strebt, kann das Mögliche erreichen.

Gleichwohl braucht eine solche Förderpolitik auch
künftig ein solides Fundament. Die Zahlen zu Beginn ha-
ben es deutlich gemacht: Investitionen in die Infrastruktur
sind das A und O. Investitionen in Straßen, Schienen,
Datenautobahnen bleiben für eine Volkswirtschaft überle-
bensnotwendig. Sie stärken den Standort Ost und regen zu
neuen Ansiedlungen an. Haben Sie den Mut, Herr Bun-
deskanzler, künftig weniger Geld für den zweiten und
dritten Arbeitsmarkt und mehr für den ersten Arbeits-
markt zur Verfügung zu stellen!


(Susanne Kastner [SPD]: Den haben Sie ewig zurückgefahren und jetzt viele Sprüche machen! – Sabine Kaspereit [SPD]: An Ihren ABM knabbern wir noch heute!)


Die Menschen verdienen echte Perspektiven in Dauerar-
beitsplätzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Luftbuchungen bei der Bundesanstalt für Arbeit kann
ich überhaupt nicht akzeptieren. Wirklich neue Arbeits-
plätze schafft nämlich nur die Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diesen Punkt halte ich für äußerst wichtig. Wir sollten

den Bürgern nicht den Eindruck vermitteln, die öffentli-
che Hand allein könne mit Steuergeldern den weiteren
Aufbau der neuen Bundesländer bewältigen. Die Politik
kann Impulse geben, sie kann anregen und überzeugen.
Aber sie kann und darf sich nicht auf die Rolle des Heils-
bringers festlegen lassen. Wir brauchen die Unterstützung
der Wirtschaft, vor allem die der eigenen westdeutschen
Wirtschaft. Ich bin mir hier nicht zu schade, auch zu sa-
gen: Wir müssen an den Patriotismus der Unternehmer in
Deutschland appellieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bundeskanzler Kohl hatte diesen entscheidenden An-

satz bereits 1993 erkannt, als er die Wirtschaft für den So-
lidarpakt I mit an den Tisch geholt und dort Zusagen zu-
gunsten des Ostens erhalten hat. Wir brauchen eine Ein-
kaufsoffensive nicht nur für ostdeutsche Produkte,

sondern zum Beispiel auch für ostdeutsche Dienstleistun-
gen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410604900
Herr Kollege Nooke,
Sie sind jetzt schon weit über die Redezeit. Ich bitte Sie,
zum Schluss zu kommen.


(Ingrid Holzhüter [SPD]: Aufhören!)



Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410605000
Es gab ja eine Zwi-
schenfrage.

Ich möchte das noch zu Ende führen: Wir müssen
Dienstleistungen, Anwaltsleistungen und auch Versiche-
rungsleistungen in Ostdeutschland einkaufen.

Ich lasse aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die ande-
ren Punkte, die ich noch nennen wollte, weg.


(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ende!)


Ich möchte aber an dieser Stelle noch auf Folgendes deut-
lich hinweisen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410605100
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie wirklich bremsen. Sie hatten eine reichliche
Redezeit und die ist jetzt vorbei.


(Zurufe von der SPD)



Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410605200
Wir müssen das nächste
Mal über die in den neuen Bundesländern im Bildungs-
und Studienbereich bestehenden Fehlentwicklungen spre-
chen. Da sehen die SPD-geführten Länder ganz schlecht
aus.


(Susanne Kastner [SPD]: Nun ist aber Schluss!)


Während die CDU-geführten Länder das Abitur nach
zwölf Jahren übernommen haben, haben die SPD-geführ-
ten Länder Wettbewerbsvorteile leichtfertig aus der Hand
gegeben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410605300
Herr Kollege Nooke,
ich muss Sie noch einmal erinnern.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410605400
Ich höre auf.
Ich möchte als Letztes einen Vorschlag machen:


(Zurufe von der SPD: Nein!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410605500
Herr Kollege Nooke,
ich möchte Ihnen nicht unbedingt das Mikrofon abschal-
ten. Deshalb wäre es gut, Sie würden von sich aus das
Rednerpult verlassen.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410605600
Dann bedanke ich mich
für Ihre Aufforderung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Günter Nooke
9950


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410605700
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Schubert,
SPD-Fraktion.


Dr. Mathias Schubert (SPD):
Rede ID: ID1410605800
Herr Kollege Nooke,
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede wörtlich gesagt – ich zi-
tiere –: „Eine verantwortliche Opposition hat kein Inte-
resse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzure-
den.“ Ich stelle nach Ihrer Rede fest: Sie haben weiter
nichts getan, als den Standort Ost schlechtzureden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben nicht nur den Standort Ost schlechtgeredet, son-
dern auch die gesamte Debatte ideologisiert. Sie sind auf-
grund Ihrer ideologischen Vorprägung nicht bereit, das,
was der Kanzleramtsminister im Hinblick auf die Daten
und Fakten in Ostdeutschland gesagt hat, positiv zu wür-
digen. Ich verlange von Ihnen als Opposition nicht, dass
Sie Hurra schreien. Wenn Sie aber von uns und übrigens
auch vom Bundeskanzler


(Zurufe von der CDU/CSU: Wo ist der denn? – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Der muss regieren, Chefsache Ost!)


als Gesprächspartner ernst genommen werden wollen,
dann verlange ich von Ihnen, dass Sie zumindest die Fak-
ten zur Kenntnis nehmen. Das war der erste Punkt.

Ein zweiter Punkt – er passt übrigens zu der ideologi-
sierten Unverantwortlichkeit, die Sie hier zum Besten ge-
geben haben –: Ich war gespannt auf Ihre Antwort auf die
von Ihnen gestellte rhetorische Frage: Was ist zu tun? Was
Sie in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, verehr-
ter Herr Nooke, war außer lauer Luft und der Aussage,
dass die Politik nicht zuständig sei – auch das habe ich
gehört – der Hinweis: Wir machen weiter so, wie das Herr
Kohl begonnen hat. Genau das ist ein wesentliches Pro-
blem dafür, weshalb wir zurzeit in Ostdeutschland nicht
nur glänzen, sondern auch vor schwierigen Situationen
stehen.

Wenn Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen neue
Wege eingeschlagen und neue Strategien ergriffen haben,
die zu wirken beginnen, dann sind Sie für uns – es tut mir
wirklich Leid – ein unverantwortlicher Oppositionspoliti-
ker, mit dem sich im Grunde genommen ein Dialog nicht
lohnt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410605900
Herr Kollege Nooke,
zur Erwiderung bitte.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410606000
Sie hätten mich ja ausre-
den lassen können – ich hätte nur noch eine Minute ge-
braucht –, dann wäre dies jetzt nicht nötig gewesen, Herr
Schubert.


(Lachen bei der SPD – Sabine Kaspereit [SPD]: Hätten Sie mal Ihre Polemik weggelassen!)


Ich habe ausgeführt, dass wir nicht einfach sagen kön-
nen, die Bauwirtschaft gehe zurück, da wir in Ost-
deutschland diese Investitionen zum einen für den Aufbau
der Infrastruktur und zum anderen für die Verbesserung
der Situation auf dem Arbeitsmarkt und für höhere
Wachstumsraten bräuchten. Wir brauchen keine neue Ver-
teilungsdebatte, wie die Lohnangleichung aussehen muss.
Vielmehr brauchen wir einen sich selbst tragenden Wirt-
schaftsaufschwung. Ich habe Sie aufgefordert, im Hin-
blick auf all diese Punkte und auf den Export aus den ver-
gangenen zehn Jahren die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Aber was ich nicht machen kann, ist, die wirklich be-
drückenden Zahlen schönzureden. Ich kann einfach nicht
so tun, als sei das Problem Ostdeutschland mit dem Ge-
fälle zwischen Nord und Süd in Westdeutschland zu ver-
gleichen. Das ist nicht richtig. Herr Schubert, wir müssen
uns klarmachen: Der Aufbau Ost ist eine nationale He-
rausforderung. Das sollte Ihre Fraktion der Bundesregie-
rung deutlich machen. Es kann nicht sein, dass der Auf-
bau Ost so nebenher angegangen wird, keiner den zustän-
digen Staatsminister kennt und der Kanzler in diesem
Zusammenhang immer den Eindruck erweckt, als sei er
gelangweilt.


(Widerspruch bei der SPD)

Es geht darum – davon bin ich sehr überzeugt –, zu ver-

hindern, dass der Osten Deutschlands zum Mezzo-
giorno wird. Es wäre nett, wenn der Kanzler in diesem
Sommer seinen Urlaubsaufenthalt von Positano nach Ost-
deutschland verlegen


(Bundesminister Otto Schily: Das ist doch billig!)


– das wäre doch gut – und sich dort einmal umschauen
würde. Es gibt dort schöne Ecken. Aber es gibt noch un-
wahrscheinlich viel zu tun.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Ingrid Holzhüter [SPD]: Ihre Leute fahren nach Amerika und der Kanzler soll nach Ostdeutschland reisen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606100
Nächster Redner in
der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Günter Nooke, ich halte es für falsch, den Zustand der
deutschen Einheit am Gesichtsausdruck des Kanzlers ab-
lesen zu wollen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das war schon früher nicht möglich. Da hing alles,

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN und bei der SPD)







(C)



(D)



(A)



(B)


obwohl es durchaus Aufwärtstendenzen gab. Aber ich
glaube, es ist falsch, wenn man den Aufschwung Ost als
eine politische Face-Lifting-Veranstaltung betrachtet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es handelt sich vielmehr um eine ernsthafte und anstren-
gende Angelegenheit, von der ich glaube, dass wir sie
durch Parlamentsdebatten nicht allein voranbringen wer-
den – damit enttäusche ich dich aufgrund deines gerade
gezeigten Einsatzes vielleicht –; denn dies hängt von der
Leistungsbereitschaft und der Tatkraft der Leute in den
neuen Bundesländern und von den politischen Maßnah-
men der Bundesregierung, auch dieser Bundesregierung,
ab. Deshalb ist es nicht angebracht, alles pauschal in
Bausch und Bogen zu kritisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Das hat auch keiner gemacht!)


Es ist ein Pauschalvorwurf, wenn gesagt wird, diese
Regierung habe kein Konzept. Ich kenne das, mir kommt
das Ganze irgendwie sehr vertraut vor.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten wir nicht nur
unsere Rollen getauscht, sondern zugleich auch unsere
Texte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.])


– Dass ich mich in meiner Kritik wiederhole, darf Sie
doch wirklich nicht wundern. Einiges ist ja so geblieben;
da muss noch nachgebessert werden.

Anfang der 90er-Jahre war die Kritik, dass es kein
Konzept gab, durchaus berechtigt. Aber mittlerweile gibt
es ein Konzept. Und ein Bestandteil dessen ist, Günter
Nooke, dass wir mit den erfolgreichen Teilen der alten
Bundesregierung, die es ja gegeben hat – das stellen wir
überhaupt nicht in Abrede –, fortfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zudem gibt es einen Reparaturplan, also einen Plan, was
wir alles in Ordnung bringen, wo es Fehler und Fehlallo-
kationen gegeben hat. Das ist Ihnen bekannt. Wir haben ja
gerade bezüglich der Entwicklung der Kapazitäten in der
Bauwirtschaft damit zu kämpfen, dass Kapital auf der
grünen Wiese im wahrsten Sinne des Wortes in den
Sand gesetzt worden ist. Die Überkapazitäten, dieser
Normalisierungsprozess im Bauwesen, haben also mit
den Fehlern der alten Bundesregierung zu tun.

Und wir haben Ansätze, zum Beispiel die Konzentra-
tion auf Innovations- und Investitionsförderung. Hier gibt
es völlig neue Gesichtspunkte. Ich bitte also zu berück-
sichtigen, dass diese Regierung ein gestrafftes neues Kon-
zept hat.

Wenn ich mir allerdings einige Ihrer Anträge anschaue,
die heute zur Diskussion stehen, zum Beispiel den Antrag

zur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregie-
rung zum Stand der deutschen Einheit, so muss ich fest-
stellen, dass wir dies bereits 1995 gefordert haben. Da-
mals haben Sie sich mit Händen und Füßen dagegen ge-
wehrt, dass es überhaupt einen solchen Bericht gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da war der Nooke aber noch nicht in dem Klub!)


Jetzt kann er nicht lange genug weitergeführt werden.
Jetzt soll es ihn bis 2005 geben. Ich habe nichts dagegen.
Aber wir dürfen bestimmte Dinge nicht durcheinander
bringen.

Ich erinnere an die Anpassung der Strompreise.
Günter Nooke, wir haben doch in der Volkskammer ge-
meinsam gegen den Stromvertrag gekämpft.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Richtig!)

Das ist doch die Ursache dafür, dass es zur Lex VEAG,
dass es durch die erhöhten Strompreise zu einem Stand-
ortnachteil für ostdeutsche Betriebe gekommen ist. Wo-
mit wir es jetzt zu tun haben, ist das Abräumen von Feh-
lern der Regierung Kohl – um dies einmal ganz klar zu sa-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606200
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke?


(Susanne Kastner [SPD]: Schon wieder!)


Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, bitte.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1410606300
Das ist ein wichtiges
Thema. Ich glaube nicht, dass sich die deutsche Strom-
wirtschaft mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um die deut-
sche Solidarität zwischen Ost und West geht. Das will ich
ganz deutlich sagen.

Herr Kollege Schulz, es ist mir schon wichtig, dies zu

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606400
Dieses
Jahr, das wir durch die VEAG verloren haben, weil ein
unsägliches Stabilisierungsmodell umzusetzen versucht
wurde, welches jetzt gescheitert ist, geht zu Ihren Lasten.


(Susanne Kastner [SPD]: Was wollen Sie denn jetzt fragen?)


Stimmen Sie mir darin zu, Herr Werner Schulz, dass es
nicht nur in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, son-
dern dass es hier auch ganz konkrete Fehler der jetzigen
Bundesregierung gibt?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Günter Nooke, was die ostdeutsche Stromwirt-
schaft anbelangt, so haben wir acht Jahre verloren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Werner Schulz (Leipzig)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Womit wir uns jetzt herumschlagen – ich wiederhole es –,
sind die Fehler, die am Anfang gemacht wurden, indem im
Grunde Monopolstrukturen erhalten und ausgeweitet
worden sind, indem drei westdeutsche EVUs die gesamte
ostdeutsche Stromwirtschaft übernommen haben, dieses
Gebiet in gewisser Weise wie ein Sondergebiet behandelt
worden ist und Wettbewerb überhaupt nicht möglich war.
Wir haben jetzt einen neuen Ansatz der Privatisierung, um
überhaupt ausländisches Kapital hereinholen und einen
eigenständigen ostdeutschen Stromkonzern erst einmal
aufbauen zu können. Das ist doch der Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Türk [F.D.P.]: Wer hat das getan?)


– Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man nicht
mehr weiß, was man getan hat. Wir haben es doch mit der
so genannten PSA-Formel – Privatisierung, Sanierung,
Abwicklung – zu tun gehabt.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Als ob ihr die Väter der Liberalisierung wärt! Das ist wirklich lächerlich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Dies ist häufig in einem Projekt, einem Betrieb erfolgt.
Noch heute gibt es eine Schmierspur, die nach Leuna
führt. Ich will gar nicht alles, womit wir zu tun haben, auf-
rollen.

Wir haben, um einen Kalauer bzw. Kohlauer aufzu-
greifen, 1998 keine blühenden Landschaften übernom-
men, sondern eher eine Landschaft im Umbruch, im
Zwielicht. Auf der einen Seite ging es um eine Verbesse-
rung der materiellen Ausstattung der Lebensbedingungen.
Das geht auf die alte Bundesregierung zurück. Da ist viel
passiert; das kann niemand in Abrede stellen. Jeder, der
die Städte im Osten besucht, weiß, was dort in Bezug
auf den Städtebau und den Wohnungsbau geschehen ist,
dass die Lebensbedingungen vorangebracht worden sind.

Auf der anderen Seite erleben wir Defizite im Hinblick
auf den Aufbau einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähi-
gen Wirtschaftsstruktur. Das sind im Grunde genommen
die Schwächen. Es ist auch müßig, immer wieder zu be-
tonen, dass der Osten beim Wachstum zurückbleibt.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Wieso ist das müßig?)


Das gilt dann, wenn man das gesamte Bruttoinlandspro-
dukt betrachtet. Dort ist das der Fall. Aber wenn man es
differenziert betrachtet, Kollege Türk, sieht das anders
aus: Wir haben zwar einen Rückgang in der Bauwirt-
schaft, aber wir haben zweistellige Wachstumsraten bei
den interessanten, modernen Branchen, bei der IT-Bran-
che, in der Medizintechnik, in der Biotechnik und ande-
ren. Man muss sich das also schon etwas genauer
anschauen. Es sind im Osten vor allen Dingen kapital-
intensive Betriebe aufgebaut worden und weniger arbeits-
intensive Betriebe.

Das ist auch ein Grund dafür, dass es diese hohe Ar-
beitslosigkeit gibt. Ursprünglich waren es einmal 9 Mil-
lionen Beschäftigte, jetzt sind es noch 6 Millionen. Wir
haben dort eine extrem hohe Arbeitslosenquote; sie ist

doppelt so hoch wie im Westen, keine Frage. Wenn man
verdeckte Arbeitslosigkeit mit einrechnet, haben wir eine
Arbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent. Allerdings gibt es
auch eine wesentlich höhere Erwerbsquote, bezogen auf
die Bevölkerungszahl. Auch das ist hochinteressant. Auch
darüber muss man diskutieren.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Habt ihr das jetzt auch erkannt?)


– Nein, das habe ich immer betont, Paul Krüger. So ist es
doch nicht.

Das sind interessante Phänomene, die man nicht so ein-
fach abtun kann. Man kann nur nicht sagen: Die Er-
werbsneigung der ostdeutschen Frauen ist zu hoch; wenn
es die nicht gäbe, könnten wir das Problem lösen. Das ist
Ihr Ansatzpunkt; ihn teile ich nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Das sage ich auch nicht! – Gegenruf der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD]: Ja, der Herr Miegel hat das gesagt! – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Bleibe bei der Wahrheit! Das ist besser!)


– Ich kenne diesen Ausdruck von Kurt Biedenkopf; es ist
die Wahrheit. Er hat zusammen mit Meinhard Miegel die
Auffassung vertreten: Wenn man die Erwerbsneigung der
ostdeutschen Frauen wieder auf die drei Ks zurückdrän-
gen kann, also Kinder, Kirche, Küche, dann ist die Sache
geritzt und dann könnte man einen gewissen Gleichstand
herstellen.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Jetzt geht es nach unten!)


Was ich interessant finde – das sollte man vielleicht
auch einmal betrachten –, ist dieAnnäherungbei denReal-
einkommen in Ost und West. Wenn man sich den vor-
letzten Wochenbericht des DIW anschaut, wird man auf
das interessante Phänomen stoßen, dass es in dieser Frage
im Westen eher eine Rückentwicklung gibt. Die Zahl – so-
weit ich sie jetzt in Erinnerung habe – lag da im Schnitt
bei 38 000 DM und ist jetzt auf etwa 37 000 DM zurück-
gegangen, während sie im Osten von 24 000 DM auf
30 000 DM gestiegen ist. Das heißt, es findet eine An-
gleichung der Einkommensverhältnisse und damit auch
der Lebensverhältnisse statt. Man muss auch berücksich-
tigen, dass man im Osten heutzutage da und dort immer
noch etwas preiswerter lebt.


(Gerhard Jüttemann [PDS]: Wo leben wir denn preiswerter?)


– Vielleicht nicht da, wo Sie, Herr Jüttemann, herkom-
men; ich weiß es nicht. Wir leben im Moment im Osten
auf einem Niveau, das 85 Prozent des Westniveaus ent-
spricht. Das kann man sagen. Es hat eine Annäherung ge-
geben.

Man sollte auch vorsichtig sein, inwieweit man die
Forderung nach Angleichung der Löhne kurzfristig
hochschrauben sollte, wie die PDS das beispielsweise tut.
Das ist ein ambivalentes Problem. Im Moment ist das
Lohnniveau im Osten ein Standortvorteil. Ich kann aber




Werner Schulz (Leipzig)


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(C)



(D)



(A)



(B)


auch sehr gut verstehen, dass die Leute eine Perspektive
brauchen, damit sie sehen können: Wie geht es weiter?
Wie entwickeln sich die Löhne? Dazu sage ich: Schauen
Sie sich beispielweise einmal den öffentlichen Dienst an.
Wenn wir im öffentlichen Dienst Ihre Forderung, die
Löhne anzugleichen, erfüllen würden, dann würde das zu
Entlassungen führen; das müssen Sie fairerweise hinzu-
fügen. Die Beschäftigtenquote im öffentlichen Dienst,
bezogen auf 1 000 Einwohner, liegt im Westen bei etwa
20 Beschäftigten; in Sachsen sind es 23, in Sachsen-An-
halt 33 und in Brandenburg sind es, glaube ich, 27. Das
heißt, die Zahlen im Osten liegen weit höher als im Wes-
ten. Das würde bedeuten, dass wir, wenn wir im öffentli-
chen Dienst im Osten zu vergleichbaren Kosten arbeiten
wollten, einen Beschäftigungsabbau vornehmen müssten.
Die gleiche Lohnsumme würde sich also auf weniger
Beschäftigte verteilen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606500
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410606600
Herr Kollege Schulz, was ich
bei Ihrer Argumentation nicht verstehe, ist, warum Sie nur
von der Kostenseite her diskutieren. Es gibt ja zum Bei-
spiel die gesetzliche Bestimmung, wonach jedem Kind ab
dem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zur Verfü-
gung stehen muss. Dies ist in den alten Bundesländern bei
weitem noch nicht erreicht, in den neuen Bundesländern
konnte es zum Glück erhalten werden. Auch das ist eine
Ursache dafür, dass die Quote im öffentlichen Dienst in
den neuen Bundesländern höher ist als in den alten Bun-
desländern.

Wenn Sie nur über die Kosten diskutieren und dabei
völlig wegwischen, welche Aufgaben durch die öffentli-
che Hand erfüllt werden, kommen wir, so glaube ich,
nicht zu einem sinnvollen Vergleich. Damit können wir
die gesellschaftlichen Aufgaben, die anstehen, nicht be-
wältigen.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Und was ist jetzt die Frage?)


Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das war mehr eine Feststellung, die ich nicht ein-
mal widerlegen kann. Ich glaube bloß, dass die Garantie
auf einen Kindergartenplatz nicht die hohe Beschäfti-
gungsquote im öffentlichen Dienst auslöst. In diesem
Fall haben Sie Recht, auf der anderen Seite ist es aber so,
dass der öffentliche Dienst, dass die Verwaltungen im
Osten einfach überbesetzt sind. Das wissen wir, das ist ein
Problem.

Bei den Lehrern wurde das Problem gelöst, indem die
Lehrer im öffentlichen Dienst blieben und teilweise für
weniger Geld arbeiten. Das ist eine kreative Lösung und
man sollte sie nicht angreifen und sagen, sie müssten jetzt
alle gleich bezahlt werden. Wir haben das auch deshalb
gemacht, damit die Leute – das halte ich für den besseren

Weg – in Beschäftigung bleiben und dafür auf einen ge-
wissen Teil ihres Einkommens verzichten.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: In Sachsen gibt es eine schlechtere Ausstattung!)


Wir haben eine positive Einkommensentwicklung – sie
geht zwar manchen nicht schnell genug –, aber man muss
aufpassen, dass sie nicht kontraproduktiv wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man sich die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen
näher anschaut, sieht man, dass im Osten jährlich 15 000
bis 20 000 neue Arbeitsplätze hinzukommen. Das heißt,
der Osten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung über-
haupt nicht abgekoppelt. Im Gegenteil: Das kommt in den
nächsten Jahren noch besser zum Tragen. Das hat der
Bundeskanzler letzte Woche in seiner Regierungserklä-
rung bereits ausgeführt.

Hier muss natürlich – ich will das jetzt nicht vertiefen,
denn wir haben bereits gestern diese Diskussion geführt –
die Steuerreform, das Steuerentlastungsgesetz gewür-
digt werden. Ich finde, es hat vor allen Dingen positive
Auswirkungen auf den Osten. Der Osten gehört wirklich
zu den Gewinnern des Steuerentlastungsgesetzes, und
zwar nicht nur bei den privaten Einkommen. Dort ist das
Gros der Entlastung zu erwarten, weil es im Osten über-
wiegend mittlere und kleine Einkommen gibt. Familien
mit Kindern werden durch das erhöhte Kindergeld, die
Existenzfreibeträge und die Senkung des Eingangssteuer-
satzes besser gestellt. Hier wirkt sich das Gesetz aus. Das
DIW hat festgestellt – das wurde eingangs schon er-
wähnt –, dass das Realeinkommen der Haushalte zuge-
nommen hat.

Aber auch die kleinen und mittelständischen Betriebe
im Osten sind im Vorteil. Es werden zum Beispiel, was
von der CDU/CSU, so von Herrn Rauen, an anderer Stelle
kritisiert wird, die reinvestierten Gewinne besser gestellt.
Das, was hier vorgenommen wird, lohnt sich gerade für
Existenzgründer, deren Kapitaldecke dünn ist. Das sind
überwiegend Betriebe im Osten, für sie ist das rentabel.
Das gilt genauso für die Anrechnung der Gewerbesteuer
auf die Einkommensteuer. Auch das zahlt sich für viele
aus; denn sie können das komplett absetzen. Die Steuer-
reform ist, wenn Sie so wollen, ein sehr mittelstands-
freundliches Konzept für den Osten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die ostdeut-
schen CDU-Abgeordneten daran herumkritteln. Da haben
sie selbst während der Regierungszeit von Helmut Kohl
mehr Mut gehabt und sind hervorgetreten und haben ihre
eigenen Interessen vertreten. Ich hoffe, dass zumindest
die ostdeutschen Ministerpräsidenten, auch die der CDU-
regierten Länder, nicht gegen ihre eigenen Interessen im
Bundesrat stimmen werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Werner Schulz (Leipzig)

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(D)



(A)



(B)


Denn wer gegen das Steuerentlastungsgesetz stimmt, der
stimmt gegen das Wirtschaftswachstum im Osten, der
spricht sich gegen die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


und vertieft auf diese Weise auch die Spaltung zwischen
Ost und West.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich würde Ihnen empfehlen, das noch einmal gründlich

zu überlegen und Ihre Haltung zu revidieren.

(Peter Rauen [CDU/CSU]: Darüber müssen wir noch einmal reden!)

– Darüber haben wir gestern schon ausführlich diskutiert.
Ich will das hier nicht vertiefen, aber es ist tatsächlich so.
Ihr Einwand, dass wir darüber reden müssen, erschüttert
mich nicht sonderlich. Das tun wir doch hier.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir müssen vor allem zu einem Ergebnis kommen!)


Wir haben überhaupt keinen Grund, beim Aufbau Ost
einen Gang zurückzuschalten, denn die Sache läuft re-
lativ gut. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass die
Entwicklung noch auf hohe gesamtstaatliche Transfers
angewiesen ist.
Deswegen wird es in der nächsten Zeit auch darauf an-
kommen, dass wir einen neuen Solidarpakt schließen, da-
mit das Föderale Konsolidierungsprogramm fortgesetzt
wird.

Anknüpfend an die Debatte zum vorherigen Tagesord-
nungspunkt Entwicklungshilfe möchte ich sagen: Auch
hier gilt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müs-
sen aufpassen, dass keine große Wunschliste zusammen-
gestellt wird, die sich möglicherweise aus den Gutachten
der fünf Institute ableitet und zur Folge hat, dass große
Leistungen zur Erfüllung dieser Ansprüche erbracht wer-
den müssen.

Wir müssen uns die Entwicklung im Osten – auch hin-
sichtlich der Infrastruktur – genauer und differenzierter
ansehen. In einigen Bereichen ist die Infrastruktur in den
neuen Bundesländern mittlerweile moderner als in den al-
ten Bundesländern, so zum Beispiel bei der Telekommu-
nikation. Dort liegen Zukunftsinvestitionen unter der
Erde. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Ver-
kehrsinfrastruktur, hinken wir nach wie vor hinterher.
Dort muss nachgerüstet werden. Dies bezieht sich nicht
nur auf die 19 Verkehrsprojekte deutsche Einheit mit ei-
nem Volumen in Höhe von 65 Milliarden DM, übrigens
von der alten Bundesregierung unterfinanziert. Deswegen
haben wir hier auch so große Schwierigkeiten.

Bei manchen Dingen müssen wir uns im Osten selbst-
kritisch an die eigene Nase fassen. Wir haben uns vielfach
länger mit der Umbenennung einer Straße als mit ihrem
Zustand und ihrer Qualität beschäftigt. Den Kommunen
war es wichtiger, sich zu überlegen, wie eine Straße
heißen sollte, als festzulegen, wie sie aussehen sollte. Es
geht also darum, wie wir Fördermittel abrufen und wo wir
sie einsetzen.

Wir wissen, dass wir nach wie vor in das Bildungssys-
tem investieren müssen. Die Bildungseinrichtungen, zum
Beispiel die Schulen, sind nach wie vor in einem schlech-
ten Zustand. Die Attraktivität der Hochschulen lässt noch
zu wünschen übrig. Deswegen ist der Zulauf zu den ost-
deutschen Hochschulen noch nicht befriedigend. Demge-
genüber sind wir bei vielen weichen Standortfaktoren,
was Dienstleistungen anbelangt, mittlerweile moderner
als der Westen.

Für den Abschluss des Solidarpaktes II kommt es sehr
darauf an, ob der Osten in der Lage ist, zwischen seinen
Wünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden, ob
er seine Bedürfnisse genau benennt und ob er auf die So-
lidarität des Westens, der alten Bundesländer, bauen kann.

Ich glaube, das Beste, was der Osten selbst leisten
kann, ist die Konzentration auf Erneuerung, auf Innova-
tion. Insofern finde ich es hochinteressant, dass der
Innenminister von Sachsen einen Vorschlag zur Länder-
fusion unterbreitet hat. Er bezog sich nicht nur auf
Berlin und Brandenburg, sondern er schlug vor, Sachsen,
Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt zusammenzule-
gen. Ich weiß, dies führt zu großen Debatten. Dabei geht
es um Identitäten, gewachsene Bindungen und derglei-
chen mehr. Aber wir müssen uns heute in diesem kompli-
zierten Europa schon darüber verständigen, wie man Re-
gionen in Deutschland wettbewerbsfähig und leistungs-
fähig machen kann, wie das Ganze zusammengefügt
werden kann. Wir müssen auch überlegen, ob wir alles
immer nur in Form eines hochkomplizierten Länderfi-
nanzausgleichs regeln können, oder ob vieles nicht durch
eine Länderfusion einfacher und kostengünstiger geregelt
werden könnte.

Hier kommen zumindest interessante Denkanstöße aus
dem Osten. Ich glaube, damit und nicht durch ein La-
mento auf schwachem Niveau kann er auf sich aufmerk-
sam machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606700
Nächster Redner ist
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1410606800
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um den
Bericht zur deutschen Einheit. Dieser liest sich in Teilen
wie ein Lamento oder eine Selbstbeweihräucherung, ob-
wohl dies nicht sein Zweck ist. Es geht hier vielmehr um
Fakten. Und ohne Fakten kann man die Ursachen nicht
beseitigen, das heißt, wenn man sie nicht erkennt und be-
nennt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Aber dies setzt sich fort: In der vorigen Woche hat der
Kanzler seine Regierungserklärung zur „modernen Wirt-
schaftspolitik“ abgegeben. Sie war eine einzige Be-
weihräucherung und Schönrederei.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)





Werner Schulz (Leipzig)


9955


(C)



(D)



(A)



(B)


Heute geht es mit dem Staatsminister so weiter. Ich glaube
nicht, dass man den Aufbau Ost so betreiben kann. Ich
glaube auch nicht, dass dies eine gute Voraussetzung für
die Schaffung der deutschen Einheit ist, denn der Aufbau
Ost ist nach wie vor eine Voraussetzung für die deutsche
Einheit.

Vieles, was negativ ist oder so ausgelegt werden
könnte, taucht im Bericht nicht auf. Ich habe ihn mir wirk-
lich sehr genau angesehen. Bei der Zahl der Patentanmel-
dungen beispielsweise gibt es zwischen Ost und West im-
mer noch große Unterschiede. Dazwischen liegen Welten.

Ein weiteres Beispiel: In dem Bericht findet sich kein
einziges Wort darüber, dass im Sommer 1999 eine Haus-
haltssperre für alle vom Wirtschaftsministerium geför-
derten Forschungs- und Entwicklungsprogramme in den
neuen Bundesländern verfügt wurde. Diese Sperre, dieses
Hin und Her hat der ostdeutschen Forschungslandschaft
geschadet.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Wohl wahr, das muss man wohl sagen!)


Ungeachtet aller anders lautenden Beteuerungen setzt die
Bundesregierung diesen Zickzackkurs in der Forschungs-
förderung auch jetzt noch fort. Auch in diesem Jahr wurde
bereits eine Haushaltssperre von 6 Prozent verhängt.

Das Weglassen solcher wichtiger Daten und Fakten im
Bericht erinnert mich in fataler Weise an ein Argument
aus Zeiten der alten DDR: Man darf dem politischen Geg-
ner keine Munition liefern. – Das bringt uns aber wirklich
nicht weiter. Die Folge ist, dass uns jetzt ein Bericht vor-
liegt, der nicht ausgewogen ist. Er liefert keine objektive
Zustandsanalyse, die wir brauchen,


(Zuruf von der F.D.P.: Richtig!)

um beim Aufbau Ost gemeinsam voranzukommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür Sorge
zu tragen, dass die künftigen Berichte über die Entwick-
lung in Ostdeutschland deutlich differenzierter Auskunft
geben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU])


Im Jahresbericht wimmelt es geradezu von Beteuerun-
gen der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wolle,
um den Aufbau Ost zu befördern. Aber Versprechen sind
das eine, Taten das andere. Ein weiteres Beispiel: Zwar
hat die Bundesregierung die von uns 1997 begonnene und
1999 ausgelaufene Fördermaßnahme „FUTOUR“ bis
2003 verlängert. Aber während wir damals für 200 Tech-
nologieunternehmen noch 500 Millionen DM zur Verfü-
gung hatten, sehen Sie hier heute lediglich 140 Millionen
DM vor.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Bei Ihnen wäre sie ganz weg gewesen!)


Mit Sicherheit wird das nicht sehr viel weiterhelfen. Das
reicht nicht. Wenn man also Entscheidungen wie diese
trifft, dann braucht man sich wirklich nicht zu wundern,
warum keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden –


(Beifall bei der F.D.P.)


und das bei einer Arbeitslosigkeit von jetzt circa 20 Pro-
zent im Osten.

Legt man also an den Kanzler, der nicht da ist, die Latte
an, die er für sich selbst zum Maßstab gemacht hat, näm-
lich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dann hat er
die Latte im Osten gerissen, denn im letzten Jahr gab es
im Osten fast 55 000 Menschen mehr ohne Arbeit. Darü-
ber kann man natürlich nicht mit einem einfachen „Wei-
ter so“ hinweggehen, sondern man muss untersuchen, wie
man das ändern kann.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sollten etwas genauer lesen!)


Wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit, die heute schon
angesprochen worden ist, hinzurechnet, dann sieht es
natürlich noch schlimmer aus.

Ihr Ausweg ist: Wir legen beim zweiten Arbeitsmarkt
etwas drauf. Ich glaube, das ist ein Schuss, der inzwischen
wirklich nach hinten losgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Um sachlich zu bleiben: Der zweite Arbeitsmarkt ist ja
von uns allen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt ge-
dacht. Man muss ganz realistisch feststellen, dass das
nicht mehr aufgeht. 5 Prozent kommen in den ersten Ar-
beitsmarkt, und diejenigen, die im zweiten Arbeitsmarkt
beschäftigt sind, belasten den ersten. Das ist kontrapro-
duktiv. Da muss man sich wirklich – ich bin dafür, dass
wir das gemeinsam machen – überlegen, wie man das än-
dern kann.


(Zuruf von der CDU/CSU: Er tritt teilweise in Konkurrenz zu dem ersten Arbeitsmarkt!)


Die Regierung ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass am
ersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze entstehen – das ist ja
ihre generelle Aufgabe –, und die entsprechenden not-
wendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die gestern verabschiedete ungerechte Steuerreform –
so will ich sie einmal bezeichnen – kann es nicht sein.
Trotz gegenteiliger Behauptungen, die heute immer wie-
der vorgetragen wurden, belastet sie die Kleinen und Mitt-
leren.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Das kann natürlich nicht die Rahmenbedingung sein, in
der der Aufbau Ost vorangebracht werden könnte.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sollten einmal rechnen!)


Aber es gibt ja noch Chancen. Die Entscheidung über
die Steuerreform steht bald im Bundesrat an. Wir haben
zum Beispiel den Brandenburger Ministerpräsidenten
Manfred Stolpe, der sich dafür einsetzen will, dass hier
nachgebessert wird. Ich meine, Sie bessern ja ohnehin
schon ständig nach. Warum dann nicht auch an dieser
Steuerreform, um das einmal wieder auf die Füße zu stel-
len?


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Ausweg!)


Die Stunde der Wahrheit kommt bald im Bundesrat.




Jürgen Türk
9956


(C)



(D)



(A)



(B)


Außerdem sind wir der Meinung, dass insbesondere
Ostdeutschland ein flexibles Tarifvertragsrecht braucht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist natürlich für ganz Deutschland eine sinnvolle For-
derung, aber insbesondere für den Osten, denn dort gibt es
kein Tarifvertragsrecht mehr, weil keiner mehr daran teil-
nimmt. Wir haben dort also einen totalen Wildwuchs.
40 Prozent der Unternehmen sind noch dabei. Ich kann
Sie namens der F.D.P. nur auffordern, dort wieder Ord-
nung zu schaffen, damit der Flächentarif im Osten nicht
völlig verschwindet. Hier muss endlich etwas gemacht
werden; er muss reformiert werden.

Dass wir bei den Lohnzusatzkosten eine Entlastung
brauchen, ist klar. Es muss also schnell etwas in Sachen
Rentenbeitragspunkte gemacht werden. Das kann man
nicht auf das nächste Jahr verschieben und hier, wie so oft,
auf das Bundesverfassungsgericht warten. Wir müssen
uns schneller einigen und dürfen das Thema nicht endlos
verschieben, wie wir es bei der Steuerreform erlebt haben.

Ostdeutschland braucht, Herr Staatsminister Schwanitz,
auf keinen Fall die Ökosteuer,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


die kleine und mittlere Unternehmen, besonders im
Transportgewerbe, in ihrer Existenz gefährdet. Man kann
nicht immer sagen – das ist totaler Unsinn –, dass sie ins-
besondere dem Osten etwas bringe. Man muss das mal
untersuchen und sich mit den Leuten, die davon betroffen
sind, unterhalten und fragen, ob das wirklich so ist oder
ob man nicht doch etwas anderes machen müsse.

Warum, Herr Schwanitz, haben Sie solche den Aufbau
Ost gefährdenden Belastungen zugelassen? Es ist doch
Ihre Aufgabe, keine Maßnahmen zuzulassen, die insbe-
sondere den Osten belasten. Denn für den Osten war ge-
rade Entlastung und nicht zusätzliche Belastung angesagt.
Oder hatten hier etwa die Grünen das Sagen?

Nein, Herr Schwanitz, Gesundbeten und Schönreden – so
habe ich das heute empfunden –, wie Sie das auch heute
wieder in der „Freien Presse“ betrieben haben, bringt den
Aufbau Ost nicht weiter. Es ist doch nicht Ihre Aufgabe,
auf ein Wachstum im Jahre 2002 – so steht es im Inter-
view – zu verweisen, das zufälligerweise ein Wahljahr ist.
Wir müssen jetzt etwas tun, damit der Aufbau Ost nicht
abgehangen wird.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es stellt sich außerdem die Frage, warum der „Bericht

über gesamtwirtschaftliche und unternehmerische An-
passungsfortschritte in Ostdeutschland“ – so etwas gab es
einmal – von der Bundesregierung 1999 abgeschafft
wurde. Etwa deshalb, weil es keine Fortschritte mehr
gibt? Oder deshalb, weil darin festgestellt wurde, dass die
Kapitalausstattung der Arbeitsplätze erst 70 Prozent
des Westniveaus erreicht hat? Das hat natürlich etwas
mit Arbeitsproduktivität zu tun. Wenn ich nur 70 Prozent
der Kapitalausstattung habe, ist es schwer, die gleiche Ar-
beitsproduktivität zu erreichen.

Sie machen sich und uns etwas vor, wenn Sie die In-
dustrie mit einem Wachstum von 6 Prozent als Hoff-
nungsträger aufbauen. Sie haben davon gesprochen, dass
das Wachstum im letzten Quartal einen zweistelligen Wert
erreicht habe. Aber eine Schwalbe – sprich: ein solches
Quartalsergebnis – macht noch keinen Sommer. Darauf
kann man nicht bauen. Lassen Sie die konjunkturelle Lage
in der Welt ein bisschen einbrechen – und schon bricht
Ostdeutschland wieder weg.

Warum wird die Misere in der ostdeutschen Bauwirt-
schaft nicht analysiert? Wir reden zwar immer davon,
dass es sie gibt, aber man muss sie doch auch einmal ana-
lysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus
ziehen. Ich habe erwartet, dass das in dem „Jahresbericht
1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen
Einheit“ geschieht. Sich hier hinzustellen und zu sagen,
dass sich der überhitzte Bausektor wieder abkühlen
müsse, ist doch eine billige Aussage, die nicht weiterhilft.
Ich weiß auch, dass der Bausektor etwas überhitzt war.
Aber man muss natürlich nach Lösungen suchen. Das
muss man insbesondere dann, wenn man weiß, dass ein
investitionshemmendes Infrastrukturloch von 300 Milli-
arden DM besteht. Es ist also nicht nach einer Beschäfti-
gungstheorie für die Bauwirtschaft zu suchen; vielmehr
müssen wir hier erst einmal diese 300Milliarden DM auf-
bringen.

Sparen und Schuldenabbau sind wichtig. Das unter-
stützen wir auch weiterhin. Wenn aber der Aufbau Ost
rückläufig ist, dann werden Sie aus dem Sparstrumpf bald
das Doppelte herausnehmen müssen. Das kann nicht Sinn
und Zweck der Sache sein.

Im Übrigen: In den immer leerer werdenden Platten-
bausiedlungen tickt eine Zeitbombe. Das muss man
bei dieser Gelegenheit sagen. Hier steht neben der Alt-
schuldenbefreiung eine umfassende Wohnumfeldverbes-
serung, einschließlich eines schonenden Rückbaus, an.
Das alles sind sinnvolle und notwendige Leistungen für
die Not leidende Bauwirtschaft. Es geht hier also nicht um
Beschäftigungstheorie, sondern um sinnvolle Arbeit.

Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Betreuung neu
gegründeter und bereits länger am Markt vorhandener
kleiner und mittlerer Unternehmen durch die Hausban-
ken. Hier sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht
nach dem Vorbild der Deutschen Ausgleichsbank Förder-
banken Leistungen, einschließlich qualifizierter Bera-
tung, aus einer Hand anbieten.

Zum Schluss fordere ich Sie auf: Verhindern Sie, dass
die Zahl der Großbetriebe in Ostdeutschland noch weiter
abnimmt – dort gibt es schon jetzt zu wenige –, indem Sie
den ostdeutschen Kohle- und Energieversorgern bei
der Suche nach neuen Anteilseignern und deren Etablie-
rung mehr als bisher helfen. Hier muss ich Sie, Herr
Schwanitz, fragen: Wo waren Sie? Das ist unser letztes
großes Vorhaben; denn nur eine zügige Entflechtung wird
zu stabilen und wettbewerbsfähigen Unternehmen führen.
Die Chance ist da!

Als Cottbuser sage ich Ihnen: Wir brauchen ostdeutsche
„Energie“, aber in der Ersten Bundesliga.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Jürgen Türk

9957


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(D)



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(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410606900
Herr Kollege Türk,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1410607000
Ich denke, dass das ein echter
Beitrag zur deutschen Einheit wäre.

Ich sage Ihnen allen: Glück auf!

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410607100
Es spricht jetzt für die
SPD-Fraktion die Kollegin Jelena Hoffmann.


Jelena Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1410607200
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu Hause
in meinem Wahlkreis in Chemnitz bin und mit den Men-
schen rede oder Betriebe besuche oder einfach durch die
Stadt gehe, dann bin ich stolz auf das, was wir in den letz-
ten zehn Jahren erreicht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben bei weitem noch keine blühenden Land-
schaften, außer vielleicht zu dieser Jahreszeit im Erzge-
birge. Ich weiß, dass für viele die Angleichung der Ver-
hältnisse in Ost und West noch viel zu langsam voran-
kommt. Aber die Veränderungen sind klar und deutlich
erkennbar. Wer diese nicht sieht, der ist wirklich blind,
Herr Nooke. Das, was wir schon aufgebaut haben, kann
sich sehen lassen.

Ich möchte an dieser Stelle auf Ihre Rede eingehen,
Herr Nooke. Ich habe Sie oft im Ausschuss reden gehört.
Aber heute haben Sie mich unheimlich enttäuscht. Ich
habe vier Jahre beobachtet, wie Ihre Fraktion den Wirt-
schaftsstandort Deutschland im Deutschen Bundestag
schlechtgeredet hat.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist verkehrte Welt!)


Jetzt machen Sie das mit Ostdeutschland. Dann wundern
Sie sich auch noch, dass die Menschen aus Ostdeutsch-
land weggehen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Bei-
trag für die Einheit von West- und Ostdeutschland ist.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte wiederholen: Das, was wir aufgebaut ha-

ben, kann sich sehen lassen. In den neuen Ländern stehen
die produktivsten Automobilfabriken. Durch zahlreiche
Unternehmensgründungen sind neue und meistens leis-
tungsfähige Strukturen entstanden. Über 530 000 Unter-
nehmen sind aufgebaut worden. Dort arbeiten mehr als
3,2 Millionen Menschen. Die Produktivität ist stetig ge-
stiegen. Beim Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist
die ostdeutsche Wirtschaft ein gutes Stück vorangekom-
men. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert. Wir
haben schon vieles geschafft. Darauf können und müssen
wir auch stolz sein, Herr Nooke.

Dennoch müssen wir in vielen Bereichen deutlich zu-
legen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dürfte in
Ostdeutschland erst bei circa 60 Prozent des westdeut-
schen Niveaus liegen. Die niedrigen Löhne im Osten be-

deuten meiner Meinung nach – darüber kann man sehr
kontrovers diskutieren – einen direkten Kaufkraftverlust
für die meistens regional agierende einheimische Wirt-
schaft. Die industrielle Basis ist noch immer nicht ausrei-
chend. Die noch immer zu hohen Arbeitslosenzahlen sind
ein Beleg für viele ungelöste Probleme. Dieses Feld muss
mit Nachdruck bearbeitet werden. Dabei werden wir und
die Bundesregierung die ostdeutschen Betriebe auch wei-
terhin nach Kräften unterstützen.

Staatliche Förderungen sind in vielen Bereichen noch
immer unerlässlich, zum Beispiel bei Investitionen und
Innovationen sowie bei Existenzgründungen. Die Inves-
titionsförderung bleibt auch weiterhin der Schwerpunkt
der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern. Deshalb
haben wir die I-Zulage zuerst auf 10 Prozent bzw. für
kleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent verdop-
pelt und dann noch einmal um 25 Prozent erhöht.

Zur gezielten Förderung des Mittelstandes kann man
an drei Punkten des „betrieblichen Lebenszyklus“ an-
knüpfen: an der Förderung von Existenzgründungen, an
der Wachstumsphase und schließlich an der Übergabe an
einen Nachfolger.

Der erste Aspekt – Existenzgründung – ist gerade für
den Aufbau stabiler wirtschaftlicher Strukturen in den
neuen Ländern von ganz entscheidender Bedeutung.


(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen unbedingt mehr Mut, mehr Engagement
und mehr Unternehmenskultur, um ein solides Fundament
für nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Doch
oft reichen Mut und Engagement nicht aus. Oft braucht
man auch finanzielle Unterstützung.

Besondere Akzente setzen wir bei der Stärkung von
Innovationsfähigkeit und Forschungskompetenzen.
Neben Programmen wie PRO INNO, Inno-Net, BTU,
Inno-Regio – ich hoffe, Sie, liebe Oppositionskollegen,
haben noch nicht vergessen, dass wir trotz aller Spar-
zwänge für die Folgejahre in diesem Bereich eine „Zu-
kunftsmilliarde“ vorgesehen haben – möchte ich beson-
ders das Programm FUTOUR ansprechen.

Zu den beiden Anträgen von CDU/CSU und PDS, die
heute unter anderem beraten werden, möchte ich sagen:
Es sieht ganz danach aus, als wäre der Schuss nach hinten
losgegangen, da wir das, was Sie fordern, bereits machen,
und zwar auf ökonomisch vernünftige Weise.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben die richtige Entscheidung getroffen, indem

wir das Programm FUTOUR über das Haushaltsgesetz
2000 verlängern. Wie ich aus dem Wirtschaftsministe-
rium erfahren habe, ist das Programm sehr erfolgreich an-
gelaufen. Bislang sind 180 Betriebe in den Genuss von
FUTOUR gekommen. Die Berliner, vor allen Dingen die
Ostberliner, können sich besonders freuen, weil in Ost-
berlin 55 Unternehmensgründungen realisiert worden
sind. In Sachsen wurden 38 und in Sachsen-Anhalt 29
neue Unternehmen gegründet.

Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen,
dass zum Beispiel in meinem Wahlkreis Chemnitz Ver-
fahren in Lasertechnik entwickelt wurden und dass welt-






(C)



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weit agierende Hightechunternehmen im Bereich opti-
scher Prüf- und Messtechnik entstanden sind. In Zwickau
ist ein weltweit neues System zur Nutzung der Energie bei
Luftaustauschprozessen erfunden worden.

Ich möchte Sie fragen: Wissen Sie, was Synotec-
Psychoinformatik ist? Nein? – Ich wusste es auch nicht. –
Dann müssen Sie mit mir nach Geyer im Erzgebirge fah-
ren, weil dort daran gearbeitet wird – das alles dank unse-
rer Unterstützung. Allein in Südwestsachsen sind 1999
durch die Unterstützung von Existenzgründungen im
Technologiebereich 964 Arbeitsplätze in 206 neuen Un-
ternehmen entstanden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das hat Roman Herzog mit seiner „Ruck“-Rede gemeint.
Aber das haben Sie nicht einmal begriffen, geschweige
denn umgesetzt.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: So eng hat das der Roman Herzog nicht gedacht, wie Sie es vermuten!)


In diesen speziellen Förderprogrammen wirkt natür-
lich unsere Politik der wirtschaftsfreundlichen Rah-
menbedingungen.Das Zukunftsprogramm 2000 gibt uns
ein gutes Stück der finanzpolitischen Handlungsspiel-
räume zurück, die wir für den Aufbau Ost ganz dringend
brauchen. Auch die Steuersenkungen werden zu einem
Investitionsschub führen, der – davon bin ich überzeugt –
gerade den Ostbetrieben zugute kommen wird. Wir haben
die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt und bemühen
uns nachhaltig, das Ausbildungsproblem zu lösen.

Alle diese Maßnahmen sind gut und richtig. Wir brau-
chen sie dringend, um die Probleme zu lösen, die zwei-
felsohne noch anstehen. Ich bin die Letzte, die dafür wäre,
die Probleme unter den Teppich zu kehren.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das ist gut!)

Wir müssen uns aber auch bewusst machen, was die Men-
schen in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon er-
reicht haben. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen hal-
ten, dann gewinnen wir auch die Kraft und Motivation,
die Aufgaben zu meistern, die noch vor uns liegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus der
Krise an die Spitze ist hart, manchmal sehr hart, aber er
lohnt sich auf jeden Fall, vor allen Dingen im Interesse der
Menschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410607300
Das Wort für die PDS-
Fraktion hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1410607400
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ihre Zuversicht hinsichtlich der Ent-
wicklung der Realeinkommen Ost, Herr Kanzleramtsmi-
nister Schwanitz, würde ich ja gern teilen. Aber die Rea-
lität spricht leider eine andere Sprache. Wie Sie wissen,
kämpft die ÖTV gegenwärtig unter anderem um die

Angleichung derLöhne und GehälterOst an das West-
niveau. Derzeit werden im Osten nur 86 Prozent gezahlt.
Hauptgegner der ÖTV ist dabei das Bundesinnenministe-
rium,


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


das diese Angleichung nach Möglichkeit auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag verschieben will. Hochinteressant ist in
diesem Zusammenhang eine Dienstinformation des Bun-
desministeriums des Inneren an die obersten Bundes-
behörden und andere unterstellte Institutionen. Darin
heißt es, dass für die beabsichtigte Einstellung eines bis-
her im Westen beschäftigten Arbeitnehmers im Tarifge-
biet Ost der Osttarif anzuwenden sei.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410607500
Herr Kollege
Jüttemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lengsfeld?


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1410607600
Frau Lengsfeld, Ihre
Fragen sind niveaulos. Lassen wir das lieber, danke.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Deine Rede auch! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Die dadurch entstehenden Einkommensverluste könn-
ten jedoch – so heißt es in dem Schreiben – zu Problemen
bei der Personalgewinnung führen. Als Konsequenz wird
in der BMI-Information Folgendes ausgeführt:

Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,
erhebe ich – im Einvernehmen mit dem Bundesmini-
sterium der Finanzen – keine Bedenken, wenn dieser
Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West einge-
stellt wird und anschließend in das Tarifgebiet Ost
wechselt.

Im Klartext heißt das nichts anderes als das Einverständ-
nis der Bundesregierung zur Tarifangleichung Ost an
West, allerdings nur für Leute aus dem Westen. So viel zur
viel zitierten Behauptung, vor dem Gesetz seien alle
gleich! Seit Heinrich Heine hat sich offenbar nicht allzu
viel verändert:


(Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na, na, na! Im Eichsfeld vielleicht!)

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.


(Beifall bei der PDS)

Noch ein Wort zur Angleichung der Löhne in Ost und

West: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
in seiner jüngsten Studie vom 10. Mai erstmalig die Ten-
denz einer solchen Einkommensangleichung registriert.
Die durchschnittlichen Jahreseinkommen der Haushalte
Ost seien 1997 – neuere Zahlen standen nicht zur Verfü-
gung – auf 85 Prozent des Westniveaus angestiegen.
Interessant ist die Begründung: Neben den steigenden
Löhnen im Westen führt das DIW hier nämlich auch die




Jelena Hoffmann (Chemnitz)


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seit 1992 rückläufigen Realeinkommen im Westen an.
Setzt sich diese Tendenz fort, wird die Angleichung
der Löhne – das Gleiche gilt im Übrigen auch für die
Lebensverhältnisse im Allgemeinen – eine Angleichung
nach unten sein. Das heißt, das allgemeine Niveau wird
gesamtgesellschaftlich abgesenkt. Das kann ja wohl we-
der im Interesse der Bevölkerung im Osten noch der im
Westen sein.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich diese Tendenz noch an einem Beispiel

belegen: Am 6. März dieses Jahres erhielt der Betriebsrat
der niedersächsischen Firma Hemeyer-Verpackungen
Bad Lauterberg die Nachricht vom Unternehmer, dass das
Werk am 31. Dezember 2000 seine Pforten schließen und
nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt umsiedeln werde.


(Susanne Kastner [SPD]: Das gibt es bei uns im Westen aber auch!)


Ähnliches vernimmt man aus der Firma Brandt Zwieback
aus Hagen, die es nach Thüringen zieht.

Was ist der Hintergrund solcher Umzüge, die es ge-
häuft bei kleineren Firmen im ehemals grenznahen Raum
gibt? Erstens locken natürlich im Osten die Fördermittel
der Gemeinschaftsaufgabe. Zweitens werden im Osten in
aller Regel weniger Arbeitskräfte eingestellt, als im Wes-
ten entlassen werden. Drittens bekommen sie durchweg
entschieden weniger Lohn. Viertens schließlich ist der
Stand der Mitbestimmung im Osten, also gewerkschaftli-
che Vertretung, gewerkschaftliche Stärke, Betriebsräte
usw., weitaus niedriger, fast null. Das wissen Sie doch
selbst.

Unterm Strich heißt das alles nichts anderes, als dass
gesamtgesellschaftlich gesehen schon einmal erreichte
soziale Standards abgebaut werden und damit das Ge-
samtniveau der Lebensverhältnisse gesenkt wird. Dafür
werden auch noch staatliche Fördermittel ausgereicht.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: So einen Quatsch habe ich schon lange nicht mehr gehört!)


Die PDS-Fraktion hält solche Vorgänge für einen eindeu-
tigen Missbrauch von öffentlichen Geldern und fordert
die Veränderung der Förderrichtlinien dahin gehend, dass
ein solcher Missbrauch verhindert wird.


(Beifall bei der PDS)

Zum ersten Jahresbericht der deutschen Einheit, den

die neue Bundesregierung vorgelegt hat, möchte ich nur
so viel sagen, dass er im Gegensatz zu früheren Berichten
eine Reihe realistischer Einschätzungen des tatsächli-
chen, in vielen Fragen unbefriedigenden Zustandes ent-
hält. Man findet in ihm darüber hinaus eine Reihe von
Stichworten und Maßnahmen, die durchaus zur Verbesse-
rung der Situation beitragen könnten. Der entscheidende
Mangel des Berichts ist jedoch, dass er keine erkennbare
Strategie enthält, um die Hauptprobleme der neuen Län-
der in einem klar abgesteckten Zeitraum zu lösen. Hierzu
gehört der Abbau der Massenarbeitslosigkeit im Zusam-
menhang mit einem sich selbst tragenden kontinuierli-
chen wirtschaftlichen Aufschwung. Ohne eine solche

Strategie wird die Angleichung der Lebensverhältnisse
in der gewünschten Form, also ohne Abschwung West, je-
doch nicht zu haben sein.

Wir halten deshalb die Frage, ob der Jahresbericht zur
deutschen Einheit zukünftig in der bisherigen oder in ei-
ner veränderten Form vorgelegt wird, für nicht so ent-
scheidend. Wichtig ist allein der Inhalt; wichtig ist, dass
der nächste Bericht endlich eine solche Strategie, verbun-
den mit einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensver-
hältnisse, enthält, den die PDS ebenso kontinuierlich ein-
fordert, wie sich die Regierung seiner Aufstellung bisher
verweigert.


(Beifall bei der PDS)

Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu unse-

rem FUTOUR-Antrag. Auf nachdrückliche Erinnerung
der PDS hat die Bundesregierung im Zuge der Haushalts-
beratungen 1999 eine Verlängerung des Programm
FUTOUR bis 2003 realisiert.


(Zuruf von der SPD: Das stimmt nicht!)

Besonders der Verband der Innovativen Unternehmen
hatte auf die prekäre Situation technologieorientierter Un-
ternehmen aufmerksam gemacht. Deshalb hat die PDS die
Bundesregierung aufgefordert, zukünftig ostdeutsche
industrielle Forschungsvereinigungen und -verbände an
der Ausgestaltung neuer Förderprogramme zu beteiligen.
Wie der VIU treten auch wir für eine langfristig angelegte
Programmlaufzeit von zehn Jahren ein. Gründern von
technologieorientierten Unternehmen in den neuen Bun-
desländern, aber auch in strukturschwachen Regionen der
alten Bundesrepublik soll eine Förderung zugesichert
werden. Die Förderung soll vorrangig auf die Gründung
von technologieorientierten Unternehmen mit ökolo-
gisch-sozialer Ausrichtung konzentriert werden, die in
regionale und Landesentwicklungskonzeptionen struktur-
politisch eingebunden werden, um so einen ökologisch-
sozialen Umbau zu unterstützen.

Zum CDU-Antrag zur Angleichung der Strompreise
und zur Aussetzung der Stromsteuern im Osten nur ein
Satz: Das klingt zwar alles recht gut, läuft aber am Ende
auf nichts anderes als auf die Subventionierung der
VEAG-Eigentümer mit öffentlichen Mitteln hinaus. Die-
sen Großkonzernen in Ostdeutschland käme das sicher
sehr gelegen; aber letztlich lässt sich mit diesem Antrag
nicht ein einziges Problem lösen: nicht das der Überkapa-
zitäten, nicht das der Sicherung der Arbeitsplätze bei der
VEAG und auch nicht das der ökologischen Energiege-
winnung.

In diesem Rahmen möchte ich noch ein anderes Bei-
spiel erwähnen. Keine Antwort ist ja auch eine Antwort.
In der Fragestunde des brandenburgischen Landtages
kam es zu einem Eklat. Die Landesregierung verweigerte
zum zweiten Mal die Antwort auf eine Anfrage der PDS-
Abgeordneten Esther Schröder. Diese bestand auf einer
Offenlegung der Personalstruktur im Landesdienst hin-
sichtlich der Ost- oder Westherkunft der Bediensteten.
Diese Anfrage hatte sie schon vor Wochen einmal gestellt,
war aber mit der Begründung zurückgewiesen worden,
dass der dafür notwendige Aufwand nicht angebracht sei
und zehn Jahre nach der Wende die geographische Her-




Gerhard Jüttemann
9960


(C)



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(A)



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kunft keine Rolle mehr spielen dürfe. Die Abgeordnete
äußerte gestern vor dem Parlament den Verdacht, dass ost-
deutsche Bewerber noch heute schlechtere Karten beim
Versuch des Eintritts in den Landesdienst hätten als Be-
werber aus den alten Ländern, obwohl sie ihre Ausbildung
nach der Wende gemacht haben.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Wir sind hier im Bundestag!)


Die gleiche Frage könnte man doch einmal den anderen
Landesparlamenten im Osten stellen, wie viele Bedien-
stete dort prozentual aus den neuen Bundesländern kom-
men. Hat man denn kein Vertrauen in die Menschen? Ak-
zeptiert man die Bildung, die sie genießen, einfach nicht?
Oder ist der wahre Grund, dass wir im Osten einfach noch
nicht anerkannt werden? Es wird höchste Zeit, dass sich
hier etwas ändert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410607700
Nächster Redner ist
der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1410607800
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte
findet an einem fast historisch zu nennenden Tag statt;
denn am gestrigen 18.Mai vor zehn Jahren wurde in Bonn
von Theo Waigel und Walter Romberg der Staatsvertrag
über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und
Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der DDR unterzeichnet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Herr Staatsminister Schwanitz, diese Tatsache hät-
ten Sie in Ihrer Rede ruhig einmal erwähnen können.


(Frank Hempel [SPD]: Das machen Sie doch!)

Dieser Vertrag war ein erster entscheidender Schritt auf

dem Weg zur deutschen Einheit. Mit ihm begann ein
neuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Der Vertrag
entsprach der Forderung nach nationaler Solidarität und
den Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheit
und Wohlstand. Dieser Vertrag wurde sowohl im Deut-
schen Bundestag als auch in der Volkskammer der DDR
fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit gebilligt.

Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass im
Bundesrat zwei Ministerpräsidenten dagegen stimmten.
Es handelt sich um den jetzigen Bundeskanzler Schröder
– er ist nicht mehr anwesend; die Debatte scheint ihn so
wie damals auch heute nicht zu interessieren –


(Ingrid Holzhüter [SPD]: Quatsch!)

und den ehemaligen Finanzminister Lafontaine. Ich er-
wähne das der Vollständigkeit halber; denn bei manchen
Debattenbeiträgen der Koalition hatte man heute den Ein-
druck, Sie hätten die Einheit gegen die CDU erkämpft.
Dem war aber nicht so.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieser Vertrag war die Grundlage für die Einführung
der sozialen Marktwirtschaft in der DDR und damit die
Grundlage für das wirtschaftliche Zusammenwachsen
Deutschlands. Bereits in der letzten Debatte zum Jahres-
bericht, die wir am 11. November des letzen Jahres führ-
ten, waren wir uns fraktionsübergreifend einig, dass seit-
dem unbestreitbar große Erfolge beim Aufbau Ost erzielt
wurden. Diese Erfolge sollten wir nicht kleinreden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Sabine Kaspereit [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihrem Kollegen Nooke!)


– Sie von der SPD können ruhig klatschen.
Am deutlichsten werden die Erfolge, wenn wir uns die

Krisenanalyse des letzten Vorsitzenden der Staatlichen
Plankommission, Gerhard Schürer, vom 30. Okto-
ber 1989 anschauen. Sie enthält zum Beispiel die Aus-
sage:

Allein ein Stoppen der Verschuldung der DDR würde
im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um
25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar
machen.

Das war die Wahrheit aus Sicht der Staatlichen Plankom-
mission der DDR des Jahres 1989. Seitdem haben wir –
dank gesamtdeutscher Solidarität und dank der Leis-
tungsbereitschaft in Ost und West – ein großes Stück des
Weges zurückgelegt und viel erreicht.

Aber bei der heutigen Debatte muss auch ausgespro-
chen werden, dass die wirtschaftliche Angleichung in
Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre stagniert und unter
Rot-Grün zum Stillstand gekommen ist. Herr Schwanitz
und Herr Schulz, Sie können zwar viele Zahlen vorlegen,
Sie kommen aber nicht an der Tatsache vorbei – ich sage
das mit Bedacht –, dass seit Mitte der 90er-Jahre die wirt-
schaftliche Angleichung zum Stillstand gekommen ist.
Das müssen wir ändern.

Schauen Sie sich einmal die Wachstumsraten an! Sie
müssen sie erst zur Kenntnis nehmen und können sie dann
interpretieren. Während in der ersten Hälfte der 90er-
Jahre die Wirtschaft im Osten mit einer Rate von bis zu
10 Prozent wuchs, wächst sie seit vier Jahren langsamer
als die im Westen: um 1,7 Prozent gegenüber 2,3 Prozent
im Jahre 1997; um 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent im
Jahre 1998, um 1,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent im
Jahre 1999 und dieses Jahr voraussichtlich nur noch um
2,2 Prozent gegenüber 2,8 Prozent. Seit vier Jahren geht
also die Schere wieder auseinander, Herr Schwanitz.


(Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz: Solange regieren wir noch gar nicht!)


– Sie regieren aber seit fast zwei Jahren.
Nehmen Sie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt

Ost je Einwohner. In 1991 betrug es 30 Prozent des West-
wertes. Bis 1994 stieg es rasant auf 53 Prozent und stag-
niert seitdem bei rund 55 Prozent des Westwertes. Die
Steuerdeckungsquote Ost hatte in 1991 einen Ausgangs-
punkt von 22,3 Prozent und stieg bis auf 50 Prozent in
1995. Auf diesem Niveau sind wir geblieben.




Gerhard Jüttemann

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Herr Schulz, das sind die wesentlichen wirtschaftli-
chen Zahlen. Sie können natürlich auch die eine oder an-
dere positive Zahl finden. Aber das sind die wichtigsten
Kerndaten. Im europäischen Rahmen betrachtet lässt sich
sagen: Die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands liegt
nach wie vor stabil unter 75 Prozent des EU-Durch-
schnitts und damit auf dem Niveau vieler südeuropäischer
Regionen und Länder wie Portugal, Sizilien und Grie-
chenland. Deutschland droht also, wenn Sie, Herr
Schwanitz, nicht handeln – Sie haben im Augenblick die
Regierungsverantwortung –, eine dauerhafte wirtschaftli-
che Spaltung. Das akzeptieren wir von der Union nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anstatt dem Aufbau Ost neue Impulse zu geben, hat die

rot-grüne Bundesregierung seit 1998 bei den Investitio-
nen überproportional gekürzt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Die allgemeine Investitionsquote im Bundeshaushalt
sinkt kontinuierlich – von 12,5 Prozent in 1998 auf
11,6 Prozent in 1999 bis auf 10,6 Prozent im Jahre 2003.
Das besondere Opfer dieser rückläufigen Investitions-
quote sind die Verkehrswegeinvestitionen Ost. Wir wis-
sen alle: Verkehrswege sind von ganz besonderer Bedeu-
tung für die wirtschaftliche Entwicklung. Unser Kollege
Wolfgang Dehnel aus der CDU-Landesgruppe Sachsen,
der hinter mir als Schriftführer sitzt, hat das in der
Schkeuditzer Erklärung im Januar dieses Jahres für die
Landesgruppe überzeugend herausgearbeitet: Ohne Ver-
kehrswegeinvestitionen gibt es keinen wirtschaftlichen
Aufschwung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Was aber hat die Bundesregierung unternommen, Herr

Schwanitz? Die Bundesregierung hat am 3. November
1999 ein vom Bundesverkehrsminister – er ist nicht da;
ihn scheint das nicht zu interessieren – aufgelegtes Inves-
titionsprogramm – besser wäre der Name „Investitions-
verhinderungsprogramm“ gewesen – für die Jahre 1999
bis 2002 beschlossen,


(Sabine Kaspereit [SPD]: Ihre Unterdeckung haben Sie wohl vergessen!)


was, Frau Kaspereit, die Verkehrsinvestitionen in dieser
Legislaturperiode um 3,5 Milliarden DM zurückführt.
Insbesondere im Osten kürzen Sie. Sie haben die Schie-
nenanbindung Mitteldeutschlands, das Verkehrsprojekt
deutsche Einheit Nr. 8, gestoppt. Deswegen haben wir
jetzt den Schildbürgerstreich, dass der neue Leipziger
Flughafen ohne ICE-Anschluss ist.


(Rainer Fornahl [SPD]: Ist ja eine Lüge!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410607900
Herr Kollege Kolbe,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Kaspereit?


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1410608000
Wenn es nicht von der
Redezeit abgeht, ja.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1410608100
Herr Kollege Kolbe, kön-
nen Sie mir bitte die Höhe der Unterdeckung im Verkehrs-
wegeplan der alten Bundesregierung nennen?


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1410608200
Frau Kollegin, Sie ver-
wechseln permanent den Verkehrswegeplan mit dem
Haushaltsplan. Der Haushaltsplan ist ein Finanzierungs-
plan; der Verkehrswegeplan ist ein Investitionsplan. Ich
kann nur feststellen, dass zu unserer Regierungszeit ge-
baut worden ist – und die Bauten sind auch bezahlt wor-
den –,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.])


während Sie die Bauten gestoppt haben. An dieser Tatsa-
che kommen Sie nicht vorbei. Wenn das so weitergeht,
dann warten wir noch 20 Jahre auf eine Autobahn zwi-
schen den beiden großen Städten Leipzig und Chemnitz
mit einer halben Million und einer drittel Million Ein-
wohner. Das ist doch keine zukunftsorientierte Politik.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Wir haben auch unter euch zehn Jahre auf eine Autobahn gewartet! – Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie haben sich doch gerade von den Verkehrsprojekten deutsche Einheit verabschiedet!)


Die ausbleibenden Infrastrukturmaßnahmen behindern
die weitere wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands
und führen sogar dazu, dass die Abwanderung aus dem
Osten, die uns alle ganz besonders große Sorgen macht,
weitergeht. Wir kommen nicht um die Feststellung
herum: Unter Schröder und Schwanitz ist der Aufbau Ost
von der Chefsache zur Nebensache degradiert worden.
Die CDU wird dafür sorgen, dass er wieder zur Chefsache
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410608300
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten
Otto Schily.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1410608400
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren Kollegen! Der Kollege Jüttemann hat ge-
meint, in die Debatte ein Schreiben aus dem Bundesin-
nenministerium einführen zu müssen.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Geheimpapier! – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Eine Erwiderung geht doch nur direkt auf die Rede, Frau Präsidentin! Das ist gar nicht zulässig, was Sie machen, Her Schily!)


– Lassen Sie mich doch darauf eingehen! Es ist ja interes-
sant, Informationen dazu zu bekommen.

Ich habe nicht die Absicht, mit der Debatte auf das
Schlichtungsverfahren im Rahmen der Tarifverhandlun-
gen für den öffentlichen Dienst Einfluss zu nehmen. Aber
einige Feststellungen sind, so denke ich, notwendig.




Manfred Kolbe
9962


(C)



(D)



(A)



(B)


Das erwähnte Schreiben betrifft die Frage der Perso-
nalgewinnung. Bei dem Absatz, der hier zitiert worden ist,
dürfen Sie folgenden Satz nicht übersehen:

Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist,
– sohatderMitarbeiter ausdemMinisteriumgeschrieben–

erhebe ich keine Bedenken, wenn dieser Arbeit-
nehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt
wird.

Das betrifft meiner Kenntnis nach ganz wenige Fälle, die
man an einer Hand abzählen kann, ist also keine generelle
Vorgabe, die die Tarifstruktur berührt.

Herr Kollege Jüttemann, der Bund verhält sich in die-
ser Frage solidarisch mit den neuen Bundesländern und
den Kommunen. Ich kann nur den Kollegen Milbradt zi-
tieren, der an den Tarifgesprächen unmittelbar beteiligt
ist. Er weist zu Recht darauf hin, dass er, wenn es um
Transferleistungen geht, zunächst einmal daran denkt, die
Transferleistungen für Investitionen zu verwenden und
nicht für Tariferhöhungen, und dass auch der Abstand zur
freien Wirtschaft – das Lohnniveau im Osten liegt näm-
lich bei 75 Prozent des Westniveaus – deutlich erkennbar
bleiben muss. Ich glaube nicht, dass wir im öffentlichen
Dienst eine Anhebung auf 100 Prozent verantworten kön-
nen, wenn in der freien Wirtschaft nur 75 Prozent gezahlt
werden.

Das sind die Bedingungen, an denen man sich orien-
tieren muss. Man kann sehr viel wünschen; das tue ich
auch. Ich hätte ja persönlich überhaupt nichts dagegen,
wenn wir auf 100 Prozent steigern würden. Allerdings
sollten dann im Osten netto nicht mehr als 100 Prozent
herauskommen. Das wäre auch nicht die richtige Lösung.

Ich wäre dankbar, Herr Kollege Jüttemann, wenn Sie
die Polemik, die aus Ihren Kreisen in diesem Bereich be-
trieben wird, etwas zurückfahren könnten und den Men-
schen reinen Wein – Sie haben über Wein und Wasser ge-
sprochen – über die wahren Gegebenheiten in den neuen
Bundesländern einschenken würden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410608500
Zur Erwiderung der
Kollege Jüttemann, bitte.


Gerhard Jüttemann (PDS):
Rede ID: ID1410608600
Ich habe wörtlich vorge-
lesen. Es stimmt ja wohl. Die Frage ist doch: Wie gehen
Sie an die Sache heran? Sie billigen möglicherweise ei-
nem Beamten, der im Ostteil arbeiten will, zu, über einen
Umweg erst im Tarifgebiet West eingestellt zu werden,
aber dann zurück ins Tarifgebiet Ost zu kommen und
Westgehalt zu bekommen. Es ist doch keinem Normal-
bürger hier verständlich zu machen, dass heute zwei be-
amtete Schutzpolizisten nebeneinander die gleiche Arbeit
machen, von denen der eine länger arbeitet und 15 Pro-
zent weniger Lohn kriegt. Das können Sie nach zehn Jah-
ren Wiedervereinigung niemandem erklären. Versetzen
Sie sich einmal in die Situation. Hätte die alte Bundesre-
gierung den Menschen 1990 so etwas erzählt, hätte man

die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das
wäre unfassbar gewesen.


(Zuruf von der CDU/CSU: 1990 wäre er trotzdem losgelaufen und hätte das gemacht!)


Zehn Jahre nach der Wende versuchen Sie, mit Taschen-
spielertricks westlichen Kollegen Dinge zugute kommen
zu lassen, und die östlichen Kollegen haben keine
Chance. Das ist doch die wahre Situation. Ich habe kein
Wort falsch vorgelesen. Natürlich sagen Sie, es betreffe
bloß wenige Fälle. Das können wir schlecht prüfen. Aber
es betrifft Fälle; das ist die Tatsache.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der CDU/CSU: Herr Schily, es war vergebene Liebesmüh!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410608700
Nächste Rednerin in
der Debatte ist jetzt die Kollegin Ingrid Holzhüter für die
SPD-Fraktion.


Ingrid Holzhüter (SPD):
Rede ID: ID1410608800
Frau Präsidentin! Kollegin-
nen und Kollegen! Ich will eingangs auf Äußerungen wie
„Schönrederei“ usw. zurückkommen. Ich denke, eine an-
gemessene Portion Stolz


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Die haben wir gemeinsam!)


in den neuen Ländern ist angebracht.

(Beifall bei der SPD)


Da leben nämlich flexible, intelligente und fleißige Leute
mit einer Biografie, hinter der sie sich nicht immer ver-
stecken müssen nach dem Motto: Das war ja DDR. Ich
denke, wir müssen ein bisschen offensiver mit den Din-
gen umgehen und dürfen nicht so tun, als hätten wir auch
an dieser Stelle noch die Teilung zwischen gut und böse,
zwischen intelligent und faul oder wie auch immer.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das haben wir aber nicht gemacht!)


Das ist doch in der Öffentlichkeit oft ein Thema. Wir müs-
sen dafür sorgen, dass das endlich aus den Köpfen ver-
schwindet, dass hier der eine jammert und da der andere
rudert, und dass wir alle daran denken: Wir haben überall
sone und solche.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit setzt im Vergleich zu den Vor-
gängerberichten deutlich neue Akzente. Es ist der erste
Bericht der neuen Regierung. Er macht deutlich, dass
beim Aufbau Ost eine Menge erreicht wurde. Durch
Schwerpunktsetzung ist der vorliegende Bericht der Bun-
desregierung übersichtlicher und lesbarer geworden.
Lieber Herr Türk, es kann also nun endlich konkret nach-
vollzogen werden, welche der aufgeführten Leistungen
wirklich in den Aufbau Ost geflossen sind, und der unsin-
nige Mix aus so genannten Transferleistungen, die Ost




Bundesminister Otto Schily

9963


(C)



(D)



(A)



(B)


und West inzwischen gleichermaßen zustehen, ist endlich
verschwunden.


(Beifall bei der SPD)

Der Bericht zeigt auch auf, wo es noch drückende Pro-

bleme bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwi-
schen Ost und West gibt und welche mit Priorität ange-
gangen werden müssen.

Der Aufbau Ost ist von dieser Bundesregierung aus
guten Gründen zur Chefsache erklärt worden. Rolf
Schwanitz wurde die Aufgabe des Beauftragten der Bun-
desregierung für die Angelegenheiten der neuen Länder
übertragen und es gibt einen neuen Bundestagsausschuss
für Angelegenheiten der neuen Länder. Damit wird deut-
lich, wo wir den Aufbau Ost ansiedeln.

Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Erreichung einer
Einheit in der Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein der
Menschen; dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt.
Dieses Ziel haben wir trotz aller Bemühungen noch nicht
erreicht. Wir versprechen keine Wunder und wir haben
auch noch einen langen Weg vor uns. Aber einige Voraus-
setzungen haben wir schon geschaffen. Wir haben das
höchste Wachstum seit dem so genannten Einheitsboom,
wir haben über 3 Prozent mehr Lehrstellen, und wenn wir
den Prognosen glauben dürfen – ich glaube an die Zu-
kunft –, dann werden wir demnächst 300 000 neue Jobs
haben.

Die Politik der Bundesregierung hat also Erfolg. Die
Förderprogramme für die berufliche Erstausbildung in
den neuen Ländern, auf die ich noch zu sprechen kommen
möchte, belegen dies exemplarisch.

Leider ist es so, dass die konjunkturellen Impulse in
den neuen Ländern und Berlin noch nicht ausreichend
zum Tragen gekommen sind. Die vielen Versäumnisse der
Vergangenheit lassen sich eben nicht kurzfristig beheben.

Bundeskanzler Schröder hat darauf hingewiesen, dass
es bei den Ausbildungsplatzangeboten im Osten weiterhin
Probleme gibt. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass im
Zuge der ostdeutschen Transformationsprozesse ganze
Branchen weggebrochen sind, sodass einige Betriebe feh-
len. Aber es gibt, wie auch im Westen, Betriebe, die nicht
ausbilden. Hier müssen wir etwas tun, wobei ich nicht
vergesse, dass es für kleine und mittlere Betriebe manch-
mal schwierig ist auszubilden. Da müssen wir ihnen hel-
fen, auch durch schon ausgebildete Hightechkräfte, damit
sie auf diesem Gebiet noch etwas nachbessern können.

Es wird erwartet, dass die Industrie im Osten gerade in
diesem Bereich schon bald schneller wachsen wird als im
Westen. Fachleute bestätigen, dass die neuen Länder bald
modernere Strukturen aufweisen werden als die alten
Länder. Sie werden also im wahrsten Sinne neue Länder
sein.

Noch ein Wort zur überbetrieblichen Ausbildung.
Diese ist oft besser als ihr Ruf und keine „Discountaus-
bildung“. Ich höre sogar oft, dass man sich in diesen Be-
trieben oft sehr viel intensiver um die Auszubildenden
kümmert als in den gewinnorientierten Firmen.

Wenn uns die Opposition nun vorwirft, wir würden die
Jugendlichen dort nur parken, so hat sie sich durch diese
Aussage selbst gründlich disqualifiziert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es bleibt notwendig, die gezielten arbeitsmarktpoliti-
schen Anstrengungen fortzusetzen. Das Riester-Pro-
gramm trägt dazu bei. Doch, wie schon angedeutet, auch
die Wirtschaft muss in dieser Richtung etwas tun.

Aber die Fahrtrichtung stimmt. Ich nenne einige
Schlaglichter. Die Aprilbilanz 2000 deutet auf eine Stei-
gerung der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin; die
Ausbildungslücke in den neuen Ländern ist jedoch noch
groß. Mit den neu erarbeiteten Ausbildungsverordnungen
in den neuen Berufen ist auch hier ein erster Schritt getan,
um Ausbildungsprofile und sich schnell verändernde
wirtschaftliche Betätigungsfelder neu aufeinander abzu-
stimmen. Gerade im Bereich der Dienstleistungen zeich-
nen sich weitere Wachstumsfelder ab, die durch das Be-
rufsbildungsgesetz, die Handwerksordnungen usw. bis
jetzt nicht erfasst werden.

Das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ des
BMBF hat seit seinem Beginn im Juli 1995 einen wesent-
lichen Beitrag zur Mobilisierung geleistet. Allein im Zeit-
raum vom 1. März bis zum 31. August 1999 wurden über
14 000 Ausbildungsplätze zugesagt, von denen in der Re-
gel 70 Prozent realisiert werden. Dieses Programm wer-
den wir fortführen.


(Beifall bei der SPD)

Auch durch die von den Kammern durchgeführten Pro-

gramme „Ausbildungsberater“ und „Lehrstellenwerber“
wurden im letzten Jahr mehrere tausend Ausbil-
dungsplätze geschaffen.
Für das Programm „Ausbildungsberater“ sind für 2000
Fördermittel in Höhe von 2 Millionen DM eingeplant.
Das ist doch etwas!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte an dieser Stelle auf das Riester-Programm

eingehen. Das Ziel dieses Sofortprogrammswar der Ab-
bau der Jugendarbeitslosigkeit. Es gab bis zum 31. De-
zember 1999 219 055 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Allein in Ostdeutschland sind so 72 787 Jugendliche zu
einer Ausbildung gekommen. Auch in diesem Jahr stehen
wieder 2 Milliarden DM für dieses Programm zur Verfü-
gung.


(Beifall bei der SPD)

Auch die Zusage der Wirtschaft, bis 2003 60 000 neue
Ausbildungsplätze im IT-Bereich zur Verfügung zu stel-
len, weist in die richtige Richtung.

Aber wir brauchen nicht nur IT-Fachleute, sondern
auch andere Fachkräfte. Nicht jeder Jugendliche ist ein
geborener Akademiker. Viele Jugendliche haben eher
handwerkliche Fähigkeiten. Auch Jugendliche ohne einen
qualifizierten Schulabschluss dürfen von uns nicht ver-
nachlässigt werden. Es gibt auch im nicht akademischen
Raum durchaus zukunftsträchtige Berufe.




Ingrid Holzhüter
9964


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir dürfen nicht vergessen, dass es neben der Unter-
qualifizierung noch ein weiteres Handicap gibt: die
Überqualifizierung. Das ist gerade in den neuen Ländern
der Fall. Ich kenne Frauen mit akademischer Ausbildung,
denen, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, seitens poten-
zieller Arbeitgeber gesagt wird: Sie sind überqualifiziert;
Sie sind mir zu teuer. Dann gibt es noch die Menschen, die
älter als 45 Jahre alt sind und angesichts unseres Jugend-
wahns teilweise überhaupt keine Chancen mehr haben.
Wir werden zwar immer älter; aber ab 45 gehören wir
schon fast zum alten Eisen. Ich packe alles noch hervor-
ragend, obwohl ich schon über 45 bin, wie viele von Ih-
nen.

Die Bundesregierung hat die Probleme auf dem Weg
zur Vollendung der inneren deutschen Einheit im Auge
und weist dies im vorliegenden Bericht nach.

Meine Redezeit ist knapp; aber trotzdem will ich den
Goldenen Plan Ost erwähnen. Ich bin auch Sportpoliti-
kerin. Ich denke, dass es ein gutes Zeichen ist, dass wir
auch an anderen Stellen zur Gleichheit beitragen möch-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Viel zu wenig!)


Der Bundeshaushalt steckt natürlich den Rahmen ab.
Das wissen Sie so gut wie wir. Trotzdem liefert der vor-
liegende Bericht den notwendigen Überblick, was insge-
samt noch zu tun ist und was wir tun können.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Der Goldene Plan ist nur noch ein Silbener!)


Der Bericht liefert kompakte Informationen. Denn auch
wir als Parlament sind aufgefordert, etwas zu tun. Wir
können und wollen ja nicht alles der Regierung überlas-
sen.

Als so genannter „Wossi“ mit Berliner kommunaler
Erfahrung sage ich Ihnen: Wir sind auf dem richtigen
Weg. Deshalb bitte ich um zustimmende Kenntnis-
nahme des vorliegenden Jahresberichtes. Ich fordere die
Bundesregierung auf, uns die Fortführung des Berichtes
in gleicher Weise zur Kenntnis zu geben.

Ich bedanke mich für die gute Arbeit.

(Beifall bei der SPD – Klaus Haupt [F.D.P.]: Ein bisschen realistischer bitte!)

Ein bisschen weniger zu jammern und sich etwas mehr zu
freuen wäre – auch für unser Haus – eine ganz gute Sache.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410608900
Es spricht jetzt der Kol-
lege Dr. Paul Krüger, Fraktion der CDU/CSU.


Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1410609000
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere aus dem Jah-
resbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deut-
schen Einheit.

Seit der Wiedervereinigung sind beachtliche Fort-
schritte in der Angleichung der Lebensverhältnisse
zwischen Ost- und Westdeutschen erreicht worden.

Ich finde, das ist eine positive Aussage, die ich aus-
drücklich unterstreichen will.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Frank Hempel [SPD]: Eine sachliche!)


Das ist – so muss man hier feststellen – natürlich in erster
Linie auf die Arbeit der alten Bundesregierung zurückzu-
führen und nicht auf die der neuen Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Denn ich hatte heute manchmal den Eindruck, als ob für
alle positiv zu verzeichnenden Entwicklungen die jetzige
Regierung verantwortlich sei.


(Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie waren nicht von Anfang an da, Herr Kollege! Da hätten Sie mal Herrn Nooke hören müssen!)


Ich zähle Ihnen einige Fakten auf, die positiv sind: die
Angleichung der sozialen Bedingungen insbesondere im
Bereich des Gesundheitswesens, der Aufbau der Kommu-
nikations- und Verkehrsnetze, bei denen es noch immer
viele Defizite gibt, der Wohnungsbau und vor allen Din-
gen die Wohnungssanierung, die Zahl der Existenzgrün-
dungen und deren Entwicklung sowie – nicht zu verges-
sen – die Umwelt- und Altlastensanierung. Diesen Kata-
log könnte man erweitern. Ich zähle diese Dinge deshalb
auf, damit Sie nicht behaupten können, wir würden alles
mies machen. Im Gegenteil – Herr Nooke hat deutlich da-
rauf hingewiesen –, es gibt eine positive Entwicklung –
dies ist immer wieder zu konstatieren – und die haben wir
gestaltet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Trotzdem scheint es heute in den neuen Bundesländern

eine gewisse Stagnation – man möchte fast sagen: eine
Resignation – zu geben. Herr Schwanitz, da stimme ich
mit Ihrer Einschätzung nicht überein.

Die neue Bundesregierung muss sich fragen lassen:
Wo sind die Ursachen für die stagnierende Unterneh-
mensentwicklung, das stagnierende Wachstum und die
zunehmende Zahl von Insolvenzen zu suchen? Womit
sind die rückläufigen Investitionen zu begründen?


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Einen Grund dafür hat Herr Kolbe hier aufgezeigt: Der
Bundeshaushalt weist rückläufige Investitionszahlen aus.
Es ist klar, dass diese daraus resultierenden Einbrüche
auch den Bausektor belasten. – Was ist der Grund für die
Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für die
Stagnation der Zahl der Arbeitslosen bei gleichzeitigem
Wegfall von Arbeitsplätzen in einem enormen Umfang?

Zur schlechten Stimmung tragen auch emotionale Fak-
toren bei; darauf geht der Bericht ein. Dort steht: Die Ver-
wirklichung der deutschen Einheit ist mehr als finanzielle
Hilfen und wirtschaftliches Wachstum. Die innere Ein-
heit braucht auch eine emotionale Basis. – Ich frage




Ingrid Holzhüter

9965


(C)



(D)



(A)



(B)


mich: Wer ist eigentlich verantwortlich für die schlechte
Stimmung, die hier eingetreten ist? Die neue Bun-
desregierung hat es innerhalb eines Jahres geschafft, das
Vertrauen, das viele Bürger gerade in Ostdeutschland in
sie gesetzt haben, massiv und nachhaltig zu erschüttern.
Dafür gibt es leider viele Beispiele.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf von der SPD: An welcher Stelle?)


Lassen Sie mich einige Beispiele dafür aufführen,
warum die Menschen erkannt haben, dass der Aufbau Ost
für die neue Bundesregierung nicht Herzens-, sondern
nur Chefsache ist. Schauen Sie sich einmal die
Mehrbelastungen an! Die Ökosteuer zum Beispiel be-
lastet die ostdeutschen Haushalte und Unternehmen in be-
sonderem Maße. Die Mineralölsteuererhöhung benach-
teiligt die Vermögens- und Einkommensschwachen bei
gleicher Belastung natürlich überproportional. Dies gilt
auch für die Flächenländer, die dünn besiedelten Länder
in Ostdeutschland.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Genauso ist es mit der mittelständischen Wirtschaft.

Es ist eben nicht so, wie Sie heute gesagt haben. Die mit-
telständische Wirtschaft wird durch die Steuerreform, die
Sie gestern verabschiedet haben, verstärkt belastet.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein!)

Herr Schwanitz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie sagen,
in Ostdeutschland gebe es nur kleine Unternehmen. Wir
haben nicht nur Existenzen mit kleinen Einkommen bzw.
kleinen Gewinnen. Gerade die Unternehmen im innovati-
ven Bereich brauchen Gewinne, die sie wieder einsetzen
können, um wachsen zu können. Genau an dieser Stelle
aber greifen Sie ein. Damit blockieren Sie das Wachstum
in Ostdeutschland.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben
den Transrapid auf das Abstellgleis geschoben. Das trifft
Ostdeutschland ganz besonders hart.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Kaspereit [SPD]: Wieso?)


Man muss es sich einmal vorstellen: 30 Jahre lang ist ent-
wickelt worden. Alle möglichen Regierungen haben die-
ses Projekt unterstützt. Aber jetzt, da es sozusagen baureif
ist, stellen Sie es auf das Abstellgleis.


(Jörg Tauss [SPD]: Quatsch!)

Das trifft die neuen Länder besonders hart.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Warum?)

Sie machen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik; da-

rauf ist heute schon eingegangen worden.

(Sabine Kaspereit [SPD]: Das müssen Sie mir einmal erklären!)

Ich will noch ein Beispiel nennen, das mich besonders

bekümmert. Der A3XX ist das größte Industrieprojekt

Europas, welches derzeit verwirklicht wird. Ich habe mir
gestern von der Dasa die Zahlen geben lassen. Die DASA
gibt an, dass durch dieses Projekt 15 600 direkte Arbeits-
plätze und 31 200 indirekte Arbeitsplätze – macht zusam-
men 46 800 Arbeitsplätze – in Deutschland geschaffen
werden.


(Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch Traumtänzerei!)


Die Masse dieser Arbeitsplätze wird jedoch nicht in Ost-
deutschland entstehen. Im Gegenteil, dort wird fast kein
Arbeitsplatz entstehen, und das, obwohl die Bundesregie-
rung auf diese Entwicklung natürlich nachhaltig Einfluss
hat; denn sie soll auch dieses Projekt fördern, und zwar
mit einem enormen Investitionsvolumen. Wir wissen alle,
dass die Flugzeugindustrie in Deutschland mit Unter-
stützung des Staates aufgebaut worden ist. Trotzdem
kümmert sich dieser Bundeskanzler, der jetzt leider nicht
mehr hier ist, keinen Deut darum, dass aufgrund dieses
Projekts in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklen-
burg-Vorpommern, mehr Arbeitsplätze entstehen. Das
halte ich für einen politischen Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie solche Maßnahmen beschließen, dürfen Sie

sich nicht wundern, dass in der Folge die Konjunktur in
Ostdeutschland einbricht, dass die Arbeitslosigkeit nicht
sinkt, sondern stagniert, und dass gleichzeitig Arbeits-
plätze vernichtet werden bzw. nicht entstehen können.
Eine weitere Folge sind die Abwanderung von Leistungs-
trägern, insbesondere von qualifizierten Jugendlichen,
und der Wohnungsleerstand, den wir allenthalben bekla-
gen müssen. Herr Nooke ist darauf eingegangen.

Meine Damen und Herren, wir müssen eine positive
Stimmung erzeugen. Dass es Beispiele dafür gibt, dass
wir sie erzeugen können, kann ich Ihnen sagen. Ich
nenne das Programm „FUTOUR“. Die Mittel für
„FUTOUR“ waren im letzten Haushalt gestrichen wor-
den; das Programm sollte 1999 auslaufen. Im Haushalt für
2000 waren keine Mittel dafür enthalten. Wir haben uns
daraufhin bemüht, mit einem Antrag und durch massive
Intervention das Programm wieder zu starten. Das ist uns
nach langem Kampf gelungen. Die Bundesregierung hat
das eingesehen. Warum sollte man das von dieser Stelle
aus nicht positiv erwähnen? Die Bundesregierung hat un-
sere Initiative aufgegriffen und hat das Programm verlän-
gert. Dadurch können – das hat heute schon jemand ge-
sagt – in den neuen Bundesländern viele Arbeitsplätze
entstehen. Wir können doch auch anders. Warum orien-
tieren wir uns nicht mittelfristig an diesen positiven Bei-
spielen?

Deshalb fordere ich Sie und die Bundesregierung auf:
Nehmen Sie in dieser Hinsicht Vernunft an. Sorgen Sie
dafür, dass eine positive Stimmung in den neuen Bundes-
ländern entstehen kann. Machen Sie eine mittel-
standsfreundliche Steuerreform. Realisieren Sie die Trans-
rapid-Strecke von Berlin nach Hamburg. Machen Sie eine
Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitslosen eine echte
Chance auf Dauerarbeitsplätze sichert. Setzen Sie sich für
den A3XX-Standort in Mecklenburg-Vorpommern ein.




Dr.-Ing. Paul Krüger
9966


(C)



(D)



(A)



(B)


Dann haben die Menschen in Ostdeutschland und hat nicht
zuletzt die Wiedervereinigung wieder eine echte Chance.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410609100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.


Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1410609200
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich möchte
zuerst zu dem etwas sagen, was Herr Krüger gerade zum
A3XX vorgetragen hat. Herr Krüger, Sie sind bei diesem
Thema in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender stets
so vorgegangen, dass Sie das Fell des Bären immer schon
verteilt haben, ehe er überhaupt erlegt war.


(Beifall bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie haben ja nicht einmal eine Flinte in die Hand genommen!)


Sie wissen ganz genau, dass bis heute dazu keine Ent-
scheidung getroffen wurde.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Bundesregierung hat keine Entscheidung getroffen! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie wollte ja gar nicht!)


Sie haben in der Anhörung, die Sie veranstaltet haben,
versucht, die Vertreter von Airbus Industrie zu einer Aus-
sage zu nötigen. Sie wissen ganz genau, dass das Vertre-
ter der Wirtschaft sind, denen Sie keine Vorschriften ma-
chen können. Den Gefallen, eine Aussage zu treffen, ha-
ben sie Ihnen auch nicht getan. Sie haben aber sowohl der
Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern als
auch der Bundesregierung bestätigt, dass sie alles getan
haben, um eine Ansiedlung vorzubereiten und zu ermög-
lichen. Das wollte ich hier noch einmal gesagt haben.


(Beifall bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Mit welchem Erfolg denn?)


Nun zur Sache. Bei der Berichterstattung zum Stand
der deutschen Einheit konzentriert sich die neue Bundes-
regierung künftig auf eine aktuelle und insgesamt auch
kürzere und prägnante Darstellung. Wir werden zukünftig
die Zahlungsströme herausstellen, die der wirtschaftli-
chen Entwicklung ausschließlich in Ostdeutschland in be-
sonderer Weise zugute kommen. Da gehören solche
Dinge wie BAföG und Kindergeld überhaupt nicht mit hi-
nein. Das haben Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, ja immer in Ihre Zahlenspiele mit hinein ge-
nommen. Wir haben uns dann immer über diese großen
Zahlen gewundert, mit denen Sie argumentiert haben. Ich
begrüße, dass die neue Bundesregierung einen Weg des
ehrlichen Umgangs mit den Zahlen gewählt hat.

Insgesamt – das lässt sich für jedermann erkennen –
setzt die Koalitionsregierung neue Maßstäbe beim Auf-
bau Ost. Lassen Sie mich das wie folgt begründen:

Erstens. Um in Zukunft, was die Entwicklung der
neuen Bundesländer betrifft, noch handlungsfähig zu
sein, ist es unumgänglich, die Staatsfinanzen zu sanieren.

Das jahrelange Wirtschaften auf Pump und die sich daraus
ergebende enorme Zinsbelastung haben dramatische Aus-
wirkungen gerade für den Gestaltungsspielraum in Ost-
deutschland. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative
zur Haushaltskonsolidierung.Wenn es uns gelingt – ich
bin davon überzeugt, dass es uns gelingt –, die Staatsver-
schuldung abzubauen, werden wir die freigesetzten Mit-
tel, die wir dann nicht mehr für Zinsen ausgeben müssen,
zum Beispiel in die Infrastruktur der neuen Bundesländer
lenken. Da haben wir die Mittel, die uns heute fehlen,
dringend nötig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Die neue Bundesregierung hat ein Steuer-

entlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das insbeson-
dere den Menschen in Ostdeutschland zugute kommt.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Woher wisst ihr denn das? Behaupten Sie das nicht immer!)


Die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent
und der erhöhte Steuerfreibetrag stärken gerade die vielen
Bezieher niedriger Einkommen


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Legen Sie doch einmal Zahlen vor!)


und Familien mit geringem Einkommen. Sie wissen ge-
nauso gut wie ich, Herr Türk, dass gerade jene überpro-
portional in den neuen Bundesländern vorhanden sind.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Türk [F.D.P.]: Aber wir müssen doch auch Arbeitsplätze schaffen!)


– Jawohl! Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage im Be-
reich des Handels und des Handwerks und stärkt nicht zu-
letzt die Kaufkraft. Das ist doch ein positiver Effekt, den
wir alle wollen.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das wollen wir auch, aber nicht nur!)


Wir machen eine Unternehmensteuerreform, von der
die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ost-
deutschland besonders profitieren werden. Entgegen allen
Behauptungen ist dies deshalb der Fall, weil in den neuen
Ländern die kleinen und privaten Personengesellschaften
vorherrschend sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Türk [F.D.P.]: Warum macht ihr denn überhaupt einen Unterschied, wenn das so ist?)


Viele Unternehmen kommen, was das Betriebsergeb-
nis betrifft, gar nicht erst in die Gelegenheit, den von der
Union favorisierten gesenkten Spitzensteuersatz zahlen
zu müssen. Das wissen Sie doch ganz genau.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das sind doch alles Schutzbehauptungen!)


Der liegt für so manche Personengesellschaft in ganz wei-
ter Ferne. Denen helfen wir aber nur dadurch, dass wir den
Eingangssteuersatz – in Verbindung mit dem Steuerfrei-
betrag – heruntersetzen.


(Beifall bei der SPD)





Dr.-Ing. Paul Krüger

9967


(C)



(D)



(A)



(B)


Hinzu kommt: Die Anrechenbarkeit der Gewerbe-
steuer auf die Einkommensteuer führt zu einer Stärkung
der Eigenkapitalbasis in den Betrieben.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Warum lasst ihr sie nicht gleich wegfallen?)


Das schafft Investitionsanreize, die sich längerfristig auch
auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen werden.

Beides – die Haushaltskonsolidierung und die bereits
im Vorfeld angekündigte Steuerentlastung für die Unter-
nehmen – hat in Deutschland einen Aufschwung bewirkt,
wie es ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Das hat etwas mit der Weltkonjunktur zu tun!)


Nach Zeiten der Stagnation gehen die Arbeitslosenzah-
len in den alten Ländern deutlich nach unten. Die Preis-
steigerungsraten bleiben stabil. Das ist – nebenbei ge-
sagt – ein besonders sozialer Faktor auch für die Men-
schen in Ostdeutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Motor bei dieser Entwicklung ist die Exportwirtschaft.
Zwar auf niedrigem Niveau, aber doch ebenfalls deut-

lich – das ist sehr erfreulich, darauf hat der Staatsminister
hingewiesen – entwickeln sich die Exportchancen auch
für die ostdeutschen Unternehmen. Wir unterstützen mit
unserer Fraktion und dem Ausschuss für Angelegenheiten
der neuen Länder einen Antrag zur „Stärkung von Absatz
und Export der ostdeutschen Wirtschaft“.

Es geht uns darum, kleinen Unternehmen und zahlrei-
chen Neugründern zu helfen, die nach wie vor erhebliche
Schwierigkeiten haben, auf internationalen Märkten Fuß
zu fassen. Bei ihnen fehlt es oft am Know-how, an ausrei-
chenden finanziellen Mitteln und am Einsatz moderner
Informationstechnologien. Hier werden wir flankierende
Hilfen anbieten und wir ermuntern die Wirtschaft sowie
die Regierungen der neuen Länder, ihre Export- und Ab-
satzhilfen fortzuführen. Man kann beispielsweise Unter-
stützung bei Messeauftritten im In- und Ausland oder im
Bereich der sprachlichen Hilfestellung leisten.

Das prognostizierte Wachstum von 2,8 Prozent in die-
sem Jahr und die positiven Aussichten für das nächste Jahr
sind die Voraussetzung für einen deutlichen Abbau der Ar-
beitslosigkeit, auch im Osten. In Ostdeutschland wird sich
dieser Effekt, der in den alten Bundesländern bereits ein-
getreten ist, zwar zeitversetzt und von einem niedrigen
Niveau ausgehend, ebenfalls einstellen. Davon bin ich
überzeugt.

Erfreulich ist das wirtschaftliche Wachstum in den
neuen Bundesländern im Bereich des verarbeitenden Ge-
werbes von 5 Prozent im Jahre 1999. Das Institut für Wirt-
schaftsforschung Halle hält in diesem Jahr 6,5 Prozent für
möglich. Diese Zahlen – dessen bin ich mir bewusst –
werden allerdings durch die nicht befriedigende Entwick-
lung im Bauhauptgewerbe beeinträchtigt. Das ist hier be-
reits mehrere Male angesprochen worden, und wir wissen
alle, dass sich hier gegenwärtig noch ein Strukturwandel
vollzieht.

Drittens. Wir gestalten die Wirtschaftsförderung ge-
zielter und effizienter, und zwar gerade vor dem Hinter-

grund der notwendigen Überprüfung und Anpassung an
veränderte Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung
hat mit einem Bündel von Maßnahmen den Aufschwung
Ost vorangetrieben. Dabei kommt der Förderung von In-
novation, Forschung und Entwicklung sowie deren Ver-
netzung mit der Wirtschaft eine große Bedeutung zu.

Beispielgebend sei hier das Programm Inno-Regio ge-
nannt, das regionale Initiativen in einem Wettbewerb mo-
bilisiert. Es hat exemplarische Funktion für eine neue För-
derpolitik des Bundes. Das muss man doch zur Kenntnis
nehmen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Türk [F.D.P.]: Das Einzige, was gut war!)


Das Programm PRO INNO, das die Forschungskoope-
ration zwischen Unternehmen und mit Forschungsein-
richtungen im In- und Ausland einschließlich eines zeit-
weiligen Personalaustausches fördert, ist ein weiteres
Beispiel. Daneben tun wir etwas im Bereich der zukunfts-
orientierten Wirtschaftsförderung.

Ich hätte mir gewünscht, die alte Bundesregierung
wäre hier ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dann
hätten die neuen Bundesländer heute Vorreiter auf diesem
Gebiet sein können. Auch die aktuelle Green-Card-Kam-
pagne verdeutlicht, dass im Osten Chancen im Zuge der
Umstrukturierung der Ausbildung vergeben wurden.
Auch das muss man an dieser Stelle einmal deutlich sa-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung setzt neue Akzente bei der

Risikokapitalfinanzierung von Existenzgründern. So wurde
das ERP-Innovationsprogramm, das von der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau durchgeführt wird, seit Januar 1999
um eine Beteiligungsvariante – hier handelt es sich um voll
haftendes Risikokapital anstelle von Bankdarlehen – er-
gänzt.

Viertens haben wir bei der Arbeitsmarktpolitik ge-
handelt. Angesichts der immer noch erheblichen Arbeits-
losigkeit in den neuen Ländern ist dies auch unverzicht-
bar. Mein Wahlkreis liegt in Mecklenburg-Vorpommern
zwischen Müritz und dem Oderhaff, einer landschaftlich
sehr reizvollen Gegend. Aber trotz einer aufstrebenden
Tourismuswirtschaft gibt es dort immer noch eine struktu-
rell bedingte Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent.
Daher hat das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und
Wettbewerbsfähigkeit eine große Bedeutung für die
Überwindung der Arbeitslosigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Erfreulich ist, dass sich alle Bündnispartner ihrer Verant-
wortung bewusst sind. Dies ist keine „Quasselbude“, wie
Sie es immer beschrieben haben. Vielmehr zeigen die
jüngsten maßvollen Tarifeinigungen in der Bauindustrie
Ostdeutschlands, wie dieser Verantwortung Rechnung ge-
tragen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Gerade den arbeitslosen Jugendlichen haben wir mit

unserem JUMP-Programm wieder eine Perspektive ge-
geben. Ich war in den Arbeitsämtern meines Wahlkreises.




Frank Hempel
9968


(C)



(D)



(A)



(B)


In den Gesprächen mit den Leitern dieser Arbeitsämter ist
mir bestätigt worden, dass diese Initiative greift und dass
auch erfolgreiche Eingliederungen in den ersten Arbeits-
markt zu verzeichnen waren.

All die von mir aufgezeigten Beispiele machen deut-
lich, dass die Bundesregierung neue Akzente setzt, dass
sie gehandelt hat und weiterhin handeln wird, um die Pro-
bleme in Ostdeutschland einer Lösung zuzuführen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410609300
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Redezeit.


Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1410609400
Ich komme gleich zum Ende. –
Dazu bedarf es allerdings auch weiterhin des solidari-
schen Handelns aller Bundesländer. Dies gilt auch im
Hinblick auf den ab 2004 neu zu gestaltenden Solidar-
pakt II.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Den Bemühungen der bayerischen Landesregierung so-
wie Baden-Württembergs, die die Intention haben, sich
aus der Verantwortung für Ostdeutschland zu verabschie-
den, werden wir auch in Zukunft energisch entge-
gentreten.


(Beifall bei der SPD)

Die Bundesregierung bemüht sich aus meiner Sicht

nach Kräften, den Aufbau Ost voranzutreiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)


Die CDU-geführten Länder müssen sich aber genau über-
legen, –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410609500
Herr Kollege,
dies muss nun wirklich der letzte Satz sein.


Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1410609600
– ob sie mit ihrer Ablehnung
der Spar- und Steuerbeschlüsse von Hans Eichel letzten
Endes die Voraussetzungen für den weiteren Aufbau Ost
blockieren.

Ich danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410609700
Zu einer Kurzin-
tervention erhält der Kollege Krüger das Wort. Sie haben
dann die Möglichkeit zu antworten.


Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1410609800
Herr Hempel, Sie
haben mich vorhin direkt angesprochen. Ihre Aussage
kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb bitte ich die Kol-
legen um Verzeihung, dass ich ihre wertvolle Zeit jetzt
noch in Anspruch nehme.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie haben uns heute schon genug gelangweilt!)


– Lassen Sie doch Ihre unqualifizierten Störungen.

Herr Hempel, so einfach, wie Sie es dargestellt haben
und wie Sie es sich machen, ist es leider nicht. Wenn so-
wohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung
nichts weiter tun, als das Konzept für den Standort Ros-
tock/Laage, das dazu dienen sollte, die Endmontage des
Großflugzeuges A3XX dort anzusiedeln, zu übergeben
und danach zu schweigen bzw. lediglich auf irgendwel-
chen Veranstaltungen, an denen in der Regel kaum Publi-
kum von außen teilnimmt, den Eindruck zu vermitteln
versuchen, dass man für diesen Standort kämpfen würde,
dann reicht das nicht.


(Zuruf von der SPD: Die Entscheidung fällt immer noch im Unternehmen!)


Die gesamte Flugzeugindustrie in Deutschland ist
durch massive staatliche Interventionen in den 60er-,
70er- und 80er-Jahren entstanden ist. Dies wissen Sie al-
les. Die Gelder, die gezahlt worden sind, um diese Indus-
trie aufzubauen, gehen in die Milliarden. Es waren brutto
etwa 15 Milliarden DM. Es sind Rückzahlungen erfolgt,
sodass in diese Industrie netto etwa 10,2 Milliarden DM hi-
neingeflossen sind. Heute wäre dies wegen der internatio-
nalen Wettbewerbskontrolle gar nicht mehr möglich.

Das Konsortium Airbus International hat vor, ein neues
Großflugzeug zu bauen. Der Entwicklungsaufwand
beläuft sich auf etwa 11 Milliarden Dollar. Allein in
Deutschland entstehen – dies mögen sich alle auf der
Zunge zergehen lassen – 46 800 neue Arbeitsplätze; so
prognostiziert von der deutschen Airbus.

Wir wollen, dass Mecklenburg-Vorpommern zusätz-
lich zu dem marginalen Anteil, den die neuen Bundeslän-
der an der Zulieferindustrie haben, trotz Konkurrenz mit
den vielen westdeutschen Standorten eine Chance
bekommt, dort wieder Flugzeuge zu bauen. In die-
sem Land wurden vor dem Krieg von etwa 20 000 Men-
schen Flugzeuge gebaut, so wie im Chemiedreieck die
Chemieindustrie und in anderen Regionen, so in Sachsen,
die Mikroelektronikindustrie angesiedelt war oder ist.

Da kann man sich darüber streiten, ob es möglich ist,
einen Endmontageplatz für ein solches Flugzeug auf die
grüne Wiese zu setzen. Wir haben uns dafür eingesetzt,
und da die Bundesregierung hier nicht gehandelt hat, son-
dern Herr Schröder sich sogar durch aktives Handeln für
den Hamburger Standort eingesetzt hat, haben wir ge-
meint, wir müssen dagegen etwas unternehmen.

Deshalb haben wir mit dem gesamten Ausschuss –
übrigens auch mit Ihren Stimmen – diese Anhörung
durchgeführt und versucht, die Öffentlichkeit darauf auf-
merksam zu machen, welcher politische Skandal es ist,
wenn die neue Bundesregierung sich mit keinem Feder-
strich dafür einsetzt, dass tatsächlich in Mecklenburg-
Vorpommern wieder Flugzeugbau stattfindet.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410609900
Herr Kollege
Krüger, eine Kurzintervention dauert wirklich nur drei
Minuten.




Frank Hempel

9969


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Paul Krüger (CDU):
Rede ID: ID1410610000
Dafür werden wir
weiter kämpfen, und ich bin auch hoffnungsfroh, dass es
uns gelingen wird, hier zumindest im Zulieferbereich ei-
niges zu tun. Aber wesentlich mehr Engagement durch die
Bundesregierung hätte man hier nicht nur erwarten dür-
fen, sondern müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Hempel (SPD):
Rede ID: ID1410610100
Herr Krüger, wir hatten ja
nichts gegen die Anhörung, aber man kann sich dann nicht
hinstellen und die Vertreter von Daimler-Chrysler und
von Airbus Industrie zu einer Aussage nötigen. Das wis-
sen Sie doch ganz genau.


(Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Protokolle!)


Sie wissen auch genau, wie sensibel dieses Thema ei-
gentlich zu behandeln gewesen wäre, denn wenn sich
zwei streiten, freut sich in der Regel der Dritte, in diesem
Fall Toulouse.

Zunächst einmal muss das Ding nach Deutschland
kommen, und dann können wir uns darüber unterhalten.
Das war immer unsere Intention. Ansonsten sind wir da
überhaupt nicht unterschiedlicher Meinung.

Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Sie haben sich da
strategisch nicht vernünftig verhalten. Das muss ich Ihnen
immer wieder vorwerfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410610200
Danke. Ich
schließe damit die Debatte. Wir kommen zu den Abstim-
mungen und Überweisungen.

Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf
Drucksache 14/2608 zu drei Vorlagen zum Stand der
deutschen Einheit.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung, den Jahresbericht 1999 der Bundes-
regierung zum Stand der deutschen Einheit zur Kenntnis
zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? –


(Zuruf von der SPD: Nicht zur Kenntnis genommen? – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben das überhaupt nicht gelesen! Lesen Sie mal, was da drinsteht!)


Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der
CDU/CSU angenommen worden.


(Zuruf von der SPD: Zu faul zum Lesen!)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sehr spät. Ich
bemühe mich, die Verhandlungen hier bei allem, was pas-
siert, einigermaßen zügig durchzubringen. Bitte unter-
stützen Sie mich doch dabei.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortsetzung der
Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der
deutschen Einheit auf Drucksache 14/2238 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen
worden, aber die CDU/CSU hat sich enthalten.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Weiterführung des Jahresberichts der Bun-
desregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Druck-
sache 14/1715 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P.
und PDS angenommen worden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2242 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Strompreise in
Deutschland angleichen – neue Stromsteuern im Osten
aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1314 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen wor-
den.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zur Fortsetzung der Förderung
technologieorientierter Unternehmensgründungen in den
neuen Ländern auf Drucksache 14/2954.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1594
für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur
bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Förderung und
Unterstützung von technologieorientierten Unterneh-
mensgründungen: Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf
Drucksache 14/2152 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen
worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.






(C)



(D)



(A)



(B)


Haltung der Bundesregierung, insbesondere des
deutschen Außenministers Joseph Fischer, zu
den europapolitischen Aussagen des Bürgers
Joschka Fischer am 12. Mai 2000

(Heiterkeit – Detlev von Larcher [SPD]: Bürger Fischer!)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der

Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.

(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt wahrscheinlich der Bürger Haussmann!)



Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1410610300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Außenminis-
ter ist rechtzeitig zurück aus Indien, von einer sehr wichti-
gen Reise, die wir ausdrücklich begrüßen, und wir haben
heute wenigstens kurz die Möglichkeit, sehr wichtige eu-
ropapolitische Vorstellungen dort zu diskutieren, wo sie
eigentlich hingehören, nämlich im Parlament, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Peter Hintze [CDU/CSU]: Da gehört es hin!)


Seit langer Zeit fordert die F.D.P. eine Grundsatzdis-
kussion über Ziele und Finalität des europäischen Inte-
grationsprozesses. Insofern, Herr Fischer – damit hier
keine Missverständnisse entstehen –, begrüßen wir eine
grundsätzliche Diskussion über Europa ausdrücklich. Es
gibt in Ihren Überlegungen ja auch eine Menge guter Vor-
stellungen von Herrn Genscher, von Herrn Kinkel: Ver-
fassungsidee, föderative Struktur. Das ist wahrlich nichts
Neues. Am Gedenktag von Robert Schuman ist aus
Joschka Fischer kein zweiter Robert Schuman entstanden,
aber es ist eine solide Grundlage.

Wir haben heute nicht die Zeit, über die ganze Sache zu
sprechen. Aber es gibt zwei wichtige Knackpunkte. Ers-
tens. Die F.D.P. wendet sich gegen jede aufgewärmte
Form einer Kerneuropaidee. Wir wollen umgekehrt, dass
wir möglichst viele Versuche machen, alle Länder einzu-
beziehen. Wir sind auch gar nicht der Meinung, dass
die sechs Gründerländer die integrationsfreundlichsten
Länder sind, Herr Fischer. Wir sollten Länder wie die
skandinavischen Länder, insbesondere Finnland und an-
dere Länder, in der Avantgarde nicht ausschließen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zweitens. Der Zweikammervorschlag bedarf einer

äußerst sorgfältigen Erörterung. Es ist eine gute Idee. Die-
ser Punkt sollte aber nicht außerhalb des Parlamentes,
sondern hier diskutiert werden; denn er betrifft unsere
Möglichkeiten, unsere Rechte in vitaler Weise.

Der Kernpunkt der Aktuellen Stunde ist jedoch folgen-
der: Warum sind dies nur Äußerungen von Ihnen privat in
der Universität? Dagegen haben wir nichts, aber warum
sind dies keine Vorschläge der Bundesregierung?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist doch interessant:

Wir haben Stellungnahmen der Sozialdemokraten. Wir

haben Stellungnahmen der Christdemokraten. Wir haben
Stellungnahmen der Freien Demokraten.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Herrn Genscher!)


– Es gibt aber bisher, Herr Schlauch, überhaupt keine Stel-
lungnahme vonseiten der Grünen zu Herrn Fischers Vor-
schlägen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Denen hat es die Sprache verschlagen!)


Ich kann nur sagen, dass das eine schwache Vorstellung
ist.

Herr Fischer, große Initiativen waren immer Initiativen
zweier oder dreier Länder. Ich erinnere an die Colombo-
Genscher-Initiative, die sehr wichtig war. Ich erinnere an
die Initiative von Herrn Genscher zum Weimarer Dreieck
mit Herrn Kubiczewski und Herrn Dumas. Die Frage ist:
Inwieweit ist das ein persönlicher deutscher Alleingang?
Inwieweit sind das Vorstellungen, die unser wichtigster
Partner, Frankreich, teilt, was bei solchen Initiativen im-
mer entscheidend ist?

Der entscheidende Punkt aber ist, Herr Fischer: Sie
machen den dritten vor dem ersten Schritt. Heute geht es
darum, zu fragen, welche Zwischenschritte es gibt. Wo
bleibt die Umsetzung? Visionen sind gut, meine Damen
und Herren. Aber in zehn Jahren haben die Grünen mit der
konkreten Gestaltung der Regierungspolitik in Sachen
Europa sowieso nichts mehr zu tun, meine Damen und
Herren.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein so kleinkarierter Knabe! – Zuruf von der SPD: Hochmut kommt vor dem Fall!)


Deshalb, verehrte Sozialdemokraten, fordere ich Herrn
Fischer auf: Kehren Sie zu einer realistischen Europapol-
itik zurück! Derzeit gehen von Deutschland keine kon-
kreten Fortschritte aus.

Herr Schlauch, nehmen Sie zur Kenntnis, dass die
F.D.P. die Grünen bei den letzten wichtigen Wahlen ge-
schlagen hat und dass die Freidemokraten inzwischen die
dritte Kraft sind!


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die Zustimmung zu Europa ist bei uns und in den

neuen Beitrittsstaaten Osteuropas rückläufig. Wir brau-
chen endlich konkrete Schritte. Wir brauchen eine
deutsch-französische Initiative.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Fischer, beenden Sie die unsägliche Behandlung
Österreichs,


(Zuruf von der SPD: Jetzt fängt das auch noch an!)


die inzwischen in vielen kleinen Staaten, insbesondere
auch in Osteuropa, die Befürchtung ausgelöst hat, dass
große Staaten mit kleinen immer so umgehen könnten.


(Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch gegen Alleingänge!)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9971


(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist ein ernstes Problem. Reden Sie einmal mit Vertre-
tern der baltischen Staaten über dieses Problem!


(Beifall bei der F.D.P.)

Wann wird endlich der konkrete Zeitplan für die

Osterweiterung vorgelegt?

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Debatte, die in Polen über Europa geführt wird, ist
äußerst negativ.

Es ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, Herr Fischer, als
Außen- und Europaminister die Stabilität der europä-
ischen Währung, das wichtigste europäische Projekt, zu
verteidigen. Heute hat der Euro erneut einen historischen
Tiefstand erreicht: unter 0,90 US-Dollar! Selbst die Euro-
päische Zentralbank, die zu Recht zu politischer Neutra-
lität verpflichtet ist, hat heute mitgeteilt: Die Euro-
Schwäche ist hausgemacht. Die Euro-Staaten kommen
bei der Lösung ihrer Arbeitsmarktprobleme nicht voran.
Wir brauchen ernsthafte reformerische Anstrengungen,
damit vor Einführung des europäischen Geldes der Euro
wieder stärker wird.

Dies sind die konkreten Schritte, die wir von Ihnen er-
warten. Wir erwarten nicht nur Visionen von Ihnen. Diese
Schritte müssen bitte im Namen der Bundesregierung und
nicht im Namen eines Privatmannes angekündigt und ge-
tan werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410610400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1410610500
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Haussmann,
was wollen Sie eigentlich? Einmal beklagen Sie das
Fehlen von Visionen bei der Bundesregierung in Sachen
Europapolitik. Dann wird von einem überzeugten
Europäer etwas ausgeführt. Anschließend fordern Sie
wieder konkrete Schritte. Ich frage nur: Was wollen wir
eigentlich mehr? Endlich ist eine Debatte über Europa
angestoßen worden, deren Fehlen wir in der Vergangen-
heit ständig beklagt haben. Jetzt ist sie endlich da!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Doch nicht von der Bundesregierung!)


Die Rede, mit der diese Debatte angestoßen worden ist,
hat ein überzeugter Unionsbürger und Europäer, unser
Außenminister, gehalten. Ich finde, diese Debatte ist auch
überfällig. Es ist notwendig, dass wir diese Debatte über
Europa im Parlament und in unserem Land führen. Es ist
auch notwendig, dass unsere Partner diese Debatte
führen.

Herr Fischer hat es vor einer Woche in seiner Rede auf
den Punkt gebracht: Ist die Europäische Union mit künf-
tig 27 oder mehr Mitgliedstaaten noch tragfähig, wenn die
bisher üblichen Methoden der Integration angewandt
werden? Man muss nicht alle seine Überlegungen teilen.

Es handelt sich schließlich um eine Diskussion. Wir wa-
ren uns darüber einig, dass wir auch hier im Parlament
eine breit angelegte Debatte führen müssen. Die gegen-
wärtige Regierungskonferenz zeigt auch – ich möchte auf
Ihre Rede eingehen, Herr Dr. Haussmann –: Eine größer
werdende Europäische Union, die wir alle wollen,
benötigt nicht nur eine andere Statik, sondern vor allem
auch eine andere Perspektive und eine Vision. Diese hat
Joschka Fischer vor einer Woche sehr deutlich zum Aus-
druck gebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider nicht hier!)


Vor wenigen Tagen haben wir uns – insofern gibt es ei-
nen Konsens – der Rede Robert Schumans und seiner Ge-
danken erinnert. Dabei ist auch das Thema einer europä-
ischen Föderation aufgegriffen worden. Es ist in der Tat
wichtig, eine breit angelegte Diskussion über die Frage zu
führen: Was bedeutet eigentlich „europäische Födera-
tion“? Natürlich kann man über manches, was Sie, Herr
Außenminister, gesagt haben, unterschiedlicher Auffas-
sung sein. Aber mit den Fragen: „Wie nehme ich die Bür-
gerinnen und Bürger bei diesem Prozess in Europa mit?
Warum erscheint vielen bei uns Europa als superferne
Bürokratie?“ ist ein wichtiger Anstoß gegeben worden.
Über diesen Anstoß sollten wir in den folgenden Debatten
im Bundestag und an anderen Stellen diskutieren.

Weil gelegentlich – zu Recht oder zu Unrecht – Kritik
geäußert worden ist, will ich gar nicht auf die vielen
Mäkeleien aus den Reihen der CDU/CSU, die es vor al-
lem in Presseveröffentlichungen gegeben hat, eingehen;
stattdessen will ich mich auf einen wesentlichen Punkt
konzentrieren: Joschka Fischer hat davon gesprochen – es
ist wichtig, das herauszuheben –, dass es mit ihm kein
Kerneuropa als Exklusivklub gibt. Dies haben andere
Unionsbürgerinnen und -bürger, auch aus Ihrer Fraktion,
vor einigen Jahren ganz anders gesehen; insofern ist das
ein ganz deutliches Signal gegenüber anderen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Leitsatz dieser Diskussion muss lauten: Differen-
zierung in der Europäischen Union ohne Diskriminierung
anderer. Diese Europäische Union ist in der Tat auch bei
dieser Vision offen für andere Länder.

Wir Sozialdemokraten fanden und finden diese Rede
zukunftsweisend. Es war vor allem eine integrations-
freundliche Rede, die es verdient, einer breiten Debatte
unterzogen zu werden. Ich wünsche mir vor allem, dass
wir dies in den nächsten Wochen – das müssen wir in die-
sem Parlament entsprechend regeln – tun werden. Ich
hoffe zugleich, Herr Außenminister, dass Ihre fulminante
Rede vor der Humboldt-Universität einen Impuls für die
laufende Regierungskonferenz gibt.

Dabei können sicherlich nicht alle Fragen in den nächs-
ten Monaten geklärt werden. Vor dem Hintergrund des-
sen, was wir in den nächsten Jahren in Europa leisten
müssen, ist es wichtig, dass wir auf der Regierungskonfe-
renz in konkreten Punkten weiterkommen. Signale aus
den verschiedenen Mitgliedstaaten und von Regierungen




Dr. Helmut Haussmann
9972


(C)



(D)



(A)



(B)


zeigen, dass Sie einen wichtigen Impuls gegeben haben.
Sie haben sich nicht hinter diplomatischen Floskeln ver-
schanzt, sondern Herzblut für dieses Europa gezeigt. Ich
glaube, das ist auch für die laufende Debatte wichtig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410610600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Vorschusslorbeeren!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1410610700
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihre Rede in der Humboldt-Universität, Herr
Bundesaußenminister, war ein wichtiger Beitrag zu der
Frage, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. Es ist gut,
dass wir im Parlament Gelegenheit haben, einmal über die
damit verbundenen Gedanken zu sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich unterstütze dabei ausdrücklich Ihre Idee eines

Verfassungskompromisses zwischen den Nationalstaaten
und Europa. Wir sollten ein wenig die Hitze aus der De-
batte nehmen. Wir sind im Plenarsaal des Deutschen Bun-
destages, im Reichstagsgebäude; auf der einen Seite be-
findet sich die Bundesflagge und auf der anderen Seite die
Europaflagge. Diese historische Synthese zwischen Eu-
ropa und den Nationalstaaten kommt in diesem Raum
symbolisch zum Ausdruck. Ich finde es interessant, die
von Ihnen aufgeworfenen Ideen einmal weiterzudenken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Ziel sind die vereinigten Nationalstaaten von Eu-
ropa.

Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort in die De-
batte einführen. Herr Kollege Gloser und andere Kollegen
haben im Vorfeld Äußerungen gemacht, die den Sachver-
halt nicht treffen. Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung ei-
ner europäischen Föderation, Herr Bundesaußenminister,
und mit der Ausgestaltung dieses Vorschlages sind Sie –
das muss ich Ihnen sagen – auf dem Boden der Program-
matik angekommen, die CDU und CSU in den letzten
Jahren entwickelt haben. Das begrüßen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Von der Sie sich jetzt wieder entfernen!)


Dabei erscheint uns aber kritikwürdig, dass Sie den
Denkanstoß, der beispielsweise in dem von Wolfgang
Schäuble und Karl Lamers erarbeiteten Papier vorgelegt
wurde, nämlich die Idee eines Kerneuropas, absolut
falsch interpretieren. Kein Mensch, der diese Papiere ge-
lesen hat, kommt zu einer solchen Interpretation, wie sie
bedauernswerterweise Herr Gloser vorgenommen hat.
Natürlich ist die Idee der Union von einem Kerneuropa –
im Gegensatz zu dem, was Sie ihr unterstellen – eine Idee
des Integrationszugewinnes und der Integrationsbe-

schleunigung; sie ist eine Idee, wie wir Europa effizienter,
transparenter und handlungsfähiger machen können. Sie
wollen ja auch, dass diejenigen, die das wollen, das auch
können. Vielleicht liegt darin die Chance zu einem ge-
meinsamen Projekt. „Gravitationszentrum“, „Kompe-
tenzabgrenzung“ und „Verfassungsvertrag“ sind Begriffe,
die in der Union entwickelt worden sind und erfreulicher-
weise bei Ihnen auftauchen. Auch das will ich in dieser
Debatte einmal sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In der Tat seltsam ist – Herr Kollege Haussmann hat es

angesprochen – die Trennung zwischen dem Bundes-
außenminister Fischer und dem Bürger Fischer. Ich will
hierüber gar keine Scherze machen. Aber gerade der Bun-
desaußenminister und die gesamte Bundesregierung sind
gefordert, aus dem lähmenden Stillstand in der Regie-
rungskonferenz, für den die Regierung Mitverantwortung
trägt, in ganz konkreten Fragen herauszukommen. Sie
können nicht einfach sagen: Ich verabschiede mich von
meinem Amt und trage eine große Vision vor, weil ich mit
der konkreten Wirklichkeit nicht fertig werde. Vielmehr
sind hier im Parlament und zusammen mit den europä-
ischen Partnern Initiativen zu entwickeln, wie wir konkret
zu mehr Integration und zu einer klaren Kompetenzab-
grenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten und
damit zu einer höheren Effizienz und Transparenz in Eu-
ropa kommen. Wir wollen Ihnen nicht durchgehen lassen,
dass Sie zwar eine Vision liefern, die wir gerne diskutie-
ren und auch interessant finden, dass zugleich aber auf der
Regierungskonferenz die konkreten Dinge auf der Strecke
bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jetzt möchte ich in kurzen Stichworten darauf hinwei-

sen, dass die Risiken und Nebenwirkungen Ihres Planes
natürlich auch im Blick zu halten sind. Ein Binnenmarkt,
der sich in Kerne auflöste, wäre das Gegenteil dessen, was
wir wollen; darauf ist eben schon einmal hingewiesen
worden. Kern-Europa muss eine Zugewinnchance in sich
bergen und als Integrationskern ausgestaltet werden. Es
darf keinen Rückfall in das Intergouvernementale geben,
sondern wir müssen hin zu mehr Integration. Darauf müs-
sen wir gemeinsam achten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich persönlich halte übrigens die Euro-Zone schon für ei-
nen solchen Kern, aus dem heraus sich das entwickeln
kann.

Warum ist Europa so schwerfällig? Zwei Punkte: Ers-
tens gibt es eine ungute Kompetenzvermischung zwi-
schen Europa und den Nationalstaaten und zweitens keine
klare Gewaltenteilung, sondern ein Durcheinander von
Exekutive und Legislative im Rat. Hierzu Folgendes wie-
derum nur in Stichworten: Ihre negative Bewertung der
ersten Kammer, also des Europäischen Parlaments, teile
ich ausdrücklich nicht. Das Parlament ist der wahre Ge-
winner von Amsterdam. Es ist auch kompetenter und ef-
fektiver geworden. Ihr Vorschlag eines Parlamentes aus
Doppelmandataren führte zu einem gelähmten Riesen;
dann würde man weder die Aufgaben in Brüssel noch die
in Berlin richtig wahrnehmen können, insbesondere nicht




Günter Gloser

9973


(C)



(D)



(A)



(B)


die Kontrollfunktion. Deswegen bin ich für eine Stärkung
des Europäischen Parlaments.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der letzte Gedanke: Die Minister und ihre Beamten

fühlen sich – das ist eine Entwicklung, an der wir auch un-
seren Anteil haben – im Rat quasi allzuständig: für die eu-
ropäische Gesetzgebung, für die europäische Exekutive,
also für das Erlassen und das Durchführen von Gesetzen.
Sie haben auch im Rahmen der jetzt bestehenden Verträge
eine Chance, diese zweite Kammer, also den allgemeinen
Rat, so auszugestalten, dass es mit dieser Vermischung ein
Ende hat und hier ein Fortschritt eintritt. Wir laden Sie ein,
Ihre Vision in den Handlungsfeldern, auf denen Sie han-
deln können, ein Stück weit Wirklichkeit werden zu las-
sen. Dabei sollte der Privatmann Fischer dem Bundes-
außenminister Fischer vielleicht ein paar Tipps für die Re-
gierungskonferenz geben und dafür sorgen, dass es zu
mehr Kompetenzabgrenzung, einer stärkeren Selbstbe-
schränkung des Rates, zu höherer Effizienz und mehr
Transparenz kommt.

Der Weg zu den Vereinigten Nationalstaaten von
Europa lohnt eine gemeinsame Anstrengung. Es war in
diesem Hause immer Tradition, dass wir in den großen
Fragen der Europapolitik zusammenzufinden versuchten,
dass wir zusammen diskutierten und das Ergebnis der
Diskussion gemeinsam vertraten. Ihr Plan bietet einen
Ansatzpunkt für eine solche gemeinsame Initiative. Las-
sen Sie uns sie angehen!


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410610800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410610900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
hat sich bisher noch nicht erschlossen, was eigentlich die
Ratio dieser Aktuellen Stunde sein soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ist es wirklich der Vorwurf, dass der Außenminister als
Unionsbürger eine wegweisende Rede hält? Das rechtfer-
tigt wohl wirklich keine Aktuelle Stunde.

Sie müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen,
dass es keine Kritik, sondern Unterstützung zum Beispiel
aus dem Bundeskanzleramt gab. Das war oft in den Zei-
tungen zu lesen. Insofern konstruieren Sie Widersprüche
innerhalb der Regierung, die keineswegs existieren. Dann
wurde die Haltung der Fraktionen angesprochen. Ich kann
Ihnen davon berichten, dass der europapolitische Spre-
cher der SPD und der der Grünen, also Herr Kollege
Gloser und ich, bei dieser Rede anwesend waren.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wieso waren wir nicht eingeladen?)


Ich habe in einer Erklärung, die auch über den Ticker lief,
unmittelbar nach der Rede diese Rede sehr begrüßt und
gehe auch weiterhin davon aus, dass diese Rede einen
enormen Schub für die europapolitische Debatte darstellt.

Ein Kabinett stimmt über Gesetzentwürfe, über Haushalte
und politische Maßnahmen, aber nicht über Visionen ab.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Was? Sie werden immer bescheidener?)


Insofern können wir durchaus nachvollziehen, dass Ihnen
während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit der Sinn für vi-
sionäre Politik ziemlich abhanden gekommen ist.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie werden aber bescheiden!)


Viele diesbezügliche Erfahrungen haben Sie ja nicht ge-
macht.

Eröffnen Sie also keine Nebenkriegsschauplätze, son-
dern stellen Sie sich der Debatte über das, was angestoßen
worden ist!


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Tun wir doch!)

Dazu ist die Aktuelle Stunde nicht der richtige Ort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich frage mich, warum Sie sich geweigert haben, hier in
diesem Hause darüber eine vereinbarte Debatte zu führen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In der nächsten Sitzungswoche gerne!)


Wir hätten dann Zeit gehabt, auch inhaltlich tiefer gehend
zu diskutieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hat doch kein Mensch verweigert!)


Nein, Sie eröffnen Nebenkriegsschauplätze, um mit
lockeren Sprüchen über das, was diese Rede enthält, hin-
wegzutäuschen. Das ist ein Punkt, der hier nicht in Ver-
gessenheit geraten darf.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Zur Sache!)

Die Rede enthält Visionen. Das ist der notwendige

Denkanstoß. Sie aber entfachen eine Neiddebatte.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Haben wir gerade nicht nötig! Uns geht es gut!)

Ihre einzige Vision besteht offensichtlich in der Hoffnung
auf erneute Regierungsbeteiligung. Das haben Sie ja auch
hier ganz deutlich zum Ausdruck gebracht.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu der Bedeutung
dieser Rede sagen. Ich glaube, dass die Bedeutung erstens
darin liegt, dass die vor sich hindümpelnde Europadebatte
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirk-
lich einen ganz kräftigen Impuls erhalten hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das zeigen auch die positiven Reaktionen in den anderen
EU-Ländern. Dort ist dieser Ball aufgenommen worden.
Ich hoffe, dass auch Sie diesen Ball in Zukunft inhaltlich
und politisch aufnehmen,


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Balla, balla!)

mitdiskutieren und nicht Debatten über Nebenkriegs-
schauplätze führen.




Peter Hintze
9974


(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens liegt die Bedeutung darin, dass mit dieser
Rede ein Tabubruch einherging, weil endlich offen über
„Finalität“ gesprochen und diskutiert wurde und nicht ge-
meinsam geschwiegen wurde. Das Schweigen ist ja ein
Element, das Ihre Europapolitik in den letzten Jahren sehr
stark geprägt hat.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Die war um Klassen besser!)


Es wird endlich eine Debatte geführt, wie wir über Re-
gierungskonferenzen hinaus zu einer gemeinsamen Vor-
stellung von Europa kommen. Dieser tabuisierte Bereich
wurde nun offen zur Diskussion gestellt. Ich kann Sie nur
auffordern: Beteiligen Sie sich ernsthaft an dieser De-
batte!


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Gerne, damit haben wir kein Problem!)


Der dritte wichtige Punkt ist, dass es Joschka Fischer
in seiner Rede gelungen ist, sehr verschiedene und isoliert
geführte europapolitische Diskurse zusammenzuführen.
Es gab die Debatte um ein Kerneuropa, es gibt die Debatte
um Kompetenzen innerhalb Europas, es gibt den Verfas-
sungsdiskurs, Diskussionen über die Demokratisierung
der EU und die Föderalismusdebatte. Alle diese Debatten
wurden relativ isoliert geführt. Aber in dem Entwurf, in
dieser Vision einer Föderation Europa ist es gelungen, al-
les, was bisher puzzlehaft nebeneinander lag, zusammen-
zufügen. Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb hat die
Rede eine solche Bewegung ausgelöst und einen solchen
Anstoß gegeben, der die Debatte in Europa hoffentlich
dauerhaft bereichert.

Insofern hoffe ich, dass dieser Anstoß, der der Debatte
damit gegeben worden ist, sich nicht auf die heutige Ak-
tuelle Stunde beschränkt. Ich kann Sie nur auffordern, mit
uns gemeinsam diesen Ball aufzunehmen, ihn weiterzu-
spielen


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Deshalb sind wir ja hier!)


und das Momentum, das dadurch ausgelöst wurde, auf-
rechtzuerhalten. So kann ein weiterer Schub in Richtung
Integration ausgelöst werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410611100
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde die Formulierung des Themas dieser
Aktuellen Stunde ausgesprochen witzig. Es ist doch
vielleicht schon eine Stunde wert, dass man zu einem
witzig formulierten Thema reden kann.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das war es dann aber auch schon!)


– Okay, das war es dann auch schon.

Ich habe auch eine plausible Erklärung dafür, warum
eine Trennung zwischen dem Außenminister und dem Pri-
vatmann Fischer vorgenommen wurde: Das ist ein Me-
dientrick, auf den wir alle abgefahren sind.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir nicht!)

Auch ich war natürlich außerordentlich neugierig, was der
Privatmann Fischer im Gegensatz zum Außenminister
Fischer sagen kann. Der Trick ist gelungen; denn wir de-
battieren heute über dieses Thema.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Selbst er hat es verstanden!)


Schluss mit diesen Vorbemerkungen, zur Sache selbst:
Für mich hatte und hat das Ziel „Vereinigte Staaten von

Europa“ – Außenminister Fischer benutzt ja diesen Be-
griff nicht; ich glaube, er benutzt ihn bewusst nicht –, ein
föderatives Staatswesen, begründet auf Wohlfahrt und
Demokratie, eine ganz starke Anziehungskraft, wenn-
gleich ich zugeben muss: Ich habe mir das Zustandekom-
men immer ganz anders vorgestellt. Es gibt darüber auch
eine längere theoretische Debatte in der Linken.

Die Vereinigten Staaten von Europa, gegründet auf
eine demokratische Verfassung, bedingen – ich glaube,
hier hat Fischer Recht – einen Vertrag, der die Rechte der
Nationalstaaten und der Föderation demokratisch und zu-
gleich sensibel bestimmt. Nationalstaat und europäische
Integration können in ein neues, sinnvolles und beidersei-
tig nützliches Verhältnis gebracht werden. Die europä-
ische Einheit – das ist meine feste Überzeugung – muss
eine Einheit in der Vielfalt sein und darf sich nicht auf
Zentralisierung gründen.


(Beifall bei der PDS)

Einheit in der Vielfalt ist die Chance für einen gemeinsa-
men Weg zu einem geeinten Europa.

Ein föderales Europa – dieser Gedanke ist in der Rede
des Außenministers nicht vorhanden – braucht in diesem
Sinne eine europäische Staatsbürgerschaft. Ich kann mir
gut vorstellen, dass wir alle über eine doppelte Staatsbür-
gerschaft verfügen werden: eine nationalstaatliche und
eine europäische. Gerade dieser Gedanke einer gemeinsa-
men Staatsbürgerschaft weist über nationalstaatliche
Identitäten hinaus. Ich weiß sehr gut, dass diese Fragen
auch in der politischen Linken Europas höchst umstritten
sind. In der politischen Linken habe ich viele Freunde, die
sich mit solchen Gedanken nur wenig anfreunden können.
Ich halte allerdings diese Gedanken für zukunftsfähig und
perspektivisch.

Obwohl ich, wie ich gerade ausgeführt habe, den An-
stoß des Außenministers interessant finde, liest sich seine
Rede – so war mein Eindruck; ich habe sie nicht gehört,
sondern gelesen – über weite Teile sehr blutleer. In dieser
Rede kommen die Menschen – die tatsächlichen Men-
schen, um die es ja geht – gar nicht vor. Die in Europa le-
benden Menschen sind bei Außenminister Fischer offen-
kundig nur eine Fiktion, irgendeine Komponente ange-
sichts dessen, was als Motor der Integration angesehen
wird.




Christian Sterzing

9975


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Außenminister benennt drei Faktoren: den Euro,
das gemeinsame Recht und die gemeinsame Militärpoli-
tik. Zugegeben: Das sind wichtige Faktoren. Aber es fin-
det sich kein Wort über gemeinsame Beschäftigungs- und
Sozialpolitik, über kooperative Bildungspolitik und ver-
nünftige Umweltpolitik. Ein Mehr an Erwerbsarbeit, so-
zialer Sicherung, Umweltstandards und Bildung, ein
Mehr an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder
Schwesterlichkeit könnte die Menschen für Europa auf-
schließen und den Menschen Ängste vor Europa nehmen.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])

Das müssen wir erreichen. Ein vereintes Europa von oben
wird es nicht geben. Wir müssen die Ängste vor diesem
Europa gemeinsam abbauen. Darüber fand sich in der
Rede kein Wort.

In der Rede von Außenminister Fischer – ich sollte
vielleicht „Privatperson Fischer“ sagen – wird auch nicht
darüber nachgedacht – das hat mich schon sehr gewundert –,
warum Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremis-
mus in Europa zunehmen, obwohl deren Bekämpfung ein
wichtiger Schritt zum vereinten Europa wäre. Der Bun-
despräsident hat das in seiner Rede am gleichen Tag ge-
tan. Mit dem Timing müssen sich andere auseinander set-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der F.D.P.)


Offensichtlich hat der Außenminister Europas Grenzen
fest im Kopf. Aber gehören nicht Weißrussland, die
Ukraine und auch Russland zu Europa? Zumindest nach-
denken muss man wohl darüber. Es darf nicht zu einer
Abschottung kommen. Das europäische Haus, das
jetzt gebaut werden muss, wird immer – wie ich hoffe:
gute – Nachbarn haben.

Warum, so frage ich, sollen europäische Interventions-
kräfte, für die nach den Worten des Außenministers der
Kosovo der Anstoß war, uns Europäer – verzahnt mit der
NATO – zusammen bringen? Die militärische Zusam-
menarbeit wird Europa nicht einigen. Wenn Europa und
Frieden in Europa und gegenüber der Welt nicht mehr in
einem Atemzug genannt werden können, dann nimmt Eu-
ropa Schaden.

Ich glaube, dass das Europa, das der Außenminister
vorgestellt hat, von oben gedacht ist. Mein Europa soll
von unten wachsen. Noch besser wäre es, wenn an diesem
Europa von oben und unten gleichzeitig gearbeitet würde.

Lassen Sie mich einen letzten Gedanken sagen. Wenn
man die Vereinigten Staaten von Europa ernsthaft will,
muss dieser Prozess für alle Länder offen sein: für kleine
und große Staaten, für Länder der ersten Stunde und für
Länder, die später hinzukommen, für Länder aus dem
Osten und für die aus dem Süden.
Dass die deutsch-französische Zusammenarbeit dabei ei-
nen herausragenden Platz einnimmt, ist historisch er-
wachsen, begründbar und nicht zu ersetzen. Ein Europa
der unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir be-
reits heute. Ich glaube aber, dass das etwas anderes ist als
der Vorschlag eines Kerneuropas. Mit einer Trennung in
Kern und Rest entstünde ein Bündnis im Bündnis. Dies

wird, einmal geschaffen, seine eigene Dynamik entfalten.
Das wäre aus meiner Sicht kein Weg zur Integration, son-
dern ein Hindernis auf diesem Weg.

Einen letzten Satz: Ich würde sehr vorsichtig mit dem
Begriff der „Finalität“ dieses Prozesses sein. Ich hoffe,
dass er unumkehrbar ist; sichergestellt ist es noch nicht.
Es wird keine Finalität eines solchen Weges geben, wenn
er ein Prozess bleibt – genauso wie es kein Ende der Ge-
schichte gibt. Es wird ein offener, zu gestaltender Prozess
bleiben, der noch nicht final ist.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611200
Das Wort hat
jetzt der Kollege Michael Roth.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1410611300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehrcke,
merken Sie sich diesen Tag: Die PDS-Fraktion hat selten
so viel Applaus von der F.D.P. erhalten. Das wird sicher-
lich in die Annalen Ihrer Fraktion eingehen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


– Galt der Beifall jetzt mir, Herr Westerwelle?

(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Der galt Ihnen, damit Sie einen schönen Tag haben! – Heiterkeit)


– Wunderbar, der Tag wird gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist – ich sage das

einmal in aller Offenheit – eigentlich schnurzpiepegal, ob
zukunftsweisende Reden von Unionsbürgern, Europäern
oder


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Taxifahrern?)

glücklicherweise bundesdeutschen Außenministern ge-
halten werden. Es kommt auf den Inhalt an. Es ist etwas
vorgetragen worden, was sicherlich einer langen und in-
tensiven Debatte bedarf, vor allem auch hier im Bundes-
tag. Insofern freue ich mich auch ein bisschen über die
Aktuelle Stunde,


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja, bitte, also doch!)


weil sie mir Gelegenheit gibt, etwas zu dem einen oder
anderen Punkt anmerken zu dürfen.

Die Verfassungsdebatte ist belebt worden. Die Vor-
schläge des Außenministers betten sich ja in zahlreiche
andere Vorschläge ein: Helmut Schmidt, Valéry Giscard
d´Estaing, Jacques Delors, die drei Weisen haben etwas
vorgelegt, Außenminister Védrine hat sich geäußert, kürz-
lich gab es eine Veröffentlichung des Hochschulinstitutes
Florenz, in der es auch um die zukünftige Struktur der Eu-
ropäischen Verträge geht. Ich finde diese Einbettung wun-
derbar.

Ich finde es auch gut, Herr Kollege Hintze, wenn Sie
hier vor dem Bundestag erklären, dass wir zur Zusam-
menarbeit bereit sein müssen, und Ihre Bereitschaft dazu
unterbreiten, wobei ich im Augenblick das Problem




Wolfgang Gehrcke
9976


(C)



(D)



(A)



(B)


weniger aufseiten der Koalitionsfraktionen sehe. Mich
treibt eher die Sorge um, dass aus dem Süden dieser Re-
publik immer wieder Schwadronaden bis nach Berlin vor-
dringen, die alles andere als integrationsfreundlich sind.
Insofern müssen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen für
Remedur, für Ordnung sorgen


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])

und klare Vorschläge unterbreiten. Das ist zumindest die
Meinung der SPD-Fraktion.

Ich will eine Anmerkung zu den Vorschlägen für ein
Kerneuropa machen. Herr Lamers hat diesbezüglich vor
ein paar Jahren etwas sehr Kluges zum Ausdruck ge-
bracht. Jedoch haben Sie damals – im Gegensatz zum
Außenminister Fischer – einen massiven Fehler gemacht.
Sie haben nämlich in Ihrem Papier explizit einige Mit-
gliedstaaten benannt, die diesem Kerneuropa angehören
sollen; andere wiederum haben Sie nicht genannt. Dann
sind Sie sehr umständlich wieder zurückgerudert. Ich
meine, die Fairness gebietet es, Herr Lamers, dass heute
noch einmal deutlich gesagt wird: Der Nukleus, das „Gra-
vitationszentrum“, von dem Herr Fischer gesprochen hat,
meint etwas anderes als die Ideen, die Sie im Rahmen Ih-
rer Vorschläge zu einem Kerneuropa unterbreitet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist Unfug!)


Die Verfassungsdebatte ist meines Erachtens notwen-
dig, weil wir bei unseren zahlreichen Debatten hier im
Bundestag über die Regierungskonferenzen an einem re-
lativ enttäuschenden Punkt angelangt sind. Wir hangeln
uns bei jeder Regierungskonferenz von einem kurz- und
mittelfristigen Problem zum nächsten,


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider!)

obwohl wir wissen, dass wir auf den Regierungskonfe-
renzen – auch in Nizza – nicht alles Notwendige auf den
Weg bringen können, was die Bürgerinnen und Bürger
von uns erwarten. Umso wichtiger ist es, dass wir neben
den kurz- und mittelfristigen Schritten, die auf den Re-
gierungskonferenzen auf den Weg gebracht werden, eine
langfristige Perspektive entwickeln. Das ist mit der Rede
von Außenminister Fischer geschehen.

Ich appelliere auch an Offenheit. Es gibt nun einmal in
Europa verschiedene Denkschulen, es gibt auch verschie-
dene Modelle. Es gibt eine eher intergouvernementale Li-
nie und eine eher integrationsfreundliche Linie. In der
Bundesrepublik gilt eher die zweite Linie. Wir sollten
diese Differenzen auch nicht unter den Tisch kehren.

Es muss mit unseren Partnern in Europa ganz offen
über diese verschiedenen Modelle geredet werden. Nur
wenn wir Argumente kraftvoll und überzeugend herüber-
bringen, können wir auch überzeugen für unsere Linie
und für die Vorschläge, die von Vertretern der Bundesre-
gierung und von Vertretern des Bundestages gemacht
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte auch nichts von einem Streit um Terminolo-
gien. Wir sollten uns über die Frage unterhalten: Was ist
eigentlich unser Ziel? Das wurde auch in dieser Rede klar
anvisiert. Wir wollen ein demokratischeres, ein hand-
lungsfähigeres und ein bürgernäheres Europa.

Wir sollten auch gar keine Angst vor Begriffen haben.
Ich habe kein Problem damit, von einer europäischen Ver-
fassung zu reden. Auch von der Föderation kann man re-
den. Begriffe sind nicht das Entscheidende. Es geht da-
rum: Was steht hinter diesen Begriffen?

Einen Punkt sehe ich allerdings – das ist auch schon er-
wähnt worden – etwas anders als der Kollege Fischer.
Wenn wir eine Parlamentarisierung in Europa anstreben,
sollten wir nicht abgehen von dem Weg der direkten
demokratischen Legitimation der Mitglieder des Europä-
ischen Parlaments.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich glaube, dass die Bundestagsabgeordneten wahrlich
genug zu tun haben und nicht noch einzelne Aufgaben in
Brüssel übernehmen sollten. Das ist meine ganz persönli-
che Auffassung. Nur mit einer Parlamentarisierung ma-
chen wir auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich,
worum es bei einer Europawahl geht. Im Augenblick ist
das nicht klar. Wenn sich bei einer Wahl des Europäischen
Parlaments dann irgendwann in der Konsequenz eine
neue Mehrheit widerspiegelt und deutlich wird, wer über-
haupt in der europäischen Regierung sitzt, welche politi-
sche Kraft in Europa gestalterisch tätig wird, haben wir
eine ganze Menge erreicht.

Ich glaube, das war eine mutige Rede. Europa braucht
Mut und Europa braucht mutige Bürgerinnen und Bürger.
Wenn einer unter den mutigen Bürgerinnen und Bürgern
dann Joschka Fischer heißt, ist das meines Erachtens
nichts Schlechtes, sondern etwas sehr Gutes.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.


(Angela Marquardt [PDS]: Müssen wir jetzt klatschen?)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1410611500
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer,
Sie haben am Freitag eine wirklich bemerkenswerte Rede
gehalten, die Anerkennung verdient. Wir hätten uns diese
Rede vom deutschen Außenminister gewünscht und
darüber reden wir hier.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie sprachen in Ihrer Rede selber von Einschränkun-

gen, denen Sie unterliegen. Sie sagten, das sei Ihre per-
sönliche Zukunftsvision. Sie sagten dort, den Außenmi-
nister würden Sie jetzt definitiv weit hinter sich lassen.
Wie geht das eigentlich, wenn man Außenminister ist?
Sie sprachen von der beengenden Rolle des deutschen




Michael Roth (Heringen)


9977


(C)



(D)



(A)



(B)


Außenministers, die es Ihnen nicht erlaube, derartige zu-
kunftsträchtige Ausführungen zu machen. Wer beengt
Sie? Was beengt Sie? Beengt Sie die Bundesregierung?
Beengt Sie der Kanzler? Beengt Sie Ihre eigene Partei, so
etwas hier zu sagen?


(Karl Lamers [CDU/CSU]: Die bestimmt! – Horst Kubatschka [SPD]: Sie nicht!)


Ich finde, es ist notwendig, dass jemand Anstöße gibt.
Das ist zu Recht gewürdigt worden, übrigens ausdrück-
lich auch von der Fraktion der Freien Demokraten. Aber
es ist notwendig, meine Damen und Herren, dass dann im
Deutschen Bundestag eine solche Debatte stattfindet. Was
ist das denn für ein Parlamentsverständnis, wenn man hier
eine Debatte beantragt, weil ein Privatmann eine Rede
hält, der zufällig noch Minister ist? Setzt man eigentlich
als Minister mal einen Hut auf und setzt ihn dann wieder
ab und wenn man ihn abgesetzt hat, darf man sagen, was
man will, und wenn man ihn aufgesetzt hat, darf man nur
sagen, was andere ihm vorgegeben haben?


(Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fehlt noch, Fischer mit Hut!)


Wir wünschten, dass solche zukunftsträchtigen Aus-
führungen – und das waren sie – die Politik der Bundes-
regierung wären und nicht die Politik des Privatmannes
Joschka Fischer.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie haben angekündigt, hier zu sprechen. Sie stehen

auch auf der Rednerliste und das ist gut. Allein das zeigt,
dass die von uns beantragte Debatte hier Sinn macht. Sie
haben jetzt gleich die Gelegenheit, hier zu sprechen, übri-
gens dann als Außenminister Fischer. Kommen Sie nicht
auf die Idee, gleich als Privatmann zu uns zu sprechen.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P.)

Hier sprechen Sie als Außenminister und wir möchten
gleich von Ihnen als Außenminister hören: Sind die klu-
gen Ausführungen der künftige Leitfaden der europä-
ischen Politik der deutschen Bundesregierung? Ich finde
es ausgesprochen interessant, was der Langstreckenläufer
Fischer uns zu erzählen hat, aber die Außenministermei-
nung ist gefragt. Wenn jemand Außenminister ist, muss er
auch wie ein Außenminister handeln.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich
Genscher, der Ehrenvorsitzende der F.D.P., hat das, wie
ich finde, in einem bemerkenswerten Artikel im „Tages-
spiegel“ in dieser Woche öffentlich ausgeführt. Ehre,
wem Ehre gebührt. Er sagt dort:

Die Bundesregierung gewinnt damit nach anfängli-
cher Abstinenz europapolitisches Profil. Fischers
Vorstellungen sind weit reichend; sie werden auch
Widerspruch hervorrufen, aber die Richtung stimmt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Besser kann man es in wenigen Sätzen nicht ausdrücken.

Es ist notwendig, dass Sie sich zu Ihrer Rolle als
Außenminister bekennen. Natürlich wissen wir alle,

warum Sie vor einer Woche, kurz vor der Wahl, unbedingt
in der Humboldt-Universität sprechen wollten:


(Günter Gloser [SPD]: Legende!)

Sie haben sich davon eine Wirkung erhofft. Ich finde es,
offen gestanden, einen reichlich fragwürdigen Akt, dass
Sie am selben Tag wie der Bundespräsident eine Konkur-
renzrede zu seiner Berliner Rede halten mussten. Das
bleibt Ihnen überlassen. Es ist in meinen Augen eine Stil-
frage. Die Verfassungsorgane, Privatmann Fischer und
Bundespräsident Rau werden sich damit noch auseinan-
der setzen.

Es ist wirklich eine bemerkenswerte Debatte, die Sie
angestoßen haben; das soll anerkannt werden. Aber es ist
auch mein Parlamentsverständnis, dass Sie als deutscher
Außenminister, wenn Sie solche Anstöße geben, gegen-
über diesem Parlament, das Sie als Regierungsmitglied
schließlich zu kontrollieren hat, erklären: „Das ist unser
Weg“ oder „Das ist nicht unser Weg“, auch damit wir,
wenn wir uns als Parlamentarier mit Ihren einzelnen Vor-
schlägen auseinander setzen möchten, wie es Herr Kol-
lege Roth und andere vorhin getan haben, nicht damit ver-
tröstet werden können: Das hat der Außenminister gar
nicht gesagt, das geht Sie als Abgeordnete gar nichts an.

Diese Rede hatte zu Recht eine große internationale
Wirkung. Sie hätten sie deswegen auch mit Ihren Amts-
kollegen, wenigstens mit einigen von ihnen, abstimmen
müssen. So muss man, aus unserer Sicht jedenfalls,
europapolitische Initiativen starten. Die Bundesregierung
fährt schlecht damit, wenn sie zunächst einmal, gewisser-
maßen als Minenhund, den Privatmann Fischer dem
Außenminister Fischer vorgehen lässt, bevor sie sich viel-
leicht anschließend verhaftet fühlt.

Der deutsche Bundeskanzler hat, wie wir vom Regie-
rungssprecher erfahren durften, im Kabinett mit freundli-
chem Nicken darauf reagiert. Dann hätten wir das auch
hier gern einmal gehört! Sie sprechen jetzt gleich. Sagen
Sie zu uns, zum Deutschen Bundestag, zu dem Verfas-
sungsorgan Bundestag, zu den Volksvertreterinnen und
Volksvertretern, die wir alle gewählt sind: Das ist der Kurs
der Regierung.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber arg regierungsfixiert!)


Dann haben Sie auch unseren Respekt und unsere Aner-
kennung dafür.


(Beifall bei der F.D.P.)

Aber bei der Vorstellung, dass der Außenminister als

Privatmann reden kann, weil er sich ansonsten zu beengt
fühlt, kann man nur sagen: Machen Sie sich frei, Herr
Fischer, geistig gesehen!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keinen Satz zum Inhalt! Nur Formalkram! Schwach, sehr schwach!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611600
Für die Bun-
desregierung erteile ich nun dem Außenminister Joschka
Fischer das Wort.




Dr. Guido Westerwelle
9978


(C)



(D)



(A)



(B)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere
mich an die letzte Debatte, die etwas später am Tag
stattgefunden hat, über die ganz wichtige Frage der Regie-
rungskonferenz, bei der es auch um einen Bedeu-
tungsverlust des Deutschen Bundestages ging; darin
waren sich die wenigen anwesenden Europapolitikerin-
nen und Europapolitiker einig. Jene Debatte hat wenig In-
teresse gefunden. Die heutige Debatte zeigt – das hat der
Kollege Westerwelle gerade nachhaltig demonstriert –,
dass sie weit über die Europapolitiker hinausreicht. Das
ist gut so.


(Beifall bei der F.D.P. – Heiterkeit bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Dass Sie neuerdings sich selber Beifall klatschen, Herr
Westerwelle, finde ich interessant. Aber bitte.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das wäre nicht das erste Mal!)


Ich möchte das jetzt nicht vertiefen, obwohl ich Lust
hätte; denn Sie haben mich gerade in einer Rede, in der
mindestens 38-mal das Wort „Außenminister“ vorkam,
dazu verpflichtet, als Außenminister zu sprechen, und das
will ich auch tun.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Gut!)

Aber gestatten Sie mir doch eine Vorbemerkung. Sie

mögen das glauben oder nicht, aber das hat mit den
Wahlen wirklich nichts zu tun gehabt. Die Rede war seit
langem geplant.


(Zuruf von der F.D.P.: War das Zufall?)

– Dass die F.D.P. das so sieht und dass Sie so denken, kann
ich ja verstehen. Aber glauben Sie mir – das wissen auch
Kollegen aus der Opposition, die mich in der Europapoli-
tik schon länger kennen –: Erstens bin ich nicht der Mei-
nung, dass man mit einem solchen Thema landespolitisch
große Wählerströme bewegen kann, zweitens war diese
Rede nicht ohne Risiko, was die öffentliche Reaktion be-
trifft, und drittens wissen alle, dass es mir hier wirklich
um die Sache geht. Insofern war der 50. Jahrestag einer
bedeutenden und zentralen Rede von Robert Schuman der
eigentliche Anlass. Herr Westerwelle, vielleicht können
auch Sie eines Tages nachvollziehen, wie wichtig das für
einen überzeugten Europäer ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine
weitere Vorbemerkung. Sie haben ja aus dem von Hans-
Dietrich Genscher im „Tagesspiegel“ erschienenen Arti-
kel zitiert – ich bedanke mich nachdrücklich für diesen
Artikel sowie für das, was Sie, Herr Hintze, gesagt haben;
ich komme darauf gerne noch einmal zu sprechen –, der
die Überschrift „Allons, enfants de l’Europe: Folgt
Fischers Initiative!“ hatte. Wenn das die Haltung der
F.D.P. ist, dann bedanke ich mich auch bei der F.D.P.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Bitte!)


Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Westerwelle,
etwas intensiver mit der Tradition meines Amtsvorgän-
gers – von Hans-Dietrich Genscher, der ein bedeutender
Vorgänger von mir und ein großer Liberaler ist, kann man
sehr viel lernen, vor allen Dingen, was das jeweilige
Vorgehen betrifft – und damit beschäftigt, wie er vorge-
gangen ist, wenn er einen neuen Akzent setzen wollte,
bei dem er nicht so ohne Weiteres davon ausgehen konnte,
dass es dabei schon um die Schlussabstimmung ging – der
Beginn einer Debatte ist nach Meinung der
jetz-igen Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen
keine Schlussabstimmung. In diesem Zusammenhang
möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: Kollege
Genscher hat in diesem Artikel zu Recht geschrieben,
Außenminister Fischer habe mit seiner Europarede eine
gute Tradition des Auswärtigen Amtes als Ideengeber und
Motor der Europapolitik fortgesetzt. Da kam kein Wort
der Kritik über den Privatmann bzw. den Bundestagsab-
geordneten, den Sie ja sehr gering einschätzen.

Auf die deutsch-italienische Initiative für eine Politi-
sche Union im Jahre 1981 folgte – das ist für mich der ent-
scheidende Punkt – 1988 der konzeptionelle Vorstoß des
AA, sprich: von Hans-Dietrich Genscher, zur Währungs-
union. Es war – das ist aus dem Deckblatt ersichtlich und
alle, die damals beteiligt waren, erinnern sich noch sehr
gut – seine persönliche Initiative. Dafür gab es damals
Gründe. Dies war eine Initiative, mit der er völlig Recht
hatte und die später zur Politik der Bundesregierung bzw.
der damaligen Koalition und somit historische Wirklich-
keit wurde. Aber angestoßen hatte er dies auf eine ähnli-
che Art und Weise wie ich.

Herr Westerwelle, regen Sie sich also ab. Von Hans-
Dietrich Genscher kann man sehr viel lernen. Das kann
ich Ihnen nur empfehlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Nun zur Sache. Ich freue mich über die heutige Diskus-
sion. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Diskussion
bei nächster Gelegenheit etwas ausführlicher fortsetzen
könnten. Diese Debatte hat es nicht verdient, sie auf das
Niveau kurzfristiger parteipolitischer Interessen herun-
terzuziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Interessen werden dann, wenn Entscheidungen anstehen,
wichtig genug. Im Rahmen der dann stattfindenden Re-
gierungskonferenz mag ein solches Vorgehen angemessen
sein.

Aber wir stehen doch vor der Situation, dass nach der
historischen Herausforderung von 1989/1990, die bis
heute nicht wirklich durchdacht und bewältigt wurde, Eu-
ropa zusammengefunden hat. Nach 1945 gab es zwei zen-
trale Entscheidungen, die das Schicksal unseres Konti-
nents grundsätzlich verändert haben, nämlich zum einen
die Tatsache, dass die USA auf diesem Kontinent geblie-
ben sind. Zum anderen die zentrale Entscheidung von
Robert Schuman sowie Jean Monnet und dann auf deut-
scher Seite von Adenauer und all den anderen Europäern,






(C)



(D)



(A)



(B)


statt auf das Prinzip des Gleichgewichts der Mächte zu
setzen, das zu der Katastrophe von zwei Weltkriegen und
zur Selbstzerstörung Europas geführt hat, in Europa ein
neues Prinzip zu kreieren und durchzusetzen, also auf das
Europa der Integration zu setzen. Dies führte zum Zu-
sammenführen der materiellen Interessen mit dem Fern-
ziel der Vollendung der europäischen Integration und der
Schaffung eines wie auch immer gestalteten einheitlichen
Europas.

Von der Erarbeitung dieser Idee ging es im Laufe der
Zeit über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hin
zur Gemeinsamen Schlussakte, schließlich zur Europä-
ischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion.
Nur, dies hatte einen Nachteil: Erzwungen durch die Tei-
lung Europas und auch Deutschlands war diese Idee im-
mer nur in Westeuropa zu Hause. Die Ost- und Mitteleu-
ropäer konnten sich nicht daran beteiligen; sie waren
durch den Eisernen Vorhang von diesem Projekt getrennt.

Die Tatsache, dass 1989/1990 Mauer und Stacheldraht
gefallen sind, führte dazu, dass wir jetzt vor der histori-
schen Notwendigkeit der Erweiterung stehen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Die muss dann auch kommen!)


Diese Erweiterung ist beim Europäischen Rat in Helsinki
beschlossen worden. Insofern ist die Position, die besagt,
dass es über die Dimension, über die Außengrenzen der
Union Unklarheiten gebe, nicht richtig. Diese Frage ist
durch die Beschlüsse von Helsinki definiert worden.

Die Verhandlungen mit 12 neuen Kandidaten werden
aufgenommen. Das bedeutet aber in der Konsequenz,
dass sich die Union spätestens jetzt die Frage stellen
muss, wie denn eine Union mit 27 oder gar 30 Mitglied-
staaten funktionieren und stark bleiben kann, sich also
nicht zurückentwickelt zu Handlungsunfähigkeit oder
Stagnation.


(Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


Ich halte die Erweiterung historisch für unverzichtbar. Eu-
ropas Sicherheit darf nicht zwei Prinzipien folgen; das
würde den Integrationsprozess gefährden. Dies zwingt
uns diese Debatte auf.

Es war übrigens mein Kollege Hubert Védrine, der mir
diese Frage zum ersten Mal gestellt hat. Und die Diskus-
sion zwischen uns läuft bereits seit November 1998. Die
Planungsstäbe wurden eingeschaltet, mehr und mehr aber
auch die Minister selbst.

Ein bilateraler Besuch von mir in Portugal hat schließ-
lich dazu geführt, dass die Präsidentschaft diese Diskus-
sion zum ersten Mal auch beim Informellen Rat auf den
Azoren im Kreise der Kollegen eröffnet hat. Das war eine
hervorragende Diskussion, in der genau diese Themen
besprochen wurden. All das, was dort zusammengeflos-
sen ist, wurde mit der französischen Seite auf der Ebene
der Außenminister und der Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter seit November 1998 intensivst diskutiert, ohne dass
eine Harmonisierung unserer Positionen stattgefunden
hat.

Aber man kann doch auch beim besten Willen nicht er-
warten, dass bereits zu Beginn einer Debatte über eine
solch entscheidende Frage, über die Frage, wie eine
Union mit 30 Mitgliedstaaten als politisches Subjekt
funktionieren kann, fertige Konzepte vorliegen werden.
Zunächst muss die Debatte beginnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich muss mich auch beim Kollegen Lamers bedanken;
denn er hat mich anlässlich eines Abendessens vor vielen
Monaten auf einen ganz entscheidenden Punkt gebracht.
Er hat insistiert und die Notwendigkeit angesprochen,
dass die Erweiterung nicht zu einem Erlahmen des Inte-
grationsprozesses führen darf. Ansonsten nämlich wäre
die Erweiterung selbst gefährdet. Das macht die Schwie-
rigkeit dieses Prozesses aus.

Wir hatten vor etwa drei Wochen mit Jacques Delors
und Richard von Weizsäcker ein Brainstorming, das eben-
falls überaus nützlich und hilfreich war. Und wenn man
noch die Interventionen von Helmut Schmidt und Giscard
d’Estaing und die jetzigen Äußerungen des Kommis-
sionspräsidenten Prodi hinzunimmt, dann wird doch klar,
dass wir angesichts der Herausforderung, eine Union mit
30Mitgliedstaaten funktionsfähig halten zu müssen, nicht
mehr ausschließlich nach der Methode Monnet vorgehen
können.

Ich stimme allen zu, Herr Kollege Hintze, die sagen,
dass wir uns nicht auf die Intergouvernementalisierung,
das heißt: auf die Regierungsarbeit, zurückziehen dürfen,
so wichtig sie auch als Bindeglied sein kann. Es stellt sich
letztendlich die Frage der Vergemeinschaftung. Man muss
allerdings die praktischen Probleme berücksichtigen, die
es schon heute gibt.

Herr Kollege Gehrcke, das ist natürlich ein offener Pro-
zess. Man kommt aber an einen Punkt, wo ein neues Ka-
pitel aufgeschlagen wird. Das heißt im Klartext: In dem
Moment, da sich Teile der Europäischen Union oder die
ganze Union entscheiden, den Schritt zur Vollendung der
Union zu gehen, wird ein Kapitel beendet und ein neues
aufgeschlagen. Das bedeutet Finalität. Meine These ist,
dass wir uns in den praktischen Problemen festlaufen wer-
den, wenn wir die Finalitätsdebatte heute nicht beginnen,
weil wir als Europäer, als überzeugte Integrationisten an-
gesichts dieser historischen Herausforderung kneifen
werden. Und diesen Prozess habe ich mit meiner Rede
versucht anzustoßen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Eu-
ropäer – ich lege das jetzt bewusst überparteilich an,
weil sich dies nicht an Parteigrenzen festmacht – versu-
chen müssen, die rationalen Gründe, die hinter der Euro-
Skepsis stecken, zu berücksichtigen. Ganz entscheidend
sind in diesem Zusammenhang – das halte ich für ratio-
nal – die Intransparenz – so erscheint es den Bürgern – des
europäischen Institutionen- und Entscheidungsgeflech-
tes, die Angst, etwas zu verlieren, was man kennt, wo
man sich zu Hause fühlt, was auch den Charakter einer




Bundesminister Joseph Fischer
9980


(C)



(D)



(A)



(B)


Schutzgarantie hat, zum Beispiel soziale Schutzgarantie
oder Grundrechtsschutzgarantie, gegenüber Superstruk-
turen, die man nicht durchschaut. Hier hält man an einem
Nationalstaat fest und daraus speist sich meines Erachtens
eine Euro-Skepsis, die man ernst nehmen muss.

Wenn man gleichzeitig aber weiß, dass an einer Voll-
endung der Integration im 21. Jahrhundert – wie schnell
es auch immer gehen mag – kein Weg vorbeiführt, und
wenn man gleichzeitig sieht, dass die Nationalstaaten und
vor allen Dingen die Nationen mit ihrer Geschichte, ihrer
Sprache und ihrer Kultur auf für uns nicht absehbare Zeit
Realität bleiben werden, dann heißt die Aufgabe: Wie
können wir dies in ein europäisches Integrationskonzept
zusammenführen? Wir gehen also weg von einer abstrak-
ten bundesstaatlichen Konstruktion und hin zu einer
vollen Übertragung der Kernsouveränitäten und der Über-
tragung alles dessen, was unverzichtbar europäisch gere-
gelt werden muss, auf die europäische Ebene. Diese
Föderation sollte auf selbstbewussten Gliedern, auf Na-
tionalstaaten, die fortexistieren werden, gründen.


(Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] begibt sich zum Präsidium)


Schauen Sie, das war mein Problem mit der Aktuellen
Stunde. Ich wollte hier meine Position erläutern. Dann
kommt der Parlamentarische Geschäftsführer der F.D.P.-
Fraktion und sagt – formal zu Recht übrigens –, dass ich
meine Redezeit überschritten hätte.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Weit überschritten!)

Ich kann meine Position aber nicht in den vorgesehenen
acht Minuten darlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Hätten Sie es gleich hier gemacht!)


– Wenn Sie die Kritik vorbringen, ich hätte es hier machen
sollen, dann können Sie mir jetzt doch nicht sagen: Er re-
det aber länger als acht Minuten!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sonst muss ich ähnliche Schlagworte produzieren wie an-
dere hier. Ich glaube, damit wäre der Sache nicht gedient.
Ich würde das gern zu Ende bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der entscheidende Punkt, Kollege Hintze, ist für mich
nicht die Kritik an den Europa-Abgeordneten. Ich weiß,
was sie leisten, wie schwer es ist, was sie tun, und dass es
teilweise hervorragend ist, was sie leisten. Vielmehr zielt
meine Kritik auf die Institution – ich habe mich in dieser
Frage auch bei anderen Kollegen erkundigt –: Die Anbin-
dung dieses Parlaments an die politische Realität, an die
Menschen im Land ist völlig unzureichend.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist keine Schuld des Parlaments; damit Sie mich hier
nicht missverstehen. Dieses Problem geht zurück auf die
von den Sprachen und den Kulturen gezogenen Grenzen.
Die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie

bringt man die politischen Eliten, die von den Bürgerin-
nen und Bürgern aller Parteien identifiziert werden, in die
Verantwortung für dieses Europa? Es wird nicht funk-
tionieren, wenn man hier eine abstrakte Trennung vor-
nimmt. Es gibt unterschiedliche Optionen; ich habe sie er-
wähnt. Eine haben Sie angesprochen.

Ich bin der festen Überzeugung: Wir, die wir jetzt diese
Debatte führen, müssten sie auch beispielsweise mit der
französischen Seite und mit Partnern aus allen Mitglieds-
ländern führen. Es sollte eine Debatte zwischen politi-
schen Eliten sein, die in ihren jeweiligen Ländern Verant-
wortung tragen. Das Ziel sollte sein, das zusammenzufü-
gen.

Wir werden nie ein einheitliches europäisches Staats-
volk, sondern immer nur Staatsvölker haben. Das ist der
große Unterschied zu den USA. Das liegt daran, dass Eu-
ropa ein sehr geschichtsträchtiger Kontinent mit unter-
schiedlichen Sprachen und Kulturen ist. Deswegen habe
ich an die Konstruktion mit den zwei Kammern gedacht.
Wenn jemandem etwas Besseres einfällt, um das Problem
zu lösen, wäre ich dafür offen. Mich interessiert die prak-
tische Lösung und nicht eine sozusagen nur theoretische
Positionierung. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber
in Abwägung aller Faktoren komme ich zu keinem ande-
ren Vorschlag.

Gestatten Sie mir, dass ich das Folgende auch noch
kurz anspreche. Diese europäische Föderation wäre eine
schlanke Föderation, die sich auf die Kernsouveränitäten
und auf das unbedingt europäisch Notwendige konzen-
trieren würde. Gleichzeitig würde es eine Souveränitäts-
teilung mit fortexistierenden Nationalstaaten geben. Die-
ses müsste in einem Verfassungsvertrag definiert werden.
Das wäre dann die Subsidiarität als Verfassungswirklich-
keit, wie sie etwa auch der Realität unserer Verfassung
entspricht.

Wie kann der Weg dorthin aussehen? Der erste Schritt
ist die verstärkte Zusammenarbeit. Das ist der entschei-
dende Punkt, an dem diese perspektivische Debatte Aus-
wirkungen auf die Regierungskonferenz haben wird. Zu
dem Treffen mit dem französischen Präsidenten, dem Pre-
mierminister und dem Außenminister wollen der Bundes-
kanzler und ich nachher aufbrechen. Das wird dort sicher
auch eine Rolle spielen. Unser Ziel ist es, dass die
Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft
praktisch ein Erfolg wird. Das ist der entscheidende
Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Um das geht es!)


Gleichzeitig wird dieser Erfolg einen weiteren Schritt
erforderlich machen. Ein Bindeglied wird dabei die ver-
stärkte Zusammenarbeit und die Diskussion darüber, wie
sie formal und inhaltlich ausgestaltet wird, sein. Dieser
Punkt wird auch über die nächste Regierungskonferenz
hinaus von Bedeutung sein.

Ich bin der Meinung, dass sich über kurz oder lang die
Frage stellen wird, ob Einzelne vorangehen sollen.




Bundesminister Joseph Fischer

9981


(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Überzeugung ist: Einzelne werden in der Diskus-
sion vorangehen. Wenn dann allerdings die Europäer mer-
ken, dass es ernst wird, wie etwa im Zusammenhang mit
der Wirtschafts- und Währungsunion, werden viele nach-
ziehen. Das heißt, das Avantgardemodell – ich kann dem
Kollegen Lamers nur Recht geben, er hat das in den Me-
dien geäußert – wird ein Movens sein.

Aber angesichts der Erfahrungen mit der Wirtschafts-
und Währungsunion glaube ich, ehrlich gesagt, bezüglich
der praktischen Perspektive nicht mehr, dass ein solcher
Kern entstehen wird. Ich glaube eher, dass sich viele der
heutigen Mitglieder dafür entscheiden werden. Sie muss
dabei offen bleiben für die neuen Mitglieder – auch das
muss völlig klar sein –, sie darf nicht exklusiv, sondern
muss inklusiv sein.

Es führt kein direkter Weg von der verstärkten Zusam-
menarbeit in die Föderation, in den Verfassungsvertrag, in
die Souveränitätsteilung, sondern das wird eines Tages
ein politisch notwendiger Sprung sein. Er wird noch viele
Diskussionen erfordern. Das ist auch die Position des
Außenministers Joschka Fischer. Ich würde mich freuen,
Herr Westerwelle, wenn Sie das so ähnlich sähen. Ich
harre Ihrer Unterstützung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410611800
Sie haben es si-
cherlich gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab
hier vorne einige Debatten. Ich will Sie nun über den
Sachverhalt aufklären. Normalerweise hat die Bundesre-
gierung in einer Aktuellen Stunde ein Rederecht von zehn
Minuten. Wenn sie darüber hinaus redet, tritt § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung in Kraft, wenn das eine Fraktion
beantragt. Das hat soeben die F.D.P. getan, das heißt, es
wird im Anschluss an diese Aktuelle Stunde noch eine
Debatte über diesen Punkt geben. Damit verlängert sich
die Debattenzeit über diesen Punkt.

Es ist aber nicht richtig, Herr Kollege Koppelin – das
möchte ich Ihnen jetzt sagen –, dass Sie die Präsidentin
zwingen können, etwas vorzunehmen. Ich halte mich ge-
nau an die Geschäftsordnung. Sie erwerben nur Rechte.
Ich habe nicht die Möglichkeit, den Außenminister zu
zwingen, seine Rede zu unterbrechen. Das darf ich näm-
lich laut Geschäftsordnung nicht.

Ich glaube, wir haben das jetzt korrekt festgestellt. Im
Übrigen ist das kein Fall, der heute zum ersten Mal auf-
tritt, sondern er ist bereits bei vielen Regierungsreden in
der Vergangenheit vorgekommen.

Da es in der Aktuellen Stunde keine persönlichen Er-
klärungen gibt, rufe ich als nächsten Redner den Kollegen
Karl Lamers auf.


Karl Lamers (CDU):
Rede ID: ID1410611900
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben bislang
eine bemerkenswerte und gute Debatte geführt.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir sollten jetzt nicht in einen Streit über die Geschäfts-
ordnung eintreten, zumal sonst die Gefahr besteht, dass
wir uns nachher wieder verwässern und nicht der Sache
angemessen debattieren.

Herr Minister, Sie haben zweifelsfrei das Verdienst, die
bislang äußerst enge, ja gefährlich enge, fast beengte und
dahinmarodierende Debatte über Europa wieder ange-
stoßen und ihr – so hoffe ich – eine Perspektive gegeben
zu haben, die der Herausforderung, vor der Europa steht,
angemessen ist. Wenn Ihnen das endgültig gelungen sein
sollte – das hängt nicht nur von uns ab –, dann haben Sie
sich ein großes Verdienst erworben. Ich bin der Letzte, der
nicht bereit wäre, das anzuerkennen.

Sie haben gesagt, wir brauchen angesichts der Oster-
weiterung nicht nur ein vertieftes Nachdenken über Eu-
ropa, sondern auch Antworten auf eine Herausforderung,
die, gemessen an den bisherigen Herausforderungen,
neuer Natur ist. Nun muss ich allerdings ein kritisches
Wort sagen: Das ist schon seit einiger Zeit bekannt, lieber
Herr Fischer, und Wolfgang Schäuble und ich haben 1994
aus genau diesem Grund erwähnt, dass wir mit Blick auf
die Erweiterung, die wir alle in diesem Haus genauso wol-
len wie Sie, eine Lösung für Europa brauchen, das viel
differenzierter sein wird, als es sich uns jetzt darbietet.
Wir brauchen differenzierte Formen der Mitgliedschaft.
Die Frage ist: Sind sie temporär oder dauerhaft und be-
finden sie sich im institutionellen Rahmen oder außerhalb
desselben?

Sie haben uns – das bedaure ich – in Ihrer Rede unter-
stellt, wir hätten eine dauerhafte Differenzierung gewollt,
obwohl das Papier nun wirklich vollkommen eindeutig
ist. Damals haben unsere französischen Freunde zu unse-
rem großen Bedauern unseren Vorschlag diskreditiert,
weil sie nicht antworten, sondern ausweichen wollten. Sie
haben das getan, indem sie behaupteten, wir wollten die
anderen dauerhaft ausschließen, obwohl es in Wirklich-
keit – das kann ich Ihnen unter vier Augen erzählen – pro-
minente Franzosen gab, die genau das wollten. Es ist so
gewesen, glauben Sie es mir. Sie sollten dies nicht wie-
derholen. Ich sage das nur deswegen – es ist mir fast zu
dumm, dies zu sagen –, weil ich meine, dass wir klar fest-
stellen müssen, wo wir einer Meinung sind und wo wir
unterschiedlicher Meinung sind. In diesem Punkt sind wir
ganz klar einer Meinung. Damit will ich es bewenden las-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite ist: Einen Verfassungsvertrag haben
Wolfgang Schäuble und ich vor ziemlich genau einem
Jahr auch vorgeschlagen. Unser Vorschlag hat viel weni-
ger Furore gemacht, aber wir haben ihn gemacht. Ich
freue mich, dass Sie auch hier sagen: Das ist ebenfalls
meine Meinung. – Auch Edmund Stoiber hat die Mög-
lichkeit eines Verfassungsvertrages ausdrücklich aner-
kannt. Dieser hat im Kern die Frage zu beantworten: Wer
macht was, und zwar sowohl auf der jeweiligen Ebene als
auch zwischen den Ebenen? Dies haben Sie sich zu Eigen
gemacht.




Bundesminister Joseph Fischer
9982


(C)



(D)



(A)



(B)


Man kann eigentlich auch nicht anders denken, vor al-
len Dingen dann nicht, wenn man wie Sie zu Recht sagt:
Wir brauchen eine Teilung der Souveränitäten und die Na-
tionalstaaten werden nicht einfach aufgelöst. Dies ist übri-
gens ein Thema, über das wir noch nachdenken müssen.
Es geht nicht nur um den Nationalstaat, sondern auch um
die Nation. Wenngleich beides nicht ganz voneinander zu
trennen ist, sind es doch zwei verschiedene Dinge.

Ich sage dies auch deswegen, lieber Herr Fischer, weil
ich Ihre soeben zum Ausdruck gebrachte Meinung über
den europäischen Souverän – so will ich dies einmal nen-
nen – nicht ganz teile. Natürlich wird es kein europäisches
Volk geben, wie es heute die nationalen Völker, die Na-
tionen gibt. Aber schon heute haben wir ein europäisches
Bewusstsein. Jedenfalls entwickelt sich eine Gemein-
schaft, die sich ihrer selbst bewusst ist.

Übrigens können wir nur dann wählen, wenn wir sie
bekommen. Das Europäische Parlament ist in mancher
Hinsicht ein Vorgriff auf diesen sich entwickelnden euro-
päischen Demos. Aber wenn wir daran nicht glauben,
sieht es sehr schlecht um die Zukunft der Demokratie in
Europa aus und wir wollen ja nicht nur ein starkes und ef-
fizientes, sondern – wir müssen dies auch wollen – ein de-
mokratisches Europa, damit es von den Bürgern aner-
kannt wird.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Chancen sagen.
Sie werden sicher gelesen haben, was Alain Juppé, der
neuerdings Berater des französischen Präsidenten für die
Fragen der institutionellen Reformen ist und der ohne je-
den Zweifel – ich sage es vorsichtig – einer der Eu-
ropäischsten in dem uns nahe stehenden Lager, ein über-
zeugter Europäer ist, gesagt hat: Wir müssen die Frage
„Wer macht was?“ beantworten. Nun will ich dies nicht
für mich beanspruchen, aber Alain Juppé und ich haben
über diese Frage sehr eingehend gesprochen. Ich kann Ih-
nen nur versichern: Dies ist nicht nur so dahingesagt. Er
hat klar erkannt, dass wir in diese Richtung gehen müs-
sen.

Wenn es ihm gelingt, mit Frankreich – von dem Sie zu
Recht gesagt haben, dass wir es für jeden europäischen
Fortschritt brauchen – einen „accord“ zu finden, habenwir
eine Chance, diese Regierungskonferenz so zu beenden,
dass sie sicherstellt – was Sie meiner Meinung nach zu
Recht in unserem persönlichen Gespräch zitiert haben –,
dass der europäische Einigungsprozess, dass das politi-
sche Projekt Europa auch nach dieser Erweiterung wei-
tergeht. Dies liegt nicht nur im Interesse der heutigen Mit-
glieder, sondern gerade auch im Interesse der zukünftigen
Mitglieder, die zu überzeugen allerdings unsere gemein-
same und nicht ganz leichte Aufgabe sein wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612000
Das Wort hat
jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1410612100
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Lamers,
ich finde das, was Sie gerade gesagt haben, sehr beden-
kenswert. Ich möchte daran anknüpfen. Was uns in Eu-
ropa fehlt – das haben Sie gerade deutlich gesagt –, ist so
etwas wie die Grundlage des europäischen Souveräns und
die Beantwortung der Frage, wer das denn sei. In den Na-
tionalstaaten haben wir diesen Souverän sehr wohl. Ge-
nau dies ist der Grundgedanke, den Joschka Fischer in den
Mittelpunkt seiner Rede gestellt hat und an den er an-
knüpft.

Jetzt befinden wir uns in einem Staatenverbund oder –
wie die Politikwissenschaftler dazu sagen – in einer Mehr-
ebenenpolitik, was dies auch immer sei.Gerade in dieser
Mehrebenenpolitik sind wir in einem ungeahnten Maße
effizient, ob Sie als Beispiel den Euro, das Schengener
Abkommen oder andere Absprachen, die auf der regula-
torischen Basis festgehalten worden sind, nehmen. Wir
haben dabei ein ungeheures Ausmaß an technischer Effi-
zienz.

Was aber fehlt – das hat Kollege Lamers eben ange-
sprochen –, ist die Antwort auf die Frage nach der Legiti-
mation mit dem Blick auf das, was künftig geschehen soll.
Das Ganze hat sich jetzt mittlerweile fast bis an den Rand
jener Möglichkeiten der technischen Effizienz entwickelt.
Aber was kommt danach? Was soll perspektivisch aus
diesem Europa werden, wenn die bisherigen Grenzen der
westeuropäischen Integration fast erreicht sind? Das ist
genau das Problem, nämlich die Legitimationsbasis für
politisches Handeln. Sie konnte bei dem alten National-
staat, der noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, aber
an dessen Fundamenten der Legitimation es ja Probleme
gibt, leicht beschrieben werden. Wie kann eine neue Le-
gitimation für das, was jetzt kommen wird – einerseits die
Erweiterung, die wir alle wollen, und andererseits aber
eben auch das, was als Legitimation formuliert werden
muss –, gefunden werden? Solange wir leben werden und
die, die hier im Plenum sind, ihre Politik machen werden,
wird es kein europäisches Volk als Legitimationsbasis für
das politische Handeln geben. Das ist wohl ziemlich si-
cher.

Norbert Elias sagt, was für politische Legitimation
nötig sei, sei eine Wir-Identität. Diese Wir-Identität ist erst
in Anfängen erkennbar. Insofern – davon müssen wir aus-
gehen –: Solange wir mittelfristig Politik machen und
Konzeptionen entwickeln, können wir diesen neuen Legi-
timationsbedarf durch den alten Gedanken des Souveräns
nicht decken.

Wie soll dieser Bedarf, der für die Demokratie unver-
zichtbar ist – damit ich hier nicht missverstanden wer-
de –, gedeckt werden? Ich will nicht darüber reden, dass
wir in der zukünftigen Entwicklung auf eine Legitimation
verzichten möchten. Es ist sozusagen die Konstituente je-
der demokratischen Politik, dass sie auf einen fundamen-
talen Legitimationsbedarf bezogen sein muss. Wie kann
denn dieser Bedarf jetzt gedeckt werden?

Wenn Sie sich das, was der Citoyen Joschka
Fischer dazu gesagt hat, einmal anschauen, dann wissen
Sie meiner Meinung nach auch, was die Antwort darauf
ist: Wir brauchen ein zweites Grundelement neben dieser




Karl Lamers

9983


(C)



(D)



(A)



(B)


Idee des Souveräns. Es besteht darin, eine Debatte zu er-
zeugen, Diskurse zu entwickeln. Das ist der zweite Punkt,
auf den es ankommt.

Es könnte doch sein, dass wir in eine Demokratieent-
wicklung hineingehen, die sich anders als bisher versteht,
nämlich als eine Demokratieentfaltung, die die Amerika-
ner deliberative Demokratie nennen.

Wenn Sie einmal lesen, was Jürgen Habermas dazu
schreibt, oder wenn Sie sich die gesamte amerikanische
Debatte, angefangen bei den Kommunitaristen über
Richard Rorty bis zu John Rawls – das müsste ja für Li-
berale ein ganz wichtiger Autor sein –, anschauen, dann
stellen Sie fest, dass der Grundgedanke eine Erweiterung
von Demokratie ist. Aber man kann doch nur dann dieses
Ziel ansteuern, wenn es Impulse gibt, wenn es Menschen
gibt – ob als Außenminister, ob als Staatsbürger –, die
diese Debatte erzeugen. Genau das ist der entscheidende
Punkt: Joschka Fischer erzeugt hier eine Debatte und
kommt genau auf die entscheidenden Punkte, die künftig
in der Entwicklung Europas wichtig sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen bin ich dankbar dafür, dass Joschka
Fischer diese Rede gehalten hat, und ich bin überzeugt da-
von, dass – das zeigt auch unsere Debatte hier – dieser Im-
puls seine Folgen haben wird. Ich hoffe sehr, er wird die
Folge haben, dass nicht nur die Verbindungslinie zwi-
schen Frankreich und Deutschland lebendig ist, die ja als
Kernelement, als Motor dessen, was Integration heißt, den
gesamten Integrationsprozess Europas getragen hat, son-
dern es auch gelingt, diesen Prozess voranzutreiben.

Nehmen Sie den Begriff, den er, wie ich finde, viel-
leicht noch einmal überdenken sollte, nämlich den der Fi-
nalität. Dieser Begriff kommt aus der französischen De-
batte. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt auch deutlich
machen, dass wir einen eigenen Begriff entwickeln könn-
ten. Ich würde viel lieber den Begriff „Zweck“, den
Immanuel Kant benutzt hat, verwenden. Also: Zu wel-
chem Zweck treiben wir diese Integration voran? Zu wel-
chem Zweck nehmen wir die Erweiterung vor?

Der wesentliche Zweck muss in einem dringenden drit-
ten Schritt liegen. Der erste Schritt betraf die Integration
der letzten 50 Jahre. Der zweite Schritt wird die Erweite-
rung sein. Der dritte Schritt muss meiner Meinung nach
ein neuer Gründungsakt für Europa sein. Dieser neue po-
litische Gründungsakt kann die Teilung der Souveränität
sein, was Joseph Fischer sagt, um damit eine neue legiti-
matorische Basis für ein gemeinsames Europa zu schaf-
fen, die zu einem späteren Zeitpunkt den nach uns kom-
menden Politikern eine Perspektive eröffnet, damit Eu-
ropa seine eigene Souveränität als ein gemeinsamer
Souverän wirklich entfalten kann. Insofern ist das, was
Joseph Fischer in Gang gesetzt hat, ein fruchtbarer Pro-
zess, den wir dringend brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.


Klaus Hofbauer (CSU):
Rede ID: ID1410612300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlau-
ben Sie mir, als neues Mitglied des Ausschusses für Eu-
ropaangelegenheiten einige Anmerkungen zu machen.

Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die
Dynamik der Europapolitik erlahmt ist. In der Bevölke-
rung nehmen die Zweifel zu, ob das Ziel erreicht werden
kann, ein modernes, zukunftsorientiertes, vereintes und
demokratisch kontrolliertes Europa zu schaffen. Ich habe
den Eindruck, dass die Bundesregierung für diese nega-
tive Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahren die Ver-
antwortung trägt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Na, na!)


Nehmen wir einmal die Ratspräsidentschaft aus dem
Jahre 1999: Viele Punkte sind halbherzig angegangen
worden. Bei der Osterweiterung wurde zum Beispiel
überhaupt keine finanzielle Sicherung erreicht. Deutsch-
land ist nicht mehr der Motor der europäischen Eini-
gungspolitik.

Deshalb ist es geradezu wohltuend, dass der deutsche
Außenminister zwar nicht in seiner Ministerfunktion,
aber doch als Bürger der Bundesrepublik Vorstellungen
zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses
entwickelt hat, die die Bilanz unseres Bundeskanzlers
Schröder ein bisschen aufbessert, mit dem Ziel, eine en-
gagierte, zukunftsorientierte Politik in Europa zu machen.
Die Rede des Außenministers ist deshalb ein Eingeständ-
nis des Scheiterns der bisherigen Europapolitik der Bun-
desregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Es klatscht nur die CSU!)


Die Handlungsfähigkeit Europas muss gesichert wer-
den. Die Gefahr der Selbstblockade der Europäischen
Union droht uns. Die Klärung der europäischen Kompe-
tenzzuordnung – dies ist ein entscheidender Punkt – unter
den bestimmenden Gesichtspunkten der Subsidiarität im
Amsterdamer Vertrag duldet keinen weiteren Aufschub.
Es ist bemerkenswert, sehr geehrter Herr Minister, dass
Sie die langjährige Forderung Bayerns nach einer präzi-
sen Kompetenzabgrenzung nicht nur aufgegriffen, son-
dern darüber hinaus zu Recht als Hauptachse des Verfas-
sungsvertrages bezeichnet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen stellen wir die Forderung: Was nicht unbe-

dingt EU-einheitlich geregelt werden muss, hat in natio-
naler Kompetenz zu verbleiben, und zwar unabhängig da-
von, welche Kompetenzen die Kommission inzwischen
an sich gezogen hat. Die elementaren Interessen des Bun-
des und der deutschen Länder müssen gewahrt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die EU-Osterweiterung –

ich wohne unmittelbar an der Grenze zu Tschechien; des-
wegen ist mir die Erweiterung ein Herzensanliegen; wir




Gert Weisskirchen (Wiesloch)

9984


(C)



(D)



(A)



(B)


dürfen nicht nur von der Osterweiterung der EU sprechen,
sondern wir können von der Wiedervereinigung Europas
sprechen – wird scheitern, wenn die Handlungsfähigkeit
der Institutionen nicht sichergestellt werden kann. Für die
Erweiterung der EU muss deshalb der entscheidende
Grundsatz lauten und gelten: Gründlichkeit vor Schnel-
ligkeit.

Die europäische Einigung ist nicht nur eine Abfolge
unzähliger EU-Gipfeltreffen und Regierungskonferen-
zen. Gerade wegen der um sich greifenden Europamüdig-
keit innerhalb der Bevölkerung müssen wir die Menschen
mitnehmen und einbinden. Die positiven Seiten der euro-
päischen Wiedervereinigung müssen den Menschen ver-
mittelt werden. Europa und insbesondere die EU-Ost-
erweiterung müssen in den Köpfen und auch – erlauben
Sie mir diese Bemerkung – in den Herzen der Menschen
verankert werden und eine entscheidende Rolle spielen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Fischer, ist Ihr

vorgeschlagenes System mit einem aus zwei Kammern,
Abgeordneten- und Staatenkammer, bestehenden Europä-
ischen Parlament als Legislative und mit einer europä-
ischen Regierung als Exekutive grundsätzlich der richtige
Weg. Dieser Weg wird zum Beispiel von der Bayerischen
Staatsregierung und auch von unserem Ministerpräsiden-
ten mitgetragen.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Ich bin stolz
darauf, dass insbesondere die Bayerische Staatsregierung
europäische Kompetenz nachweist, dass wir mit Nach-
druck für Europa eintreten und dass die Europapolitik der
Bayerischen Staatsregierung und der CSU insgesamt
geradlinig und ehrlich ist. Bereits im Jahre 1993 ist die
Bayerische Staatsregierung für ein Mehrkammersystem
eingetreten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb, Herr Außenminister, gilt heute ganz besonders:
Nicht nur reden, sondern handeln und das als richtig Er-
kannte in praktische Politik umsetzen!

Dass der amtierende Außenminister als Privatmann
eine Grundsatzrede zur Europapolitik hält, verwirrt uns.
Vermutlich gibt es keine abgestimmte Haltung innerhalb
der Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung der
EU. Es stimmt uns nachdenklich, dass die Bundesregie-
rung zum Teil konzeptionslos in die Europadiskussion
geht.

Deutschland muss sich wieder an die Spitze des euro-
päischen Einigungsprozesses stellen. Nutzen wir die his-
torische Chance der europäischen Wiedervereinigung!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

befinden uns längst in einer großen Debatte, die ur-
sprünglich von der F.D.P.-Fraktion so nicht beantragt
worden ist, die aber von ihr hätte beantragt werden kön-
nen. Wenn ich mich frage: „Wie ist es dazu gekommen?“
und mir den Titel der Aktuellen Stunde, die Unterschei-
dung zwischen dem Bürger und dem Außenminister
Fischer sowie die Klagen, Herr Fischer müsse doch als
Außenminister für die Bundesregierung sprechen, vor
Augen führe, dann stelle ich fest: Der Außenminister hat
Ihnen, Herr Westerwelle, geradezu eine Lektion in der
Frage „Wie setzt man Themenschwerpunkte?“ erteilt. Er
hat das an einem schönen Beispiel von Herrn Genscher
deutlich gemacht. Ich denke noch immer, dass die von der
Opposition beantragte Debatte ursprünglich in eine an-
dere Richtung zielte. Aber inzwischen dürften wir alle
wohl die Veröffentlichung der Rede von Herrn Fischer im
„Staatsanzeiger“ beantragen. Wir alle schließen uns gerne
dem Lob der F.D.P. an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nachdem ich dies gesagt habe, lasse ich alles, was ich
mir noch sonst an Polemik zurechtgelegt hatte, beiseite
und trenne zwischen dem Abgeordneten Lippelt und der
Fraktion der Grünen; denn das, was ich jetzt sagen werde,
ist mit meiner Fraktion nicht abgestimmt, obwohl ich
glaube, dass die Fraktion meinen Ausführungen guten
Gewissens zustimmen kann.

Wir befinden uns in der inhaltlichen Debatte. Deshalb
sage ich Folgendes: Es gibt einige Punkte, über die wir
weiter diskutieren müssen. Der eine Punkt, mit dem der
Begriff „Finalität“ eng verbunden ist, betrifft die europä-
ischen Grenzen. Dazu sage ich: Es ist ein großes Problem,
wenn zu früh über die endgültigen Grenzen der EU dis-
kutiert wird; denn die EU ist verpflichtet, für einen Trans-
fer von Stabilität in den Raum der ehemaligen Sowjet-
union zu sorgen.

Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine an die Vorstellung,
der EU beizutreten, geradezu klammert, dann muss ich
auf das hinweisen, was der zuständige EU-Kommissar an-
richtet, wenn er der Türkei eine Beitrittsperspektive eröff-
net und der Ukraine nicht. Wir sind letztlich auch für die
Ausgestaltung der ukrainisch-russischen Grenze verant-
wortlich. Darüber nachzudenken ist eine Reaktion auf den
Prozess, in dem wir stehen. Stabilitätstransfer wird bei
Regelungen ähnlich dem Schengener Abkommen nicht
möglich sein.

Der Außenminister hatte einen persönlichen Grund
dafür, zu sagen, dass er erst einmal als Privatmann spricht.
Er hat für das, was er Visionen nennt, Modelle vorgege-
ben: Senat, Bundesrat, Zweikammersystem. Ich denke,
dass – im Ergebnis – die „obere“ Kammer früher oder spä-
ter eine Staatenkammer sein wird, in der die Europäischen
Räte notwendigerweise vertreten sein müssen.

Zur Idee des Doppelmandats möchte ich Folgendes sa-
gen: Ich habe meine größten Bedenken, wenn wir – wie in
den USAoder anderswo – versuchen, uns über ein Unter-
haus mit einer einheitlichen Sprache usw. zu integrieren.
Der entscheidende Ort wird das Europäische Parlament
sein müssen.




Klaus Hofbauer

9985


(C)



(D)



(A)



(B)


Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Die Imagination der
Menschen wird durch nichts – auch nicht durch schöne
und noch so gute Reden – so sehr gefesselt wie durch Aus-
einandersetzungen. Eine, die wir erlebt haben, fand statt,
als das Europäische Parlament die Europäische Kommis-
sion, also seine Regierung, abgesetzt hat. Als das geschah,
wussten alle, was in Europa vor sich geht.

Ich bedaure ein bisschen, dass die kurzatmigen Ge-
spräche in der Regierungskonferenz die Frage der Kom-
mission offensichtlich kaum behandeln können. Vor Ab-
schluss des Vertrages von Amsterdam haben die Franzo-
sen einmal von einer Zahl zwischen sieben und zehn
EU-Kommissaren gesprochen. Auf meine Frage an
Giscard d’Estaing, ob das perspektivisch heiße, dass
Frankreich vielleicht einmal keinen Kommissar stelle,
antwortete er mit Ja und sagte, dass das damit verbunden
sein müsse.

Nachdem Prodi zum neuen Präsidenten der EU-Kom-
mission berufen worden war – diese schnelle Einigung
war wirklich ein Erfolg der jetzigen Bundesregierung –,
haben wir, als er seine Kommissare bestimmen wollte, er-
lebt, wo bestimmte Grenzen sind. Es wird ganz wichtig
sein, dass sich die Regierungen an diesem Punkt auf Vor-
schlagslisten zurückziehen und von festen Nennungen ab-
rücken.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612600
Herr Kollege
Lippelt, die Zeit.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612700

Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin.

Der Präsident der Kommission sollte wie ein Regie-
rungschef in der Lage sein, sich ein Kabinett zusammen-
zustellen, das die Mehrheit im neu gewählten Europä-
ischen Parlament repräsentiert.

Meine Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung.
Auch deshalb habe ich als „privater“ Abgeordneter ge-
sprochen. Die Diskussion hatte einen schönen Anfang.
Wir müssen für den Anstoß zu dieser Diskussion und für
die Debattierlust unseres Außenministers dankbar sein.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612800
Herr Kollege
Lippelt, das war doch so ein schöner Schlusspunkt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410612900

Man kann den Gesprächen in Rambouillet nur den Erfolg
einer deutsch-französischen Initiative wünschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410613000
Meine Auffor-
derung an Sie war nur ein Vorschlag. – Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Friedbert Pflüger.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1410613100
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dass
die Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Univer-

sität eine gute und wichtige Rede gewesen ist. Es war eine
Rede, die nach anderthalb Jahren der manchmal etwas
kurzatmigen Politik, dem nationalen Schacher, der in Eu-
ropa in den letzten Monaten vorgeherrscht hat, endlich
eine Perspektive, eine Vision entgegensetzt. Insofern
halte ich den Ansatz Ihrer Kritik, Herr Kollege
Haussmann, für nicht ganz richtig. Wir haben uns doch
immer die Diskussion um Visionen und Ziele gewünscht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Dann hätten wir es doch gleich im Parlament machen können!)


Im Übrigen können wir angesichts der Ausführungen
nicht nur von der F.D.P., sondern von fast allen Seiten des
Hauses mit viel Stolz sagen, dass wir auch jetzt noch ei-
nen relativ starken Konsens über Europa haben. Das soll-
ten wir an dieser Stelle einmal deutlich machen.


(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Die Rede von Herrn Fischer birgt viele Konsensmög-
lichkeiten auch für die Zukunft in sich. Unser Land fährt
doch niemals besser, als wenn wir mit unseren europä-
ischen Partnern und in der Welt untereinander einig sind.
Dass es trotzdem einige kritische Punkte gibt, braucht
dann niemanden zu verwundern. Über sie werden wir uns
auseinander setzen; sie sind ebenfalls, wenn ich es richtig
sehe, fraktionsübergreifend angesprochen worden.

Einig sind wir erstens darin – ich fand es gut, dass die
Bundesregierung das eigentlich zum ersten Mal deutlich
gemacht hat –, dass das Ziel der Osterweiterung als einer
historischen Notwendigkeit, die in unserem Interesse
liegt, wirklich glaubwürdig herübergekommen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens ist in dieser Rede herübergekommen, dass es

wichtig ist, wenn wir Europa gestalten wollen, zwischen
Kernkompetenzen, die wir nach Europa geben, und den
übrigen Kompetenzen, die wir auf der nationalstaatlichen
bzw. regionalen Ebene belassen, zu unterscheiden und das
in einem Verfassungsvertrag niederzulegen. Darüber be-
stand absoluter Konsens, wenn ich das richtig sehe.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der ei-

nen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, ein
Gravitationszentrum oder einen Kern brauchen. Das ist
nichts Neues; das ist auch schon mehrfach gesagt worden.
Mit dem Euro oder dem Abkommen von Schengen haben
wir so etwas schon. Aber dass dieser Kern verstärkt wer-
den muss, wenn sich die EU erweitert, wird – das glaube
ich herausgehört zu haben – niemand wirklich infrage
stellen.

Jetzt stellen sich aber doch auch ein paar kritische Fra-
gen. Ich halte Herrn Fischers Bewertung der Möglichkei-
ten und Chancen der Supranationalität für zu pessimis-
tisch. Gerade wenn wir an Monnet erinnern, müssen wir




Dr. Helmut Lippelt
9986


(C)



(D)



(A)



(B)


doch feststellen, dass die Supranationalität – die Ver-
flechtung der Ideen der Zusammenarbeit, zum Beispiel
die Schaffung einer Kommission und eines Parlaments
auf europäischer Ebene – der eigentliche Integrationsfort-
schritt war, der überhaupt erst Frieden auf diesem Konti-
nent geschaffen und dafür gesorgt hat, dass wir nicht mehr
gegeneinander Kriege führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Hier ist Herr Fischer zu pessimistisch, indem er jetzt all
das, was sich zukünftig tun soll, auf die intergouverne-
mentale Ebene, also auf die Ebene zwischen den Regie-
rungen, abschiebt. Das macht mich besorgt, denn er fängt
dabei schon mit dem Europäischen Parlament an. Natür-
lich muss man kritisieren, dass das Europäische Parla-
ment nicht so demokratisch und bürgernah ist, wie wir es
uns wünschen, dass es über viele parlamentarische Mög-
lichkeiten nicht verfügt und dass unsere nationalen Eliten
sich oftmals nicht hineinwählen lassen. Wir haben sehr
gute Europaparlamentarier; aber es könnte noch besser
sein. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, es
sei klug, ein Doppelmandat zu schaffen und das Europa-
parlament, das die Supranationalität mit am besten ver-
körpert und eine der größten Errungenschaften des verge-
meinschafteten europäischen Ansatzes ist, dadurch zu er-
setzen, dass nur noch nationale Delegierte nach Brüssel
geschickt werden, die dort dann immer einmal auf einer
Konferenz zusammensitzen. So würden weder die Kon-
trollkompetenzen noch die Gesetzgebung und erst recht
nicht die Demokratie gestärkt. Ich glaube, dies ist der
größte Irrtum der ganzen Rede von Herrn Fischer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Überhaupt muss man sich fragen, ob das Schaffen von
verschiedenen Avantgarden außerhalb der EU-Verträge
nicht letztlich auch die große Gefahr einer Erosion in sich
birgt, die Gefahr, dass wir europäische Identität verlieren.
Es könnte eine Art Europa à la carte werden: Jeder pickt
sich die Form der Zusammenarbeit heraus, die er gerade
gerne hätte. Ich glaube nicht, dass dies der Minister in-
tendierte. Aber die Gefahr ist da, wenn man sozusagen
alle zukünftigen Avantgardechancen eines Kerns, der
weiter voranschreitet, auf der Ebene der zwischenstaatli-
chen Zusammenarbeit und nicht mehr in den Gemein-
schaftsinstitutionen und dem Gemeinschaftshaushalt an-
siedelt. Das ist die Gefahr dieser Rede, meine Damen und
Herren.

Dann muss man sich fragen, was eigentlich die Mittel-
und Osteuropäer dazu sagen. Ich finde, dass das das
Schwierigste ist. Sie geben sich eine ungeheure Mühe, re-
formieren ihre Staaten, nehmen Arbeitslosigkeit in Kauf,
um einen unglaublichen Fortschritt zu machen, und be-
kommen dann von Herrn Fischer quasi gesagt: Wenn ihr
nach all diesen Anstrengungen letztlich in der Lage seid,
in das europäische Mietshaus einzuziehen, dann sind ein
paar bereits in die europäische Villa eingezogen; ihr seid
sozusagen Mieter zweiter Klasse. Damit entmutigt man
diese Länder. Dem muss man mit allen Mitteln entgegen-
wirken. Das sollten wir alle miteinander tun.

Deshalb ist unbeschadet von allem Positivem, was sich
in dieser Rede findet, festzuhalten, dass es fatal wäre,
wenn in Mittel- und Osteuropa der Eindruck entstünde,
als wären mit dieser Rede Formen von Abwehr und Isolie-
rung verbunden. Es wäre fatal, wenn wir das, was Herr
Fischer als die Methode Monnet bezeichnet, links liegen
lassen würden. Wir sollten ihn alle miteinander ein wenig
erziehen, damit aus dem guten Kern der Rede etwas wirk-
lich Vernünftiges für uns alle entwickelt wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410613200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1410613300
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich glaube, der Beitrag von Herrn
Pflüger hat gerade gezeigt, dass wir uns in der Diskussion
jetzt auf dem richtigen Weg befinden. Es wurde deutlich,
dass die Rede des Außenministers, in welcher Eigenschaft
er sie letztlich auch immer gehalten hat, längst überfällig
war.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Er hätte sie gleich hier halten sollen! Das wäre das Richtige gewesen!)


– Herr Haussmann, bei jedem Wortbeitrag sagen Sie, er
hätte sie gleich hier halten sollen. Ich kann es verstehen,
dass man vielleicht ein wenig beleidigt ist, weil man bei
der Rede in der Humboldt-Universität nicht dabei war und
über sie in der Presse lesen musste. Es macht sich natür-
lich auch gut, wenn die erstarkten Liberalen jetzt zu so ei-
nem wichtigen außenpolitischen Thema eine Aktuelle
Stunde beantragen. Das kann ich verstehen. Ich kann mir
in dem Zusammenhang aber auch nicht die Bemerkung
verkneifen, dass die Beiträge von Herrn Lamers oder von
Herrn Pflüger außenpolitisch viel konkreter waren als das,
was ich von Ihnen und Herrn Westerwelle gehört habe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich, wenn Sie

schon eine Aktuelle Stunde hierzu beantragen, an die
große Tradition liberaler Außenminister angeknüpft hät-
ten. Diese Chance haben Sie vertan. Sie haben sich in
Erbsenzählerei ergangen, wann wer was in welcher Funk-
tion gesagt hat und ob das alles so richtig war. Sie haben
hier eine Chance verpasst Aber das ist nicht mein, sondern
Ihr Problem.


(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das mache ich an der Humboldt-Uni! Da hebe ich dann zu einer solchen Rede an!)


– Lassen Sie sich da auch einmal einladen, die nehmen Sie
bestimmt auch.


(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das ist schon einmal vorgekommen! Ich war schon einmal an der Humboldt-Uni!)


– Gut, sehr schön.




Dr. Friedbert Pflüger

9987


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich möchte die derzeitige konstruktive Diskussion fort-
führen und auf das eingehen, was Herr Pflüger gesagt hat.
Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, dass die In-
teressen, die Gefühlslage und die Geschichte unserer
osteuropäischen Nachbarn sehr ernst zu nehmen sind. Ich
glaube, dass es uns als Europapolitikerinnen und Europa-
politiker auszeichnen würde, wenn wir auf der Grundlage
der Rede des Außenministers weiterdiskutieren und das,
was er angestoßen hat, weiterentwickeln würden, nämlich
wie ein Gravitationszentrum aussehen kann, das nicht zu
einem Europa à la carte und nicht zur Rosinenpickerei
führt, und wie man deutlich machen kann, dass es eigent-
lich im Interesse eines funktionierenden Gravitationszen-
trums sein müsste, dass auch neue Mitglieder der Europä-
ischen Union möglichst schnell in dieses Zentrum vor-
stoßen.

Anhand der Reaktionen, insbesondere auch anhand der
Äußerungen des polnischen Außenministers, können wir
feststellen, dass man in diesen Ländern zwar verunsichert
ist, weil man nicht weiß, wohin die Reise führt, aber
durchaus auch offen dafür ist, darüber nachzudenken und
sich in die Verhandlungen einzubringen, wie die Union so
weiterentwickelt werden kann, dass am Ende alle, die
wollen, die Chance haben, an diesem Beschleunigungs-
prozess teilzunehmen und in dieses Gravitationsfeld hin-
einzukommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich unterstrei-
chen, dass der Außenminister in seiner Rede betont hat,
dass dieses Gravitationszentrum wirklich für alle ein Ma-
gnet sein soll, der sie förmlich anzieht, sich dort einzu-
bringen. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und zu über-
legen, wie wir als Parlamentarierinnen und Parlamenta-
rier die Regierung dabei unterstützen können, dies
umzusetzen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns
immer wieder und auch in der heutigen Debatte klar ma-
chen müssen.

Wichtig ist auch, dass man zwischen langfristigen Per-
spektiven, mutigen Visionen und dem, was man so schön
das Tagesgeschäft nennt, unterscheidet. Wir müssen auf-
passen, dass die jetzige Rede des Außenministers nicht
zum Anlass genommen wird, zum Beispiel den Forde-
rungskatalog für die Regierungskonferenz zu überziehen
bzw. aufzublähen. Das würde wiederum die Gefahr mit
sich bringen, dass wir durch unsere überzogenen Forde-
rungen am Ende weniger erreichen, als wenn wir ge-
schickt und auf bestimmte Fragen konzentriert verhan-
deln würden. Auch in diesem Punkt müssen wir also ab-
wägen.

Zum Schluss ist gesagt worden – auch das kann ich un-
terstreichen –, dass den Worten des Außenministers im-
mer Taten folgen müssen. Ich glaube, das gilt nicht nur für
den Außenminister und die Regierungsmitglieder, son-
dern für uns alle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen so sensibel über Europa diskutieren, dass

das Thema für die Bürgerinnen und Bürger interessant ist
und sie nicht abgeschreckt werden. In unseren Diskussio-

nen dürfen wir nicht immer nur die Risiken, die ein sol-
cher dynamischer Prozess mit sich bringt, in den Vorder-
grund stellen – damit verunsichern wir die Bürger –, son-
dern wir müssen die Chancen herausarbeiten. Auch darin
liegt eine große Verantwortung für uns alle.

Auch wenn es eben schon angesprochen worden ist,
möchte ich Ihnen sagen: Hören wir auf die Unterüber-
schrift des Artikels des ehemaligen Außenministers Gen-
scher! Diese lautet: „Folgt Fischer“. Lasst uns in diesem
Sinn konstruktiv diskutieren!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410613400
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.

Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen
Koppelin.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1410613500
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach § 44 Abs. 3 der Ge-
schäftsordnung könnte die F.D.P. eine zusätzliche Debatte
beantragen, da der Bundesaußenminister seine Redezeit
weit überzogen hat.

Es war richtig und gut, dass wir diese Aktuelle Stunde
beantragt haben, da der Bundesaußenminister zum ersten
Mal zu seiner Rede an der Humboldt-Universität in Ber-
lin in diesem Parlament Stellung nehmen konnte und wir
darüber diskutieren konnten. Wir sind dankbar für diese
Diskussion. Die F.D.P. ist der Auffassung, dass dieses
Thema weiter auf der Tagesordnung bleiben muss.

Der Bundesaußenminister hat uns davon unterrichtet,
dass er einen wichtigen Termin hat. Er hat deshalb vor-
zeitig die Debatte verlassen müssen. Wir akzeptieren das.


(Susanne Kastner [SPD]: Der Punkt wurde verspätet aufgerufen! Dadurch hat sich alles verzögert!)


– Frau Kollegin, der Herr Bundesaußenminister hat uns
darüber informiert, dass er einen Termin hat und deshalb
die Debatte vorzeitig verlassen muss. Wir akzeptieren das –
das ist ein Entgegenkommen der Opposition –, weil wir
wissen, welchen Termin er wahrnimmt.

Wir verzichten also auf eine Debatte nach § 44 Abs. 3
der Geschäftsordnung. Das Thema bleibt aber weiter auf
der Tagesordnung.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410613600
Vielen Dank.
Damit sind wir in der Lage, mit der ursprünglich vorgese-
henen Tagesordnung fortzufahren.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Fortentwicklung derAltersteilzeit




Dietmar Nietan
9988


(C)



(D)



(A)



(B)


– Drucksache 14/3158 –

(Erste Beratung 99. Sitzung)


a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/3392 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/3393 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Dr. Christa Luft

Die Abgeordneten Rennebach, Meckelburg, Kolb,
Deligöz und Grehn haben beantragt, ihre Reden zu Proto-
koll geben zu dürfen.*) Ebenso soll die persönliche Er-
klärung der Abgeordneten Hinsken, Feibel und Bleser zu
Protokoll gegeben werden.**) Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent-
wicklung der Altersteilzeit. Der Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/3392, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
– Drucksache 14/3372 –

(f b)

richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Die Integration von Menschen mit Behinderun-
gen ist eine dringliche politische und gesell-
schaftliche Aufgabe

– zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte,
Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege
nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpolitik

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder
chronischen Krankheiten am Leben der Gemein-
schaft, zur deren Gleichstellung und zum Aus-
gleich behinderungsbedingter Nachteile

(Teilhabesicherungsgesetz – ThSG)

– Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913 –
Berichterstattung:
Abg. Silvia Schmidt (Eisleben)


c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht derBundesregierung über die Beschäfti-
gung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst
– Drucksache 14/2415 –

(f ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, Silvia Schmidt Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin GöringEckardt, Volker Beck terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft – Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern – Drucksache 14/3382 – Der Redner der F.D.P., der Kollege Kolb, hat gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*)

mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir
so.

Interfraktionell wurde eine Debattendauer von einer
Stunde vereinbart, wobei die PDS sechs Minuten erhalten
soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9989


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 4
**) Anlage 2 *) Anlage 5

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Abgeordnete Ulrike Mascher.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die sitzt aber auf der Regierungsbank! – Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher begibt sich zu ihrem Abgeordnetenplatz)


– Ich rufe die Abgeordnete Ulrike Mascher auf, die gleich-
zeitig Parlamentarische Staatssekretärin ist.


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1410613700
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wir haben Freitagnachmittag und
vielleicht ist es bisher schon etwas erschöpfend gewesen.

Der Arbeitsminister Walter Riester hat am 2. Dezem-
ber vergangenen Jahres in seiner Rede zum Welttag der
Behinderten folgende Feststellung getroffen:

Schwerbehinderte Menschen ... sind leistungsfähig
und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte.
Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder der
Behinderung angepasst ist, wenn Gebrauch gemacht
wird von den technischen Möglichkeiten, um einen
Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertenge-
recht auszustatten, dann können Schwerbehinderte
die gleiche Leistung erbringen wie Nichtbehinderte.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

An dieser Stelle gab es Beifall im ganzen Haus.

Wir haben also alle gemeinsam die Überzeugung, dass
eine Integration Schwerbehinderter in das Arbeitsleben
möglich ist. Dafür müssen dann aber die Rahmenbedin-
gungen stimmen. Wir brauchen das notwendige Instru-
mentarium zur besseren Eingliederung Schwerbehinder-
ter in das Arbeitsleben. Die Koalition hat in der Koaliti-
onsvereinbarung angekündigt, dieses Instrumentarium zu
schaffen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter löst
dieses Versprechen ein. Es ist das Nahziel dieses Gesetzes,
die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten schon in den
nächsten zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu verrin-
gern.


(Zustimmung bei der SPD)

Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Entwicklung
von 1982 bis 1998 umkehren.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410613800
Frau Staatsse-
kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1410613900
Gerne, Herr Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410614000
Frau Staatssekretärin, es freut
mich, dass Sie das Zitat an den Anfang Ihrer heutigen
Rede gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich
im Anschluss daran sozusagen für die Regierung dafür
entschuldigen, dass der Deutsche Bundestag in der ver-
gangenen Woche ein Gesetz verabschiedet hat, das es
schwerbehinderten Menschen verbietet, Steuerberater zu
werden. Ich möchte einmal Ihre Meinung dazu hören, ob
es eine Chance gibt, dies in sehr kurzer Zeit zu revidieren?


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1410614100
Herr Seifert, ich habe mit
meiner Kollegin, Frau Hendricks, gesprochen, die auch
damals hier geredet hat und mit der Sie bereits eine Dis-
kussion darüber geführt haben. Nach diesem Gespräch
steht fest, dass wir unabhängig von diesem Fall auch in
anderen Berufsgesetzen prüfen werden, inwieweit darin
einschränkende bzw. diskriminierende Regelungen für
Schwerbehinderte enthalten sind. Ich denke, dies ist ein
guter Anlass, um nicht nur in Bezug auf die Steuerberater,
sondern insgesamt in allen Berufsgesetzen, die von ver-
schiedenen Ressorts federführend betreut werden, nach-
zuprüfen, ob sie Regelungen enthalten, die mit Art. 3 Ab-
satz 3 des Grundgesetzes, der die Benachteiligung von
Behinderten verbietet, übereinstimmen. Sie haben dafür
einen wichtigen Anstoß gegeben und wir werden das
überprüfen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich wiederhole: Wir wollen die Entwicklung von 1982
bis 1998 umkehren, die die Erfüllungsquote bei der Be-
schäftigungspflicht von 5,9 Prozent im Jahre 1982 auf
3,8 Prozent im Jahre 1998 hat sinken lassen. Wir wollen
eine Entwicklung umkehren, die die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten von 93 800 im Jahre 1981 auf 188 500
im Jahre 1998 hat ansteigen lassen.

Eine wesentliche Ursache für den seit Jahren rückläu-
figen Anteil Schwerbehinderter an der Zahl der Beschäf-
tigten in den Betrieben und Verwaltungen ist die Gestal-
tung der Ausgleichsabgabe. Diese Abgabe hat ja nicht
nur eine Ausgleichs-, sondern auch eine Antriebsfunktion.
Die Entwicklung der letzten 16 Jahre zeigt, dass die Aus-
gleichsabgabe nicht mehr so gewirkt hat, wie sie sollte.
Deswegen sehen wir eine Neugestaltung zur Erhöhung
der Wirksamkeit des Systems von Beschäftigungspflicht
und Ausgleichsabgabe vor.

Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung Schwerbe-
hinderter bemühen und nur wenig unter der Pflichtquote
liegen, werden mit der Ausgleichsabgabe nicht stärker be-
lastet als bisher. Sie zahlen also weiterhin 200 DM. Ar-
beitgeber hingegen, die ihre Beschäftigungspflicht gröb-
lich verletzen, zum Beispiel überhaupt keinen Schwerbe-
hinderten beschäftigen, haben künftig eine höhere
Ausgleichsabgabe zu zahlen als bisher, bis zu 500 DM
monatlich.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist immer noch zu wenig!)


– Gut, aber es ist doch ein Schritt in die richtige Richtung,
Herr Seifert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen ein gestaffeltes System bei der Ausgleichs-
abgabe. Je höher der Grad der Nichterfüllung, desto höher
die Ausgleichsabgabe. Für Kleinbetriebe ist eine Sonder-
regelung vorgesehen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeits-
plätzen haben nach wie vor 200 DM monatlich zu zahlen,
wenn sie keinen Schwerbehinderten beschäftigen.

Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang im-
mer wieder darauf hingewiesen, dass die 6-Prozent-Quote




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
9990


(C)



(D)



(A)



(B)


nicht bedarfsgerecht, sondern übermäßig sei. Sie haben
darauf hingewiesen, dass die Beschäftigungspflicht gar
nicht zu erfüllen sei. Sie haben darauf hingewiesen, die
Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber werde sich ver-
größern, wenn die Quote auf 5 Prozent abgesenkt werde.
Wir wollen mit der Veränderung der Quote die Arbeitge-
ber jetzt beim Wort nehmen, mehr zu tun als bisher.


(Beifall bei der SPD)

Aber diese Reduzierung der Pflichtquote ist an eine

Bedingung geknüpft. Wird die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten bis Oktober 2002 nicht um 25 Prozent –
das sind rund 50 000 – abgesenkt, dann kehren wir ab
1. Januar 2003 automatisch wieder zu der bisherigen
Pflichtquote von 6 Prozent zurück.

Genauso wichtig wie die Verbesserung des Systems
von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist es,
diese Beschäftigungspflicht auch umzusetzen. Deswegen
wollen wir sowohl die Rechte der Schwerbehinderten
stärken als auch die Rechtstellung der Schwerbehinder-
tenvertretung in Betrieben und Dienststellen verbessern.
Innerbetrieblich sollen die Arbeitgeber mit der Schwerbe-
hindertenvertretung und dem Betriebs- oder Personalrat
verbindliche Regelungen zur Integration Schwerbehin-
derter vereinbaren.

Weil schwerbehinderte Frauen es bei ihrer Eingliede-
rung in Arbeit vielfach besonders schwer haben, sollen in
der Integrationsvereinbarung Regelungen zur Beschäf-
tigung eines angemessenen Anteils schwerbehinderter
Frauen getroffen werden.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Von diesen Vereinbarungen erhalten die Hauptfürsorge-
stellen und Arbeitsämter Kenntnis. Diese sollen dann
geeignete Schwerbehinderte vorschlagen. Sie sollen sich
schon im Vorfeld um die Qualifizierung von Schwerbe-
hinderten kümmern, denn Arbeitgeber werden nur geeig-
nete Schwerbehinderte einstellen. Schwerbehinderte, die
für den Arbeitsplatz geeignet sind, werden ihren Arbeits-
platz auf Dauer behalten. An der Prüfung, ob Arbeits-
plätze mit vorgeschlagenen Schwerbehinderten besetzt
werden können, wird die Schwerbehindertenvertretung
stärker beteiligt als bisher.

Um für die 865 000 erwerbstätigen Schwerbehinderten
die Arbeitsplätze sicherer zu machen, soll auch die be-
triebliche Prävention ausgebaut werden. Schon bisher
gab es Pflichten der Arbeitgeber gegenüber beschäftigten
Schwerbehinderten. Diese Pflichten werden zu Rechten
der Schwerbehinderten umgestaltet: Rechte auf einen be-
hinderungsgerechten Arbeitsplatz, auf Beschäftigung ent-
sprechend den Kenntnissen und Fähigkeiten, auf bevor-
zugte Teilnahme an innerbetrieblichen Weiterbildungs-
maßnahmen, auf Erleichterung der Teilnahme an
außerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen und auf
Teilzeitarbeit, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art
und Schwere der Behinderung notwendig ist.

Ein für Schwerbehinderte besonders wichtiger Schritt
soll bei der Arbeitsassistenz gegangen werden. Schwer-
behinderte haben künftig gegenüber der Hauptfürsorge-
stelle im Rahmen der begleitenden Hilfe einen aus der

Ausgleichsabgabe zu finanzierenden Anspruch auf Über-
nahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz.
Einzelheiten bleiben einer Rechtsverordnung vorbehal-
ten. Der Rechtsanspruch selbst ist jedoch nicht vom Er-
lass der Verordnung abhängig, er soll ab In-Kraft-Treten
des Gesetzes gelten.

Die Bundesanstalt für Arbeit und die Hauptfürsorge-
stellen sind die beiden wichtigsten Verwaltungen, die für
die Integration Schwerbehinderter in Arbeit, für die Be-
schaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu sorgen
haben. Wir wollen die Arbeit der Arbeitsverwaltung da-
durch verbessern, dass wir neben einer Verstärkung der
Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten auch ein neues
Instrument, nämlich Integrationsfachdienste, einsetzen
wollen. Diese neuen Integrationsfachdienste sollen ar-
beitslosen Schwerbehinderten, die besondere Schwierig-
keiten haben, in das Arbeitsleben integriert zu werden, zur
Verfügung stehen, um ihnen die notwendige aufwendige
und personalintensive Unterstützung zu geben.

Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Verschiedene Kol-
leginnen und Kollegen, aber auch Werkstätten für Behin-
derte, Organisationen und Verbände der Behinderten
haben die Befürchtung geäußert, dass die von uns allen
gewünschte Förderung der Beschäftigung von Schwerbe-
hinderten, dass die Entwicklung neuer Instrumente, die
Schaffung von Integrationsfirmen, Integrationsabteilun-
gen und Integrationsbetrieben, die Förderung von Werk-
stätten für Behinderte beeinträchtigen könnte. Ich sage
es deshalb noch einmal ganz deutlich: Die Möglichkeit
zur Förderung insbesondere von Werkstätten für Behin-
derte durch den Ausgleichsfonds des Bundesministeriums
für Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des erforderli-
chen Bedarfs und der verfügbaren Mittel bleibt unberührt.
Da ändert sich das Gesetz nicht.

Wir wollen aber hinsichtlich des Bedarfs an Werkstät-
ten für Behinderte eine Erhebung machen, wieweit wir
über die 2003 zur Verfügung stehenden 200 000 Plätze in
den Werkstätten für Behinderte hinaus noch regionale
Schwerpunkte für eine Verstärkung des Netzes der Werk-
stätten für Behinderte brauchen. Wir werden Ende dieses
Monats erste Gespräche dazu führen. Wir haben uns mit
den Verbänden darüber verständigt, dass eine solche Be-
darfserhebung notwendig und sinnvoll ist.

Auch die weiteren besonderen Fördermöglichkeiten
für Werkstätten für Behinderte bleiben erhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Arbeitgeber, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen
und Ausgleichsabgaben zu zahlen haben, können diese
durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Be-
hinderte reduzieren. Darüber hinaus sind Arbeitgeber der
öffentlichen Hand verpflichtet, Aufträge, die von Werk-
stätten für Behinderte durchgeführt werden können, be-
vorzugt diesen Werkstätten anzubieten.

Ich hoffe, dass damit Klarheit geschaffen worden ist,
dass niemand, weder die Regierung noch die Koalitions-
fraktionen, den Bestand und die Weiterentwicklung der
Werkstätten für Behinderte durch die verstärkte Förde-
rung der Beschäftigung von Schwerbehinderten auf dem




Ulrike Mascher

9991


(C)



(D)



(A)



(B)


allgemeinen Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise ein-
schränken oder tangieren will.

Alle Beteiligten, Arbeitgeber, Gewerkschaften und
Behindertenorganisationen, haben dieses Konzept, das
ich Ihnen jetzt in Kurzform vorgestellt habe, mit ent-
wickelt. Es ist im Dialog entstanden. Das Ergebnis ist ein
Konsens. Dass er erreicht werden konnte, ist beachtlich.
Ich denke, er lässt uns alle gemeinsam hoffen, dass wir
das hochgesteckte Ziel, die Arbeitslosigkeit in zwei bis
drei Jahren um rund 50 000 zu reduzieren, tatsächlich er-
reichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Alle Beteiligten – das sage ich ausdrücklich noch einmal –
sind guten Willens.

Gehen wir gemeinsam an die Arbeit, verlieren wir
keine Zeit, nutzen wir die Chance des sich positiv ent-
wickelnden Arbeitsmarktes auch für die Schwer-
behinderten!

Ich danke Ihnen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Jetzt geht sie wieder zu ihrem Platz auf der Regierungsbank! – Abg. Ulrike Mascher [SPD] begibt sich zu ihrem Abgeordnetenplatz)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410614200
Herr Kollege
Koppelin, wenn Sie mit den protokollarischen Anweisun-
gen fertig sind, können wir hier vielleicht fortfahren.

Ich habe einige formale Dinge bekannt zu geben. Zum
Tagesordnungspunkt 17, Altersteilzeit, teilt die CDU/
CSU mit, dass sie zustimmen wollte. Da lag ein Versehen
vor. Wir nehmen das protokollarisch zur Kenntnis. Damit
ist das korrigiert.

Außerdem bitten die Abgeordneten Schmidt-Zadel und
Strebl, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt
zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall.

Dann rufe ich jetzt als nächste Rednerin die Abgeord-
nete Claudia Nolte auf.


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1410614300
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe nur,
dass die heutige Debattenzeit nicht ein Omen für die neue
Prioritätensetzung in diesem Politikbereich ist.


(Beifall bei der PDS)

Das erste konkrete Vorhaben dieser Bundesregierung zur
Behindertenpolitik hätte wahrlich mehr Aufmerksamkeit
verdient.

Wir beraten auch über einen Antrag, den alle in diesem
Hohen Hause unterstützt haben. Uns ist sehr wichtig, was
in diesem Antrag steht.

Uns ist dieser Antrag vor allem deshalb wichtig, weil
sich die Regierungskoalition darin ausdrücklich zur
Schaffung eines SGB IX bekennt. Leider hat man ja im
Moment den Eindruck, als ob sich bei der Arbeit an die-
sem Vorhaben die gleichen Schwierigkeiten ergeben, wie
auch wir sie hatten. Ich sage „leider“, weil wir natürlich
sehr gerne sehen würden, wenn wir in diesem Bereich ei-
nen großen Schritt nach vorne gehen könnten.

Wir haben im Moment eher den Eindruck, dass die
Rohentwürfe von Mal zu Mal weniger Substanz enthalten
und dass sich das große Ziel, zu einer stärkeren Homoge-
nität in der Leistungserbringung und zu einer besseren
Verzahnung der Reha- und Eingliederungsleistungen
zu kommen, immer schwerer erreichen lässt. Ich frage
beispielsweise: Was beinhaltet die Aussage, dass der
Sozialhilfeträger künftig auch Rehaträger sein wird, kon-
kret? Inwieweit gelten die Prinzipien für Rehaleistungen
dann künftig auch für die heute im BSHG stehenden Leis-
tungen?


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Frau Nolte, Sie haben das Thema verfehlt!)


– Ich bin bei dem Antrag, in dem unter anderem gefordert
worden ist, ein neues SGB IX zu schaffen. Ich bitte, das
zu berücksichtigen. Ich finde das für die weitere Beratung
wichtig.

In den vorliegenden Entwürfen ist vom Wunsch- und
Wahlrecht wenig zu spüren.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Es besteht keine Klarheit darüber, welche Leistungen des
Sozialhilfeträgers als Rehaleistungen bewertet werden
und welche dann vielleicht nur noch zu den Hilfen zum
Lebensunterhalt zählen. Auch wird nicht deutlich, inwie-
weit das Nachrangigkeitsproblem geklärt wird. Unklar ist
auch, ob die zu zahlende Eingliederungshilfe künftig von
einem zu erwartenden Erfolg abhängig gemacht wird, wie
das bei Rehaleistungen der Fall ist.

Ich finde, das sind wichtige Fragen, die beantwortet
werden müssen und auf die in den vorliegenden Entwür-
fen leider nicht klar eingegangen worden ist. Gerade weil
die Zahl dieser Fragen eher mehr wird statt weniger,
möchten wir die Regierung ausdrücklich bitten, zumin-
dest in diesem Fall Qualität vor Schnelligkeit gehen zu
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werden Ihnen keinen Vorwurf machen für den Fall,

dass der Termin 1. Januar 2001 nicht zu halten ist – das
verspreche ich Ihnen –, wenn wir dadurch ein Gesetz er-
reichen, das seinen Namen verdient und das wir alle unter-
stützen können.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das war 16 Jahre nicht möglich!)


Ich habe deshalb schon frühzeitig den Vorschlag ge-
macht, die Dinge, die man regeln muss, zum Beispiel die
Integrationsfachdienste, die Integrationsbetriebe und an-
deres, notfalls in einer vorgezogenen Novelle zum
Schwerbehindertengesetz zu regeln. Daher finde ich es
sehr gut, dass die Regierung diese Idee aufgegriffen hat




Ulrike Mascher
9992


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 5

bzw. selber hatte und wir heute darüber diskutieren kön-
nen. Denn uns allen geht es doch so: Wir betrachten die
bei Schwerbehinderten bestehende hohe Arbeitslosen-
quote von 18 Prozent für unhaltbar und erdrückend. Des-
halb werden wir all das, was dazu dient, etwas zum Posi-
tiven zu verändern, unterstützen.

Aus diesem Grunde stellen wir auch fest: Die Grund-
elemente des vorliegenden Gesetzentwurfes sind richtig.
Wir halten es sehr wohl für akzeptabel, wenn, da die bis-
herigen Regelungen zur Ausgleichsabgabe und Beschäf-
tigungsquote nicht zum Erfolg geführt haben, versucht
wird, mit Modifizierungen mehr Anreize zur Beschäfti-
gung von Schwerbehinderten zu schaffen. Integrations-
fachdienste bzw. Integrationsprojekte aufzunehmen war
gleichermaßen unser Anliegen. Wir halten den Versuch,
die Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretung
zu stärken und Prävention zu etablieren, für ebenso not-
wendige Maßnahmen. Aus Erfahrung sind wir etwas vor-
sichtiger, was die Prognose, 50 000 Schwerbehinderte in
den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, anbelangt.
Wünschenswert ist dies ganz sicher.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es leichter ist,
allgemeine Grundsätze zu formulieren, als Grundsätze in
einen Gesetzestext zu gießen, was dann obendrein noch
Erfolg zeigen soll. Deshalb hoffe ich ganz einfach, dass
wir während der weiteren Beratungen trotz des straffen
Zeitplans etwas Zeit für die Details haben werden.

Ich möchte nämlich schon noch nachfragen können, ob
die vorgesehene Form der Modifizierung von Beschäfti-
gungsquote und Ausgleichsabgabe ihre Lenkungswir-
kung erfüllt. Wenn wir dann Großbetriebe weniger belas-
ten und den Mittelstand stärker belasten, ist die Len-
kungswirkung falsch. Das sollte – insbesondere im
Rahmen der in diesem Zusammenhang stattfindenden
Anhörungen – noch einmal durchgerechnet werden.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss)

Ich würde auch prüfen, wie der folgende Punkt denn

nun wirklich geregelt werden soll: Frau Mascher, Sie ha-
ben soeben ausdrücklich betont, dass es keine Abstriche
bei der Förderung von Werkstätten und von Wohnheim-
plätzen für Behinderte gibt. Am Mittwoch dieser Woche
sagten Sie uns aber, die Regierung habe im Rahmen der
Modifizierung der Ausgleichsabgabe nicht unbedingt
Mehreinnahmen geplant. Nun ist es eine Aufgabe der Ma-
thematik: Wenn nicht mehr in den Topf kommt, aber mehr
Leistungen finanziert werden sollen, muss dies zulasten
irgendeiner anderen Sache gehen, die heute finanziert
wird. Deshalb sind die bei den Verbänden und den ent-
sprechenden Einrichtungen, zum Beispiel bei den Werk-
stätten für Behinderte, bestehenden Ängste zu verstehen
und gerechtfertigt.

Diese Befürchtung kommt nicht von ungefähr, Frau
Mascher. In den Vorbesprechungen zu diesem Gesetzent-
wurf ist von den Mitarbeitern Ihres Hauses gesagt wor-
den, dass daran gedacht werde, die Förderung der
Werkstätten für drei Jahre auszusetzen und sie danach,
wenn Gelder da sind, vielleicht wieder einzuführen. Das
ist es doch, was die Leute aufgeschreckt und ihnen Angst
gemacht hat. Von daher sind die Befürchtungen gerecht-

fertigt. Ich glaube, dass nur der Protest der Einrichtung
dazu geführt hat, dass die Förderung nicht ausgesetzt
wird.

Ich denke auch, dass die Begründung, die für diese
Maßnahme angeführt worden ist, nämlich dass man das
Ziel hat, 3 500 Mitarbeiter der Werkstatt in den ersten Ar-
beitsmarkt auszugliedern, was zu Ersparnissen führt, die
eine Investitionsförderung ermöglichen, vollkommen
wirklichkeitsfremd ist. Das ist einfach nicht zu erreichen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410614400
Frau Kollegin Nolte,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mascher?


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1410614500
Ja, wenn Sie die Uhr so-
fort anhalten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410614600
Das mache ich.


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1410614700
Gut.


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1410614800
Frau Kollegin Nolte, hat Ih-
nen Ihr Kollege Laumann die Beantwortung seiner Frage,
die schriftlich erfolgen musste, gegeben?


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1410614900
Die habe ich noch nicht
bekommen!


Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1410615000
Darin findet sich nämlich eine
Zahl, die mir am Mittwoch nicht präsent war: Wenn wir
50 000 Schwerbehinderte zusätzlich beschäftigen, wer-
den wir durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe, die
bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten zu zahlen
ist, immerhin eine Steigerung der jährlichen Einnahmen
von 180 Millionen DM erreichen. Ich möchte aber beto-
nen, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die Ein-
nahmen gegen null fahren zu lassen. Aber die Sorge der
Werkstätten um ihre Behinderten ist ausgeräumt worden.
Es gibt bezüglich der Förderung kein Moratorium von
drei Jahren. Ich frage Sie, ob das inzwischen bei Ihnen
angekommen ist.


Claudia Nolte (CDU):
Rede ID: ID1410615100
Frau Mascher, ich nehme
das gerne zur Kenntnis, muss aber darauf hinweisen, dass
meine Aussagen nicht von mir erfunden wurden. Die Aus-
sagen erfolgten seitens Ihres Hauses. Wenn das inzwi-
schen zurückgenommen worden ist – umso besser. Was
die konkreten Zahlen angeht, so hoffe ich, dass uns in der
Anhörung Besseres zur Prüfung vorgelegt wird. – Vielen
Dank.

Dass Integrationsfachdienste und Integrationspro-
jekte institutionell abgesichert werden, ist richtig und not-
wendig. Ob die starre Festlegung, dass pro Arbeitsamts-
bezirk nur ein Integrationsfachdienst tätig sein soll, sinn-
voll ist, wage ich dagegen zu bezweifeln. Wir haben schon
heute viele Formen von Fachdiensten, die sich auf Behin-
derungsarten spezialisiert haben. Dass die Zusammen-
führung zu einem Integrationsfachdienst diese Arbeit




Claudia Nolte

9993


(C)



(D)



(A)



(B)


effizienter und wirkungsvoller macht, glaube ich nicht.
Lassen Sie uns auch darüber sprechen, ob diese strenge
Festlegung Sinn macht.

Ich bin auch immer dann skeptisch, wenn wir auf
Rechtsverordnungen verwiesen werden. Das entzieht sich
dann der parlamentarischen Beratung und Kontrolle.
Deshalb wäre ich doch sehr daran interessiert, von dieser
Praxis Abstand zu nehmen. Das betrifft im Übrigen auch
die Aufnahme der Möglichkeit, einen Arbeitsassistenten
zu fordern. Wir begrüßen dieses neue Instrument in jedem
Fall; es ist notwendig. Näheres sollte aber bitte im Gesetz
und nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Die Beratung wird auch in dem Punkt interessant sein,

inwieweit die Ziele der Prävention und Mitwirkung der
Schwerbehindertenvertretung wirklich greifen oder ob
nicht nur eine Modifizierung des Verfahrens vorgenom-
men wird, der Schwerbehindertenvertretung also eigent-
lich gar nicht mehr Rechte eingeräumt werden.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, mein hauptsächlicher Kritikpunkt – das widerspricht
ein bisschen dem, was Sie, Frau Mascher, sagten, nämlich
dass alles abgestimmt sei und in großer Einigkeit erfolge –
bezieht sich auf eine sehr grundsätzliche Frage. Wenn
man sich die ersten Konzeptionen dieses Gesetzentwurfes
anschaut und diese mit dem jetzt vorliegenden Gesetzent-
wurf vergleicht, dann stellt man doch erhebliche Verän-
derungen fest. Diese sind vor allem der Tatsache geschul-
det, dass Sie sich sehr darum bemüht haben, diesen Ge-
setzentwurf von der Zustimmungspflicht zu befreien.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Sie haben aber eine schnelle Auffassungsgabe, Frau Nolte!)


Da frage ich mich schon: Warum hat Ihr Minister Angst
davor, dieses Gesetz mit den Bundesländern in aller Kon-
sequenz zu beraten und am Ende zu verabschieden? Sie
müssen sich doch davor fürchten, irgendetwas nicht reali-
siert zu bekommen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das haben wir von Herrn Seehofer gelernt!)


– Ja, aber wir hatten Gründe.

(Lachen bei der SPD)


Deshalb frage ich: Was sind Ihre Gründe?
Aufgrund seiner Konstruktion bleibt dieses Gesetz ein

Torso; denn bestimmte Dinge können nicht geregelt wer-
den. Es sind die Hauptfürsorgestellen, die einen Groß-
teil der Aufgaben, die sich aus diesem Gesetz ergeben,
erledigen müssen. Sie aber müssten, damit dies möglich
wird, auch Veränderungen erfahren.
Nur um die Zustimmungsfreiheit zu erreichen, sind die
Hauptfürsorgestellen aus dem Gesetzentwurf herausge-
nommen worden. Ich weiß noch gar nicht, wie Sie das am
Ende umsetzen wollen.


(Zuruf von der SPD: Frau Nolte, haben Sie den letzten Gesetzentwurf eigentlich gelesen?)


Deswegen verstehe ich nicht, woher dieses Misstrauen
kommt. Ich nehme an, dass das auch der Grund dafür ist,
dass bestimmte Maßnahmen wie etwa die Prävention
nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form durchge-
führt werden – dafür braucht man nämlich die Hauptfür-
sorgestellen –, dass beispielsweise bei der Vereinbarung
eines Integrationsplans die Hauptfürsorgestellen nicht
stärker einbezogen werden und nur die Formulierung ge-
wählt wurde, dass auch sie eingeladen werden können,
oder dass nicht mehr in Bezug auf die Mitarbeit der
Hauptfürsorgestellen im Bereich der Integrationsprojekte
geregelt wird, bei denen die Zuordnung der Hauptfürsor-
gestellen zur Bundesanstalt für Arbeit nicht unbedingt
fachlich begründet erscheint oder nachvollziehbar ist.

Ich habe auch Sorge, ob die Umsetzung in dem vorge-
sehenen Zeithorizont zu schaffen sein wird, gerade wenn
ich berücksichtige, dass manche Maßnahmen bis Oktober
greifen sollen.

Alles in allem heißt das, dass wir im Anhörungsver-
fahren noch eine ganze Reihe von Punkten näher betrach-
ten müssen. Ich betone noch einmal: Wir werden in die-
sem Bereich nur erfolgreich sein, wenn wir konstruktiv
zusammenarbeiten.


(Zuruf von der SPD: Ja, das haben wir Ihnen doch angeboten!)


Das Misstrauen, das sich hier niederschlägt, lässt mich
befürchten, dass auch unsere konstruktive Zusammenar-
beit beim SGB IX dadurch gefährdet werden könnte. Das
wäre sehr bedauerlich. Ich habe die Hoffnung, dass wir in
den Ausschussberatungen stärker einbezogen werden; das
fand bei diesen Gesetzen im Übrigen gar nicht statt. Wir
werden darauf achten, dass die Länder in einer Art und
Weise beteiligt werden, dass sie guten Gewissens zustim-
men können. Dadurch würde dieses Gesetz abgerundet.

In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410615200
Das Wort hat die Kol-
legin Ekin Deligöz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410615300
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Nolte, einige Ihrer Fragen sind ja noch offen.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist wahr! – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Alle!)


Deshalb werden wir im Anschluss an diese Debatte heute
noch eine Obleutebesprechung durchführen, um eine An-
hörung gerade zu dieser Thematik zu beschließen, in der
dann alle Ihre offenen Fragen beantwortet werden kön-
nen. Einer Sache können Sie sich allerdings schon jetzt
ganz sicher sein: Die Regierung wird hier in Kooperation
mit den Betroffenenverbänden und nach Rücksprache mit
den Interessenvertretern eine sehr gute, solide Arbeit leis-
ten –


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das wäre das erste Mal!)





Claudia Nolte
9994


(C)



(D)



(A)



(B)


im Interesse der behinderten Menschen und auch der nicht
behinderten Menschen in diesem Lande. Wir wollen Inte-
gration verwirklichen und nicht nur in der Theorie Worte
darüber verlieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zurück zur Sachlichkeit, die gerade bei dieser Thema-
tik angebracht ist. Arbeitslosigkeit hat in der Tat sehr viele
Faktoren: Alter, Geschlecht, eine unzureichende Ausbil-
dung, Langzeiterwerbslosigkeit. Wenn man diese Risiko-
faktoren zusammen betrachtet, wird man feststellen, dass
alle diese Faktoren gleichermaßen auf gehandicapte Per-
sonen zutreffen. Meistens werden gehandicapte, schwer-
behinderte Menschen aus dem Arbeitsleben aktiv ausge-
grenzt, indem man ihnen eine Frühverrentung empfiehlt.
Sie erhalten keine Chance mehr, in den Arbeitsmarkt
zurückzukehren. Häufig trifft das vor allem diejenigen,
die etwas älter sind. Manche haben überhaupt gar keine
Möglichkeit gehabt, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zu
finden,


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das stimmt!)

weil sie nicht die Möglichkeit hatten, eine Ausbildung ab-
zuschließen, oder weil sie von vornherein nicht am Ar-
beitsmarkt teilhaben konnten. Aus diesem Grunde ist die
Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in diesem
Lande sehr hoch.

Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch etwas Er-
freuliches zu vermelden. Die Zahlen vom März 2000 be-
sagen, dass die Behindertenarbeitslosigkeit im Vergleich
zum Vormonat um 2,9 Prozent gesunken ist.

Mit dem heute hier in der ersten Lesung eingebrachten
Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbe-
hinderter legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine um-
fangreiche Integrationsförderung von Menschen mit Han-
dicap vorsieht. Das Ziel, 50 000 neue Arbeitsplätze zu
schaffen, muss sowohl von der parlamentarischen Seite
als auch von der Bundesregierung kritisch begleitet wer-
den. Noch nie wurde ein Gesetzentwurf von einem derart
großen Konsens in der Gesellschaft getragen wie der Ge-
setzentwurf, der heute vorliegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir möchten die Beschäftigungsquote von schwer-
behinderten Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent in-
nerhalb kürzester Zeit senken und heben gleichzeitig die
Staffelung der Ausgleichsabgabe auf 500 DM an. Die
Ausgleichsabgabe, von den Arbeitgebern oft als Strafin-
strument bezeichnet, ist kein Strafinstrument.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Leider!)

Sie ist eine außerordentliche Möglichkeit der sinnvollen
Lenkung der Unterstützungsleistungen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410615400
Frau Kollegin
Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Seifert?


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410615500
Herr
Seifert, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410615600
Frau Kollegin Deligöz, die
Senkung der Pflichtquote auf 5 Prozent wird in Ihrem jetzt
vorgelegten Antrag damit begründet, dass es eine realisti-
sche Quote sei, die die Arbeitgeber seit langem fordern.
Gleichzeitig sagen Sie, wenn innerhalb von zweieinhalb
Jahren nicht zusätzliche 50 000 Arbeitsplätze geschaffen
werden, wird die Pflichtquote automatisch wieder auf
6 Prozent erhöht.

Können Sie meine Befürchtung entkräften, dass dann,
wenn die 50 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden,
gesagt wird, die 5 Prozent sind immer noch unrealistisch,
wir müssen sie weiter senken, anstatt sie wieder auf 6 Pro-
zent anzuheben, um damit die Pflicht deutlich zu machen,
die die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen
hat? Ihre Argumentation kann ich beim besten Willen
nicht verstehen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410615700
Herr
Kollege Seifert, ich finde es ein wenig bedauerlich, dass
Sie immer von vornherein mit Vorwürfen kommen. Zum
einen haben wir gerade diese Problematik im Gesetz
festgeschrieben, zum anderen werden wir die Situation
nicht verbessern, wenn wir nichts machen. Wir müssen
jetzt zu Taten schreiten, um nach vorn zu kommen, um
endlich einmal so etwas wie einen Paradigmenwechsel in
der Behindertenpolitik zu erreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn wir nicht jetzt handeln, werden wir in zwei Jah-
ren eine noch viel schlimmere Situation haben. Gerade
deshalb ist es jetzt angebracht, diesen Gesetzentwurf ge-
meinsam, auch mit Ihrer Unterstützung – ich schätze Ihre
Unterstützung ganz besonders, weil Sie aus Erfahrung re-
den –, zu verabschieden,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dem Letzten muss ich energisch widersprechen! Die Behindertenarbeit in der DDR kennen wir!)


damit wir in diesem Bereich endlich vorankommen.
Ich möchte in dieser späten Stunde am Freitagnach-

mittag zu der Ausgleichsabgabe als Strafinstrument
zurückkommen. Kein Arbeitgeber in diesem Land ist ge-
zwungen, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Wenn die
Beschäftigungsquote erfüllt ist, wird auch nichts gezahlt.
Solange aber die Erfüllung dieser Quote in diesem Land
nicht selbstverständlich ist, solange einige Vorbehalte bei
den Arbeitgebern vorherrschen, müssen wir – vielleicht
leider, vielleicht erst recht – auf dieses Instrument zurück-
greifen.

Wir nehmen die Kritik von Arbeitgebern ernst, die da-
von sprechen, dass sie zwar gern einen Schwerbehinder-
ten einstellen würden, aber niemanden finden. Diese Kri-
tik nehmen wir besonders ernst, wenn es darum geht, be-
stimmte Stellen zu besetzen. Wir nehmen sie aber
auch ernst angesichts des ganzen Gewirrs von Förder-
und Unterstützungsmöglichkeiten, die in diesem Land




Ekin Deligöz

9995


(C)



(D)



(A)



(B)


bestehen, was dazu führt, dass die Arbeitgeber keinen
Überblick mehr haben bzw. ihn verlieren.

Gerade aufgrund dieser Probleme möchten wir die
Bundesanstalt für Arbeit zu einer engeren Zusammenar-
beit heranziehen, um diese Probleme gemeinsam zu lö-
sen. Wir setzen vor allem auf die Integrationsfachdiens-
te, die bei der Vermittlung von behinderten Menschen
eine gute und wichtige Arbeit leisten. Die herausragenden
Vermittlungserfolge – über 60 Prozent – lassen sich da-
rauf zurückführen, dass sie eine gute Vorauswahl treffen
und eine berufsbegleitende Beratung machen, dass sie
Profile festschreiben, dass sie auf zahlreiche Arbeits-
marktinstrumente zurückgreifen und für die Arbeitgeber
zuverlässig sind. Weil sie ein verlässlicher Ansprechpart-
ner sind, möchten wir diese Dienste auch weiterhin unter-
stützen und ausbauen und dafür die Rahmenbedingungen
sicherstellen.

Aber es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigungs-
möglichkeiten für behinderte Menschen nur durch Ap-
pelle an das soziale Gewissen geschaffen werden. Das
greift zu kurz. Letztendlich interessiert es den Arbeitgeber
auch nicht, welches Handicap jemand hat, sondern ihn in-
teressiert, ob die Arbeit erledigt wird und ob der Arbeit-
nehmer zuverlässig ist.

Umso notwendiger ist es, adäquate Arbeitsplätze zu
finden. Nur so lassen sich in einem Betrieb moderne und
humane Arbeitsbedingungen so verwirklichen, dass so-
wohl die betroffenen Arbeitnehmer als auch der Arbeitge-
ber zufrieden sind, Leistungsbereitschaft vorhanden ist
und auch die übrige Arbeitnehmerschaft in den Betrieben
mit den neu eingestellten Arbeitnehmern kooperieren
kann. Dies sollte nicht aus einem Zwang heraus gesche-
hen, sondern weil man von der Qualität der Bewerber
überzeugt ist. Akzeptanz – und damit Unterstützung – le-
diglich vonseiten der die Einstellung vornehmenden Per-
sonen reicht nicht aus. Der Kollegenkreis ist besonders
wichtig. Erst dann, wenn sich in einem Betrieb alle ge-
meinsam für die Integration einsetzen, wird das Wort „In-
tegration“ mit Leben erfüllt.

Der entscheidende Punkt dieser Gesetzesnovelle liegt
für mich darin, den Arbeitsmarkt zu stärken, die Mittel
des Arbeitsmarktes einzusetzen, Arbeitsassistenz zu ge-
währen, den Aus- und Aufbau von Integrationsfach-
diensten zu fördern, Arbeitsmarktprogramme zu ent-
wickeln, die besondere Gruppen von Schwerbehinderten
ansprechen und insbesondere auf die Probleme der
schwerbehinderten Frauen eingehen, gleich bei der Aus-
bildung anzufangen, schwerbehinderte Jugendliche anzu-
sprechen und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermögli-
chen. An diesem Punkt wird die Notwendigkeit eines Pa-
radigmenwechsel in der Behindertenpolitik in diesem
Land deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin etwas überrascht, dass uns immer wieder vor-
gehalten wird, wir würden bei der Werkstättenförderung
kürzen und damit Beschäftigungsmöglichkeiten erster
und zweiter Klasse schaffen. Oft haben sich die betroffe-
nen Organisationen selbst immer wieder gewünscht und

von uns eingefordert, den Blick endlich einmal zu weiten
oder von einer rein institutionellen Förderung in den Son-
dereinrichtungen abzugehen.

Was beabsichtigen wir? Wir wollen die Integrations-
fachdienste in die Regelfinanzierung übernehmen, wir
wollen Integrationsfirmen rechtlich stärken und wir wol-
len einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschrei-
ben. Das sind unsere Ziele. Für uns sind diese Menschen
alle gleichermaßen arbeitsfähig. Das ist unser Ausgangs-
punkt. Gerade dafür möchten wir die Rahmenbedingun-
gen schaffen.

Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss
kommen. Der Weg in die Zukunft liegt für uns nicht in
dem Entweder-oder zwischen Werkstatt, Integrations-
diensten, Arbeitsmarkt und institutioneller Förderung,
sondern unser Weg ist der goldene Mittelweg. Wir wollen
einerseits die Erwerbsrealität wahrnehmen und darauf
reagieren und andererseits Rahmenbedingungen schaffen,
damit in diesem Bereich tatsächlich Integration stattfin-
det. Teilhabe, Selbstbestimmung, Integration statt Aus-
grenzung – das sind unsere Leitbilder, das ist unsere Mo-
tivation.

Ich freue mich, dass wir diesem Ziel heute einen Schritt
näher gekommen sind und wir in diesem Sinne weiterma-
chen können.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410615800
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410615900
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne und draußen! Wir haben heute so viele An-
träge und andere Dokumente zu dieser Debatte vorliegen,
dass man kaum noch überschauen kann, was davon nun
gerade Gegenstand der Diskussion ist. Es handelt sich
also im Grunde genommen um eine allgemeine behinder-
tenpolitische Debatte. Insofern ist es in Ordnung, dass
sich jeder den Punkt heraussucht, den er für besonders
wichtig erachtet.

Ich finde es gut, dass wir im Bundestag seit dem Re-
gierungswechsel wesentlich häufiger, wesentlich intensi-
ver und auch zielorientierter über Behindertenfragen re-
den, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall
war. – Das ist aber jetzt erst einmal genug Lob für euch.


(Heiterkeit bei der SPD – Regina SchmidtZadel [SPD]: Jetzt kommt es!)


Jetzt müssen wir einmal zur Sache reden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Daran hapert es bisher!)

Es reicht nicht aus, dass hier ein paar Sozialpolitike-

rinnen und Sozialpolitiker sitzen und einen guten Vor-
schlag unterbreiten, wie wir in der Frage der Beschäfti-
gung von schwerbehinderten Menschen vielleicht voran-




Ekin Deligöz
9996


(C)



(D)



(A)



(B)


kommen, während Ihre Justiz- oder Rechtspolitikerinnen
und -politiker, Ihre Finanzpolitikerinnen und -politiker
nicht einmal wissen, dass Sie hier andauernd von einem
Paradigmenwechsel reden.


(Susanne Kastner [SPD]: Da unterstellen Sie aber etwas, was nicht stimmt!)


–Nein, ich kann das schon begründen.
Vor einer Woche haben wir hier ein Gesetz verabschie-

det, das von Ihnen, von Ihrer Regierung vorgelegt worden
ist, in dem der eindeutig diskriminierende Satz steht, dass
Personen, die körperliche Gebrechen haben – den Begriff
„körperliche Gebrechen“ gibt es in der Behindertenpoli-
tik schon seit Jahren nicht mehr – oder bei denen
Schwächen der geistigen Fähigkeiten nachgewiesen wer-
den


(Zuruf von der SPD)

– ja, ich komme gleich dazu –, zu einem bestimmten Be-
ruf nicht zugelassen werden können, selbst wenn sie alle
ihre Prüfungen bestanden haben. Als das hier im Plenum
diskutiert wurde, rührte sich keine Hand aus Ihrer Frak-
tion, Ihrer Koalition, wenigstens dem Antrag der PDS zu-
zustimmen – und das aus rein parteipolitischen, taktischen
Gründen.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: So etwas machen Sie? – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist ja unglaublich!)


Es ist nicht zu akzeptieren, dass Sie Sachfragen hier nicht
ins Kalkül ziehen.


(Beifall bei der PDS)

Insofern freue ich mich sehr, Frau Mascher, dass Sie jetzt
angekündigt haben, diesen Fakt in verschiedenen Berufs-
gesetzen zu überprüfen. Ich hoffe, dass die Überprüfung
auch zu Änderungen führt.

Die zentrale Forderung der behinderten Menschen, die
auch dieses Jahr am 5. Mai, dem europaweiten Aktions-
tag, gestellt wurde, war: Wir brauchen ein Gleichstel-
lungs- und Diskriminierungsverbotsgesetz.


(Beifall bei der PDS)

Das haben wir von Ihnen bisher nicht bekommen. Auf un-
sere Anfrage an die Bundesregierung – die leider nur vom
BMJ beantwortet wurde, offenbar ist das etwas anderes
als die Bundesregierung – antwortete diese: Wir sind ge-
rade dabei, den zivilrechtlichen Teil zu bearbeiten, das an-
dere geht uns nichts an.

Ja, gibt es denn etwa keine Diskriminierung im berufs-
rechtlichen Teil? Gibt es keine Diskriminierung in allen
anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel im Bau-
recht, im Personenbeförderungsrecht und so weiter? Ist
das BMJ dafür nicht zuständig? Es will nicht zuständig
sein, obwohl ein klarer Entwurf der Behindertenjuristin-
nen und -juristen vorliegt, an dem man sich orientieren
könnte.

Deshalb: So schön es ist, wenn wir ernsthaft darüber
nachdenken, wie wir 50 000 schwerbehinderte Menschen
innerhalb von zweieinhalb Jahren in Arbeit bekommen –
da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite –, so unübersehbar
bleibt, dass das Stückwerk ist, das keine klare Konzeption

erkennen lässt, die den Menschenrechts- und den Bürger-
rechtscharakter des Themas, über das wir hier beraten,
deutlich werden ließe. Sie machen daraus eine sozialpoli-
tische Maßnahme, eine bildungspolitische Maßnahme,
eine berufspolitische Maßnahme, aber keine wirklich
menschenrechtspolitische Frage.


(Beifall bei der PDS)

Das ist der Punkt, den ich Ihnen ankreide.

Wir haben – Frau Kollegin Nolte wies darauf hin –
heute unter anderem über eine gemeinsame Entschlie-
ßung abzustimmen, die alle Fraktionen dieses Hauses
eingebracht haben; das will ich noch einmal hervorheben.
Zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode konnten sich
alle Fraktionen zu einer gemeinsamen Entschließung
durchringen.


(Zuruf der Abg. Claudia Nolte [CDU/CSU])

– Frau Nolte, Sie sollten das nicht kleinreden. Es war eine
große Leistung, auch von Ihrer Fraktion, dass Sie über
Ihren Schatten gesprungen sind und Ihre ideologischen
Scheuklappen abgenommen haben.

Diese gemeinsame Entschließung fußt auf drei Anträ-
gen: sowohl von Ihnen, der SPD und den Grünen, als auch
von der CDU/CSU und von uns. Mit dem Antrag zum
Teilhabesicherungsgesetz haben wir ein sehr umfangrei-
ches und umfassendes Konzept im Bereich der Behin-
dertenpolitik vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie der
Menschenrechtsaspekt, der Bürgerrechtsaspekt zur Gel-
tung gebracht werden kann und wie das Verbandsklage-
recht, die arbeitspolitischen Maßnahmen, die Änderungen
in vielen Einzelgesetzen und die Finanzierung durchge-
setzt werden können.

Ich sage noch einmal:Wir brauchen nicht nur das Recht
auf Arbeitsassistenz, so wichtig es ist, wir brauchen auch
eine finanzielle Untersetzung des Rechts auf Arbeits-
assistenz. Wir brauchen eine Definition dessen, was Sie
unter notwendiger Arbeitsassistenz verstehen.


(Beifall bei der PDS – Claudia Nolte [CDU/CSU]: Rechtsverordnung!)


Wer definiert für wen, welche Assistenz er braucht? Wenn
das medizinische Aspekte sind – dann gute Nacht. Wenn
das finanzpolitische Aspekte sind – dann Mahlzeit. Wenn
es keine Menschenrechtsaspekte sind, brauchen wir nicht
ernsthaft darüber zu diskutieren.

Lange Rede, kurzer Sinn – ich will meine Redezeit
nicht zu sehr überziehen –: Sie werden uns auf Ihrer Seite
haben, wenn wir in den praktischen Dingen vorankom-
men. Sie werden aber die Menschen mit Behinderungen
auf der Straße finden und uns an deren Seite und im Par-
lament Laut gebend, wenn Sie nur Stückwerk liefern und
keine Konzeption dahinter steht, die uns insgesamt bür-
gerrechtlich voranbringt – Menschen mit und ohne Be-
hinderungen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)





Dr. Ilja Seifert

9997


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410616000
Zu einer Kurzinter-
vention hat der Kollege Karl-Hermann Haack das Wort.


Karl Hermann Haack (SPD):
Rede ID: ID1410616100
Frau Präsi-
dentin! Ich melde mich zu Wort wegen der Aussagen des
Kollegen Seifert, die sich auf das Gesetz bezogen, das wir
in der letzten Woche verabschiedet haben.

Als Beauftragter für die Belange der Behinderten kann
ich sagen, dass wir all das in dem Gleichstellungsgesetz
regeln werden, was er hier angesprochen hat. Das Pro-
blem liegt darin, dass wir mit allen 16 Ländern über Ge-
setze des Bundes reden müssen. Wir müssen alle Gesetze
der Länder, die dazugehörigen Verordnungen und Rege-
lungen durchlesen und darauf durchforsten, ob darin anti-
diskriminierende Vorschriften stehen. Es ist bereits in der
Vergangenheit versucht worden, dies in einer Arbeits-
gruppe zu erarbeiten. Aber nach meinen Recherchen ist
diese Arbeitsgruppe wegen des großen Arbeitsaufwandes
sanft entschlafen. Doch jetzt werden wir dies in irgendei-
ner Form zu leisten haben.

Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt ein Gleichstellungsge-
setz machen, dann gibt es mit Sicherheit jemanden, der
sagt, dass wir noch etwas vergessen haben. Ich bitte Sie
aber, es positiv zu bewerten, dass wir uns auf den Weg ge-
macht haben, und uns frühzeitig die Handreichungen zu
geben, die notwendig sind, damit ein solches Gesetz Er-
folg hat.

Zum Stand derDinge, die Sie anmahnen, Herr Seifert:
Es ist eine endgültige Klärung herbeigeführt worden, dass
Frau Justizministerin Däubler-Gmelin ein Dach über ein
„Antidiskriminierungsgesetz“ macht; so der Titel. Dieses
gilt für Menschen mit Behinderungen, für Ausländer,
sprachliche, ethnische Minoritäten und für das Problem
der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensge-
meinschaften. Darüber hinaus erarbeitet sie den zivil-
rechtlichen Teil.

Wir haben geklärt, dass in einem Verfahren erarbeitet
wird, wer den allgemeinen Teil des Gleichstellungsgeset-
zes unter Einbeziehung dessen, was Frau Däubler-Gmelin
macht, erarbeitet. Dazu habe ich – vereinbarungsgemäß
mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Mascher – die dafür zuständigen Parlamentarischen
Staatssekretäre der Ministerien für den kommenden
Freitag eingeladen. Ich habe sie gebeten, eine Erklärung
darüber abzugeben, inwieweit der Entwurf eines Gleich-
stellungsgesetzes des Forums behinderter Juristinnen und
Juristen eine Grundlage sein kann. Sie sehen, dass pro-
zessual alles gut organisiert ist.

Wenn wir am nächsten Freitag zu einem Ergebnis kom-
men und uns schriftlich dargelegt wird, was vom jeweili-
gen Ressort geleistet werden kann, dann muss auf Lei-
tungsebene des Bundesministeriums für Arbeit geprüft
werden, welche nächsten Schritte für ein Gleichstellungs-
gesetz unternommenwerden können.Nach derGeschäfts-
ordnung, nach dem Geschäftsverteilungsplan sind sowohl
die Justizministerin als auch der Bundesminister für Ar-
beit für ein solches Gesetz zuständig. Das ist der Grund
für den längeren Klärungsbedarf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410616200
Zur Erwiderung Herr
Kollege Dr. Seifert, bitte.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410616300
Herr Kollege Haack, ich danke
Ihnen für die Information. Sie haben mir sogar mehrere
Informationen gegeben.

Erstens. Wenn das Bundesjustizministerium bzw. die
Bundesregierung ein umfassendes Gleichstellungsgesetz
vorlegt, das wahrscheinlich sehr knapp formuliert sein
kann, dann werden Sie mich auf Ihrer Seite haben. Meine
Linie ist es immer gewesen, die verschiedenen so ge-
nannten Minderheiten nicht gegeneinander auszuspielen.
Herzlichen Dank! Ich hoffe, dass es bald vorgelegt wird.

Zweitens. Es gibt keinen Grund ich bitte Sie, dies zur
Kenntnis zu nehmen –, in der Zeit, in der ein Gleichstel-
lungsgesetz vorbereitet wird, Gesetze zu verabschieden,
mit denen diskriminierende Tatbestände festgeschrieben
werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist allerdings wahr!)


Aber genau das haben Sie in der vergangenen Woche ge-
macht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das können
Sie auch nicht mehr ungeschehen machen. Um solche dis-
kriminierenden Tatbestände zu verbieten, benötigen wir
kein Diskriminierungsverbotsgesetz. Sie hätten sie ein-
fach nicht festschreiben dürfen.

Erlauben Sie mir – drittens – eine letzte Bemerkung:
Geschäftsverteilungspläne mögen für die Regierung sehr
wichtig sein.


(Susanne Kastner [SPD]: Für den Ablauf!)

Aber für Menschen mit Behinderungen ist ausschließlich
wichtig, welche Gesetze gelten und in Kraft gesetzt wer-
den und welche Botschaft wir von hier aus vermitteln,
also ob sie lautet: „Das Ganze ist ein bürokratischer Akt“
oder ob sie lautet: Wir wollen die Lebensbedingungen für
Menschen mit und ohne Behinderung verbessern, damit
sie so zusammenleben können, wie die Kollegin Deligöz
es beschrieben hat. Man muss sich im Umgang miteinan-
der zwanglos wohl fühlen können und einen Behinderten
auch einmal doof finden dürfen. Auch ich als Behinderter
muss Nichtbehinderte blöd finden dürfen. Das ist schließ-
lich eine Frage von Sympathie und Antipathie. So etwas
gibt es zwischen Menschen nun einmal. Wenn man einen
Behinderten doof findet, dann erfüllt man nicht gleich ei-
nen Diskriminierungstatbestand. Deshalb benötigen die
Behinderten – das möchte ich nicht verhehlen – einen leis-
tungsgesetzlichen Anspruch, der nichts mit der Sozial-
hilfe zu tun hat. Wenn Sie einen solchen Rechtsanspruch
nicht sicherstellen, dann bleiben die Behinderten leider
viel zu weit zurück.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410616400
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Silvia Schmidt für die
SPD-Fraktion.






(C)



(D)



(A)



(B)



Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410616500
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich bin enttäuscht angesichts
dessen, was hier vorgetragen worden ist; denn wir haben
in sehr kurzer Zeit etwas ganz Tolles und qualitativ
Hochwertiges geleistet. Das ist meine Überzeugung. Da
müssen Sie nicht den Kopf schütteln, Frau Nolte.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das müssen Sie mir überlassen!)


Von Ihnen habe ich etwas mehr erwartet. Auf der einen
Seite behaupten Sie, für Behinderte zu sprechen. Auf der
anderen Seite muss ich erleben, dass Sie für Verunsiche-
rung sorgen, gerade im Bereich der Förderung von Werk-
stätten für Behinderte, über die gestern ausführlich dis-
kutiert worden ist und zu der es auch Pressemitteilungen
vom Bundesarbeitsministerium gibt. Sie möchten zwar
mitarbeiten, verunsichern aber die Behinderten. Das kön-
nen unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
gar nicht gebrauchen.


(Beifall bei der SPD)

Sie behaupten – ich hoffe, Sie haben den letzten Ent-

wurf des Gesetzes gelesen; das setze ich natürlich voraus,
wenn sie zu diesem Thema eine Rede halten –, es werde
nur ein Integrationsfachdienst eingerichtet. Tatsächlich
steht drin: „mindestens“ – das heißt, es werden mehrere
sein.


(Claudia Nolte [CDU/CSU]: Es wird angestrebt!)


– Lassen Sie mich bitte ausreden! Die Hauptfürsorgestel-
len sind mit dabei. Das müssten Sie eigentlich vernom-
men haben.

Herr Seifert, über das Teilhabesicherungsgesetz ha-
ben wir bereits gesprochen. Ich hoffe, dass Sie, wenn es
um die Schaffung von 50 000 Arbeitsplätzen für Behin-
derte geht, genauso engagiert mitarbeiten werden, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Mensch
Arbeit hat, dann ist er nicht auf Sozialhilfe und Almosen
der Gesellschaft angewiesen. Das ist die Grundvor-
aussetzung. Behinderte Menschen wollen nicht nur einen
gesetzlichen Anspruch auf Zuwendungen haben; sie wol-
len auch mitarbeiten. Die Integration Behinderter in das
Arbeitsleben ist dieser Regierung besonders gut gelun-
gen, Herr Seifert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe heute trotzdem ein sehr gutes Gefühl, denn
wir haben – ich habe das bereits am Anfang meiner Rede
erwähnt – einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt. Das ist ein
qualitativ hochwertiger Schritt. Wir werden mit diesem
Gesetz die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nachhaltig
verringern. Damit haben wir einen großen Schritt zur Ver-
wirklichung sozialer Gerechtigkeit getan; denn diejenigen
Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin diskrimi-
niert sind und benachteiligt werden, trifft die Arbeitslo-
sigkeit doppelt schwer.
Es gehört zu den Grundelementen unserer Sozialpolitik,
für die Beseitigung derartiger Ungerechtigkeiten einzu-
treten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410616600
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Nolte?


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410616700
Nein, das muss jetzt
nicht sein. Wir können gern im Ausschuss reden. Ich habe
heute schon zu viel gehört.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wer Unsinn behauptet, muss hier befragt werden!)


Es ist einfach sozial ungerecht, wenn Menschen – aus
welchem Grund auch immer – aus der Gesellschaft aus-
geschlossen werden, wenn wir keine Möglichkeiten zur
Integration bieten und ihnen, kurz gesagt, die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben verweigern.

Wir werden mit unserem Gesetzentwurf einen ersten
richtigen Schritt gehen, um diese Missstände abzubauen.
Es ist wichtig, dass es uns gelingt, innerhalb sehr kurzer
Zeit 50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu schaf-
fen. Frau Staatssekretärin Mascher hat schon gesagt, mit
welchen rechtlichen Mitteln wir dieses Ziel erreichen
wollen. Die Zustimmung der Verbände und der Gewerk-
schaften sowie die Mitwirkung der Arbeitgeberverbände
geben uns Recht.

Eine entscheidende Ursache für den großen Anteil
der Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehinderten
liegt in der unzureichenden Vermittlung und Betreuung.
Schwerbehinderte brauchen eine gezielte Beratung, Schu-
lung und Vermittlung, weil sie von vornherein auf dem
Arbeitsmarkt benachteiligt sind.
Das hat auch die meisten Arbeitsämter und Hauptfürsor-
gestellen überfordert. An diesem Punkt setzen wir an.

Jedes Arbeitsamt wird einen Ansprechpartner bekom-
men, der für die Beratung Schwerbehinderter geschult
wird und nur für deren Belange zuständig ist. Zusätzlich
wird ein breites Netz an Integrationsfachdiensten ge-
schaffen, und zwar wird es für jeden Arbeitsamtbezirk
mindestens einen Fachdienst geben. Der Integrations-
fachdienst kann von einem Verband eingerichtet werden
und aus einem Verbund mehrerer Verbände bestehen.

Die Integrationsfachdienste werden auf die spezifi-
schen Bedürfnisse, die Ausbildung, die Fähigkeiten, die
Behinderung und die Ansprüche einzelner Schwerbehin-
derter zielorientiert eingehen. Sie werden dem Schwerbe-
hinderten auch dann noch bei Problemen zur Seite stehen,
wenn er auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits Fuß gefasst
hat. Wir haben damit auch die Chance, schwerbehinderte
Frauen, Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind, und
gerade Schwerbehinderte in den neuen Bundesländern
vermehrt in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Ich möchte Ihnen kurz ein Beispiel nennen: Ich hatte
neulich ein Gespräch mit dem als Modelleinrichtung rea-
lisierten Integrationsfachdienst in Wittenberg. Dieses Ge-
spräch machte mir einfach Mut. So sagte man mir zum
Beispiel, dass zunächst etwa 50 Prozent der privaten Fir-
men und Unternehmen nicht einmal wissen, was ein
Schwerbehindertenausweis ist, was er bedeutet und wel-
che Fördermittel sie erhalten können, wenn sie einen
Schwerbehinderten einstellen. Nach einem klärenden






(C)



(D)



(A)



(B)


Gespräch mit den Unternehmen könnten Unsicherheiten
ausgeräumt und Ängste beseitigt werden, sodass einer
Einstellung Schwerbehinderter nichts mehr im Weg
steht. – In diesem Bereich bestehen erhebliche Defizite,
die wir gemeinsam mit den Verbänden, mit den Gewerk-
schaften und mit den Arbeitgeberverbänden durch Infor-
mation abbauen müssen.

Übrigens sind wir damit voll im Trend; denn in der ak-
tuellen Diversity-Diskussion geht es in vielen großen Un-
ternehmen der USA schon darum, Talente, verschiedene
Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschied-
lichster Gruppen zu nutzen, zum Beispiel in gemeinsamen
Teams von Männern und Frauen, Behinderten und Nicht-
behinderten, Alten und Jungen sowie Menschen verschie-
denster Herkunft.

Noch etwas anderes macht mir Mut: Die Vertreter der
Integrationsfachdienste sagten mir, dass etwa genauso
viele schwerbehinderte Frauen wie schwerbehinderte
Männer in Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt
vermittelt werden konnten. Den Weg der Integrations-
fachdienste sollten wir weitergehen. Der Frauenanteil in
den Werkstätten für Behinderte liegt bei 42,2 Prozent. Das
ist eine relativ gute Zahl. Aber auch diese Frauen müssen
den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen.

Bedenkt man diese erschreckende Benachteiligung
schwerbehinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt, so kann
man die Bedeutung von Integrationsfachdiensten, aber
auch von Integrationsfirmen und -unternehmen gar nicht
hoch genug schätzen; denn sie haben bis jetzt 6 000
Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen geschaf-
fen. Zum ersten Mal gibt es für diese Dienste, für diese
Firmen und für diese Unternehmen mit unserem Gesetz-
entwurf eine Rechtssicherheit.

Das Forschungsprojekt „LIVE“ hat in einer umfang-
reichen Studie herausgestellt, dass Erwerbstätigkeit, Aus-
bildung und Beruf bei schwerbehinderten Frauen einen
außerordentlich hohen Stellenwert haben. Ich zitiere die
Aussage einer im Rahmen der Studie befragten Frau:

Ich glaube, dass Ausbildung für mich einen höheren
Stellenwert hat als für viele Nichtbehinderte, weil
man einfach besser sein muss, um das Gleiche zu be-
kommen wie Nichtbehinderte.

In dieser Studie zeigten sich überwiegend so genannte
gebrochene Berufsbiografien, wobei neben frauentypi-
schen Gründen wie Erziehungsurlaub vor allem die Be-
hinderung Ursache dafür war – also etwa bei Reduzierung
der Stundenzahl –, dass man sich nicht gut gefühlt hat;
Teilzeitarbeit gab es erst ab 55 Jahren. Die Studie zeigt
weiter, dass bei den befragten Frauen immer großes Be-
dauern und oft auch Resignation angesichts ihrer Berufs-
biografien zu finden war.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410616800
Frau Kollegin
Schmidt, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1410616900
Ja, das mache ich.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie dringend

notwendig es für den Gesetzgeber ist, endlich zu handeln.

Ich glaube, wir alle hier im Saal sind dieser Meinung. Wir
sind glücklich, dass endlich sehr viele Punkte wie zum
Beispiel der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz und
Teilzeitarbeit in unserem Gesetz verankert werden. Zum
Schluss betone ich noch einmal: Wir alle müssen gemein-
sam mit den Verbänden, den Arbeitgebern, den Arbeit-
nehmern und den Gewerkschaften dazu beitragen, soziale
Gerechtigkeit für die behinderten Mitbürger herzustellen.
Das ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft.
Wir nehmen diese Herausforderung an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1410617000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3372 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung auf Drucksache 14/2913. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung
zur Abstimmung vom Kollegen Dr. Ilja Seifert gibt.*)

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/2913, folgende
Anträge für erledigt zu erklären: Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Die Integration
von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche
politische und gesellschaftliche Aufgabe“, Drucksa-
che 14/2237, Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Alte
Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen –
Bilanz der Behindertenpolitik“, Drucksache 14/2234, so-
wie Antrag der Fraktion der PDS auf Vorlage eines Teil-
habesicherungsgesetzes, Drucksache 14/827.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung, diese An-
träge für erledigt zu erklären? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2415 und 14/3382 an die an der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 7. Juni 2000, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.