Protokoll:
14103

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 103

  • date_rangeDatum: 12. Mai 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:22 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Eintritt der Abgeordneten Kerstin Griese in den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . 9645 A Tagesordnungspunkt 14: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2000 (Drucksache 14/3244) . . . . . . . . . . . . . . . . 9645 A Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF 9645 B Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9648 C Ulrich Kasparick SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9650 D Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9652 B Stephan Hilsberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9654 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9654 D Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9655 C Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9656 D Christian Simmert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9658 B Heinz Wiese (Ehingen) CDU/CSU . . . . . . . . 9659 B Willi Brase SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9661 A Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9661 D Eva-Maria Bulling-Schröter PDS . . . . . . . 9662 C Dirk Niebel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9663 B Ilse Aigner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9664 D Tagesordnungspunkt 15: a) Große Anfrage der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Schorlemer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Schadenser- satzforderungen und -prozesse des Bundes gegen das Bundesland Nie- dersachsen im Zusammenhang mit Baustopps für das EndlagerGorleben in den Jahren 1990 bis 1994 (Drucksachen 14/1375, 14/2639) . . . . 9667 A b) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses Sammelübersicht 31 zu Petitionen (Gegen die friedliche Nutzung der Kern- energie) (Drucksache 14/564) . . . . . . . . . . . . . . 9667 A c) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses Sammelübersicht 69 zu Petitionen (Stilllegung von Atomkraftwerken und Ausstieg aus der Kernenergie) (Drucksache 14/1562) . . . . . . . . . . . . . 9667 A Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9667 B Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9668 C Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 9670 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 9672 C Eva-Maria Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . 9674 A Arne Fuhrmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9674 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU . . . . 9676 B Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9677 D Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . 9678 C Kurt-Dieter Grill CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9680 D Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9682 A Horst Kubatschka SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9682 C Plenarprotokoll 14/103 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 103. Sitzung Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung seuchen- rechtlicher Vorschriften (Seuchenrechts- neuordnungsgesetz) (Drucksachen 14/2530, 14/3194) . . . . . . . 9684 B Andrea Fischer, Bundesministerin BMG . . . . 9684 C Dr. Sabine Bergmann-Pohl CDU/CSU . . . . . 9686 A Dr. Wolfgang Wodarg SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9688 A Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9689 D Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9690 C Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (Drucksachen 14/2292, 14/2355, 14/3320) 9691 B Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . . 9691 C Annette Widmann-Mauz CDU/CSU . . . . . . . 9693 B Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9695 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9697 A Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9697 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums (Drucksache 14/3005) . . . . . . . . . . . . . . . . 9698 D Maritta Böttcher PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9698 D Stephan Hilsberg SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9700 A Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 9701 C Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9702 A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9703 C Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9705 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe (Drucksache 14/3107) . . . . . . . . . . . . . . . . 9706 A Gudrun Kopp F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9706 A Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationa- ler und EU-Ebene beschleunigen (Drucksache 14/3096) . . . . . . . . . . . . . . . . 9706 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Wettbewerbs- nachteile durch unterschiedliche Zulas- sungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen (Drucksache 14/3298) . . . . . . . . . . . . . . . . 9706 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung derBundes- regierung zu Veröffentlichungen, wonach Bundesfinanzminister Eichel eine Er- höhung derMehrwertsteuer im nächsten Jahr plant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9707 A Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9707 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9708 B Otto Bernhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9708 C Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9709 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . . . . . . . . . 9710 B Klaus-Peter Willsch CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9711 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9712 A Diethard Schütze (Berlin) CDU/CSU . . . . . . 9713 B Nina Hauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9714 C Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9715 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9716 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 9717 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Beatrix Philipp, Martin Hohmann, Thomas Strobl (Heilbronn), Günter Baumann, Sylvia Bonitz, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Koschyk, Dr. Hans-Peter Uhl, Meinrad Belle, Hartmut Büttner (Schönebeck), Irmgard Karwatzki, Marie-Luise Dött, Franz Romer, Anita Schäfer, Norbert Schindler, Ursula Lietz, Wolfgang Schulhoff, Ingrid Fischbach, Renate Diemers, Norbert Röttgen, Peter Hintze, Werner Lensing, Heinz Schemken, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000II Paul Breuer, Norbert Königshofen, Arnold Vaatz, Dr. Paul Laufs, Georg Girisch, Ilse Aigner, Kurt-Dieter Grill, Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Bernd Siebert (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuord- nung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seu- chenrechtsneuordnungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9718 A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe (Tagesordnungspunkt 19) . . . . . . . . . . . . . . . . 9718 C Marianne Klappert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9718 C Jella Teuchner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9719 D Meinolf Michels CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9720 B Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 9720 D Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9721 D Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen – Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesordnungspunkt 3) . . . . . . . . . . 9722 C Gustav Herzog SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9722 C Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9723 C Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9724 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9725 C Marita Sehn F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9726 C Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9727 B Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BML 9728 C Anlage 5 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9730 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 Dr. Jürgen Gehb 9716 (C) (D) (A) (B) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9717 (C) (D) Altmaier, Peter CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 12.05.2000 Dr. Blank, CDU/CSU 12.05.2000 Joseph-Theodor Brüderle, Rainer F.D.P. 12.05.2000 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 12.05.2000 Peter H. Dreßler, Rudolf SPD 12.05.2000 Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 12.05.2000 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN Flach, Ulrike F.D.P. 12.05.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 12.05.2000 Fuchs (Köln), Anke SPD 12.05.2000 Gebhardt, Fred PDS 12.05.2000 Glos, Michael CDU/CSU 12.05.2000 Göllner, Uwe SPD 12.05.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 12.05.2000 Haschke (Großhenners- CDU/CSU 12.05.2000 dorf), Gottfried Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 12.05.2000 Hoffmann (Chemnitz), SPD 12.05.2000 Jelena Homburger, Birgit F.D.P. 12.05.2000 Dr. Hornhues, CDU/CSU 12.05.2000 Karl-Heinz Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 12.05.2000 Imhof, Barbara SPD 12.05.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 12.05.2000 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 12.05.2000 Kossendey, Thomas CDU/CSU 12.05.2000 Lehn, Waltraud SPD 12.05.2000 Leidinger, Robert SPD 12.05.2000 Lippmann, Heidi PDS 12.05.2000 Marquardt, Angela PDS 12.05.2000 Matschie, Christoph SPD 12.05.2000 Dr. Meister, Michael CDU/CSU 12.05.2000 Moosbauer, Christoph SPD 12.05.2000 Müller (Berlin), Manfred PDS 12.05.2000 Neuhäuser, Rosel PDS 12.05.2000 Neumann (Bremen), CDU/CSU 12.05.2000 Bernd Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN Ohl, Eckhard SPD 12.05.2000 Pofalla, Ronald CDU/CSU 12.05.2000 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 12.05.2000 Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm CDU/CSU 12.05.2000 Rühe, Volker CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 12.05.2000 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 12.05.2000 Schily, Otto SPD 12.05.2000 Schindler, Norbert CDU/CSU 12.05.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 12.05.2000 Hans Peter Schüßler, Gerhard F.D.P. 12.05.2000 Schuhmann (Delitzsch), SPD 12.05.2000 Richard Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 12.05.2000 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSU 12.05.2000 Wolfgang Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 12.05.2000 entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (A) (B) Anlagen zum Stenographischen Bericht Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 12.05.2000 Uldall, Gunnar CDU/CSU 12.05.2000 Wagner, Hans Georg SPD 12.05.2000 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 12.05.2000 Wieczorek (Duisburg), SPD 12.05.2000 Helmut Wieczorek-Zeul, SPD 12.05.2000 Heidemarie Wülfing, Elke CDU/CSU 12.05.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 12.05.2000* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Beatrix Philipp, Martin Hohmann, Thomas Strobl (Heilbronn), Günter Baumann, Sylvia Bonitz, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Koschyk, Dr. Hans-Peter Uhl, Meinrad Belle, Hartmut Büttner (Schönebeck), Irmgard Karwatzki, Marie-Luise Dött, Franz Romer, Anita Schäfer, Norbert Schindler, Ursula Lietz, Wolfgang Schulhoff, Ingrid Fischbach, Renate Diemers, Norbert Röttgen, Peter Hintze, Werner Lensing, Heinz Schemken, Paul Breuer, Norbert Königshofen, Arnold Vaatz, Dr. Paul Laufs, Georg Girisch, Ilse Aigner, Kurt-Dieter Grill, Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Bernd Siebert (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuord- nung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchen- rechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) (Ta- gesordnungspunkt 16) Hiermit erklären wir, dass wir in der 2. und 3. Lesung des o. a. Gesetzes mit „Nein“ stimmen werden. Wir tun dies aus der Überzeugung, dass eine Absen- kung der seuchenrechtlichen Vorschriften und Standards, wie sie dieses Gesetz im Gegensatz zum bisher gültigen Seuchengesetz beinhaltet, nicht zu verantworten ist. Unsere Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf fol- gende drei Punkte: Erstens. Auf die Einstellungsuntersuchungen bei in der (offenen) Lebensmittelherstellung Beschäftigten soll ver- zichtet und diese durch eine „Belehrung“ ersetzt werden. Zweitens. Die Untersuchungspflicht für Prostituierte soll ersatzlos wegfallen. Drittens. Die personenbezogenen Daten von Hepatitis- C-Virus-Trägern sollen spätestens nach drei Jahren gelöscht werden. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfa- len-Lippe (Tagesordnungspunkt 19) Marianne Klappert (SPD): Auch wenn die Presse in eher despektierlicher Form über diesen F.D.P.-Antrag ge- schrieben hat – von Artischocken im Bundestag war da die Rede oder von Würzigem aus dem Bundestag –, wol- len wir diesen Antrag dennoch ernst nehmen, weil er im Grundsatz durchaus eine richtige Zielrichtung hat: einer sich im Strukturwandel befindlichen Landwirtschaft an- dere Produktions- und damit Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen. Ich will aber nicht verhehlen, dass mir der Zeitpunkt dieses Antrags – er datiert vom 5. April dieses Jahres – und die Tatsache, dass eine Debatte darüber bereits heute stattfindet, darauf abzuzielen scheinen, nicht allein dem Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe auf die Sprünge zu helfen, sondern auch dem zarten Pflänzchen F.D.P. in Nordrhein-Westfalen einen Vorwahl- Wachstums-Schub zu geben. Und ohne jetzt in eine Urheberrechtsdebatte eintreten zu wollen, gestatte ich mir doch den Hinweis, dass der An- trag der F.D.P. an eine Idee anknüpft, die durch die Bä- derstädte in der Region und die zuständigen Kreise und damit wesentlich durch Sozialdemokraten 1997 im Hin- blick auf die EXPO 2000 geboren wurde: die Idee eines Heilkräutergartens in der Region. Aber auch diese Anknüpfung ist legitim, wenn es sich dabei nicht um eine parlamentarische Initiative mit Halb- wertzeit bis zum Wahltag handelt, sondern um ein durch- dachtes und unterstützenswertes Konzept. Daran aber habe ich – noch! – meine Zweifel. Zunächst: Wir unterstützen jede Initiative, die darauf abzielt, neue Einkommensmöglichkeiten für die Land- wirtschaft zu eröffnen, jede Initiative, die durch die Be- griffe Nachhaltigkeit, Produktsicherheit und Wirtschaft- lichkeit gekennzeichnet ist. Deshalb ist der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen in Deutschland eine gute und – darüber besteht Konsens auch mit dem Bundesminister – grundsätzlich förde- rungswürdige Sache. Da der Markt für pflanzliche Arzneimittel in Deutsch- land und Europa eine steigende Tendenz aufweist, zudem der Selbstversorgungsgrad in Deutschland ausgesprochen gering ist – das schreiben Sie ja auch richtig in Ihrem An- trag –, bietet sich hier eine Möglichkeit für einheimische Produzenten. Insofern wäre auch gegen einen Heil- und Gewürz- pflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe nichts einzuwen- den. Dass zumindest der Gewürzpflanzenanbau dort mög- lich ist, geht nicht nur aus der Antragsbegründung hervor, sondern auch aus der mir zugegangenen Information, dass in dieser Region früher schon einmal Gewürzpflanzenan- bau in größerem Stil betrieben worden ist – und das, wie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9718 (C) (D) (A) (B) mir die Landwirtschaftskammer gesagt hat, mit gutem Er- folg. Aber es bleiben Fragen, entscheidende Fragen, auf die in der zukünftigen Ausschussberatung befriedigende Ant- worten gefunden werden müssen. Die erste wesentliche Frage: Gibt es überhaupt genü- gend geeignete Fläche zum Anbau einer solchen Sonder- kultur in größerem Umfang? Da gibt es durchaus wider- sprüchliche Aussagen. Einerseits berichtet die Landwirt- schaftskammer von durchaus vorhandenen Ackerflächen, andererseits ist aber auch zu fragen, ob diese so ohne wei- teres kurzfristig umgewidmet werden können. Es kann dabei tatsächlich nur um frei gewordene Ackerflächen ge- hen, keinesfalls darum, Grünland in Ackerfläche umzu- wandeln. Das mittelfristige Entwicklungskonzept für Ost- westfalen-Lippe weist darauf hin, dass seit vielen Jahren ein erheblicher Rückgang von Grünland in Ostwestfalen- Lippe durch Umwandlung in Ackerland festzustellen sei, was für die auf diese Flächen spezialisierten Pflanzen und frei lebende Tierwelt eine hohe Gefährdung darstelle. Die zweite wesentliche Frage: Kann dauerhaft ge- währleistet werden, dass die für die Rohstoffversorgung aus heimischer Produktion besonders bedeutsamen Aspekte wie höchste Qualität, Liefersicherheit, Anbau unter hohen ökologischen und sozialen Standards und Schutz von bedrohten Arten – kein Raubbau an der Wild- flora – beachtet werden? Die Kollegin Teuchner hat ja schon darauf hingewie- sen, dass deutsche Produzenten nur wettbewerbsfähig sind, wenn sie sich ganz auf Qualitätserzeugung konzen- trieren, Stichwort: Kontrollierter Integrierter Anbau, der die innere und äußere Qualität der Erzeugnisse garantiert und gleichzeitig umweltschonende Anbauverfahren. Dritte Frage: Bietet die Region besonders günstige Voraussetzungen für einen großflächigen Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen? Dabei sind nicht nur die Bo- denqualität und die klimatischen Voraussetzungen zu be- achten, sondern auch die Frage, ob sich die Region Ost- westfalen-Lippe gegenüber anderen Regionen besonders auszeichnet. Da bin ich mir nicht sicher. Die Nähe von Heilbädern allein und der Hinweis auf die Gesundheitsre- gion Ostwestfalen-Lippe spielt nach meinem Dafürhalten für den erfolgeichen Anbau und die Vermarktung eine eher untergeordnete Rolle. Zwar formuliert das mittelfris- tige Entwicklungskonzept für Ostwestfalen-Lippe, dass die Möglichkeit des Anbaus landwirtschaftlicher Spezial- kulturen für Marktnischen zu verfolgen und dabei der Vorteil regionaler Absatzmöglichkeiten zu berücksichti- gen sei. Aber es ist die Frage zu beantworten, ob das für die Produktion von Heil- und Kräuterpflanzen möglich ist. Und die vierte wesentliche Frage: Rechnet sich das auf Dauer? Ein Modellprojekt macht ja nur dann Sinn, wenn es in absehbarer Zeit aus dem Modellstadium heraustre- ten und sich aus eigener Kraft am Markt behaupten kann. Das berührt unmittelbar die Frage, in welcher Weise und auf welche Dauer ein solches Produkt durch öffentliche Mittel gefördert werden kann. Sie formulieren in der Begründung Ihres Antrags, dass die EU-Agrarpolitik zu einer immer stärkeren Abhängig- keit der Landwirte von staatlichen Zuschüssen führe. Wenn Sie dann in Ihrem Antrag eine Anschubfinanzie- rung fordern, dann nehme ich Ihnen ab, dass Sie auch nur eine Anschubfinanzierung meinen. Es kann ja nicht sein – und widerspräche Ihrem Begründungstext –, dass der An- bau von Heil- und Kräuterpflanzen dauerhaft am Subven- tionstropf hinge. Aber auch sonst habe ich – ebenso wie meine Kollegin Teuchner – Bedenken gegen eine finanzielle Förderung des Projektes durch den Bund, und das nicht nur aus haus- haltspolitischen Überlegungen, sondern auch, um Be- nachteiligungen bereits am Markt etablierter Produzenten zu vermeiden. Aus diesem Grunde kann nach meinem Dafürhalten der Bund auch nicht sozusagen Veranstalter eines solchen Projektes sein, wie Sie es fordern. Er kann aber – und darüber können wir in den Ausschussberatun- gen reden – entsprechende Eigeninitiativen begleitend – begleitend, aber nicht verantwortlich! – fördern, zum Bei- spiel durch die Bereitstellung von Beratungsleistungen. Sie schreiben in Ihrem Antrag richtig, dass ein Ver- tragsabschluß von Landwirten mit Arzneimittelherstel- lern oder sonstigen Abnehmern die wichtigste Vorausset- zung für die erfolgreiche Produktion ist. Insofern halte ich Ihre Anstrengungen, Erzeuger und Verarbeiter in der Re- gion Ostwestfalen-Lippe zusammenzubringen, für durch- aus begrüßenswert. Und dann erscheint es mir sinnvoll, wenn kooperationswillige Landwirte und Firmen in der Region versuchen, über schon vorhandene Strukturen, zum Beispiel über den Fachausschuss für Arznei-, Ge- würz- und Aromapflanzen, behutsam und strategisch und gut geplant Fuß zu fassen. Wir halten die Idee, Landwirten eine Nischenproduk- tion durch Heil- und Gewürzpflanzen zu ermöglichen, für durchaus begrüßenswert. Ob das allerdings in der Form der in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen möglich ist oder ob eine andere Form der Unterstützung von Eigen- initiative in diesem Bereich gefunden werden muss, darü- ber wird in den Beratungen zu reden sei. Jella Teuchner (SPD): 10 000 Hektar Arznei- und Gewürzpflanzen werden in Deutschland angebaut. Etli- che landwirtschaftliche Betriebe haben sich mit dem An- bau dieser Sonderkulturen eine Einkommensalternative erschließen können. Zentren des Anbaus haben sich he- rausgebildet, vor allem in Bayern und Thüringen. Nach dem Willen der F.D.P. soll in der Region Ostwestfalen- Lippe ein weiteres Zentrum des Arznei- und Gewürz- pflanzenanbaus als Modellprojekt mit Anschubfinanzie- rung aus Bundesmitteln entstehen. Ich halte es für richtig, den Landwirten Einkommensalternativen zu erschließen. Arznei- und Gewürzpflanzen sind für einige Betriebe eine Möglichkeit. Ich finde es allerdings interessant, dass gerade die Liberalen dazu Wettbewerbsverzerrungen in einem sensiblen Marktsegment in Kauf nehmen. Arzneipflanzen gewinnen heute wieder zunehmend an Bedeutung. Damit ergeben sich auch weitere Absatz- möglichkeiten für die Hersteller der Arzneipflanzen. Der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9719 (C) (D) (A) (B) vermehrte Anbau macht dies deutlich; er macht auch deut- lich, dass etliche landwirtschaftliche Betriebe diese Marktchance bereits für sich nutzen konnten. Der Anbau von Arznei- und Gewürzpflanzen ist eine Nische, die aus- gefüllt werden sollte. Wir müssen uns aber auch darüber klar sein, dass in einer Nische nicht unbegrenzt Platz ist. Ein Blick auf den Markt für Arznei- und Gewürzpflanzen zeigt folgendes Bild: 95% des Anbaus von Arznei- und Gewürzpflanzen erfolgt als Vertragsanbau. Der Standort- vorteil der deutschen Produktion ist die enge Verzahnung von Produzent und Abnehmer. Sowohl Qualitätsstandards als auch Sorten können koordiniert gesetzt bzw. angebaut und abgesetzt werden. Als Hemmnisse gelten aus Sicht der Anbauer die langjährig gewachsenen Geschäftsbezie- hungen zwischen Importeuren und ausländischen Han- delspartnern, die Unkenntnis vieler Abnehmer über die Anbaumöglichkeiten im Inland, fehlende Beratungsinsti- tutionen für die Landwirte und fehlende Sorten, Pflan- zenschutzmittel und Anbautechnologien. Ein Vertragsabschluss von Landwirten mit Arzneimit- telherstellern ist somit eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Produktion. Sie sind trotz billigerer Lie- feranten aus dem Ausland wettbewerbsfähig, wenn sie eine reproduzierbare und standardisierte Qualität liefern können. Ständige Qualitätskontrolle ist die Grundvoraus- setzung dafür, dass die Produkte auch abgesetzt werden können. Qualitätssicherung nach ISO 9002 wird dazu ge- nauso eingesetzt wie ein abnehmerkontrollierter Vertrags- anbau. Wir sollten die Landwirte unterstützen, die Hemmnisse zu überwinden, wo es möglich und sinnvoll ist. Ich sehe dazu verschiedene Möglichkeiten: die Unterstützung der Landwirte in der Qualitätssicherung, die Förderung der Kooperation von Landwirten und Abnehmern und die fachliche Hilfestellung beim Einstieg in die Produktion von Arznei- und Gewürzpflanzen. Eine Anschubfinanzie- rung für notwendige Erstinvestitionen für zusätzliche Produktion ist dagegen problematisch: Die Pioniere im Heil- und Gewürzpflanzenanbau haben mit erheblichen Eigenmitteln Methoden und Maschinen entwickelt, ver- bessert und finanziert. Eine Finanzierung der Erstausstat- tung für die Konkurrenzproduktion würde den Wettbe- werb erheblich verzerren. Anreize zur Verbesserung der Anbautechnologien würden genommen. Der unkoordi- nierte, zusätzliche Anbau von Arznei- und Gewürzpflan- zen kann zum Einbrechen der Märkte führen. Der Anbau von Arznei- und Heilpflanzen soll unter- stützt werden. Die Unterstützung muss die Chancen, die sich bieten, erschließen; sie darf sie allerdings nicht ge- fährden. Meinolf Michels (CDU/CSU): Frau Kopp hat mit ihrem Antrag eine Nische aufgezeigt. Für die Gesund- heitsregion Ostwestfalen-Lippe mit vielfältiger Bäder- landschaft, mit ihrer landwirtschaftlichen Struktur könnte der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen eine Chance bedeuten. Fest steht, dass die Nachfrage an Heil- und Gewürz- pflanzen zunimmt. Steigender Bedarf der Bäder vor Ort besonders für Kamille, Fenchel, Johanniskraut, Spitzwe- gerich, Majoran, Thymian, so genannte Arznei- und Ge- würzdrogen, ist festzustellen. Auf einer Anbaufläche von circa 6 000 Hektar werden zurzeit in Deutschland aber nur 10 Prozent des Bedarfs gedeckt. Das bedeutet, dass circa 90 Prozent der Heil- und Gewürzkräuter importiert wer- den. Hierbei handelt es sich um die Produktion von circa 55 000 Hektar. Das Ziel muss sein: Bedarf durch eigene Produktion decken. Für das Pilotprojekt muss die Bundesregierung die Rahmenbedingungen schaffen: a) Zur EU-Konformität. Es ist zu bedenken, dass für den pflanzlichen Bereich, eingeschlossen die Heil- und Gewürzpflanzen, die Harmonisierungsvorhaben zum Pflanzenschutz, zum Saat- und Pflanzgut, zum Dünge- mitteleinsatz und zum Lebensmittelrecht noch nicht ab- geschlossen sind. b) Eine Prüfung hat zu erfolgen, wie die Pilotmaß- nahme ans Laufen gebracht und die Abnahme sicherge- stellt werden kann. Seitens der Regierung sollte die Übernahme der Kos- ten im nächsten Haushalt für einen Projektberater, der als Katalysator und Berater für zu bildende Erzeugergemein- schaften tätig ist, zugesagt werden. Denn es ist richtig: Erzeugergemeinschaften sichern Weltmarktpreise; mehrjährige Vertragsbindungen wegen Ertragszeit sind notwendig; von der Abnehmerseite wer- den homogene Produkte und größere, marktinteressante Mengen gefragt. Für die Landwirte kann der Anbau nur auf der Grund- lage sicherer Anbauverträge erfolgen. Zur Rentabilität. Beispiel: Bernburg in Sachsen-An- halt. Hohe Trockenkosten bedingten den Ausstieg dieser Firma. Für einzelne Kräuterarten fallen pro Hektar im Schnitt 5 000 DM Trockenkosten an; Beispiel: Johannis- kraut. Voraussetzung ist daher: sinkende Energiekosten. Zum Beispiel hatte die Anbaugemeinschaft Bernburg allein durch die Verteuerung der Energiekosten zusätzli- che Kosten von 32 000 DM. Der Ausblick. Der Antrag ist prüfungswürdig. Die Re- gierung muss Rahmenbedingungen festlegen und EU- Konformität herstellen. Unsere Fraktion beteiligt sich konstruktiv und fördernd an der Pilotmaßnahme. Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Es wird wieder spannend im Bundestag“, schrieb gestern die „Berliner Morgenpost“ unter dem Titel „Liberale und ihre Leidenschaften“. In der Tat beobachtet meine Fraktion mit Spannung, wie die F.D.P. versucht, sich zwei Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen noch flugs ein grünes Image zu verpassen. Bedauerlich für Sie, dass Sie nicht schon vor der Bundestagswahl 1998 auf die Idee ge- kommen sind, den Antrag zu stellen, das neue Regie- rungsviertel in Berlin – bzw. den Platz vor dem Reichs- tagsgebäude – mit Heil- und Gewürzpflanzen zu begrü- nen. Womöglich hätten Sie damit die rot-grüne Bundesregierung verhindert und die Besucherinnen und Besucher Berlins könnten jetzt die Düfte von Rosmarin, Thymian oder Oregano genießen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9720 (C) (D) (A) (B) Ihrem agrarpolitischen Sprecher ist aber offenbar nicht ganz wohl bei diesem Antrag, daher hat er die Brennnes- seln Frau Kopp überlassen. Es wundert mich schon, dass Sie von der F.D.P., die Sie sich doch als Sachwalter des freien Marktes verstehen, hier plötzlich nach staatlicher Subvention rufen. Und dies für eine Produktionsnische, die Sie zufällig im Wahlkreis von Frau Kopp als beson- ders geeignet lokalisieren. An dieser Stelle muss endlich einmal darauf hingewie- sen werden, dass auch die Region Anhalt mit den Städten Dessau, Wittenberg, Bitterfeld und Bernburg besonders geeignet für verschiedene Modellprojekte ist. Das erheb- liche Potenzial der Region mit Bauhaus, Wörlitzer Gar- tenreich, Lutherstadt Wittenberg oder der „Stadt aus Ei- sen“ Ferropolis und den reichhaltigen Erfahrungen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner bietet vielfältige Mög- lichkeiten in dieser Hinsicht. Aber sehen wir uns einmal an, worum es beim Heil- und Gewürzpflanzenanbau geht: In Deutschland werden heute zwischen 4 000 und 10 000 Hektar Heil- und Ge- würzpflanzen angebaut. Bereits die Variationsbreite die- ser Größenordnungen weist darauf hin, dass Unterschiede in der Wirtschaftlichkeit von Heil- und Gewürzpflanzen zu beachten sind: Heil- und Gewürzpflanzen, deren An- bau als nachwachsende Rohstoffe auf stillgelegten Flächen erlaubt ist, haben andere wirtschaftliche Rah- menbedingungen als diejenigen, die sich ohne Stillle- gungsprämie zu Weltmarktpreisen behaupten müssen. Richtig ist, dass sich aus dem geringen Selbstversor- gungsgrad mit Heil- und Gewürzpflanzen in Deutschland erhebliche Anbaupotenziale ergeben. Aber die Schlüssel- frage ist doch nicht, welche Mengen an Heil- und Ge- würzpflanzen wir in Deutschland aufgrund der Tempera- tur- und Niederschlagsverhältnisse anbauen könnten, son- dern: Wie wirtschaftlich ist deren Anbau für den einzelnen Landwirt und wie finden diese Erzeugnisse ihre Abneh- mer? Bündnis 90/Die Grünen sehen ebenso wie die rot- grüne Bundesregierung einen Schwerpunkt zukunftsfähi- ger Landwirtschaft in Deutschland im Anbau nachwach- sender Rohstoffe. Hierzu zählt auch das Segment der Heil- und Gewürzpflanzen. Das Landwirtschaftsministe- rium des Landes Nordrhein-Westfalen hat in diesem Be- reich Modellprojekte gefördert, wie beispielsweise das Modellprojekt zur Gewinnung ätherischer Öle aus Ge- würzpflanzen im Kreis Borken. Die Erfahrungen, die dort gewonnen wurden, sind durchaus auch auf den Kreis Westfalen-Lippe übertragbar. Die Landwirte zeigen einen hohen Grad an Flexibilität bei anbautechnischen und Auf- arbeitungsfragen. Hier besteht auch im Kreis Westfalen- Lippe das fachmännische Know-how. Hierin sehe ich kein Problem. Eine Anschubförderung für den Anbau, wie sie die F.D.P. in ihrem Antrag verlangt, zielt aber am Kern des Problems vorbei: Anbau und Absatz von Heil- und Ge- würzpflanzen wird in der Region Westfalen-Lippe wie auch andernorts nur dann ein langfristig tragfähiges Standbein für die regionalen Erzeuger und Verarbeiter, wenn die Wirtschaftlichkeit gegeben ist. Hier mit staat- lichen Geldern einen neuen Subventionstatbestand aufzu- machen, der an den wirtschaftlichen Realitäten vorbei- geht, wäre grundfalsch. Die Erfahrungen aus NRW zei- gen, dass an erster Stelle immer die Erkundung des Mark- tes stehen muss. Zunächst müssen die Marktlücken und Absatzpotenziale identifiziert sowie Abnahmeverträge zwischen Landwirten und Verarbeitern ausgehandelt wer- den. Der Anbau ist dann das geringste Problem. Bundesregierung und Landesregierung NRW stimmen hierin völlig überein, dass eine finanzielle Anbauförde- rung nicht der richtige Weg ist, sondern dass neue Pro- duktlinien im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe all- gemein, aber auch im Heil- und Gewürzpflanzenbereich nur dann langfristig zu tragfähigen wirtschaftlichen Ent- wicklungen führen, wenn zu Marktbedingungen produ- ziert werden kann. Wenn ich mir daraufhin den F.D.P.-An- trag ansehe, so ist dieser Aspekt vollkommen ausgeblen- det. Der Heil- und Gewürzpflanzenanbau könnte tatsächlich ein interessantes Projekt in der Region Ost- westfalen-Lippe sein, aber er stagniert ja nicht deswegen, weil es keine Fördermittel dafür gibt, sondern weil die Länder Mittel- und Osteuropas hier erhebliche Preis- und Produktionsvorteile haben, mit denen unsere Erzeuger häufig nicht konkurrieren können. Ich glaube, dass wir hier nur über das Qualitätssegment weiterkommen. Unsere heimischen Erzeuger müssen sich so weit qualifizieren, dass sie Marktbereiche mit gehobe- nen Qualitätsansprüchen bedienen können. Hier sehe ich in der Tat Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung in Form von Forschung und Beratung. Bündnis 90/Die Grü- nen werden den Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen in diesem Sinne auch in Zukunft unterstützen. Kersten Naumann (PDS): Heil- und Gewürzpflan- zen werden mit langer Tradition in vielen Gegenden Deutschlands angebaut. Zu den größten Anbaugebieten gehören Bayern und Thüringen. Hier haben sich feste Strukturen mit Verbänden und engen Beziehungen zur Pharmaindustrie herausgebildet. Nun argumentiert die F.D.P. in ihrem Antrag damit, dass der Selbstversorgungsgrad bei Arznei- und Gewürz- pflanzen nur 10 Prozent beträgt. Sie verschweigt aber, dass landwirtschaftliche Betriebe, die bisher diese Roh- stoffe produzieren, erhebliche Absatzschwierigkeiten ha- ben. Die Hauptursache dafür sind die Einsparungsmaß- nahmen im Gesundheitsbereich durch die alte und neue Bundesregierung. Hinzu kommen Auseinandersetzungen um die ge- sundheitliche Wirksamkeit von Arzneipflanzen bzw. über die durch sie verursachten Nebenwirkungen. Natur- heilverfahren haben gegen die Pharmaindustrie einen schweren Stand. Sie will ihre Präparate verkaufen und duldet keine Konkurrenz. Lässt sich die Wirksamkeit ei- nes Naturprodukts trotz gut bezahlter Wissenschaftler nicht widerlegen, dann wird versucht, ein Patent darüber zu erwerben und am Weltmarkt Gewinn bringend umzu- setzen. Der Markt für Heil- und Gewürzpflanzen ist unregu- liert, unterliegt also ungeschützt den Schwankungen auf dem Weltmarkt. Das erfahren die Anbauer von Johannis- kraut gerade sehr schmerzlich. Der Markt dafür ist in den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9721 (C) (D) (A) (B) USA zusammengebrochen. In Deutschland wurden des- halb die Anbauverträge gekündigt. Als Folge davon müs- sen aktuell im Thüringer Verband für Heil- und Gewürz- pflanzen 200 Hektar Johanniskraut umgebrochen werden. Der dadurch entstehende Schaden wir auf 1,2 Millionen DM geschätzt. Der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen ist nur wirt- schaftlich zu betreiben, wenn die Erzeuger langfristige Verträge mit der Pharmaindustrie haben. Die kauft aber dort, wo die Rohstoffe oder die Grundprodukte – Essen- zen – am billigsten zu bekommen sind. Und das ist bei 90 Prozent des Gesamtumsatzes im Ausland, nicht zuletzt in China. Besonders der Import aus Osteuropa wächst. Mit der Osterweiterung der EU werden sich die Chancen für den Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Deutschland weiter verschlechtern. In den vergangenen Jahren wurden in dem Thüringer Verband etwa 1 500 Hektar angebaut. Der Verband be- fürchtet in diesem Jahr einen Rückgang auf etwa 1 000 Hektar. Wenn es den Antragstellern aus der F.D.P. darum ginge, ein Beispiel für einen modernen Heil- und Gewürzpflanzenanbau zu schaffen, dann könnte man das viel besser in Thüringen oder Bayern realisieren. Die Landwirtschaft in Ostdeutschland hat noch immer mit dem Transformationsprozess der deutschen Einheit zu kämpfen. 80 Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren. Und in der Landwirtschaft Thüringens beträgt die Ar- beitslosigkeit 24 Prozent. Wenn also im Bundeshaushalt Geld übrig sein sollte, dann ist ein Modellprojekt in Thüringen besonders gut durchzuführen. Eine Verschärfung des Wettbewerbs bei Heil- und Ge- würzpflanzen mit staatlichen Mitteln halten wir für kon- traproduktiv. Der Anbau dieser Sonderkulturen setzt zum Beispiel den Aufbau geeigneter Trocknungsanlagen vo- raus. Soll sich durch das Modellprojekt Ostwestfalen- Lippe der Auslastungsgrad der Anlagen in Thüringen und Bayern weiter verschlechtern? Könnten sich die Betriebs- wirtschaftler in der F.D.P. vorstellen, dass die Pharmain- dustrie vor allem an großen und einheitlichen Partien in- teressiert ist, die in Ostdeutschland besonders günstig hergestellt werden können? Halten die F.D.P.-Betriebs- wirtschaftler die Bauern in Ostdeutschland für so dumm, dass sie Marktchancen nicht nutzen würden, wenn es sie denn gäbe? Abschließend kann man den Anhängern des Neolibe- ralismus in der F.D.P. nur sagen: Versuchen Sie nicht, we- gen eines Erfolgs bei den Landtagswahlen ein betriebs- wirtschaftliches Projekt auf die Schienen zu setzen, das Sie entsprechend Ihrer Wirtschaftsphilosophie eigentlich ablehnen müssten. Diese Inszenierung glaubt ihnen doch keiner. Die Heil- und Gewürzpflanzenanbauer in der Bundes- republik brauchen das Modellprojekt nicht. Eine wirkli- che Hilfe für sie wäre, wenn die Pharmaindustrie dazu ge- drängt würde, mehr Verträge abzuschließen. Tatsächlich würde die F.D.P. bei der Annahme ihres Antrags diese In- dustrie bedienen. Sie könnte bei einem steigenden Ange- bot von Heil- und Gewürzpflanzen einen noch stärkeren Druck auf die Anbauer ausüben und die Aufkaufpreise weiter drücken. Sollten Sie noch Fragen haben, dann informieren Sie sich bitte bei den Landwirten, die um den Absatz ihrer Produkte kämpfen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU- Ebene beschleunigen: – Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- nungspunkt 3) Gustav Herzog (SPD): Im September 1997 präsen- tierte die frühere Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Pfanzenschutzgesetzes. Der damalige Parlamentarische Staatssekretär Gröbl sagte in der De- batte: „Damit in den Betrieben keine Lücken bei der Bekämpfung von Schadorganismen auftreten, hat die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf Vor- sorge getroffen“. Heute, meine Damen und Herren, beraten wir zwei An- träge der gleichen Fraktionen, die das Eingeständnis der Tatsache sind, dass diese Kalkulation völlig daneben ge- legen hat. Das Lückenproblem besteht seit mehr als zehn Jahren und die Indikationszulassung im neuen Pflanzen- schutzgesetz, die zum 1. Juli 2001 vorgeschrieben ist, würde das Problem ohne die geeigneten Lösungsstrate- gien – mein Kollege Thalheim wird darauf eingehen – verschärfen. So ganz verstehe ich im Übrigen nicht, warum Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der F.D.P.-Fraktion im September abwarten, denn dann wer- den wir ohnehin eine längere Debatte haben. Jetzt er- scheint es mir eher so, dass Sie mit diesen ziemlich sub- stanzlosen Anträgen einfach ein bisschen Stunk machen wollen und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich erste Erfolge der harten Arbeit der beteiligten Behörden und aller anderen Beteiligten einstellen. Ihre Anträge zei- gen zwar zu Recht ein Problem auf, aber leider keine ge- eignete Lösung dazu. 313 Lücken veröffentlichte der Bundesanzeiger 1993, davon konnten 212 geschlossen werden. Die Bundesre- gierung hat alle nur möglichen administrativen Voraus- setzungen zum Schließen von Lücken geschaffen. Dazu sind in der vergangenen Zeit enorme Anstrengungen un- ternommen worden. Biologische Bundesanstalt und Um- weltbundesamt wurden mehrfach an einen Tisch geholt. Ich darf daran erinnern, dass wir uns auch im Ernährungs- ausschuss schon öfter damit beschäftigt haben. Diese Bemühungen waren in manchen Fällen bereits sehr er- folgreich vor allem der Kernobstanbau hat hiervon profi- tiert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9722 (C) (D) (A) (B) Im Grunde ist die Diskussion um die Lücken doch ei- gentlich eines der vielen „Wer hat den schwarzen Peter?“- Spiele. Für mich hat einen der schwarzen Peter eindeutig die agrarchemische Industrie. Ihre Vertreter haben an- gekündigt, dass sie von den derzeit 800 alten Wirkstoffen nur 200 gegenüber der EU-Kommission verteidigen wol- len, sprich: Nur mit diesen 200 will man sich Mühe geben, und damit meine ich auch finanzielle Mühe. Das heißt: Die Pflanzenschutzmittel-Industrie, die sich doch so oft und gerne als guter Freund und Helfer der Landwirtschaft versteht, versagt der Landwirtschaft und vor allem dem Obst- und Gartenbau an dieser Stelle ein wenig Solidarität. Für große Kulturen mit gängigen Pflanzenschutzproblemen gibt es immer genügend zuge- lassene Wirkstoffe und auch innovative, umweltfreundli- chere Lösungen. Dafür werden dann auch zuhauf Berater und Vertreter herumgeschickt, denn hier sind die Profite zu erwarten. Für kleinere Kulturen, wie Tabak und Hop- fen, lohnen sich weder Forschungs- und Entwicklungs- kosten noch Zulassungsverfahren für neue innovative Wirkstoffe. Das mag unter rein ökonomischen Gesichts- punkten Sinn machen, ich nenne es trotzdem unsolida- risch. Ich verspreche mir einiges davon, dass sich die In- dustrie mit den beteiligten Behörden an einen Tisch setzt, um so genannte „Round-Table-Gespräche“ zu führen. Genauso nehmen wir an dieser Stelle ausdrücklich auch die berufsständischen Vertretungen in die Pflicht: Auch Sie, die Bauernverbände, die Gartenbau- und die Weinbauverbände, die Zierpflanzenbauer etc., etc. haben sich bereits seit In-Kraft-Treten des neuen Pflanzen- schutzgesetzes 1998 die Möglichkeit, eigene Anträge zur Schließung von Lücken nach § 18 des Pflanzenschutzge- setzes zu stellen. Ich habe einmal nachgefragt: Die Ant- wort war ernüchternd: 1, in Worten: Ein einziger Antrag ist von den Tabakanbauern gestellt worden! Wir fordern Sie dazu auf mitzuarbeiten: Befragen Sie Ihre regionalen Anbauer nach den tatsächlichen Lücken! Machen Sie eine Bestandsaufnahme und stellen Sie die Anträge bei der Biologischen Bundesanstalt! Vor allem, wenn es sich um „einfache“ Fälle handelt, zum Beispiel wenn nur eine weitere Zierpflanze hinzugenommen wer- den soll. Solche einfachen Fälle kosten Sie in den meisten Fällen nichts oder kaum etwas und erleichtern vielen Landwirten die Arbeit. Kommen Sie herunter von dem Ross: Das ist Sache der Industrie, die haben die Zulassungen immer selber bean- tragt, die sollen auch dafür haften, wenn was schief geht, und der Staat soll sehen, wie er die Industrie zum Jagen trägt. Fordern Sie die agrarchemischen Unternehmen ebenfalls dazu auf, nicht nur an der Landwirtschaft ver- dienen zu wollen. Und wenn Sie sich die Bilanzen der agrarchemischen Abteilungen der großen Unternehmen ansehen: Man verdient gut an der Landwirtschaft! Die Bundesregierung wird derweil ihre Anstrengungen in Brüssel intensivieren und auf die zügige Überprüfung der alten Pflanzenschutzmittelwirkstoffe drängen. Mir scheint, dass der Kommission die Brisanz der Lage immer noch nicht wirklich klar ist. Außerdem brauchen wir aus Brüssel eine schnellere Zulassung der Altwirkstoffe, da- mit wir gleichzeitig den teilweise bestehenden ungleichen Wettbewerbsbedingungen begegnen können. Im Herbst werden wir uns, wie schon erwähnt, hier zu einer großen Pflanzenschutzdebatte sehen. Kurz vorher hat sich die Bundesregierung nochmals mit allen Betei- ligten zusammengesetzt und beraten, mit wie vielen Kom- plikationen wir in das Jahr der Umstellung auf die Indi- kationslösung gehen werden. Ich hoffe, dass es nicht so viele sind, damit wir auch andere interessante Entwick- lungen im Pflanzenschutz diskutieren können. Helmut Heiderich (CDU/CSU): In den Debatten um die Zukunft der Landwirtschaft hört man – insbesondere vonseiten der Regierungsparteien – immer wieder den Einwurf, die bäuerlichen Betriebe müssen sich dem inter- nationalen Wettbewerb stellen. Abgesehen von den neuen wettbewerbsverzerrenden Belastungen, welche die Bun- desregierung zurzeit der deutschen Landwirtschaft auf- bürdet, stellt sich die Lage bei genauerem Hinsehen meist anders dar, so auch jetzt wieder bei der Zulassung von be- währten Pflanzenschutzmitteln im integrierten Pflanzen- bau. 1991 hatte die EU beschlossen, die gut 800 Pflanzen- schutzwirkstoffe auf EU-Ebene in den nächsten zwölf Jahren zu harmonisieren. Für ganze zwei Wirkstoffe ist dies nunmehr nach neun Jahren gelungen. Diese Erfah- rung können wir gar nicht anders beantworten als mit der Forderung, die Abschlussfrist um weitere drei Jahre auf 2006 zu verlängern. Denn es ist für alle Beteiligten ein- deutig klar, dass es im vorgegebenen Zeitrahmen zu kei- ner auch nur annähernden Problemlösung kommen wird. Hinzu kommt, dass in Deutschland Pflanzenschutzmit- tel ab dem 1. Juli 2001 nur noch im beantragten und fest- gesetzten Anwendungsbereich eingesetzt werden dürfen. Dies hat zur Folge, dass in vielen Bereichen des inte- grierten Pflanzenbaus, vor allem aber bei der Obst- und Gemüseerzeugung bewährte und zuverlässige Präparate nicht mehr angewandt werden dürfen. Damit entstehen, wie schon jetzt absehbar, Anwendungslücken, das heißt, Situationen, in denen der Landwirt keine Möglichkeit mehr hat, eintretenden Schädlingsbefall zu verhindern oder diesem entgegenzuwirken. Setzt der Landwirt seine gute fachliche, wissenschaftlich und umweltrechtlich an- erkannte Praxis unter Nutzung der alten Präparate fort, be- gibt er sich in die Gefahr eines Gesetzesverstoßes. Wir sind als CDU/CSU-Fraktion nicht bereit, die ne- gativen Auswirkungen von überhöhten bürokratischen Anforderungen einerseits und der Unfähigkeit, mit den selbst vorgegebenen Zielen fertig zu werden, andererseits den deutschen Landwirten aufzubürden. Sie sind an die- sen Problemen nicht nur unbeteiligt, sie haben im Gegen- teil über Jahre hinweg das System des an Schadschwellen orientierten integrierten Pflanzenbaus entwickelt und da- mit deutliche Vorteile für Umwelt und Verbraucher ge- schaffen. Ein Zustand breiter Anwendungslücken würde ihnen zudem einen deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen europäischen Ländern bringen. Dort hat man den Einsatz der altbewährten Pflanzenschutzmittel ein- fach so lange für unverzichtbar erklärt, solange nicht ein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9723 (C) (D) (A) (B) entsprechender Wirkstoff von der EU neu zugelassen ist. Die Bundesregierung muss deshalb unverzüglich dafür Sorge tragen, dass der deutschen Landwirtschaft an dieser Stelle nicht einseitig neue Nachteile aufgelastet werden. Auch der Bundesrat hat bereits mit Beschluss vom ver- gangenen Dezember auf die unbefriedigende Situation im Bereich des Pflanzenschutzes hingewiesen und eine Ver- schlankung des EU-Vorgehens eingefordert. Hier muss insbesondere darauf hingewirkt werden, dass das von der EU angelegte Verfahren vereinfacht, verkürzt und von un- effektiver Doppelarbeit befreit wird. Zudem müssen die noch immer unterschiedlichen Mess- und Prüfanforde- rungen in den einzelnen Ländern angeglichen werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang beispielsweise die Frage, ob ein Stoff, der im andalusischen Baumwollanbau eingesetzt wird, unbedingt auch unter schwedischen Ein- satzbedingungen geprüft werden muss. Insgesamt besteht dringender Handlungsbedarf, der ja auch von der Bundesregierung und Vertretern der Koali- tion mehrfach bestätigt worden ist. Deshalb muss ich Sie sicher nicht um Zustimmung zu unserem Antrag bitten. Sie haben längst selbst erkannt, dass Sie im Interesse der deutschen Landwirtschaft hier Ihre Unterstützung geben müssen. Albert Deß (CDU/CSU):Mit unserem Antrag „Zulas- sung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU- Ebene beschleunigen“ tragen wir der Tatsache Rechung, dass es derzeit in Deutschland gravierende Probleme bei der Verfügbarkeit und der Anwendung von Pflanzen- schutzmitteln gibt. Die Ursachen dafür sind bekannt: Erstens. Mit der Verabschiedung der EWG-Richtlinie 91/414-EWG vom 15. Juli 1991 hatte man sich zum Ziel gesetzt, die Zulassung von Pflanzenschutzmittel-Wirk- stoffen EU-weit zu harmonisieren. Dieses Vorhaben sollte bis zum Jahre 2003 abgeschlossen sein. In Wirk- lichkeit sind aber bis heute lediglich zwei von 800 alten, das heißt vor dem 27. Juli 1993 zugelassenen Wirkstof- fen in dem vorgesehenen Anhang 1 der Richtlinie aufge- nommen. Zweitens. Mit der Novellierung des deutschen Pflan- zenschutzgesetzes vom 1. Juli 1998 sind gemeinschaftli- che Vorschriften in nationales Recht übernommen wor- den. Dies wird dazu führen, dass ab 2001 statt der vormals gültigen Verkehrszulassung von Pflanzenschutzmitteln dann eine Zulassung mit Festsetzung von Anwendungs- gebieten gilt, allgemein bekannt unter dem Stichwort „In- dikationszulassung“. Dies wird bei Nichtstun zweifellos große Anwendungslücken bringen. Das neue Pflanzenschutzgesetz hatte aber auch dem Umweltbundesamt eine erweiterte Kompetenz innerhalb des Zulassungsverfahren zugebilligt. Den neuen Aufga- benzuwachs hat das UBAwohl mit etwas zu viel Eifer ge- nutzt. Die Folge war eine scharfe Auslegung der Umwelt- kriterien durch das UBA: spezifische Toxizität hinsicht- lich von Lebewesen im Wasser, zum Beispiel Wasserfloh oder Nicht-Zielpflanzen; daraus folgende Festsetzung von Mindestabständen zum nächsten Wasserlauf bzw. zur nächsten Kultur. Der Schuss ging aber nach hinten los. Er- gebnis war nämlich, dass wichtige und nachweislich nütz- lingsschonende Pflanzenschutzmittel nicht mehr oder nur noch mit verlustmindernden Recycling-Geräten ange- wendet werden dürfen. Mit einem Schlag wurde so der Aufbau der integrierten Produktion über den Haufen ge- worfen. Es kann doch wohl nicht sein, dass uns in Deutschland aufgrund besonderer Anwendungsbestimmungen und Auflagen in weiten Bereichen des integrierten Obst-, Wein- und Gemüsebaus wichtige Pflanzenschutzmittel mit nützlingsschonenden Eigenschaften nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Situation belastet unsere Obst-, Wein- und Gemüsebaubetriebe schwer, weil sie so ihre nützlingsschonende Anbauweise nicht mehr durchführen können. Dadurch wird der Verbraucher das Vertrauen ver- lieren und deshalb werden über Jahre hinweg aufgebaute Absatzwege zerstört. Bei der ganzen Problematik müssen wir natürlich auch sehen, dass es nicht nur um den Anbau von einigen Sonderkulturen geht; letztlich – wenn hier nicht rasch Lösungen gefunden werden – wird es auch um die Frage gehen, ob wir unsere Kulturlandschaft, die ja besonders in den Gegenden mit Sonderkulturen beson- ders reizvoll ist, erhalten können. Der Hopfenanbau prägt in ganz besonderem Maße die Landschaft, mit ihm ist auch eine traditionsreiche Kultur verbunden. Ich will deshalb nachfolgend auf die Pflan- zenschutzprobleme beim Hopfenanbau zu sprechen kom- men. Die Hopfenanbauer haben nämlich große Sorge, dass gegen die wichtigsten Krankheiten und Schädlinge bei Hopfen nur eine sehr begrenzte Mittelpalette zur Ver- fügung steht bzw. zum Teil nur ein Mittel zugelassen ist. Daraus erwächst natürlich die ernsthafte Gefahr der Re- sistenzbildung, so vor allem bei Blattläusen und beim Mehltau. Darüber hinaus gibt es Schwierigkeiten da- durch, das Hopfen, der nach den USA ausgeführt wird, nur mit Pflanzenschutzmitteln behandelt werden darf, die eine so genannte USA-Import-Toleranz besitzen, aber auch gleichzeitig bei uns in Deutschland zugelassen sind. Ich will berichten, was ein Vertreter von Anheuser- Busch, der weltgrößten Brauerei, die deutlich mehr Bier produziert als alle deutschen Brauereien zusammen, auf einem parlamentarischen Abend zu der Pflanzenschutz- problematik gesagt hat. Er hat darauf hingewiesen, dass Anheuser-Busch als großer Einkäufer von Hopfen bei der Qualität nie Kompromisse machen und immer schöne, saubere Hopfen verlangen werde. Den werden sie aller- dings dort kaufen, wo sie ihn bekommen können; dafür bezahlen sie auch sehr gutes Geld. Zum Z weiten wies er darauf hin, dass eine große Brauerei keine großen Risiken eingehen kann, sie braucht Verlässlichkeit; deshalb kau- fen sie Hopfen auf Vorvertragsbasis zwei Jahre in die Zu- kunft. Dieser Hopfen muss natürlich auch dann wirklich verfügbar sein. Das heißt für unsere Hopfenanbauer, dass es für sie un- tragbar ist, wenn sie Jahr für Jahr darum bitten und betteln müssen, dass ihnen genügend Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stehen. Hopfen wächst von Anfang Mai bis Ende Juni 7 Meter hoch, am Tag bis zu 30 Zentimeter, deshalb ist die Pflanzenschutzbedürftigkeit bei Hopfen weit höher als bei anderen Kulturen. Man muss auch wis- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9724 (C) (D) (A) (B) sen, dass die deutschen Hopfenpflanzer heute noch nach USA mehr als 20 Prozent der Aromahopfen, die hier bei uns erzeugt werden, importieren. Die Hopfenpflanzer haben in der Vergangenheit von sich aus schon viel getan, um die Probleme beim Pflan- zenschutz in den Griff zu bekommen. Durch die Ein- führung des Warndienstes für Peranospera wurde erreicht, dass heute nicht wie früher 20-mal im Jahr mit Kupfer- mitteln gespritzt wird, sondern nur noch drei- oder vier- mal. Dazu kommt die Einführung von Schadschwellen und der Anbau von resistenten Sorten. Dies alles kann aber auf Dauer nicht eine möglichst breite Palette von Pflanzenschutzmitteln ersetzen, aus denen je nach Bedarf ausgewählt werden kann und bei denen auch die Entste- hung von Resistenzen mitbedacht wird. Es ist also dringend notwendig, dass wir beim Hop- fenanbau zu flexibleren Lösungen bei der Zulassung kommen, ebenso wie bei Obst, Wein oder Gemüse und für den gesamten Pflanzenbau in Deutschland. Die ganzen Probleme sind natürlich auch bei der Politik aufgelaufen, was wir zum Anlass genommen haben, alle Verantwortli- chen und Betroffenen seitens der Zulassung an einen Tisch zu bringen. Es hat in der Vergangenheit dazu meh- rere Gespräche gegeben, auch der Agrarausschuss hat sich damit beschäftigt. Ein deutliches Signal ist auch von der Agrarministerkonferenz ausgegangen. Erfreulicherweise hat beim UBA als Einvernehmungsbehörde ein gewisses Umdenken stattgefunden. Man hat wohl eingesehen, dass man mit der eingeschlagenen Strategie der Umweltbe- wertung der Landwirtschaft und letztlich auch dem Um- weltschutz einen Bärendienst erweist. Man hat sich in- zwischen dazu durchgerungen, die Aquatox-Kriterien – Abstand zu Wasserläufen – in Anpassung an die landwirt- schaftliche Praxis zu verringern. Man steht zurzeit unmit- telbar davor, die nützlingsschonenden Mittel wieder zu- zulassen. Dies ist zweifellos ein Erfolg, auf diesem Weg muss weitergegangen werden. Ebenso müssen wir die anderen Wege der Beschleuni- gung der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nutzen, die wir in unserem Antrag beschrieben haben. Ich fordere dabei die Bundesregierung auf, besonders das schnells- tens zu tun, was in ihrer eigenen Macht steht und die Pflanzenschutzverordnung im Sinne des Antrages von Niedersachsen entsprechend zu ändern. In dem Wissen, dass aufgrund der Bevölkerungsent- wicklung weltweit in den nächsten 25 Jahren die Erträge der wichtigsten Nahrungspflanzen um 50 Prozent gestei- gert werden müssen, hat der Pflanzenschutz eine heraus- ragende Bedeutung. Gerade der integrierte Pflanzen- schutz mit dem gezielten Einsatz von Pflanzenschutzmit- teln nach dem Motto „So wenig wie möglich, so viel wie nötig“ erfordert eine breite Palette von Wirkstoffen. Die CDU/CSU-Fraktion gibt der Bundesregierung und dem Bundeslandwirtschaftsminister Rückendeckung, sich dafür einzusetzen, dass auch in nächster Zeit ein breites Angebot von Wirkstoffen zur Verfügung steht, um mit dem geringstmöglichen Aufwand Pflanzenschutz auch im Sinne der Agenda 21 zu ermöglichen. Auf keinen Fall darf es durch nationale Einschränkungen und Auflagen zu ei- ner einseitigen Benachteiligung der deutschen Landwirt- schaft kommen. Wenn Minister Funke immer wieder for- dert, dass die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähig wird, ist er auch gefordert, alles zu unternehmen, um die deutsche Landwirtschaft nicht einseitig zu benachteili- gen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):An die Zulassung von Pestiziden müssen folgende Anforderun- gen gestellt werden: Sie muss Sicherheit für Verbraucher, Anwender und Umwelt garantieren. Sie muss transparent und überprüfbar sein. Sie muss den neuesten Stand der Technik gewährleisten. Sie muss anwendungsbezogen und problemgerecht sein. Und sie muss zeitnah Pla- nungssicherheit herstellen. Der CDU-Antrag beschäftigt sich ausschließlich mit dem letzten Aspekt. Aber auch hier gilt: Qualität ist wich- tiger als Geschwindigkeit. Die Überprüfung und Harmo- nisierung der Pestizidzulassungen in der EU sind aus ge- sundheitspolitischen, ökologischen und Wettbewerbs- gründen längst überfällig, und es ist gut, dass sie jetzt angegangen werden. Die hohen Anforderungen an die EU-Wirkstoffprüfung dürfen nicht unterminiert werden. Die entsprechende Richtlinie des Rates 91/414/EWG datiert vom 15. Juli 1991. Am 4. Mai 2000 fiel der CDU/CSU-Fraktion auf, dass die Verfahren beschleu- nigt werden sollen. Am 5. Mai 2000 dämmerte auch der F.D.P. diese Erkenntnis. Dazwischen lagen acht Jahre CDU/CSU/F.D.P.-Regierung. Die gesamte Gesetzeslage ist heute dieselbe wie vor dem Regierungswechsel 1998. Was hat die alte Bundesregierung denn für eine Beschleunigung der Verfahren getan? Was wollen CDU/CSU und F.D.P. nun? Sehen wir uns die Vorschläge von CDU/CSU und F.D.P. im Einzelnen an: Auf nationaler Ebene sollen die rechtlichen und administrativen Voraussetzungen für die weitere Verwendung von Pflanzenschutzmitteln geschaf- fen werden, die im integrierten Anbau – auch von Son- derkulturen – benötigt werden. Das hört sich ganz so an, als ob wir in Deutschland bisher im rechts- und behör- denfreien Raum leben würden. Selbstverständlich ist es eine gewaltige Aufgabe für die EU-Behörden, alle der über 800 zugelassenen Wirkstoffe vor dem Hintergrund des neuesten Standes von Wissen- schaft und Technik neu zu prüfen. Aber zwischenzeitlich leben wir ja nicht im pestizidfreien Raum. Ganz im Ge- genteil: Die Bundesbehörden haben bisher noch in jedem Fall so gehandelt, dass die wichtigsten Indikationslücken geschlossen werden konnten. Und der Europäische Ver- band der Pestizide herstellenden Industrie, ECPA, hat be- reits erklärt, dass nur noch an 220 Wirkstoffen Interesse besteht. Das wird den Anhang der EU-Richtlinie verkür- zen, die künftige Anwendung übersichtlicher machen, an- dererseits die der Landwirtschaft zur Verfügung stehen- den Mittel erheblich einschränken. Erschwert wird die Situation in einigen Sonderkulturen dadurch, dass eine immer stärker auf immer weniger Kon- zerne konzentrierte Pestizidindustrie ihre Ausrichtung im- mer stärker auf die weltweiten Märkte ausrichtet. Da ist Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9725 (C) (D) (A) (B) mangels Gewinnaussichten immer Platz für die aufwen- dige Entwicklung von speziellen Mitteln für den schma- len Einsatzbereich in Sonderkulturen. Die beteiligten Bundesbehörden – BBAund UBA– ar- beiten intensiv daran, auch in Zukunft eine hinreichende Verfügbarkeit von geeigneten Pestiziden zur Sicherstel- lung der Lebensmittelproduktion in allen Bereichen in ausreichender Menge und gewünschter Qualität abzusi- chern. Wir setzen darauf, dass auch die zuständigen Län- derbehörden, die landwirtschaftlichen Berufsverbände und die Pestizidproduzenten alles dafür tun werden, glei- chermaßen den Pflanzenschutz, den Umweltschutz und den Verbraucherschutz sicherzustellen. Als Problem wird angesehen, dass Deutschland bei der Umsetzung harter Kriterien an die Pestizide heute schon weiter ist als andere EU-Staaten. Darin sehen einige einen Wettbewerbsnachteil. Mittelfristig ergibt sich aber daraus ein Vorteil, wenn wir schon da sind, wo andere erst hin- kommen. Und kurzfristig werden alle Lücken über Indi- kationszulassungen geschlossen, sodass unter dem Strich Vorteile für Verbraucher und Umwelt und keine gravie- renden Nachteile für die Landwirtschaft entstehen. Der Ball für eine Beschleunigung liegt zurzeit aber bei der Industrie. Sie verfügt über die nötigen Informationen und kann die Ressourcen zur Verfügung stellen, wenn ihr wirklich an schnelleren Verfahren gelegen ist. Die Zulas- sungsverfahren werden immer wieder dadurch erschwert, dass unvollständige Anträge ohne die notwendigen wis- senschaftlichen Unterlagen eingereicht werden. So wird ein langwieriges Zulassungsverfahren zur sich selbst er- füllenden Prophezeiung. Eine vorzeitige Verlängerung des „Altwirkstoffprogramms“, wie von der CDU/CSU und F.D.P. jetzt vorgeschlagen, wirkt hier nur kontrapro- duktiv und behindert notwendige Innovationen. Für das Problem schnellstmögliche Verfahren und Pla- nungssicherheit für die Wirtschaft einerseits und regel- mäßige Anpassung der Zulassung an den Stand von For- schung und Technik für größtmögliche Sicherheit für Mensch und Umwelt und effiziente Anwendung im Pflan- zenschutz andererseits gibt es keine Patentlösung. Die hat auch der Bundesrat nicht. BBA und UBA sowie die zu- ständigen Ministerien sind dabei, eine praxistaugliche Strategie zu formulieren, die all diesen berechtigten Inte- ressen gerecht wird. Unser Ziel ist es, die Probleme des Pflanzenschutzes möglichst durch biologische und ökologisch verträgliche Wirkstoffe und Verfahren zu lösen. Nur ein Pflanzen- schutz, der mit der Natur und nicht gegen sie wirkt, ist für uns langfristig zukunftsfähig. Gerade der ökologische Landbau, der trotz aller Probleme erfolgreiche Wege für eine ökologische Produktion qualitativ hochstehender ge- sunder Produkte aufgezeigt hat, ist dafür ein Modell, das wir weiterhin unterstützen. Wir haben ein Bundesfor- schungsinstitut Ökologischer Landbau und andere For- schungsvorhaben initiiert, die ökologische Lösungen für den Pflanzenschutz weiterentwickeln. Am Schluss noch zwei Sätze zum F.D.P.-Antrag. Selbstverständlich setzen wir uns vehement für den schnellstmöglichen Ausstieg aus der TBT-Verwendung ein; das ist doch unser ureigenstes Anliegen. Es ist schön, dass auch die F.D.P. sich jetzt dafür engagiert. Wie sie al- lerdings aus den Bemühungen der Bundesregierung um eine Verbesserung der EU-Wasserrichtlinie ein Verbot für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und gar für „jegli- ches menschliches Handeln“ herausliest, lässt an ihrer umweltpolitischen Kompetenz allerdings arge Zweifel aufkommen. Fazit: Die Anträge von CDU/CSU sind überflüssig und rückwärts gewandt, weil die darin gemachten Vorschläge weder Verbraucher, noch Landwirtschaft, noch Umwelt nutzen. Sofern sie berechtigte Problemstellungen anspre- chen, werden diese bereits von der Bundesregierung und den zuständigen Behörden adäquat und so gut wie derzeit möglich gelöst. Marita Sehn (F.D.P.): Die Deutschen wollen den Was- serfloh schützen, sodass – ginge es nach Jürgen Trittin – deutsche Landwirte notfalls ganz auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln verzichten müssten. Offensichtlich wird der Wasserfloh von Franzosen und Niederländern – für uns Deutsche geradezu unvorstellbar! – nicht als eine „Frage der nationalen Sicherheit“ eingestuft. Anders ist es nicht zu erklären, dass in Frankreich und den Niederlan- den das seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland aus dem Verkehr gezogene Atrazin immer noch im Pflanzenschutz eingesetzt wird. Was nicht ganz so ernst gemeint ist, hat doch einen wahren Kern: Wenn fast zehn Jahre nach Verabschiedung der EU-Richtlinie zum „Inverkehrbringen von Pflanzen- schutzmitteln“ in Europa solche Harmonisierungsdefizite herrschen, zeigt das, wie weit wir von einer wirklichen Harmonisierung in Europa entfernt sind. Es ist etwas faul im Staate Europa! Im Pflanzenschutz müssen die deutschen Landwirte ungerechtfertigte Wettbewerbsnachteile hinnehmen. Die F.D.P. wird mit ihrer Großen Anfrage und ihrem Antrag zum Pflanzenschutz dafür sorgen, dass dieser untragbare Missstand endlich behoben wird. Daher begrüßen wir die Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke ausdrücklich. Allerdings werden wir sehr genau darauf achten, dass die großen Versprechen, die der Land- wirtschaftsminister anlässlich der Internationalen Grünen Woche gegeben hat, tatsächlich eingelöst werden. Damit wir im Pflanzenschutz endlich einen Schritt vorwärts kommen, müssen wir den Blick nach vorne richten. Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ministern und dem zuständigen Umweltbundesamt, UBA, sowie der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirt- schaft, BBA, gehören hoffentlich der Vergangenheit an. Die in diesen Tagen erfolgte Zulassung des Wirkstoffs Plantomycin durch die BBA ist sehr zu begrüßen. Weitere Schritte in diese Richtung müssen dringend erfolgen, um insbesondere die dramatischen Lücken im Bereich der Sonderkulturen zu schließen. Diese Entwicklung war je- doch nur möglich, weil die Mitglieder des Ernährungs- ausschusses immer wieder auf Gespräche zwischen den Präsidenten von UBA und BBA gedrängt haben. Im Interesse unserer Landwirte müssen wir diesen er- folgversprechenden Weg weitergehen. Ansonsten wird es Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9726 (C) (D) (A) (B) für die deutschen Produzenten, vor allem bei den Sonder- kulturen im Obst-, Gemüse-, Wein- und Hopfenanbau, Jahr für Jahr Probleme im Pflanzenschutz geben. Dem schleichenden Verlust von Marktanteilen wegen fehlen- der zugelassener Pflanzenschutzmittel muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Die bisherige Harmonisierung der so genannten Alt- wirkstoffe ist aus agrar-, umwelt- und europapolitischer Sicht ein glatter Fehlschlag mit verheerenden Folgen für unsere Landwirte. Heute sind von über 800 auf dem Prüf- stand stehenden Substanzen lediglich zwei abschließend beurteilt worden. Wie soll denn die Bewertung der restli- chen über 800 Substanzen in nicht einmal zwei Jahren ge- lingen? In dieser Frage muss schnellstens ein Beschluss des EU-Ministerrates zur Änderung der entsprechenden EU-Richtlinie erwirkt werden, damit die Frist für die Zu- lassung um drei Jahre verlängert wird. Für den integrierten und umweltschonenden Pflanzen- schutz ist die Verfügbarkeit selektiver und nützlingsscho- nender Pflanzenschutzmittel unabdingbar. Durch den Einsatz von modernen Pflanzenschutzmittelwirkstoffen konnte der Wirkstoffaufwand je Hektar von 1988 bis 1998 von 3,1 auf 1,9 Kilogramm verringert werden. Solch in- novative Pflanzenschutzmittel entfalten ihre Wirksamkeit in erheblich geringeren Mengen und sind außerdem bio- logisch besser abbaubar. Für einen umweltschonenden Pflanzenschutz müssen möglichst spezifisch gegen den jeweiligen Schadorganismus wirkende Mittel zur Verfü- gung stehen. Gleichzeitig müssen Nützlinge verschont werden, da sie zur Regulierung der Schädlinge beitragen. Deshalb müssen die modernen Pflanzenschutzmittel ein breites zugelassenes Einsatzspektrum haben. Natürlich ist in erster Linie die Pflanzenschutzmittelindustrie gefor- dert. Allerdings hat die Politik die Aufgabe, die notwen- digen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu set- zen. Ansonsten schrecken eine übermäßige Bürokratie so- wie die damit verbundenen Kosten die Wirtschaft zumindest von einem Engagement bei Sonderkulturen ab. Sie wird sich dann auf einige wichtige große Kulturen konzentrieren. Wenn wir eine wettbewerbsfähige Land- wirtschaft und vor allem die verschiedenen Sonderkultu- ren in Deutschland erhalten wollen, müssen wir auf na- tionaler und europäischer Ebene schnell und entschlossen handeln. Beim Abbau der Wettbewerbsverzerrungen wird die F.D.P. die Bundesregierung unterstützen. Was allerdings nicht geht, ist, die überzogenen Umweltstandards hier in Deutschland zu kritisieren und gleichzeitig in Europa ge- nau diese Entwicklung weiter zu forcieren. Auf europä- ischer Ebene schießen SPD und Grüne bei der EU-Was- serrahmenrichtlinie weit über das Ziel hinaus. Das Vor- sorgeprinzip darf auch beim Gewässerschutz nicht dazu missbraucht werden, dass über die Einführung einer „Nullemission“ jegliches menschliche Handeln praktisch unmöglich gemacht wird. Abschließend fordere ich des- halb Rot-Grün nachdrücklich auf, auch auf europäischer Ebene wieder zu einer realistischen und ausgewogenen Politik zurückzufinden. Kersten Naumann (PDS):Wir sind heute in einer ei- genartigen Situation. Zur Debatte steht ein Antrag und eine unbeantwortete Große Anfrage. Ohne die Antwort der Bundesregierung ist eine Debatte zur Großen Anfrage kaum mit Erfolg zu führen. Außerdem ist für uns schwer nachzuvollziehen, warum von der Zulassung von Pflan- zenschutzmitteln die Zukunft der deutschen Landwirt- schaft abhängen soll. Ich halte es auch für eine Illusion, dass meine Vorredner mit ihren Beiträgen Punkte im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gesammelt haben. In der bisherigen Debatte war viel von Wettbewerbs- fähigkeit, Harmonisierung, bürokratischen Hindernissen und Versagen der Regierung die Rede. Die Probleme des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln für Umwelt und Ver- braucher spielten nur am Rande eine Rolle. Es wurde ver- sucht, den Eindruck zu erwecken, als ob vom Einsatz von Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Wehe der Landwirt- schaft abhinge. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass landwirtschaftliche Produktion ohne die Vielzahl dieser Mittel möglich war und in vielen Ländern noch im- mer möglich ist. Auch in Deutschland wächst die Zahl derer, die auf den Einsatz von Pflanzenschutzmittel ganz verzichten oder verzichten wollen. Der Hunger auf der Welt kann nicht durch die Vergiftung der Umwelt und der Nahrungsmittel bekämpft werden. Die Umweltbelastung daran zu mes- sen, wie viel Kilogramm Pflanzenschutzmittel je Hektar ausgebracht werden, ist einfach grotesk. Wo die Probleme tatsächlich liegen, möchte ich ihnen an einigen Beispielen über die Arbeit des deutschen Che- miekonzerns Bayer AG deutlich machen: Gaucho ist das meistverkaufte Pestizid des Unterneh- mens Bayer (weltweiter Umsatz: 460 Mio. Euro). Der Wirkstoff von Gaucho, Imidacloprid, wird in Deutschland unter dem Namen Confidor vertrieben. Das Spritzmittel wird für das Absterben von 40 Prozent aller französischen Bienenvölker während der vergangenen 5 Jahre verant- wortlich gemacht. Deshalb nahm das französische Land- wirtschafts-Ministerium am 15. Januar 1999 die Zulas- sung des Pestizids zurück. Das Unternehmen Bayer klagte vor dem höchsten französischen Verwaltungsgericht – umsonst. Im Januar 2000 bestätigte der französische Staatsrat das Verbot bis auf weiteres. Es ist nicht bekannt, welche Konsequenzen die deutschen Zulassungsbehör- den aus der Gefährlichkeit von Imidacloprid gezogen ha- ben. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO erleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizid- Vergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich. Die Bayer AG hat vor vielen Jahren angekündigt, die ge- fährlichsten Pestizide weltweit vom Markt zu nehmen. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Noch heute verkauft Bayer Wirkstoffe, die von der WHO als „extrem gefährlich“ bezeichnet werden. Am 22. Oktober 1999 wurden 22 Kinder in Peru mit Parathion tödlich vergiftet. Parathion wird in Peru ohne Kontrolle auf den Märkten verkauft. In Deutschland ver- kauft Bayer das Pestizid unter dem Namen E 605. In Brasilien wurden Hunderte von Kaffeebauern durch das Pestizid Baysiston geschädigt, zwölf Fälle verliefen tödlich. Alleiniger Hersteller von Baysiston ist Bayer. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9727 (C) (D) (A) (B) Spanische Paprika waren so stark mir dem Pestizid Methamidophos belastet, dass sie vernichtet werden mussten. Hersteller des Wirkstoffs ist Bayer. Das Landesumweltamt NRW fand im Abwasser des Bayer-Werks Dormagen die Pestizide Diuron, Metabenz- thiazuron und Triadimefon. Statt Anträge und Anfragen zu stellen, wie der Einsatz von gesundheitsschädlichen Pflanzenschutzmitteln ver- hindert und der zugelassener weiter reduziert werden kann, sind sich CDU/CSU und F.D.P. darin einig, dass die „nationalen Anforderungen an die Zulassung nicht über die entsprechenden EU-Bestimmungen hinausgehen“ dürfen. Diese EU-Bestimmungen sind ein Kompromiss zwi- schen den Interessen der Chemiekonzerne, der Verbrau- scher und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der EU- Mitgliedsländer. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und damit verbunden das Umweltbe- wusstsein ihrer Bürger ist besonders hoch. Sie hat deshalb die große Chance, eine Vorreiterrolle bei einem ökologi- schen Umbau der Agrarproduktion zu spielen. Die EU- Verträge kennen mit gutem Recht das Subsidiaritätsprin- zip. Dänemark wendet es zum Beispiel an, indem es den Stickstoff besteuert. Deutschland kann nicht untersagt werden, beim Pflanzenschutz strengere Maßstäbe anzule- gen als in den übrigen EU-Mitgliedsstaaten. Nur durch eine solche Politik kann eine höheres Ni- veau bei einem umweltverträglichen Pflanzenschutz er- reicht werden. Die ausgewählten Beispiele von „An- wendungslücken im Pflanzenschutz“ haben nicht unver- zichtbar den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zur Konsequenz. Pflanzenschutz ist auch ohne Pflanzenschutzmittel möglich, wenn man auf andere Weise gegen die Ursachen von Pflanzenerkrankungen vorgeht, zum Beispiel durch Wiedereinführung bewährter Fruchtfolgen. Der Einsatz von Pflanzenschutzmittel ist die Strategie des Kampfes gegen die Natur. Was wir brauchen ist eine Strategie, wieder im Einklang mit der Natur zu leben und zu produzieren. Als Politiker sollten wir uns weniger Sor- gen um die Profite der chemischen Industrie machen und mehr überlegen, wie die Leistungen der Landwirtschaft in einer naturgemäßen Weise erbracht werden können. In diesem Sinne treten wir allen Versuchen entgegen, Abstriche an einem hohen Niveau der Prüfung von Pflan- zenschutzmitteln zu machen und Ausnahmeregelungen zuzulassen. Wir fordern im Gegenteil eine Agrarpolitik, durch die Kalamitätssituationen, auf die nur noch mit Sondergenehmigungen für den Einsatz von Pflanzen- schutzmitteln reagiert werden kann, von vornherein ver- mieden werden. Ich bin überzeugt, wenn unsere chemischen Analyse- methoden noch besser wären, als sie schon sind, und wir die tatsächlichen Belastungen der Umwelt und unsere Nahrungsmittel kennen würden, dann würden die Druck- sacheneinbringer ihre Papiere sicher zurückziehen. Lesen sie dazu bitte noch einmal im Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, BT- Drs. 14/2300 nach. Daraus nur ein Zitat: „Der Stellenwert umweltbezogener Gesundheitsforschung in der medizini- schen Forschung insgesamt ist zu gering“. Ich wünsche ihnen allen eine gute Gesundheit. Dr. Gerald Thalheim (Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten): Die Bundesregierung verfolgt auch im Agrarbereich das Ziel, Umweltbelastungen zu reduzieren. Im Pflanzen- schutz bedeutet das vor allem, integrierte Verfahren anzu- wenden. Das heißt, die Anwendung von Pflanzenschutz- mitteln wird abhängig vom tatsächlichen Krankheits- und Schädlingsauftreten auf die Fälle konzentriert, bei denen es keine Alternativen gibt, bei denen ohne Anwendung chemischer Präparate nicht hinnehmbare Qualitäts- und Ertragseinbußen eintreten würden oder bei denen die Ernte unverhältnismäßig erschwert würde. Besonders im integrierten Anbau ist eine breite Palette von Präparaten für die einzelnen Anwendungsgebiete not- wendig, um Resistenzen vorzubeugen. Gerade das wird in jüngster Zeit infrage gestellt, weil unter anderem für Spe- zialkulturen immer weniger Präparate zugelassen sind bzw. frühere Zulassungen auslaufen und Folgeanträge nicht gestellt werden. Mit ihrem Antrag fordert die Fraktion der CDU/CSU die Bundesregierung zum Handeln auf, ohne dass der Sachverhalt richtig dargestellt wird, geschweige denn ge- eignete Empfehlungen gegeben werden. Das betrifft im Prinzip auch den Antrag der F.D.P. So wird im Antrag der CDU/CSU die so genannte In- dikationszulassung problematisiert und Kritik an dem Stand der Harmonisierung auf EU-Ebene geübt. Wie so oft hilft auch hier ein Blick ins Gesetz oder – noch kon- kreter – in die Richtlinie. Mit der Zustimmung der dama- ligen CDU/CSU-geführten Bundesregierung ist 1991 mit der Richtlinie 91/414 folgendes für die EU verbindlich festgeschrieben worden: 1. Einführung der Indikationszu- lassung, 2. Überprüfung der Altwirkstoffe nach EU-ein- heitlichen Kriterien, 3. Harmonisierung der Zulassungs- verfahren. Es ist also unseriös, die Bundesregierung wegen der Indikationszulassung bzw. der schleppenden Umsetzung zu kritisieren. Von 1991 bis 1998 ist so gut wie nichts ge- schehen. Erst vor 2 Jahren wurde die EU-Richtlinie in na- tionales Recht umgesetzt. Dadurch ging wertvolle Zeit verloren, um auf EU-Ebene die Altwirkstoffprüfung vo- ranzutreiben und national die Umstellung auf die Indika- tionszulassung vorzubereiten. Unmittelbar nach Regierungsübernahme hat sich die rot-grüne Bundesregierung – insbesondere das BML– der Aufgabe gestellt: die Entscheidungen über die Aufnahme der Altwirkstoffe in Anhang 1 der Richtlinie 91/414 auf europäischer Ebene zu forcieren und vorrangig die Lücken national zu schließen, die zu erheblichen Wettbe- werbsnachteilen für deutsche Landwirte und Gärtner führen. Einzelheiten hierzu können Sie in dem Bericht des BML über die Situation bei der Zulassung von Pflanzen- schutzmitteln vom 14. Januar 2000 – Ausschussdrucksa- che 14/234 – nachlesen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9728 (C) (D) (A) (B) Ich möchte von dieser Stelle dem Fachreferat im BML und der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forst- wirtschaft dafür danken, dass es bereits gelungen ist, mehr als 200 der insgesamt 313 prioritären Lücken zu schließen. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass trotz der erheb- lichen Anstrengungen damit nicht alle Probleme gelöst sind. Aber eine einfache Lösung – wie in dem CDU/CSU-Antrag suggeriert – existiert nicht, denn für die vorhandenen Lücken gibt es eine Reihe Gründe, zum Beispiel: Es liegt bei der BBA kein Antrag vor (zum Bei- spiel „Amidthin“ zur Blütenausdünnung). Oder es liegt bei der BBA kein vollständiger Antrag vor (zum Beispiel „Dimilin“ gegen Apfelwickler). Oder es sind überhaupt keine geeigneten Pflanzenschutzmittel für den Anwen- dungszweck bekannt (zum Beispiel gegen Kirschfrucht- fliege). Trotz erreichter Fortschritte bleibt für die Zukunft noch viel zu tun. Seitens der Bundesregierung ist positiv zu werten, dass es zwischen der BBA und dem UBA inner- halb sehr kurzer Fristen gelungen ist, einige schwierige Probleme bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auszuräumen. Widersprüchlichkeiten im Zulassungsverfahren müs- sen ausgeräumt werden, unverständliche Auflagen für die Praxis sollen verschwinden und Planungssicherheit für Pflanzenschutzmittel herstellende Firmen – aber auch für die Praxis – soll wieder hergestellt werden. Im Herbst wird sich die Bundesregierung darüber ver- ständigen, welchen Erfolg die vereinbarten Maßnahmen hatten und ob gegebenenfalls zusätzliche Maßnahmen er- forderlich sein werden, um weitere Verbesserungen für die nächste Saison zu erzielen. Sie können den Erfolg dieser Maßnahmen bereits heute daran ablesen, dass insbesondere für den Obstbau – aber auch für andere Kulturen – von der Zulassungsbehörde und den Einvernehmensbehörden gemeinsam getragene Lösungen erarbeitet wurden, die schon in dieser Saison wirksam sind. Als Beispiel führe ich nur das „Alte Land“ an, für das gemeinsam mit dem Land Niedersachsen ein Weg gefunden wurde, der die Anwendung der erforderli- chen Pflanzenschutzmittel und damit auch die Praktizie- rung integrierter Pflanzenschutzverfahren ermöglicht und gleichzeitig den erforderlichen Gewässerschutz sicher- stellt. Daraus sind folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: Erstens. Eine möglichst schnelle Überprüfung der Alt- wirkstoffe in der EU ist nach wie vor erforderlich, da nur so die bestehenden Wettbewerbsunterschiede zwischen uns und den anderen Mitgliedstaaten beseitigt werden können. Hier hilft keine Verschiebung von Terminen. Zweitens. Dies hat – bezogen auf die Entscheidungen – gleichzeitig so behutsam zu erfolgen, dass die landwirt- schaftliche Praxis nicht unnötig durch neue große Lücken belastet wird. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn, allein gestützt auf theoretische Risikoberechnungen, not- wendige Pflanzenschutzmittelwirkstoffe die Prüfungen nicht überstehen oder von der Industrie nicht „verteidigt“ werden und alle Zulassungen für diese Mittel zurückge- zogen werden müssen. Die Kommissionsverordnung zur Überprüfung der alten Wirkstoffe sieht hierfür vorüberge- hende Maßnahmen vor. Drittens. Im Rahmen eines Memorandums soll die Kommission gebeten werden, die Punkte 1. und 2. hinrei- chend zu berücksichtigen und geeignete Vorschläge vor- zulegen. Viertens. Wir appellieren an die Industrie, ihre An- strengungen auch in den weniger wirtschaftlich interes- santen Kulturen zu erhöhen, um Anträge auf Zulassung und auf Ergänzung von Anwendungsgebieten einzurei- chen. Eine generelle Verlängerung der Fristen halte ich nicht für hilfreich, da die Überprüfung der alten Pflanzen- schutzmittel-Wirkstoffe dadurch nur noch weiter hinaus- gezögert wird – und damit auch die Harmionisierung. Das würde nicht weniger, sondern mehr Wettbewerbsverzer- rungen bedeuten, da die Vorteile, die andere Mitgliedstaa- ten durch die Nutzung „alter Zulassungen“ haben, weiter fortbestehen würden. Die CDU/CSU-Fraktion hätte besser getan, während ihrer Regierungszeit intensiver an der Umsetzung der Richtlinie 91/414 in Deutschland zu arbeiten. Die rot-grüne Bundesregierung hat sich sofort nach Regierungsübernahme bemüht, die Versäumnisse nachzu- holen. Deshalb kommt der Antrag nicht nur zu spät, son- dern die vorgeschlagenen Maßnahmen sind nur bedingt für eine nachhaltige Problemlösung geeignet. Es ist das Ziel der Bundesregierung, durch eine konse- quente Umsetzung der Richtlinie und des Pflanzen- schutzgesetzes von 1998 die notwendige Harmonisierung auf europäischer Ebene zu erreichen, ohne dass die deut- sche Landwirtschaft auf die für sie notwendigen Pflan- zenschutzmittel verzichten muss. Ich fordere deshalb an dieser Stelle nachdrücklich die chemische Industrie auf, ihren Beitrag zu leisten und sich nicht nur auf einige wenige gewinnträchtige Kulturen zu beschränken. Eine zukunftsorientierte Pflanzenschutzmittelanwen- dung setzt das Vertrauen der Verbraucher voraus. Die vor- geschlagenen Lösungen im Antrag sind eher geeignet, das Vertrauen der Verbraucher in eine umweltschonende und sichere Pflanzenschutzmittelanwendung zu untergraben. Deshalb empfehle ich, den Antrag abzulehnen. So sehr wie wir uns gegen eine Lockerung wenden, so sehr wenden wir uns auch gegen weitere Verschärfungen, wie sie erst jüngst vom Naturschutzbund Deutschland veröffentlicht wurden. Vor allem offenbaren die Autoren die mangelnden Kenntnisse der bereits heute geltenden Vorschriften im Rahmen der guten fachlichen Praxis. So gehört es bereits heute zur guten fachlichen Praxis, dass die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ab einer Geschwindigkeit von mehr als 5 m/s und bei Temperaturen über 25°C un- terbleiben sollte, dass ausreichende Sicherheitsabstände, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9729 (C) (D) (A) (B) zum Beispiel zu gefährdeten Lebensräumen und Ober- flächengewässern, einzuhalten sind und dass Antitriftdü- sen zu verwenden sind. Zum Verbot der flächenhaften Anwendung von Pflan- zenschutzmitteln auf Grünland ist zu sagen, dass, abgese- hen von Ausnahmen – Tipula-Arten und Feldmäusen –, ohnehin keine Ganzflächenbehandlung mehr vorgenom- men wird. Zum Fazit: Die Zielrichtung des Antrages der CDU/CSU-Fraktion unterstütze ich. Die vorgeschlagenen Maßnahmen eignen sich jedoch nicht für eine nachhaltige Problemlösung. Der Antrag ist daher abzulehnen, sodass die Bundesregierung ihren Weg zielstrebig weiterverfol- gen kann. Dies gilt gleichermaßen auch für die Forderung der F.D.P., sich für den Ausstieg aus der Verwendung von TBT einzusetzen. Auch hier hat die Bundesregierung, wenn Sie den Sachstand richtig analysieren, keinen Nach- holbedarf, sodass die Forderung ins Leere geht. Im Antrag der F.D.P. wird auch die Wasserrahmen- richtlinie angesprochen. Nach dem derzeitigen Stand der Verhandlungen der Wasserrahmenrichtlinie steht an kei- ner Stelle des Richtlinienentwurfs die Forderung nach ei- ner „Nullemission“, welche die Anwendung von Pflan- zenschutzmitteln verbieten würde. Vielmehr soll die Wasserrahmenrichtlinie dazu beitragen, eine gute Ge- wässerqualität und eine wesentliche Verminderung der anthropogen bedingten Grundwasserverschmutzung zu erreichen. Dabei sollen nach Verabschiedung der Wasser- rahmenrichtlinie auf Vorschlag der Kommission mit Zu- stimmung des Rates und des Europäischen Parlaments für bestimmte Stoffe, die für die aquatische Umwelt als ein nicht akzeptables Risiko angesehen werden, europa- weit Beschränkungen oder Verbote ausgesprochen wer- den. Für welche Stoffe dies gelten wird, ist derzeit völlig offen. Anlage 5 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Innenausschuss Drucksache 14/1936 Nr. 1.17 Finanzausschuss Drucksache 14/2609 Nr. 1.18 Drucksache 14/2747 Nr. 2.36 Drucksache 14/2747 Nr. 2.39 Drucksache 14/2817 Nr. 1.1 Drucksache 14/2817 Nr. 2.6 Drucksache 14/2817 Nr. 2.16 Drucksache 14/2817 Nr. 2.18 Drucksache 14/2952 Nr. 2.13 Drucksache 14/3050 Nr. 2.8 Drucksache 14/3050 Nr.2.16 Haushaltsausschuss Drucksache 14/2747 Nr. 2.43 Drucksache 14/2747 Nr. 2.49 Drucksache 14/2817 Nr. 2.2 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/2609 Nr. 1.10 Drucksache 14/2747 Nr. 2.24 Drucksache 14/2747 Nr. 2.46 Drucksache 14/2817 Nr. 2.24 Drucksache 14/2817 Nr. 2.25 Druchsache 14/3050 Nr. 1.3 Drucksache 14/3146 Nr. 2.3 Drucksache 14/3146 Nr. 2.32 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/2747 Nr. 2.53 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 14/1342 Nr. 2.2 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9730 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300000
Die Sit-
zung ist eröffnet.

Der Kollege Dr. Willfried Penner hat am
11. Mai 2000 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Abge-
ordnete Kerstin Griese, ebenfalls am 11. Mai 2000, die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße die neue Kollegin herzlich.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Berufsbildungsbericht 2000
– Drucksache 14/3244 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Eine hervorragende qua-
lifizierte Berufsausbildung hat für die Bundesregierung
herausragende Bedeutung, weil damit über die Berufs-
und Lebenschancen junger Menschen und ihre Chance
auf gesellschaftliche Teilhabe entschieden wird. Ein
Zweites: Wenn wir unseren Lebensstandard sichern und

ausbauen wollen, wenn wir auch künftig wettbewerbs-
fähig sein und die bestehende Arbeitslosigkeit überwin-
den wollen, brauchen wir gut und praxisnah ausgebildete
junge Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Obwohl die demographische Entwicklung seit langem
vorhersehbar war und wir alle wussten, dass wir eine zu-
nehmende Zahl von Jugendlichen haben werden – das
ist auch gut so –, haben Sie, meine Damen und Herren von
der jetzigen Opposition, es leider jahrelang versäumt, die
notwendige Vorsorge zu treffen, damit diese Jugendlichen
eine gute Ausbildung erhalten. Ihre Berufsbildungspolitik
hat dazu geführt, dass heute in der Gruppe der 20- bis 29-
Jährigen noch immer fast 12 Prozent oder rund 1,3 Milli-
onen Menschen ohne Berufsabschluss sind. Das war und
ist – lassen Sie mich das so sagen – leider gesellschaftli-
cher Sprengstoff.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen, dass diese Jugendlichen eine Chance er-

halten; denn diese Jugendlichen wollen arbeiten und sich
qualifizieren, und dazu sollen sie auch die Möglichkeit er-
halten. Deshalb haben wir das Sofortprogramm JUMP
gestartet und im Bündnis für Arbeit mit den Gewerk-
schaften und den Unternehmen Vereinbarungen getroffen,
damit diesen Jugendlichen endlich auch die Chance gege-
ben wird, die sie wollen und brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir haben das mit Erfolg
getan; denn diese Bundesregierung hat es geschafft, die
Jugendarbeitslosigkeit um 9 Prozent zu senken. Das ist
ein großer Erfolg. Ich will aber auch gleich ganz klar sa-
gen, dass wir uns nicht auf ihm ausruhen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieser Erfolg macht aber deutlich, dass es, wenn man
gezielt handelt und es politisch wirklich will, leistbar ist,
gemeinsam mit den Gewerkschaften und Unternehmen

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103. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Beginn: 9.00 Uhr

etwas zu ändern und den Jugendlichen dadurch eine ganz
konkrete Perspektive zu geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Durch die gute und konstruktive Zusammenarbeit im
Bündnis für Arbeit ist es uns gelungen, die Ausbil-
dungsplatzsituation für unsere Jugendlichen deutlich zu
verbessern und die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe
zu erhöhen.

Mit konkreten Maßnahmen zur Sicherung des Ausbil-
dungsplatzangebotes und Initiativen zur Modernisierung
der Berufsausbildung haben wir eine Trendwende ge-
schafft: Bis zum 30. September 1999 sind bundesweit
rund 631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen
worden. Das sind rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. In
den alten Bundesländern war die Ausbildungsplatzbi-
lanz 1999 zum ersten Mal seit Jahren statistisch wieder
ausgeglichen. Wir haben hier inzwischen in vielen Berei-
chen ein gutes Verhältnis von Ausbildungsplatzangebot
und -nachfrage. Wir haben noch in einigen Regionen Pro-
bleme, aber insgesamt ist das Verhältnis ausgeglichen. In
den neuen Bundesländern hingegen sind nach wie vor
staatliche Ergänzungsprogramme des Bundes und der
Länder erforderlich, um ein ausreichendes Ausbildungs-
platzangebot sicherzustellen.

Auch die 7 150 Jugendlichen, die trotz aller Anstren-
gungen unvermittelt geblieben sind, haben im Februar
von der Bundesanstalt für Arbeit ein Angebot für eine
Qualifizierungsmaßnahme erhalten, um ihre Chancen auf
einen betrieblichen Ausbildungsplatz im Sommer zu er-
höhen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, das zeigt, dass unsere An-
strengungen Wirkung gezeigt haben, dass sie sich gelohnt
haben.

Die regionale Analyse, die durchzuführen wir im
Bündnis für Arbeit miteinander vereinbart hatten und die
auch durchgeführt worden ist, zeigt sehr deutlich, dass die
Arbeitsämter, denen ich an dieser Stelle einmal ganz
ausdrücklich für ihr Engagement danken möchte,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


außerbetriebliche Ausbildungsplätze ganz zielgerichtet
dort geschaffen haben, wo die Ausbildungsplätze in den
Betrieben fehlen. Wer also behauptet, durch das Sofort-
programm sei die Besetzung betrieblicher Ausbildungs-
plätze behindert worden, meine Damen und Herren von
der Opposition, verbreitet entweder bewusst die Unwahr-
heit oder er polemisiert einfach ins Blaue hinein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weder das eine noch das andere nützt den Jugendlichen.
Es nützt auch nicht – das sage ich ganz klar – den Ar-
beitsämtern und denjenigen, die sich vor Ort engagiert da-
rum bemühen, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz

anzubieten. Deshalb habe ich die herzliche Bitte, das
schlichtweg sein zu lassen.

Nach den Erhebungen der Bundesanstalt für Arbeit und
des Statistischen Bundesamtes ist es ganz besonders im
zweiten Halbjahr des Jahres 1999 gelungen, in ganz
Deutschland wieder Fahrt in Richtung mehr betrieblicher
Ausbildungsplätze aufzunehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist mir wichtig, noch einmal zu sagen, dass die Anzahl
von betrieblichen Ausbildungsplätzen besonders in der
zweiten Jahreshälfte deutlich zugenommen hat, weil dies
der Zeitpunkt war, in dem die Vereinbarungen des
Bündnisses für Arbeit gegriffen haben. Wir haben den
Ausbildungskonsens im Juni des letzten Jahres ge-
schlossen. Dieser Zusammenhang ist logisch. Dass in der
zweiten Hälfte des Jahres 1999 deutlich mehr Fahrt in
Richtung mehr Ausbildungsplätze aufgenommen worden
ist, ist ein Zeichen dafür, dass die Vereinbarungen Wir-
kung zeigen.

Das machen auch die Dezemberdaten des Statistischen
Bundesamtes deutlich. Diese signalisieren einen Zuwachs
der Anzahl der betrieblichen Ausbildungsverträge in
Höhe von 1,2 Prozent. Der Zusammenhang wird noch
deutlicher, wenn man sich die Zahlen des Monats April
ansieht. Die Zahlen von April machen deutlich, dass das
Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen in den alten
Bundesländern um 5,2 Prozent höher lag als im Vorjahr.
Das ist ein deutlicher Zuwachs. In den neuen Bundeslän-
dern haben wir eine Steigerung in Höhe von 9,2 Prozent
erreicht, die wir auch brauchen. Wir brauchen Steigerun-
gen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundes-
ländern.

Diese Steigerungen machen aber auch deutlich, dass
sich endlich in der Bundesrepublik das Bewusstsein
durchsetzt, dass die betriebliche Ausbildung nicht nur in
der Verantwortung der öffentlichen Hand oder nur in der
Verantwortung der Wirtschaft liegt, sondern dass wir ge-
meinsam in der Verantwortung stehen, um gemeinsam das
Ziel zu erreichen, dass jeder, der kann und will, einen Aus-
bildungsplatz erhält.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, dieses Bewusstsein, das notwendig ist, wenn
wir in Zukunft erfolgreich sein wollen, ist in der Bundes-
republik endlich geschaffen worden. Dies ist der Erfolg
unserer gemeinsamen Anstrengungen, gleichwohl kein
Grund zum Ausruhen.

Die Lehrstellensituation ist vor allen Dingen in den
neuen Bundesländern weiterhin unbefriedigend, wie ich
das vorhin bereits gesagt habe. Die Lücke zwischen An-
gebot und Nachfrage ist immer noch zu groß. Deswegen
brauchen wir dringend diese Steigerung in Höhe von
9,2 Prozent. Wir brauchen aber noch mehr. Genauso wie
auch wir unsere Aufgabe wahrnehmen, sind Gewerk-
schaften und Unternehmen aufgefordert, hier noch mehr
zu tun.




Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Wir werden deshalb nach wie vor auch staatliche
Ergänzungsprogramme des Bundes und der Länder ein-
setzen, um ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot
sicherzustellen. Die Bundesregierung wird daher auch in
diesem Jahr mit den neuen Ländern ein Sonderprogramm
für zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, um jedem
Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot machen zu
können. Wir stehen zu diesem Versprechen, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen die regionalen Aktivitäten zur Schaffung

betrieblicher Ausbildungsplätze verstärken. Das haben
wir im Bündnis und mit den neuen Ländern vereinbart.
Zugleich soll der regionale Einsatz der vielfältigen Pro-
gramme, die wir haben, besser aufeinander abgestimmt
werden. Die Verstärkung der regionalen Aktivitäten und
die individuelle Ansprache vor Ort sind in Verbindung mit
den Bündnisvereinbarungen der richtige Weg, um die
Ausbildungsprobleme zu überwinden. Das hat sich sehr
deutlich gezeigt.

Es hat sich auch sehr deutlich gezeigt, dass wir selbst-
tragende regionale Strukturen brauchen, mit denen wir die
Ziele des Ausbildungskonsenses wirklich erreichen kön-
nen.

Meine Damen und Herren, die Erfolge, die wir erzielt
haben, sind Erfolge der guten Zusammenarbeit mit beiden
Sozialpartnern im Bündnis für Arbeit. Im Gegensatz zu
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ha-
ben wir dabei nicht nur an die Sozialpartner appelliert,
sondern wir haben mit ihnen gemeinsam konkrete Maß-
nahmen vereinbart, und wir haben diese auch gemeinsam
mit ihnen umgesetzt, und genau das ist notwendig.

Wir haben aber nicht nur mit dem Sofortprogramm und
regionalen Lehrstellenaktionen für mehr Ausbildungs-
plätze gesorgt; wir haben die Modernisierung der
Ausbildungsberufe beschleunigt und die Entwicklung
neuerAusbildungsberufe intensiviert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Entwicklung des letzten Jahres hat nämlich eines
sehr deutlich gezeigt: Neue Ausbildungsmöglichkeiten,
neue Ausbildungsplätze entstanden vor allem in den ex-
pandierenden Zukunftsbranchen wie zum Beispiel in der
Informations- und Kommunikationsbranche, im Dienst-
leistungssektor insgesamt und in der Biotechnologie.

Allein in der Informations- und Kommunikations-
branche sind in den letzten drei Jahren insgesamt über
30 000 neue Ausbildungsplätze entstanden. Wir wollen
diesen Weg weitergehen, und deshalb haben wir mit den
Unternehmen, mit den Gewerkschaften der Informations-
und Kommunikationsbranche ein Sofortprogramm zu
Deckung des IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland auf
den Weg gebracht.

Wir haben in sehr harten und nicht einfachen Verhand-
lungen erreicht, dass die Wirtschaft bis zum Jahr 2003
weitere 20 000 Ausbildungsplätze über die im Bündnis für
Arbeit bereits zugesagten 40 000 Plätze hinaus bereitstel-
len wird. Es geht also um insgesamt 60 000 Ausbildungs-

plätze in diesem Bereich. Das ist richtig und notwendig,
weil die Jugendlichen, die hier ausgebildet werden, an-
schließend eine wirklich hervorragende Beschäftigungs-
chance haben. Genau den Weg müssen wir gehen.

Außerdem soll die innerbetriebliche Weiterbildung für
internetrelevante Technologien ausgebaut und verbessert
werden. Dabei wollen wir im Übrigen auch älteren Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Chance geben.
Der Frauenanteil in der IT-Branche soll dadurch ebenfalls
erhöht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, das Beispiel macht deutlich,
dass wir uns in unseren Aktivitäten nicht allein auf die
Erstausbildung beschränken, sondern dass wir auch die
Brücke zur Weiterbildung bauen.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Wenn wir heute IT-Spitzenkräfte nach Deutschland ho-

len müssen, um die Qualifizierungsdefizite der Vergan-
genheit zu überbrücken, dann geht es nicht um die wirk-
lich falsche Alternative Ausbildung oder Zuwanderung,
mit der Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
die Stammtische mobilisieren wollen. Nein, es geht um
neue Ausbildungsplätze, um neue Arbeitsplätze in
Deutschland,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


denn jede Spitzenkraft in dieser Branche bringt drei bis
fünf neue Arbeitsplätze mit sich. Wir wollen, dass diese
neuen Arbeitsplätze hier in Deutschland entstehen und
nicht ins Ausland abwandern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Entwicklung in der in-
formationstechnischen Branche hat dazu beigetragen,
dass wir im Vergleich zum Vorjahr vor allem bei den
Dienstleistungsberufen erheblich zulegen konnten. Da-
von haben besonders die Bereiche Industrie und Handel
profitiert. Hier ist die Zahl der betrieblichen Ausbil-
dungsplätze um mehr als 10 000 gestiegen, so die Er-
folgsmeldung des DIHT. Das macht deutlich, dass wir in
unserer Wirtschaft eine Veränderung haben. Deswegen
brauchen wir gerade dort in Zukunft noch mehr Ausbil-
dungsberufe und -plätze.

Bei den Fertigungsberufen sind die Zahlen der betrieb-
lichen Ausbildungsverträge zum Teil zurückgegangen.
Das lag vor allem an der schlechten Entwicklung im Bau-
gewerbe.

Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden wir unsere
Offensive zur Modernisierung der Ausbildungsberufe
fortsetzen und weitere neue Berufe in wachsenden inno-
vativen Dienstleistungsbereichen schaffen. Wir konzen-
trieren uns aber nicht nur auf den Dienstleistungsbereich.
Wir konzentrieren uns auch auf die zukunftsträchtigen
Produktionsbereiche und -berufe, um Einbrüche bei der
Ausbildung und den zukünftigen Fachkräften zu vermei-
den, damit wir nicht noch einmal das erleben, was wir bei




Bundesministerin Edelgard Bulmahn

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den informationstechnischen Berufen erlebt haben. Des-
halb haben wir zum Beispiel die Ausbildungsinhalte der
Laborberufe im Bereich der Chemie und der Biologie
aktualisiert, weil wir wissen, dass wir wegen der sehr
stark wachsenden Biotechnologiebranche diese Berufe
brauchen. Wir werden genauso fortfahren. Wir sind zur-
zeit dabei, 50 Berufe den neuen Erfordernissen anzupas-
sen.

Ein weites Beispiel ist die in Angriff genommene Mo-
dernisierung der Metall- und Elektroberufe in der In-
dustrie. Mit diesen Modernisierungen setzen wir die rich-
tigen Maßstäbe für die Zukunftsfähigkeit unserer Berufs-
ausbildung. Wir schaffen damit wieder mehr betriebliche
Ausbildungsplätze.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ver-
folgt mit ihrer Politik einen umfassenden Ansatz. Dieser
reicht von der Schaffung neuer Ausbildungsberufe über
die Entwicklung und Nutzung neuer Medien bis zur ge-
zielten Förderung von benachteiligten Jugendlichen.
Wir wollen erreichen, dass auch leistungsschwächere Ju-
gendliche eine berufliche Qualifizierung erhalten, die auf
dem Arbeitsmarkt verwertbar ist. Wir werden deshalb die
gezielte Förderung und Unterstützung von Jugendlichen
mit schlechteren Startchancen weiter ausbauen. Wir set-
zen dabei auf eine stärkere Kooperation aller Beteiligten
vor Ort: Schulen und Unternehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin sehr froh darüber, dass es gerade in Nordrhein-
Westfalen gute Beispiele dafür gibt, wo Unternehmen ihre
Verantwortung aufgreifen und nicht nur warten, sondern
aktiv werden und mit den Schulen Partnerschaften
schließen. Sie machen Jugendlichen, die schlechte Start-
chancen haben, das Angebot: Komm in meinen Betrieb,
mach ein oder mehrere Praktika. Du bekommst anschlie-
ßend einen Ausbildungsplatz. – Genau das wünsche ich
mir auch für viele andere Regionen unseres Landes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade bei einem zunehmenden Fachkräftebedarf –
wir wissen, meine Damen und Herren, dass wir einen zu-
nehmenden Bedarf haben, dass unsere Volkswirtschaft
von gut ausgebildeten Fachkräften abhängig ist – kommt
es darauf an, dass wir durch eine vorausschauende Quali-
fizierung einem Fachkräftemangel vorbeugen. Das tun
wir. Das ist auch unsere Aufgabe. Es ist ebenfalls unsere
Aufgabe, gute Rahmenbedingungen für die Berufsausbil-
dung zu schaffen. Auch daran arbeiten wir. Lassen Sie
mich aber noch einmal sagen: Entscheidend ist das En-
gagement der Wirtschaft. Es ist entscheidend, um eine
ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung
zu stellen, um eine gute qualifizierte Ausbildung zu leis-
ten und um den Jugendlichen mehr Lernmöglichkeiten im
Arbeitsprozess zu eröffnen, und zwar bereits während ih-
rer Schulzeit.

Wir sind im letzten Jahr ein ganzes Stück weiter ge-
kommen. Wir haben im Bündnis für Arbeit, Ausbildung
und Wettbewerbsfähigkeit eine gute Basis gelegt. Ich bin

sehr froh darüber, dass das Engagement der Vertreter der
Wirtschaft wie auch der Vertreter der Gewerkschaften so
groß ist, dass ich zu Recht sagen kann, dass wir auch in
diesem Jahr diese gute Ausbildungsbasis weiterentwi-
ckeln werden. Das wollen wir. Wir wollen uns auch wei-
ter für die Zukunft junger Menschen engagieren. Wir wol-
len das Ziel, dass jeder, der kann und will, ausgebildet
werden soll, erreichen. Wir werden dieses Ziel nicht aus
dem Auge verlieren, sondern wir werden den eingeschla-
genen Weg weiter fortsetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300100
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Jork von der
CDU/CSU das Wort.


Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU):
Rede ID: ID1410300200
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbil-
dungsbericht gibt eine realistische Darstellung der Lage
auf dem Lehrstellenmarkt. Allerdings lassen Durch-
schnitts- und Zuwachsangaben die Dramatik der Lehr-
stellensituation in den neuen Bundesländern überhaupt
nicht erkennen. Hier liegt der Schwerpunkt, auf den ich
mich konzentrieren möchte.

Mit dem Sonderprogramm der Bundesregierung, für
das wir dankbar sind, wird die Notlage gemildert. Trotz-
dem ist die Anzahl neuer betrieblicher Ausbildungsver-
hältnisse „erneut deutlich rückläufig“. Früher hätten Sie,
die jetzt an der Regierung sind, das als Katastrophe be-
zeichnet. Ich denke, wir bleiben im Sinne derer, die es be-
trifft, sachlich.

Im Handwerk gab es Rückgänge. Warum wohl? Ich
möchte den Redestil des Herrn Bundeskanzlers von ges-
tern nachmachen und antworten: Das hat mit der Öko-
steuer zu tun. Das hat mit halbherzigen Gesetzen zur
Bekämpfung der schlechten Zahlungsmoral zu tun.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Sehr hilfreich waren die Entwickler und die Berater.
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern in den Ar-
beitsämtern herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bescheinige auch gern der ehemaligen Opposition

einen Erkenntnisgewinn. Das, was im jetzigen Berufsbil-
dungsbericht steht, ist schon interessant. Sie gehen davon
aus – wir waren immer dieser Meinung –, dass die Pro-
bleme nur partnerschaftlich lösbar seien. Sie erkennen,
dass auch die Länder in der Pflicht stehen. Sie selbst sa-
gen nun auch, dass ausländische Mitbürger gefordert
seien. Toll finde ich es zu lesen, dass jetzt auch der Bedarf
bedacht wird. Das hat vielleicht etwas mit dem Erkennt-
nisgewinn auf dem Gebiet der Informationstechnologie –
zuerst Schließung einer Hochschule und als logische
Folge davon Import von Computerspezialisten aus dem




Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Ausland – zu tun. Das betrifft auch die Frage der berufli-
chen Bildung.

In dem Bericht steht:
Dabei kommt der mittelständischen Wirtschaft eine
besondere Bedeutung zu, sie bildet mit 1,2 Millionen
etwa 80 % aller Auszubildenden aus.

Weiter heißt es dort: Hauptanliegen ist,
dass die mittelständische Wirtschaft ihre tragende
Rolle in der Berufsausbildung beibehalten kann.

Richtig! Schön wäre es! Genau darauf möchte ich hier be-
sonders eingehen: Wer Lehrstellen mag, der muss auch
die mittelständische Wirtschaft mögen. Alles andere ist
halbherzig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wie sehen nun angesichts der wirtschaftlichen Aus-

gangslage in den neuen Ländern die praktischen Konse-
quenzen aus? Frau Ministerin, wenn Sie sagen, Sie wol-
len das politisch anpacken, dann antworte ich Ihnen: Sie
können so viel wollen, wie Sie möchten! Ich weiß, dass
Sie und Ihr Ministerium sich bemühen. Aber das Problem
der Lehrstellen in den neuen Bundesländern ist eine ge-
samtwirtschaftliche sowie überministerielle Angelegen-
heit. Sie ist Chefsache. Wenn Sie sich bemühen, dann
reicht das nicht. Ich kann nur sagen: Hier muss der Chef
ran! Er muss den Stab zum Dirigieren in die Hand neh-
men.


(Ilse Janz [SPD]: Was hat denn die CDU gemacht? Nichts! Null!)


Im „Tagesspiegel“ vom 6. April 2000 steht: Der Auf-
schwung geht am Osten vorbei.


(Ilse Janz [SPD]: Das ist nicht zu fassen!)

Unter dieser Überschrift wird der Anstieg der Arbeitslo-
sigkeit in den neuen Bundesländern beschrieben. Wenn
man sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in
West und Ost anschaut – Herr Hilsberg, es war Ihr Hobby,
die dortigen Zahlen zu bejubeln –, dann stellt man fest,
dass die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundeslän-
dern bei 9 Prozent und in den neuen Bundesländern bei
15,7 Prozent liegt. Interessant ist auch der Vergleich der
Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen
Bundesländern: In Bayern liegt die Quote bei 5,8 Prozent,
in Niedersachsen bei 11,1 Prozent.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!)

Für uns Ostdeutsche – das richte ich an die Adresse von
Frau Müller, die gestern im Plenum gesprochen hat – ist
es Schönfärberei und Ausdruck von Arroganz, wenn Frau
Müller sagt: Die Arbeitslosigkeit ist um 10 Prozent
zurückgegangen. Ich weise noch einmal darauf hin:
Durchschnitts- und Zuwachsangaben verkleistern den
Blick auf die extreme Situation in den neuen Bun-
desländern und gehen an der Realität vorbei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Einst, als es in Ostdeutschland noch aufwärts ging,

sagte einer, der Kanzler werden wollte: Das ist mein Auf-
schwung. Er wurde Kanzler und erklärte den Aufbau zur
Chefsache. Nun erleben wir den Abschwung Ost. Das ist

Ihr Abschwung, Herr Bundeskanzler. Da nützt uns auch
ein „Placebo-Minister Ost“ überhaupt nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Hauptausschuss weist in seiner Stellungnahme zur

Entwicklung des Berufsbildungsberichtes 2000 zu Recht
darauf hin, dass

die Berufsbildungsstatistik nicht zwischen betriebli-
chen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnis-
sen differenziert. Der Hauptausschuss erwartet, dass
das Bundesinstitut für Berufsbildung bei der nächs-
ten Erhebung mit dem Stichtag 30.9.2000 diese Dif-
ferenzierung vornimmt.

Ich halte das für richtig. Weiter steht im Bericht:
Die Versorgungslücke auf dem Ausbildungsstellen-
markt ist nicht nur eine Folge der Krise des Arbeits-
marktes. Für sie sind vielmehr auch strukturelle Ver-
änderungen in der Wirtschaft verantwortlich.

Worum geht es also? Es genügt nicht, die offensichtli-
chen Probleme mit sektoralen Maßnahmen – ich deutete
das an – zu kurieren. Die Wirtschaft, der Mittelstand und
das Handwerk müssen auch im Ministerienverbund un-
terstützt werden. Man muss längerfristig planen und
Lehrstellen vorsehen können. Wer nicht weiß, ob er in ei-
nem halben Jahr noch existiert, der wird natürlich keine
Lehrlinge ausbilden. „Feststellen und fortfahren“, wie es
der Herr Bundeskanzler gestern ausdrückte, genügt nicht.
Wir brauchen eine neue Mittelstandskultur. Unser frühe-
rer Kollege Rixe sagte immer: Weiter so – aggressiv! Ge-
nau das erleben wir jetzt. „Weiter so“ langt nicht; wir
brauchen eine neue Mittelstandskultur in den neuen Bun-
desländern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dem Bericht der Bundesregierung zur technologischen

Leistungsfähigkeit entnehme ich folgende Aussage:
Dem Innovationssystem in den neuen Bundeslän-
dern (fehlen) wesentliche Kernelemente und Kristal-
lisationspunkte der Innovationssysteme der alten
Länder. Darüber hinaus leiden die kleinen und mitt-
leren Unternehmen sehr viel häufiger als in den alten
Ländern unter einer geringen Rentabilität, fehlen-
dem Eigenkapital und daraus resultierend auch unter
unzureichendem Zugang zu Fremdkapital.

Was dort steht, stimmt.
Wir hatten ein Gespräch mit der Handwerkskammer

Chemnitz. Zu diesem Gespräch wurden vier Forderungen
formuliert – sie sind im Grundsatz klar –, die zeigen, wie
Wirtschaft und Lehrstellen unmittelbar zusammenhän-
gen:

Erstens. Die Lehrlinge sollen – darüber haben wir
früher schon gesprochen – möglichst umfassend im Be-
trieb arbeiten.

Zweitens: eine deutliche Entlastung von Steuern und
Abgaben.

Drittens: Entlastung von Nebenkosten.
Viertens: eine angemessene Relation des Lehrlingsent-

geltes zum Gesellenlohn.




Dr.-Ing. Rainer Jork

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Bereits in Gesprächen mit dem Arbeitsamt Pirna wurde
vor einiger Zeit – am 14. April hatte ich ein solches Ge-
spräch in Meißen – festgestellt, dass wir eine Facharbei-
terlücke haben werden. Ich freue mich, dass auch das in
dem Bericht angesprochen wird.

Wir brauchen intelligente Lösungen für dieses Pro-
blem. Ich gehe davon aus, dass ein größerer Schwerpunkt
auf die modulare Gestaltung der Ausbildung gelegt wer-
den soll. Der Vertreter der IG Metall wies in einer Bera-
tung übrigens darauf hin, dass die öffentliche Infrastruk-
tur in den neuen Bundesländern einen Rückstand von
30 Prozent hat und dass es vor allem Defizite im industri-
ellen Bereich gibt. Wiederum stellt sich die Frage: Was
hemmt? Bestehende Hemmnisse haben mit der Steuerre-
form, der Ökosteuer und hohen Lohnnebenkosten zu tun.

Ich möchte Schlussfolgerungen ziehen. Unsere Frak-
tion wird auf Drucksache 14/3185 eine Vorlage mit dem
Titel „Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungen
angehen“ in die Beratungen einbringen. Wir fordern klar:
Es hat keinen Sinn, an den Krankheitssymptomen zu la-
borieren; es geht darum, dass der Körper Berufsbildung in
den neuen Bundesländern insgesamt so konditioniert
wird, dass der betriebliche Teil der dualen Ausbildung
überhaupt funktionieren kann. Ich erinnere dabei an die
Vorschläge, die ich in der Debatte am 28. Januar gemacht
habe.

Den Leuten in den neuen Bundesländern ist nicht zum
Lachen. Die Zahlen dort sprechen eine deutliche Sprache.
Es geht wirklich darum, dass sich die Bundesregierung als
Regierung und der Chef der Chefsache endlich als in der
Pflicht stehend verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich darf noch einmal darauf hinweisen – ich freue

mich, dass dieser Gedanke auch in den Papieren der Bun-
desregierung zunehmend Akzeptanz findet –, dass die
Diskussion zu Modulen in der beruflichen Bildung ge-
führt wird. Ich habe in meiner Rede vom 4.März 1999 den
Versuch einer Definition gemacht und der Vertreter der
SPD hat damals im Plenum gesagt, wir sollten darüber re-
den. Das hat bisher nicht stattgefunden, aber ich finde das
an einigen Stellen schon in den Papieren.

Die modulare Berufsbildung hat, wenn sie von ideolo-
gischen Vorbehalten und Blockaden entkleidet wird, den
Vorteil, dass sie die Flexibilität der Arbeit erhöht, dass sie
die schrittweise Modernisierung der Berufsbilder ermög-
licht, dass es möglich wird, betriebsspezifische Aufgaben
in der Ausbildung und Weiterbildung – davon ist heute
schon gesprochen worden – zu berücksichtigen. Außer-
dem ist das – das halte ich für wichtig – eine Chance für
die Befähigung bei unterschiedlicher Eignung.

Abschließend möchte ich an dieser Stelle deutlich sa-
gen, dass die modulare Berufsbildung keineswegs das Be-
rufsprinzip infrage stellt, sondern dieses Berufsprinzip er-
gänzt und flexibilisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte kurz auf die Drucksache eingehen, die ich

gerade in die Hand bekommen habe. In diesem von den

Regierungsparteien eingebrachten Entschließungsantrag
steht unter Nr. 2:

Die Bundesregierung wird aufgefordert, Wirtschaft,
Handwerk, freie Berufe und öffentlichen Dienst ver-
stärkt anzuhalten mehr Ausbildungsplätze anzubie-
ten.

Ich zitiere Sie, Frau Ministerin. Sie haben eben gesagt,
Appelle genügten nicht. Genau das ist es. Die Wirtschaft
braucht keine Appelle. Sie will. In allen Beratungen, die
wir zu Hause im Wahlkreis führen, merke ich das Ringen,
mehr Ausbildungsplätze bereit zu stellen. Den Leuten ist
schon bewusst, dass es um die eigene Zukunft geht. Aber
bitte – Ihre Worte – nicht nur Appelle, bitte gemeinsame
Arbeit über die Ministeriumsgrenzen hinweg! Kommen
Sie zur Sache! Appelle nützen nichts und sind überflüssig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte kurz zu zusammenfassenden Bemerkungen

kommen. Die Zeit ist um.
Es gibt im Bericht eine realistische Darstellung. Ich

freue mich, dass das deutlich gesagt wird. Die Bundesre-
gierung hat an vielen Stellen über JUMPgeholfen. Wir ha-
ben wiederholt gesagt, dass wir das gut finden, dass die
Nachhaltigkeit, der Effekt verbessert werden muss. Ich
glaube, wir sind uns darüber einig. Die Arbeit über die
Ministeriumsbereiche hinweg halte ich für ungenügend.
Die Konsequenzen sind halbherzig, begrenzt und ober-
flächlich. Ich bin der Meinung, der Chef sollte kommen
und das tun, was er versprochen hat.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300300
Das Wort
hat nun der Kollege Ulrich Kasparick von der SPD-Frak-
tion.


Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1410300400
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Jork, nur auf den Chef zu warten
reicht nicht,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sondern da muss man sich schon selber hinsetzen und sel-
ber etwas unternehmen. Man muss sich mit den gutwilli-
gen Menschen im Lande, die es in genügender Anzahl
gibt, zusammentun und genauer definieren, wo die
Schwachpunkte sind.


(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Haben wir gemacht!)


Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Ich finde die Si-
tuation in Ostdeutschland nicht nur bedrückend, sondern
ausgesprochen bedrohlich, weil es Trends gibt, die auch
im Plenum des Deutschen Bundestages noch zu wenig be-
sprochen worden sind. Deshalb erlauben Sie mir, dass ich
auf ein paar dieser Trends heute aufmerksam mache.

Wir beobachten leider, dass Berufsschullehrer, die wir
für neue IT-Berufe dringend brauchen, das Land verlas-




Dr.-Ing. Rainer Jork
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sen. In Sachsen-Anhalt beispielsweise ist es so, dass von
40 ausgebildeten Berufsschullehrern 30 weggehen, zum
Teil aggressiv abgeworben werden. Deswegen sage ich an
dieser Stelle: Wir müssen über den BAT reden.


(Beifall bei der SPD)

Als ich kürzlich die Fachhochschule Stralsund be-

suchte, sagte mir der Direktor auf meine Frage, wo seine
Absolventen hingingen, dass sie zu fast 100 Prozent in die
alten Länder gingen.
Wir müssen darüber reden, woran es liegt, dass die Men-
schen, die wir dringend für Innovationen, bei der Ent-
wicklung neuer Berufe und als Ausbilder brauchen, weg-
gehen.

Gut finde ich an dem Bericht der Bundesregierung, dass
die Regierung die Schwierigkeiten nicht verschweigt, son-
dern vielmehr dieses besondere Problem in Ostdeutsch-
land genau wahrnimmt. Dafür bin ich der Regierung aus-
gesprochen dankbar, denn wir haben auch schon anderes
erlebt. Da wurde nicht in einer solchen Offenheit über die
Schwierigkeiten gesprochen. Ich wünsche mir, dass wir
weiter untereinander so ehrlich bleiben. Es ist ein guter
Zug zu sagen, wie die Situation wirklich ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch auf ein paar Besonderheiten aufmerksam
machen, die die Berufsbildung in Ostdeutschland betref-
fen: In Thüringen, so sagte mir der zuständige Referats-
leiter im Landesarbeitsamt, als ich ihn zur Vorbereitung
dieser Rede anrief, verhält es sich so, dass etwa 17 Pro-
zent der Lehrlinge in die alten Länder gehen und zusätz-
lich etwa 18 Prozent pendeln. Darüber hinaus gibt es noch
eine große Grauzone. Es gibt andere Regionen in Ost-
deutschland – ich nenne als ein Beispiel Stendal –, aus de-
nen fast ein Viertel der Lehrlinge weggehen.

Wenn man woanders in Deutschland eine Lehrstelle
findet, ist das gut. Es entsteht aber zugleich ein struktur-
politisches Problem: Wenn Menschen in den alten Län-
dern – beispielsweise gehen sehr viele nach Süddeutsch-
land – eine Ausbildung machen, liegt es nahe, dass sie
dann auch dort bleiben. Das heißt, es entsteht nicht nur ak-
tuell ein Mangel an Fachkräften in Ostdeutschland, son-
dern zukünftig werden wir auf dem Arbeitsmarkt noch
mehr Probleme bekommen, wenn wir nicht jetzt mehr tun,
als bisher getan worden ist. Deswegen lautet mein Appell –
ich bin mir sehr sicher, dass der auch gehört werden wird –,
noch ein wenig mehr Gewicht auf diese Frage der Be-
rufsausbildung in Ostdeutschland zu legen. Ich denke,
dass es eine ganze Reihe von gutwilligen Partnern gibt,
die dazu auch bereit sind.

Wir können es uns nämlich nicht leisten, bis zum Jahre
2007 zu warten. 2007 wird sich die Situation völlig um-
drehen. Da werden wir in Ostdeutschland die Situation
haben, dass mehr Ausbildungsplätze vorgehalten werden,
als sich Auszubildende bewerben. Ich fand es gut, als mir
Leute von der Industrie- und Handelskammer und auch
von den Kreishandwerkerschaften sagten, dass die Be-
triebe in Ostdeutschland es mittlerweile verstehen, dass
ab 2006/07 dieser Einbruch kommt, und deshalb jetzt

schon damit beginnen, mehr auszubilden. Das ist ein
wichtiger Trend. Die Betriebe, insbesondere die Kam-
merbetriebe, fangen an, mehr auszubilden. Wir müssen
sie dabei allerdings unterstützen.

Ich nenne nur als Beispiel die IT-Berufe. Es ist gut,
dass es da einen Aufwuchs gibt. Aber auch hier merken
wir, dass die jungen Leute in Ostdeutschland von diesem
Aufwuchs noch nicht so profitieren, wie das wün-
schenswert wäre. Wir haben bei den gemeldeten Ausbil-
dungsstellen in den neuen Berufen einen Aufwuchs von
etwa 3 bis 4 Prozent. Das ist zu wenig; es muss mehr wer-
den. Was ist zu tun? Klar ist, solche Programme wie
JUMP müssen fortgesetzt werden. Ich finde es gut, dass
das schon zugesichert wurde. JUMP geht weiter, das ist
ganz wichtig für den Osten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß aller-
dings, dass die Realität der beruflichen Ausbildung in Ost-
deutschland noch weit entfernt ist von einem wirklichen
dualen System, denn dort ist Ausbildung fast eine rein
staatliche Veranstaltung.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das ist richtig!)

Wenn man nämlich zu der staatlichen Ausbildung an den
Berufsschulen die Pro-Kopf-Prämien, die in manchen
Ländern noch gezahlt werden, hinzuzählt, dann kommt
man auf einen staatlichen Anteil am Ausbildungsmarkt
von bis zu 80 Prozent. Von daher liegt es auf der Hand,
dass sich der Staat da weiter engagieren muss. Ich finde
die Zusage der Ministerin gut –


(Bundesministerin Edelgard Bulmahn: Da gibt es auch ein neues Programm!)


– Das kommt noch dazu; auf das zusätzliche Programm
gehe ich gleich noch ein. Einige Länder, beispielsweise
Thüringen, haben solch ein Programm ja schon aufgelegt.

Wir müssen an einer Schlüsselstelle etwas tun, nämlich
in der Verbundausbildung. Zurzeit sieht die Situation
folgendermaßen aus: Nur etwa die Hälfte der Betriebe in
Ostdeutschland glauben, dass sie ausbildungsberechtigt
seien. Ich habe noch einmal mit den Handwerkskammern
telefoniert; sie haben mir das bestätigt. Das heißt: Viele
wissen gar nicht, dass sie ausbildungsberechtigt sind.

Daher brauchen wir eine konzertierte Aktion. Ver-
bünde sind dazu wichtig. Die Kammern bemühen sich
mit den Sozialpartnern. Die Länder sind sehr engagiert
und auch der Bund hilft. Wir brauchen aber an einer
Schlüsselstelle eine gezielte Förderung – ich bin mir si-
cher, dass dies mit einem Sonderprogramm jetzt zu reali-
sieren ist –: Wie bekommt man das Management dieser
Verbünde angeschoben? Die Idee ist, dass man für die
erste Zeit eine degressive Förderung vorsieht. Man kann
in diesem Zusammenhang – ob es nun die ersten drei
Jahre sind – über Zeiträume reden. Ein Verantwortlicher
muss Betriebe akquirieren und das Management der Ver-
bundausbildung in die Hand nehmen. Er muss also auf die
beteiligten Akteure zugehen. Ich denke, eine degressiv




Ulrich Kasparick

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(C)



(D)



(A)



(B)


gestaltete Förderung ist sinnvoll. Das Ziel muss sein, dass
die Wirtschaft selber die Ausbildung übernimmt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich möchte noch einen zweiten Punkt kurz ansprechen.
Auch da gibt es eine große Bereitschaft zum Handeln, die
nur noch mithilfe eines kleinen staatlichen Anstoßes so-
zusagen zusammengeführt werden muss. Es stellt sich
nämlich die Frage: Wie können sich die Arbeitsplatzent-
wickler, die Arbeitsplatzvermittler und die Menschen, die
für die Akquise von Ausbildungsplätzen unterwegs sind,
besser absprechen? Man kann häufig feststellen, dass
diese Akteure nebeneinander agieren. Ich wünsche mir
daher eine bessere Absprache, was den Regionen nur hel-
fen kann.

Der zentrale Punkt ist: Wir müssen den Betrieben, die
ausbildungswillig sind – es gibt sie – helfen. Das Stich-
wort heißt: Ausbilden zum Ausbilder. Das BMBF berei-
tet entsprechende Maßnahmen vor, die in die richtige
Richtung gehen. Auch die Verbundausbildung weist in die
richtige Richtung, möglicherweise ausgestattet mit einem
degressiv gestalteten Förderprogramm.

Ich rufe von dieser Stelle die Kammern auf, ihre eige-
nen Betriebe darüber zu informieren, wer eigentlich alles
ausbildungsberechtigt ist. Mich hat die Zahl etwas irri-
tiert, dass etwa nur die Hälfte der Betriebe wissen, dass sie
ausbilden können. In diesem Zusammenhang wäre eine
Informationskampagne sehr sinnvoll; denn jeder Betrieb,
der ausbildet, wird dringend benötigt, auch wenn er nur
einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellt. Wir wollen
den Betrieben dabei helfen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300500
Als nächste
Rednerin hat das Wort die Kollegin Cornelia Pieper von
der F.D.P.-Fraktion.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410300600
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist noch gar nicht lange her, dass wir in diesem Hause den
Berufsbildungsbericht 1999 abschließend behandelt ha-
ben und ich an gleicher Stelle stand. Das ist insofern von
Interesse, als ich mit nur knapp vier Monaten Abstand
zwei Berichte analysieren und miteinander vergleichen
kann, die auf das Wirken von zwei grundverschiedenen
Bundesregierungen zurückzuführen sind.

Damals sagte ich Ihnen: Der Berufsbildungsbericht
1999 macht deutlich, dass die alte Bundesregierung bei
der Schaffung von Ausbildungsplätzen eine richtige Wei-
chenstellung vorgenommen hat.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Versagt hat!)

Mit vertrauensbildenden Maßnahmen schafft man gerade
im Mittelstand den besseren Nährboden für Engagement.

Ich bitte Sie, diese Tatsache einmal zur Kenntnis zu neh-
men.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich komme auf das Thema Mittelstandspolitik gleich
zurück.

Heute haben wir darüber zu befinden, ob die neue Bun-
desregierung – getreu dem Kanzlerwort „Wir machen
nicht alles anders, aber vieles besser“ – erfolgreich gear-
beitet hat. Am Abbau der Jugendarbeitslosigkeitmöchte
sich Herr Schröder messen lassen. In der Tat: Der Bericht
weist einen Zuwachs gegenüber 1998 von 18 500Ausbil-
dungsverträgen aus. Ich sage ganz deutlich: Jede Investi-
tion in die Ausbildung eines Jugendlichen ist mir das Geld
wert; denn die beste Sozialpolitik, die man für einen jun-
gen Menschen machen kann, ist, ihm einen Ausbildungs-
platz zu verschaffen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen, das Programm umfasste im vergange-
nen Jahr insgesamt 2,2 Milliarden DM. Doch auch Ende
1999 standen immerhin noch 8 100 Jugendliche ohne Aus-
bildungsstelle da. Das sind die Fakten.

Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Re-
gierungskoalition: Es gibt in Deutschland eine Schieflage,
was die Ausbildungsplatzsituation anbelangt. Dabei han-
delt es sich nicht um eine Situation, die ich als Oppositio-
nelle im Deutschen Bundestag sozusagen herbeirede.
Diese Situation ist im Berufsbildungsbericht beschrieben.
Frau Nahles und elf andere Bundestagsabgeordnete der
SPD haben dies in einem offenen Brief an Bundeskanzler
Schröder zum Ausdruck gebracht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)

Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt:
Die Verbesserung der Ausbildungsplatzbilanz ist
allerdings im starken Maße auf die Ausweitung der
öffentlich finanzierten Ausbildung, insbesondere auf
das Sofortprogramm der Bundesregierung zum Ab-
bau der Jugendarbeitslosigkeit, zurückzuführen.

Das heißt, Sie haben es nicht geschafft, dass Ausbil-
dungsplätze in kleinen mittelständischen Betrieben in der
Wirtschaft entstehen können.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das haben Sie nicht geschafft, und das müssen Sie sich
von der Opposition und von der deutschen Bevölkerung
vorwerfen lassen. Ich sage noch einmal: Die Appelle an
die Wirtschaft werden nicht reichen, und auch Ihre Poli-
tik für die großen und starken Unternehmen wird nicht
reichen. Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die die
kleinen Handwerksbetriebe, die Freiberufler und die mit-
telständische Wirtschaft unterstützt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dafür haben Sie sowohl mit dem 630-Mark-Gesetz als
auch mit dem Gesetz über die Scheinselbstständigkeit und




Ulrich Kasparick
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mit der vorgelegten Unternehmensteuerreform die falschen
Rahmenbedingungen geschaffen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Bringen Sie doch endlich den Mut zu echten Reformen

auf, und hören Sie auf, mittelstandsfeindliche und damit
ausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden!
Setzen Sie Ihren Schwerpunkt nicht allein auf noch so
schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäfti-
gungsprogramme, sondern stärken Sie den Mittelstand
vor Ort.


(Ulrich Kasparick [SPD]: Ich sage nur: Eingangssteuersatz!)


Der Kollege von der SPD, der vor mir gesprochen hat, hat
es ja auch deutlich gemacht. Es kommt darauf an, dass wir
den Mittelstand stärken,


(Ulrich Kasparick [SPD]: Machen wir ja!)

damit Ausbildungsplätze geschaffen werden. Aber Sie
machen es ja nicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist gerade für den Osten Deutschlands von existenzi-
eller Bedeutung.

Dazu will ich in diesem Hohen Hause noch einmal fest-
stellen: Wir behandeln heute den Berufsbildungsbericht
2000, werten also das Ausbildungsjahr 1999 aus. Wir alle
wissen um die dramatische Situation im Osten Deutsch-
lands.Wir sind uns einig, dass dort die Ausbildungsplätze
auch öffentlich gefördert werden müssen. Wir diskutieren
hier, und ich vermisse die Anwesenheit des dafür zustän-
digen Ministers.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wo ist Staatsminister Schwanitz?


(Ulrich Kasparick [SPD]: Die zuständige Ministerin ist da!)


Der Bundeskanzler dieser Bundesrepublik Deutschland
hat erklärt: Aufbau Ost ist Chefsache. Sind ihm die Aus-
bildungsplätze so wenig wert? Ist ihm die Mittelstands-
politik so wenig wert, dass er heute im Plenum nicht an-
wesend ist?


(Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich fordere den Staatsminister auf, an dieser Debatte teil-
zunehmen. Für mich ist es ein Affront gegen die Jugend-
lichen, insbesondere im Osten Deutschlands,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

dass der Minister für besondere Aufgaben Aufbau Ost an
dieser Debatte im Plenum nicht teilnimmt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er lässt Frau Bulmahn allein, und das ist unfair!)


Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass Sie die-
ses Thema so begeistert. Ich will es noch einmal an einem
ganz konkreten Punkt deutlich machen.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Big Brother Möllemann!)


Wenn Sie im Haushalt des Jahres 2000 für die Technolo-
gieförderung im Wirtschaftsministerium Mittel streichen
und ich weiß, dass im zuständigen Ministerium in einem
Umfang von 35 Millionen DM Anträge ostdeutscher
mittelständischer Betriebe liegen, die in eine innovative
Branche vordringen wollen, Anträge, die nicht bewilligt
werden können, weil das Geld nicht eingestellt worden
ist, Anträge, mit denen innovative Existenzgründungen
auf den Weg gebracht werden könnten, dann ist das die
falsche Akzentuierung. Durch jeden Betrieb, der neu ent-
steht, könnten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze ge-
rade im Osten Deutschlands entstehen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das werfen wir Ihnen allerdings vor, meine Damen und
Herren.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber das betrifft sie nicht, weder den Wirtschaftsnoch den Aufbauminister!)


– Genau, weder Wirtschafts- noch Aufbauminister. Das
kann auch ruhig ergänzt werden, denn dieses Thema ist
einfach im Zusammenhang zu sehen. Es ist nicht allein,
verehrte Frau Ministerin Bulmahn, ein bildungspoliti-
sches Thema, es ist ein Wirtschaftsthema. Das kann man
gar nicht genug deutlich machen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der F.D.P.: Ein Wirtschaftsminister ist das! – Abg. Stephan Hilsberg [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich im Moment
keine Frage beantworten möchte. Ich möchte gern den
Zusammenhang darstellen.

Und es ist ein schulpolitisches Thema. Schulpolitik ist
Aufgabe der Länder. Aber die Qualität der Schulbildung
entscheidet über die Ausbildungsfähigkeit junger Men-
schen. Das will ich hier auch noch einmal sagen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die schlechte Unterrichtsversorgung und Ausstattung an
den Schulen Deutschlands trägt doch nicht dazu bei, dass
wir gut ausgebildete und ausbildungsfähige junge Men-
schen in den Berufsschulen haben.


(Zuruf von der SPD: Daran sind doch nicht die jungen Leute schuld!)


22,6 Prozent Ausbildungsabbrecher, die mit den theoreti-
schen Anforderungen nicht mitkommen, können uns nicht
kalt lassen. Das muss uns doch bewegen. Da stimmt in der
Schulpolitik etwas nicht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen mehr praxisorientierte Schulpolitik, eine
Schule, die auch gemeinsam mit der Wirtschaft rechtzei-
tig Modelle entwickelt, damit Jugendliche auf ihre Aus-
bildung, auf ihren zukünftigen Arbeitsplatz vorbereitet
werden.

Aber auch die Berufsausbildung muss ihren Beitrag
leisten. Um den veränderten Bedingungen in der Arbeits-
welt voll Rechnung tragen zu können, brauchen wir eine




Cornelia Pieper

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(C)



(D)



(A)



(B)


stärkere Flexibilisierung und Differenzierung in der Be-
rufsausbildung. Die F.D.P. – das wissen Sie – setzt sich
schon lange für eine Modularisierung der beruflichen
Ausbildung auf der Basis von Grundberufen mit an-
schließenden Spezialisierungsrichtungen nach dem Mus-
ter eines Baukastensystems ein. Dabei haben wir lei-
stungsstarke und leistungsschwache junge Menschen
gleichermaßen im Auge. Eine Modularisierung von
Ausbildungsgängen mit berufsqualifizierenden Ab-
schlüssen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Berufsbil-
der auch auf jene zuzuschneiden, die nicht durch ihre
guten theoretischen Begabungen auffallen, sondern eher
praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen. Diese
jungen Menschen erhalten in einem solchen System eine
echte Chance für ihren Einstieg in den Beruf.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Gerade das ist wichtig, denn die Zahl der Einfachar-

beitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immer
weniger Chancen. Ich sage hier noch einmal: Der Fach-
kräftemangel in der Wirtschaft, der in den nächsten Jah-
ren auf uns zukommen wird – das stellt auch der Berufs-
bildungsbericht fest –, wird immens sein. Deshalb
brauchen wir mehr Flexibilisierung in der dualen Be-
rufsausbildung. Deswegen müssen wir zu einer echten
Reform in der beruflichen Bildung kommen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Hier erwarten wir von der Bundesregierung weiter ge-
hende Akzente.

Ich sage aber ebenfalls, Frau Ministerin Bulmahn – Sie
haben es auch in Ihrem Bericht erwähnt –, dass die neuen
Berufsbilder eine echte Chance bieten, die Anzahl der
Ausbildungsplätze zu erhöhen. Die alte Koalition hat
1997 die ersten vier neuen Berufsbilder für die IT-Berufe
beschlossen und auf den Weg gebracht. Die 30 000 Aus-
bildungsplätze, die innerhalb der letzten drei Jahre ent-
standen sind, insbesondere in den IT-Berufen, sind auf
diese Initiative zurückzuführen. Auch das darf noch ein-
mal so deutlich gesagt werden. Ich möchte Sie ermutigen,
diesen Weg weiterzugehen und moderne Berufsbilder zu
entwickeln.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Kultur der
Selbstständigkeit,Mut zur Existenzgründung, gerade bei
jungen Menschen in diesem Land. Wenn wir das hinbe-
kommen, werden wir von denen, die eine Existenz, eine
Firma in diesem Land gründen, auch einen Beitrag für
mehr Ausbildungsplätze in Deutschland erhalten. Diese
Kultur der Selbstständigkeit ist nicht zu erkennen. Das
Klima für Maßnahmen, die den Mittelstand, die Freibe-
rufler, die Handwerker unterstützen, ist bei der Politik der
Bundesregierung nicht befriedigend. Das stellen wir un-
ter Kritik.

Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem nächs-
ten vorzulegenden Berufsbildungsbericht neue Akzente
für zukunftsträchtige Ausbildungs- und Arbeitsplätze für
junge Menschen zu setzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300700
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Stephan
Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.


Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1410300800
Liebe Frau Pieper, nach-
dem Sie in Ihrer Rede beliebt haben, Nebelkerzen zu wer-
fen


(Widerspruch bei der F.D.P.)

– das ist ja parlamentarisch erlaubt, das macht jeder; aber
dann ist es auch erlaubt, zu sagen, was die andere Seite
wirklich macht –, möchte ich sagen: Sie können natürlich
auf die technologische Leistungsfähigkeit ostdeutscher
Betriebe hinweisen. Sie wissen aber ganz genau, dass die
technologische Leistungsfähigkeit der Mittelstandsbe-
triebe in Ostdeutschland zum Teil exquisit und fantastisch
ist und teilweise besser als in manchen westdeutschen Be-
trieben.

Sie können natürlich auch Ihren Mangel an Gegenvor-
schlägen, was die Behebung der Probleme der ostdeut-
schen Ausbildungsplatzsituation angeht, zu kaschieren
versuchen, indem Sie immerfort rufen, das sei Chefsache.
Das ist noch kein einziger Vorschlag. Aber nehmen Sie
doch einmal Stellung zu den Fakten! Wenn Sie schon sa-
gen, dass wir das JUMP-Programm brauchen, um die
Lehrstellensituation in Ostdeutschland zu verbessern,
warum stimmen Sie dann beispielsweise im Haushalts-
ausschuss dagegen? Und warum nehmen Sie zu den
Nachwuchssorgen vieler ostdeutscher Betriebe, die kata-
strophal und existenziell sind, spätestens 2005, 2006, in
keiner Weise Stellung? Wenn Sie immer so tun, als sei nur
die Bundesregierung daran schuld, dass die Betriebe zu
wenige junge Leute einstellen, dann stärken Sie deren Si-
tuation noch, da die Betriebe so sagen können: Schuld ist
die Bundesregierung, sie unterstützt uns nicht, wir stellen
keinen ein.

Zum Schluss haben die Betriebe keinen einzigen Lehr-
ling. Wenn die Betriebe jetzt nicht anfangen – das gilt für
viele Betriebe; das ist wirklich als ein ernster Appell zu
verstehen –, sich auf die demographische Falle, die in den
Jahren 2005 bzw. 2006 einsetzt, so einzustellen, dass be-
reits jetzt antizyklisch ausgebildet wird, dann werden wir –
da gebe ich Ihnen Brief und Siegel – in vier Jahren über
die Frage diskutieren, warum viele Betriebe in Ost-
deutschland trotz hoher Arbeitslosigkeit dichtmachen
müssen. Das werden sie deshalb tun müssen, weil sie kei-
nen Nachwuchs mehr haben.


(Beifall bei der SPD – Staatsminister Rolf Schwanitz nimmt auf der Regierungsbank Platz – Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410300900
Frau Kol-
legin Pieper, zur Erwiderung, bitte schön.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410301000
Guten Morgen, Herr
Schwanitz.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Cornelia Pieper
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(C)



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(A)



(B)


Ich freue mich, dass die Opposition es erreicht hat, dass
der für die Ausbildungsplätze im Osten Deutschlands zu-
ständige Minister endlich anwesend ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Herr Kollege Hilsberg, trotz all meiner Wertschätzung
Ihrer Person gegenüber möchte ich feststellen: Ich finde
es skandalös, dass Sie sagen, ich würde parlamentarische
Nebelkerzen werfen, wo es doch um Existenzfragen für
kleine und mittelständische Handwerksbetriebe im Osten
Deutschlands geht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Und für junge Menschen!)


Das sind keine Nebelkerzen. Ganz im Gegenteil: Das hat
etwas mit der Sorge um die Zukunft eines Teils in
Deutschland zu tun, die für uns als Liberale ein ganz
wichtiges Thema darstellt.


(Ilse Janz [SPD]: Das hätten Sie in der Regierung tun sollen!)


Sie haben überhaupt kein Konzept für den Aufbau Ost.
Sie haben keine Ideen, was die Entwicklung von Arbeits-
plätzen anbelangt. Sie schaffen keine entsprechenden
Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft.
Das habe ich Ihnen vorgeworfen.

In der Tat gibt es im Osten Deutschlands zum Glück
auch leistungsfähige Betriebe. Nur ist leider deren Anzahl
viel zu gering, um ausreichend Arbeits- und Ausbildungs-
plätze insbesondere für junge Menschen zu schaffen. Eine
Chancengleichheit ist nicht gegeben, wenn Sie allein an
die Eigenkapitaldecke ostdeutscher mittelständischer Un-
ternehmen denken.

Ich habe genügend Vorschläge vorgetragen. Sie haben
uns ja vorgeworfen, wir hätten nicht genügend Vor-
schläge. Ich habe deutlich gemacht, dass das JUMP-Pro-
gramm, insbesondere das Sonderprogramm für die neuen
Bundesländer wichtig ist und dass ich das sogar unter-
stütze, dass dies aber nicht die Lösung des bestehenden
Problems ist. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die sich sehen

lassen kann. Eine solche Politik der Bundesregierung ver-
missen wir. Sie zocken doch immer nur diejenigen ab, die
fleißig sind und ihr Geld in Ausbildungs- und Arbeits-
plätze investieren.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schauen Sie sich doch Ihre Steuerreform an! Diese Poli-
tik können wir als F.D.P. nicht unterstützen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist ja lächerlich! – Weitere Zurufe von der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410301100
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz
vom Bündnis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410301200
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper,
wenn junge Menschen hier in diesem Lande wieder eine
Chance auf Ausbildung haben, wenn diese Jugendlichen,
wie es auch die Shell-Studie zeigt, wieder zuversichtlich
und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken, dann ist das der
Politik der jetzigen Regierung bzw. der jetzigen Koalition
zu verdanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Das zeigen die aktuellen Zahlen. Das sollte einmal deut-
lich gemacht werden.

Die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen haben wir
als rot-grüne Koalition innerhalb von einem Jahr um rund
drei Viertel reduziert. 30 000 Ausbildungsverträge wur-
den 1999 in Berufen abgeschlossen, die erst in jüngster
Zeit entstanden und entwickelt wurden. Zurzeit sind wei-
tere 50 Berufsbilder in der Modernisierungs- bzw. Ent-
wicklungsphase.

Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen und
auf unseren Lorbeeren ausruhen. Das heißt für uns vor al-
lem, dass wir weiterhin tätig werden müssen, dass wir
weitermachen und dass wir weiter gestalten wollen. Vie-
les ist in diesem Bereich in der Tat noch zu tun. Die Si-
tuation im Osten ist angesprochen worden. Dort ist das
duale System immer noch nicht so richtig in Schwung ge-
kommen. Es entwickelt sich.

Mehr als 50 Prozent der Auszubildenden erlernen Be-
rufe, in denen nur 25 Prozent der Berufstätigen beschäf-
tigt sind. Die Konzentration auf geschlechtstypische Mo-
deberufe ist unverändert hoch. Die Quote der Ausbil-
dungsabbrecher liegt bei 25 Prozent und ist immer noch
sehr hoch. Häufig ist es so, dass diese Menschen später
keine zweite Chance bekommen.

Kritisches lässt sich sicherlich auch über die Qualität
der Ausbildung sagen. Kreatives Denken und Handeln,
soziale Kompetenz, Team- und Kommunikationsfähigkeit
kommen in der Ausbildung häufig zu kurz. Lernen
lernen – eine Grundvoraussetzung in der Wissensgesell-
schaft – wird leider noch etwas vernachlässigt. Aber ge-
rade diese Herausforderungen erfordern eine koordinierte
Anstrengung, sowohl von der politischen Seite als auch in
den Betrieben vor Ort, in den Ausbildungsstätten. Was wir
brauchen, sind unkonventionelle, neue Lösungen, neue
Ideen, neue Gestaltungskonzeptionen. Wenn dann aber
Vorschläge gemacht werden wie die Wiedereinführung
von Kopfnoten in den Schulen zum Beispiel, dann ist das
ein Armutszeugnis für die Politik. Das in dieser Form in
die Diskussion zu bringen war von der Frau Merkel nicht
besonders intelligent.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zukunftsfähig sein heißt, auch Neues zu denken. Ein
Ansatz liegt in der Modularisierung: Module als Quali-
fikationsbausteine. Mich wundert es, dass die Opposition
ausgerechnet jetzt – da wir längst darüber reden und ver-
suchen, das auszugestalten – auf die Idee kommt, das




Cornelia Pieper

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ganze aufzugreifen. Wo waren Sie denn in den vergange-
nen Jahren? Konnten Sie in Ihrer Regierungszeit denn
nichts in diesem Bereich tun? Warum fällt es Ihnen aus-
gerechnet jetzt ein, eine Modernisierungsphase einzulei-
ten, wenn wir längst dabei sind?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Einzelne Firmen wie Siemens haben mit der Modula-
risierung schon gute Erfahrungen gemacht, auf die wir
auch zurückgreifen. Dabei ist es wichtig, nicht bei der
Ausbildung stehen zu bleiben, sondern auch die Fort- und
Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an-
zugehen. Wichtig sind auch Flexibilität und Transparenz:
Eine Werkzeugmacherin von heute muss sich morgen zu
einer Kfz-Meisterin ausbilden lassen können, ohne die ge-
samte Ausbildung wiederholen zu müssen. Gleiches gilt
für die Ausbildungsabbrecher. Auch sie müssen eine
Chance bekommen, ihre Qualifikation in die neue Aus-
bildung einzubringen, ohne von vorne anfangen zu müs-
sen. Wir dürfen diese Debatte nicht auf die Leistungsstar-
ken reduzieren.

Wenn wir über Modularisierung reden, dann müssen
wir von vornherein ein paar Eckpunkte festhalten: Modu-
larisierung darf nicht zu einer Qualitätsminderung der Be-
rufsausbildung führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es müssen klare Linien bestehen, wie die Ausbildung ab-
laufen muss, damit ein vollwertiger Berufsabschluss ge-
währleistet ist. Überhaupt nicht infrage stellen wir dabei
das duale Ausbildungssystem. Es hat sich bewährt. Was
wir in diesem Bereich brauchen, ist nicht ein Ersatz,
sondern eine Weiterentwicklung in Verbindung mit ei-
ner Qualitätssicherung. Nicht zuletzt sind die Harmoni-
sierungsbestrebungen auf europäischer Ebene wichtig.
Wir müssen kompatibel werden mit dem Ausland; dann
können wir auch für unser Land einen Nutzen daraus zie-
hen.

Eine gute Ausbildung findet allerdings nicht in einem
luftleeren Raum statt. Eine gute Wirtschafts- und Techno-
logiepolitik ist die Grundlage. Da setzt bei uns die Mittel-
standspolitik an.


(Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Fangen Sie mal an!)


Wir haben in diesem Bereich Akzente gesetzt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)


Noch vor wenigen Jahren sind die Solarzellenhersteller
aus Deutschland ausgewandert. Was passiert heute? NRW
hat sich seit der Regierungsbeteiligung der Grünen bei der
Solarkapazität von null an die Bundesspitze katapultiert.
Das ist erfolgreiche Mittelstandspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das 100 000-Dächer-Programm sowie das Energie-
einspeisungsgesetz sind so erfolgreich, dass sie jegliche
Erwartungen sprengen. Die Erzeugung regenerativer Ener-
gien, die Energieerzeugung aus Sonne, Wind und Wasser,

die Informationstechnologien, intelligente, vielseitige
Mobilitätskonzepte und innovative soziale Dienstleistun-
gen – das sind die Ausbildungsstätten der Zukunft, das
sind die Arbeitsmärkte der Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In diesen Bereichen entstehen nicht nur Jobs, sondern
auch Ausbildungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungs-
plätze. Dadurch dass heute junge Leute in ihrem Studium,
in ihrer Ausbildung nicht mehr auf Dinosauriertechnolo-
gien wie die Atomkraft zurückgreifen müssen, sondern
sich mit neuen Technologien beschäftigen können, haben
sie viel mehr Möglichkeiten der Entwicklung und Gestal-
tung. Sie können viel kreativer sein und haben mehr Mög-
lichkeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was wir in diesem Land brauchen, sind Handwerker,
die Experten für Solaranlagen und für die intelligente
Nutzung von Biomasse und Erdwärme sind. Wir brauchen
Spezialisten für ingenieurtechnische Grundlagen, die auch
Software entwickeln können. Wir brauchen Ingenieure,
die das Zweiliterauto und umweltfreundliche Kraftstoffe
entwickeln. Nicht zuletzt brauchen wir engagierte junge
Leute, die optimistisch in die Zukunft sehen und neue
Wege bei den sozialen Dienstleistungen gehen.

Dafür stellt diese Regierung heute und auch in Zukunft
die Weichen. Um es bewusst zu unterstreichen: Wir stel-
len in der Koalition die Signale auf Grün.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410301300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1410301400
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Das Erste, was mir in den dies-
jährigen Debatten zum Berufsbildungsbericht auffiel, war
die Geschlossenheit, mit der die Ergebnisse durch den
Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung
aufgenommen wurden. Da fragt sich doch: Wo ist das kri-
tische Potenzial der vergangenen Jahre geblieben? Oder
steht es mit der Ausbildung wirklich schon zum Besten,
wenn die Bilanz durch das Sofortprogramm verbessert
werden konnte? Lediglich einige Abgeordnete der SPD-
Fraktion unternahmen einen zaghaften Versuch, die Re-
gierung an die Ausbildungsumlage zu erinnern, die erho-
ben werden sollte, wenn die Wirtschaft ihre Lehrstellen-
zusage nicht einhält.

Obwohl in bekannter Weise mit den Unschärfen der
Statistik hantiert wird – diese Hinweise gab es auch schon
zu Zeiten des Herrn Rüttgers –, kommt auch die neue Re-
gierung nicht um das Eingeständnis herum, dass die Zahl
der von den Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsver-
träge in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in den




Ekin Deligöz
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neuen Ländern um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist.
Zudem muss man in diesem Zusammenhang bedenken,
dass in der Berufsbildungsstatistik nicht zwischen be-
trieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhält-
nissen differenziert wird – das ist einer der wenigen Kri-
tikpunkte, die im Hauptausschuss übrig geblieben sind –
und überdies auch die betriebliche Ausbildung vom Steu-
erzahler gesponsert wird. Das dürfte doch ein Alarmsig-
nal sein. Auf jeden Fall – da haben Sie Recht, Frau
Bulmahn – ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen.

Mit Sicherheit ist diese Situation ein weiteres Indiz
dafür, dass die politischen Instrumente, welche die Ar-
beitgeber zwingen, ihre Lehrstellenversprechen einzuhal-
ten, nicht allein Appelle und Bündnisgespräche sein kön-
nen.


(Beifall bei der PDS)

Wer sich heute Wettbewerbsvorteile verschafft, indem er
an der Ausbildung spart, ruft morgen nach Green Cards,
weil der Nachwuchs fehlt. Derweil werden mit immer
neuen Sofortprogrammen oft konzeptionslos Jugendliche
beschäftigt und, wenn überhaupt, wieder in den falschen
Berufen ausgebildet. Mit den viel gepriesenen Vorzügen
des dualen Systems hat das alles schon lange nicht mehr
viel zu tun.

Die Verstaatlichung der Berufsausbildung schreitet
weiter voran. In Brandenburg sind mittlerweile über
80 Prozent der betroffenen Ausbildungsplätze staatlich
subventioniert. Politik verkommt zum Löcherstopfen im
Schlepptau der Wirtschaft, sowohl in der Ausbildung als
auch bei der Behebung des aktuellen und künftig zu er-
wartenden Fachkräftemangels. Politik ohne Perspektive
wird einfach in „Jugend mit Perspektive“ umdefiniert und
das Problem ist gelöst.

Aber so einfach geht es offensichtlich doch nicht. Auch
wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitfor-
schung des JUMP-Programms nur tröpfchenweise
durchsickern, wird schon deutlich, dass weder Arbeits-
noch reguläre Ausbildungsplätze in nennenswertem Um-
fang zusätzlich geschaffen wurden. Von den befragten Ju-
gendlichen, die dieses Programm bereits bis November
1999 verlassen hatten, sind zwischen 13 und 35 Prozent
wieder arbeitslos. Allerdings liegt der Anteil der Über-
gänge in berufliche Ausbildungen bei bis zu 50 Prozent
und in Erwerbstätigkeit bei zwischen 22 und 48 Prozent;
auch das muss selbstverständlich gesagt werden.

Vollends absurd wird das Ganze aber, wenn die Fun-
damentalkritik am Sofortprogramm ausgerechnet von den
Arbeitgeberverbänden formuliert wird: außerbetriebliche
Ausbildung ohne Beschäftigungschancen, Konkurrenz
staatlich finanzierter Wunschausbildungen gegen weniger
attraktive Ausbildungsplätze in Kleinbetrieben sowie
Bindungen von Ausbildungskapazitäten in Betrieben
durch Praktika des Sofortprogramms.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein beson-
deres Problem aufmerksam machen – einige haben das
schon angesprochen –: Eine Studie zur Evaluierung der
Ausbildungsprogramme in Sachsen-Anhalt – ein Thema
übrigens, dem sich inzwischen auch die Arbeitsgruppe

Aus- und Weiterbildung im Bündnis für Arbeit angenom-
men hat – kommt zu gravierenden Schlussfolgerungen
hinsichtlich der Folgewirkungen einer konzeptionslosen,
unabgestimmten staatlichen Förderpolitik. Die Autoren
sprechen von einer „Förderfalle“, in die sich die staatliche
Berufsbildungspolitik hineinbewegt: Zum einen bilden
sich bei einer zunehmenden Zahl von Unternehmen Ver-
haltensmuster heraus, für die die staatliche Förderung be-
ruflicher Erstausbildung nicht mehr nur eine Chance zu
Mitnahmeeffekten, sondern eine Gelegenheit regulärer
Einnahmeerzielung ist. Zum anderen führt die staatliche
Förderung zu einer Berufsstruktur der Auszubildenden,
die in offenem Widerspruch zu den langfristigen Interes-
sen der Jugendlichen und der Wirtschaft des Landes selbst
steht.

Eben dieser letzte Punkt sollte doch allen, die wie-
derum Sonderprogramme zur Überwindung der Lehrstel-
lenlücken konzipieren, schwer zu denken geben. Wenn in
der Berufsstruktur der Auszubildenden jene dominieren,
für die unter allen denkbaren Annahmen nur ein begrenz-
ter bis sehr begrenzter Bedarf zu erwarten ist, bzw. jene
dominieren, bei denen die Ausbildung nur sehr geringe
Nettokosten verursacht – wenn sie nicht sogar deutliche
Nettoerträge erbringt –, so kann hier wohl kaum noch die
Rede von „Jugend mit Perspektive“ sein.

Deutlich unterrepräsentiert sind demgegenüber Berufe
mit einer hohen Verwendungsbreite der erworbenen Fer-
tigkeiten und Kenntnisse sowie die Vorbereitung auf
Tätigkeiten mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Hier
wirken sich vor allem unzureichende Ausbildungskapa-
zitäten großer Teile der Industrie negativ aus.

Angesichts des Förderdschungels, der Auszubildende
erster, zweiter und dritter Klasse produziert, der die Gren-
zen von Ausbildung, Praktika und Erwerbstätigkeit zu-
nehmend verwischt und so der Ausnutzung Auszubilden-
der als billige Arbeitskräfte Vorschub leistet, ist es drin-
gend notwendig, die Ausbildungsqualität endlich zur
Chefsache zu machen.

Das Strukturproblem im Osten ist keinesfalls – das wis-
sen hier alle; das ist ja auch schon deutlich geworden –
durch Programme zu lösen. Dieses Problem ist nur lösbar,
wenn sich alle Verantwortlichen die Frage beantworten:
Durch welche Maßnahmen kann es erreicht werden, dass
die Wirtschaft Bedingungen vorfindet, die sie ermutigt,
im Osten ein produzierendes Gewerbe zu schaffen? Die
duale Ausbildung verkommt ansonsten zur Farce; auch
das wissen wir hier im Saal alle. Damit ich richtig ver-
standen werde: Es geht mir nicht um fehlendes Engage-
ment der in den Ausbildungszentren Tätigen; denn dieses
ist sehr groß. Aber auch sie können dieses Strukturpro-
blem nicht lösen, weil sie daran nicht herankommen.

Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Reihe von
Reformvorschlägen eingehen, die die GEW derzeit im
Zusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz und der
Handwerksordnung diskutiert. Dort geht es um Kernfra-
gen wie die Dominanz der Wirtschaft, die Stellung der Be-
rufsschule, Struktur und Gestaltung der dualen Ausbil-
dung sowie die Einbeziehung anderer Ausbildungsgänge.




Maritta Böttcher

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(B)


Ausgangspunkt der Analysen ist die Feststellung, dass
sich die Berufsbildung in Deutschland de facto zu einem
Mischsystem von Angebotstypen entwickelt hat, die un-
terschiedlichen Regelsystemen zugeordnet sind, quantita-
tive Defizite, fehlende Auswahlmöglichkeiten, ungleiche
Akzeptanz, heterogene Ausbildungsbedingungen, feh-
lende Transparenz, fehlende Anschlussfähigkeit und eu-
ropäische Kompatibilität aufweisen und durch eine un-
gezielte, Nachfrage-, Bedarfs- und Qualitätsaspekte außer
Acht lassende staatliche Berufsbildungs- und Förderpoli-
tik gekennzeichnet sind.

Die Antwort der PDS auf die Frage „Wozu eigentlich
Ausbildung, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt sowieso
nichts bringt?“ kann nicht im Abbau von Bildungsmög-
lichkeiten nach dem Motto „Eigenverantwortung und
Selbststeuerung“ bestehen. Wir fordern einen weiteren
Ausbau, eine Differenzierung und Verlängerung von Bil-
dungsgarantien – und zwar für alle, nicht nur für die, „die
können und wollen“.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410301500
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian
Simmert von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410301600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Beim Berufsbildungsbericht geht es um die Start-
chancen junger Menschen, um Ausbildung und die Mög-
lichkeit für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Dies ist
eine zentrale Voraussetzung für junge Frauen und Männer
für die Teilhabe an unserer Gesellschaft.

Beide Regierungsfraktionen waren und sind sich des-
sen bewusst. Deshalb war und ist das Ziel der rot-grünen
Bundesregierung, das Recht auf Bildung möglichst für
alle Jugendlichen umzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben dazu mehrere wesentliche Schritte getan.
Einer der zentralen ist und bleibt das Sofortprogramm
zum Abbau der Jugenderwerbslosigkeit.Das ist an die-
ser Stelle schon angesprochen worden. Mit dem Einsatz
von zum zweiten Mal 2 Milliarden DM hat Rot-Grün
deutlich gemacht, was uns die Bekämpfung der Jugend-
erwerbslosigkeit wert ist. Entsprechend erfreulich sind
die statistischen Zahlen. Das Plus auf dem Lehrstellen-
markt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
weitere Anstrengungen gerade in der beruflichen Bildung
nötig sind.

Die Bundesregierung ist hier in Vorleistung getreten.
Wir reden von alleine 27 800 Ausbildungsplätzen im
Jahre 1999, die auf JUMP zurückzuführen sind. Wir re-
den aber auch von der Vorreiterrolle des öffentlichen
Dienstes, denn die rot-grüne Bundesregierung hat ihr
Ausbildungsplatzangebot im Bereich der Bundesverwal-
tung 1999 um 12 Prozent erhöht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die Anstrengungen im Bündnis fürArbeitmüssen am
besten im vergleichbaren Rahmen verstärkt werden. Das
sind unsere Leistungen als Bundesregierung. Ich frage die
Opposition: Wo sind Ihre Leistungen? Noch nicht einmal
der Zukunftsminister a. D., Herr Rüttgers, bequemt sich
ins Plenum, wenn es um seinen ehemaligen Zuständigkeits-
bereich geht. Er scheint nach Indien gefahren zu sein oder
irgendwohin, wo er gerade eine Festplatte oder Ähnliches
sucht.


(Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir alle wissen, dass Notprogramme allein kein Fun-
dament für eine erfolgreiche berufliche Zukunft der jun-
gen Menschen sein können. JUMP ist in die zweite Runde
gegangen, weil die Bundesregierung ihre Aufgaben ernst
nimmt. Die jungen Menschen haben ein Recht auf diese
Chance und wir müssen sie ihnen geben. Teil der Abma-
chung ist aber auch, dass die Wirtschaft ihre Verantwortung
übernimmt und im Rahmen des dualen Ausbildungssys-
tems ausreichend betriebliche Ausbildungsstellen zur
Verfügung stellt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Für die jungen Menschen, die vor der Tür stehen, reicht
es nicht, Versprechungen zu machen. Sie wollen greifbare
Ergebnisse. Das heißt in diesem Falle: Sie wollen eine
Lehrstelle, und zwar eine Lehrstelle in einem richtigen
Betrieb, in dem ihre Arbeit Sinn macht und in welchem sie
das Gefühl entwickeln können, ihren Platz in der Gesell-
schaft gefunden zu haben. Gerade in den neuen Bundes-
ländern sind inzwischen rund zwei Drittel der Lehrstellen
mit öffentlichen Mitteln gefördert.

Dies bedeutet aber auch andere Probleme, zum Bei-
spiel bei den Mitbestimmungsmöglichkeiten junger Men-
schen. Junge Menschen in der außerbetrieblichen Ausbil-
dung dürfen zurzeit keine Jugendausbildungsvertretung
gründen, da in den Betrieben kein Betriebsrat existiert.
Das wollen wir ändern und dafür werden sich Bünd-
nis 90/Die Grünen durch die Novellierung des Betriebs-
verfassungsgesetzes einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Maritta Böttcher [PDS])


Die vor einem Monat veröffentlichte Shell-Jugend-
studie hat die Verbindung zwischen der Perspektivlosig-
keit junger Menschen und ihren Möglichkeiten zur Teil-
habe an Entscheidungen deutlich gemacht. Es geht eben
nicht nur um die Bildung einer eigenständigen Existenz-
sicherung. Es geht auch um die Selbst- und Mitbestim-
mung von jungen Menschen in Betrieben.


(Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Um die Ausbildungssituation zu verbessern, müssen
wir aber auch die Beratungsstrukturen für Jugendliche
ausweiten. Gerade junge Frauen wählen aus der gesamten
Berufspalette von circa 360 Ausbildungsberufen immer
noch eher einen klassischen Frauenberuf. So ergreifen
über die Hälfte von ihnen nach wie vor einen der zehn
häufigsten Frauenberufe. Nur gut ein Drittel ihrer männ-




Maritta Böttcher
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(A)



(B)


lichen Kollegen machen eine Ausbildung in einem der
zehn häufigsten Männerberufe. Diese Zahlen zeigen, dass
wir hier nach wie vor Initiative ergreifen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der zurzeit viel debattierte IT-Bereich muss sich die-
sen Herausforderungen ebenfalls stellen. Frau Ministerin
Bulmahn leistet hier eine sehr gute Arbeit, unter anderem
mit der in diesem Bereich wegweisenden Aktion „Frauen
ans Netz“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht
1999 macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Ausbil-
dungsplatzsituation noch lange nicht über den Berg sind
und aufpassen müssen, dass es hier nicht wieder zu einer
negativen Entwicklung kommt. Hier sind vor allen Din-
gen die Betriebe gefragt. Die Bundesregierung hat ihre
Hausaufgaben gemacht. Die Wirtschaft hat – vor allen
Dingen in einigen Bereichen – versprochen, ihre Haus-
aufgaben zu machen. Versprechen allein reichen jedoch
nicht aus. Der Staat darf nicht zum Ausfallbürgen für die
Wirtschaft hinsichtlich ihrer Ausbildungspflicht werden.
Deshalb muss die Wirtschaft ihre Anstrengungen in Sa-
chen Ausbildung verstärken. Wir werden ihr dabei mit
Nachdruck helfen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410301700
Das Wort
hat jetzt der Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU
Fraktion.


(Jörg Tauss [SPD]: Herr Wiese, bleiben Sie versöhnlich!)



Heinz Wiese (CDU):
Rede ID: ID1410301800
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine der größ-
ten gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist es –
auch Frau Ministerin hat in ihrer Rede großen Wert darauf
gelegt, das deutlich zu machen –, jedem Ausbildungswil-
ligen und Ausbildungsfähigen nach der Beendigung der
Schulzeit eine Ausbildung und danach den Einstieg in das
Berufsleben zu ermöglichen.

Vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte,
dem rasanten Strukturwandel in der Berufs- und Arbeits-
welt und nicht zuletzt dem jetzt stattfindenden Verdrän-
gungswettbewerb werden die Lebensperspektiven junger
Menschen zunehmend von Bildung und Ausbildung ge-
prägt. Daran muss sich auch die berufliche Bildung mes-
sen lassen. So der Berufsbildungsbericht.

Lassen Sie mich zunächst mein Augenmerk auf die Ge-
samtentwicklung richten. Die Anzahl der unversorgten
Jugendlichen konnte in diesem Jahr gegenüber dem Jahre
1999 verringert werden. Diese vordergründig positive
Entwicklung ist dann ganz anders zu bewerten – dies
wurde schon von vielen Vorrednern deutlich gemacht –,

wenn sich herausstellt, dass dies fast ausschließlich auf
die Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung,
insbesondere auf das zeitlich begrenzte Sofortprogramm
JUMP zurückzuführen ist. Es gibt sogar Situationen, in
denen sich das JUMP-Programm als kontraproduktiv
erwiesen hat. So haben Ausbildungsbetriebe aufgrund
dieses Programms weniger betriebliche Ausbildungs-
plätze angeboten.


(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt natürlich an uns!)


Auf diese Art und Weise sind tragfähige Strukturen zer-
stört worden. Das kann so nicht bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welches ist die Alternative?)


Bei der Betrachtung der Ausbildungsplatzbilanz hin-
sichtlich regionaler und berufsstruktureller Gewichtun-
gen stellt man eine problematische Entwicklung fest. Die
schwierige Situation in den neuen Bundesländern hat
mein Kollege Dr. Jork bereits umfassend dargestellt.


(Jörg Tauss [SPD]: Ein schweres Erbe!)

Es gibt aber auch im Westen Defizite. So ist in Nordrhein-
Westfalen in fast allen Sparten eine negative Entwicklung
hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Lehrstellenange-
bot und -nachfrage festzustellen. In Bayern und Baden-
Württemberg dagegen werden teilweise freie Lehrstellen-
plätze nicht besetzt. Die Gründe dafür sind hinreichend
bekannt.


(Jörg Tauss [SPD]: Daran habe ich Zweifel!)

Dass wir in einigen Regionen eine positive Bilanz zie-

hen können, haben wir den regionalen Netzwerken und
den Ausbildungskonferenzen zu verdanken. Vor Ort
wurden mit großem Engagement und Einsatz aller Betei-
ligten die vielfältigen Aktivitäten gebündelt, und dadurch
wurde ein besseres Ergebnis erzielt. Dafür möchte ich all
denen, die sich an dieser Stelle engagiert haben, herzlich
danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es ist ein großes Problem,

dass immer noch durchschnittlich jeder fünfte Ausbil-
dungsvertrag vorzeitig aufgelöst wird. Diese Zahl ist na-
hezu gleich bleibend und viel zu hoch. Dies muss uns alle
miteinander wachrütteln. Auch im Wirtschaftsministe-
rium sollte darüber nachgedacht werden.

Seit Jahren ist die Liste der Top Ten unter den Wunsch-
berufen bei Jugendlichen – mein Vorredner hat schon da-
rauf hingewiesen – nahezu unverändert. Daher muss sich
die Berufsberatung viel stärker als bisher am veränder-
ten Bedarf orientieren und die jungen Menschen motivie-
ren, eine bedarfsgerechte Ausbildung anzustreben.

Positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass wir im Be-
reich der neuen und im Übrigen auch schon von Jürgen
Rüttgers eingeführten Bereiche IT- und Kommunikations-
berufe Steigerungsraten in überdurchschnittlichen Pro-
zentsätzen verzeichnen können. Den dort angebotenen




Christian Simmert

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(A)



(B)


Stellen stehen allerdings zurzeit doppelt so hohe Zahlen
von Bewerbern, die in diesen modernen Informations-
technologien ausgebildet werden wollen, gegenüber. Da
besteht einiger Nachholbedarf.


(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen haben wir die Vereinbarung mit der Wirtschaft getroffen!)


Hier müssen wir alle miteinander schnell handeln. Im Be-
sonderen müssen natürlich auch die jungen Unternehmer
in diesem Bereich aktiv werden.

Im Kommunikations- und IT-Bereich gibt es viele so
genannte Senkrechtstarter, die ihr Unternehmen schnell
und in kleinen Bereichen entwickelt haben. In diesen Be-
reichen, in denen die jungen Unternehmer keine Quali-
fikation zum Ausbilden haben, sollten wir verstärkt dafür
werben, dass sie sich an Ausbildungsverbünden beteiligen
und dass damit natürlich über die Integration in gängige
Wirtschafts- und Sozialstrukturen alle Möglichkeiten der
Ausbildung ausgeschöpft werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Wer hat denn die Vereinbarung gemacht, Herr Kollege? Die haben wir doch gemacht!)


– Natürlich. Herr Tauss, das sind aber neue Wege, die wir
verstärkt gehen müssen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Deswegen gehen wir die Wege ja auch! Sie haben sie nicht zustande gebracht!)


Wir haben die Situation, dass sich sehr viele junge Un-
ternehmer in der IT-Branche durchaus mehr an der Aus-
bildung beteiligen sollten,


(Jörg Tauss [SPD]: Einverstanden!)

und darauf möchte ich hinweisen.


(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen reden wir mit denen!)


Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Be-
reich der Zukunftstechnologien ein erschreckendes Süd-
Nord-Gefälle. Darüber muss hier noch einmal ein Wort
gesagt werden. Dieses Gefälle zeigt sich bereits in den
Investitionen an den Schulen. Dort muss nämlich begon-
nen werden.

In Baden-Württemberg haben wir in den letzten Jahren
von 1996 bis 1999 pro Schule durchschnittlich 20 000
DM in die neuen Medien investiert.


(Jörg Tauss [SPD]: Oje!)

Bereits Ende 1998 waren bei uns drei von vier Schulen am
Netz. Im gleichen Zeitraum haben in Ländern wie Nie-
dersachsen und Nordrhein-Westfalen diese Investitionen
gerade einmal 20 Prozent davon betragen.


(Jörg Tauss [SPD]: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, Kollege Wiese!)


– Man kann nachlesen, dass hier im Süden besondere
Investitionen getätigt worden sind.

Deshalb sitzen in denjenigen Ländern, in denen dieser
Bereich vernachlässigt wurde, heute noch mehr als die

Hälfte der Schulen im elektronischen Niemandsland an-
statt am Netz. Das ist ein Trauerspiel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem ange-
sprochenen Verdrängungswettbewerb und aufgrund der
Situation, dass die Jugendlichen individuelle Fähigkeiten
und Begabungen mitbringen, gibt es natürlich Gewinner
der Modernisierung und demzufolge auch Verlierer der
Modernisierung. Gerade diese Modernisierungsverlie-
rer sind unser Problem.

Wir begrüßen es, dass im Bündnis für Arbeit neue
Wege gegangen werden


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und wir nun auch neue Maßnahmen in diesem Bereich er-
kennen.


(Jörg Tauss [SPD]: Das wollten wir hören!)

Durch die Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitung

und Berufsausbildung unter Einbeziehung betrieblicher
Praktika, durch Qualifizierungsbausteine und durch die
Zertifizierung erreichter Teilqualifikationen können auch
diesen schwer vermittelbaren Jugendlichen mit kogniti-
ven und sozialen Defiziten neue Wege eröffnet werden,
und vor allen Dingen können sie besser motiviert werden,
sich vor allem im Bereich des lebensbegleitenden Ler-
nens zu engagieren. Frau Ministerin, ich bin Ihnen dank-
bar, dass Sie auch darauf eingegangen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, das ist eine der Grundkompetenzen, die wir
den jungen Menschen heute vermitteln müssen.

Meine Damen und Herren, das duale System der Be-
rufsausbildung in Deutschland insgesamt ist flexibel, aber
der Berufsbildungsbericht weist natürlich mit Recht auf
einige Defizite hin. Wir müssen uns alle anstrengen, das
duale System in Deutschland konkurrenzfähig zu machen
und weiterzuentwickeln.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410301900
Herr Kol-
lege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.


Heinz Wiese (CDU):
Rede ID: ID1410302000
Ich komme zum
Schluss. – Meine Damen und Herren, Ausbildung und
Qualifizierung sind im europäischen und globalen Kon-
text zu sehen. Fremdsprachenkompetenz, Bereitschaft zur
Mobilität und natürlich auch die Bereitschaft, sich in die-
sem Bereich des lebensbegleitenden Lernens zu engagie-
ren, sind unverzichtbar.

Die Verbesserung der Zukunftschance der jungen Ge-
neration ist unsere gemeinsame Aufgabe. Unsere Jugend
braucht verlässliche Partner. Wir wollen uns daran betei-
ligen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)





Heinz Wiese (Ehingen)

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410302100
Ich gebe
dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion das
Wort.


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410302200
Guten Morgen, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich halte es für wichtig, kurz auf einige Punkte ein-
zugehen, Frau Pieper, die Sie hier in den Raum gestellt
haben. Wenn man über die Ausbildungssituation in Ost-
deutschland redet und gleichzeitig im Haushaltsausschuss
das JUMP-Programm finanzpolitisch ablehnt, dann frage
ich mich, welche Perspektive Sie den jungen Leuten in
den neuen Ländern geben wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Er hat nicht zugehört!)


Wenn es so ist, dass 90 Prozent der Personengesell-
schaften im kleinen und mittelständischen Bereich weni-
ger als 100 000 DM versteuerbares Einkommen haben,
dann ist es richtig, dass wir den Einkommensteuersatz
senken und den Grundfreibetrag erhöhen. Das ist unser
Politikansatz, und der ist richtig.


(Beifall bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Das haben Sie danach gesagt!)


Über das Thema Abzocken würde ich nicht so laut
sprechen, denn viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer haben in den 90er-Jahren vor dem Hintergrund der
Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
mitbekommen, was Abzockerei ist. Deshalb haben sie
sich 1998 anders entschieden. Das ist richtig so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt möchte ich Ihnen etwas zur notwendigen Flexibi-
lisierung in der beruflichen Ausbildung sagen. Auch das
hat unsere Ministerin sehr deutlich angesprochen. Zum 1.
August 2000 werden neue Ausbildungsordnungen be-
schlossen: Chemielaborant, Biologielaborant und Lackla-
borant. Dort haben wir eine Flexibilisierung vorgenom-
men, wie wir sie immer diskutiert haben. Ich will Ihnen
das an den Bausteinen verdeutlichen: Der Beruf Chemie-
laborant wird 28 Bausteine haben, der Beruf Biologiela-
borant 21 Bausteine und der Beruf Lacklaborant 18 Bau-
steine. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Diesen
Weg werden wir weitergehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wenn man sich die Debatten der letzten Tage zu
Gemüte führt, dann muss man sagen, dass die Diskussion
um die Green Card interessante Aspekte mit sich bringt.
Die alte Bundesregierung und insbesondere ihr Zukunfts-
minister


(Jörg Tauss [SPD]: Der Rückwärtsminister!)

haben doch Jahre geschlafen. Ich werde darauf zurück-
kommen und dies begründen.

Die neue Bundesregierung hat mit der IT-Offensive im
letzten Jahr die Zeichen der Zeit erkannt. Ich glaube, dass

die Diskussion um die Green Card ein Anstoß in den Köp-
fen der Menschen ist. Das ist gut so, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD)

Wir nehmen aber auch gern kritisch zur Kenntnis, dass die
Debatte um die Green Card zeigt, dass das Thema IT of-
fensichtlich ein Problem im Bereich von Bildung und For-
schung ist. Auch dazu werden wir uns verhalten.

Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht zu Gemüte
führen, so will ich meine Ausführungen auf einige we-
nige, nach meiner Auffassung wichtige Punkte begrenzen.
Wir halten die strategische Ausrichtung im Bündnis für
Arbeit auf den Ausbildungskonsens für absolut richtig,
nicht nur weil er erfolgreich ist, sondern – Sie können das
an den Zahlen von Nordrhein-Westfalen erkennen – weil
vor allen Dingen Ausbildungsplätze im betrieblichen
Bereich organisiert wurden.


(Beifall bei der SPD)

Es ist immer wieder gefordert worden: Macht mehr Aus-
bildung in den Unternehmen. Das ist richtig so. Nord-
rhein-Westfalen hat die Ausbildungsquote im Bereich der
neu eingetragenen Ausbildungsplätze noch einmal um
5,3 Prozent erhöht.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben weniger vollzeitschulische Ausbildungsplätze
als Baden-Württemberg oder Bayern, weil wir in Nord-
rhein-Westfalen gesagt haben: Wir wollen in die Betriebe
gehen, denn dorthin müssen die jungen Leute, dort lernen
sie am meisten.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410302300
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410302400
Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410302500
Bitte
schön, Frau Lenke.


(Jörg Tauss [SPD]: Die Kollegin kann lernen!)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1410302600
Von Ihnen nicht. – Ich möchte die
Frage stellen, ob Sie immer noch die Ausbildungsplatz-
abgabe in Ihrem Konzept haben. So wie Sie die Hand-
werker und den Mittelstand loben, müssten Sie von dem,
was Sie vorgeschlagen haben, jetzt Abstand nehmen. Wie
ist das mit der Ausbildungsplatzabgabe? Wie stehen die
Bildungspolitiker dazu?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410302700
Herzlichen Dank für Ihre Frage.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Ich will Ihre Frage sehr gern beantworten.
Wir sind derAuffassung, dasswir imBereich der beruf-

lichen Bildung eine strukturelle Erneuerung vorantreiben






(C)



(D)



(A)



(B)


müssen und dass deshalb die Forderung nach der Umla-
gefinanzierung, vor allem von der PDS gestellt, zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt nicht den Kern des Pro-
blems trifft.


(Widerspruch bei der PDS)

Wir glauben, dass wir die Probleme mit strukturellen Re-
formen wesentlich besser lösen können und dass wir da-
durch das duale System auch zukunftssicher machen kön-
nen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Frage beantworten!)


– Moment, bleiben Sie ganz ruhig!
Weil wir in Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme,

schon 1994, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, im Rahmen eines Ausbildungskonsenses gemeinsam
für genügend Ausbildungsplätze gesorgt haben, führen
wir dort zurzeit auch keine Debatte über die Umlage-
finanzierung. Ich muss trotzdem feststellen, dass die Ver-
besserung der Ausbildungsstellensituation außerhalb des
IHK-Bereichs vor allen Dingen durch die Bereitstellung
öffentlicher Mittel, unter anderem durch JUMP, zustande
gekommen ist. Ich fordere auch heute die Wirtschaft auf,
sich stärker für mehr Ausbildungsplätze einzusetzen.
Wenn die Wirtschaft das tut, dann müssen wir über eine
Umlagefinanzierung nicht mehr diskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410302800
Herr Kol-
lege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle-
gin Lenke?


(Jörg Tauss [SPD]: Wenn die so gut ist wie die letzte!)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410302900
Sehr gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410303000
Frau
Lenke, bitte.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1410303100
Herr Kollege, Sie haben auf meine
Frage nur ausweichend geantwortet. Ich konnte Ihrer Ant-
wort nur entnehmen, dass Sie derzeit in Nordrhein-West-
falen keine Ausbildungsplatzabgabe einführen wollen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sollen doch fragen!)


Sehen Sie das länderspezifisch? Meine Frage ist: Treten
Sie persönlich weiter für eine Ausbildungsplatzabgabe
ein oder nicht? Ihre Antwort auf meine letzte Frage hat
dazu wirklich nichts enthalten.


(Beifall bei der F.D.P. – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ja oder nein!)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410303200
Verehrte Kollegin, ich habe –
nachweislich des Protokolls – für die SPD-Bundestags-
fraktion und auch persönlich hier und heute – ausgehend

vom derzeitigen Zustand – den Einsatz der Umlagefinan-
zierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt, so wie
ich es auch in der Vergangenheit getan habe. Ich möchte
Ihnen das begründen, damit Sie es verstehen.

Wir haben im Rahmen der beruflichen Bildungspolitik
in der Region – das freut mich an diesem Ansatz beson-
ders – ein Modell von unten nach oben entwickelt und
festgestellt, dass es besser ist, sich gemeinsam zusam-
menzusetzen, statt Spiegelfechtereien über ideologische
Grundsätze in der beruflichen Bildung zu führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb haben wir die Umlagefinanzierung abgelehnt.
Die Zahlen und die Arbeitsweise in Nordrhein-Westfalen
und in anderen Bundesländern geben uns Recht, den ein-
geschlagenen Weg fortzuführen. Das halte ich für richtig.

Ich antworte konkret auf Ihre Frage: Wir werden der-
zeit die Umlagefinanzierung nicht einführen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410303300
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410303400
Sehr gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410303500
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410303600
Kollege Brase,
Sie haben behauptet, dass gerade die PDS für die Umla-
gefinanzierung sei. Ist Ihnen bekannt, dass die Gewerk-
schaften seit den 70er-Jahren die Einführung einer Umla-
gefinanzierung fordern, dass führende Gewerkschaften
diese Forderung nach wie vor aufrechterhalten und dass
sowohl Ihre Partei in den Beschlüssen vom letzten Partei-
tag als auch die Jusos diese Forderung erheben?


(Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ CSU]: Das ist eben „untausslich“! – Jörg Tauss [SPD]: „Untausslich“? Das ist schön!)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410303700
Verehrte Kollegin, mir ist bekannt,
dass es auch innerhalb der Gewerkschaften unterschiedli-
che Positionen zur Ausbildungsplatzumlagefinanzierung
gibt. Es gibt nicht nur Gewerkschaften, die eine Umlage-
finanzierung fordern; vielmehr haben bestimmte Gewerk-
schaften eine andere Position zur Umlagefinanzierung als
zum Beispiel die IG Metall. Mir ist bekannt, dass die For-
derung nach Einführung einer Umlagefinanzierung auch
innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
erhoben wird. Aber das ändert nichts daran, dass wir der-
zeit einen anderen politischen Weg gehen. Ich halte die-
sen anderen politischen Weg bezüglich der Zurverfü-
gungstellung von Ausbildungsplätzen für richtig. Deshalb
brauchen wir derzeit keine Umlagefinanzierung.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Derzeit!)

– Hören Sie doch genau zu. – Aber eines muss völlig klar
sein: Wenn das derzeitige duale System erhalten werden




Willi Brase
9662


(C)



(D)



(A)



(B)


soll, dann müssen Wirtschaft, Handwerk und die freien
Berufe genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stel-
len. Das wollen und werden wir erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist doch Erpressung!)


Die Wirtschaft, vor allen Dingen die Industrie- und
Handelskammern – ich hatte das eben schon gesagt –, hat
in vielen Regionen und in vielen Bundesländern die im
Rahmen des Bündnisses für Arbeit von ihr gegebenen Zu-
sagen eingehalten. Das Handwerk, die freien Berufe und
andere Berufsgruppen haben das nicht getan. Ich glaube,
dass wir das kritisch würdigen müssen. Dies kann kein
Dauerzustand sein. Darüber haben wir eben diskutiert.

Wir halten es für richtig, dass wir vor allem die struk-
turelle Erneuerung der beruflichen Bildung vorantreiben.
Ich verweise bewusst auf das Stichwort Green Card. Der
entscheidende Effekt der Green-Card-Diskussion besteht
meiner Meinung nach darin, dass wir uns noch einmal der
strukturellen Entwicklung und der Defizite bei der beruf-
lichen Bildung erinnern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410303800
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage,
diesmal des Kollegen Niebel?


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410303900
Sehr gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410304000
Bitte
schön, Herr Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1410304100
Herr Kollege, Sie haben für die
Vergangenheit und für die Gegenwart eine Ausbildungs-
platzabgabe als nicht sinnvoll erachtet. Darin stimme ich
Ihnen voll und ganz zu. Jetzt sehe ich allerdings, dass Sie
nicht nur Landesjugendsekretär beim DGB gewesen sind,
sondern dass Sie auch Mitglied der ÖTV sind. Beide Or-
ganisationen haben doch die Ausbildungsplatzabgabe für
die Zukunft gefordert. Werden Sie jetzt die Gewerkschaft
wechseln müssen?


(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410304200
Herr Niebel, nun machen Sie sich
keine Gedanken über meine gewerkschaftliche Zukunft.
Machen Sie sich vor allen Dingen keine Gedanken darü-
ber, dass ich meine gewerkschaftlichen Positionen
möglicherweise vergessen könnte.

Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Die Gewerkschaften
haben immer mit den Sozialpartnern, mit den Arbeitge-
bern, mit den Vertretern der berufsbildenden Schulen in
den berufsbildenden Ausschüssen zusammengearbeitet.
Dieses Geschäft mache ich schon seit Jahren; von daher
weiß ich, was dort zu tun und zu lassen ist. Sie können also
darauf setzen, dass ein Gewerkschaftswechsel nicht statt-
finden wird. Ich fühle mich da sehr gut aufgehoben. Wis-

sen Sie, was das Schönste ist? Auch die Menschen fühlen
sich durch mich sehr gut vertreten.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Ob das stimmt?)

– Davon können Sie überzeugt sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410304300
Ich bitte,
jetzt fortzufahren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Heute ist Freitag und wir sind mit einer sehr langen Ta-
gesordnung belastet. Es wäre nicht gut, wenn wir heute
Nachmittag mit sehr wenigen Zuhörern hier sitzen wür-
den.


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1410304400
Es ist richtig – das ist gesagt wor-
den –: Wir brauchen mehr denn je zukunftsweisende Be-
rufe. Die Schwerpunkte liegen auf der Hand und sind
auch im Berufsbildungsbericht aufgezeigt worden: Ge-
sundheit, Umwelt, Kultur, Freizeit, Tourismus, Trans-
porte, Verkehr und Logistik. Nicht zu vergessen: Insbe-
sondere gehören der IT- und der Mediensektor dazu.
Nicht zuletzt wird die Biotechnologie zunehmend ein Zu-
kunftsfeld. Auch auf diesem Gebiet müssen und werden
wir Ausbildungsberufe entwickeln. Es ist zudem richtig,
dass die Bundesregierung der Verbesserung der Früh-
erkennung ein ganz neues Gewicht beigemessen hat. Sie
hat dieses wichtige Feld fest im Blick.

Ich möchte betonen: Strukturelle Erneuerung ist auch
angesprochen, wenn wir uns das Berufswahlverhalten
junger Frauen anschauen. Wenn Sie einmal die Untersu-
chung der Bund-Länder-Kommission und ihre Anregun-
gen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass noch ei-
niges zu tun ist.

Die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zu Com-
putern und Internet sind zu verbessern. Die Aktualisie-
rung der Richtlinien zur Koedukation in Schulen und die
Verankerung geschlechtsspezifischer Gesichtspunkte bei
der Berufsorientierung von Frauen, zum Beispiel im Me-
dienbereich, sind an der Tagesordnung. Wir begrüßen es,
dass auch die Bund-Länder-Kommission den Ländern
dies vorgeschlagen hat. Nicht zuletzt möchte ich in die-
sem Zusammenhang darauf verweisen, dass die Bundes-
regierung die Programme „Frauen ans Netz“ und „Frau
und Beruf“ beschlossen hat.

Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber kurzfristigen
Modeentwicklungen ist eines unbestreitbar – wir sollten
das zur Kenntnis nehmen –: Der IT-Sektor und speziell
das Internet werden das Arbeitsleben und unser Leben
insgesamt tief greifend verändern und bestimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe in den letzten Tagen von der Opposition mehr-

fach gehört, wir hätten gegenüber den USA einen Rück-
stand. Ich gebe Ihnen in bestimmten Punkten Recht: Wir
haben einen gewaltigen Rückstand aufzuholen.


(Jörg Tauss [SPD]: Seit zwei Monaten!)

Aber warum? Das so genannte H-1-B-Programm der
US-Regierung im Rahmen des Non-Immigrant-Programs




Willi Brase

9663


(C)



(D)



(A)



(B)


wurde als Reaktion auf den sich abzeichnenden Fachkräf-
temangel im IT-Bereich in den USA eingerichtet. Aber
wann ist denn das geschehen? Das H-1-B-Programm
wurde Anfang der 90er-Jahre eingerichtet. Wenn ich es
richtig sehe: Damals waren Sie an der Regierung.

Warum halten Sie uns jetzt die Leistungen der USA
vor, obwohl Sie damals nichts gemacht haben?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Warum haben Sie damals diese Entwicklung in den USA
nicht erkannt?


(Jörg Tauss [SPD]: Verschlafen!)

Haben Sie in der Regierung vielleicht geschlafen?


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

Offensichtlich haben Sie auch diesen Reformbedarf ge-
rade im IT-Bereich, der schon damals erkennbar war,
nicht erkannt.


(Jörg Tauss [SPD]: Genauso war es!)

Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:

Wo war denn der zuständige Minister in den letzten Jah-
ren? Es war doch Ihr Zukunftsminister, es war doch Herr
Rüttgers, der diese Trends nicht erkannt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will es deutlich und direkt sagen: Ich möchte nicht
näher auf die nach meiner Meinung schäbige und charak-
terlose Hofierung des Rechtspopulismus durch Herrn
Rüttgers eingehen. Er hat ja auch die Kritik der Kirchen
massiv provoziert. Diese Kampagne, die in Nordrhein-
Westfalen gefahren wird, ist mit der katholischen Sozial-
lehre oder mit der evangelischen Sozialethik, die Herr
Stoiber auf Ihrem Essener Parteitag so leidenschaftlich als
Kompass ausgegeben hat, nicht vereinbar. Nein, die Kir-
chen haben sich zu Recht gegen diese Kampagne ge-
wandt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Und dann erleben wir im Wahlkampf, dass dieser so
genannte Zukunftsminister auch mit Ihrer Unterstützung,
Herr Merz, behauptet, zuständig für diese Entwicklung
sei nicht die damalige Bundesregierung gewesen, das sei
vielmehr Job der Landesregierung NRW. Ich stelle nur
fest, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die H-1-B-Rege-
lung in den USA ist in Washington beschlossen worden
und nicht in den einzelnen amerikanischen Bundesstaa-
ten. Insofern war auch die damalige Bundesregierung ver-
antwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man das betrachtet, muss man die Aussage tref-

fen, dass die Technikfeinde von heute auf der rechten
Seite des Hauses sitzen.

Auch der Fall Schweden oder Finnland zeigt den
großen Nachholbedarf Deutschlands in diesem Bereich.
In Schweden haben circa 45 Prozent der privaten Haus-
halte Internetanschlüsse, in Deutschland nur 17 Prozent.

Die Schweden haben auf lange Sicht große Finanzmittel
in Bildung und Forschung gesteckt mit dem Resultat, dass
ihre Wirtschaft seit Jahren boomt und schwedische IT-Un-
ternehmen weltweit mit an der Spitze stehen.

Die alte Bundesregierung hat dagegen den Bildungs-
und Forschungsetat permanent gekürzt. Ich will es noch
einmal deutlich sagen, weil mir mittlerweile nicht mehr
klar ist, wofür die Union in dieser Frage steht. Der
Ministerpräsident Müller aus dem Saarland möchte die
Schaffung von zwei Ausbildungsplätzen pro Einsatz eines
Green-Card-Mitarbeiters gesetzlich vorschreiben. Herr
Rüttgers ist generell gegen die Green Card, wie wir wis-
sen. Herr Stoiber ist für die Green Card und für ein Ein-
wanderungsgesetz. Es wäre schön, in den nächsten Tagen
zu erfahren, wofür die Union in dieser Frage eigentlich
steht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wir werden die Reformen im Bereich der berufli-
chen Bildung anpacken. Das zeigt auch der Antrag, den
wir vorgelegt haben. Wir freuen uns auf fruchtbare Dis-
kussionen im Ausschuss über diesen Antrag. Zeigen Sie
Mut zur Zukunft, unterstützen Sie uns, denn ich glaube,
das ist der richtige Weg, den wir zu gehen haben.

Ich möchte es noch einmal sagen: Die Entwicklung ei-
nes Ausbildungsplatzkonsenses, geboren aus politischen
Ansätzen und aus der Anerkennung der Realitäten in den
Regionen, weitergeführt von der NRW-Landesregierung,
hat vor allen Dingen zu einer großen Zahl betrieblicher
Ausbildungsplätze geführt. Diesen Weg sollten und wer-
den wir weitergehen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410304500
Ab-
schließend hat die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Ilse Aigner (CSU):
Rede ID: ID1410304600
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kol-
legin Pieper hat schon angesprochen, dass es bemerkens-
wert ist, dass wir den Berufsbildungsbericht 1999 im Ja-
nuar 2000 beraten und verabschiedet haben und schon
vier Monate später der nächste Berufsbildungsbericht auf
der Tagesordnung steht. Entweder ist die Regierung so
viel schneller geworden, was mich wundern würde, oder
es könnte eventuell damit zusammenhängen, dass am
Sonntag in Nordrhein-Westfalen Wahlen stattfinden. Die
zweite Variante scheint mir die wahrscheinlichere: Der
Bericht wird genutzt, um noch einmal kräftig Wahlkampf
zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nichtsdestotrotz ist natürlich nach wie vor festzuhal-

ten, dass es zu begrüßen ist, dass Jugendliche eine Chance
bekommen haben. Das ist keine Frage. Es stellt sich aber




Willi Brase
9664


(C)



(D)



(A)



(B)


immer noch die Grundsatzfrage: Handelt es sich um nach-
haltige strukturelle Maßnahmen oder um Strohfeuer, die
irgendwann wieder erlöschen werden? Es handelt sich um
lediglich kurzfristige Maßnahmen. Der beste Beweis
dafür ist ja, dass in den neuen Bundesländern 70 Prozent
der neu geschaffenen betrieblichen Ausbildungsplätze
und bundesweit 40 Prozent der neu geschaffenen Plätze
subventioniert sind. Das allein zeigt, dass es sich nicht um
eine nachhaltige Entwicklung, sondern um ein Strohfeuer
handelt, das irgendwann wieder erlöschen wird. Sie selbst
sehen das in Ihrem Bericht, den ich mir genau durchgele-
sen habe, auch sehr kritisch. Deshalb muss man bei den
grundsätzlichen Fragen immer wieder ansetzen. Gerade
die Wirtschaftspolitik kann man nicht außen vor lassen,


(Jörg Tauss [SPD]: Die ist recht erfolgreich!)

besonders mit Blick auf die neuen Bundesländer, aber
auch im Hinblick auf die Steuerreform.

Sehr geehrter Herr Brase, Sie reden zwar immer über
die Senkung des Spitzensteuersatzes. In diesem Zusam-
menhang muss ich aber einen anderen Punkt in Ihrem
System ansprechen: Sie senken die Grenze, bei der der
Spitzensteuersatz erreicht wird, von 120 000 auf 98 000
DM ab. Damit verschweigen Sie geflissentlich, dass im-
mer mehr Steuerpflichtige wesentlich schneller von einer
höheren Steuerprogression betroffen werden. Das ist je-
doch gerade für den Mittelstand nach wie vor ein wesent-
liches Problem.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die Facharbeiterschaft!)


Ich kann Ihnen das gern vorrechnen, ich weiß aber nicht,
ob Sie das verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Frage, ob zusätzlich betriebliche Ausbildungs-
plätze neu geschaffen wurden, wird insbesondere in Be-
zug auf die neuen Bundesländer sehr kritisch gesehen.
Für diese kann das nicht bejaht werden. Auch das Bun-
desinstitut für Berufsbildung kommt zu dem Schluss, dass
im gleichen Zeitraum in etwa ebenso viele betriebliche
Ausbildungsplätze im Rahmen der regionalen und loka-
len Projekte nach Art. 2 des Sofortprogramms geschaffen
wie abgebaut wurden.

Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Lohnkosten-
zuschüssen. Sie können sich durchaus gerne bei den In-
dustrie- und Handelskammern und Handwerkskammern
danach erkundigen. Viele Betriebe warten erst einmal ab,
ob ihnen Lohnkostenzuschüsse angeboten werden. Erst
dann schaffen sie Ausbildungsplätze, die sie vielleicht so
oder so geschaffen hätten. Sie wären natürlich – das ist
menschlich nachvollziehbar – naiv, wenn sie diese Zu-
schüsse nicht in Anspruch nehmen würden. Aber gerade
das führt nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung; dafür
ist immer eine strukturelle Veränderung nötig.

Des Weiteren ist es schon bemerkenswert, wie sich die
Zahlen teilweise schlagartig zwischen Dezember 1999
und März 2000 verändert haben. Vergleicht man die Zah-
len der Jugendlichen, die an dem Sofortprogramm teil-

nehmen, miteinander, stellt man einen Unterschied von
minus 28 000 zwischen Dezember 1999 und März 2000
fest. Die Zahl ist schlagartig heruntergegangen, man
könnte meinen, weil sich der Berichtszeitraum bis De-
zember 1999 erstreckt. Dasselbe ist bezüglich der ju-
gendlichen Arbeitslosen anzumerken. Hier wurden im
März 2000 453 000 registriert, im Dezember 1999 waren
es dagegen 40 000 weniger. Auch hier ist ein schlagarti-
ger Sprung zu erkennen. Man kann vielleicht davon aus-
gehen, dass der Bericht dementsprechend verfasst wurde,
um alles etwas schöner darzustellen als es in der Realität
ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Das sollte man nicht unterstellen! Das haben wir bei Ihnen auch nicht getan!)


Des Weiteren stellt sich natürlich auch immer die Frage
der Nachvermittlung, also wie viele Ausbildungsplatz-
suchende im Zeitraum zwischen September und Dezem-
ber nachvermittelt werden. Hier ist keine wesentliche Än-
derung zu erkennen. Es ist nach wie vor erfreulich, dass
in diesem Zeitraum circa 50 Prozent nachvermittelt wer-
den konnten. Aber eine wesentliche Änderung zu den Jah-
ren 1998 und 1999 ist hier nicht festzustellen. Schon 1997
wurden ungefähr 50 Prozent nachvermittelt.


(Jörg Tauss [SPD]: In meinem Wahlkreis minus 25 Prozent! Das ist doch gar nicht schlecht!)


– Ja, wunderbar, Herr Tauss. Sie sind ja bekannt für Ihre
freundlichen Zwischenrufe. Ob sie aber qualifiziert sind,
ist eine andere Frage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: 25 Prozent ist ein Fakt!)


Einen weiteren Punkt, der mir am Herzen liegt, möchte
ich noch ansprechen. Wenn wir sehen, dass in vielen Be-
rufszweigen viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werden
können, stellen wir fest, dass das zum Teil regionale
Gründe hat, zum Teil aber auch daran liegt, dass manche
Ausbildungsberufe für Jugendliche erst einmal nicht so
interessant sind. Trotzdem vermisse ich intensive Maß-
nahmen, durch die die Jugendlichen davon überzeugt
werden könnten, dass es sinnvoller ist, eine Berufsausbil-
dung aufzunehmen, die dann auch Weiterbeschäftigungs-
möglichkeiten einräumt, als irgendeinen subventionierten
außerbetrieblichen Ausbildungsweg einzuschlagen, der
keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bietet. Auch hier
vermisse ich konkrete Maßnahmen, durch die die Ju-
gendlichen auf diese Möglichkeiten hingewiesen werden.

Ein nächster Punkt ist die Frage von Mobilitätshilfen.
Herr Kasparick hat ja eben freundlicherweise bestätigt,
dass viele Jugendliche aus den neuen Bundesländern in
den Süden Deutschlands kommen, um hier einen Ausbil-
dungsplatz zu erhalten. Das ist eine vernünftige Entwick-
lung, denn wenn Ausbildungsplätze frei sind, sollten sie
auch besetzt werden. Wir könnten in diesem Zusammen-
hang deshalb darüber diskutieren, ob dies in der einen
oder anderen Weise, zum Beispiel durch Mobilitätshilfen,
noch weiter unterstützt werden könnte.

Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die
Jugendlichen in den Süden gehen und nicht nach




Ilse Aigner

9665


(C)



(D)



(A)



(B)


Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Sie müssen
einräumen: Zumindest gehen sie nicht in einem entspre-
chenden Ausmaß dorthin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das könnte eventuell mit dem Schulwesen zu tun haben,
dessen Qualität sich an der Jugendarbeitslosigkei ablesen
lässt.


(Widerspruch bei der SPD)

Es gibt eben ein deutliches Qualitätsgefälle zwischen den
südlichen und den nördlichen Bundesländern,


(Beifall bei der CDU/CSU)

wenn Sie es noch genauer haben wollen: zwischen den
CDU- bzw. CSU-regierten und den SPD-regierten Län-
dern. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen den
Ländern in diesem Bereich.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie glauben Ihre eigenen Legenden!)


Ich komme jetzt zu dem immer wieder vorgebrachten
Vorwurf, wir hätten hinsichtlich der Modernisierung
nichts getan. Eine grundsätzliche Anmerkung: Ich kann
mich noch sehr gut daran erinnern, dass die Gewerk-
schaften – diese sind bei der SPD bei weitem nicht unter-
repräsentiert; ich glaube, von 298 Fraktionsmitgliedern
sind 250 in Gewerkschaften organisiert; es gibt viele mit
lupenreiner Gewerkschaftsvergangenheit, die von der
Schulbank in die Gewerkschaft gegangen sind und noch
nie in einem Betrieb gearbeitet haben –


(Beifall bei der CDU/CSU)

jahrelang die Flexibilisierung der Ausbildungsberufe ver-
hindert haben, weil sie von einer sturen Ideologie ausge-
gangen sind. Es war nicht möglich, neue Berufe zu schaf-
fen. Diese Haltung kann ich mindestens für die letzten
vier Jahre bestätigen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Da haben Sie wirklich keine Ahnung! – Gegenruf des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU]: So ist es!)


Es ist Gott sei Dank ein Schritt in die richtige Richtung,
wenn hier eine Art Bausteinsystem, Modulsystem – wie
immer Sie dieses System bezeichnen wollen – jetzt lang-
sam Einzug hält. Diejenigen, die schneller lernen, sollen
die Chance bekommen, zusätzliche Qualifikationen zu er-
reichen. Diejenigen, die nicht so schnell sind, sollen nicht
überfrachtet werden. Sie sollen aber eine Chance erhalten,
in den gewünschten Ausbildungsberuf hineinzukommen.
Wir sind noch nicht am Ende dieser Diskussion. Ich freue
mich auf weitere Diskussionen, damit wir in diesem Be-
reich weiterkommen.

Ich komme jetzt zu den Zahlen. Dabei berufe ich mich
auf einen Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung,
der aufschlüsselt, wann welche Ausbildungsordnungen
neu geschaffen bzw. reformiert wurden. In der Zeit zwi-
schen 1996 und 1998 – weil immer der 1. August der
Stichtag ist, können Sie nicht abstreiten, dass dafür die
alte Bundesregierung verantwortlich ist – gab es 28 neu

geschaffene und 99 modernisierte Ausbildungsberufe.
Zum 1. August 1999 haben Sie vier neue Berufe geschaf-
fen. Darunter befinden sich zwei, die lediglich erst 1999
anerkannt wurden, abere bereits existierten. 1999 gab es
26 modernisierte Berufe. Davon sind bei einem bereits
1997 die Grundlagen gelegt worden; 17 waren schon
lange vorher in Vorbereitung.

Die Bilanz, wer wann welche Ausbildungsordnungen
modernisiert hat, ist eindeutig zu ziehen. Dass in den letz-
ten Jahren die Anstrengungen intensiviert wurden, dass
Sie manche Maßnahmen übernehmen und fortsetzen, ist
positiv; das ist keine Frage. Aber die großen Impulse ins-
besondere im IT-Bereich sind gewiss nicht von Ihnen ge-
kommen. Die vier neuen Berufe, die Sie immer anführen
und für die jetzt viele neue Ausbildungsplätze geschaffen
wurden, sind nicht Ihr Verdienst. Sie sind von der alten
Bundesregierung – Gott sei Dank rechtzeitig – eingeführt
worden. Ansonsten hätten wir selbst diese Ausbildungs-
plätze jetzt nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: „Rechtzeitig“ ist ganz doll!)


Zum Schluss möchte ich Sie noch einmal auffordern,
mit uns an einer strukturellen Weiterentwicklung der
Berufsausbildung weiterzuarbeiten, damit die Betriebe
nicht gezwungen werden – es ist egal, ob von Ihrer Seite,
DGB oder PDS –, Ausbildungsplatzabgaben oder Ähnli-
ches zu leisten. Sie sollten sich vielmehr freiwillig bereit
erklären, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Diese Erkenntnis ist bei den Betrieben vorhanden, weil sie
sehr wohl wissen, dass die Zahl der Fachkräfte zurückge-
hen wird. Die Zahl wird demographisch bedingt nur noch
bis zum Jahr 2006 steigen. Dann wird sie zurückgehen.

Die Bereitschaft der Betriebe ist also da. Aber sie kön-
nen diese Arbeit nur leisten, wenn erstens die Wirt-
schaftspolitik stimmt


(Willi Brase [SPD]: Die stimmt! Wir haben Wachstum!)


und wenn zweitens ihnen die Möglichkeit gegeben wird,
vernünftige Ausbildungsberufe, die sich an der Realität
orientieren, anzubieten. Dann werden sie dementspre-
chend handeln. Ich appelliere an Sie, mit uns gemeinsam
in diesem Bereich weiterzuarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Willi Brase [SPD]: Abgerechnet wird zum Schluss!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410304700
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/3244 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 14/3331 soll an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.




Ilse Aigner
9666


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c
auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Schorlemer,
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Schadensersatzforderungen und -prozesse des
Bundes gegen das Bundesland Niedersachsen
im Zusammenhang mit Baustopps für das End-
lager Gorleben in den Jahren 1990 bis 1994
– Drucksachen 14/1375, 14/2639 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 31 zu Petitionen

(Gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie)

– Drucksache 14/564 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 69 zu Petitionen

(Stilllegung von Atomkraftwerken und Ausstieg aus der Kernenergie)

– Drucksache 14/1562 –

Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än-
derungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU-
Fraktion.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1410304800
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Großen An-
frage der CDU/CSU greifen wir ein Thema auf, das auch
in der Antwort der Bundesregierung zu einem Dokument
der politisch motivierten Rechtsverweigerung und des
Rechtsbruchs zulasten des Steuerzahlers durch eine rot-
grüne Landesregierung wird.


(Monika Ganseforth [SPD]: Jetzt tragen Sie aber dick auf!)


– Ich trage nicht dick auf, Sie brauchen nur nachzulesen,
Frau Ganseforth. Die Zahlen stehen ja alle drin.

Ich denke, dass es ein Motiv gibt für diese Versuche der
damaligen niedersächsischen Umweltministerin – auch
unter politischer Rückendeckung des damaligen Minis-
terpräsidenten Gerhard Schröder –, nämlich zu verhin-
dern, dass die Wahrheit über die Eignung des Salzstockes
Gorleben zutage gefördert wird.

Es ist ja nicht so, dass die Juristen in Niedersachsen das
nicht gesehen hätten, sondern in den Ministerien ist vor
einer solchen Politik der Rechtsverweigerung gewarnt
worden. In einem besonderen Fall ist es sogar so weit ge-
kommen, dass ein Jurist, der diese seine Rechtsauffassung

dokumentiert hat, innerhalb weniger Stunden versetzt
wurde mit der Begründung, er sei krank und der Aufgabe
nicht mehr gewachsen. Er hatte nichts anderes getan, als
aufzuschreiben, was rechtens ist und dass ein Rechtsan-
spruch auf eine Teilerrichtungsgenehmigung bestand.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Monika Ganseforth [SPD]: Sie versuchen, Legenden zu verbreiten! Damit werden Sie nicht durchkommen!)


– Das ist keine Legende, sondern das ist die schlichte, ein-
fache Wahrheit, und die tut weh. – Die Ideologie trium-
phierte über das Recht.

Die zentrale Frage übrigens, wie die Schadensersatz-
forderung in Höhe von circa 30 Millionen DM, die der
Bund gegenüber dem Land hat, nun eigentlich eingetrie-
ben werden soll, beantwortet die Bundesregierung nicht.
Da gibt es nur einen Hinweis, man habe irgendwann im
Februar einmal miteinander gesprochen. Aber die
Bundesregierung hat heute Gelegenheit, in der Ausspra-
che über die Große Anfrage darzustellen, wie sie sich die
Bezahlung der 30 Millionen DM vorstellt,


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das wird verrechnet mit dem Gehalt des Kanzlers!)


wobei alle Täter heute sozusagen Opfer sind, weil sie in
die Bundesregierung bzw. in die Mehrheit dieses Parla-
ments gewechselt sind.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das wird bei der Beihilfe für Holzmann abgezogen!)


Das, was in dieser Großen Anfrage dokumentiert ist, ist
ja nicht das Einzige, was man unter dem Gesichtspunkt
der Rechtsverweigerung zulasten des Steuerzahlers doku-
mentieren kann, sondern es gibt einen weiteren Fall, näm-
lich die Verweigerung der zweiten Teilerrichtungsgeneh-
migung für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben,
wo das Landgericht Hannover die Landesregierung zu ei-
nem Vergleich gezwungen hat. Hintergrund war, dass man
andernfalls den jetzigen Bundeskanzler und die damalige
niedersächsische Umweltministerin zu 15 Millionen DM
Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung verurteilt
hätte.


(Monika Griefahn [SPD]: Der Firma sind 25 Verfehlungen nachgewiesen worden!)


Daraus ist, wie Sie wissen, Frau Griefahn, ein Vertrag
des Landes Niedersachsen mit der GMS geworden, in
dem steht: Wir halten uns in Zukunft an Recht und Gesetz.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: In Zukunft?)


Ich finde es schon aberwitzig, dass eine Landesregierung
zur Vermeidung einer Amtspflichtverletzung –


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wer war denn dort eigentlich Ministerpräsident, Herr Kollege Grill?)


– Der jetzige Bundeskanzler, Herr Kollege Repnik.

(Horst Kubatschka [SPD]: Nicht einmal das wissen Sie, Herr Repnik!)





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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(C)



(D)



(A)



(B)


– Wenn der Herr Kollege Repnik das so gerne hört, sage
ich es ihm noch einmal: Für diese Frage sind verantwort-
lich der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard
Schröder und die Umweltministerin Monika Griefahn.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: An Recht und Gesetz, zukünftig!)


Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass man
sagen könnte, Sie hätten nun etwa gelernt aus diesem Fall
oder Sie hätten begriffen, dass man das Recht nicht der
Ideologie unterordnen kann.


(Monika Ganseforth [SPD]: Und das von Herrn Grill!)


Nein, wir haben einen neueren Fall, eine Schadenser-
satzklage in Höhe von 66 Millionen DM des Betreibers
des Endlagers Konrad, weil dem Antragsteller die Ertei-
lung der Genehmigung verweigert worden ist, obwohl das
Land Niedersachsen und das Bundesumweltministerium
in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und öf-
fentlich bekundet haben, dass der Schacht Konrad geneh-
migungsfähig ist.

Ich denke, nachdem Sie schon etliche Male verklagt
und zu Schadensersatz verurteilt worden sind, weil Sie
das Recht gebrochen haben, ist es eine Ignoranz und ein
Vergehen wider die Verfassung, wenn Sie weiterhin da-
rauf setzen, das Recht durch Verweigerung auszuhebeln.


(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn [SPD]: Ja, Sie Hochleistungspolitiker!)


Sie haben einen Amtseid zur Wahrung der Gesetze ge-
leistet. Das Problem ist, dass man im Zusammenhang mit
der Kernenergie bei Ihnen sein Recht nur bekommt, wenn
man klagt.

In der Antwort der Bundesregierung wird alles das,
was ich hier sage, überhaupt nicht bestritten. Denn wes-
wegen sind Sie verurteilt worden? – Weil Sie das Recht
gebeugt haben. Weswegen haben Sie das getan? – Weil
Sie die Wahrheit in Gorleben nicht zur Kenntnis nehmen
mögen. Das Dritte ist, dass Sie aus den Vorgängen zwi-
schen 1994 und 1999 überhaupt nichts gelernt haben. Sie
machen in gleicher Weise weiter.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Der Steuerzahler muss das zahlen! Das ist doch klar!)


Ich finde es erstaunlich, dass Sie diese Millionen zulasten
des Steuerzahlers verpulvern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Es ist vollkommen unnötig, dass Sie dieses Geld ausge-
ben. Beträge in einer Größenordnung von 30Millionen DM
lassen sich auch nicht mehr unter Hinweis auf grundsätz-
liche Bedenken gegen die Eignung des Salzstockes Gor-
leben erklären. Auch andere Ihrer politischen Aussagen
sind da nicht hilfreich. Die Begründung liegt einzig und
allein in Ihrer ideologisch motivierten Politik.

Deswegen reichen mir sechs Minuten aus, um zu die-
sem Thema Stellung zu nehmen. Denn die zentralen Fra-
gen der Politik, die hinter dieser Großen Anfrage stehen
und das Motiv gewesen sind, nämlich wie die Bundes-

regierung mit diesem Schadensersatzanspruch umgeht,
sind dargestellt. Und die entscheidende Frage, wie die
Bundesregierung dieses Geld von Niedersachsen ein-
treibt, wird die Bundesregierung jetzt sicherlich von die-
sem Pult aus beantworten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410304900
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion das Wort.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die bringt das Geld jetzt mit!)



Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1410305000
Das sammeln wir jetzt von
Ihnen ein, nämlich für die der Polizei entstandenen Kos-
ten im Zusammenhang mit den Castor-Transporten.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich bin der Fraktion der CDU/CSU sehr dankbar für
die Anfrage zu den Schadensersatzforderungen des Bun-
des gegenüber dem Land Niedersachsen, die in der Zeit
der Kohl-Regierung mit den Ministern Töpfer und Merkel
gestellt worden ist. Sie bezieht sich auf die vier Atoman-
lagen in Gorleben. Sie geben mir und damit der Landes-
regierung von Niedersachsen in der damaligen Zeit, aber
auch der jetzigen Bundesregierung die Möglichkeit, die
noch immer verbreiteten Unwahrheiten richtig zu stellen.
Das ist gut.

Es gibt nämlich im Gegensatz zu dem, was Herr Grill
gerade gesagt hat, bislang kein Urteil über die Höhe von
Zahlungen. Das heißt, die Zahlen, die immer im Raum
schweben, seien es nun 100 Millionen DM, 60 Milli-
onen DM oder 30 Millionen DM, existieren nicht durch
einen Gerichtsbeschluss, Herr Grill. Ich bitte, das endlich
einmal zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt nur Urteile im
Sinne des Gesetzes, das ein Gesetz zur Förderung der
Atomenergie ist und deshalb bislang für jede Landesre-
gierung eine Schwierigkeit dargestellt hat, überhaupt et-
was zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Des-
wegen sind wir froh, dass wir endlich eine rot-grüne Bun-
desregierung haben und den Ausstieg auf den Weg
bringen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Damit der Unfug Gestalt bekommt!)


Worum geht es? Die Bevölkerung hat schon 1990 für
eine rot-grüne Regierung in Niedersachsen votiert, weil
sie den Ausstieg aus der Atomenergie wollte, und sie will
ihn noch immer. Sie erwartete von der Landesregierung
Maßnahmen. Der damalige Ministerpräsident von Nie-
dersachsen, Gerhard Schröder, hat dann auch nach all den
Bemühungen, die wir auf Landesebene unternommen ha-
ben, in drei Anläufen, nämlich 1994, 1995 und 1997, ver-
sucht, einen Konsensmit der damaligen Bundesregierung
über einen Ausstieg aus der Atomenergie und über eine
gerechte Lastenverteilung von Endlagerkapazitäten zu
finden. Gleichzeitig hat er versucht, den Einstieg in eine
neue Energiepolitik, bestehend aus Energieeinsparung,




Kurt-Dieter Grill
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(D)



(A)



(B)


Energieeffizienz und alternativen Energien wie Sonne,
Wind, Wasser und Biomasse, zu erreichen.

Das ist von der damaligen Umweltministerin Merkel
abgelehnt worden. Dieser Konsens ist nicht zustande ge-
kommen. Wenn also von Atomaltlast gesprochen wird,
dann ist das Frau Merkel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


Niedersachsen hat, um diesen Punkt umzusetzen, bereits
1990 das Stromeinspeisungsgesetz des Bundes – eine sehr
lobenswerte Einrichtung – durch einen sehr ehrgeizigen
Ökofonds ergänzt. Durch diese gute Kombination von
Ökonomie und Ökologie haben wir in Niedersachsen
nicht nur den größten Anteil an Windenergie, sondern
auch die wichtigsten Exportfirmen und Jointventures für
Windenergieanlagen in aller Welt. Das ist eine konstruk-
tive Arbeit. Denn deren Ziel ist: Man will nicht nur aus der
Atomenergie aussteigen, sondern auch eine andere Ener-
giepolitik. Das ist genau das, wofür wir hier streiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Alle Anlagen in Gorleben haben wir von der CDU-Re-
gierung unter Ernst Albrecht geerbt. In Gorleben haben
wir die größte Ansammlung von Endlagereinrichtungen
im Bundesgebiet, mit Verfahren, die 1990 bereits in einem
Status waren, der irreversibel erschien und auch offen-
sichtlich ist. Ein Coup war es natürlich, dass zwischen der
Landtagswahl und der Einsetzung der neuen Landesre-
gierung sehr viele Genehmigungen noch soeben auf den
Weg gebracht worden sind. Auch das ist einmal festzu-
stellen. Das ist eigentlich nicht legitim. Sie werfen uns das
immer vor. Aber genau das hat die Regierung Albrecht ge-
tan, bevor die Schröder-Regierung in Niedersachsen an-
treten konnte und mit diesem Erbe konfrontiert wurde.

In Gorleben haben wir ein Endlager für hoch radioak-
tiven Müll, ein Erkundungsbergwerk. In Bezug auf die
dortige Pilotkonditionierungsanlage, die Herr Grill ge-
rade erwähnt hat, ist festzustellen: Hier ist – Herr Grill,
das wissen Sie sehr gut –, nachdem dem Management
25Verfehlungen im Hinblick auf den Betrieb und das Ma-
nagement nachgewiesen werden konnten und das Mana-
gement ausgewechselt wurde, ein Vergleich geschlossen
worden, weil die Betriebsgenehmigungen bereits in ei-
nem so weiten Status waren, dass man sagte: Selbst nach
diesen Verfehlungen werden wir dagegen wahrscheinlich
nicht angehen können. Dass die Firma aber Verfehlungen
gemacht hat, Herr Grill, das werden Sie sicherlich nicht
außer Acht lassen können. Es ist angesichts einer so hoch
sensiblen Angelegenheit, wie es eine Atomanlage ist,
wichtig, dies einmal festzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weiterhin haben wir in Gorleben ein Zwischenlager für
schwach radioaktiven Müll, ein Zwischenlager für abge-
brannte Brennelemente, das durch die Castor-Transporte
bekannt geworden ist, und – nicht zu vergessen; auch das

hat Herr Grill erwähnt – ein völlig überdimensioniertes
Endlager für schwach Wärme entwickelnden Müll, wie
sich verharmlosend die Abfälle aus nuklearen Einrichtun-
gen wie AKWs, Wiederaufarbeitungsanlagen, Kranken-
häusern etc. nennen, das im Schacht Konrad errichtet
werden soll. Wenn man sich die Dimensionen anschaut,
erkennt man, dass die dort geplante Menge an Abfall die
Menge, die wir für die Bundesrepublik Deutschland pro-
gnostizieren, um ein Vielfaches übersteigt. Wir haben im-
mer wieder betont, dass das bedeutet, dass dies ein euro-
päisches Lager wird. Frau Merkel hat damals immer
gesagt: Nein, dies ist kein europäisches, sondern aus-
schließlich ein nationales Lager. Daraufhin haben wir ge-
sagt: Der Bedarf für eine solche Dimension ist nicht vor-
handen; also ist es nicht genehmigungsfähig.

Das ist die Problematik, die hier besteht. Es wurde ein
viel zu hoher Bedarf geplant. Demnach ist diese Anlage
nicht genehmigungsfähig, wenn man von einem nationa-
len Lager spricht. Also sollte man auch ehrlich sein und
sagen: Frau Merkel, Sie wollten eigentlich ein europä-
isches Lager; einen diesbezüglichen Antrag haben Sie ge-
stellt. Das ist aber bislang nicht aktenkundig. Deswegen
denke ich, wir werden hier einvernehmliche Lösungen
finden müssen.

Nun zum Erkundungsschacht in Gorleben. Die ers-
ten Baustopps, die mit Prozessen überzogen worden sind,
sind folgendermaßen entstanden – ich will das einmal in
Erinnerung rufen –: Im Erkundungsschacht des Bergwer-
kes in Gorleben ist wenige Jahre zuvor ein Mensch um-
gekommen, weil die Stabilität des Schachtes nicht ausrei-
chend war. Da ich als zu diesem Zeitpunkt zuständige Mi-
nisterin das Risiko eines weiteren Unfalles nicht eingehen
wollte, ließ das Ministerium unter Beteiligung des Minis-
terpräsidenten und des Kabinetts Sicherheitsgutachten an-
fertigen, die zweimal zu Verzögerungen beim Weiterbau
führten. Der Schutz von Menschenleben geht immer vor;
das dürfte doch die Meinung aller sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva BullingSchröter [PDS] – Kurt-Dieter Grill [CDU/ CSU]: Das hat damit überhaupt nichts zu tun!)


Was hätten Sie gesagt, wenn wieder etwas passiert wäre,
als es solche Vorfälle wie zum Beispiel Wassertropfen im
Schacht gab?

Auch die beiden weiteren Forderungen des Bundes wa-
ren zu dem Zeitpunkt politisch motiviert. Bei der damali-
gen Bundesregierung stand an – vergessen Sie das nicht;
da gab es bei den Sozialdemokraten ja Urwahlen –: Viel-
leicht wird Gerhard Schröder 1994 Kanzlerkandidat. Man
wollte – das muss man hier doch einmal ganz deutlich ma-
chen – Gerhard Schröder eins auswischen und da hat man
sich gesagt: Na, mit Atompolitik kann man ihm am besten
eins auswischen.

Tatsache ist: Gerhard Schröder und das niedersächsi-
sche Kabinett, dem auch ich angehörte, haben damals
mehrfach versucht, mit der Bundesregierung eine Eini-
gung zu erzielen. Diese Versuche waren seitens des Bun-
des nicht gewollt. Es gab kein Interesse an der Lösung der




Monika Griefahn

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(D)



(A)



(B)


Sache. Das Vorgehen war politisch motiviert. Das – da-
rauf wird der Umweltminister auch hinweisen – ändern
wir jetzt.

Tatsache ist, dass das Land Niedersachsen bis heute
keine Mark Schadensersatz bezahlen musste. Kein Ge-
richt hat bis heute ein Urteil in diesem Sinne gefällt. Viel-
mehr kann man davon ausgehen: Da wir jetzt über die Per-
spektiven insgesamt reden – auch über den Ausstieg –,
wissen wir, wie viele weitere Endlagereinrichtungen wir
brauchen. Das Landgericht Hannover hat ja eine Einigung
in dieser Sache angemahnt.

Tatsache ist, dass die damalige Bundesregierung unter
Kohl mit den Ministern Töpfer und Merkel und einem
Herrn Grill eine Atompolitik betrieben hat, die, wenn das
niedersächsische Kabinett nicht in der Weise gehandelt
hätte, wie ich das eben beschrieben habe, dazu geführt
hätte, dass wir heute gar nicht in der Lage wären, über-
haupt über den Atomausstieg verhandeln zu können. Das
wäre alles schon genehmigt, wir stünden nur da und könn-
ten alles über uns ergehen lassen. Ich bin froh darüber,
dass wir jetzt überhaupt die Möglichkeit haben, diese
Ausstiegsdebatte zu führen.

Deshalb: In allen erwähnten Fällen habe ich im Sinne
der Umwelt und der Sicherheit der Menschen vor Ort ge-
handelt. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe als gewählte
Politiker. Wir müssen in die Zukunft denken, anstatt Ent-
scheidungen zu treffen, die nicht rückholbar oder, wie es
Christine von Weizsäcker immer sagt, nicht „fehler-
freundlich“ sind. Das aber wäre gerade der Fall gewesen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern bin ich froh, dass wir heute in der Situation sind,
diese Einsparungen vornehmen zu können.

Noch ein letztes Wort, Herr Grill: Wo ist denn der
Schadensersatz für die Polizeikosten in Höhe von
100 Millionen DM im Zusammenhang mit den Castor-
Transporten, die Frau Merkel verursacht hat, weil die Cas-
toren hinterher gestoppt werden mussten, da sie, so wie
ich das immer vermutet habe, leck waren? Davon hat das
Land Niedersachsen bislang noch nichts gesehen. Dieses
Geld kann man – auch das sollten Sie zur Kenntnis neh-
men – sicherlich einmal gegenrechnen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410305100
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1410305200
Ja, ich bin gleich fertig.
Wir sind jetzt dabei, ein anständiges Konzept zu erar-

beiten. Wir wollen die dezentrale Zwischenlagerung, um
dann ein Endlager zu finden, das eine Kapazität hat, die
wir wirklich brauchen, anstatt Überkapazität zu produzie-
ren. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst und brin-
gen den Ausstieg voran, aber eben auch den Einstieg in
die alternativen Energien. Dafür machen wir – das ist das
Entscheidende – sehr viel.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410305300
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Günter
Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1410305400
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! An erster Stelle geht es heute um ei-
nen volkswirtschaftlichen Schaden von 30MillionenDM,
den die ehemalige niedersächsische Umweltministerin
Griefahn bewusst herbeigeführt hat durch Baustopps, die
einen eindeutigen politischen Hintergrund hatten: Aus-
stieg aus der Kernenergie um jeden Preis.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Monika Griefahn [SPD]: Sicherheit gilt nicht, oder wie?)


Dann geht es darum, dass der heutige Bundesumwelt-
minister Jürgen Trittin die berechtigten Schadensersatz-
ansprüche des Bundes nicht in der Weise geltend macht,
wie er das dem Steuerzahler schuldig ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Unglaublich!)


Auch hier gilt: Ausstieg aus der Kernenergie um jeden
Preis.

Frau Griefahn, auch wenn Sie hier sagen, dass kein
Schaden entstanden sei, so hat das Gericht doch eindeutig
signalisiert: Vergleicht euch in einer Weise, die den Inter-
essen des Bundes entgegenkommen! Diese Gespräche
werden von Herrn Trittin bewusst nicht geführt. Zu dem,
was Sie zu Ihren „berechtigten Maßnahmen und Anord-
nungen“ vorgetragen haben, weil jemand zu Schaden ge-
kommen sei, muss ich sagen:


(Horst Kubatschka [SPD]: Gilt das Menschenleben nichts?)


Leider kommen Menschen auch auf anderen Baustellen
zu Schaden. Das hat gar nichts mit dem Genehmigungs-
verfahren zu tun. Das alles wurde nur herangezogen, um
das politische Ziel erreichen zu können,


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Richtig!)

das da heißt: Raus aus der Kernenergie!


(Monika Griefahn [SPD]: Richtig!)

Und das Instrument der Endlagerung wird benutzt, um
weiter vorne im Prozess, nämlich beim Betrieb der
Atomkraftwerke, zum Erfolg zu kommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber das ist ja nur ein Ausschnitt aus einem skandalö-

sen Szenario, das deutlich macht, wohin rot-grüne Politik
führen kann, und zwar nicht nur bei der Kernenergie. Ich
habe in den letzten Tagen und Wochen in Nordrhein-
Westfalen mit vielen Menschen, vielen Bürgern und Mit-
telständlern, gesprochen. Was die einem sagen, kann nicht
aus der Luft gegriffen sein. Da werden zuhauf Klagen und
Beschwerden über Frau Höhn geäußert, weil sie verzö-




Monika Griefahn
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(D)



(A)



(B)


gert, verschiebt und verhindert. Hintergrund ist nichts an-
deres, als grüne Ideologie durchzusetzen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben doch keine Atomkraftwerke mehr! Was reden Sie denn da?)


Behindert wird die Erteilung von Baugenehmigungen
und die Durchführung von Verkehrsprojekten. Behindert
werden gewerbliche Wünsche und andere Anliegen der
gewerblichen Wirtschaft und der Bürger. Und das geht zu-
lasten der Arbeitsplätze. Wir müssen die Dinge beim Na-
men nennen: Diejenigen, die in Nordrhein-Westfalen
Arbeitsplätze erhalten und schaffen, sind in diesen Tagen
tief empört und über alle Maßen verunsichert.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Arne Fuhrmann [SPD]: Gorleben liegt aber nicht in NRW, Herr Rexrodt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wahlkampf! Wahlkampf!)


Was in Nordrhein-Westfalen Frau Höhn ist, ist auf
Bundesebene Umweltminister Trittin. Durch den Aus-
stieg aus der Atomenergie soll ein Stück grüner Identität
gerettet werden. Dies muss auch sein. Denn da Herr
Fischer mit bedeutungsvollem Gesicht im grauen Anzug
nur noch politische Leerformeln dahersagt, Frau Fischer
sehr bemüht immer das Falsche tut, Frau Müller mit vie-
len Worten im Grunde nichts sagt und Herr Schlauch al-
lenfalls noch daherklügelt, muss es ja einen geben, der die
grünen Prinzipien hochhält, und das ist der Umweltminis-
ter Trittin.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie mal auf damit! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ist das Herr Möllemann, der da spricht, oder wie?)


Man könnte ihm sogar folgen im Sinne eines demo-
kratischen Respekts vor anderen Positionen, wenn diese
Positionen schlüssig vorgetragen würden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber das geht nicht, weil Herr Trittin zu einem Bürger-,
zu einem Kinderschreck geworden ist.


(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gucken Sie sich das Wahlergebnis an!)


Wenn die Kinder nicht ruhig sein wollen, dann sagen die
Leute: Seid ruhig, sonst kommt gleich Herr Trittin!


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Haben Sie heute schon in den Spiegel geguckt?)


Das ist ja auch kein Wunder.

(Beifall bei der F.D.P.)


Da wird eine Ökosteuer aufgelegt, die nichts mit Öko,
sondern nur mit Abkassieren zu tun hat. Da wird an einem

Umweltgesetzbuch gearbeitet, das längst fertig sein
müsste.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie im Augenblick zur Sache?)


Sie kommen aber nicht voran, weil dieser Mann einfach
EU-Richtlinien negiert. Und in Brüssel wird dann auf Ge-
heiß des Bundeskanzlers die Altautoverordnung verhin-
dert.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arne Fuhrmann [SPD]: Sind wir jetzt in Brüssel? Donnerwetter! – Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Transrapid!)


Neuerdings faselt er auch wieder vom Tempolimit und
von einer Flugverkehrsabgabe. Das alles macht der Kin-
derschreck Trittin.


(Arne Fuhrmann [SPD]: In Gorleben muss man langsam fahren, damit man nicht gegen die Castoren donnert!)


Bei seinem Lieblingskind, dem Atomausstieg, provo-
ziert er wegen der Wiederaufbereitung zunächst einen
Konflikt mit Großbritannien und Frankreich; das wissen
wir ja.


(Arne Fuhrmann [SPD]: Von Brüssel gehen Sie jetzt nach England – liegt Gorleben in England?)


Bei der Gorleben-Angelegenheit geht überhaupt nichts
voran. Und in der Ukraine verzögert sich die Abschaltung
des Kraftwerks in Tschernobyl, weil unsinnigerweise ein
Kreditstopp veranlasst worden ist. Gleichzeitig aber wer-
den Hermesbürgschaften für Kerntechnik in China über-
nommen.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist Umweltpolitik à la Trittin. Er ist ein Kinder-
schreck, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Arne Fuhrmann [SPD]: Die geographische Exkursion, die Sie mit uns machen, finde ich spannend!)


Lassen Sie mich noch eines sagen: Nichts ist verloge-
ner, als die Gespräche mit der Wirtschaft, in denen die
Stromindustrie zum Ausstieg aus der Atomenergie ge-
bracht werden soll, als Konsensrunde zu bezeichnen. Die
Wirtschaft will diesen Ausstieg nicht. Die gegenwärtigen
Gespräche finden vor dem Hintergrund eines bewusst her-
beigeführten Drucks im Zusammenhang mit den Castor-
Behältern statt.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben schon lange den Ausstieg beschlossen!)


Gleichzeitig wird die Karte gezogen und man will den
Ausstieg per Gesetz verordnen. Der gegenwärtige Streit
um die Restlaufzeiten ist im Grunde nichts anderes als
eine Verteidigungsposition der Unternehmen, um wenigs-
tens den größten volkswirtschaftlichen Unsinn einer




Dr. Günter Rexrodt

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ressourcenverschwendung in Milliardenhöhe und die
dreisteste Form der Staatsintervention zu verhindern.

Niemand sieht derzeit die Notwendigkeit, in Deutsch-
land Atomanlagen zu errichten. Wir sagen aber: Die Ent-
scheidung, ob Kernkraft Bestandteil eines sinnvollen Ener-
giemix sein kann, kann nicht allein die rot-grüne Regie-
rung für alle Ewigkeit treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU – Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Monika Griefahn [SPD]: 60 Prozent wollen den Ausstieg!)


Wir müssen – dies ist unsere Option; nicht mehr und
nicht weniger, Frau Griefahn – die Option offen halten,
dass die Kernenergie auch später Bestandteil eines
Energiemix sein kann. Das heißt auch, dass wir diese Op-
tion im administrativen und im technischen Sinne offen
halten müssen.

Ich füge hinzu – bitte hören Sie auch jetzt zu; denn
es ist ernst gemeint –: Jeder will so weit wie möglich
Einsparpotenziale nutzen. Wir wollen so viel wie möglich
in regenerative Energien investieren.


(Horst Kubatschka [SPD]: Bloß, den Gesetzen stimmen Sie nicht zu!)


Aber wir können noch so viel sparen und noch so viel für
regenerative Energien tun:


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Atomenergie geht es nicht!)


Den Energiebedarf einer explodierenden Menschheit in
15 oder 30 Jahren damit decken zu wollen, das ist absolu-
ter Unsinn. Das wissen auch Sie.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410305500
Herr Kol-
lege Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1410305600
Ich komme zum
Schluss.

Noch mehr Holz, Kohle, Öl oder Gas einzusetzen geht
nicht.

Rot-Grün will mit ideologischen Argumenten an diese
Probleme heran. Ideologien haben die Menschen nur zu
oft ins Verderben geführt. Deshalb muss die rot-grüne Po-
litik ein Ende haben, die den Bürger in zweifelhafter
Weise beglücken will. Es ist das Glück von Frau Höhn
und Herrn Trittin. Hören Sie auf zu verhindern und zu
blockieren! Wir brauchen wettbewerbsfähige Betriebe.
Nicht grüne Heilslehren sind angesagt, sondern eine mo-
derne Infrastruktur und sichere Arbeitsplätze.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Hören Sie doch auf, Herr Rexrodt! Das ist besser! Lassen Sie es doch! Laufen Sie weg!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410305700
Für die
Bundesregierung hat jetzt Bundesminister Jürgen Trittin
das Wort.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kinderschreck kommt jetzt! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nehmt die Kinder von dem Fernseher! – Horst Kubatschka [SPD]: Erschrecken Sie nicht Herrn Rexrodt, der hat sich gerade kindisch benommen!)


Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich war neulich im „Tigerenten-Club“.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Es waren viele
Kinder da. Wenn ich in Ihrem Bild bleiben soll, dann muss
ich sagen: Diese Kinder müssen ungeheuer mutig gewe-
sen sein; sie haben sich nämlich gefreut, dass ich da war.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Als Tigerente verkleidet! Das geht noch!)


Offensichtlich sind Kinder mutiger als F.D.P.-Abgeord-
nete.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie, lieber Herr Rexrodt, haben ja gesagt, dass Sie erst
zum Schluss ernst zu nehmen gewesen seien. Erst nach
den ersten sieben Minuten Ihrer regulären Redezeit haben
Sie gesagt: Jetzt kommt etwas, was ernst zu nehmen ist.

Von dem, was Sie in den ersten sieben Minuten gesagt
haben, will ich nur einen Punkt aufgreifen. Sie sind ja ein-
mal, in grauer Vorzeit, Bundeswirtschaftsminister gewe-
sen.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverständlicherweise! – Horst Kubatschka [SPD]: Das Erbe haben wir noch!)


Sie haben der Bundesregierung angehört. Wenn jemand,
der dieser Bundesregierung angehört hat – ich kenne die
Unterlagen über die Ressortabstimmungen; sie sind ja alle
bei uns in den Akten –,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ressortabstimmungen gibt es heute nicht mehr! Das merkt man auch!)


sich hier hinstellt und sagt, diese Bundesregierung trete
europäisches Recht permanent dadurch mit Füßen, dass
die Richtlinien nicht umgesetzt würden, dann kann ich nur
sagen: Ich verbringe leider einen Großteil meiner Ar-
beitszeit damit,


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Oh!)


die von Ihnen nicht umgesetzten Richtlinien, beispiels-
weise für eine integrierte Anlagenzulassung, für eine Um-
weltverträglichkeitsprüfung – also für all das, was zwin-
gendes europäisches Recht ist –, umzusetzen, während
Sie in den Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts an-
deres getan haben, als im Hinblick auf das europäische




Dr. Günter Rexrodt
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(C)



(D)



(A)



(B)


Recht die alte Lebensweisheit zu befolgen: legal, illegal –
entschuldigen Sie –, scheißegal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ikearegal fehlt! – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist ja empörend! Das ist unparlamentarisch! Also doch ein Kinderschreck!)


Meine Damen und Herren, ich verstehe, ehrlich gesagt,
den Anlass dieser Anfrage nicht. Es ist falsch, dass es ei-
nen Schaden in der von Ihnen genannten Höhe gibt. Zwei
Urteile haben festgestellt, dem Grunde nach seien An-
sprüche gegeben. Daneben gibt es die ausdrückliche
Empfehlung der Gerichte, sich zu vergleichen. Wir sind
da auf einem guten Weg. Es muss schon ein Mensch mit
schwerer querulatorischer Veranlagung sein,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So wie Sie!)

wenn er von der Bundesregierung in dieser Situation er-
wartet, der Bundesumweltminister solle das Geld etwa im
Wege der Taschenpfändung bei Frau Griefahn beitreiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat auch keiner verlangt! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das wäre keine schlechte Idee!)


Das ist keine ernsthafte Art, mit diesem Problem umzu-
gehen.

Ich glaube in der Tat, dass die Unterbrechung der Er-
kundung in Gorleben, die wir jetzt vorbereiten – Sie müs-
sen diese Frage sachlich sehen –, nicht zu früh kommt,
sondern angesichts der massiven internationalen Zweifel
an einem Konzept der Trennung der Abfälle, an der Di-
mensionierung, an der Nichtrückholbarkeit und an der
Einlagerung in Salz eher zu spät kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist ein Punkt, über den wir gern streiten können.
Ich habe aber inzwischen den Eindruck, dass sich

CDU/CSU und F.D.P. davon verabschiedet haben, zu die-
sem Thema sachlich Stellung zu nehmen.


(Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was gibt es da zu lachen? – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das glauben aber nur Sie!)


Denn es scheint mir so zu sein, als fürchteten Sie, dass es
in diesem Land wieder zu einem Konsens in der
Energiepolitik kommen könnte. Ich sage Ihnen: Voraus-
setzung für einen Konsens in der Energiepolitik der Bun-
desrepublik Deutschland ist die Lösung der Entsorgungs-
fragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Atomstrom aus der Ukraine!)


Diese Lösung muss so sein, dass sie von weiten Teilen der
Bevölkerung akzeptiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Erpressung ist nicht Konsens!)


Über eine Energieform, die bei der Lösung ihrer Ent-
sorgungsfragen darauf angewiesen ist, dass Zehntausende

von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten regelmäßig
Überstunden ableisten, mag man unter Klima- und allen
anderen möglichen Aspekten streiten – dazu haben Sie
und wir unterschiedliche Positionen –, aber eine solche
Energieform ist auf Dauer nicht demokratieverträglich.
Es gibt viele in Ihren Reihen, die das sehr genau wissen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Er organisiert eine Demonstration und beklagt dann den Polizeieinsatz!)


Aus diesem Grund sagen wir: Voraussetzung eines ge-
sellschaftlichen Konsenses in der Energiepolitik ist, wie-
der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung in der Frage der
Entsorgung zu erlangen. Akzeptanz erhält man nicht,
wenn man Rechtsstreite – wie hier gefordert – rechtsque-
rulatorisch zu Ende führt und sich in jeder Debatte über
den Atomausstieg, werter Kollege Grill, aufführt, als
wolle man sich um die Rolle des Zwerg Alberich bewer-
ben, der auf dem Atommüllschatz im Salzstock Gorleben
sitzen möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Der sitzt bei Trittin vorn!)


Im Ernst:

(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Sie sind nicht ernst zu nehmen!)

Ich glaube, dass wir in der Tat noch eine Reihe von Pro-
blemen zu lösen haben, zum Beispiel bei der Rücknahme
des von Ihrer Regierung gemeinschaftlich ins Ausland
verschobenen Atommülls. Dieser Verantwortung wird
sich diese Bundesregierung, die immer vor dem Verschie-
ben des Atommülls ins Ausland gewarnt hat, stellen müs-
sen. Voraussetzung ist schlicht und ergreifend, dass die
von Ihnen aus politischen und nicht aus sachlichen Grün-
den getroffene präjudizierende Entscheidung in Gorleben
rückgängig gemacht wird. Deswegen wollen wir dort un-
terbrechen.

Ein Letztes: Ich kann eine Haltung überhaupt nicht ak-
zeptieren, die besagt: Wir wollen, dass die Atomkraft-
werke möglichst lange laufen, möglichst bei uns in Süd-
deutschland; aber mit dem Atommüll möchten wir nichts
zu tun haben. Den wollen wir auf jeden Fall zum Beispiel
nach Ahaus in Nordrhein-Westfalen schicken. – Diese Po-
litik – diktiert vom heiligen Sankt Florian – ist eine Poli-
tik, die von Ihnen gefordert, aber auf dem Rücken der in
Deutschland tätigen Polizeibeamtinnen und -beamten
ausgetragen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dazu sage ich Ihnen eines: Das ist eine Form von Miss-
brauch der Menschen in Ahaus in Nordrhein-Westfalen
zugunsten sehr bornierter Lokalinteressen in Süddeutsch-
land. Es ist absolut zynisch, die Polizeibeamtinnen und
-beamten so zu missbrauchen. Dies wird es mit uns nicht
geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sie puschen die Leute doch auf! Sie sind ein Puscher! Brandstifter!)





Bundesminister Jürgen Trittin

9673


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410305800
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-
Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410305900
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Großen Anfrage
der CDU/CSU möchte ich bemerken, dass wir das Enga-
gement der ehemaligen niedersächsischen Umweltminis-
terin Monika Griefahn würdigen, weil ihre Eingriffe Ge-
legenheit schufen, den Bau des Endlagers Gorleben zu
stoppen. Die Bundesregierung scheint das ähnlich zu se-
hen und verspricht, Schritte in Richtung einer außerge-
richtlichen Einigung über die Forderungen des Bundes an
das Land Niedersachsen zu tun. Ich denke, das ist der rich-
tige Weg.

Das ist aber auch schon alles, was der Bundesregierung
zugute gehalten werden kann. Die Botschaften, die diese
Bundesregierung und die Atomindustrie im Rahmen ihrer
Konsensgespräche an die Öffentlichkeit senden, sind
schlichtweg alarmierend. Die Arbeiten am Endlager Gor-
leben sind immer noch nicht gestoppt und für Schacht
Konrad schließt die Bundesregierung eine Genehmigung
als Endlager nicht mehr aus.

Nach der gewonnenen Bundestagswahl wurde Gorle-
ben plötzlich auch von SPD und Grünen zum prüffähigen
Endlagerstandort erklärt. Zwar verspricht die Bundesre-
gierung, an anderen Standorten ein ergebnisoffenes Prü-
fungsverfahren parallel durchzuführen; aber außer der
Einrichtung einer Arbeitsgruppe ist bisher leider nichts
passiert.

Alle bisherigen Regierungen haben die Risiken der
Atommüllentsorgung immer heruntergespielt und einen
ernsthaften politischen und naturwissenschaftlichen Dis-
kurs über die Möglichkeiten einer sicheren Entsorgung
des radioaktiven Abfalls verhindert. Doch nicht erst seit
dem Gutachten des Rates der Sachverständigen für Um-
weltfragen ist klar, dass kein absolut dichtes Endlager ge-
schaffen werden kann.

Um die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Lage-
rung des schon angefallenen Atommülls muss nach wie
vor politisch gerungen werden. Bisher hat uns der Regie-
rungswechsel aber weder der Entsorgung noch der
schnellstmöglichen Abschaltung der Atomanlagen einen
Schritt näher gebracht. So soll – den letzten Meldungen
nach zu urteilen – die Frist zur Abschaltung der Atom-
kraftwerke durch eine variabel handelbare Atomstrom-
menge bestimmt werden, die mit oder ohne Zustimmung
der Betreiber jedem Atomkraftwerk ein goldenes Ende
analog von etwa 30 Jahren Laufzeit garantieren soll.

Viele Ihrer Wähler, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen und der SPD, hatten realistischerweise
erwartet, dass die Bundesregierung einige Zeit benötigt,
um sich gut auf eine rechtlich abgesicherte Abwicklung
des Ausstiegs aus der Atomindustrie vorzubereiten. Heute
sind viele Menschen jedoch mehr als enttäuscht – das wis-
sen Sie auch –, da die Bundesregierung aus dem gebote-
nen Schutz von Leben und Gesundheit bisher kein schnel-
les Ende der Nutzung der Atomkraft, sondern ein Atom-
kraftverstromungsgesetz abgeleitet hat. Dieses Ergebnis

Ihrer Regierungstätigkeit war zu erwarten, da Sie bisher
nur mit den Eignern verhandelt haben. Mit dem bekann-
ten Auszug der Umweltverbände ist der Energiedialog
2000 erklärtermaßen gescheitert, da Sie sich in den Augen
der Verbände den Einwänden gegen Ihre Atompolitik
nicht zugänglich gezeigt haben.

Aus diesen Gründen ist ein schnelles Abschalten der
Atomkraftwerke eine Frage der Vernunft. Der längst über-
fällige wissenschaftliche Diskurs über die Möglichkeiten
einer maximal sicheren Verbringung des Atommülls muss
unverzüglich beginnen. Dabei sind sowohl die verschie-
denen Formen der möglichen Endlagerung als auch die
dafür infrage kommenden geologischen Formationen er-
gebnisoffen zu prüfen.

Für die früheren Endlager Asse und Morsleben, die
zu keinem Zeitpunkt durch ein ordnungsgemäßes atom-
rechtliches Verfahren nach bundesdeutschem Recht ge-
nehmigt worden sind, müssen Stilllegungsverfahren ein-
geleitet werden. Alle Risiken dieser Atomlager sollen
prinzipiell unter Beteiligung der betroffenen Öffentlich-
keit untersucht, offengelegt und minimiert werden. In
Gorleben darf die Pilotkonditionierungsanlage nicht in
Betrieb gehen. Weit über die betroffene Region hinaus
lehnen zahlreiche Menschen diese entschieden ab, weil
der Betrieb der Anlage mit erheblichen Risiken verbun-
den ist und darüber hinaus als Baustein und Signal für die
Durchsetzung eines Endlagers in Gorleben gesehen wird.

Wenn die Bundesregierung an ihrem Beschluss fest-
halten will, ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle zu
finden, dann kann dieser Standort nicht Gorleben, aber
auch nicht Schacht Konrad heißen. Schacht Konrad ist un-
strittigerweise nicht zur Aufnahme hoch radioaktiver,
wärmeentwickelnder Abfälle geeignet. Wenn dies so ist,
dann muss die Bundesregierung den Genehmigungsantrag
für Schacht Konrad zurückziehen. Mehr als 290 000 Men-
schen haben Einwendungen gegen Schacht Konrad erho-
ben, darunter viele tausend Einwohner der Städte Braun-
schweig und Salzgitter. Auch Betriebsräte von VW
gehören zu den Einwendern.

Natürlich werden wir die Anträge der CDU/CSU hin-
sichtlich der Petition ablehnen. Zum Schluss noch: Herr
Minister Trittin hat ausgeführt, dass eine Energieform, die
Polizeieinsätze nach sich zieht, nicht demokratieverträg-
lich sei. Wir werden ihn sicher daran erinnern, wenn nach
der Wahl in Nordrhein-Westfalen der erste Castor-Trans-
port rollen wird.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410306000
Als
nächster Redner hat der Kollege Arne Fuhrmann von der
SPD-Fraktion das Wort.


Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1410306100
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Dass wir uns heute mit der Großen Anfrage der
CDU/CSU-Fraktion befassen, ist so etwas wie ein Uni-
kum, weil diese Anfrage nur nach außen hin eine Serio-






(C)



(D)



(A)



(B)


sität vorgibt. In Wirklichkeit hat sie zum Ziel, auf sehr un-
seriöse Art und Weise die hier anwesende Kollegin
Griefahn, den Umweltminister Trittin und den Kanzler zu
desavouieren. Dabei ist in der Zwischenzeit wohl jedem
klar geworden, dass dies ziemlich schwierig ist und dass
man sich nicht lediglich mit einigen überflüssigen Fragen
beschäftigen darf.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist die Aufgabe des Parlaments!)


– Wissen Sie, Herr Rexrodt, bevor man den Mund auf-
macht, sollte man das Gehirn einschalten. Dann ist das,
was ankommt, ein bisschen intensiver und die Redner
können sich damit auseinandersetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie wir mittlerweile gehört haben, gibt es bisher kein
rechtsverbindliches Urteil. Es gibt in der ganzen Angele-
genheit im Augenblick lediglich ein Stillhalteabkommen,
damit es möglich ist, einen vernünftigen und für alle deut-
lich werdenden Konsens zwischen dem Land Nieder-
sachsen und dem Bund zu erzielen. Dies aber ist nicht
Kern Ihrer Anfrage. Sie wollen im Prinzip lediglich darauf
hinweisen, dass die derzeit laufenden Konsensgespräche
nach Ihrer Meinung so überflüssig seien wie ein Kropf. Es
gelingt Ihnen hin und wieder, dies in Ihrer polemischen
Art und Weise deutlich zu machen. Aber es gelingt Ihnen
Gott sei Dank nicht, der Öffentlichkeit an irgendeiner
Stelle ein X für ein U vorzumachen.

Der Ausstieg aus der Kernenergie und damit auch die
Fragen einer zukünftigen Endlagerung haben unmittelbar
etwas mit dem zu tun, was sich derzeit auf politischer und
wirtschaftlicher und damit auf der Verhandlungsebene ab-
spielt. Es wird versucht, einen Konsens herzustellen, der
von allen Beteiligten mitgetragen und gewürdigt werden
kann. Sie wissen das so gut wie ich. Frau Merkel und Herr
Stoiber haben sich ja vor einiger Zeit sehr intensiv darum
bemüht, an den Konsensgesprächen beteiligt zu werden.
Dies geschah in erster Linie, um sie zu hintertreiben.
Dann hat sie ihr eigener Mut eingeholt und sie haben ge-
sagt: Nein, lieber nicht.

In diesem Zusammenhang kann man zitieren, was die
„Lüneburger Landeszeitung“, die bei Insidern – leider ist
Herr Grill jetzt nicht anwesend – weiß Gott nicht als links-
radikales Blatt gilt, am 20. April 2000 geschrieben hat:

Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die
Strategen von CDU und CSU bei ihrem Engagement
für die Atomkraft mit gespaltener Zunge reden. Denn
die von der Bundesregierung und den Kraftwerksbe-
treibern bereits vereinbarten Zwischenlager an den
Kraftwerksstandorten wollen sich die Unionsregie-
rungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen
mit aller Macht vom Halse halten. Das heißt: Für die
Entsorgungsfrage sollen weiterhin allein die sozial-
demokratisch regierten Länder Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen zuständig sein. Eine solche Po-

sition nach dem Motto „Wasch mir das Fell, aber
mach mich nicht nass“ ist scheinheilig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wenn man davon ausgeht, dass diese politische Zwei-

gleisigkeit hinlänglich bekannt ist, dann schockiert dieje-
nigen, die sich mit dem Thema intensiv auseinander set-
zen, nur noch die Permanenz und die Penetranz, mit der
Sie diese Art von Politik kontinuierlich Jahr und Tag wei-
ter fortführen.

Die Debatte um die Situation in Gorleben zwischen
1990 und 1994 hat im Grunde zwei Elemente. Das eine
Element ist: Sie hat die Menschen nicht nur in der Region,
sondern all diejenigen, die sich intensiv mit der Frage der
Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte auseinander
gesetzt haben, dazu gebracht, nicht mehr nach dem Motto
zu diskutieren: Hier haben wir eine stets vorhandene
Energiequelle. Vielmehr befasst sich die Diskussion seit-
dem mit den Fragen: Was tun wir uns an? Was tun wir den
nachfolgenden Generationen an? Was bedeutet eigentlich
eine Endlagerung? Was bedeutet der atomare Müll für die
Zukunft? Wir sind mit unseren Möglichkeiten, einen Kon-
sens zu finden, heute wesentlich weiter, als Sie es sich da-
mals, während Ihrer Regierungszeit, 1990, 1991, 1992,
1993, 1994 in Ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das zweite Element ist: Die Entscheidungen, die die
niedersächsische Landesregierung in diesen Jahren ge-
troffen hat, haben in der Folgezeit deutlich gemacht, dass
sie Recht hatte. Ich erinnere an ein Zitat der damaligen
Umweltministerin Frau Merkel: „Beim Backen fällt ir-
gendwann auch Backpulver daneben.“ Das sie dies im Zu-
sammenhang mit der Undichtigkeit von Castorbehältern
gesagt hat, sprach gegen die Qualifikation der damaligen
Umweltministerin. Wenn ich mir überlege, was Herr Grill
eben alles von sich gegeben hat,


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Wenn Sie zitieren, dann zitieren Sie doch bitte richtig!)


– Herr Grill, wenn der liebe Gott in der Lage wäre, selbst
Ihnen etwas mehr Intelligenz zu vermitteln, dann würden
Sie unter Umständen irgendwann lernen zuzuhören –,


(Zurufe von der CDU/CSU)

dann erschüttert mich die Dreistigkeit, mit der Sie Rechts-
fragen im Zusammenhang mit Gorleben diskutieren. Ich
komme aus Niedersachsen und habe mich in den letzten
Jahrzehnten gerade im Zusammenhang mit Rechtsfragen
sehr häufig auch mit Ihrer Person auseinander setzen müs-
sen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Hoch intelligenter Mann!)


Das gehört aber sicher nicht in eine solche Debatte, so
wenig wie Ihre Zwischenrufe.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Fragen, die das
Gericht im Zusammenhang mit Geldforderungen des




Arne Fuhrmann

9675


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundes an das Land Niedersachsen zu beantworten hat,
die eine Seite sind. Die andere Seite ist die Verantwor-
tung, mit der das Land Niedersachsen in diesen Jahren
und auch heute noch mit dem Standort Gorleben und mit
den Sorgen und Nöten der Bevölkerung umgeht. Dass wir
nicht alles ganz falsch gemacht haben, hat das Wahler-
gebnis im Jahr 1998 gezeigt und speziell in Ihrem Wahl-
kreis, Herr Grill.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Respice finem!)


Sie haben damals die größte Ohrfeige bekommen, die
man politisch bekommen kann. Ich genieße das heute
noch, weil es mir klar macht, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Sicherheit für die Menschen hatte immer obers-
te Priorität für die Sozialdemokraten und die Grünen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies wird auch die Prämisse unseres weiteren Handelns
sein. Das wird auch die Zukunft insofern bestimmen, als
wir unablässig und mit sehr viel Energie, wenn auch un-
ter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten in den Kon-
sensgesprächen, den Ausstieg aus der unseligen Energie,
nämlich der Kernenergie, erreichen werden.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Hoch interessante Ausführungen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410306200
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Axel Fischer
das Wort.

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegin Griefahn, zu Ihrer Rede zwei Klarstellun-
gen, die notwendig sind: Zum Ersten. Sie sind dem
Grunde nach zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.


(Monika Griefahn [SPD]: Ich nicht!)

– Natürlich nicht Sie persönlich. – Die genaue Höhe die-
ser Zahlungen mag zwar strittig sein. Aber es wird auf je-
den Fall ein zweistelliger Millionenbetrag sein. Das kön-
nen Sie nicht von der Hand weisen. Sie können nicht so
tun, als sei das nichts Schlimmes. Das ist schon etwas Be-
deutendes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Zweiten. In Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ist

ganz klar festgelegt, dass sich die vollziehende Gewalt an
Recht und Gesetz halten muss. Das gilt auch für Ihre Re-
gierung, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie können sich
zwar darüber beschweren, was im Gesetz festgeschrieben
ist, und sagen: Das gefällt mir nicht. Aber Sie sind dafür
verantwortlich, dass die Gesetze eingehalten werden. Da-
ran haben Sie sich zu halten. Das haben Sie nicht getan.
Das sollte man hier noch einmal klarstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn [SPD]: Das gilt auch für die CDU!)


Lieber Herr Rexrodt, auch zu Ihnen noch ein Wort: Die
Sache in Niedersachsen geschah unter absoluter Mehrheit
der SPD. Das sollten wir nicht vergessen. Damit haben die
Grünen ausnahmsweise nichts zu tun. Deshalb sollten Sie
sich die Leute, denen Sie vor der Landtagswahl zuzwin-
kern, ein bisschen genauer anschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Habe ich nicht verstanden! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Er heißt ja nicht Möllemann!)


Wie die bisherige Debatte gezeigt hat, besteht hier
keine Möglichkeit, eine ideologiefreie Diskussion über
die friedliche Nutzung der Kernenergie zu führen. Dies
liegt nicht zuletzt auch an dem teilweise diffusen
Informationsstand, auf dessen Basis nicht nur hier im
Haus, sondern vor allem auch in der Öffentlichkeit über
die verschiedenen Aspekte der Kernenergie diskutiert
wird.

Es war ja hautnah zu erleben, wie die Medien vor eini-
gen Tagen den 14. Jahrestag des Reaktorunfalls von
Tschernobyl „abgefeiert“ haben: Von 30 000 bis zu
150 000 Opfern des Reaktorunfalls war in Zeitungen und
im Fernsehen die Rede. Das ist eine breite Spanne. In of-
fiziellen Verlautbarungen wie zum Beispiel denen der
ideologisch unverdächtigen UN wird im Vergleich dazu
von nur 31 direkten Opfern des Reaktorunglücks ausge-
gangen. Ich sage das deshalb, um auch einmal in diesem
Hause auf die Diskrepanz zwischen dem Kenntnisstand
offizieller Quellen und dem der unabhängigen deutschen
Medien hinzuweisen. Es ist klar, dass angesichts solcher
Horrormeldungen der Massenmedien viele Bürger der
friedlichen Nutzung der Kernenergie kritisch gegen-
überstehen.


(Monika Ganseforth [SPD]: Jetzt haben wir den Grund!)


Einige Bürger wenden sich sogar voll echter Besorgnis
an den Petitionsausschuss des Bundestages und fordern
die Stilllegung aller bestehenden deutschen Kernkraft-
werke


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wie auch die Verhinderung weiterer Forschungen über die
Nutzung radioaktiver Energiequellen oder das Verbot der
Inbetriebnahme neuer atomtechnischer Anlagen.


(Monika Griefahn [SPD]: Über 60 Prozent wollen das, Herr Fischer!)


Die jetzige Bundesregierung vertritt einen ähnlichen
Standpunkt.

Monika Griefahn [SPD]: Dafür sind wir
gewählt worden!)

Aber das ist auch ein Zeichen dafür, wie wenig die Men-
schen über die Nutzung der Kernenergie informiert sind
und mit welchen Qualitätsproblemen der Konsument öf-
fentlicher Berichterstattung in Deutschland zu kämpfen
hat.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Menschen sind doof! Jetzt verstehe ich!)





Arne Fuhrmann
9676


(C)



(D)



(A)



(B)


Die heutige systematische Diffamierung eines moder-
nen und eines der meistversprechenden Industrie- und
Forschungszweige der Welt kommt nicht von ungefähr;
vielmehr ist sie auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen
ideologischen Kampagne gegen die friedliche Nutzung
der Kernenergie.


(Monika Ganseforth [SPD]: Auf die Idee, dass die Leute Recht haben könnten, kommen Sie gar nicht!)


Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich ma-
chen: Ich nenne als erstes Beispiel Atomtransporte. Sie
machen heute wieder Stimmung gegen Atomtransporte –
das wird auch über die Medien verbreitet – wegen angeb-
licher Gefährdungen des Begleitpersonals und der Bevöl-
kerung durch solche Transporte.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Transporte gestoppt? War das nicht Frau Merkel?)


Dabei stellt die Bundesregierung fest, lieber Herr
Fuhrmann, dass es bei keinem der bisherigen über 1 700
Transporten von bestrahlten Brennelementen zu einer
Freisetzung radioaktiver Stoffe oder einer Strahlenbelas-
tung des Begleitpersonals oder der Bevölkerung gekom-
men ist.


(Arne Fuhrmann [SPD]: Fragen Sie doch einmal die Gewerkschaft der Polizei!)


Der hohe Sicherheitsstandard von Transportbehältern
und Zwischenlagern in Deutschland schließt eine un-
zulässige Freisetzung von Radioaktivität selbst nach
schwersten Unfällen aus. Eine Gefährdung für Gesund-
heit, Leben oder Umwelt kann daher nach Maßstäben der
praktischen Vernunft ausgeschlossen werden.

Ich nenne als zweites Beispiel die kerntechnische For-
schung. Sie wollen die Forschung über die Nutzung ra-
dioaktiver Energiequellen abschaffen. Sie wollen die Be-
endigung der Nutzung von radioaktivem Material zur
Energieerzeugung und ein Verbot der Inbetriebnahme
neuer atomtechnischer Anlagen. Damit blockieren Sie,
lieber Herr Trittin, auch die Transmutationsforschung,
also die einzige sich derzeit abzeichnende Möglichkeit,
den hoch verstrahlten Atommüll so zu bearbeiten, dass der
verbleibende geringe Rest mit einer Halbwertszeit von
30 Jahren nicht nachfolgende Generationen belastet.

Wie wollen Sie denn den Atommüll beseitigen?

(Monika Ganseforth [SPD]: Das hätte man sich vorher überlegen müssen!)

So wie es bislang aussieht, ausschließlich auf Kosten
zukünftiger Generationen – sollen die doch diese Pro-
bleme lösen! Sie sind sich anscheinend zu fein dafür. Es
ist Trittbrettfahrerverhalten, den preiswerten Strom aus
Kernkraftwerken über Jahrzehnte genossen zu haben und
weitere 30 Jahre davon profitieren zu wollen. Die mit der
Beseitigung der Abfälle einhergehenden Forschungs- und
Lagerkosten wollen Sie möglichst weit in die Zukunft
schieben. Das ist Ihr Stil. Von Nachhaltigkeit, das heißt
dauerhafter Tragfähigkeit, ist in Ihrer Politik schon vom

Ansatz her nichts zu finden. Es scheint Ihnen völlig egal
zu sein, dass wir Gorleben brauchen.

Auch an etwas anderes möchte ich an dieser Stelle er-
innern, wenn Sie jetzt immer wieder über die Kernenergie
schimpfen: Man ist doch unter Ihrer Regierung mit we-
henden Fahnen in die Atomenergie eingestiegen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das war Helmut Schmidt! – Albert Deß [CDU/CSU]: Helmut Schmidt war der größte Fan der Kernenergie!)


Ich nenne als drittes Beispiel die Grundlagenfor-
schung auf dem Gebiet der Atom- und Kernphysik. Mit
Ihrer Forderung nach dem Ausstieg treffen Sie zum Bei-
spiel die Krebsforschung und/oder die Fusionsforschung.
Die medizinische Forschung ist ohne die kern- und atom-
physikalischen Forschungen nicht denkbar. Wir können
doch nicht ernsthaft die Beseitigung von Hirntumoren, die
Chemotherapien oder Ähnliches infrage stellen.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will denn das? Dafür braucht man Atomkraftwerke?)


Wer will denn heute allen Ernstes darauf verzichten?
Menschen, die entsprechende Probleme haben, sind sehr
besorgt, wenn sie mitbekommen, was Sie vorhaben.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Besorgter sind sie über Ihre Rede!)


In der gesamten Diskussion über die zukünftige Ent-
wicklung der Kernenergie sollten deshalb ein fairer Um-
gang miteinander und eine ideologiefreie Diskussion
selbstverständlich werden. Dazu gehört auch, dass Fragen
beantwortet werden. Wie sieht es denn nun mit den
30 Millionen DM aus? Dazu würden wir gerne einmal
eine Antwort hören.


(Arne Fuhrmann [SPD]: Sind es überhaupt 30 Millionen? Oder 27 Millionen? Oder gar nur 4 Millionen?)


Ich hoffe, dass ein ideologiefreier Umgang mit diesem
Thema zum Wohle unserer Generation und kommender
Generationen zukünftig möglich wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410306300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410306400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wievielte
Große Anfrage zur Atomkraft ist das in dieser Legislatur-
periode eigentlich? Die zweite, die dritte oder sogar die
vierte? Aus Oppositionszeiten weiß ich noch, wie viel Ar-
beit es bedeutet, Große Anfragen zu schreiben. Zu allen
anderen energiepolitischen Themen, die auf der Tages-
ordnung stehen, gab es keine einzige Große Anfrage;


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)


nur zur Atomkraft haben Sie dieses Mittel benutzt.




Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


9677


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie machen einen Veitstanz um die Atomkraft und fi-
xieren Ihre Kraft im gesamten energiepolitischen Bereich
allein auf dieses Thema. Damit verabschieden Sie sich
von der energiepolitischen Debatte. Ich weiß nicht, ob Ih-
nen das überhaupt auffällt.


(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Ich war gestern mit einigen Kollegen auf einer Tagung

über die Kraft-Wärme-Kopplung. Das ist eine Techno-
logie – 10 Prozent der Stromerzeugung kommt aus die-
sem Bereich –, die von dem Sofortausstieg aufgrund der
Liberalisierung, die Herr Rexrodt im letzten Jahr seiner
Amtszeit durchgeführt hat, bedroht ist. Wir sind immer
für den Wettbewerb gewesen. Dass Sie dieses Gesetzes-
werk so dünn gestrickt haben – ohne Rücksicht auf Ver-
luste und auf umweltfreundliche Technologien –, könnte
jetzt, wenn wir nicht handeln würden, zum entschädi-
gungslosen Ausstieg aus 10 Prozent der Stromerzeugung
führen. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik, Herr Rexrodt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Um 25 Prozent geringere Preise, meine Liebe!)


Auf dieser Tagung waren Anlagenbauer und Anlagen-
betreiber, Vertreter der Industrie mit hohem mittelständi-
schen Anteil. Vertreten waren auch der energiepolitische
Sprecher der SPD, Herr Hirche und ich. Von der
CDU/CSU-Fraktion hatte keiner Zeit.


(Monika Ganseforth [SPD]: Die haben sich um die Große Anfrage gekümmert!)


Sie mussten einen Mitarbeiter schicken. Dieser arme Mit-
arbeiter hat zwar gesagt: Ja, wir sind für die Kraft-Wärme-
Kopplung; wir sehen auch die Probleme. Aber er hatte
nicht eine einzige Antwort auf die Fragen, wie diese um-
weltfreundliche Technologie vor dem entschädigungslo-
sen Sofortausstieg, verursacht von Herrn Rexrodt und der
CDU, bewahrt werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Herr Rexrodt, wenn Sie die Grünen als Verweigerer be-
zeichnen, sage ich Ihnen Folgendes: Die Grünen sind für
erneuerbare Energien. Die Grünen sind für hocheffiziente
Nutzung der fossilen Energieträger, solange wir sie noch
brauchen. Die Grünen sind für Energieeinsparung. Die
Grünen sind für GuD-Kraftwerke. Die Grünen sind für
stärkere Wärmedämmung. Die Grünen sind für Niedrig-
energiehäuser und für Nullenergiehäuser. Die Grünen
sind für Nullemissionsfabriken usw.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410306500
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410306600

Nein.

Ihre Energiepolitik, vor allen Dingen die Energiepoli-
tik der CDU – denn Herr Hirche hat sich gestern in der Tat
sehr interessant in die Debatte eingeschaltet –, reduziert

sich im Augenblick lediglich auf die Verweigerung einer
gesellschaftlichen energiepolitischen Debatte.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410306700
Gestatten Sie jetzt
eine Zwischenfrage?


Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410306800

Ja.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410306900
Herr Kollege
Rexrodt.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1410307000
Frau Kollegin Hustedt,
ist Ihnen – erstens – bekannt, dass die Gesetze zur Libe-
ralisierung des Strommarktes Ausnahmeregelungen
für den Fall vorsehen, dass Umweltaspekte, insbesondere
die Kraft-Wärme-Kopplung, eine Durchleitung von
Fremdstrom nicht geboten erscheinen lassen?

Wissen Sie zweitens, Frau Hustedt, dass Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen immer dann einen wirt-
schaftlichen Erfolg erzielen, wenn sie in Regionen eta-
bliert sind, in denen ein echter Bedarf an Wärme und nicht
nur an Strom besteht,


(Monika Ganseforth [SPD]: Leider ist das nicht so!)


aber nicht in solchen, in denen damit irgendwelchen Pre-
stigegedanken von Stadtwerken oder wem auch immer
entsprochen werden sollte?


(Monika Ganseforth [SPD]: Sodawerke, Papierwerke!)


Ist Ihnen drittens bekannt, Frau Hustedt, dass das Ge-
setzeswerk zur Liberalisierung der Strommärkte bislang
zu einer durchschnittlichen Senkung der Strompreise
um mehr als 20 Prozent geführt hat, und zwar nicht nur in
der Industrie, sondern auch im Gewerbe und bei den Ta-
rifkunden, und dass in den nächsten zwei Jahren eine
nochmalige Senkung der Strompreise um mindestens
15 Prozent zu erwarten ist?

Glauben Sie, Frau Hustedt, vor diesem Hintergrund
nicht – das ist meine Frage –, dass dieses Gesetzeswerk
mit umweltfreundlichen Aspekten und Ausnahmerege-
lungen insgesamt ein enormer Erfolg für die deutsche
Volkswirtschaft und die Verbraucher war?


(Beifall der Abg. Gudrun Kopp [F.D.P.] – Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.] macht Anstalten, sich wieder zu setzten)



Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410307100

Stehen bleiben, Herr Rexrodt! So ist nun einmal die Re-
gel.


(Horst Kubatschka [SPD]: Er ist erschöpft von den langen Ausführungen!)


Zuerst zu Ihrer Frage, ob mir bekannt ist, dass bei der
Kraft-Wärme-Kopplung im Energiewirtschaftsgesetz ein
Recht zur Durchleitungsverweigerung – aus Gründen




Michaele Hustedt
9678


(C)



(D)



(A)



(B)


des Schutzes – besteht. Das ist mir bekannt. Nur zeigt ge-
rade das, wie dilettantisch Sie an diesem Gesetz gestrickt
haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Diese Regelung ist überhaupt nicht anwendbar, sie ist eine
reine Placebolösung, die keine einzige Kommune anwen-
det. Kein Bürgermeister kann sagen: Wir haben Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen; die Bürger überall um uns
herum dürfen den Strom frei wählen, nur in meiner Kom-
mune verbiete ich das. – Das ist doch politisch überhaupt
nicht durchsetzbar und das wussten Sie auch.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das kann der Bürgermeister doch machen!)


Sie haben diese Regelung bewusst hineingeschrieben,
weil Sie keinen ernsthaften Schutz für die Kraft-Wärme-
Kopplung wollten.

Zweitens. Sie haben behauptet – eigentlich sollten Sie
ja fragen, aber Sie haben behauptet –, es gebe kein Poten-
zial für Kraft-Wärme-Kopplung. Ich sage Ihnen Folgen-
des: Allein durch die Modernisierung der bestehenden
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen könnten wir mit dem
gleichen Wärmepotenzial doppelt so viel Strom produzie-
ren, damit mehrere Atomkraftwerke CO2-frei abschaltenund gleichzeitig diesen Industriezweig erhalten. Wir
haben über das Wirtschaftsministerium mehrere Studien
in Auftrag gegeben. Das Wärmepotenzial der Kraft-
Wärme-Kopplung reicht mindestens für eine Verdopp-
lung und noch weit darüber hinaus, weil es nämlich noch
große ungenutzte Potenziale dieser umweltfreundlichen
Technologie zur effektiven Nutzung fossiler Energieträ-
ger gibt, die bekanntlich endlich sind, insbesondere im
Bereich Industrie für die Prozesswärme und im Bereich
dezentraler Blockheizkraftwerke.

Das Potenzial ist vorhanden und diese Energie ist auch
wirtschaftlich. Warum aber ist sie im Augenblick sozusa-
gen so in Schwierigkeiten? Das kann ich Ihnen auch sa-
gen: Das hängt damit zusammen, dass wir hier aufgrund
Ihrer Art der Liberalisierung keinen echten, fairen Wett-
bewerb haben.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das verstehe ich nicht!)


– Das verstehen Sie nicht, das weiß ich, denn Sie haben es
noch nie verstanden. Deshalb haben Sie es auch falsch ge-
macht.

Wir haben in Deutschland hohe Überkapazitäten an
Strom. Jetzt beginnt sozusagen im Wettbewerb das Ab-
schleifen der Überkapazitäten. Das ist sehr gut so. Die
Frage ist nur, ob die Player dabei gleichberechtigt sind.
Das sind sie nicht. Auf der einen Seite haben wir die großen
Stromkonzerne, die jahrzehntelang überhöhte Preise ge-
nommen haben, auch von uns Bürgern, und ihre Kampf-
kassen auch aufgrund der von Ihnen geforderten Rück-
stellungen prall gefüllt haben. Auf der anderen Seite ha-
ben wir die Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen der
Industrie, die kein strategisches Interesse daran hat, Strom
zu erzeugen, und sofort ihre umweltverträglichen Anla-
gen abschaltet, wenn sie Dumpingstrom von den Strom-

konzernen, der aus den Kampfkassen subventioniert wird,
angeboten bekommt.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: „Dumpingstrom“!)


Daneben gibt es außerdem die Stadtwerke, die ihre Ge-
winne während der Monopolzeiten für sinnvolle Zwecke
verwendet haben, beispielsweise für den ÖPNV oder
Freibäder.

Die von Ihnen durchgeführte Liberalisierung des
Marktes führt aber nun dazu, dass im Augenblick die um-
weltfreundlichste Technologie, die fossile, endliche Ener-
gieträger ersetzen kann, Schritt für Schritt vom Markt ver-
schwindet. Wenn wir nicht eingreifen, wird diese als Er-
gebnis Ihrer Politik bald ganz vom Markt verschwunden
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie hatten in Ihrer Frage noch nach einem weiteren
Teilaspekt gefragt, nämlich danach, ob ich wisse, dass die
Strompreise gesunken seien. Darauf antworte ich: Ich
weiß, dass die Strompreise gesunken sind: die von der In-
dustrie verlangten um 20 Prozent, die von den Stadtwer-
ken verlangten um 50 Prozent, die von den Bürgern ver-
langten um 5 bis 10 Prozent.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Aber über die Ökosteuer kassiert ihr wieder ab!)


Das ist gut so. Deswegen waren auch wir immer dafür,
Wettbewerb im Energiebereich einzuführen, weil, wie
man sieht und wie vorhin schon gesagt wurde, die Mono-
pole über Jahrzehnte überhöhte Preise genommen haben.
Diese Frage ist unter uns nie strittig gewesen.

Ich erinnere an Ihren Entwurf zum Energiewirtschafts-
gesetz aus der letzten Legislaturperiode. In der Begrün-
dung ist – ich habe ihn nicht mit, ich kann ihn also nicht
wörtlich zitieren, aber ich weiß noch, was sinngemäß
drinsteht – ein Verweis auf das grüne Poolmodell enthal-
ten, also auf unseren Vorschlag, wie die Liberalisierung
durchgeführt werden könnte. Sie haben in dieser Begrün-
dung eingestanden, dass dieses Poolmodell den intensiv-
sten Wettbewerb bringen würde. So sieht der Sachverhalt
aus. Das heißt, wir sind immer für Wettbewerb gewesen,
aber haben zugleich gesagt, Wettbewerb muss mit Um-
weltschutz verbunden werden. Beides zusammen ist un-
ser Ziel und muss umgesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410307200
Frau Kollegin, nach-
dem Sie jetzt gerade hemmungslos die Chance genutzt
haben, Ihre Redezeit auszuweiten, könnten Sie jetzt eine
zweite Chance dazu bekommen, wenn Sie eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Rexrodt zulassen.


(Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)





Michaele Hustedt

9679


(C)



(D)



(A)



(B)



Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410307300

Ich glaube, ich habe den Hinweis verstanden. Ich lasse sie
nicht zu.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Feige!)


– Herr Rexrodt, ich glaube nicht, dass ich feige bin. Ich
würde sie gerne zulassen, aber dann bekomme ich Ärger
mit dem Präsidium. Dennoch hat es eben Spaß gemacht.

Meine These ist: Ihre Politik, die einen Tanz um das
goldene Kalb Atomkraft darstellt, das schon lange nicht
mehr golden ist, sondern längst blechern ist


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Verrostet!)


– „verrostet“, genau –, hindert Sie daran, aktuell in die
spannende Debatte über eine neue und moderne Energie-
politik einzusteigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb diskutieren wir heute wieder einmal über einen
Unteraspekt von Atomkraft, über Gorleben.

Was ist eigentlich die wahre Ursache für die Probleme
mit Gorleben? Die wahre Ursache ist doch, dass die Be-
treiber von Atomkraftwerken sowohl Gorleben als auch
die Wiederaufbereitung nur deswegen betrieben haben,
weil sie kein solides Entsorgungskonzept hatten. Sie
mussten nämlich nachweisen können, dass Gorleben aus-
reichend untersucht sei und die Wiederaufbereitung viel
teurer wäre und noch mehr Müll produziert hätte. Anson-
sten hätten sie nämlich keinen Entsorgungsnachweis ge-
habt und dann hätte selbst eine CDU-Regierung die
Atomkraftwerke schließen müssen. Deshalb musste Gor-
leben ohne Rücksicht auf Verluste, ohne nach rechts und
links zu schauen und ohne ernst zu nehmende Kritik da-
ran zuzulassen, weiterbetrieben werden.

Es ist zum Beispiel so, dass alle aktuellen Diskussio-
nen über sichere Entsorgungskonzepte davon ausgehen,
dass die Rückholbarkeit gesichert sein muss. Menschen
sollten sich nicht anmaßen, darüber zu entscheiden, ob ein
Lager tatsächlich Zehntausende von Jahren sicher ist. Das
Lager muss deshalb das Kriterium der Rückholbarkeit für
den Fall erfüllen, dass wider Erwarten ein Problem auf-
taucht. Dieses Kriterium erfüllt zum Beispiel Gorleben
nicht.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Gorleben hat 250 Millionen Jahre keine Veränderung zu erwarten!)


Nur weil die laufende Untersuchung den Entsorgungs-
nachweis sichern konnte, brauchten solche Bedenken we-
der von der alten Bundesregierung noch von der Atomin-
dustrie ernsthaft beachtet zu werden. Es ging ohne Rück-
sicht auf Menschenleben und ohne Rücksicht auf
Widerstände und Proteste vor Ort um eine Pro-Atom-Po-

litik, die trotz ernst zu nehmender Kritik durchgesetzt
wurde.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: „Ohne Rücksicht auf Menschenleben“ ist wirklich starker Tobak!)


Die Bundesregierung wird jetzt versuchen, diesen un-
soliden Entsorgungsnachweis auf eine solide Basis zu
stellen, indem wir mit den Stromkonzernen darüber spre-
chen, dass der atomare Müll nicht sinnlos durch die Ge-
gend transportiert wird. Er soll vielmehr in den
Atomkraftwerken zwischengelagert werden.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Und dann?)

In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, dass

sich Stoiber auf einmal in der Anti-Atom-Bewegung ge-
gen diese Zwischenlager wiederfindet. Ich kann dazu nur
sagen: Willkommen im Kreis derjenigen, die auf die Ver-
stopfungsstrategie setzen. Ich glaube aber nicht, dass es
moralisch lange durchgehalten werden kann, im Land
Bayern die meisten Atomkraftwerke zu betreiben und
gleichzeitig zu sagen, dass man mit dem Müll, der über
Zehntausende von Jahren strahlt, nichts zu tun haben will,
dass er in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen gela-
gert werden soll.

Dieses Spiel machen wir nicht mit. Wir werden mit den
Stromkonzernen ein solides Entsorgungskonzept erarbei-
ten, obwohl das wahrlich nicht unsere Aufgabe ist; denn
die Grünen – das muss ja wohl jeder einsehen – sind
diejenigen, die überhaupt keine Schuld daran tragen, dass
wir uns jetzt in dieser Misere befinden und nicht wissen,
wohin mit den vielen Tonnen von Atommüll.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Größter Unsinn aller Zeiten!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410307400
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt-Dieter Grill.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1410307500
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es war schon ganz in-
teressant zu beobachten, dass diejenigen, die seitens der
Koalition und der Bundesregierung hier geredet haben,
zum eigentlichen Kern der Großen Anfrage und dem darin
angesprochenen Problem bis auf ein paar wenige Sätze
gar nichts gesagt haben – im Gegenteil.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Griefahn, Sie haben sogar noch den Versuch ge-

macht, uns zu erklären, dass das, was von Ihnen veran-
staltet wurde und was dokumentiert wurde, von Frau
Merkel verursacht worden sei. Sie haben es so dargestellt,
als seien Sie sozusagen in den Rechtsbruch getrieben wor-
den. Was für eine geradezu abwegige Schilderung!

Frau Hustedt, Sie sind eigentlich intelligent genug, um
hier nicht das Argument vorzutragen – ich weise diesen
Vorwurf mit aller Schärfe zurück –, wir würden unsere






(C)



(D)



(A)



(B)


Politik ohne Rücksicht auf Menschenleben machen. Ich
fordere Sie auf, sich dafür zu entschuldigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Grill, jede Ihrer Reden erfordert eine Entschuldigung!)


Wenn Sie der alten Koalition Unfähigkeit vorwerfen,
dann müssen Sie den Menschen an den dezentralen Zwi-
schenlagerstandorten, die Sie jetzt so preisen, einmal er-
klären, warum Sie für diesen Bau das Muster von Gorle-
ben und Ahaus verwenden. Egal, ob Sie Fuhrmann,
Kubatschka oder wie auch immer heißen: Sie können
nicht behaupten, dass die CDU/CSU für alles verantwort-
lich ist, was im Zusammenhang mit Gorleben geschieht.

Darf ich Sie daran erinnern, dass etwa die SPD im nie-
dersächsischen Landtag Ernst Albrecht in die Parade ge-
fahren ist, indem sie gesagt hat: Du kannst dich nicht mit
den fünf niedersächsischen Kernkraftwerken schmücken;
vier davon haben wir genehmigt. – 80 Prozent der Kern-
kraftwerke in Deutschland sind zurzeit der SPD-Regie-
rung entstanden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Alles, was in Deutschland im Hinblick auf die Entsorgung
errichtet wurde, Frau Griefahn – ob in Gorleben oder
Ahaus –, ist die Folge einstimmiger Beschlüsse des Bun-
des und der Länder.

Sie haben als niedersächsische Umweltministerin im
August 1990 durch Ihren Staatssekretär Bull und durch
Ihren Ministerpräsidenten einem Beschluss – es war ein
einstimmiger Beschluss, mit Gerhard Schröder auf
Wunsch von Johannes Rau – zugestimmt, in dem steht:
Der Bund wird aufgefordert, schnellstmöglich ein Endla-
ger für nicht Wärme entwickelnde Abfälle zu bauen –
nicht zu planen, sondern zu bauen.

Konrad ist doch nur „im Geschäft“, weil der ehema-
lige Parlamentarische Staatssekretär Stahl den Arbeits-
plätzen in Konrad den Vorzug gegeben hat. Das ist doch
die Wahrheit! Sie haben weder ein moralisches noch son-
stiges Recht, sich hier hinzustellen und Ihre politische
Agitation gegen die Kernenergie als Rechtfertigung für
den Rechtsbruch zu missbrauchen. Das stimmt doch
vorne und hinten nicht.

Im Übrigen kann ich, was die Frage einer modernen
Energiepolitik angeht, nur sagen: Es war die SPD-Bun-
destagsfraktion, die bis zur letzten Sitzung der Steue-
rungsgruppe am Energiedialog der Bundesregierung nicht
teilgenommen hat. Wir haben am Tisch gesessen, Sie
nicht. Sie haben Ihren eigenen Minister im Stich gelassen.
Das alles trägt im Grunde genommen überhaupt nicht.

Der Bundesumweltminister hat hier – lieber Herr
Trittin, das ist Ihnen ja eigen – sozusagen das Verhalten
eines Brandstifters an den Tag gelegt, der anschließend
auch noch Feuerwehr spielen will. So wie Sie hier argu-
mentiert haben, hält das einer Prüfung überhaupt nicht
stand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Sie haben Atommüll ins Ausland verschoben. Darf ich
Sie daran erinnern, dass die Altverträge, die ersten völ-
kerrechtlich verbindlichen Verträge unter der Regierung
Helmut Schmidt entstanden sind? Das ist doch das, wo-
gegen Sie zu Felde gezogen sind. Sie haben die Leute auf
die Straße getrieben und beschweren sich hier über die
Polizeikosten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gehen Sie doch nicht immer in die graue Vorzeit zurück! Das ist doch völliger Unsinn!)


Im Übrigen sind die 100 Millionen DM genauso falsch
wie die 50 Millionen, die der erste Transport gekostet ha-
ben soll. Im niedersächsischen Landeshaushalt steht, was
der erste Polizeieinsatz gekostet hat: nicht die öffentlich
diskutierten 40 Millionen DM, sondern 7 Millionen DM.
Um auf 100 Millionen DM zu kommen, müsste der ein-
gesetzte Polizist – und so wird es veranschlagt und ge-
rechnet – 120 DM pro Stunde verdienen. Gehen Sie mal
raus und sagen den Polizisten, für sie würden 120 DM pro
Stunde veranschlagt. Die würden sich bedanken; denn das
steht nun wirklich nicht mir ihren Gehältern in Einklang.

Darüber hinaus, Herr Kollege Fuhrmann, will ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass Ihre Genossen in
Lüchow-Danneberg gerade umlernen. Die haben begrif-
fen, dass sie jetzt eine andere Bundesregierung haben. Sie
haben nämlich in der letzten Kreistagssitzung gesagt, sie
könnten wohl nicht mehr so gegen die Transporte mar-
schieren, weil das jetzt ihre Bundesregierung sei. Eine er-
staunliche Erkenntnis!


(Arne Fuhrmann [SPD]: Es gibt doch noch gar keine Transporte! Was soll dieser Quatsch? Das sind doch wieder solche Sprüche, die Sie gar nicht beweisen können!)


Wenn Herr Trittin Kokillen aus Frankreich nach Gorleben
schickt, dann sind das Transporte, die anständig und si-
cher sind. Sie waren nur unanständig und unsicher,


(Arne Fuhrmann [SPD]: Sie sind doch der unanständige Brandstifter!)


solange Frau Merkel Bundesumweltministerin war. Das
ist die Logik Ihrer Argumente.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Griefahn, Ihr Auftritt war wirklich peinlich, un-

glaublich:

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Rede ist peinlich!)

Sie haben sich hier hingestellt und den Unfall im Schacht
als Anlass und Begründung für Ihre Rechtsbrüche ge-
nommen.


(Widerspruch bei der SPD)

Sie waren zu der Zeit, als der Unfall passiert ist, gar
nicht im Amt. Der Unfall ist 1987 passiert. Die zwei
Jahre Stillstandszeit zur Überprüfung des Salzstockes
Gorleben haben Werner Remmers als Umweltminis-
ter von Niedersachsen – CDU – und Klaus Töpfer als
Bundesumweltminister – ebenfalls CDU – veranlasst.




Kurt-Dieter Grill

9681


(C)



(D)



(A)



(B)


Erst 1989 haben wir die Erkundung wieder aufgenom-
men.


(Zuruf von der SPD: Als ob wir hier alle geschichtliche Deppen wären! Für was halten Sie eigentlich das Parlament, Herr Kollege?)


Es ist unglaublich, dass Sie sich hier hinstellen und mit ei-
nem Toten aus einem Bergunfall, der mit Kerntechnik gar
nichts zu tun hat, Ihre Rechtsbrüche rechtfertigen. Das ist
der Punkt, über den wir reden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410307600
Herr Kollege Grill,
Ihre Redezeit ist abgelaufen, aber Frau Griefahn möchte
Ihnen gern eine Frage stellen. Ich gebe Ihnen gern Gele-
genheit, sie zu beantworten.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1410307700
Es wird mir eine
Freude sein.


(Zuruf von der SPD: Unglaublich!)



Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1410307800
Herr Grill, in dem Moment,
in dem es Risse im Schacht gibt und dadurch die Stand-
sicherheit zumindest gefährdet sein kann: Finden Sie es
nicht angemessen, das überprüfen zu lassen, damit nicht
ein weiterer Unfall passiert? Ist das nicht unabhängig
davon, ob ich im Amt war oder nicht? Ist das nicht meine
Fürsorgepflicht, Herr Grill?


(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Monika Ganseforth [SPD])



Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1410307900
Frau Ganseforth, die
Intelligenz der Zwischenrufe wächst nicht mit der Laut-
stärke.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie war ganz leise! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich habe mir in den letzten 20 Minuten von diesem Pult
aus einiges anhören müssen.

Frau Kollegin Griefahn, Sie haben Recht, man muss
das alles prüfen. Nur, als Sie im Amt waren, war das alles
geprüft. Das ist der Punkt. Das heißt, der Unfall von 1987
kann doch nicht die Rechtfertigung für den Rechtsbruch
1990, 1991, 1992 und 1993 sein. Das war auch damals
nicht die Begründung. Diese Begründung schieben Sie
erst heute nach.


(Monika Griefahn [SPD]: Neue Risse!)

Ich will Ihnen zum Schluss, weil Sie sich hier immer

hinstellen und sagen, wir hätten keinen Energiekonsens
gewollt, Folgendes sagen: Alle Versuche, mit Gerhard
Schröder einen Energiekonsens herzustellen, sind nicht
an der Union gescheitert sind, sondern an der Tatsache,
dass Gerhard Schröder 1993 und 1997 für das, was er mit

der Union, mit Frau Merkel und Herrn Töpfer, verhandelt
hat, in seiner eigenen Partei keine Mehrheit hatte.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Das wissen Sie auch! Das wird auch durch Wiederholung nicht besser!)


Deswegen brauchen Sie bei uns auch nicht nachzufragen.
Wenn Sie einen ernsthaften Konsens wollen, laden Sie
uns dazu ein. Aber Sie möchten Ihre Energiepolitik lieber
alleine machen, so sieht es jedenfalls zurzeit aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410308000
Nunmehr hat der
Kollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion das Wort.


Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1410308100
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf
die heutige Debatte mit einer Rede vorbereitet, die ich
jetzt leider nicht halten kann; denn man muss einigen
Fouls, die hier von der rechten Seite begangen wurden,
begegnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Grill, durch Wiederholungen werden Ihre
Legenden nicht wahrer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie versuchen permanent, Legenden zu bilden. Außerdem
betreiben Sie eine rückwärts gewandte Politik.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Ich gebe zu: Es ist geschichtliche Wahrheit, dass auch
die Regierung Schmidt auf Kernenergie gesetzt hat. Auch
die Sozialdemokratie in den 50er- und 60er-Jahren hat
auf Kernenergie gesetzt. Das ist angesichts dessen, was
uns die Wissenschaft damals versprochen hat, auch ver-
ständlich.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist ja unglaublich! Jetzt geht Herr Grill!)


Die Wissenschaft hat uns damals eine Welt ohne Energie-
probleme versprochen. Darauf ist die Politik hereingefal-
len.

Außerdem hat Herr Minister Trittin überhaupt nicht da-
von gesprochen, dass Atommüll ins Ausland verschoben
wird. Auch das ist wieder Legendenbildung. Aber Ihre
Legenden sind geplatzt wie Seifenblasen.

Herr Rexrodt, ich war sehr verwundert, dass Sie plötz-
lich über Kernenergie gesprochen haben. Genauso ver-
wundert war ich, dass Ihre Fachpolitiker aus dem Aus-
schuss für Umwelt nicht da sind. Am Ende Ihrer Rede
wusste ich, warum sie nicht da sind. Sie hätten sich zu
Tode geschämt,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [KarlsruheLand] [CDU/CSU]: Oje, oje!)





Kurt-Dieter Grill
9682


(C)



(D)



(A)



(B)


denn Sie haben überhaupt keine Ahnung von Kernener-
gie. Wenn Sie in der Schule in der sechsten Klasse zu die-
sem Thema diesen Vortrag gehalten hätten, hätte die Leh-
rerin gesagt: Setzen, Sechs! Sie haben nämlich völlig das
Thema verfehlt.

Außerdem möchte ich Ihnen in Erdkunde etwas wei-
terhelfen. Gorleben liegt in Niedersachsen und nicht in
Nordrhein-Westfalen oder China. Aber diese Probleme
haben Sie aufgegriffen.


(Zuruf des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])

– Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage; die Chance,
sie zu beantworten, hätte ich gerne.

Sie haben behauptet, der Salzstock Gorleben sei
250 Millionen Jahre stabil gewesen. – Es hat aber Zwei-
fel an der Stabilität gegeben, weil Risse aufgetreten sind.
Deshalb ist diese Stabilität kritisch zu hinterfragen, des-
halb hat man mit Erkundungen begonnen.

Jetzt noch zu Herrn Kollegen Fischer: Er hat von einer
viel versprechenden Technik gesprochen. Wenn Sie das in
den 50er- und 60er-Jahren gesagt hätten, hätten Sie dafür
Beifall bekommen. Auf diese Illusionen sind wir damals
hereingefallen, auch ich als Student. Und weil Sie immer
von „Ideologie“ sprechen: Harrisburg war keine Ideolo-
gie, Tschernobyl war keine Ideologie und auch Tokaimura
war keine Ideologie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein hochtechnisches Land wie Japan rührt eine Atom-
bombe in Stahleimern zusammen. Das beweist doch nur:
Selbst ein Land wie Japan kann mit einer solchen Technik
nicht umgehen.


(Zuruf des Abg. Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU])


– Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage!
Außerdem haben Sie anscheinend noch nicht mitbe-

kommen, dass die deutsche Industrie aus dieser Techno-
logie ausgestiegen ist. Seit den 80er-Jahren gibt es keine
Bestellungen von Kernkraftwerken in Deutschland mehr.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Weil Sie das Klima versaut haben! – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Herr Kollege, Sie haben bis vor kurzem regiert. Also
hätten Sie es versaut. Leider haben Sie das nicht, denn Sie
versuchen, diese rückwärts gewandte Technik fortzu-
führen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Außerdem ist doch, wie gesagt, die Industrie in

Deutschland längst ausgestiegen. Siemens arbeitet mit
französischen Unternehmen zusammen. Es gibt keinen
deutschen Hersteller mehr.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Nachdem Sie sie vertrieben haben!)


Sie kämpfen also für eine völlig falsche Sache. Die Kern-
energie ist die Technik des letzten und nicht die des kom-
menden Jahrhunderts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bitte Sie um Folgendes: Gehen Sie einmal in die Bi-
bliothek des Deutschen Bundestages und informieren Sie
sich in Fachbüchern über die verbleibenden Reserven an
Uran. Dann werden Sie mit Erstaunen feststellen, dass
die verbliebenen Mengen an Uran nicht länger zur Verfü-
gung stehen, als dies vergleichsweise beim Erdöl und
beim Erdgas der Fall ist. Die Kernenergie ist eine Tech-
nik, die von einem begrenzten Rohstoff ausgeht. Deswe-
gen haben wir auf zukünftige Technologien gesetzt.

Nun möchte ich aber doch ganz kurz auf die vorlie-
genden Petitionen eingehen. Ich halte es für richtig, dass
diese Petitionen der Bundesregierung als Material und
den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen werden. Ich
halte nicht alle Forderungen der Petition Hufnagel für
richtig. Einige sind aber bereits erfüllt worden. Ich
möchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Die Förderung
umweltfreundlicher regenerativer Energien wurde
durch die Bundesregierung und die sie tragenden Koaliti-
onsfraktionen auf den Weg gebracht. Wir haben die ent-
scheidenden Gesetze beschlossen, die besser wirken, als
wir uns das vorgestellt haben. Das ist ein Erfolg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefreut hat mich die
Petition der Klasse 6 der Grund- und Hauptschule mit
Werkrealschule Waldburg.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Dafür sind Sie der richtige Mann!)


– Auf dieses Niveau, Herr Rexrodt, habe ich Sie gestellt.
Mit Ihren Kenntnissen wären Sie in dieser Klasse durch-
gefallen. – Es freut mich, dass sich junge Menschen mit
ihrer Zukunft auseinander setzen. Dies ist in der Begrün-
dung des Petitionsausschusses sehr schön formuliert. Ich
möchte aus dieser Begründung zitieren:

Der Petitionsausschuss unterstützt das Anliegen. Er
freut sich, dass sich Jugendliche für eine sichere Zu-
kunft einsetzen und sich mit ihren Forderungen an
das Parlament gewandt haben. Sie unterstützen damit
das Bemühen und den Wunsch vieler Menschen, in
einer intakten Umwelt zu leben und den eigenen
Nachkommen die Erde wohlbehalten zu überlassen.
Der Ausschuss wünscht sich und den Jugendlichen,
dass sie in ihrem Engagement nicht nachlassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich halte das für eine gute Begründung. Ich möchte die
jungen Menschen ermutigen, sich mit ihren Forderungen
an das Parlament zu wenden, damit wir uns mit ihnen aus-
einander setzen können. Noch einmal herzlichen Glück-
wunsch, dass diese Klasse so erfolgreich war.

Ein etwas bitterer Nachgeschmack ist dennoch vor-
handen: Diesen jungen Menschen hinterlassen wir ein




Horst Kubatschka

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sehr schweres Erbe. Denn sie müssen die Probleme der
Endablagerung lösen. Wir haben zwar eine Technik auf
den Weg gebracht, überlassen es aber der nächsten und
übernächsten Generation, die Probleme dieser Technik zu
lösen. Das ist eine sehr schwere Hypothek für die kom-
menden Generationen.

In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem Gut-
achten 2000 des Umweltrates zitieren:

Der Umweltrat hält insbesondere wegen der in wei-
ten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine
weitere Nutzung der Atomenergie für nicht vertret-
bar.

Das ist das Entscheidende: Dieses Problem ist nirgendwo
auf der Welt gelöst. Selbst die größten Atomfreaks in
Frankreich haben dafür keine Lösung.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Da hätten Sie besser zuhören sollen!)


Wir belasten zukünftige Generationen. Deswegen ist der
Ausstieg aus der Kernenergie notwendig und richtig.
Denn damit begrenzen wir dieses Problem.

Ich danke Ihnen für das Zuhören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410308200
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses, zunächst zur Sammelübersicht 31 auf
Drucksache 14/564. Dazu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstim-
men. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 14/3296? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 31 ist mit der gleichen
Mehrheit angenommen.

Wir kommen zur Sammelübersicht 69 auf Drucksache
14/1562. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor. Über ihn stimmen wir jetzt
ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3297? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis
90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
– Die Sammelübersicht 69 ist mit der gleichen Mehrheit
angenommen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes

zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften

(Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG)

– Drucksache 14/2530 –

(Erste Beratung 84. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)

– Drucksache 14/3194 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
Detlef Parr

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dagegen gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der
Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea Fischer,
das Wort.


(Unruhe)

– Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die den weite-
ren Beratungen nicht beiwohnen möchten, bitten, den
Raum zu verlassen. – Ich bitte nunmehr um Ihre Auf-
merksamkeit für die Rednerin.


Andrea Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410308300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn
hier immer ein Kommen und Gehen ist, wenn das Thema
wechselt: Ein bisschen symptomatisch für das Thema ist
das schon. „Seuchenrechtsneuordnungsgesetz“ klingt in
der Tat so, dass man gerne stiften gehen möchte.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Kaum hört man „Seuche“, hauen sie alle ab!)


Das ist das Schicksal des Gesetzes, obwohl man, wie ich
finde, gar nicht hoch genug einschätzen kann, was wir
heute hier vorliegen haben und hoffentlich auch verab-
schieden werden. Ich glaube, dass das ein wirklich großer
Schritt ist.

Um es auch für diejenigen nachvollziehbar zu machen,
warum das wichtig ist, die nicht täglich mit diesen Fragen
befasst sind, führe ich den Fall des Mannes an, der letztes
Jahr aus Afrika mit einer sehr schweren Infektions-
krankheit zurückkam. Manches von dem, was da gesche-
hen ist, hat quasi die Regelungen vorweggenommen, die
in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Daran kann
man, so glaube ich, erkennen, wie wichtig es ist.

Es geht darum, den Schutz der Bevölkerung auf ei-
nem Gebiet, das für uns in den nächsten Jahren eher wich-
tiger werden wird, nämlich bei Infektionskrankheiten,
zu erhöhen sowie Vorbeugung zu betreiben und Vorsorge
dafür zu treffen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Bei diesen spektakulären Fällen wird dann auch die Auf-
merksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema gelenkt.
Aber man sollte es noch einmal sagen: Krankheitserreger




Horst Kubatschka
9684


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sind bei der Entstehung von sehr vielen Krankheiten
beteiligt. Wir gehen davon aus, dass etwa 25 bis 30 Pro-
zent aller Diagnosen und Behandlungen mit Infektions-
krankheiten zusammenhängen. Damit ist das wirklich ein
bedeutsamer Faktor für die Gesundheitsversorgung und
den Umgang damit.

Viele Infektionskrankheiten werden wir nicht – was ein
alter Traum ist – endgültig ausrotten können; zumindest
können wir das zurzeit nicht. Aber wir können die Infek-
tionen damit vermeiden. Das geht vor allen Dingen durch
Schutzimpfungen – wie gegen Masern, Diphtherie, He-
patitis B oder Kinderlähmung – sowie durch andere For-
men von Vorsorge, durch Früherkennung, Aufklärung
über Ansteckungsgefahren und gezielte Maßnahmen der
Gesundheitsbehörden. Das alles steckt in dieser Gesetzes-
änderung drin.

Voraussetzung dafür, dass das möglich wird, ist eine
gezielte Krankheitsüberwachung. In den 70er-Jahren un-
terlag man der, wie wir heute wissen, Fehleinschätzung,
dass Infektionskrankheiten zurückgehen und Seuchen
überhaupt keine Rolle mehr spielen würden. Das hat dazu
geführt, dass man den Instrumenten, die zur Verfügung
stehen, um Vorbeugung zu betreiben und die Gefahren zu
bekämpfen, immer weniger Aufmerksamkeit widmete. Es
hat auch dazu geführt, dass man den öffentlichen Ge-
sundheitsdienst vernachlässigt und ihn nicht weiterent-
wickelt hat. All diese Mängel wollen wir mit diesem Ge-
setz beseitigen.

Wir modernisieren sehr umfassend ein Seuchenrecht,
das weitestgehend aus den 50er- und 60er-Jahren stammt.
An dem Punkt sind sich, wenn ich recht informiert bin,
alle Parteien und auch Bund und Länder einig, bei allen
Unterschieden, die wir gegebenenfalls im Detail haben.
Ich will hier ausdrücklich sagen: Dieses Gesetz baut auf
langjährigen Vorarbeiten aus der letzten Legislaturperi-
ode auf, wofür ich ausdrücklich meinem Vorgänger und
der ehemaligen Staatssekretärin Bergmann-Pohl danken
möchte.


(Beifall des Abg. Detlef Parr [F.D.P.])

Selbstverständlich möchte ich mich auch bei den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgesundheitsmi-
nisteriums bedanken. Ich glaube, dazu haben wir allen
Grund; denn sie haben viele Jahre Arbeit investiert.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Lassen Sie mich die wesentlichen Ziele dieses Gesetz-
entwurfes zusammenfassen: Erstens. Wir wollen die Vor-
beugung, die Prävention stärken. Dafür soll etwas aus-
gebaut werden, was einen fast so schwierigen Namen hat
wie der Gesetzentwurf selber, nämlich die Infektionsepi-
demiologie. Wir wollen also unseren Kenntnisstand darü-
ber erweitern, wie groß das Problem ist, wen es betrifft
und wo die Gefahren liegen.

Zweitens wollen wir den öffentlichen Gesundheits-
dienst so verändern – ich habe gerade gesagt, dass hier ein
Versäumnis der letzten Jahre vorliegt –, dass er seinen be-
deutsamen Aufgaben besser nachkommen kann.

Voraussetzung dafür ist, das Meldesystem für über-
tragbare Krankheiten neu zu strukturieren und den ak-
tuellen Erfordernissen anzupassen. Wir wissen inzwi-
schen, aufbauend auf den Erfahrungen mit der Krankheit
Aids, die im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet wor-
den sind – das wird in dieser Debatte sicher noch eine
Rolle spielen –, wie bedeutsam es ist, dass wir neu auf-
tretende übertragbare Krankheiten und Krankheitserreger
erfassen können.

Das Robert Koch-Institut spielt dabei eine wichtige
Rolle; denn dort sollen die Koordinierung der Datenauf-
bereitung und die Analyse erfolgen, natürlich in enger Ab-
stimmung mit den Ländern. Es soll auch ein Knotenpunkt
bei der Beratung sein, wie diese Erkenntnisse umgesetzt
werden können.

Neben der Erweiterung unseres Wissens- und Kennt-
nisstandes kommt auch der Aufklärung über die Verhü-
tung von Infektionsgefahren eine wichtige Rolle zu. Wir
haben den öffentlichen Gesundheitsdienst im Gesetzent-
wurf dazu verpflichtet, diese Aufgabe wahrzunehmen.
Bei den sexuell übertragbaren Krankheiten und der Tu-
berkulose soll den Gesundheitsämtern im Einzelfall sogar
die Behandlungsbefugnis eingeräumt werden. Auch in die
neuen Vorschriften zur Prävention von Geschlechtskrank-
heiten und zur Rolle der öffentlichen Gesundheitsdienste
haben sehr stark die Erfahrungen aus dem Umgang mit
Aids Eingang gefunden.

Es gibt auch veränderte Vorschriften, was die Infekti-
onsverhütung in Krankenhäusern und die Überwachung
medizinischer und sonstiger Einrichtungen, bei denen die
Gefahr der Übertragung von Krankheitserregern besteht,
anbelangt.

Dass der öffentliche Gesundheitsdienst tatsächlich eine
so wichtige Rolle spielen kann, setzt voraus, dass er von
uns dafür besser instand gesetzt wird. Dazu gehört, dass
er von überflüssigen Aufgaben, die ihm in der Vergan-
genheit zugekommen sind, befreit werden muss, indem
man zum Beispiel überflüssige Routineuntersuchungen
wegfallen lässt. Er soll sich auf die wichtigen Aufgaben
konzentrieren können. Zudem setzen wir sehr stark auf
die Eigenverantwortung der Personen; denn wir verlan-
gen von ihnen, dass sie auf die Aufklärung reagieren und
ihr Verhalten entsprechend ändern.

In den Beratungen des Bundestages zu diesem Gesetz
haben wir bereits die allermeisten Vorschläge des Bun-
desrates aufgegriffen. Es wurden auch viele Vorschläge
aus den Fraktionen, und zwar nicht nur aus den Regie-
rungsfraktionen, übernommen. Für diese konstruktive
Beratung möchte ich mich ausdrücklich beim Ausschuss
für Gesundheit bedanken. Ich denke, dass wir in strittigen
Punkten gute Kompromisse erzielt haben,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da haben wir eine etwas andere Meinung!)


so zum Beispiel bei der Frage der Beibehaltung der na-
mentlichen Meldepflicht für Hepatitis-C-Infizierte. Hier
haben wir meines Erachtens einen Weg gefunden, der
ebenso den Interessen der Betroffenen wie der Notwen-
digkeit gerecht wird, über die Verbreitung dieser Infekti-
onskrankheit zu informieren.




Bundesministerin Andrea Fischer

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(C)



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(B)


Vor dem Hintergrund der langen und ausgiebigen Be-
ratung und der vielen Arbeit bitte ich alle Fraktionen um
Zustimmung. Ich appelliere auch an die Bundesländer, die
zügige Verabschiedung dieses Gesetzes zu unterstützen.
Ich glaube, es ist höchste Zeit für die Modernisierung des
Seuchenrechts. Wir haben hier eine hinreichend große ge-
meinsame Grundlage dafür, in diesem Bereich entschei-
dend voranzukommen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410308400
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.


Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1410308500
Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht bei
allen Beteiligten Einigkeit: Wir brauchen das neue Infek-
tionsschutzgesetz mehr denn je. Nach Schätzungen des
Bundesgesundheitsministeriums sind – das haben wir
schon gehört – infektiös verursachte Krankheiten mit ei-
nem Anteil von 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen und
Behandlungen ein erheblicher Kostenfaktor in der ambu-
lanten und stationären medizinischen Versorgung in Deut-
schland. Diese Schätzungen werden auch ungefähr stim-
men. Aber wenn man versucht, die tatsächlichen Kosten
in DM oder Euro herauszufinden, muss man plötzlich mit
Erstaunen feststellen, dass beispielsweise weder der
AOK-Bundesverband noch der VdAK, noch die KVen
oder die KBV ansatzweise über Zahlen zu den von den In-
fektionserkrankungen verursachten Kosten verfügen.

Übrigens nur nebenbei bemerkt: Das beweist, Budgets
können nur undifferenziert zu Rationierungen führen,
wenn keiner Kenntnis von differenzierten Kostenstruktu-
ren hat.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir stehen vor ernsthaften epidemiologischen Proble-
men. Weltweit sind in den vergangenen 20 Jahren mehr
als 30 neue, oft tödlich verlaufende Infektionskrankhei-
ten, wie zum Beispiel Aids oder Ebola, bekannt gewor-
den. Gerade durch die zunehmende Mobilität und Mi-
gration der Menschen müssen wir unser Augenmerk auf
diesen Problembereich richten.

Millionen Deutscher verbringen ihren wohlverdienten
Urlaub im Ausland. Allein 50 Millionen Auslandsreisen
zählte der Deutsche Reisebüro-Verband 1998. Für viele
dieser Auslandsreisen werden infektionsprophylaktische
Maßnahmen empfohlen, beispielsweise für Malaria. Seit
1996 hat es laut Robert Koch-Institut in Deutschland je-
des Jahr etwa 1 000 eingeschleppte Malaria-Erkrankun-
gen gegeben. 1998 wurden 20 Malaria-Todesfälle gemel-
det. 57 Prozent der Erkrankten hatten nach Angaben des
Robert Koch-Instituts überhaupt keine Chemoprophylaxe
vorgenommen. Jeder 350. Tropenheimkehrer leidet nach
der Rückkehr an Hepatitis.

Dass es sich dabei nicht allein um ein epidemiologi-
sches, sondern auch um ein wirtschaftliches Problem han-
delt, zeigt die Tatsache, dass 3 Prozent aller Fernreisenden

von ihrer Reise arbeitsunfähig zurückkehren. Der Anstieg
von Last-Minute-Fernreisen führt wegen unzureichender
präventiver Maßnahmen zu einer gefährlichen Art von
Mobilität. Aber es liegt auch an jedem Einzelnen. Viele
Erkrankungen und damit Kosten sind jedenfalls durch ein
gehöriges Maß an Eigenvorsorge und Prävention ver-
meidbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber auch die Öffnung Europas in Richtung osteu-

ropäische Staaten, vor allem Russland, wird uns in Zu-
kunft vor erhebliche Herausforderungen stellen. Dort tre-
ten vermehrt Fälle von multiresistenter Tuberkulose auf.
1990 lagen zum Beispiel die Tuberkulose-Neuerkrankun-
gen in Russland bei 34 je 100 000 Einwohner; bis zum
Jahre 1997 sind sie auf über 82 je 100 000 Einwohner ge-
stiegen. Nur zum Vergleich: Bei uns liegt die Zahl bei
9,6 je 100 000 Einwohner, bei den in Deutschland leben-
den Ausländern jedoch bei 44. In Teilen Russlands er-
reicht die primäre Medikamentenresistenz nahezu 30 Pro-
zent. Doch auch die Tatsache, dass viele bekannte Erreger
Resistenzen gegen bislang wirksame Mittel, vor allem
Antibiotika, zeigen, bereitet uns erhebliche Sorgen.

Das in den Grundzügen aus dem Jahr 1961 stammende
Bundes- Seuchengesetz sowie das auf eine Vielzahl von
weiteren Gesetzen und Verordnungen verteilte Seuchen-
recht bieten keine zeitgemäße Handhabe mehr. Das liegt
vor allem auch daran, dass auf der bisherigen Basis keine
verlässlichen Daten erhoben werden können, die Rück-
schlüsse auf die Verteilung bestimmter Erkrankungen auf
Bevölkerungsgruppen oder bestimmte Personenkreise zu-
lassen.

Epidemiologisch gesehen, ist Deutschland ein Ent-
wicklungsland. Es ist schon peinlich, dass eine Masern-
epidemie in Mittelfranken statt von deutschen Behörden
zuerst von amerikanischen Wissenschaftlern in Atlanta
entdeckt wurde. Aufmerksam wurden die Amerikaner
durch die Erfassung von aus Deutschland zurückgekehr-
ten amerikanischen Touristen.

Das zeigt: Nur auf einer soliden epidemiologischen
Basis mit funktionierenden Meldewegen kann eine ver-
lässliche Prävention und eine effiziente Bekämpfung von
Infektionskrankheiten erfolgen. Das Robert Koch-Insti-
tut erhält deshalb durch das Gesetz eine Schlüsselfunk-
tion. Es wird durch länderübergreifende Koordinierung
ein epidemiologisches Netz auf Bundesebene aufgebaut
und am europäischen Netzwerk beteiligt. Wie die konkre-
ten Meldewege und auch der Rückfluss von Informatio-
nen, zum Beispiel durch Erarbeitung von Falldefinitio-
nen, aussehen sollen, wird geregelt.

Mir ist ganz wichtig, dass von der Bundesregierung die
erforderlichen zusätzlichen Personal- und Finanzmittel
für die neuen Aufgaben des Robert Koch-Instituts bereit-
gestellt werden. Nur so kann eine wirksame Epidemiolo-
gie aufgebaut und kann auf bedenkliche Entwicklungen
reagiert werden.

Ein solches epidemiologisches Netz ist aber nur wirk-
sam, wenn in den Ländern eine überschaubare und ein-
heitliche Zuständigkeit besteht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist wahr!)





Bundesministerin Andrea Fischer
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(B)


Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme gefordert, die
Gesundheitsämter als Begriff zu eliminieren und durch
nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes
bestimmte Behörden zu ersetzen. Ich halte das für äußerst
problematisch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Die bisherigen Gesundheitsämter haben sich vor allem
in Ihrer Struktur bewährt. Sie haben in der Vergangenheit
umfassende Aufgaben bei der Gefahrenabwehr für den
Einzelnen oder die Allgemeinheit wahrgenommen. In der
deutschen Bevölkerung ist der Begriff Gesundheitsamt
geläufig. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren,
dass mit einer Abschaffung des Begriffs eine Zergliede-
rung und Einsparungen von personellen und sachlichen
Mitteln auf Landesebene einhergehen sollen. Deswegen
sollten die Gesundheitsämter nicht zerschlagen werden
und auch den politischen Einfluss durch die Länder sollte
es nicht geben.

Meine Damen und Herren, nach wissenschaftlichen
Untersuchungen erkranken hierzulande pro Jahr allein
500 000 Menschen an nosokomialen, also in Kranken-
häusern oder durch medizinische Behandlung erworbe-
nen Infektionen. Die Behandlungskosten werden auf
2,5 bis 3 Milliarden DM geschätzt. Ein Großteil dieser
Erkrankungs- und Todesfälle – man schätzt mindestens
175 000 – sind vermeidbar.

Deshalb ist eine Überwachung und statistische Er-
fassung von nosokomialen Infektionen sehr wichtig.
Wir sind uns aber mit den Experten einig, dass zusätzlich
zu den im Gesetz genannten Einrichtungen auch Pflege-
einrichtungen mit krankenhausähnlichem Charakter ein-
bezogen werden müssen. Nur durch ein gezieltes Hygi-
enemanagment mit entsprechenden Fachkräften und eine
gezielte Überwachung durch die Gesundheitsämter kön-
nen diese Infektionsraten tatsächlich reduziert werden.
Die Regierungskoalition ist unseren diesbezüglichen Än-
derungsanträgen nicht gefolgt; ich bedauere das sehr.

Noch ein paar Worte zu den Ärzten: Die gesetzlich vor-
gesehenen Maßnahmen müssen praktisch realisierbar sein
und auf eine Akzeptanz der Risikogruppen und der damit
befassten Berufsgruppen treffen. Vor allem die Akzep-
tanz der Ärzte hinsichtlich Diagnostik und Meldung
führt zu verlässlichen epidemiologischen Zahlen, um be-
stimmte Gefahren frühzeitig zu erkennen und entspre-
chende Maßnahmen einzuleiten.

Durch die Einführung der Laborpauschalen ist eine ge-
genläufige Entwicklung eingetreten. Untersuchungen auf
Diagnostik von Infektionskrankheiten sind um 50 Prozent
zurückgegangen, weil sie auf das Budget der Ärzte ange-
rechnet wurden. Dies wurde jetzt zwar durch eine Reform
der Reform geändert, ob das aber den Zustand beseitigt,
müssen wir erst noch sehr genau beobachten.

Meine Damen und Herren, der Impfschutz hat bei der
Prävention nach wie vor seine Berechtigung. Ein Blick
auf die Kinderkrankheiten in unserem Land veranschau-
licht die Notwendigkeit von Schutzimpfungen. In
Deutschland erkranken jährlich 50 000 Menschen an Ma-
sern. Als Ursache für diese hohe Inzidenz werden vor al-
lem unbefriedigende Durchimpfungsraten angegeben.

Zwar sind mit einer halben Million Schulanfängern
88 Prozent eines Jahrgangs einmal gegen Masern geimpft,
bei der zweiten Impfung werden aber nur bis zu 15 Pro-
zent eines Jahrgangs erreicht.

Impfungen dürfen nicht aus Kostengründen unterblei-
ben. Die Aufklärung eines Patienten über Schutzimpfun-
gen ist zeitintensiv. Die ärztliche Vergütung für Impflei-
stungen ist im Bereich einiger kassenärztlicher Vereini-
gungen inzwischen auf 5,50 DM pro Impfung gesunken.
Wir können uns vorstellen, wohin das führt. Deshalb müs-
sen die Kosten der Impfungen von den Krankenkassen er-
stattet werden, und zwar leistungsgerecht und außerhalb
des Budgets. Dies würde auch die Bereitschaft, sich imp-
fen zu lassen, fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Regierungskoalition hat mit ihrer Ablehnung un-

seres Antrags, Impfungen außerhalb der Budgets zu ver-
güten, deutlich gemacht, dass sie das Gesetz nicht so ernst
nimmt, oder anders gesagt, die Beliebigkeit ihres Han-
delns wird deutlich nach dem Motto: „Was interessiert
mich eigentlich mein Gesetz von gestern?“ Um nicht
falsch verstanden zu werden: Impfungen für Auslands-
reisen gehören auch weiterhin zur Eigenvorsorge und zum
Eigeninteresse der Bürger.

Die Ablehnung der Regierungskoalition, eindeutigere
Regelungen für bestimmte Risikogruppen in § 25 aufzu-
nehmen, wie von uns vorgeschlagen, halte ich ebenfalls
für nicht sachgerecht.

Es gäbe zu diesem umfassenden Gesetz noch sehr viel
zu sagen, aber dazu ist die Redezeit zu kurz. Insgesamt
muss festgestellt werden, dass nur durch eine konsequente
Aufklärung und Prävention, durch rasches und koordi-
niertes Handeln bei Infektionsgeschehen und durch Bün-
deln aller Informationen ein wirksamer Infektionsschutz
gewährleistet werden kann. Ein Gesetz kann immer nur
einen Handlungsrahmen geben. Es ersetzt nicht das ei-
genverantwortliche Handeln sowohl im gewerblichen als
auch im privaten Bereich in der Form, dass die Regeln
hygienischen Verhaltens eingehalten oder verpflichtende
Kontrollen wahrgenommen werden.

Obwohl die Regierungskoalition einigen von uns ein-
gebrachten Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist,
werden wir dem Gesetz zustimmen. Wir wollen die
Blockadepolitik der SPD nicht bei uns fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich dachte, Sie wären von der Sache überzeugt!)


Ich möchte zum Abschluss noch einmal an alle Betei-
ligten appellieren: Nehmen Sie den Infektionsschutz und
die Meldeverpflichtung nicht auf die leichte Schulter,
denn das Gesetz kann nur so gut sein, wie die Akzeptanz
der Beteiligten ist und wie diese nach dessen Vorgaben
handeln.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)





Dr. Sabine Bergmann-Pohl

9687


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(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410308600
Für die SPD-Bun-
destagsfraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang
Wodarg.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1410308700
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es ist noch nicht lange her, da schien
es, als würden die Infektionskrankheiten in Zukunft
keine große Rolle mehr spielen. Als zum Beispiel die
Pocken ausgerottet waren und die Tuberkulose in
Deutschland nicht mehr zu den Volkskrankheiten gerech-
net werden konnte, meinten sogar viele Fachleute, dass
die Seuchengefahr insgesamt für unser Land gebannt sei.

Diese optimistische Auffassung musste in den letzten
Jahren leider – für alle sichtbar – revidiert werden, nach-
dem der Aidserreger weltweit Millionen Menschen infi-
ziert hatte und wir am Beispiel von BSE gelernt haben,
dass der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln und de-
ren Grundstoffen ein erhebliches Risiko darstellt. Das
globale Bevölkerungswachstum und die Migration großer
Bevölkerungsgruppen – darauf hat meine Vorrednerin
schon hingewiesen, und hiermit sind nicht nur die Flücht-
lingsströme, sondern auch die Touristenströme gemeint –
führen jedoch dazu, dass sich einerseits alte Krankheits-
erreger wie zum Beispiel der Tuberkuloseerreger auch in
den Industriestaaten wieder ausbreiten können, anderer-
seits aber neben Aids zunehmend Fälle neuer, zum Teil
bisher unbekannter Infektionskrankheiten auftreten, bei
denen auch die moderne Medizin wenig Hilfe anbieten
kann.

Die ungezielte Anwendung von Antibiotika in der
Medizin – das wurde hier noch nicht angesprochen – und
die Anwendung von antibiotisch wirksamen Stoffen in der
Tiermast haben außerdem dazu geführt, dass Krankheits-
erreger zunehmend resistent gegen die zu ihrer Bekämp-
fung eingesetzten Antibiotika werden. Viele Fälle von un-
gewollter Kinderlosigkeit, Magengeschwüren, Gebär-
mutterhalskrebs und anderen Krankheiten haben sich in
den letzten Jahren als erregerbedingt erwiesen. Es bietet
sich also ein völlig neues Bild der Infektionskrankheiten.

Das aus der Nachkriegszeit stammende Seuchenrecht
wurde deshalb in den letzten Jahren durch viele Einzel-
verordnungen auf nationaler und internationaler Ebene
immer wieder nachgebessert und ist dadurch ein Flicken-
teppich geworden, der kaum noch überschaubar ist. Das
alte Bundes-Seuchengesetz wird seiner Funktion zur Ver-
hütung und Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten
nicht mehr gerecht.

Hinzu kommt – das ist besonders bedrückend –, dass
wir trotz modernster Medizin und modernster Datentech-
nik für viele Infektionskrankheiten auch in Deutschland
nicht wissen, wie hoch die daraus resultierenden Risiken
eigentlich sind. Epidemiologische Daten sind jedoch die
Voraussetzung für wirksame und effiziente Präventions-
maßnahmen und auch für die Planung einer angemesse-
nen Krankenversorgung. Strukturdefizite im Meldesy-
stem und im Risikomanagement hat zum Beispiel schon
der 3. Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch
Blut und Blutprodukte“ des 12. Deutschen Bundestages
warnend herausgestellt. Er forderte damals, dass Risiko-

signale schneller erkannt und unverzüglich Maßnahmen
zum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das neue Infektionsschutzgesetz, welches bereits seit
mehreren Jahren, also auch schon unter der vorherigen
Regierung – wir haben das gehört und gewürdigt –, in in-
tensiver Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
vorbereitet und formuliert wurde, soll heute endlich vom
Deutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedet
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Mitglieder des Gesundheitsausschusses – ich
glaube, dabei kann ich alle einschließen – würdigen des-
halb heute gemeinsam die intensive und fachlich hoch
qualifizierte Vorarbeit all derjenigen, die diese komplexe
Materie zu einem modernen Infektionsschutzgesetz zu-
sammengefasst haben, und danken für die geleistete Ar-
beit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das vorliegende Gesetz trägt neuesten Erkenntnissen
und Entwicklungen Rechnung. Es ist ein Gesetz aus ei-
nem Guss geworden. Es bietet vorbildliche Voraussetzun-
gen für eine wirksame Prävention, für eine frühzeitige
Erkennung und für eine effektive Bekämpfung von Infek-
tionskrankheiten. Das Gesetz macht die Infektionsepide-
miologie zur Grundlage des Infektionsschutzes und nutzt
dabei deutsche positive Erfahrungen ebenso wie interna-
tionale Vorbilder.

Zum Beispiel ist eine zentrale Einrichtung wie das
amerikanische Center for Disease Control für die Zusam-
menfassung der Daten und für den Überblick über die in-
fektionsepidemiologische Lage erforderlich. Es kann mit
seinen hoch qualifizierten Fachleuten gezielten Einzelfra-
gen nachgehen oder als Infektionsfeuerwehr den örtlich
zuständigen Institutionen zu Hilfe kommen.

Ein solches Zentralinstitut wäre jedoch hilflos ohne das
flächendeckende Netz von fachlich gut besetzten Ge-
sundheitsämtern. Die Gesundheitsämter in allen Kreisen
der Republik haben in der Vergangenheit den Infektions-
schutz erfolgreich sichergestellt. Auch das muss man
heute anerkennend würdigen. Sie sind auch heute noch
die Basis für Prävention und Gesundheitsschutz in
Deutschland. Ihre Ortskenntnis, ihr multidisziplinärer
Ansatz mit infektionsepidemiologisch ausgebildeten
Amtsärzten, guten Kontakten zu Krankenhäusern und
niedergelassenen Ärzten, mit erfahrenen Gesundheitsin-
genieuren, die zum Beispiel über die Trinkwasserhygiene
oder die Klimaanlagen wachen, und mit fachlich qualifi-
zierten Gesundheitsaufsehern, die in ihren Bereichen sehr
genau wissen, wo konkrete Gefahren drohen können –
dies alles ist eine nicht zu ersetzende Basis, die wir auch
für den zukünftigen modernen Infektionsschutz nutzen
und erhalten wollen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich wollte heute eigentlich in Schwäbisch-Gmünd sein.
Dort findet nämlich zurzeit der Bundeskongress des Öf-
fentlichen Gesundheitsdienstes statt, der sich am heutigen
Freitag von 16.00 bis 17.20 Uhr mit dem Thema „Schutz
vor Infektionen – eine Schwerpunktaufgabe des ÖGD“
beschäftigen wird. Ich habe das Programm vorliegen,
grüße die sich auf dem Kongress befindlichen Kollegen
und freue mich, dass wir heute die gesetzgeberische
Grundlage für die zukünftige Arbeit der Gesundheitsäm-
ter in Deutschland schaffen können. Deshalb ein Gruß
von hier an die Amtsärzte und das Personal der Gesund-
heitsämter, das sich zurzeit in Schwäbisch-Gmünd mit
demselben Thema befasst!


(Beifall des Abg. Klaus Kirschner [SPD])

Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundesta-

ges und die befragten Fachleute waren sich einig, dass die
Gesundheitsämter unverzichtbare und dezentrale Kompe-
tenzzentren für den Infektionsschutz der Bevölkerung
bleiben müssen. Das Robert Koch-Institut als eine dem
Center for Disease Control in Amerika entsprechende
zentrale Einrichtung soll die Kontaktstelle für die interna-
tionale Zusammenarbeit im Infektionsschutz werden.
Über seine Funktion ist hier schon einiges gesagt worden.
Durch die Schaffung dieses Zentrums und durch das neue
Infektionsschutzgesetz hat Deutschland gleichzeitig sei-
nen Beitrag zur Schaffung eines Netzes für die epidemio-
logische Überwachung und Kontrolle übertragbarer
Krankheiten in der Europäischen Gemeinschaft geleistet
und wichtige Grundlagen für die systematische Erfor-
schung der Zusammenhänge zwischen einer sich rasch
wandelnden Umwelt und dem Auftreten neuer Infekti-
onsrisiken geschaffen.

Dass dieses wichtige Gesetz heute endlich verabschie-
det wird, ist das Verdienst der neuen Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Von der Sache her ist es bedauerlich, dass nicht bereits die
vorige Bundesregierung es für nötig befunden hat, dieses
Gesetz aus ihren Aktenschränken heraus ins Parlament zu
bringen. Das hätte schon längst geschehen können. Wir
hatten schon längst damit gerechnet, nachdem Herr
Minister Seehofer es versprochen hatte.

Als jemand, der viele Jahre mit dem alten Bundes-Seu-
chengesetz und den dazugehörigen Einzelregelungen le-
ben musste,


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist nicht spurlos an Ihnen vorübergegangen!)


– ja, das stimmt – weiß ich, wie sehnsüchtig viele meiner
ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis auf
das neue Infektionsschutzgesetz gewartet haben. Natür-
lich gibt es auch Vertreter des öffentlichen Gesundheits-
dienstes – sie haben sich auch lautstark bemerkbar ge-
macht –, die vieles lieber so gelassen hätten, wie sie
es gewohnt waren. Tausende von fragwürdigen Routine-
untersuchungen bei Lehrern, Erziehern, Küchenpersonal
und Prostituierten täuschten aber eine falsche Sicherheit
vor. Sie sind aus infektionsepidemiologischer Sicht nicht
mehr zu rechtfertigen. Jede Untersuchung, die gemacht

wird, aber nicht notwendig ist, ist bei denjenigen, die un-
tersucht werden, ein Akt der Körperverletzung, wenn es
sich zum Beispiel um eine Blutentnahme oder eine Rönt-
genaufnahme handelt. Wir sind froh, dass dies ein Ende hat.

Einzelne Amtsärzte werden vielleicht den Wegfall die-
ser Basisauslastung ihres Amtes bedauern. Aber auch sie
werden feststellen können, dass ihnen durch das vorlie-
gende Gesetz sowohl fachlich als auch organisatorisch
eine beträchtliche Hilfestellung geleistet wird. Den neuen
Infektionsrisiken, den Erfordernissen des modernen In-
fektionsschutzes wird auch die Arbeit der Gesund-
heitsämter in Zukunft besser gerecht werden können.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU])


Das neue Infektionsschutzgesetz ist ein umfangreiches
und fachlich komplexes Gesetzeswerk, welches durch
langjährige Vorarbeit und breite Beteiligung aller Fach-
kreise gereift ist. Es stellt für die Gesundheit und die
Sicherheit der Bevölkerung eine wesentliche Verbesse-
rung dar. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Bundes-
rat – ich schließe mich den Wünschen meiner Vorrednerin
an – ebenfalls dazu beiträgt, dass die letzte Hürde für die
Arbeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes, des Gesund-
heitsschutzes, möglichst schnell passiert wird, damit wir
der Bevölkerung sagen können, dass sie sich vor Infekti-
onskrankheiten zu Recht sicher fühlen kann.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410308800
Ich gebe für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Detlef Parr das Wort.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1410308900
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Infektionsschutz ist in den letzten Jahr-
zehnten aus dem Gesichtsfeld der öffentlichen Diskussion
geraten. Die großen Seuchen galten als ausgerottet oder
man wähnte sie unter Kontrolle. Zu Unrecht, wie es sich
gerade in letzter Zeit gezeigt hat. Ohnehin bezog sich
diese vermeintliche Sicherheit nur auf den westeuro-
päischen Raum. Welche neuen Gefahren in einer Welt der
kurzen Wege lauern, ist uns allen jüngst durch einige sehr
tragische Fälle vor Augen geführt worden. Frau Ministe-
rin hat darauf hingewiesen.

Eine breite öffentliche Diskussion um einen verbesser-
ten Seuchenschutz tut deshalb Not. Die Anhörung hat ge-
zeigt, dass in einem Bereich besondere Sorglosigkeit herr-
scht: Das ist der Bereich des Impfens. Für viele Men-
schen hat das Impfen nicht mehr die Bedeutung, die es
haben sollte. Die Eigenverantwortung wird in diesem Be-
reich nicht hinreichend übernommen. Das ist eine sehr be-
dauerliche Entwicklung. Zu der großen Mobilität der
Menschen kommt hinzu, dass viele Erreger heute beson-
ders aggressiv sind und ihre Gestalt rasch verändern. Her-
kömmliche Therapieformen schlagen dann nicht mehr an.
Leichtsinn in der Bevölkerung und gerade auch bei den
Weltenbummlern trifft also mit einem erhöhten Gefähr-
dungspotenzial besonders ungut zusammen. Außerdem




Dr. Wolfgang Wodarg

9689


(C)



(D)



(A)



(B)


konnte man in manchen Fällen den Eindruck gewinnen,
dass in Deutschland nicht schnell und nicht zielgerichtet
genug mit Verdachtsfällen umgegangen wird. Offenbar
gibt es hier Strukturdefizite. Tatsächlich muss die Zu-
sammenarbeit in der Bundesrepublik und auf europä-
ischer und internationaler Ebene verbessert werden, müs-
sen Früherkennungsmaßnahmen mit der Bereitstellung
des Expertenwissens und adäquaten Behandlungsmög-
lichkeiten gekoppelt werden.

Das Gesetz ist in weiten Bereichen für uns akzeptabel.
Ich muss aber ein bisschen Wasser in den Wein schütten.
Sie zwingen uns dennoch zur Ablehnung. Als Hauptgrund
nenne ich die namentliche Nennung von Hepatitis-
erkrankungen.Meine Damen und Herren, Aidserkrankte
werden aus guten Gründen nicht namentlich erfasst.
Warum dann eine namentliche Meldung bei Hepatitis?
Der Nutzen einer solchen Meldung steht nach Auffassung
der F.D.P. in keinem Verhältnis zu den möglichen erheb-
lichen Nachteilen für die Betroffenen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das kann uns keiner sagen. Es ist nicht auszuschließen,
dass sie zusätzlich zur Krankheit eine gesellschaftliche
Stigmatisierung erleiden müssen. Da hilft auch eine Lö-
schung der Daten nach drei Jahren nicht, denn wer zum
Beispiel einmal am Arbeitsplatz ins Gerede gekommen
ist, wird dieses Stigma niemals wieder los. Einmal diskri-
miniert, immer diskriminiert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Und das alles, wo doch überhaupt keine besonderen Maß-
nahmen zum Schutz der Bevölkerung möglich sind. Ein
solch weitreichender Eingriff in die Intimsphäre ist aus
unserer Sicht nicht zu rechtfertigen.

Demgegenüber sehen wir bei der immer größeren Zahl
von Individualreisen in gefährdete Gebiete zumindest
verstärkten Aufklärungsbedarf. Das haben meine Vor-
rednerinnen und Vorredner schon angesprochen. Viele
Menschen reisen viel zu sorglos und ohne eine angemes-
sene Vorbereitung in die Welt. Hierauf sollten wir ein be-
sonderes Augenmerk richten. Ich bin gespannt, wie die
Reisebüros mit der ihnen auferlegten Aufklärungspflicht
zurechtkommen.

Die Verbesserung der sachgerechten Behandlung von
Infektionskrankheiten impliziert selbstverständlich auch
die Modifizierung der Aus- und Weiterbildung in die-
sem Fachgebiet. Der Infektologie sollte an den Hoch-
schulen und bei der Ausbildung in medizinischen Fach-
berufen wieder mehr Platz eingeräumt werden.
Üblicherweise sind es nämlich nicht die Spezialisten, son-
dern die Hausärzte, die als Erste mit seltenen Krankheits-
bildern konfrontiert werden. Gerade deshalb ist es enorm
wichtig, dass die Hausärzte schnell den richtigen Verdacht
schöpfen und schnell die richtigen diagnostischen und
therapeutischen Maßnahmen einleiten können.

Zu guter Letzt sollte die Materie flächendeckend Ein-
gang in die Lehrpläne der Schulen finden. Dort können
wir die Grundlage für das Wissen um Infektionen und um
den Schutz vor Infektionen schaffen. Ein solches Wissen

muss wieder zum Allgemeingut in unserer Gesellschaft
werden.

Zwei kurze Zusatzbemerkungen: Frau Fischer hat ge-
sagt, dass sie den öffentlichen Gesundheitsdienst stär-
ken möchte. Warum nehmen Sie dann die Pflichtuntersu-
chungen für Prostituierte aus dem Gesetz heraus? Warum
nehmen Sie die Pflichtuntersuchung für Verkäuferinnen
und Verkäufer im Lebensmittelbereich aus dem Gesetz
heraus? Wir halten die Lebensmittelsicherheit aus guten
Gründen besonders hoch. Hier begehen Sie aus unserer
Sicht einen Fehler. Deshalb können wir Ihrem Gesetzent-
wurf nicht zustimmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410309000
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1410309100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die Verhütung und die Bekämpfung der In-
fektionskrankheiten zu verbessern ist das Ziel des Ge-
setzentwurfes. Das ist zu begrüßen. Flüchtlingsströme,
Kriege, ein zunehmender Reiseverkehr, wachsende Anti-
biotikaresistenzen und viele weitere Faktoren haben neue
Risiken geschaffen. Alte, schon unter Kontrolle geglaubte
Probleme sind wieder akut geworden. Neue Krankheiten
wie Aids und BSE zeigen die Gefahren auf, die von In-
fektionskrankheiten ausgehen.

Auf der anderen Seite sind in der Vergangenheit ernst-
hafte Defizite im Kampf gegen die ansteckenden Krank-
heiten entstanden. Ich nenne als Beispiele nur den nach-
lässigen Umgang mit der Meldepflicht, eine zurückblei-
bende Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens
und den unzulänglichen Impfstatus der Bevölkerung.

Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass in
dem vorliegenden Gesetzentwurf notwendige und zweck-
mäßige Antworten auf viele dieser angestauten Probleme
gegeben werden. Dazu zählen ein modernisiertes Melde-
system, die bessere Vernetzung der Institutionen des In-
fektionsschutzes oder die Schaffung einer kompetenten
Zentrale, des Robert Koch-Instituts. Es ist auch konse-
quent, die Personal- und Sachmittel des Robert Koch-In-
stituts aufzustocken, damit es seiner künftigen Aufgabe
als Leitinstitution gerecht werden kann.

Durch die Beratungen im Ausschuss ist es gelungen,
das Gesetz in wichtigen Punkten zu verbessern. Zu be-
grüßen ist, dass die wichtige Rolle, welche die Gesund-
heitsämter auf dem Gebiet des Infektionsschutzes aus-
zufüllen haben, nicht verwässert, sondern insgesamt deut-
licher herausgehoben wurde. Wünschenswert wäre
allerdings, wenn von der Beratung dieses Gesetzes im
Deutschen Bundestag auch Signale in Richtung personel-
ler und finanzieller Stärkung der Gesundheitsämter aus-
gehen würden.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Detlef Parr
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(C)



(D)



(A)



(B)


Wichtig ist, dass der Ausschuss die Regelungen für den
Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Al-
ten- und Pflegeheimen weiter verschärft hat. Dazu gehört
der von uns eingebrachte und mehrheitlich angenommene
Vorschlag, Hygienepläne als innerbetriebliche Instru-
mente des Infektionsschutzes verbindlich in das Gesetz
aufzunehmen.

Allerdings bleibt nach unserer Meinung fraglich, ob
die für den Impfschutz vorgesehenen Bestimmungen
ausreichen, um die seit längerem beklagten Defizite zu
beseitigen. Diese Defizite sind auch schon von meinen
Vorrednern angedeutet worden. Fortschritte auf diesem
Gebiet verlangen vor allem eine verbesserte Organisation.
Der Übergang von Impfempfehlungen zu verbindlicheren
Impfprogrammen, die politisch gemeinsam getragen und
von der Öffentlichkeit akzeptiert werden, könnte dafür ein
entscheidender Anstoß sein. Wir bedauern, dass dieser
Vorschlag keine Mehrheit gefunden hat.

Abschließend ist festzustellen, dass dieses Gesetz viele
Verbesserungen für die Bekämpfung von Infektions-
krankheiten bringt. Wir stimmen ihm deshalb zu.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410309200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften auf den
Drucksachen 14/2530 und 14/3194. Ich weise darauf hin,
dass 33 Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion eine Erklärung zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben. Diese Er-
klärung wird zu Protokoll genommen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenom-
men.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist ebenso wie in der zweiten Beratung mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3194 die
Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Ent-
schließung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der F.D.P. angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten

Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-
zes
– Drucksachen 14/2292, 14/2355 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)

– Drucksache 14/3320 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann -Mauz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus ist
damit einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Horst Schmidbauer für die SPD-Fraktion das
Wort.


Horst Schmidbauer (SPD):
Rede ID: ID1410309300
Herr Präsi-
dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute
die 10. AMG-Novelle verabschieden, dann ist kein Jubel-
tag; denn mit diesem Gesetz schultern wir eine Altlast der
Regierung Kohl. Es ist kein Jubeltag, weil es sich um ein
Reparaturgesetz handelt, mit dem 14 000 Altarzneimittel
einer gemeinschaftskonformen Nachzulassung zugeführt
werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es handelt sich um Altarzneimittel, die in ihrem Leben
noch nie eine Prüfung durchlaufen haben.

Dennoch haben wir Grund zur Freude, weil wir eine
Reparatur erfolgreich abschließen konnten. Wir haben Grund
zur Freude, weil damit eine Altlast fachgerecht entsorgt
werden kann. Sie kann so fachgerecht entsorgt werden,
dass sich die Europäische Kommission nicht mehr
genötigt sieht, das Vertragsverletzungsverfahren gegen
die Bundesrepublik Deutschland fortzuführen. Außer-
dem haben wir Grund zur Freude, weil es uns mit der
10. AMG-Novelle gelungen ist, im Dreieck der Anforde-
rungen von Brüssel, von den Herstellern und von den Ver-
brauchern so etwas wie einen Königsweg zu finden.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies war dringend geboten; denn mit dem Erlass der Eu-
ropäischen Kommission vom 21. Oktober 1998 sind die
14 000 deutschen Altpräparate auf dem europäischen
Markt „illegal“. Handlungspflicht war also da.

Mit diesem erfolgreichen Reparaturansatz dürfen wir
nicht einfach über die Ursachen und den Auslöser für das
Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische
Kommission hinwegtäuschen. Die Europäische Kommis-
sion sah sich genötigt, dieses Vertragsverletzungsverfah-
ren gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten,
um die Harmonisierung des deutschen Arzneimittel-
gesetzes mit dem europäischen Arzneimittelrecht zu er-
zwingen. Das ist schon beschämend; denn Deutschland ist
der einzige Mitgliedstaat, der seinen gemeinschaftsrecht-
lichen Verpflichtungen auf dem Arzneimittelsektor nicht
nachgekommen ist.




Dr. Ruth Fuchs

9691


(C)



(D)



(A)



(B)


Von der Europäischen Kommission wissen wir: Es
muss ein stringentes und plausibles Gesamtpaket für die
Angleichung unseres Arzneimittelrechts an das Arznei-
mittelrecht der Gemeinschaft vorgelegt werden. Das
Nachzulassungsverfahren muss so schnell wie möglich
abgeschlossen werden; sonst würde die Europäische
Kommission das Vertragsverletzungsverfahren fortset-
zen. In diesem Fall müsste die Bundesrepublik damit
rechnen, Tag für Tag eine Million Erzwingungsgeld zu be-
zahlen. Deshalb ist der Versuch der Opposition zu durch-
sichtig. Sie ignorieren diese Millionen- oder Milliarden-
bedrohungen aus Brüssel in unverantwortlicher Weise.
Damit wollen Sie – nur so ist Ihr Verhalten verständlich –
von der Unverantwortlichkeit der alten Regierung ablen-
ken.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Vorsichtig!)


Denn unbestritten steht fest, dass die alte Bundesregie-
rung gegen die Handlungspflicht, die in der Richtlinie
65/65 EWG festgelegt ist, grob fahrlässig verstoßen hat.
Letzter Stichtag aus dieser Richtlinie war der 30. April
1990. Den Sachverhalt aber kennt man schon seit 23 Jah-
ren. Bis zu ihrer Abwahl hat die alte Regierung diese Alt-
last also in bewährter Weise schlichtweg ausgesessen.

Heute stellen wir fest, dass die alte Regierung unter
Seehofer mit der 2004er Regelung Europa regelrecht pro-
voziert hatte Mit dieser Regelung hat Herr Seehofer bei
Rücknahme des Nachzulassungsantrages durch den Her-
steller eine Abverkaufsfrist für die Arzneimittel bis 2004
gewährt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben an deutsche Arbeitsplätze gedacht!)


Die Folgen – das sehen wir – haben in Brüssel nicht auf
sich warten lassen: Die Europäische Kommission zwingt
nun die Bundesrepublik, diese seehofersche 2004er Rege-
lung abzuschaffen. Aus diesem Grund können Sie sich
Ihre Ratschläge sparen. Ihre Vorschläge geben keine Ga-
rantie dafür, die millionen- oder milliardenschwere Be-
drohung aus Brüssel abzuwenden.

Ich bin sicher, dass wir im Hinblick auf den Wettbe-
werbsverstoß in Europa durch die Interessenabwägung
zwischen den Erfordernissen der betroffenen Pharmafir-
men und dem erforderlichen Verbraucherschutz die rich-
tige Lösung gefunden haben, um Brüssel von unserem
Handeln überzeugen zu können. Durch diese Überzeu-
gung können wir erreichen, dass das eingeleitete Ver-
tragsverletzungsverfahren der Europäischen Union gegen
die Bundesrepublik eingestellt wird.

Ob der Weg der 10. AMG-Novelle allerdings trägt,
wird nicht allein von der Kommission und auch nicht al-
lein von der Generaldirektion abhängig sein, sondern
auch von den Herstellern in Europa und in Deutschland.
Warum sage ich dies? Wir wissen heute, dass es nicht vor-
rangig die Kommission war, die in dieser Frage aktiv
wurde; es waren vielmehr Wettbewerbsfirmen aus Eu-
ropa, aber auch Wettbewerbsfirmen aus Deutschland, die
bei der Kommission vorstellig geworden sind und diese
Aktivität erzwungen haben. Deshalb müssen wir im Ge-
setzgebungsverfahren sehr sorgfältig und in Stufen abwä-

gen und ausloten, wie weit wir Wünschen und Interessen
der betroffenen Firmen entsprechen können, ohne dass
wir in die Gefahr kommen, dass das Vertragsverletzungs-
verfahren fortgesetzt wird.

Die Prioritätenabfolge unseres Handelns in der Koali-
tion ist also der der Opposition genau entgegengesetzt. An
erster Stelle steht das Ziel, Millionen- oder Milliarden-
schaden von der Bundesrepublik abzuwenden. Damit
aber keine Missverständnisse auftreten und keine Legen-
den entstehen: Auch wir treten für die Pluralität des
Arzneimittelangebotes ein, allerdings in dem Rahmen,
den das Gemeinschaftsrecht abgesteckt hat. Deshalb ha-
ben wir zum Beispiel die Richtlinie 92/73 EWG für
homöopathische Arzneimittel in die 10. AMG-Novelle
eingearbeitet.

Längerfristig können wir den Anhängern der besonde-
ren Therapierichtungen allerdings die Perspektive ver-
mitteln, dass die Präparate, die wegen des fehlenden
Nachweises ihrer therapeutischen Wirksamkeit ihre Ver-
kehrsfähigkeit verlieren, als „Gesundheitspflegemittel“
wieder zur Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD)

Das setzt aber voraus, dass auf der Ebene der Europä-
ischen Union ein Markt für Gesundheitspflegemittel ent-
steht. Für nationale Alleingänge gibt es – das haben wir in
Brüssel feststellen können – keinen Raum. Deshalb un-
sere Bitte an Sie, Frau Ministerin, bei der Entwicklung ei-
ner Richtlinie für Gesundheitspflegemittel, an die man in
Brüssel große Erwartungen hat, aktiv mitzuwirken, damit
wir hier ein Stück vorankommen.

Die Europäische Kommission hat – wie wir im Ge-
sundheitsausschuss feststellen konnten – bereits eine Pro-
jektgruppe eingerichtet, die das Ob und das Wie eines sol-
chen Marktes vorklären soll. In Brüssel konnte ich fest-
stellen, dass man an einer Zu- und Mitarbeit gerade aus
Deutschland aufgrund der hohen Erfahrungswerte höchs-
tes Interesse hat. Deswegen unterstützen wir die Schaf-
fung eines europäischen Gesundheitspflegemittelmark-
tes.

Unabhängig davon haben wir eine ganze Reihe von
Anregungen von Sachverständigen, von Pharmafirmen
und von Verbänden aufgegriffen und entsprechende Än-
derungsanträge eingebracht: die Frist auf ein Jahr verlän-
gert, innerhalb deren Arzneimittelhersteller Mängel ihrer
Nachzulassungsanträge beseitigen müssen; die Möglich-
keit, dass Mängel der Nachzulassungsunterlagen vorran-
gig durch Auflagen beseitigt werden, um schneller voran-
zukommen; die Nachzulassung auf der Grundlage von
Arzneimittelzulassungen in anderen europäischen Mit-
gliedstaaten verfahrensmäßig zu erleichtern; eine Über-
gangsregelung für homöopathische Arzneimittel; eine
Übergangsregelung für Kombinationsarzneimittel.

Nicht vergessen wollen wir, die 10. AMG-Novelle
auch einen entscheidenden Beitrag für die Verbesserung
der Qualität der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung
leistet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo denn?)





Horst Schmidbauer (Nürnberg)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Interessant ist in diesem Zusammenhang – das wird deutlich,
wenn man sich die Synopse zu diesem Gesetz ansieht –, dass
Transparenz und Verbraucherschutz für die Opposition
Fremdworte geblieben sind.

Wir haben uns zwar entschieden, den Begriff „Alt-
arzneimittel“ herauszunehmen, weil er in dieser Form
ohne Erklärung diskriminierend wirken könnte. Aber wir
mussten feststellen, dass wir selbst für den jetzt nicht auf
der Verpackung, sondern lediglich auf dem Beipackzettel
befindlichen Hinweis „Dieses Arzneimittel ist nach den
gesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die be-
hördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirk-
samkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlos-
sen.“ keine Zustimmung vonseiten der Opposition im In-
teresse von Transparenz und Verbraucherschutz erwarten
können.

Zum Schluss möchte ich noch eines deutlich machen:
Ich richte meine Bitte vor allem an das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte und seine Ver-
antwortlichen in Berlin bzw. Bonn. Dieses Institut ist ver-
pflichtet, seiner Aufgabenstellung besser gerecht zu wer-
den. Es ist nicht einsichtig, dass das BfArM trotz der jet-
zigen Personalausstattung, die von 200 Stellen im Jahre
1980 auf 900 Stellen 1995 gesteigert wurde und noch um
70 weitere Stellen gesteigert werden soll, immer noch
keine optimalen Zeiten für die Nachzulassung erreicht
hat. Es soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass man bei
neuen innovativen Produkten dem Ziel schon sehr nahe
gekommen ist. Aber es ist bei dieser Personalausstattung
einfach nicht hinnehmbar, dass das gleiche Ziel nicht auch
bei der Nachzulassung erreicht wird.

Sie sehen also, Reparatur alleine beseitigt nicht alle
Altlasten. Es gibt noch viel zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410309400
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.


Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1410309500
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Schmidbauer, dass Sie heute Grund zur Freude haben,
freut natürlich auch uns. Wie lange diese Freude aller-
dings anhalten wird, ist eine andere Frage. Wenn sie so
kurzweilig ist wie bei den letzten gesundheitspolitischen
Reformgesetzen, die Sie hier im Hause eingebracht ha-
ben, kann sie ja nicht so wahnsinnig lange währen. Im
Mittelpunkt unseres politischen Handelns steht nicht die
Europäische Kommission, sondern der Mensch in der
Bundesrepublik Deutschland,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

sei er Patient oder Beschäftigter im Bereich der pharma-
zeutischen Industrie.

Wer über die 10. AMG-Novelle reden will, darf nicht
über die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung
schweigen. Was hier an Stabilität, Vertrauen und sozialer
Gerechtigkeit kaputt gemacht worden ist, haben selbst

Leute mit den dunkelsten Visionen nicht für möglich ge-
halten. Auch wir haben Ihnen ja einiges zugetraut, aber
beim besten Willen nicht so ein rücksichtsloses kaltes Po-
litikverständnis. Wo bleiben soziale Gerechtigkeit und In-
novation – wir erinnern uns? Dank Ihrer patienten- und
mittelstandsfeindlichen Marktbereinigungskonzeptionen
stehen wir heute vor einer nachhaltig unsoliden Gesund-
heitspolitik. Das fängt bei Ihren mittlerweile sprichwört-
lichen Fehlern an, geht über koalitionsinterne Streitereien
und endet bei permanenten Nachbesserungen.

Die Gesundheitsreform 2000 ist schon nach wenigen
Monaten wieder reformbedürftig. Die Kollektivhaftung
für Budgetüberschreitungen stehe auf tönernen Füßen
und sei ein untaugliches Steuerungsinstrument, so heißt es
in einem internen Arbeitspapier der SPD-Arbeitsgruppe
Gesundheit.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!)

Die Pflegekasse wird durch Ihren ungenierten Griff in die
Rücklagen selbst zum Pflegefall. Jetzt legen Sie uns in
Form der 10. Novelle zum Arzneimittelgesetz eine Geset-
zesvorlage vor, die es wahrlich in sich hat.

Ein erster Durchbruch schien bei der 10. AMG-No-
velle geschafft. Nach mehrwöchigen Beratungen des Ge-
sundheitsausschusses, nach Anhörung der Sachverständi-
gen und nachdem wir von CDU/CSU konstruktive eigene
Anträge zu Ihrem Entwurf eingebracht haben, sind Sie
nach mehreren langwierigen, schwierigen Anläufen zu-
mindest teilweise auf Unionskurs umgeschwenkt. Sie ha-
ben einige unserer Positionen übernommen, aber den Kö-
nigsweg, von dem Sie, Herr Schmidbauer vorher gespro-
chen haben, haben Sie nicht erreicht.
Sie sind auf halbem Wege stecken geblieben. So sind es
nur oberflächliche Schönheitsreparaturen, die Sie hier
eingebracht haben. Substanziell bringt das meist nichts.
Aber immerhin konnten wir ein paar schlimme Brocken
verhindern.

Seit einigen Wochen liegen die Fakten auf dem Tisch.
Schon längst hätte die 10.AMG-Novelle abschließend be-
raten werden können. Doch dann gab es bei Rot-Grün er-
neuten Beratungsbedarf.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Stellen Sie sich einmal Ihrer Verantwortung!)


Unsere Argumente zeigten Wirkung; man merkt es auch
jetzt. Die Verwirrung auf Ihrer Seite wurde größer.

Dabei ist das Ganze – beruhigen Sie sich wieder! – gar
nicht so schwierig.


(Susanne Kastner [SPD]: Wir regen uns nicht auf!)


Es geht um die Beschleunigung bei der Nachzulassung
von Arzneimitteln. In der Zielsetzung stimmen wir ja mit
Ihnen überein. Allein der Weg, den Sie hier beschreiten
wollen, ist bei bestem Willen nicht gangbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn Sie gehen ganz bewusst – ich sage das sehr
deutlich – über die Beanstandungen der Europäischen




Horst Schmidbauer (Nürnberg)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Kommission hinaus. Wir haben entsprechende Stellun-
gnahmen bei unserem gemeinsamen Besuch in Brüssel
gehört.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Das muss eine andere Veranstaltung gewesen sein!)


Hier sollen zahlreiche Arzneimittel vom Markt ver-
schwinden. Da kann ich nur sagen: Die Moorhühner
schießen zurück und gefährden jetzt in letzter Kon-
sequenz und in dramatischer Weise eine ganze Reihe von
mittelständischen Unternehmen, von Arbeitsplätzen, und
sie gefährden nicht zuletzt die Therapievielfalt in unserem
Land.

Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier klipp und klar zu
sagen: Wenn Sie die 10. AMG-Novelle heute so, wie sie
jetzt auf dem Tisch liegt, nach Ihren verqueren Vorstel-
lungen beschließen, dann gibt es morgen mindestens ein
Dutzend Unternehmen, die große wirtschaftliche Schwie-
rigkeiten haben. Sie betreiben hier eine knallharte Markt-
bereinigung durch die Hintertür. Sie tun zwar immer an-
ders, aber in Wirklichkeit wollen Sie die alternativen Arz-
neimittel nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Was wollen Sie denn nun?)


Weil Sie nicht an den entsprechenden Beratungen im
Gesundheitsausschuss teilnehmen, will ich Ihnen das hier
ganz konkret an drei Punkten aufzeigen:

Der erste Punkt. Derzeit dürfen zurAbhilfe von Män-
geln im Nachzulassungsverfahren Änderungen der arz-
neilich wirksamen Bestandteile vorgenommen werden.
Diese Änderungsmöglichkeiten wollen Sie jetzt abschaf-
fen. Wenn also das BfArM bei einem Arzneimittel hin-
sichtlich der Zusammensetzung etwas bemängelt und der
Hersteller daran nichts mehr ändern darf, dann wird die
Zulassung automatisch versagt. Das Arzneimittel ver-
schwindet vom Markt.

Von einer solchen Streichung besonders betroffen sind
vor allem Kombinationspräparate. Versetzen Sie sich
doch einmal in die Lage eines Unternehmers, der seit Jah-
ren ein bewährtes Produkt hat, das er nachzulassen will
und muss! Beim BfArM konnte sein Antrag bislang nicht
bearbeitet werden. Von sich aus kann er keine Änderun-
gen vornehmen, weil nach wie vor unklar ist, welche Kri-
terien für die Kombination gelten. Eine Änderung der Zu-
sammensetzung im Vorgriff eines Mängelbescheides ist
ihm damit nahezu unmöglich. Die Änderung im Nach-
hinein soll jetzt verboten werden. Was hat dieses mit
Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung zu tun?
Überhaupt nichts! Es ist praxisfern, rechtlich höchst be-
denklich und wirtschaftlich absolut katastrophal.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Marktbereinigung durch die Hintertür!)


Mit dieser Streichung machen Sie, Frau Fischer, eine
ganze Palette alternativer Medizinpräparate kaputt. Die
SPD will die Schulmedizin; das wissen wir. Aber warum
gerade die Grünen – nach der Positivliste zum zweiten
Mal – gegen die Alternativmedizin vorgehen, müssen Sie
Ihren Wählerinnen und Wählern schon einmal erklären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Naturheilpräparate – phytotherapeutische, homöo-
patische, anthroposophische Arzneimittel – sind keine
medizinischen Second-Hand-Arzneien, Frau Ministerin.
Es sind zum Teil seit Jahrzehnten bewährte Produkte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bereits mit der Positivliste werden Sie eine ganze

Reihe von Arzneimitteln aus dem Sortiment nehmen. Man
kann diese Präparate dann zwar noch bekommen, aber
nicht auf Krankenschein, sondern nur gegen Bares. Das
hat mit sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen we-
nig zu tun.

Doch jetzt schlagen Sie erst richtig zu. Mit der
10. AMG-Novelle wollen Sie Hunderte von Produkten
praktisch verbieten. Das heißt, diese Präparate ver-
schwinden völlig vom Markt; sie sind damit weg. Wissen
Sie überhaupt, was Sie tun? Ich frage Sie: Warum wollen
Sie ohne Not – nur so nebenbei – Änderungsmöglichkei-
ten streichen, anstatt die Kooperation zwischen den
Herstellerfirmen und den staatlichen Behörden zu verbes-
sern? Warum können wir hier nicht von den USA lernen?
Dort arbeiten Hersteller und FDA bereits im Vorgriff ei-
nes möglichen Mängelbescheides konstruktiv zusammen.
So muss es erst gar nicht zu formalen Bescheiden kom-
men.

Wie wir wissen, fliegt die Ministerin demnächst in die
USA zur FDA. Wenn Sie schon nicht uns glauben, dann
lassen Sie sich wenigsten dort einmal erklären, wie man
besser vorgehen kann.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Hätten Sie es doch selbst gemacht in den letzten Jahren!)


Der zweite Punkt: Um das Nachzulassungsverfahren
zu beschleunigen, wollten Sie die Frist zur Mängelbesei-
tigung von 18 auf – man höre und staune – sechs Monate
verkürzen. Dies haben wir noch halbwegs umbiegen kön-
nen. Ihre Fristenregelung war am Anfang viel zu kurz, da
waren wir uns mit den Sachverständigen einig. Innerhalb
von sechs Monaten wäre nämlich eine Mängelbeseitigung
praktisch ausgeschlossen.

Nehmen Sie zum Beispiel Bioäquivalenzstudien oder
klinische Studien. Wenn dort Mängel auftreten in der Zu-
lassungspraxis, die sich aufgrund der Interpretation der
Studienergebnisse der Behörde ergeben, dann wären
sechs Monate einfach zu wenig, um die Mängel zu behe-
ben. Sie können solche Studien unter keinen Umständen
in sechs Monaten qualifiziert durchführen.

Auch hat es nicht der Hersteller zu verantworten, wenn
von der Zulassungsbehörde noch kein Mängelbescheid
ergangen ist. Eine Frist von sechs Monaten wäre keine
Novellierung, sondern – ich muss es Ihnen an dieser Stelle
nochmals sagen – kalte Marktbereinigung durch die Hin-
tertür.

Wir forderten in unserem Antrag von Anfang an eine
Frist von zwölf Monaten. Das ist ausgewogen. Die Frist
beschleunigt das Verfahren, aber sie überfordert die Her-
steller nicht. Es kann nicht sein, dass Rot-Grün bei jedem
gesundheitspolitischen Schritt an den Interessen der Pati-
enten vorbeigeht und gegen den Mittelstand auftritt. Das




Annette Widmann-Mauz
9694


(C)



(D)



(A)



(B)


haben wir im Ausschuss immer wieder deutlich gemacht
und wir haben auch da die besseren Argumente auf unse-
rer Seite.

Gott sei Dank übernehmen Sie jetzt unsere Position der
Zwölfmonatsfrist.Aber leider war der Hintergrund wohl
eher eine Laune von Kanzler Schröder, der irgendwo von
dem Unsinn in Ihren Reihen gehört haben muss und of-
fenbar gesagt hat: Dann lassen wir doch eben mal sechse
zwölf sein. Aber das befriedigt uns überhaupt nicht, denn
hier regiert Laune und nicht Einsicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Große Sprüche machen und zehn Jahre nichts getan!)


– Ich argumentiere hier Punkt für Punkt im Blick auf Ihr
Gesetz.

Aber auch bei zwölf Monaten muss aus unserer Sicht
ein Nachreichen von Unterlagen im Rechtsmittelverfah-
ren noch zulässig sein. Ihre Novelle sieht vor, dass zum
Beispiel im Klageverfahren keine neuen Unterlagen mehr
vorgelegt werden dürfen.

Wir haben hier nicht nur verfassungsrechtliche Beden-
ken, auch von der Sache her bringt das nichts. Sie werden
es noch erleben und ich sage es Ihnen heute schon voraus:
Wenn Sie die Präklusion einführen, um die Verfahren zu
beschleunigen, erreichen Sie das glatte Gegenteil. Auf-
grund Ihrer Präklusion wird es zu vollständig neuen Zu-
lassungsverfahren kommen. Durch diese Verzögerung
entstehen nicht nur ein erheblicher wirtschaftlicher Scha-
den bei den Unternehmen und auch eine Mehrbelastung
beim BfArM, sondern es werden den Patienten mögli-
cherweise wichtige Arzneimittel zunächst vorenthalten.
Sie gefährden die naturärztliche Versorgung in Deutsch-
land. Das ist rot-grüne Politik von heute.

Der dritte Punkt, den Sie auch angesprochen haben,
Herr Kollege Schmidbauer: Sie wollen die besondere
Kennzeichnung der bisher nicht zugelassenen Arzneimit-
tel in der Packungsbeilage. Ich will auf den irrsinnigen
materiellen Aufwand gar nicht eingehen. Den will ich gar
nicht ansprechen, das ist mir nicht so wichtig. Ursprüng-
lich sollte ja in der Packungsbeilage „Altarzneimittel“
stehen. Sie haben das Wort ja heute immer wieder ver-
bannt. Das war völlig inakzeptabel und ist – Gott sei
Dank – jetzt vom Tisch.

Aber auch die Formulierung, die Sie hier vorher zitiert
haben, ist in der Substanz ein fragwürdiger Hinweis.
Diese Information hat für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher keinen praktischen Nutzen. Ich möchte heute
nicht die Zuhörer fragen, welchen praktischen Nutzen sie
aus der Zitierung dieses Satzes gezogen haben.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Transparenz schaffen! Verbraucher nicht für dumm verkaufen!)


– Nein, im Gegenteil, Sie stigmatisieren lediglich Arznei-
mittel, die noch im Nachzulassungsverfahren und damit
lediglich vorläufig zugelassen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir brauchen weniger noch kompliziertere Gesetze als
vielmehr eine zügige, effiziente, fachlich qualifizierte Be-
arbeitung der Anträge beim BfArM. Diesem Gesetz kön-
nen wir, auch nach Ihren wenigen Schönheitskorrekturen,
so jedenfalls in keinem Fall zustimmen. Dieses Gesetz ge-
fährdet eine Vielzahl mittelständischer Betriebe und da-
mit auch Arbeitsplätze, schränkt die Therapievielfalt in
Deutschland ein und nimmt kranken Menschen scho-
nende, kostengünstige und alternative Behandlungsmög-
lichkeiten.

Wir haben die Chance, dass der Bundesrat, der diesem
Gesetz noch zustimmen muss, Einspruch erhebt. Ich bin
mir sicher, er wird das mit kritisch-konstruktiven Vor-
schlägen tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410309600
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Monika
Knoche.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410309700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Zunächst einmal möchte ich auf Sie eingehen, Frau Kol-
legin Widmann-Mauz. Ich glaube, es ist völlig unstrittig,
dass man für eine qualitativ hochwertige Arzneimittelver-
sorgung, für Innovation und Kontinuität, aber auch für die
Möglichkeit, in der Arzneimittelversorgung die pluralisti-
sche Grundposition zu stärken, einen Mittelstand
braucht, der zu all dem beiträgt, und dass das immer im
Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesundheits-
verständnisses stehen muss. Aber ich habe sehr stark den
Eindruck gewonnen, Sie nehmen die Mittelstandspolitik
zum Ausgangspunkt für Gesundheitspolitik. So kann es
nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Umgedreht!)


Zu dem Arzneimittelgesetz, dessen 10. Novelle
wir hier diskutieren, möchte ich sagen, Frau Widmann-
Mauz – wir kennen ja die Debatte –: Im Grunde ge-
nommen sagen Sie nichts anderes aus, als dass alles so
bleiben soll, wie es ist,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!)

in dem Wissen, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist,
weil es ganz einfach nicht europarechtskonform ist. Ich
halte es für ein sehr eigenwilliges Politikverständnis, sich
daran nicht halten zu wollen und die jetzige Regierung
deswegen zu kritisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Übrigen ist Ihre Kritik ein bisschen ältlich oder
nicht ganz en vogue.


(Detlef Parr [F.D.P.]: Endlich! Bis 2002! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Denn Sie befassen sich nicht wirklich mit dem neuen Ge-
halt dieser Novelle. Sie nehmen das eigentlich nicht gerne




Annette Widmann-Mauz

9695


(C)



(D)



(A)



(B)


zur Kenntnis, denn dann bleibt nicht viel von der Kritik,
die Sie hier vorgebracht haben, übrig.

Warum? Bei der Fülle von Arzneien, die im Nachzu-
lassungsversagen


(Lachen bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: In dem Versprecher ist viel Wahrheit!)


– im Nachzulassungsverfahren stecken, rufen Sie nach ei-
ner raschen abschließenden Regelung und nach einem
Verfahren. Dazu kommt es jetzt. Die Nachzulassung be-
kommt Regeln, die die Herstellerfirmen erfüllen können
und die vor allem geeignet sind, die Firmen untereinander
gleichzustellen. Auch das gehört zu einer gerechten Mit-
telstandspolitik.

Die Europäische Kommission gibt bestimmte Stan-
dards vor, verbindliche Regeln also, an die sich die Re-
gierung in der Vorzeit mit Nonchalance nicht gehalten hat.
Wir setzen nun Gemeinschaftsrecht um. Verständlicher-
weise gilt unser spezielles Augenmerk den besonderen
Therapierichtungen. Diese werden meines Erachtens in
dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetz nicht dis-
kriminiert. Schon gar nicht trifft der Vorwurf zu, Herstel-
lergruppen würden marktbereinigend eliminiert. Das ist
Unsinn.

Sinn aber macht, dass die Unsitte aufhört, dass man so
tut, als könnte für die besonderen Therapierichtungen und
ihre Präparate allgemeines europäisches Recht nicht gel-
ten, weil sie dieses nicht erfüllen könnten. Das ist falsch.
Die Kommission hat ausdrücklich beanstandet, dass die
geforderte Verpflichtung zur Vorlage der Unterlagen zur
Unbedenklichkeit und Wirksamkeit sowie der entspre-
chenden Sachverständigengutachten nicht eingehalten
wird und dass die so genannte 2004-Regelung erlischt.

Nach der jetzt vorgeschlagenen Regelung kann das
Verfahren auf Antrag wieder aufgegriffen werden. Insge-
samt steht nunmehr fest: Die Nachzulassungsverfahren
werden in einem überschaubaren Zeitraum zum Ab-
schluss gebracht. Eine Straffung und Beschleunigung hier
ist richtig. Eine Sechsmonatsfrist für die Vorlage der Un-
terlagen zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ist aus-
reichend. Ich weiß auch wirklich nicht, was man gegen
das Kriterium Unbedenklichkeit und Wirksamkeit einzu-
wenden hat.

Die Praxis einiger pharmazeutischer Unternehmen, ein
Arzneimittel erst nach der Entscheidung einer Behörde
zulassungsreif zu machen, soll nicht mehr möglich sein.
Wer die Sache kennt, weiß, dass dieses Interesse im Kern
dahinter steht.

Was bleibt also eigentlich von Ihrer Kritik? Die Zeit für
die Beseitigung der Mängel ist ausreichend. Wir haben
sie auf zwölf Monate begrenzt. Damit ist den Einwen-
dungen Rechnung getragen worden. Es gibt natürlich im-
mer wieder den Versuch, Frau Widmann-Mauz, etwas Po-
lemik hineinzubringen. Aber wir haben, weil Sie – zu
Recht – das Interesse der besonderen Therapierichtungen
hervorgehoben haben, das Beratungsverfahren ausdrück-
lich so gestaltet, dass alle Anträge und Änderungsanträge
von Ihnen ausreichend beraten und diskutiert werden kön-

nen. Jetzt haben Sie sich hier hingestellt und uns das zum
Vorwurf machen wollen.

Sie müssen sich schon entscheiden, auf welche Art und
Weise und mit welchem Ziel Sie die Regierung kritisieren
wollen. An diesem Gesetz bleibt nicht viel zu kritteln. Da
ist die Rolle der Opposition schwierig; das gebe ich gerne
zu.


(Zuruf von der CDU/CSU: Selbst der Kanzler hat es kritisiert!)


Aber nichtsdestotrotz ist der vorliegende Gesetzentwurf
sehr gut gelungen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Na, na!)

Ein Argument noch: Wenn künftig die bereits in ande-

ren EU-Staaten geleistete Bewertungsarbeit für die Nach-
zulassung weitestgehend genutzt werden kann, dann sind
wir in diesem Bereich, so meine ich, im europäischen
Haus angekommen. Auch hier weiß ich nicht, was es da-
ran zu kritisieren gibt.

Verbraucherinformationen zu verharmlosen – Herr
Schmidbauer hat es schon angesprochen – ist nach Ihrem
Verständnis vielleicht möglich, nach meinem Verständnis
als Grüne nicht. Diese machen auch vor alternativen
Verfahren nicht Halt. In diesem Zusammenhang sollten
die Information der Verbraucherinnen und Verbraucher
sowie Qualitätskriterien eine Norm sein, die man nicht
umgeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Noch eine Überlegung: Wie können wir durch die No-
velle erreichen, langfristig auch im Pharmabereich ein
pluralistisches Therapieverständnis zu sichern? Dies
betrifft die Vergleichbarkeit der Kriterien. Die Monogra-
phien sind nämlich geblieben. Auch an dieser Stelle also
greift Ihre Kritik nicht so recht.

Wichtig ist, dass durch die angepasste Novellierung
des AMG – auch betreffend die Bedingungen der beson-
deren Therapierichtungen – europaweit klare und gefes-
tigte Marktchancen vergrößert werden. Ich sehe nicht ein,
warum, langfristig gesehen, ein Produkt, das in Deutsch-
land besonders ausgeprägt be- und genutzt und der Berei-
cherung sowie der Therapievielfalt im interkulturellen
Bereich dienen könnte, dadurch eine europaweite
Marktbenachteiligung behalten würde, dass wir es nicht
den gleichen qualitativen Anforderungen unterstellen.
Erst dadurch, dass wir dies tun, haben die Produkte der be-
sonderen Therapierichtungen eine realistische Chance,
sich auf dem europäischen Markt auszudehnen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410309800
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Detlef Parr.




Monika Knoche
9696


(C)



(D)



(A)



(B)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1410309900
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Volksmund weiß: Reisen bildet. Wenn
der Kanzler reist, sowieso. Wenn er zu Pharmaunterneh-
men reist, führt der Bildungszuwachs gelegentlich auch
zu Änderungen von Gesetzentwürfen der Regierung. Das
ist zwar ungewöhnlich, aber dies ist auch gut.

Wir begrüßen die Streichung einer besonders negati-
ven Verschärfung der Nachzulassungsvorschriften, die
die F.D.P. bereits frühzeitig gefordert hatte. Nun haben die
Unternehmer wenigstens eine angemessene Frist, um
Mängel zu beseitigen. Andernfalls hätte es besonders für
viele kleine und mittelständische Betriebe, die zwar we-
nig Personal, aber viele gute Ideen haben, das Aus bedeu-
ten können. Mit ihnen wären mit Sicherheit viele Arznei-
mittel der besonderen Therapierichtungen hier vom Markt
verschwunden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Punkt konnte also Schlimmes verhindert

werden, in anderen leider nicht. Dort blieb der wahre
Geist des vorgesehenen Gesetzes erhalten: Es soll in
Wahrheit vor allem der Marktbereinigung dienen, zumin-
dest aber drastisch verminderte Marktchancen bescheren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum sonst, meine Damen und Herren von der Ko-

alition, wollen Sie Restriktionen beschließen, die weit
über das hinausgehen, was die EU gefordert hat? Warum
sonst wollen Sie bewährten Arzneimitteln, die seit vielen
Jahren auf dem Markt sind, den Stempel der Unseriosität
aufdrücken? Warum sonst wollen Sie den Firmen die
Konsequenzen einer unangemessen langen Bearbeitungs-
zeit beim Bundesinstitut anlasten? Das alles macht keinen
Sinn, wenn man sich die Forderungen der EU anschaut.
Es macht aber sehr wohl Sinn, wenn man sich die dirigis-
tische und in diesem Bereich wirtschaftsfeindliche
Grundhaltung der Bundesregierung ins Gedächtnis ruft.

Bei aller berechtigten Kritik an der immer noch großen
Zahl der nicht nach AMG zugelassenen Arzneimittel: Die
Schuld dafür darf nach Meinung der F.D.P. nicht einseitig
den Firmen angelastet werden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)

Sie haben das Recht auf eine faire Chance. Auch unter den
neuen Rahmenbedingungen muss der Marktzugang mög-
lich sein. Wenn sich während der langen Liegezeit der An-
träge beim Bundesamt, die nicht selten mehrere Jahre be-
trägt, neue Erkenntnisse ergeben, muss die Möglichkeit
eingeräumt werden, darauf zu reagieren. So viel Flexibi-
lität ist wohl nicht zu viel verlangt. Sie ist ein Gebot des
fairen Umgangs mit den Unternehmen.

Arzneimittelvielfalt darf uns kein Graus sein. Manch-
mal hat man ja diesen Eindruck. Arzneimittelvielfalt ist
vielmehr ein Guthaben für die Gesundheit unserer Bürger.
Sie muss gepflegt werden und darf nicht auf kaltem Wege
beschnitten werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf wird aus unserer Sicht
leider genau das bewirken. Ich fürchte, dass gerade die be-
sonderen Therapierichtungen, auch wenn ich eingangs die
Verlängerung der Mängelbeseitigungsfrist gelobt habe,

stark betroffen sein werden. Der Ausweg über die Aner-
kennung als Gesundheitspflegemittel ist ein Holzweg,
Herr Kollege Schmidbauer.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich frage Sie: Was ist sinnvoll daran, wenn ein Medika-
ment nur deshalb keine Zulassung erhält, weil die Her-
stellerfirma personell nicht in der Lage ist, in kurzer Zeit
womöglich für mehrere Präparate gleichzeitig die gefor-
derten Nachweise beizubringen?


(Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Die arbeiten doch seit 20 Jahren an dem Medikament!)


– Ich rede jetzt nicht von den großen Firmen, die die dafür
notwendigen Ressourcen vorhalten.


(Susanne Kastner [SPD]: Von was reden Sie denn?)


– Ich rede von den kleinen, oft auch sehr innovativen Be-
trieben, die wir fördern sollten, anstatt ihnen das Leben
unnötig schwer zu machen.

Es wird die Damen und Herren von der Koalition viel-
leicht überraschen, aber es gilt, auch dort die Arbeits-
plätze zu erhalten und vielleicht sogar welche zu schaffen.
Gesundheitspolitik, Frau Knoche, ist eben auch Wirt-
schaftspolitik.


(Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das ja nicht in Abrede gestellt!)


Wir sollten uns darüber eigentlich einig sein. Meine Da-
men und Herren der SPD, wenn ich daran denke, wie Sie
den Bundestagswahlkampf geführt haben, wenn ich an Ihr
Plakat „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ denke, dann muss ich
feststellen: Das Ergebnis Ihrer Gesundheitspolitik ist Ar-
beitsverdichtung auf Kosten der Ärzte und Patienten, Ver-
lust von Tausenden von Arbeitsplätzen – in zunehmendem
Maße – und ein staatlich gedrosselter Gesundheitsmarkt.
Das, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410310000
Ich gebe nunmehr
das Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der
PDS.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1410310100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Erst unter dem Druck eines Vertragsverlet-
zungsverfahrens seitens der EU-Kommission und einer
drohenden Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ha-
ben Regierung und Koalition einen Gesetzentwurf vorge-
legt, in dem es erneut um die Nachzulassung von Arznei-
mitteln geht. – Ich werde die Frage nicht stellen, ob wir
diese Debatte zu der 10. Novelle auch ohne diesen Druck
geführt hätten.


(Beifall bei der PDS)

Nichtsdestotrotz ist grundsätzlich zu begrüßen, dass

nunmehr auch für das Nachzulassungsverfahren die
Verpflichtung der Hersteller festgeschrieben wird, von
vornherein die notwendigen pharmakologischen und






(C)



(D)



(A)



(B)


klinischen Prüfungsunterlagen sowie entsprechende
Sachverständigengutachten einzureichen.

Auch die mit der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetz
noch einmal großzügig bis 2004 verlängerte Abver-
kaufsfrist für noch nicht geprüfte Medikamente wird auf-
gehoben. Allerdings wird jenen Unternehmen, die end-
gültig auf eine Nachzulassung verzichten – man sollte
einmal die Frage stellen, warum sie darauf verzich-
ten –, immer noch ein weiterer Abverkauf von zwei Jah-
ren eingeräumt. Das zeigt, dass der Gesetzgeber bemüht
war, nicht nur den Forderungen der EU-Kommission
Rechnung zu tragen, sondern auch den heimischen Her-
stellern deutliche Zugeständnisse zu machen.

Während die Pharmaindustrie zunächst dennoch er-
hebliche Bedenken vorbrachte, spricht sie jetzt von
überwiegend sachgerechten Regelungen und davon, dass
man sie insgesamt mittragen könne. Die Ursachen für die-
sen Sinneswandel sind nicht schwer zu finden. Zu Beginn
des Gesetzgebungsverfahrens ging die Bundesregierung
noch zwingend davon aus, dass zur Straffung der Zulas-
sungen kürzere Fristen für die Einreichung der Unterla-
gen und für die Beseitigung von Mängeln erforderlich
sind. Die Zeitspannen sollten deshalb auf sechs Monate
verkürzt werden. Auch die massiven Proteste der Indus-
trie schienen die Regierung zunächst nicht zu beein-
drucken.

In der Sitzung des Gesundheitsausschusses, in der der
Gesetzentwurf eigentlich abschließend beraten werden
sollte, präsentierten die Koalitionsparteien aber plötzlich
einen weiteren Änderungsantrag. Damit wurde die
Mängelbeseitigungsfrist auf zwölf Monate angehoben.
Zugleich wurde die zuständige Bundesbehörde verpflich-
tet, in Zukunft anstelle von Mängelbescheiden vorrangig
mit Auflagen verbundene Zulassungen zu erteilen. Natür-
lich entsprechen beide Veränderungen vor allem den In-
teressen der Industrie.

Fazit: Auf dem Arzneimittelsektor herrschen die ge-
wohnten Kräfteverhältnisse. Im Zweifel setzt sich die
Pharmaindustrie durch – wenn nötig, mit Hilfe des Bun-
deskanzlers, wie auch in diesem Fall zu hören ist. Es zeigt
sich, dass der Regierungswechsel selbst in diesem Detail
keinen Politikwechsel gebracht hat. Für die im Interesse
der Menschen gebotene Handlungsfähigkeit des Staates
in Sachen Arzneimittelsicherheit ist dies allerdings kein
gutes Omen.

Notwendig ist ein zügiger Abschluss der Nachzulas-
sungsverfahren. Geringere Anforderungen an die behörd-
liche Prüfung der Arzneimittel sind dabei nicht gerecht-
fertigt.

Lieber Kollege Parr, es ist ja richtig: Die Gesundheits-
politik in diesem Land ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Da-
gegen hat niemand etwas einzuwenden. Aber unserer
Meinung nach muss der GesundheitsschutzVorrang vor
den Herstellerinteressen haben.

Aus den hier genannten Gründen – der Gesetzentwurf
beinhaltet zwar Fortschritte gegenüber dem alten Zu-
stand, aber wir haben auch Kritik anzubringen – werden
wir uns bei der Abstimmung enthalten.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410310200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Arzneimittelgesetzes, Drucksachen 14/2292 und
14/3320. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit, also mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS, angenom-
men.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 14/3320, die Unterrichtung durch
die Bundesregierung auf Drucksache 14/2355 zur Kennt-
nis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela
Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der
Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums
– Drucksache 14/3005 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch für
diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus
ist einverstanden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für den
Antragsteller der Kollegin Maritta Böttcher von der PDS
das Wort.


Maritta Böttcher (PDS):
Rede ID: ID1410310300
Herr Präsident! Sehr geehrte
Damen und Herren! Die Bundesregierung entpuppt sich
zunehmend als eine Regierung der leeren Versprechen.
Auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitik
ist die Koalition gerade dabei, gleich drei ambitionierte
Reformprojekte gegen die Wand zu fahren und damit eine
Jahrhundertchance zur Erneuerung unserer Hochschulen
zu verspielen.




Dr. Ruth Fuchs
9698


(C)



(D)



(A)



(B)


Anfang des Jahres musste sich die Bundesbildungsmi-
nisterin dem Druck eines Kanzlermachtwortes beugen
und das Scheitern der versprochenen Strukturreform der
Ausbildungsförderung eingestehen. Auch bei der Reform
der aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Perso-
nalstruktur der Hochschulen ist die Regierung drauf und
dran, nach der Devise zu verfahren: Reparaturreförmchen
statt Strukturreform.

Schließlich zeichnet sich auch in der Studiengebühren-
frage ein Bruch der rot-grünen Wahlversprechen ab. In Ih-
rer Koalitionsvereinbarung haben Sie noch unmissver-
ständlich angekündigt:

Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einver-
nehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln und
dabei die Erhebung von Studiengebühren aus-
schließen sowie die verfasste Studierendenschaft ab-
sichern.

Inzwischen ist beinahe die Hälfte der Legislaturperi-
ode verstrichen, aber es ist keine Gesetzesinitiative der
Bundesregierung in Sicht. Ich erinnere daran, dass Sie
noch vor zwei Jahren Ihre Zustimmung zur Novellierung
des HRG verweigerten, weil der vom Rüttgers-Ministe-
rium vorgelegte Gesetzentwurf kein Studiengebührenver-
bot enthielt. Damals, vor der Bundestagswahl, drohten Sie
zu Recht mit einer Verfassungsklage, weil der Bundesrat
übergangen worden ist. Heute, nach der Wahl, sehen Sie
der schrittweisen Einführung von Studiengebühren in den
Ländern tatenlos zu. Das ist schon enttäuschend.

Die Studentinnen und Studenten sind mit ihrer Geduld
übrigens am Ende. Das Aktionsbündnis gegen Studien-
gebühren hat bekanntermaßen 123 000 Unterschriften
für ein gebührenfreies Studium ohne Wenn und Aber ge-
sammelt. Doch die Bundesregierung stellt sich weiter
taub, sodass die Studierenden ihren Forderungen im Juni
dieses Jahres mit bundesweiten Demonstrationen und Ak-
tionen Nachdruck verleihen wollen.


(Beifall bei der PDS – Jörg Tauss [SPD]: Wenden Sie sich doch mal darüber! Nicht die Bundesregierung ist der Adressat!)


– Hören Sie doch einmal zu, Herr Tauss.
Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Sicherung der Ge-

bührenfreiheit des Hochschulstudiums unterstützt die
PDS-Fraktion im Bundestag den außerparlamenta-ri-
schen Protest und fordert die Regierungskoalition auf, ihr
1998 gegebenes Wahlversprechen endlich einzulösen.


(Beifall bei der PDS)

Für die Sicherung der Gebührenfreiheit des Hoch-

schulstudiums gibt es gute Gründe. Es ist geradezu gro-
tesk: Zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Industrie-
ländern bereits mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs
eine Hochschulausbildung absolviert, wird in Deutsch-
land, das gerade einmal eine Studentenquote von 30 Pro-
zent aufweisen kann, über eine Verteuerung und Priva-
tisierung des Studiums nachgedacht. Es kann doch nicht
sein, dass wir als Antwort auf die in der Green Card-De-
batte offen gelegte deutsche Bildungsmisere Studienge-
bühren einführen und die Nachfrage nach einer qualifi-

zierten Hochschulausbildung drosseln. Studiengebühren
sind sozial ungerecht und stellen die Chancengleichheit in
Bildung und Wissenschaft grundsätzlich in Frage.


(Beifall bei der PDS)

Das neueste Argument der Studiengebührenbefürwor-

ter, ohne Gebühren würde die Krankenschwester dem
Arztsohn das Studium finanzieren, ist übrigens zynisch
und falsch; zynisch, weil es den erschwerten Hoch-
schulzugang einkommensschwacher Schichten zum An-
lass für weitere soziale Zugangsbarrieren nimmt, falsch,
weil eine kürzlich vom DSWvorgelegte Studie den Nach-
weis erbracht hat, dass Akademikerinnen und Akademi-
ker nach ihrem Studium an den Staat weit mehr zurück-
zahlen, als ihre Ausbildung gekostet hat.

Zu einer gesetzlichen Sicherung der Gebührenfreiheit
des Hochschulstudiums gibt es keine Alternative. Der
Versuch von Frau Ministerin Bulmahn, Studiengebühren
über einen Staatsvertrag mit den Ländern zu verhindern,
ist gescheitert. Die Kultusminister diskutieren heute über
ein Studienkontenmodell, das nichts anderes als einen
modern verpackten Vorstoß zur Einführung von Stu-
diengebühren darstellt. Studiengebühren gefährden die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesge-
biet substanziell. Zweifel an der verfassungsrechtlichen
Zulässigkeit eines Studiengebührenverbots halte ich da-
her für absolut unbegründet.

Um eine unterschiedliche Entwicklung der Hochschul-
systeme der Länder in der zentralen Frage des Hoch-
schulzugangs zu verhindern, brauchen wir eine verbindli-
che Regelung im Hochschulrahmengesetz. Ich mache
auch nachdrücklich auf den internationalen Pakt über die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf-
merksam, mit dem sich die Bundesrepublik völkerrecht-
lich dem Ziel der Unentgeltlichkeit des Hochschulunter-
richts verschrieben hat.

Mit den Worten „Bei mir rennen Sie offene Türen ein“
hat die Ministerin Bulmahn die Unterschriften gegen Stu-
diengebühren entgegengenommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, das ist die Wahrheit!)

Frau Ministerin, meine Damen und Herren, erlauben Sie,
dass sich die PDS heute als Türöffnerin betätigt. Das seit
Jahren chronisch unterfinanzierte Hochschulsystem steht
vor einer Fülle von Problemen. Studiengebühren lösen
kein einziges Problem, aber sie erzeugen neue.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Lassen Sie uns daher mit den Studentinnen und Stu-

denten die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und
damit eine zentrale sozialstaatliche Errungenschaft in die-
sem Land verteidigen.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Die PDS verteidigt!)

– Ja, notfalls mit Ihnen gemeinsam, Herr Hilsberg.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410310400
Für die SPD-Frak-
tion spricht nun der Kollege Stephan Hilsberg.




Maritta Böttcher

9699


(C)



(D)



(A)



(B)



Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1410310500
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beliebt
uns heute wieder einmal mit einem Gesetzentwurf zur
bundesweiten Verhinderung von Studiengebühren die
Ehre zu geben, damit wir in diesem Hohen Hause erneut
über Studiengebühren diskutieren. Das ist nicht neu, das
haben wir immer wieder einmal getan. Wir haben auf un-
terschiedlichem Niveau diskutiert, aber auf einer so plat-
ten Grundlage, wie der PDS-Gesetzentwurf sie darstellt,
haben wir es noch nie getan.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Weil Sie es überhaupt nicht tun!)


Bevor ich hier zu unserer grundsätzlichen Haltung zu
Studiengebühren komme, die übrigens bekannt ist und an
der sich überhaupt nichts ändert


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber folgenlos!)


– ich gehe davon aus, dass wir hier einen weitestgehenden
Konsens mit den Grünen und der CDU haben –, muss ich
einen Einwand machen. Sie sind in einer Landesregierung
beteiligt und haben zu der Zeit, als Sie noch SED hießen,
große Regierungserfahrung gesammelt. Man kann Ihnen
vielleicht verzeihen, dass Sie nicht wissen, wie Regie-
rungsgeschäfte in der Bildungspolitik in der Bundesrepu-
blik laufen, es ist aber klar: Die Bildungspolitik gehört zu
den kompliziertesten Geschäften, die es überhaupt gibt.

Das von Ihnen verlangte Verbot von Studiengebühren
ist ohne die Länder überhaupt nicht zu machen.


(Jörg Tauss [SPD]: Leider!)

Deshalb brauchen Sie den Konsens in dieser Sache.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben schon darauf hingewiesen, dass ein solches
Studiengebührenverbot nicht rechtskonfliktfrei ist. Sie
können das nicht einfach veranlassen. Wir könnten das
natürlich einfach beschließen, aber wer garantiert Ihnen
dann, dass das nicht anschließend beklagt wird? Genau
das ist doch die Situation.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das geht woanders auch!)


Wenn Sie uns wirklich unterstützen wollten, indem Sie
sagen: „Macht das doch“, dann hätten Sie das machen sol-
len, als wir noch die entsprechenden Mehrheiten im Bun-
desrat hatten, da wäre es vielleicht noch machbar gewe-
sen. Aber selbst damals wäre es ausgesprochen schwierig
gewesen. Jetzt ist das nichts anderes als warme Luft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Maritta Böttcher [PDS]: Das ist blauäugig!)


Wir sind aus grundsätzlichen Erwägungen nach wie
vor gegen Studiengebühren. Ich will das in aller Deut-
lichkeit betonen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Es ist das falsche Signal. Wir brauchen mehr Studenten
aus den sozial einfachen Schichten, aus den Schichten, die

nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wir dürfen die
Hemmschwelle, die vor der Aufnahme eines Studiums
liegt, nicht anheben. Genau das würde aber passieren,
wenn man Studiengebühren einführte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war schon immer die Position der SPD.
Nebenbei bemerkt: Ich wünsche wirklich gute Verrich-

tung bei dem Versuch, mindestens 1 Million Studenten
zusätzlich Studiengebühren aufzudrücken. Ich kann mir
vorstellen, was das an Aufschrei und Protest geben wird.
Den Versuch möchte ich lieber nicht unternehmen. Ich
möchte das auch aus rein machiavellistischen Überlegun-
gen erst gar nicht erwägen.

Manchmal fragt man sich allerdings, ob einige Länder
an dieser Stelle wirklich wissen, worauf sie sich einlassen,
wenn sie die Einführung von Studiengebühren fordern.
Aber sie sind nicht die Einzigen.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Meinen Sie Niedersachsen? – Jörg Tauss [SPD]: Baden-Württemberg!)


Es ist nicht ganz einfach, unsere Position aufrechtzuer-
halten, wenn beispielsweise die Hochschulrektorenkonfe-
renz die Einführung von Studiengebühren, wie jüngst ge-
schehen, verlangt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb ist die Ministerin nicht da! – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Niedersachsen!)


– Sie sprechen das Wort „Niedersachsen“ aus, Frau
Pieper.


(Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU])

– Herr Rachel, wir können auch noch auf Herrn von
Trotha zu sprechen kommen.


(Jörg Tauss [SPD]: In Baden-Württemberg regieren die!)


Wir haben gegenwärtig unterschiedlichste Entwick-
lungen. Ich will nicht verhehlen: In jeder Partei gibt es
Leute, die den großen Auftritt lieben. Auch einer meiner
Vorgänger beispielsweise beliebte das zu tun.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Tauss! – Maritta Böttcher [PDS]: Außer in der SPD!)


Nun wollen wir die Debatte mit dem richtigen Ernst be-
trachten.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja, bitte, darauf warten wir seit zehn Minuten!)


Es gibt bei denjenigen, die die Einführung von Studien-
gebühren immer wieder gefordert haben, entsprechende
Argumente. Es lohnt sich, sich mit diesen Argumenten
auseinander zu setzen. Aber selbst wenn wir das tun, kom-
men wir immer wieder zu der gleichen Auffassung, dass
Studiengebühren das Falsche sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(C)



(D)



(A)



(B)


Man sollte sich auch nicht von spekulativen „dpa“-
Meldungen in Panik versetzen lassen.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Panik kann man an Ihren Schweißperlen auf der Stirn sehen!)


– Herr Rachel, man sollte auch nicht auf spekulative
„dpa“-Meldungen mit ebenso spekulativen „dpa“-Mel-
dungen reagieren. Damit haben Sie überhaupt noch keine
Politik gemacht. Was Sie brauchen, ist der Konsens mit
den Ländern. Das ist in der Tat völlig richtig.

Was Sie brauchen, sind Länder, die sich darüber im
Klaren sind, welcher Dominoeffekt in dem Moment ein-
setzen würde, in dem ein einziges Land Studiengebühren
einführte. Schon deshalb müssen die Länder selber ein
großes Interesse daran haben, zu einer Verwaltungsver-
einfachung hinsichtlich der entsprechenden Studienge-
bühren zu kommen. Sie sind jetzt auch dabei und das ist
der richtige Weg. Dabei wurden auch Signale zur Verhin-
derung von Studiengebühren gesetzt. Diese müssen von
den Ländern ausgehen, denn sie sind die wirklich Betrof-
fenen. Ohne die Länder werden Sie das in keiner Weise
hinbekommen.

Es gibt noch ein paar Fragen, über die man sich ne-
benbei unterhalten kann: Es wird ideologisch debattiert,
und Verwaltungsgebühren werden beispielsweise mit
Studiengebühren gleichgesetzt. Sie von der PDS tun das
übrigens auch.
Das würde ich nicht machen. Lesen Sie sich Ihren Ge-
setzentwurf durch.


(Maritta Böttcher [PDS]: Den habe ich geschrieben! Den muss ich nicht durchlesen!)


Darin steht, dass davon gleichzeitig das Verbot von Ver-
waltungsgebühren betroffen sei. Man soll nicht Äpfel mit
Birnen gleichsetzen. Dies sind schon zwei unterschiedli-
che Sachen.

Ich will mich einmal in die Diskussion über die Studi-
engebühren beispielsweise mit dem CHE einmischen. Es
gibt dieses schöne Gutachten vom Deutschen Studen-
tenwerk, das klar die Haltung widerlegt, in unserem Land
würden die armen Leute das Studium der Reichen finan-
zieren. Dies ist einfach nicht wahr. Wenn Sie sich die
Steuerbilanz ansehen, stellen Sie fest, dass diejenigen, die
die Universität abgeschlossen haben, infolge des progres-
siven Steuersatzes sehr viel mehr in die Steuerkasse zah-
len als die armen Leute. Deswegen ist die in dem Gegen-
gutachten enthaltene Antwort des CHE darauf schlicht
eine Frechheit, weil so getan wird, als würde sozusagen
die Rendite verglichen werden. Dabei sind die Bürger die
entsprechenden materiellen Produkte, deren Rendite für
die Bilanzierung entscheidend ist.


(Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, möchten Sie eine Frage zulassen?

(Heiterkeit bei der SPD und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410310600
Ich war gerade abge-
lenkt, weil ich mit Freude gesehen habe, wie viele Kolle-
gen ihre Reden zu den nächsten Tagesordnungspunkten
zu Protokoll geben.

Frau Pieper, der Kollege Hilsberg gestattet eine Zwi-
schenfrage. Bitte, Sie haben das Wort.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410310700
Vielen Dank, Herr Präsi-
dent. – Herr Hilsberg, es reizt mich jetzt doch, eine Frage
an Sie zu richten. Ich sehe, wie sehr sich der Kollege
Tauss darüber freut, dass ich Ihnen eine Frage stellen
möchte.

Herr Kollege Hilsberg, da Sie die Studie des Deutschen
Studentenwerkes zur Hochschulfinanzierung und zu den
Studiengebühren genannt haben, möchte ich Sie fragen,
ob Ihnen die Aussage Ihres Wissenschaftsministers aus
Niedersachsen, Herrn Oppermann, bekannt ist, die lautet:
Die Verkäuferinnen und Facharbeiter bezahlen mit ihren
Steuern das Medizinstudium des Arztsohns.


Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1410310800
Diese Aussage ist mir
bekannt. Darauf antworte ich mit dem Satz, den ich vorhin
schon gesagt habe: Es gibt in jeder Partei Leute, die den
großen Auftritt lieben; aber nicht jeder große Auftritt ist
richtig und in sich logisch. Diese Aussage von Herrn
Oppermann ist schlicht falsch und widerspricht den Tat-
sachen. So ist es nämlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dies wird man in aller Freundlichkeit einmal sagen kön-
nen und dies sagen wir uns auch untereinander.

Wir haben unterschiedliche Meinungen. Daran kann
man feststellen, wie drängend das Problem inzwischen
diskutiert wird. Die jetzige Arbeitsgruppe, die eingesetzt
wurde, um die Einführung von Studiengebühren bis zum
Erreichen eines ersten berufsqualifizierenden Abschlus-
ses zu verhindern, ist vermutlich die letzte Chance, um die
Einführung von Studiengebühren in dieser Republik
wirklich zu verhindern. Dies jedoch ist ein bildungspoli-
tisches Gebot.


(Beifall bei der SPD)

Ganz anders ist die Situation bei den privaten Hoch-

schulen in unserem Lande, von denen ich mir mehr wün-
sche. Etwas ganz anderes ist es auch mit den Studenten,
die bereit sind, Studiengebühren zu zahlen, manchmal bis
zu einer Höhe von 3 000 bis 4 000 DM pro Semester.
Wenn diese das gerne möchten, sollen sie es machen.
Wenn wir Angebote haben, mit denen diese gut leben kön-
nen, ist das nicht schlecht. Wenn wir mehr privates Kapi-
tal bekommen, um in dieser Republik entsprechende Stu-
diengänge anbieten und damit das Studienangebot berei-
chern zu können, ist auch das nicht schlecht und belebt
das Geschäft. Aber natürlich kommt dadurch das gesamte
Hochschulsystem unter gewaltigen Reformdruck. Darauf
reagieren wir auch.

Beispielsweise setzen wir mit der Dienstrechtsreform
die Hochschulen in den Stand, sich selber mehr profilie-
ren, ein besseres Angebot erarbeiten zu können, um an der




Stephan Hilsberg

9701


(C)



(D)



(A)



(B)


Spitze exzellenter Universitäten in dieser Republik stehen
sowie bei dem Ranking ganz vorne mitspielen zu können,
damit bei uns eine wichtige Voraussetzung erfüllt bleibt,
nämlich dass es nicht am Geldbeutel der Eltern liegen
darf, ob jemand ein gutes Studium absolviert oder nicht.
Dies muss in diesem Haus Konsens bleiben und dies war
es bisher auch immer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gegen Wettbewerb ist überhaupt nichts einzuwenden.
Wir brauchen den Wettbewerb. Wettbewerb schadet nicht,
sondern nützt und muss von uns so organisiert werden,
dass wir unseren Studenten auch in den nächsten Jahren
ein studiengebührenfreies Studium garantieren können.
Ich hoffe, dass Sie alle mit uns darin einig sind, dass wir
diesen Weg weitergehen, und Sie uns dabei unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410310900
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Rachel.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1410311000
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mal wieder
fordert die PDS-Fraktion ein bundesweites Verbot von
Studiengebühren im Hochschulrahmengesetz. Unsere
Haltung als Unionsfraktion ist klar: Über die Einführung
von Studiengebühren müssen nach der Aufgabenver-
teilung des Grundgesetzes die Bundesländer entscheiden.
Die Länder sind für die Grundfinanzierung der Hoch-
schulen zuständig. Sie finanzieren die Hochschulen aus
ihren Länderhaushalten. Das Grundgesetz lässt eine
Mischfinanzierung nur beim Hochschulbau und der
gemeinsamen Forschungsförderung zu. Der Bundesge-
setzgeber hat also nicht das Recht, per Gesetz festzu-
legen, ob Studiengebühren erhoben werden oder nicht.
Entsprechend dieser Rechtsauffassung der CDU/CSU
haben wir schon im März 1998 den Antrag des SPD-do-
minierten Bundesrats abgelehnt, ein Verbot von Studi-
engebühren in das Hochschulrahmengesetz aufzuneh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist ehrlich!)


Wie schaut es nun aus? Vollmundig hatte die SPD im
Bundestagswahlkampf das klare Versprechen gegeben,
in einem Bundesgesetz Studiengebühren auf Dauer zu
verbieten. Was ist aus diesem hochschulpolitischen Ver-
sprechen von SPD und Grünen geworden? Schauen Sie
sich einmal eine „dpa“-Meldung von heute an, – ich zi-
tiere –:

Als erstes SPD-geführtes Bundesland plant Nieder-
sachsen die Einführung von Studiengebühren ab dem
13. Semester.

Ich finde, es ist ein Unding, wie Sie die Öffentlichkeit
täuschen, obwohl Sie in Wirklichkeit die Einführung von
Studiengebühren vorbereitet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die Studiengebühren sollen nach der Deutschen
Presse-Agentur in Niedersachsen nach den Vorstellun-
gen des dortigen Wissenschaftsministers Oppermann be-
reits ab dem Jahre 2001 erhoben werden; nach dieser Mel-
dung wolle Oppermann mit Rücksicht auf die nordrhein-
westfälischen Landtagswahlen am kommenden Sonntag
seine Absicht erst nächste Woche veröffentlichen. Das
heißt, Sie verschweigen Ihre politischen Vorhaben vor
dem Wahltermin. Das ist eine Sauerei!


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Für Sauereien sind Sie doch Fachmann!)


– Herr Tauss, das ist glatter Wahlbetrug. Sie haben im
Bundestagswahlkampf versprochen, ein Verbot von Stu-
diengebühren im Hochschulrahmengesetz bundesweit
einzuführen. In Wirklichkeit machen Sie in Niedersach-
sen genau das Gegenteil. Sie haben den Bundestagswahl-
kampf perfide geführt. Die SPD hat sich die Zustimmung
der Studierenden wissentlich durch Wahlbetrug erkauft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Die Wählerinnen und Wähler sind getäuscht worden.

Noch in der Koalitionsvereinbarung haben SPD und
Grüne vertraglich zugesichert – ich zitiere aus der Koali-
tionsvereinbarung –:

Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Ein-
vernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln
und dabei die Erhebung von Studiengebühren aus-
schließen ...

In Wirklichkeit wird in Niedersachsen ab Montag die
Einführung von Studiengebühren vorbereitet. Was Sie
sich in Ihrer Regierungsverantwortung in Niedersachsen
leisten, ist ein gigantischer Wahlbetrug.


(Jörg Tauss [SPD]: Für Wahlbetrug sind Sie doch Fachmann, in Hessen!)


Man muss sich vor Augen führen, dass die Bundesbil-
dungsministerin, die wir heute hier vermissen – noch
nicht einmal ein Vertreter des Ministeriums scheint heute
das Wort ergreifen zu wollen, um diese Blamage vor dem
Parlament zu entschuldigen –,


(Susanne Kastner [SPD]: Warum sollten wir auf Sie antworten?)


Landesvorsitzende in Niedersachsen und damit in dem
Land ist, in dem gerade Studiengebühren ab dem 13. Se-
mester eingeführt werden. Man kann nur sagen: Wissen-
schaftsminister Oppermann fährt Schlitten mit Frau
Bulmahn und macht sie damit zur Witzfigur. Das ist lei-
der auch in unserem Sinne nicht erfreulich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wie war denn Ihr eigener Anspruch? Frau Bulmahn hat

in der Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt –
ich zitiere –:

Wir werden im Zusammenhang mit der Novellierung
des Hochschulrahmengesetzes darauf bestehen, dass
ein Verzicht auf die Einführung von Studiengebühren
festgeschrieben wird.




Stephan Hilsberg
9702


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Realität Ihres Regierungshandelns ist genau das
Gegenteil. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung ver-
traglich besiegelt, dass Sie Studiengebühren ausschließen
wollen. Das Gegenteil davon findet statt. Sie führen die
Studierenden an der Nase herum und das empfinden wir
als Wählertäuschung. Auch die Studierenden werden das
so empfinden.

Sie haben die Studierenden im Bundestagswahlkampf
1998 getäuscht.


(Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie nicht laufend das selbe!)


Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vertraglich mit
Stempel und Unterschriften von Joschka Fischer und
Gerhard Schröder ein Verbot von Studiengebühren ver-
sprochen. In Wirklichkeit führen Sie sie in Niedersachsen
ein. Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Rot-Grün him-
melweit auseinander.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Man kann Sie nicht mehr ernst nehmen! Das ist Ihr Problem!)


Die Situation an den Hochschulen in Deutschland hat
sich in den eineinhalb Jahren Ihrer Regierungszeit nicht
verbessert. Ihre groß angekündigte BAföG-Reform mit
Sockelmodell ist am Veto des Kanzlers gescheitert. An-
statt nun im bestehenden BAföG-System grundlegende
Verbesserungen für die Studierenden noch in diesem Jahr
in Kraft zu setzen, wollen Sie die anstehende BAföG-Re-
form auf Mitte 2001 verschieben. Die Studenten spüren,
dass sie bei Ihnen leer ausgehen. Das kritisieren wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Diskussion über die Studiengebühren zeigt, woran

Ihre Bildungspolitik krankt. Eine sektorale Diskussion
hilft uns nämlich nicht weiter. Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion fordert Bundesbildungsministerin Bulmahn
auf, endlich ein umfassendes Konzept der Bundesregie-
rung zu einer Reform der gesamten Bildungsfinanzie-
rung vorzulegen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach, auf euch haben wir gewartet!)


Die Grünen, Herr Tauss, haben sich jedenfalls von der
SPD-Position zu den Studiengebühren verabschiedet.
Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 18. April berichtete,
haben die Grünen einen Kurswechsel vorgenommen. Ich
verstehe, dass Sie dabei blass werden. So fordert der bil-
dungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen,
Matthias Berninger, Studiengebühren für jene Lang-
zeitstudenten, die ihr Guthaben an Lehrveranstaltungen in
der Regelstudienzeit bereits verbraucht haben. Damit ha-
ben sich die Grünen auf das Gebührenmodell in Baden-
Württemberg und des rheinland-pfälzischen Wissen-
schaftsministers Zöllner zubewegt. Aber, wie verträgt
sich das mit dem Wahlversprechen von Bündnis 90/Die
Grünen zur Bundestagswahl im Jahre 1998, meine Damen
und Herren? Wie verträgt sich das mit der Zusage im Ko-

alitionsvertrag, ein Verbot von Studiengebühren in einem
Bundesgesetz durchzusetzen?


(Jörg Tauss [SPD]: Sie wiederholen sich zum achten Mal!)


Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier himmelweit
auseinander.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten sind das Par-
lament und die Öffentlichkeit in einer derartigen Art und
Weise nicht nur in Reden, in Bundestagswahlprogram-
men und in Koalitionsvereinbarungen so getäuscht wor-
den wie in diesem Falle. Rot-Grün hat die Studenten im
Bundestagswahlkampf 1998 belogen. Dafür werden Sie
in Nordrhein-Westfalen auch von den Studenten und de-
ren Eltern die Quittung bekommen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410311100
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Matthias
Berninger.


Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410311200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man in
dieser Woche CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen
hat reden hören, dann weiß man, an welcher Stelle
Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Das wer-
den Sie am nächsten Sonntag zu spüren bekommen.

Nun zum Thema Studiengebühren. Herr Kollege
Rachel, wir alle sind über folgende Zahlen besorgt – ich
glaube, dass das die Fraktionen im Bundestag eint –: Von
100 Kinder aus eher wohlhabenden Familien machen 84
Abitur. 72 von diesen 100 Kindern besuchen nach dem
Abitur die Universität. Von 100 Kindern aus einkom-
mensschwachen Familien machen 30 Abitur. Davon ge-
hen ganze sieben Kinder an die Universität. Würde man
ab dem ersten Semester Studiengebühren einführen, hätte
das die Konsequenz, dass man die sieben Kinder durch
null ersetzen könnte. Deswegen kämpft diese Koalition
dafür, dass es eine bundeseinheitliche Regelung gibt, die
die Erhebung von Studiengebühren ausschließt, damit
diese Menschen studieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Daran gibt es nichts zu deuteln.
Die entscheidende Frage haben Sie selbst angespro-

chen, Herr Rachel. Sie haben den Koalitionsvertrag rich-
tig zitiert. Es muss im Einvernehmen mit den Ländern
eine Regelung geben. Die ganze Diskussion, die wir heute
führen, hätte es nicht gegeben, wenn die CDU – der Herr
Rüttgers, der Herr Rachel – im März 1998 unserem An-
sinnen zugestimmt hätte und wir im Rahmen der HRG-
Reform eine einheitliche Regelung von Bund und Län-
dern erreicht hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Thomas Rachel

9703


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie sind stolz darauf, dass diese Einigkeit nicht erzielt
wurde. Das finde ich absurd.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben doch eine Ländervereinbarung im Vermittlungsausschuss abgelehnt!)


– Der Kollege möchte mir eine Zwischenfrage stellen.
Stehen Sie einfach auf. – Nein, okay.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ihr wollt ein Bundesgesetz und wisst genau, dass das nicht geht!)


Der entscheidende Punkt ist, dass die CDU stolz darauf
ist, einheitliche Regelungen nicht durchgesetzt zu haben,
mit der Konsequenz, dass wir heute in dieser Situation
sind.

Ich bin aus zwei Gründen über einen gewissen Lan-
despolitiker in Hannover, der meint, Studiengebühren
einführen zu müssen, ärgerlich: Der eine Grund ist, dass
Niedersachsen ein Land ist, aus dem die Leute weglaufen,
in dem sie nicht studieren. Viele Niedersachsen studieren
in Hamburg, Bremen oder Berlin. Gleichzeitig spielt er
sich als der bedeutendste Bildungspolitiker in Deutsch-
land auf. Der andere Grund ist – das ärgert mich minde-
stens genauso –, dass Herr Oppermann, genauso wie
einige CDU-Politiker, eine Einigung von Bund und
Ländern, die den jungen Menschen in Deutschland
Planungssicherheit gibt, durch seine Manöver gefährdet.
Dem müssen Bund und Länder einen Riegel vorschieben.
Ich bin zuversichtlich, dass das auch gelingen kann. Das
kann aber nur dann gelingen, wenn man bereit ist, Kom-
promisse zu schließen. Diese Kompromisse können nicht
so aussehen, wie sich das die Bildungspolitiker in Baden-
Württemberg vorgestellt haben, und zwar nach dem
Motto: Ich lege irgendeine Semesterzahl fest, und wer
länger als diese Semesterzahl studiert, zahlt Gebühren.

Warum geht das nicht? Es geht deshalb nicht, weil die
Lebenswirklichkeit der Studierenden nicht einheitlich ist.
Es gibt Leute, die ein Teilzeitstudium machen. Es gibt
Leute, die während ihres Studiums Kinder erziehen. Es
gibt Leute, die zur Finanzierung ihres Studiums gezwun-
gen sind zu jobben. Diese Vielfalt der Lebenswirklichkeit
von Studierenden an den Hochschulen muss man berück-
sichtigen, wenn man einen Konsens zwischen den Län-
dern sowie zwischen dem Bund und den Ländern herstel-
len möchte.

Ich halte den Vorschlag von Herrn Zöllner in der Tat für
sehr nachdenkenswert, nach dem jeder Mensch eine be-
stimmte Zahl an Bildungsgutscheinen, also ein Bildungs-
konto, erhalten soll, das er für ein Studium nutzen kann.
Dieses Bildungskonto kann er für sein Erststudium ver-
wenden oder er kann – wenn er schneller als die vorgege-
bene Regelstudienzeit studiert – den auf dem Bildungs-
konto verbliebenen Rest nutzen, um – wir haben ja ges-
tern über Weiterbildung geredet – ein zweites Mal an die
Hochschule zu gehen.

Wir sagen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung.
Dieses Recht wird mit Bildungskonten auch verwirklicht,
und zwar in jedem Bundesland. Das Ziel einiger Bundes-
länder, mit der Erhebung von Studiengebühren Studier-

willige zur Aufnahme eines Studiums in einem anderen
Bundesland zu bewegen, trägt dagegen nicht zur Ver-
wirklichung dieses Rechts bei. In Deutschland soll ein-
heitlich gelten: Jeder junge Mensch hat für eine gewisse
Zeit ein Recht auf Bildung. Diese Zeit muss ausreichen,
um ein Studium abzuschließen. Sie muss ausreichen, um
ein Studienfach zu wechseln. Sie muss ausreichen, um ei-
nen Bachelor- und einen Master-Abschluss zu machen.
Sie muss auch ausreichen, um das Studium mit einer Be-
rufstätigkeit zu kombinieren, sei es, weil man ein Teil-
zeitstudium macht, sei es, weil man zur Finanzierung des
Studiums darauf angewiesen ist zu jobben. Hier einen
Konsens zwischen CDU-regierten, PDS-mitregierten,
rot-grün- und rot-regierten Ländern zu finden ist aus mei-
ner Sicht die Herausforderung, vor der wir stehen.

Vor diesem Hintergrund finde ich es selbstgefällig,
wenn Sie, lieber Kollege Rachel, hier so tun, als sei die
Lösung des Problems nur Sache der Bildungsministerin
Bulmahn. Sie möchte genau wie wir die Gebührenfreiheit
sicherstellen, und zwar in dem Rahmen, den ich gerade
beschrieben habe. Darauf kommt es an; das wollen wir er-
reichen. Wir wollen auf Dauer Planungssicherheit für die
jungen Menschen schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Darüber hinaus werden wir im Rahmen der Reform der
Personalstruktur an den Hochschulen ohnehin die Ände-
rung des Hochschulrahmengesetzes in Angriff nehmen.
Dabei werden wir uns mit weiteren Fragen zu beschäfti-
gen haben, etwa mit der Frage der Zuständigkeiten für die
Bildungsfinanzierung. Sie wollen uns tatsächlich weis-
machen, dass erst die CDU/CSU uns darüber die Diskus-
sion aufgezwungen habe, obwohl Sie in diesem Bereich
über Jahre hinweg nichts getan haben. Das ist schlicht
lächerlich. Die Fragen, ob wir lieber Köpfe finanzieren
wollen oder ob wir die Mittel lieber in die Erhaltung der
Hochschulgebäude investieren wollen, ob wir die heutige
Mischfinanzierung des Hochschulbaus überhaupt erhal-
ten wollen oder ob wir ein neues System einführen wol-
len, werden im Rahmen der Neuregelung des föderalen
Finanzausgleiches zwischen Bund und Ländern zur Spra-
che kommen.

Ich bin dafür, dass man Köpfe finanziert und dass man
den Ländern und den Hochschulen, die viele Studierende
ausbilden, auch mehr Geld als denjenigen gibt, die das
nicht tun. Wer viel ausbildet, der muss belohnt werden.
Diese Belohnung muss sich an der Zahl der ausgebildeten
Studierenden orientieren.

Wenn es uns gelingt, den Rechtsanspruch auf Bildung
sicherzustellen und die Bildungsfinanzierung umzustel-
len, dann bin ich sehr optimistisch, dass sich die Studien-
situation in Deutschland verbessert. Aber Ihren kleinka-
rierten und parteipolitisch motivierten Streit, den Sie hier
anzetteln, können Sie sich für die Zukunft sparen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410311300
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht die Kollegin Cornelia Pieper.




Matthias Berninger
9704


(C)



(D)



(A)



(B)



Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1410311400
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage gleich in
der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der PDS: Wir
lehnen es ab, Gebührenfreiheit in einem Paragraphen des
Hochschulrahmengesetzes festzuschreiben und somit un-
eingeschränkt zu gewährleisten.


(Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Ihr seid doch sonst für die Freiheit!)


Es kommt noch hinzu, dass die Gebührenfreiheit auch
für die Langzeitstudierenden gelten soll. Dazu sage ich
ganz deutlich: Das entspricht überhaupt nicht unserem
Ideal von dem jungen Menschen in dieser Gesellschaft.
Die jungen Menschen in unserer Gesellschaft streben
nicht als erstes Ziel ein Langzeitstudium an, um dann –
nach einer Tätigkeit als Fahrradbeauftragter – in den Ge-
nuss einer Staatspension zu kommen. Wer glaubt, dass
junge Menschen das wollen, der ist ein bisschen welt-
fremd. Wir wollen jedenfalls nicht die Langzeitstudieren-
den durch Studiengebührenfreiheit fördern.

Ich kann auch nicht feststellen, dass die Studienge-
bührenfreiheit zur Steigerung der Attraktivität des Hoch-
schulstandortes Deutschland beigetragen hätte. Das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen. Von daher brauchen
wir in der Diskussion ganz neue Ansätze.

Ich fand gut, dass Herr Berninger hier ein Modell vor-
getragen hat, das die F.D.P. schon vor drei Jahren be-
schlossen hat, nämlich über Bildungsgutscheine – so
heißt bei uns das, was bei Ihnen Bildungskonten genannt
wird – in die Köpfe zu investieren. Man gibt den jungen
Menschen Gutscheine für einen Rechtsanspruch auf ein
Studium. Mit den entsprechenden Wertpapieren darf man
bestimmte Veranstaltungen an Hochschulen besuchen.
Das soll bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss
gelten. Daraus ergibt sich unsere klare Antwort auf die
Frage der Studiengebühren: Natürlich steht die F.D.P.
weiterhin für Chancengleichheit aller jungen Menschen
beim Start ins Berufsleben;


(Beifall bei der F.D.P.)

deswegen wollen wir keine Studiengebühren für den ers-
ten Teil der akademischen Ausbildung, also für den Teil
bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss.

Wenn Sie Chancengleichheit tatsächlich wollen, dann
lassen Sie mich mit Blick auf die Regierungsbank, Herr
Catenhusen, sagen: Wenn Sie das Studium nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängig machen wollen, dann
stimmen Sie doch unserer BAföG-Reform, dem Dreikör-
bemodell, zu. Danach soll jedem Studierenden in
Deutschland ein Ausbildungsgeld in Höhe von 500 DM
ausgezahlt werden. Mit dieser Maßnahme kann man et-
was für die Chancengleichheit insbesondere von jungen
Menschen aus einkommensschwachen Elternhäusern tun.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich will daran erinnern – auch Herr Hilsberg hat es ge-

sagt –, dass es in Deutschland insgesamt 75 Privathoch-
schulen mit circa 40 000 Studierenden gibt. Wenn man
sich die Qualität der Privathochschulen anschaut, dann
kann man feststellen, dass sie wie ein Magnet auf die jun-

gen Menschen wirken. Es ist nicht so, dass diese Hoch-
schulen Probleme damit haben, Studierende zu bekom-
men – ganz im Gegenteil. Ich selber war an den Privat-
universitäten in Witten-Herdecke und in Leipzig, der äl-
testen Handelshochschule. Ich habe feststellen dürfen,
dass sich die Studienbewerber um die Studienplätze
reißen. In Leipzig kommen auf einen Studienplatz 20 Be-
werber, obwohl das Studium dort nicht gerade billig ist.

Wir sollten den Hochschulen in Deutschland kein allzu
enges Korsett aufzwingen. Unser Kredo war immer: mehr
Autonomie und Wettbewerb der Hochschulen. Dabei wol-
len wir bleiben. Von daher sage ich ganz klar: Wir wollen
kein Verbot über ein Bundesgesetz. Das wäre rechtlich so-
wieso nicht machbar; Herr Rachel hat das hervorragend
ausgeführt.

Ich will daran erinnern, dass wir in europäischen Di-
mensionen leben. Demnächst wird die EU-Osterweite-
rung stattfinden und Polen, Tschechien und Ungarn wer-
den der EU beitreten. Ich hatte in dieser Woche ein Ge-
spräch mit dem Marketingbeauftragten der privaten
Fachhochschule für Verwaltung und Finanzen in Breslau.
Er hat mir erzählt, wie es dort funktioniert: Die polnischen
Studenten zahlen monatlich eine Studiengebühr von
200 DM bis 400 DM. An dieser Hochschule studieren
8 000 Studenten. Das Durchschnittsgehalt in Polen be-
trägt 800 DM.


(Stephan Hilsberg [SPD]: Dann können Sie sich vorstellen, wer da studiert!)


Das Aufkommen der Studenten halte ich für eine
enorme Leistung. Damit will ich nur deutlich machen,
dass der Wettbewerb zwischen den Hochschulen nicht nur
in Deutschland, sondern auch international stattfindet.
Wir sollten alles daransetzen, den Hochschulstandort
Deutschland zu stärken.

Kurz gesagt, für mich ist wichtig, wie lange und bis zu
welchem Abschluss die staatliche Finanzierung des Stu-
diums gewährleistet werden soll. Wir haben die Diskus-
sion über die künftige Studienstruktur noch nicht abge-
schlossen. Das Koalitionsversprechen, die Erhebung von
Studiengebühren auszuschließen, wird auch von Frau
Bulmahn Schritt für Schritt umgedeutet. Von der Formu-
lierung, Studiengebühren im ersten Studium werde man
ausschließen, ist man inzwischen zur Formulierung ge-
kommen, Ziel sei es, Studiengebühren bis zu einem be-
rufsqualifizierenden Abschluss auszuschließen. Hierin
sehen wir eine gewisse Annäherung der Positionen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410311500
Ich schließe die
Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3005 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der F.D.P.
Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-
Anbau in Ostwestfalen-Lippe
– Drucksache 14/3107 –

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Gudrun Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1410311600
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Modellprojekt „Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in
Ostwestfalen-Lippe“ ist ein Modellprojekt, das ich schon
seit über einem Jahr intensiv und akribisch verfolge und
umzusetzen versuche. Ich wünsche mir dafür sehr viel
mehr Aufmerksamkeit,


(Zurufe von der SPD)

auch aus den Reihen dieses Gremiums.

Bundeslandwirtschaftsminister Funke hat – das richte
ich an die Adresse der SPD-Abgeordneten – diesem Vor-
schlag zur Innovation der direkten Vernetzung von Land-
wirtschaft und Wirtschaft sein Plazet gegeben. Er wird
dies fördern. Das begrüße ich ausdrücklich, denn dies ist
gleichzusetzen mit der Förderung einer Existenzgrün-
dung, mit einer Innovationsförderung und mit einer An-
schubfinanzierung, die notwendig und sinnvoll ist. Für
die F.D.P.-Fraktion danke ich dem Landwirtschaftsminis-
ter ganz herzlich dafür.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wofür der Heil- und Gewürzpflanzenanbau – eine

Säule der Landwirtschaft – genutzt werden kann, möchte
ich Ihnen kurz darlegen: Dieser Pflanzenanbau soll zur
Herstellung von homöopathischen Arzneimitteln, von
Biokosmetika, von Extrakten bzw. Naturheilmitteln so-
wie von alternativen Dämmstoffen für die Bauwirtschaft
dienen. Nun wissen wir, dass circa 90 Prozent aller auf
dem deutschen Markt benötigten Heil- und Gewürzpflan-
zen aus dem Ausland importiert werden, beispielsweise
aus Südamerika, aus Indien und aus Osteuropa.


(Jörg Tauss [SPD]: Madagaskar!)

Diese Abnahme erfolgt zu Weltmarktpreisen. Es stellt sich
natürlich die Frage, wie wir uns dem in Deutschland mit
den 10 Prozent, die hier angepflanzt werden – dieses Mo-
dellprojekt soll ja ein positives Beispiel auch für andere
Regionen geben –, stellen können. Womit haben wir eine
Chance? – Nur mit Topqualität am heimischen Standort;
denn die importierten Rohstoffe – das wissen wir alle –
sind häufig verschmutzt bzw. sogar belastet.

Die Anschubfinanzierung soll in erster Linie eine fach-
liche Betreuung dieses Projektes vom ersten Tag an ge-
währleisten – Professionalität ist gefragt – sowie eine In-
vestition in Maschinen bzw. Anlagen, um dieses Projekt
auf die Schiene zu bringen und die Projektphase mög-
lichst erfolgreich zu beenden. Am Projekt in der Region
arbeiten auch Hochschulen mit, die bei diesem speziellen

Projekt im Augenblick mit der Erzeugergemeinschaft, die
noch zu gründen ist, und mit den Vertragspartnern auf der
anderen Seite nach neuen Wegen der Extraktgewinnung
suchen. Also auch technologisch soll es Fortschritte ge-
ben.

Ich bin heute hier die Einzige, die zu diesem Tagesord-
nungspunkt redet. Das mag zeigen, wie wenig wichtig die
Fraktionen dieses Thema nehmen. Gleichwohl wünsche
ich mir die Unterstützung von Ihnen allen. Ich wünsche
mir auch, dass Sie sich diesem Thema ein wenig positiver
nähern und auch den innovativen Aspekt entsprechend
würdigen. Ich sage es noch einmal: Hier geht die Land-
wirtschaft neue Wege, wobei sie sich marktwirtschaftli-
chen Gegebenheiten stellt. Damit kann sie sich – das ist
unser Anliegen – ein Stück weit von der bisherigen EU-
Subventionspraxis entfernen und Eigenständigkeit ge-
winnen. Das ist etwas, was man nicht hoch genug anrech-
nen kann. Ich bitte Sie also herzlich um Unterstützung
dieses Antrages der F.D.P.-Fraktion.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410311700
Die Kollegen
Meinolf Michels, Marianne Klappert, Kersten Naumann,
Helmut Heiderich, Steffi Lemke und der Parlamentari-
sche Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten Dr. Gerald Thalheim geben
ihre Reden zu Protokoll.*) Ich kann deshalb die Ausspra-
che schließen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3107 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit
einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt
3 auf:

20. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na-
tionaler und EU-Ebene beschleunigen
– Drucksache 14/3096 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita
Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche
Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in
Europa zügig abbauen
– Drucksache 14/3298 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit




Vizepräsident Rudolf Seiters
9706


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 3

Die Kollegen Albert Deß, Gustav Herzog, Marita
Sehn, Kersten Naumann und Ulrike Höfken geben ihre
Reden zu Protokoll. **)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe
damit die Aussprache, die nicht stattgefunden hat.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3096 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 14/3298 soll an dieselben Ausschüsse und zu-
sätzlich an den Ausschuss für Gesundheit überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu Veröffent-
lichungen, wonach Bundesfinanzminister Eichel
eine Erhöhung derMehrwertsteuer im nächsten
Jahr plant

Diese Aktuelle Stunde ist von der Fraktion der PDS be-
antragt worden.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol-
legin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1410311800
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche infor-
mierte das „Handelsblatt“ die interessierte Öffentlichkeit
über die Pläne des Bundesfinanzministers zur Reform der
Rentenbesteuerung. Besonderes Interesse fand dabei
natürlich die Frage der Finanzierung. Man scheint im Fi-
nanzministerium bereits fündig geworden zu sein; die Lö-
sung lautet: Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dies wurde
natürlich umgehend dementiert, da der Zeitpunkt der Ver-
öffentlichung für Rot-Grün unmittelbar vor den Land-
tagswahlen in Nordrhein-Westfalen extrem ungünstig
war. Als Oppositionspolitikerin musste ich in den letzten
Jahren jedoch wiederholt die Erfahrung machen, dass
über politische Vorhaben und ihre konkrete Umsetzung
zuerst, gut und detailliert aus der Zeitung, unter anderem
aus dem „Handelsblatt“, Kenntnis zu beziehen war.

Ausgangspunkt der heutigen Aktuellen Stunde ist eine
rot-grüne Politik, die in trauriger Kontinuität zu der von
Schwarz-Gelb steht. Bereits vor 20 Jahren, im Jahre 1980,
forderten die Verfassungsrichter den Gesetzgeber auf, für
eine gleichmäßige Besteuerung aller Alterseinkünfte zu
sorgen. Aber nicht eine einzige Regierung hat sich seit-
dem an die grundsätzliche Lösung dieses Problems ge-
wagt. Über die Besteuerung der Alterseinkünfte zu reden
heißt nämlich, darüber zu sprechen, ob es innerhalb der
Bevölkerung zwischen Männern und Frauen, zwischen
verschiedenen Berufsgruppen, zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitnehmerinnen und Beamten sowie Unterneh-
mern überhaupt annähernd gleiche Chancen zur Erlan-
gung von Alterseinkünften gibt.

Die PDS hat heute diese Aktuelle Stunde nach bitterer
Erfahrung in der letzten Legislaturperiode beantragt. Zur

Erinnerung: Die letzte Mehrwertsteuererhöhung 1997
wurde in einer großen Koalition von Rot-Schwarz durch-
gesetzt. Sie war politisch in der Bevölkerung nur durch-
zudrücken, indem man sie an die Rentendiskussion kop-
pelte. Nun steht zu befürchten, dass Sie trotz aller De-
mentis vonseiten der SPD und aller Kritik vonseiten der
CDU/CSU bei Ihren Rentenkonsensgesprächen, von de-
nen Sie ja die PDS ausschließen, genau in diese Richtung
marschieren werden.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ihr seid doch alle versorgt!)


Auch beim Thema Reform der Rentenbesteuerung
geht es wieder um die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, die vor
allem eine starke Entlastung von gut verdienenden Ar-
beitnehmern und Arbeitnehmerinnen beinhalten wird, ist
notwendig. Dagegen ist auch überhaupt nichts zu sagen.
Skandalös ist aber die beabsichtigte Finanzierung durch
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, denn damit werden
vor allem Menschen mit geringem Einkommen wie So-
zialhilfeberechtigte, Studenten und Studentinnen, Ar-
beitslose, Rentner und Rentnerinnen besonders belastet.
Das sind die Gruppen in der Bevölkerung, die fast ihr ge-
samtes Einkommen für ihren Konsum ausgeben müssen.
Das haben wir bisher im Bundestag nicht mitgetragen und
das wird die Partei der Demokratischen Sozialistinnen
und Sozialisten auch zukünftig nicht mittragen.


(Beifall bei der PDS)

Ebenso wenig tragen wir die Überlegungen von Bünd-

nis 90/Die Grünen mit, eine erhöhte Ökosteuer als Finan-
zierungsquelle anzuzapfen; denn dies ist genauso unso-
zial. Nebenbei bemerkt: Auf diese Art und Weise verab-
schieden Sie sich von Ihrer eigenen Logik, nämlich Arbeit
zu verbilligen und Umwelt zu verteuern. Die PDS hat
diese Logik von Anfang an vehement kritisiert, da sie we-
der politisch noch ökonomisch stichhaltig ist. Noch unlo-
gischer ist es aber, nun zu überlegen, die Ökosteuer für die
Entlastung einer ausgewählten Gruppe von Erwerbstäti-
gen zu erhöhen.

Es ist nicht gerecht, über die Erhöhung der indirekten
Besteuerung nachzudenken, wenn Sie gleichzeitig in der
nächsten Woche eine Unternehmensteuerreform verab-
schieden werden, mit der Sie wieder massive Steuerge-
schenke insbesondere an große Unternehmen verteilen,


(Beifall bei der PDS)

ohne sicherzustellen, dass durch diese enormen Steuer-
entlastungen tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen werden,
und ohne zu wissen, wie die mit der Steuerreform ver-
bundenen Einnahmeausfälle gegenfinanziert werden sol-
len. Das blinde Vertrauen auf Selbstfinanzierungseffekte
haben Sie noch in der Opposition an der damaligen Re-
gierung immer harsch kritisiert.

Die notwendige Diskussion über die Besteuerung der
Altersvorsorge kann nur im Rahmen einer tatsächlichen
Rentenreform umfassend stattfinden. Die unterschiedli-
chen Voraussetzungen zur Erlangung einer Altersvorsorge
haben auch im Steuerrecht ständig zu Verzerrungen ge-
führt; Ungerechtigkeiten wurden noch verschärft.




Vizepräsident Rudolf Seiters

9707


(C)



(D)



(A)



(B)


**) Anlage 4

Ein Beispiel sind die Freibeträge von Vorsorgeaufwen-
dungen! Während ein Arbeitnehmer diese mit seinen
Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung be-
reits aufzehrt, stehen einem Beamten die gesamten Frei-
beträge zur Verfügung, um steuerlich entlastet seine zu-
sätzliche private Vorsorge zu treffen. Hier wird ganz deut-
lich: Eine Steuerreform allein reicht nicht aus, um
umfassend soziale Gerechtigkeit herzustellen. Genauso
wichtig wie die angemahnte Gleichbesteuerung aller Al-
terseinkünfte ist die Chancengleichheit zu ihrer Erlan-
gung.

Es ist immer noch so, dass ein nicht unerheblicher Teil
der Menschen in der Bundesrepublik keine eigenen Ren-
tenansprüche erwirbt. Zur Frage der Steuerfreistellung
der Altersvorsorge werden wir noch über viele Probleme
diskutieren müssen, um wenigstens etwas mehr soziale
Gerechtigkeit herzustellen. Eine Hauptaufgabe für die
PDS wird es sein, für eine allgemeine Rentenversiche-
rungspflicht und eine menschenwürdige Grundsicherung
im Alter für alle Menschen zu kämpfen.


(Beifall bei der PDS)

Mit uns ist keine Finanzierung der Reform der Renten-

besteuerung über eine Mehrwertsteuererhöhung durchzu-
setzen. Wir raten Ihnen vielmehr: Holen Sie das benötigte
Geld da, wo es vorhanden ist! Verzichten Sie bei den sehr
hoch Vermögenden nicht auf diese Einnahmequelle!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410311900
Ich gebe das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister
der Finanzen, Dr. Barbara Hendricks.

D
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1410312000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich wende mich an Sie, Frau Kollegin
Höll, und an die Fraktion der PDS, aber auch vorsorglich
im Hinblick auf die zu erwartende Debatte an die übrigen
Oppositionsfraktionen und erkläre hier für die Bundesre-
gierung: Es gibt keine Pläne der Bundesregierung zur Er-
höhung der Mehrwertsteuer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: So einfach ist das!)


Es gibt auch im Bundesfinanzministerium keine Ge-
spräche über solche eventuellen Pläne. Es gibt auch keine
Vorlagen von Beamten an die Leitung des Hauses, die sol-
che Vorschläge beinhalten würden.

Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns bald
ins Wochenende fahren zu lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Susanne Kastner [SPD]: Ausgezeichnete Rede! – Jörg Tauss [SPD]: So einfach ist das!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410312100
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Otto Bernhardt.


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1410312200
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn doch die Welt
nur so einfach wäre, Frau Staatssekretärin!

Ich will zunächst einmal feststellen, dass zwar nach
außen die Unterschiede zwischen den großen Volkspar-
teien immer weniger sichtbar werden, dass aber doch gra-
vierende Unterschiede bestehen. Gerade bei dem Thema,
um das es in dieser Aktuellen Stunde geht, kann man das
dahin gehend verdeutlichen: Wir von den Unionsparteien
wollen weniger Staat als die Sozialdemokraten. Das heißt
in der Konsequenz: Wir sind die Partei der Steuersenker,
und Sie sind die Partei der Steuererhöher.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: 16 Jahre lang! Hervorragend!)


– Mich überrascht nicht, dass Sie dies energisch zurück-
weisen. Nur: Die Fakten – und ich werde Ihnen ein paar
Zahlen nennen – unterstreichen, dass die, die lachen, die
Zahlen nicht kennen.


(Jörg Tauss [SPD]: 50 Steuererhöhungen hatten wir bei Ihnen!)


Meine Damen und Herren, es kommt nicht darauf an,
wie der eine oder andere Steuersatz ist. Entscheidend ist
die Staatsquote insgesamt. Das wird Ihnen jeder Natio-
nalökonom sagen, auch wenn es nicht jeder begreift.


(Jörg Tauss [SPD]: Da habt ihr Weltrekorde aufgestellt!)


– Einen Weltrekord haben Sie aufgestellt.
Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen:

(Jörg Tauss [SPD]: Ja, da seht ihr aber schlecht aus!)

In den 70er-Jahren war die Staatsquote in Deutschland
immer unter 40 Prozent. Unter sozialdemokratischen Re-
gierungen – die Staatssekretärin wird die Zahlen bestäti-
gen, weil sie aus ihrem Hause kommen – hatte sich die
Staatsquote in Deutschland auf über 50 Prozent erhöht, als
wir 1982 die Verantwortung übernahmen. Dann ist es uni-
onsgeführten Regierungen gelungen – hier ist insbeson-
dere der Name Gerhard Stoltenberg zu nennen –, die
Staatsquote auf 46 Prozent zurückzufahren.


(Susanne Kastner [SPD]: Die Lohnnebenkosten habt ihr ständig nach oben geschraubt! Wir haben sie gesenkt.)


Im Rahmen der Wiedervereinigung ist die Staatsquote
dann allerdings wieder auf etwa 50 Prozent gestiegen,


(Susanne Kastner [SPD]: Mein Gott, ist das ein Unsinn!)


aber seit 1996 rückläufig. Im letzten Jahr der Regierung
Kohl betrug die Staatsquote – nach den Veröffentlichun-
gen des Finanzministeriums – 48,3 Prozent.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Und siehe da: Im ersten Jahr der Regierung Schröder ist
sie wieder auf 49 Prozent gestiegen.


(Susanne Kastner [SPD]: Aber die Arbeitslosigkeit ist gesunken! Das ärgert Sie!)





Dr. Barbara Höll
9708


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie sind die Steuererhöhungspartei.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich nenne Ihnen auch gerne die anderen Zahlen.

(Jörg Tauss [SPD]: Herr Bernhardt, das hilft auch nicht mehr! Das sieht nicht gut aus!)


Nehmen wir die Zusammenfassung der Steuer- und Ab-
gabenquote. Die Zahlen sehen ähnlich aus. Deshalb kriti-
siert – schauen Sie einmal ins „Handelsblatt“ – der Präsi-
dent des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,
Hans-Olaf Henkel, heute zu Recht, dass im letzten Jahr
erstmalig seit längerer Zeit die Steuer- und Abgabenquote
wieder gestiegen ist. Das sind die Fakten.

Vor dem Hintergrund der diskutierten Mehrwertsteuer-
erhöhung geht es nun um – die Kollegin Dr. Höll hat da-
rauf hingewiesen – das sich abzeichnende Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts. Alles spricht dafür, dass das Ur-
teil wohl in die Richtung geht, dass die Alterseinkünfte
gleichmäßig zu versteuern sind. Im Gegenzug wird es si-
cher dazu führen, dass die Beiträge, die wir aufbringen,
steuerfrei sind. Nun wissen wir noch nicht,


(Jörg Tauss [SPD]: Aber Sie wissen alles! – Gegenruf von der CDU/CSU: Und Sie wissen nichts!)


wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wir
wissen auch noch nicht – das ist ein ganz wichtiger Punkt
für die Größenordnung –, wie die Übergangsfristen aus-
sehen werden. Nur wenn es zu ganz kurzen Übergangs-
fristen kommt, könnte es zu Steuerausfällen in einer
Größenordnung von 40 Milliarden DM führen.

Es kann natürlich nicht überraschen – auch wenn Sie es
dementieren –, dass man, wenn solche Größenordnungen
im Raum stehen, natürlich auf die Mehrwertsteuer und
vielleicht auf die Ökosteuer guckt, weil das Steuern sind,
die zunächst einmal den Vorteil haben: Sie bringen wirk-
lich viel Geld; 1 Prozent Mehrwertsteuer, 16 Milliar-
den DM. Aber bei beiden Steuern, bei Ökosteuer und
Mehrwertsteuer, besteht natürlich – wie Sie richtig gesagt
haben, Frau Kollegin Dr. Höll – das Problem: Sie treffen
jeden, unabhängig von der Leistungsfähigkeit.

Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich als Mit-
glied einer Steuersenkungspartei:


(Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Er wiederholt sich! Wir werden diese Entwicklung um die Gegenfinanzierung der Veränderungen in der Rentenbesteuerung sehr genau beobachten. (Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie mal, sind Ihre fünf Minuten nicht bald rum?)


Wir werden weder einer direkten noch einer indirekten
Steuererhöhung zustimmen. Denn Steuererhöhungen
schaden der Konjunktur und damit den Arbeitsplätzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Sie schaden uns! – Jörg Tauss [SPD]: Die Unternehmen, die Sie beraten haben, müssen doch alle pleite sein!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410312300
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Kristin
Heyne.


Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410312400
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Also führen wir
hier zu später wochenendlicher Stunde noch ein kleines
Schattengefecht.

Frau Höll, wenn Sie in die Presse geguckt haben, dann
konnten Sie natürlich auch da schon sehen – wie es die
Staatssekretärin gesagt hat –: Es ist weder eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer geplant noch eine Erhöhung der Öko-
steuer. Wir haben ganz klar gesagt: Was wir in dieser Le-
gislaturperiode über die Ökosteuer einnehmen, werden
wir über die Lohnnebenkosten vollständig wieder ausge-
ben. Das tun wir auch und das wissen Sie.

Der Zweck der Debatte ist, Verunsicherung zu schüren.
Ich finde, dass es besonders der PDS als Partei, die soziale
Verantwortung suggeriert, relativ schlecht ansteht, gerade
bei den Menschen mit geringem Einkommen Unsi-
cherheit zu schüren. Dafür sollte Ihnen eine Aktuelle
Stunde eigentlich zu schade sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Worum es geht und worüber wir wirklich in einen
Wettbewerb eintreten sollten, ist die Reform der Renten-
versicherung, der Altersvorsorge. Hier besteht großer Be-
darf, dass wir auf lange Sicht Strukturen schaffen, die ge-
recht sind, sowohl für die Älteren als auch für die Jungen.
Da wird es notwendig sein, dass wir nicht nur den Pflicht-
versicherungsbereich haben, sondern auch den Bereich
betrieblicher Altersvorsorge und privater Vorsorge stär-
ken. Das wird möglich sein, gerade deswegen, weil wir
deutlich entlasten, nicht zuletzt mit der Steuerreform, die
wir in der nächsten Woche hier beschließen werden. Da-
mit – das wissen Sie genau, Frau Höll – werden die Fa-
milien, die kleinen und mittleren Unternehmen in großem
Maße entlastet. Auch der Kollege von der CDU/CSU
weiß das natürlich.

Wenn wir Anreize für die private Vorsorge schaffen
wollen, müssen wir uns auch mit dem Thema Besteuerung
der Renten beschäftigen. Es macht Sinn, hier zu Verände-
rungen zu kommen, damit es Geld für die private Vor-
sorge gibt.

Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, der dafür
spricht, die Besteuerung von Alterseinkünften zu ändern.
Denn gerade wenn jemand ins Erwerbsleben eintritt,
braucht er viel Geld. Da lässt man sich nieder, gründet
möglicherweise sogar eine Firma, gründet vielleicht eine
Familie. Zu diesem Zeitpunkt ist es gut, wenn die Alters-
vorsorge steuerfrei gestellt ist. Später, wenn man ein gutes
Alterseinkommen erreicht hat und von den familiären
und beruflichen Belastungen befreit ist, kann eine Steuer
gezahlt werden. Deswegen ist eine solche Umstellung
sinnvoll. Ich freue mich, wenn wir da einer Meinung sind
und in den Rentengesprächen vielleicht zu einer Einigung
kommen können.




Otto Bernhardt

9709


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie haben zu Recht gesagt, wenn man das von heute
auf morgen machen würde, würde das etwa 40 Milliar-
den DM kosten, weil für die heute Erwerbstätigen die
Steuer wegfiele. Aber die, die heute eine Rente erhalten –
das muss man ganz deutlich sagen –, werden auch nicht
plötzlich besteuert. Sie haben ihr Einkommen schon ver-
steuert, als sie eingezahlt haben. Das hieße, es würde eine
sehr große Diskrepanz bei den Steuereinnahmen entste-
hen. Deswegen werden wir die Steuerfreibeträge allmäh-
lich ansteigen lassen. Es wird bei der Besteuerung der
Renten einen ganz langsamen, der tatsächlich gezahlten
Steuer entsprechenden Übergang geben. Es ist wichtig,
das hier noch einmal zu sagen.

Ich will aber auch ganz klar sagen: Es ist uns gelungen,
in die Konsolidierung des Haushalts einzusteigen. Wir
setzen das bei dem neuen Haushalt fort. Es ist uns gelun-
gen, die Belastung vor allem der kleinen und mittleren
Einkommen zu senken. Deswegen sind wir der Meinung,
dass wir den allmählichen Übergang zur Rentenbesteue-
rung finanziell leisten können und dass wir dafür keine
zusätzlichen Steuereinnahmen benötigen. Wir haben bei
unserer jetzigen Steuerreform den Grundsatz, alles aus
dem Bestehenden zu finanzieren. Wir haben ganz klar ge-
sagt, dass es keine Verbrauchssteuererhöhung zur Sen-
kung der anderen Steuern geben wird. Dabei werden wir
bleiben. Das gilt für die gesamte Legislaturperiode. Da-
rauf können Sie sich verlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1410312500
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Otto Solms.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1410312600
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es
sehr erfreulich, dass nun auch im Finanzministerium die
Erkenntnis gewachsen ist, dass man eine Rentenreform
nicht ohne eine enge Verzahnung mit der Steuerpolitik
durchführen kann. Es ist völlig unausweichlich – das wis-
sen alle, die sich mit dieser Frage befassen –, dass wir zu
mehr privater Altersvorsorge kommen, und deshalb klar,
dass wir bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbst-
ständigen finanziellen Spielraum schaffen müssen, damit
sie diese zusätzlichen Anstrengungen für die Altersvor-
sorge leisten können.

Deswegen müssen wir im Steuersystem darauf Rück-
sicht nehmen. Da gibt es, glaube ich, auch kaum andere
Meinungen in diesem Hause. Alle Betroffenen wissen: Es
wird zu einem System der nachgelagerten Besteuerung
kommen müssen.

Nun konnten die Rentengespräche nicht weitergeführt
werden, ohne dass die Finanzpolitiker daran beteiligt wer-
den. Deshalb hat die F.D.P. gefordert, dass der Bundesfi-
nanzminister bei diesen Gesprächen zugezogen wird, per-
sönlich oder vertreten durch Frau Dr. Hendricks oder wen
auch immer. Das hat jetzt zum Nachdenken auf der Re-
gierungsseite geführt. Ich nehme Frau Dr. Hendricks ohne
weiteres ab, dass es auf Ihrer Seite keine konkreten Vor-
stellungen zur Verbrauchssteuererhöhung gibt. Aber man

weiß natürlich, dass das nachgelagerte Besteuerungssy-
stem zunächst einmal zu Steuerausfällen führen muss.
Das ist unzweifelhaft. Dabei kommt es auf die einzelnen
Gestaltungen an.

Wer sich in diesem Zusammenhang weiter hervorge-
wagt hat, das waren die Grünen, und zwar die Steuerex-
pertin Scheel, die am 5. Mai dieses Jahres im „Handels-
blatt“ gesagt hat, es gebe zwar keine konkreten Pläne und
Absprachen, aber wenn es darum gehe, die Steuerausfälle
auszugleichen, die mit der nachgelagerten Besteuerung
entstünden, dann wolle man eher bei der Ökosteuer als bei
der Mehrwertsteuer ansetzen. Es geht also gar nicht mehr
um das Ob, sondern nur noch um die Steuerart, die erhöht
werden soll.


(Beifall bei Abg. der PDS)

Natürlich hat der Fraktionsvorsitzende Schlauch diese

Äußerung unverzüglich dementiert.

(Kristin Heyne [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Das war eine Ente!)

– Nein, eine Ente war das nicht. Das war überlegt. Wir alle
denken ja über diese Probleme nach.

Einem Interview mit Ihrem Kollegen Metzger in der
„Zeit“ vom 11. Mai dieses Jahres – dies war eine Woche
später – können Sie entnehmen, dass dieser das bestätigt.
Er sagt – auch das will ich Ihnen nicht vorenthalten –:

Ich gehe von einem Modell aus, in dem der
Vorsorgefreibetrag in drei oder vier Stufen angeho-
ben wird.

– Also dadurch, dass die steuerfreie Möglichkeit zum Auf-
bau einer Altersversorgung geschaffen wird.

In den ersten ein, zwei Stufen könnte man auf eine
Verbrauchsteuererhöhung verzichten. Zu einem spä-
teren Zeitpunkt ... lässt sich eine Erhöhung der Ver-
brauchsteuern der Bevölkerung vermitteln ...

Schön und gut.

(V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Was entnehme ich dem? Diesem Gedanken wird ge-

rade bei den Grünen weiter nachgegangen. Ich kann in
diesem Zusammenhang nur sagen: Das ist bzw. wäre


(Jörg Tauss [SPD]: Das hört sich besser an! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aha! Damit ist der spekulative Anteil Ihrer Rede klar!)


– Sie haben ja einen wesentlichen Beitrag an der Regie-
rungspolitik; ich denke, dass Sie den auch einbringen wer-
den – eine völlig widersinnige Politik. Ich will einmal da-
rauf hinweisen, warum das so widersinnig wäre: Wenn
Sie gerade den kleinen Einkommensbeziehern durch
Steuererleichterungen einen finanziellen Spielraum ver-
schaffen, um eine zusätzliche private Altersvorsorge auf-
zubauen, dann können Sie jenen diesen finanziellen Spiel-
raum nicht gleichzeitig durch Verbrauchssteuererhöhun-
gen wieder wegnehmen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abg. der CDU/CSU und der PDS)





Kristin Heyne
9710


(C)



(D)



(A)



(B)


Das macht wirklich keinen Sinn. Deswegen bitte ich da-
rum, über diese Fragen ernsthaft weiterzudiskutieren.

Frau Dr. Hendricks, wir brauchen übrigens nicht auf
das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zu warten. Wir wissen doch, worauf es im Prinzip hinaus-
laufen muss.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das Verfassungsgericht hat ja leider mittlerweile mitge-
teilt, dass dieses Urteil in diesem Jahr nicht mehr zu er-
warten sein wird. Wir können also darauf nicht warten.

Wir müssen die anstehende Entscheidung im Zusam-
menhang mit jener über die Zukunft der Rentenversiche-
rung fällen, weil das zwingend zusammengehört. Nur so
entsteht ein Gesamtbild. Das wird nicht einfach; das weiß
ich wohl. Wir sind bereit, uns genauso konstruktiv wie die
anderen Mitglieder dieses Hauses an diesen Diskussionen
zu beteiligen. Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, zu einer ver-
nünftigen Reform der Rentenversicherung unter Einbe-
ziehung der Reform des Steuersystems zu kommen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410312700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1410312800
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatsse-
kretärin, ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen:
Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Nach Ihrer klaren Aus-
sage, die Sie hier soeben getroffen haben, verzichte ich
natürlich darauf.

Es ist aber, wenn man sich den Zeitungswald anschaut
und beispielsweise im „Focus“ unter der Überschrift
„Furcht vor dem M-Wort“ liest, dass auf den Gängen des
Ministeriums unter den dortigen Fachleuten eine Mehr-
wertsteuererhöhung stetes Thema sei im Zusammenhang
mit der Neuregelung der Renten, eine Überlegung wert,
warum die Öffentlichkeit so dazu geneigt ist, dieses
Thema aufzunehmen. Dies ist deshalb der Fall, weil sie
die Erfahrung gemacht hat, dass es für die Regierungspo-
litik von SPD und Grünen typisch ist, dass dann, wenn ir-
gendeine neue Aufgabe auftaucht, darüber nachgedacht
wird: Wo können wir mehr Steuern einnehmen, um das zu
bewältigen? Das ist ein Kernproblem Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg-Otto Spiller [SPD]: Das machen nicht wir! Das hat die CDU/CSU gemacht!)


Wir sollten nicht, wie Sie das tun, die Wirtschaft und
das Sozialprodukt unserer Volkswirtschaft als einen kon-
stanten Kuchen betrachten. Sie sind immer nur am Um-
verteilen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ah!)

Sie meinen, man müsse die Stücke kleiner schneiden, da-
mit jeder eines bekommt. Stattdessen müssen wir daran-
gehen, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt,

dass dieser Kuchen wächst und dass mehr verteilt werden
kann.


(Jörg Tauss [SPD]: Deswegen die Green Card!)


Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel.
Wenn Sie bei der Steuerreform, die wir in der nächsten

Woche in zweiter und dritter Lesung beraten werden, Mut
haben für ein wirklich durchgreifendes Reformwerk, für
ein Herangehen an die Einkommensteuersätze in dem
Sinne, wie wir es Ihnen vorgeschlagen haben,


(Jörg Tauss [SPD]: Im seriösen Sinne!)

wenn Sie das Steuersystem wirklich einfacher und ge-
rechter machen und die Sätze deutlich senken, dann schaf-
fen Sie die besten Voraussetzungen dafür, dass wir die uns
gestellte Aufgabe, die Rentenbesteuerung möglichst ge-
meinsam zu regeln, bewältigen können. Aber es geht nicht
so, wie Sie es vorhaben: mit einer Reform, die eben nicht
breit entlastet, sondern die auf die Körperschaften fokus-
siert und nur mühsam versucht, auch die vielen anderen
Unternehmer – 85 Prozent sind Personenunternehmen –,
die von der strangulierenden Steuerlast betroffen sind, zu
entlasten.

Ich freue mich, dass es – leider erst nach Abschluss der
Debatte im Finanzausschuss – einige Anzeichen dafür
gab, noch einmal neu nachzudenken. Ich ermuntere Sie
ausdrücklich dazu, das zu tun. Sie müssen durch den Bun-
desrat. Wenn wir hier herangehen, können wir in Deutsch-
land wieder wirkliches Wachstum generieren und von der
Position des Schlusslichts, die wir in Europa hinsichtlich
der Dynamik der Wirtschaft einnehmen, endlich wieder
nach vorne kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Metzger hat immerhin schon angedeutet, was Sie

sich konzeptionell vorstellen. Dass bei einem solchen
Thema Spekulationen ins Kraut schießen, solange Sie
nicht klar sagen, wohin Sie wollen, ist doch völlig klar.
Herr Metzger hat ein paar Hinweise gegeben; Frau Heyne
hat das eben noch einmal aufgegriffen. Sie haben es sich
nach der Bundestagswahl furchtbar einfach gemacht. Wir
haben für den Bereich der Renten – wenn auch nicht spe-
ziell zu dem Problem der nachgelagerten Besteuerung,
sondern generell – eine Reform beschlossen, die Sie aus-
gesetzt haben.


(Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks: Aber ganz ohne Steuerreform in dem Bereich!)


Seitdem warten wir darauf, dass von Ihnen in diesem Be-
reich irgendetwas Konzeptionelles kommt, aber bis jetzt
ist da Fehlanzeige.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: 150 Milliarden Entlastung!)


Legen Sie endlich ein Konzept aus einem Guss vor!
Dann brauchen wir nicht mehr über Spekulationen zu
reden, dann können wir über Konzepte reden, dann




Dr. Hermann Otto Solms

9711


(C)



(D)



(A)



(B)


können wir in den parlamentarischen Streit darüber ein-
treten und dann wird sich das beste System durchsetzen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: 16 Jahre haben Sie gar nichts zustande gebracht!)


Nur so bekommen wir die Rentenproblematik langfris-
tig in den Griff. Ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihre
Hausaufgaben! Sie können damit Diskussionen dieser Art
ganz schnell beenden und vor allen Dingen Ihrer Pflicht,
eine Politik zum Vorteil dieses Landes zu machen, gerecht
werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Suchen Sie lieber Ihr Geld und den Pfahls!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410312900
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Luft.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1410313000
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Volksmund weiß – es ist
eben schon zitiert worden –: kein Rauch ohne Feuer!
Liebe Frau Kollegin Hendricks, alle Dementis klingen
dann auch ziemlich hilflos, zumal der grüne haushalts-
und finanzpolitische Sprecher, der in der Diskussion hier
schon einige Male erwähnt worden ist, die Katze kürzlich
aus dem Sack gelassen hat. Er hat – ich verweise hier auf
ein anderes Zitat – am 5.Mai in der „Berliner Zeitung“ ge-
sagt: Wenn die Koalition eine höhere Mehrwertsteuer
noch vor der Bundestagswahl beschließen würde, hätte
sie doch nicht alle Tassen im Schrank.

Damit ist, denke ich, alles gesagt.

(Beifall bei der PDS)


Das, liebe Kollegin Heyne, verunsichert die Menschen.
Denn die zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl
sind ja rasch herum. Offenbar soll es doch so sein: Nach
der Bundestagswahl kann dieses Thema aufgegriffen wer-
den, vor der Bundestagswahl auf keinen Fall.


(Zuruf von der SPD: Nach der Bundestagswahl gibt es wieder eine Bundestagswahl!)


Damit gibt es offenbar genau das umgekehrte Vorge-
hen im Vergleich zur Vermögensteuer. Dazu haben Sie vor
der Bundestagswahl 1998 gesagt, Sie wollten nicht nur
die Prüfung hinsichtlich der Wiedererhebung der Vermö-
gensteuer in Angriff nehmen, sondern das nach Möglich-
keit auch durchsetzen. Nach der Wahl war diesbezüglich
Fehlanzeige. Hier wird es offenbar anders herum kom-
men. Wir werden Sie von der Koalition daran immer wie-
der erinnern.


(Jörg Tauss [SPD]: Wer foltert uns mehr, PDS oder CDU?)


Es ist schon eigenartig, es verwirrt die Öffentlichkeit
und spricht, so finde ich, auch nicht für eine stringente
Konzeption, wenn die Koalition bei den Themen Rente
und Steuern sozusagen jeden Monat einen neuen Ballon
steigen lässt.


(Beifall bei der PDS)


Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Deckung der Steu-
erausfälle nach Umsetzung des zu erwartenden Urteils
des Bundesverfassungsgerichts zur nachgelagerten Be-
steuerung der gesetzlichen Renten würde übrigens nahezu
alles konterkarieren, wofür sich die Koalition, im Beson-
deren die Regierung, dieser Tage auf die Schultern ge-
klopft hat, nämlich dafür, das größte Steuerentlastungs-
volumen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land für abhängig Beschäftigte und Unternehmen auf den
Weg gebracht zu haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist aber so!)


Mit der Mehrwertsteuer werden Sie es so machen wie mit
der Ökosteuer:


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schön, dass Sie sich unsere Gedanken machen!)


Mit der einen Hand werden Sie geben und mit der ande-
ren wieder nehmen.


(Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, alles Spekulieren hilft nichts!)


Herr Kollege Bernhardt, Sie haben sozusagen eine wit-
zige Bemerkung in diese Debatte eingestreut, indem Sie
gesagt haben, die CDU sei die Steuersenkungspartei.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war wirklich witzig! – Jörg Tauss [SPD]: originell!)


Ja, die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die Re-
duzierung des Soli und die Aussetzung der Vermögen-
steuer gehen wirklich auf Ihr Konto. Aber Sie haben
auch – leider gemeinsam mit der SPD – eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer um 2 Prozent auf den Weg gebracht.
Somit haben Sie diesen Sack aufgebunden. Das darf hier
nicht unerwähnt bleiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Steuerquote ist bei uns zurückgegangen!)


Wenn Sie in der Koalition schon über Renten und Steu-
ern in einem Zusammenhang diskutieren, dann sollten
Sie, um keine Verwirrung zu schaffen, den heute 50- und
55-jährigen Männern und Frauen insbesondere in den
neuen Ländern, die hoch qualifiziert sind, die abgewickelt
wurden, denen gekündigt wurde, die sich von Weiterbil-
dung zu ABM hangeln, die keine Aussicht auf einen re-
gulären Job haben, der eine private Altersvorsorge er-
möglicht, die nichts haben außer der Aussicht auf eine
Rente, die von Sozialhilfe abhängig macht, auch sagen,
wovon sie im Alter leben sollen.

Mit Verlaub: Diese große Personengruppe interessiert
das Thema der künftigen Rentenbesteuerung wenig; sie
hat auch vom zugesagten Bestandsschutz nichts. Sie sieht
nur einer weiteren Belastung ihres Konsums durch die in
Erwägung gezogene Mehrwertsteuererhöhung entgegen.
Das ist die Verwirrung, die eintritt, Frau Kollegin Heyne.
Sie ist nicht durch die PDS verursacht worden,


(Beifall bei der PDS)





Klaus-PeterWillsch
9712


(C)



(D)



(A)



(B)


sondern sie ist aus einem Feuer entstanden, das offenbar
hinter den Kulissen schwelt.


(Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks: Von der PDS gelegt! – Dr. Barbara Höll [PDS]: Wir haben das „Handelsblatt“ lanciert, klar!)


Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass
nach Ablösung der nationalen Währungen durch den Euro
die unterschiedlichen Steuersysteme der Länder stärker
ins Visier geraten und dass Deutschland im Vergleich zu
anderen Ländern noch Spielräume bei der Gestaltung der
Mehrwertsteuer hat. Ich vermute, dass das Ihr Konzept ist.

Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Mehrwertsteuererhöhung
angehen wollen, dann machen Sie dies nicht partiell, son-
dern im Komplex. Dann sagen Sie den Menschen bitte
schon heute, dass Sie nicht an eine Erhöhung des Mehr-
wertsteuersatzes denken, mit dem die Produkte des All-
tags belegt sind. Das nämlich würde insbesondere die ein-
kommensschwachen Menschen belasten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir stellen also fest: Die PDS möchte eine partielle Mehrwertsteuer! Das ist ja interessant! – Gegenruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]: Blödsinn!)


Dann sagen Sie, dass Sie künftig arbeitsintensive Dienst-
leistungen, insbesondere Reparaturleistungen, mehrwert-
steuerlich begünstigen wollen. Jeder Punkt Mehrwert-
steuererhöhung würde nur die Schwarzarbeit befördern,
und davon haben wir heute schon genug. Man muss vie-
les im Zusammenhang sehen. Zudem könnte man über ei-
nen dritten Steuersatz für außergewöhnliche Konsumgü-
ter – ich könnte auch sagen: Luxussteuer; so liest man es
in der Literatur – nachdenken.

Ich glaube, dass es hier, wenn es eine strukturelle Re-
form geben soll, noch viel zu debattieren gibt. Jeder par-
tielle Schritt steht außerhalb eines Konzeptes. Sie müssen
endlich nachweisen, dass Sie ein stringentes, ein komple-
xes Konzept haben.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410313100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Diethard Schütze.


Diethard Schütze (CDU):
Rede ID: ID1410313200
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Luft,
das mit der Luxussteuer sollten wir am besten ganz
schnell vergessen.


(Jörg Tauss [SPD]: Die Luft ist raus!)

Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte scheint ei-

nes klar zu sein: Je heftiger eine Erhöhung der Mehrwert-
steuer von der Regierungskoalition dementiert wird –
Frau Staatssekretärin hat dazu sehr grundsätzliche
Ausführungen gemacht –, umso wahrscheinlicher ist,
dass sie kommen wird. Tun Sie doch nicht so, als ob es
nicht längst derartige Planspiele im Bundesfinanzministe-
rium gäbe!

Auch das Dementi des Herrn Eichel vom 4. Mai liest
sich ausgesprochen halbherzig, wenn es dort heißt, dass es
derzeit – ich betone: derzeit – keine solchen Pläne gebe.


(Jörg Tauss [SPD]: Diese Opposition haben wir nicht verdient! Das ist nicht gerecht!)


Die Frage ist also: Wann und in welcher Höhe wird die
Mehrwertsteuererhöhung kommen? Wird es eine Er-
höhung um einen Punkt oder um zwei Punkte geben?

Meine Damen und Herren, um die Beantwortung einer
Frage haben sich die Redner der Koalition heute herum-
gemogelt.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir hatten noch gar keine Redner!)


Die Frage lautet: Wie sollen die Einnahmeausfälle von
bis zu 40 Milliarden DM ausgeglichen werden, wenn die
Altersvorsorgeaufwendungen generell von der Steuer
freizustellen sind? Denn – das scheint ja hier Konsens zu
sein; davon können wir alle mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit ausgehen – das Bundesverfassungs-
gericht wird infolge seiner bisherigen Entscheidungen in
absehbarer Zeit, Ende dieses oder Anfang nächsten Jah-
res, feststellen, dass alle Alterseinkünfte voll zu besteuern
sind.


(Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie denn, was die beschließen?)


Das bedeutet, dass Rentenbeitragszahlungen steuerfrei
zu stellen sind. Wie, Frau Staatssekretärin, wollen Sie
denn diese 40 Milliarden DM aufbringen? Von Ihnen ha-
ben wir dazu heute keine Antwort gehört. Ich sage Ihnen:
Keine Antwort ist auch eine Antwort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Gucken wir uns mal das Urteil an, in Ruhe und Sensibilität! Warten wir es ab!)


Meine Damen und Herren, die Antwort wird heißen:
Die Mehrwertsteuererhöhung kommt. Herr Kollege
Metzger ist bereits mehrfach zitiert worden. Er hat dies
zwischenzeitlich mehr oder weniger deutlich eingeräumt.
Eine Mehrwertsteuererhöhung ist ja an sich auch die ein-
fachste Lösung – so zumindest für die Allianz der Beque-
men, auch rot-grüne Bundesregierung genannt, die wie-
der einmal getagt hat. Die Bezeichnung „Allianz der Be-
quemen“ ist


(Jörg Tauss [SPD]: Dümmlich!)

keine Bezeichnung, die von mir oder von einem Kollegen
aus der Opposition erfunden worden ist. Nein, es war be-
sagter Herr Metzger, der haushaltspolitische Sprecher der
Grünen höchstselbst, der seine eigene Regierungskoali-
tion so titulierte. Dies geschah vor gut einem Jahr. Das
Thema war die Mehrwertsteuererhöhung, und zwar da-
mals im Zusammenhang mit der vom Verfassungsgericht
geforderten Entlastung der Familien.

Meine Damen und Herren, verkaufen Sie doch die
Menschen nicht für dumm. Sie ziehen zwar durch die
Lande und erzählen immer etwas von Steuerentlastung.
Was ist seither geschehen?


(Jörg Tauss [SPD]: Der Oberverkäufer!)





Dr. Christa Luft

9713


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Mittelstand wird massiv benachteiligt.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch Unsinn!)

Die notwendige breite Entlastung der Steuerzahler bleibt
aus. Was den Bürgern als Nettoentlastung verkauft wird,
zieht Rot-Grün ihnen auf der anderen Seite aus der Tasche.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles Unsinn, was Sie erzählen! Alles wider besseres Wissen!)


Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-
alition, haben mit der Besteuerung der 630-Mark-Jobs
und der Einführung der so genannten Ökosteuer gerade
den Schwachen in unserem Land den Boden unter den
Füßen weggezogen.


(Jörg Tauss [SPD]: Vorkämpfer der Arbeiterklasse! Ganz neue Besetzung!)


Dazu fällt Herrn Eichel lediglich ein, der Öffentlichkeit
mitzuteilen, dass er es allmählich leid sei – so Eichel wört-
lich –, dass die Leute den Hals nicht voll kriegen können.
Ich sage: Das ist blanker Zynismus.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Ökosteuer steigt. Das Thema Erbschaftsteuer ist

noch nicht ausgestanden.

(Zuruf von der SPD: Das haben wir auch schon gehört!)

Wir wollen einmal sehen, wie es nach dem kommenden
Sonntag weitergehen wird. Die Mehrwertsteuererhöhung
wird kommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der Unsinn wird auch durch Wiederholen nicht besser!)


Das ist die Wahrheit. So wird sich zum Ende dieser Le-
gislaturperiode die dem Bürger vom Staat auferlegte Last
nicht vermindert haben. Sie wird – wie das „Handelsblatt“
in einem Artikel vom 5. Mai dieses Jahres zutreffend fest-
stellt – eher größer sein.

Einige von Ihnen haben es schon getan. Auch ich
möchte jedoch auch noch einmal auf die fatalen Folgen
einer Mehrwertsteuererhöhung hinweisen.


(Jörg Tauss [SPD]: Der letzten oder welcher? Reden wir von der letzten?)


Sie würde in erster Linie diejenigen treffen, die schon im
letzten Jahr überproportional unter Rot-Grün zu leiden
hatten. Das sind die Einkommenschwachen, kinderreiche
Familien, Arbeitslose, Studenten und Rentner. Ökosteuer
und Mehrwertsteuer belasten gerade diese Schichten der
Bevölkerung. Sie zahlen die Zeche für die verfehlte Poli-
tik der Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Weil Sie die so belastet haben, sind Sie nicht mehr gewählt worden!)


Bereits eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Pro-
zentpunkt hätte katastrophale Folgen für den Arbeits-
markt. Gerade im Handwerk und im Einzelhandel, den
Stiefkindern dieser Koalition, bedeutet dies nicht nur Um-

satzeinbußen, sondern auch den Verlust von bis zu
100 000 Arbeitsplätzen. Eine höhere Mehrwertsteuer ist
gleichbedeutend mit mehr Schwarzarbeit. Die Vergan-
genheit hat gezeigt: Jede Mehrwertsteuererhöhung fördert
die Schattenwirtschaft und zerstört reguläre Arbeits-
plätze.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So ein Mist!)


Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit diesen Plä-
nen! Mit uns jedenfalls wird dies nicht zu machen sein.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Starke Rede! – Starker Abgang! – Grandiose Erklärung! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine intellektuelle Beleidigung, was Sie da abliefern! Es ist nicht zu fassen! Es macht keinen Spaß! – Gegenruf des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Unerträglicher Dazwischenquatscher!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410313300
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Nina Hauer.


Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1410313400
Frau Präsidentin! Verehrte Damen
und Herren! Ich sage dies hier einmal ganz deutlich, und
zwar vor allen Dingen für die SPD-Fraktion: Wir wollen
keine Erhöhung der Mehrwertsteuer und wir planen auch
keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Frau Luft, wir pla-
nen auch keine partielle Erhöhung der Mehrwertsteuer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Gegenteil ist der Fall: Wir senken die Steuersätze für
die mittelständischen Unternehmen in unserem Land


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn? – Dr. Barbara Höll [PDS]: Und besonders für die Millionäre!)


sowie für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

(Zuruf von der F.D.P.: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Unsere Steuerreform 2000 sieht vor, die Körperschaft-
steuer auf 25 Prozent zu senken, den großen Personenun-
ternehmen die Möglichkeit zu eröffnen, die Gewerbe-
steuer in pauschalierter Form auf ihre Einkommensteuer
anzurechnen – dies entspricht einer Entlastung bei der
Einkommensteuer für die großen Unternehmen, die Per-
sonengesellschaften sind, in Höhe von ungefähr 12 Pro-
zent –, den Grundfreibetrag in der ersten Stufe ab 2001 auf
14 000 DM anzuheben, sie sieht ferner die Senkung des
Eingangssteuersatzes auf 19,9 Prozent und die Senkung
des Spitzensteuersatzes auf 48,5 Prozent vor. Ich sage das
jetzt so ausführlich, damit das auch die Damen und Her-
ren von der CDU begreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Begreifen tun sie das nicht, aber es ist die Wahrheit!)





Diethard Schütze (Berlin)

9714


(C)



(D)



(A)



(B)


Unsere Steuerreform hat eine zweite Stufe. Sie tritt im
Jahre 2003 in Kraft.


(Zuruf von der SPD: Wir senken nämlich die Steuern! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Steuersenkungspartei!)


Wir senken den Eingangssteuersatz auf 17 Prozent und
den Spitzensteuersatz auf 47 Prozent.

Wir machen eine Steuerreform, die im Jahre 2005 das
Ergebnis haben wird, dass der Spitzensteuersatz 45 Pro-
zent und der Eingangssteuersatz nur noch 15 Prozent be-
tragen werden. Der Grundfreibetrag, von dem vor allen
Dingen die kleineren Einkommen profitieren, wird auf
15 000 DM angehoben werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist in fünf Jahren von der kalten Progression alles aufgefressen!)


Ich denke, diese Zahlen machen deutlich, dass wir pla-
nen, unsere Politik fortzusetzen, die den Mittelstand und
die Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer und Arbeitneh-
merinnen entlastet,


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wo entlasten Sie den Mittelstand?)


das Wachstum unterstützt und die Beschäftigung fördert.
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410313500
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb. Er ist der letzte Red-
ner in der Debatte.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber nun nehmen Sie sich zusammen, damit wir noch ein ordentliches Wochenende haben!)



Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1410313600
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass der Bundesfinanzminister und sein
Haus allzu schnell geneigt sind, Pressemeldungen
unangenehmen Inhalts oder jedenfalls solche, die nach
ihrem Dafürhalten zur Unzeit erscheinen, als Rauschen
im Blätterwald abzutun. Nun wissen wir alle, dass die
„Wirtschaftswoche“ nicht zu den reißerischen Blättern in
unserem Land gehört, sondern eine seriöse Wirtschafts-
zeitung ist, bei der man nicht alles sofort in den Bereich
der Fantasie verweisen sollte.

Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie sagten, es
gebe keine Pläne und es werde nicht über eine Steuer-
erhöhung gesprochen. Das wäre nicht die erste Entschei-
dung der Regierung, die den Eindruck hinterlässt, sie sei
nicht besonders besprochen oder gar geplant worden.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, man darf uns auch nicht für

so naiv halten, als wüssten wir nicht, dass der Bundesfi-
nanzminister vor einer kniffligen Aufgabe steht. Die Kon-
sequenzen einer nachgelagerten Besteuerung haben natür-

lich auch eine unschöne Kehrseite, und in Anbetracht der
anstehenden Wahlen spricht man natürlich ungern über
solche Kehrseiten.


(Jörg Tauss [SPD]: Das rettet Sie auch nicht mehr!)


– Herr Tauss, bemühen Sie sich doch einmal, sich von
Ihrem fast psychopathisch anmutenden Zwang, mich pau-
senlos zu unterbrechen, zu befreien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Das war das erste Mal! War das jetzt höflich? „Psychopathisch“!)


Selbstverständlich ist zu erwarten, dass den Bürgern
zumindest reiner Wein eingeschenkt wird. Es geht doch
gar nicht um die Konsequenzen der Mehrwertsteuer; dazu
ist aus berufenem Munde schon alles gesagt worden. Ich
bin auch kein Steuerfachmann,


(Zuruf von der SPD: Das merkt man! – Jörg Tauss [SPD]: Ach so!)


eines aber weiß ich: Ich komme aus Kassel und dort hieß
der Oberbürgermeister jahrelang Eichel;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dort habe ich lange genug gelitten. Anschließend war er
Ministerpräsident in Hessen und jetzt ist er Bundesfi-
nanzminister. Was von der Glaubwürdigkeit seiner Aus-
sagen zu halten ist, will ich Ihnen an zwei Beispielen deut-
lich machen.

Das erste Beispiel: In der Wahlnacht nach der Hessen-
wahl – das war übrigens das einzige Mal, dass ich für
Herrn Eichel Hochachtung empfunden habe – hat er in
Beifall heischender Art und Weise gesagt: Jetzt werde ich
als Auslaufmodell natürlich nicht mehr die Steuerreform
bei den Bundesratsverhandlungen blockieren; das mag
mein Nachfolger Koch machen. – Drei Tage später ist er
von seinem Vorgänger im Amt, Herrn Lafontaine – er war
eine Weile Vorsitzender der SPD –, „eingenordet“ worden
und hat natürlich – wie Sie alle wissen – zugestimmt und
spielt sich heute als Obermeister eines Reparaturbetriebs
auf, in dem der Schaden reguliert werden soll, den sein
Vorgänger Lafontaine hinterlassen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Quatsch! Wer hat uns denn den großen Schuldenberg hinterlassen?)


Das zweite Beispiel: Vor vielleicht zwei Stunden war
eben jener frühere Ministerpräsident und jetzige Finanz-
minister in meinem Heimatort Kassel zum Spatenstich ei-
nes Bauabschnitts der A 44 und ließ sich dort für ein Pro-
jekt feiern, das er und die Grünen 10 Jahre lang mit Zäh-
nen und Klauen zu verhindern versuchten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: So ist er!)


In der Presse, im „Spiegel“, im „stern“ und in der
„Wirtschaftswoche“, lesen wir, dass es Pläne zur Mehr-
wertsteuererhöhung gibt. Der Finanzminister bedauert




Nina Hauer

9715


(C)



(D)



(A)



(B)


lediglich, dass diese Pläne vor der Nordrhein-Westfalen-
Wahl bekannt werden; dies ist also ein wahltaktisches De-
menti. Dazu kann ich nur sagen: Das ist typisch.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Unsinn!)


Eines kann ich Ihnen sagen: Wir von der Union werden
uns nicht jedes Mal in die politische Mitverantwortung für
unpopuläre und unvermeidliche Maßnahmen nehmen las-
sen, während Sie selber sich für politische Segnungen öf-
fentlich feiern und huldigen lassen. So geht es nicht. Das
ist hier genau so beabsichtigt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie können es nur nicht vertragen, dass es in Deutschland so gut läuft!)


Deswegen wäre es schön, wenn Sie vor einer Wahl auch
einmal das sagen würden, was Sie hinterher machen wol-
len. Dass das keine große Freude macht, ist klar.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihnen macht alles keine große Freude, das kann ich auch richtig verstehen!)


– Mir macht alles große Freude, das sehen Sie doch. Ich
bin eine Frohnatur, vor allen Dingen zu dieser Zeit.


(Heiterkeit im ganzen Hause – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wollen wir Ihnen noch mindestens acht Jahre lang erhalten!)


Ich freue mich auch, meine Damen und Herren. Auf der
Regierungsbank ist ja nur noch die Frau Parlamentarische
Staatssekretärin da.


(Zuruf von der SPD: Das nehmen Sie eventuell zurück!)


– Nein, das nehme ich nicht zurück.

Es ist jetzt kurz vor halb vier. Ich bin der letzte Redner
für heute und ich habe noch einmal gesagt, was ich von
Ihren Dementis halte. Ich weiß auch, warum so wenige
von der SPD gesprochen haben. Ich würde gerne mit al-
len eine Wette eingehen und sehen, wie diese hinterher
eingelöst wird.


(Jörg Tauss [SPD]: Also, wetten wir! Um was wetten wir? Jetzt wetten wir!)


– Herr Tauss, ich weiß nicht, womit man Ihnen eine
Freude machen kann.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410313700
Ich muss darauf
achten: Es wird hier nicht öffentlich gewettet.


(Heiterkeit im ganzen Hause)



Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1410313800
Es sollte auch nur eine
symbolische Handlung sein. Ich kann nur sagen: Gegen-
über der Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft
unseres Bundesfinanzministers – wie bei Herrn Eichel so
häufig – ist das Chamäleon geradezu ein farbloses Lebe-
wesen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1410313900
Damit sind wir
am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17. Mai 2000, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.