Gesamtes Protokol
Die Sit-zung ist eröffnet.Der Kollege Dr. Willfried Penner hat am11. Mai 2000 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Abge-ordnete Kerstin Griese, ebenfalls am 11. Mai 2000, dieMitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ichbegrüße die neue Kollegin herzlich.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBerufsbildungsbericht 2000– Drucksache 14/3244 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatBundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Eine hervorragende qua-lifizierte Berufsausbildung hat für die Bundesregierungherausragende Bedeutung, weil damit über die Berufs-und Lebenschancen junger Menschen und ihre Chanceauf gesellschaftliche Teilhabe entschieden wird. EinZweites: Wenn wir unseren Lebensstandard sichern undausbauen wollen, wenn wir auch künftig wettbewerbs-fähig sein und die bestehende Arbeitslosigkeit überwin-den wollen, brauchen wir gut und praxisnah ausgebildetejunge Menschen.
Obwohl die demographische Entwicklung seit langemvorhersehbar war und wir alle wussten, dass wir eine zu-nehmende Zahl von Jugendlichen haben werden – dasist auch gut so –, haben Sie, meine Damen und Herren vonder jetzigen Opposition, es leider jahrelang versäumt, dienotwendige Vorsorge zu treffen, damit diese Jugendlicheneine gute Ausbildung erhalten. Ihre Berufsbildungspolitikhat dazu geführt, dass heute in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen noch immer fast 12 Prozent oder rund 1,3 Milli-onen Menschen ohne Berufsabschluss sind. Das war undist – lassen Sie mich das so sagen – leider gesellschaftli-cher Sprengstoff.
Wir wollen, dass diese Jugendlichen eine Chance er-halten; denn diese Jugendlichen wollen arbeiten und sichqualifizieren, und dazu sollen sie auch die Möglichkeit er-halten. Deshalb haben wir das Sofortprogramm JUMPgestartet und im Bündnis für Arbeit mit den Gewerk-schaften und den Unternehmen Vereinbarungen getroffen,damit diesen Jugendlichen endlich auch die Chance gege-ben wird, die sie wollen und brauchen.
Meine Damen und Herren, wir haben das mit Erfolggetan; denn diese Bundesregierung hat es geschafft, dieJugendarbeitslosigkeit um 9 Prozent zu senken. Das istein großer Erfolg. Ich will aber auch gleich ganz klar sa-gen, dass wir uns nicht auf ihm ausruhen werden.
Dieser Erfolg macht aber deutlich, dass es, wenn mangezielt handelt und es politisch wirklich will, leistbar ist,gemeinsam mit den Gewerkschaften und Unternehmen9645
103. SitzungBerlin, Freitag, den 12. Mai 2000Beginn: 9.00 Uhretwas zu ändern und den Jugendlichen dadurch eine ganzkonkrete Perspektive zu geben.
Durch die gute und konstruktive Zusammenarbeit imBündnis für Arbeit ist es uns gelungen, die Ausbil-dungsplatzsituation für unsere Jugendlichen deutlich zuverbessern und die Ausbildungsbereitschaft der Betriebezu erhöhen.Mit konkreten Maßnahmen zur Sicherung des Ausbil-dungsplatzangebotes und Initiativen zur Modernisierungder Berufsausbildung haben wir eine Trendwende ge-schafft: Bis zum 30. September 1999 sind bundesweitrund 631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossenworden. Das sind rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. Inden alten Bundesländern war die Ausbildungsplatzbi-lanz 1999 zum ersten Mal seit Jahren statistisch wiederausgeglichen. Wir haben hier inzwischen in vielen Berei-chen ein gutes Verhältnis von Ausbildungsplatzangebotund -nachfrage. Wir haben noch in einigen Regionen Pro-bleme, aber insgesamt ist das Verhältnis ausgeglichen. Inden neuen Bundesländern hingegen sind nach wie vorstaatliche Ergänzungsprogramme des Bundes und derLänder erforderlich, um ein ausreichendes Ausbildungs-platzangebot sicherzustellen.Auch die 7 150 Jugendlichen, die trotz aller Anstren-gungen unvermittelt geblieben sind, haben im Februarvon der Bundesanstalt für Arbeit ein Angebot für eineQualifizierungsmaßnahme erhalten, um ihre Chancen aufeinen betrieblichen Ausbildungsplatz im Sommer zu er-höhen.
Meine Damen und Herren, das zeigt, dass unsere An-strengungen Wirkung gezeigt haben, dass sie sich gelohnthaben.Die regionale Analyse, die durchzuführen wir imBündnis für Arbeit miteinander vereinbart hatten und dieauch durchgeführt worden ist, zeigt sehr deutlich, dass dieArbeitsämter, denen ich an dieser Stelle einmal ganzausdrücklich für ihr Engagement danken möchte,
außerbetriebliche Ausbildungsplätze ganz zielgerichtetdort geschaffen haben, wo die Ausbildungsplätze in denBetrieben fehlen. Wer also behauptet, durch das Sofort-programm sei die Besetzung betrieblicher Ausbildungs-plätze behindert worden, meine Damen und Herren vonder Opposition, verbreitet entweder bewusst die Unwahr-heit oder er polemisiert einfach ins Blaue hinein.
Weder das eine noch das andere nützt den Jugendlichen.Es nützt auch nicht – das sage ich ganz klar – den Ar-beitsämtern und denjenigen, die sich vor Ort engagiert da-rum bemühen, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatzanzubieten. Deshalb habe ich die herzliche Bitte, dasschlichtweg sein zu lassen.Nach den Erhebungen der Bundesanstalt für Arbeit unddes Statistischen Bundesamtes ist es ganz besonders imzweiten Halbjahr des Jahres 1999 gelungen, in ganzDeutschland wieder Fahrt in Richtung mehr betrieblicherAusbildungsplätze aufzunehmen.
Es ist mir wichtig, noch einmal zu sagen, dass die Anzahlvon betrieblichen Ausbildungsplätzen besonders in derzweiten Jahreshälfte deutlich zugenommen hat, weil diesder Zeitpunkt war, in dem die Vereinbarungen desBündnisses für Arbeit gegriffen haben. Wir haben denAusbildungskonsens im Juni des letzten Jahres ge-schlossen. Dieser Zusammenhang ist logisch. Dass in derzweiten Hälfte des Jahres 1999 deutlich mehr Fahrt inRichtung mehr Ausbildungsplätze aufgenommen wordenist, ist ein Zeichen dafür, dass die Vereinbarungen Wir-kung zeigen.Das machen auch die Dezemberdaten des StatistischenBundesamtes deutlich. Diese signalisieren einen Zuwachsder Anzahl der betrieblichen Ausbildungsverträge inHöhe von 1,2 Prozent. Der Zusammenhang wird nochdeutlicher, wenn man sich die Zahlen des Monats Aprilansieht. Die Zahlen von April machen deutlich, dass dasAngebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen in den altenBundesländern um 5,2 Prozent höher lag als im Vorjahr.Das ist ein deutlicher Zuwachs. In den neuen Bundeslän-dern haben wir eine Steigerung in Höhe von 9,2 Prozenterreicht, die wir auch brauchen. Wir brauchen Steigerun-gen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundes-ländern.Diese Steigerungen machen aber auch deutlich, dasssich endlich in der Bundesrepublik das Bewusstseindurchsetzt, dass die betriebliche Ausbildung nicht nur inder Verantwortung der öffentlichen Hand oder nur in derVerantwortung der Wirtschaft liegt, sondern dass wir ge-meinsam in der Verantwortung stehen, um gemeinsam dasZiel zu erreichen, dass jeder, der kann und will, einen Aus-bildungsplatz erhält.
Ich denke, dieses Bewusstsein, das notwendig ist, wennwir in Zukunft erfolgreich sein wollen, ist in der Bundes-republik endlich geschaffen worden. Dies ist der Erfolgunserer gemeinsamen Anstrengungen, gleichwohl keinGrund zum Ausruhen.Die Lehrstellensituation ist vor allen Dingen in denneuen Bundesländern weiterhin unbefriedigend, wie ichdas vorhin bereits gesagt habe. Die Lücke zwischen An-gebot und Nachfrage ist immer noch zu groß. Deswegenbrauchen wir dringend diese Steigerung in Höhe von9,2 Prozent. Wir brauchen aber noch mehr. Genauso wieauch wir unsere Aufgabe wahrnehmen, sind Gewerk-schaften und Unternehmen aufgefordert, hier noch mehrzu tun.
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn9646
Wir werden deshalb nach wie vor auch staatlicheErgänzungsprogramme des Bundes und der Länder ein-setzen, um ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebotsicherzustellen. Die Bundesregierung wird daher auch indiesem Jahr mit den neuen Ländern ein Sonderprogrammfür zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, um jedemJugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot machen zukönnen. Wir stehen zu diesem Versprechen, meine Damenund Herren.
Wir wollen die regionalen Aktivitäten zur Schaffungbetrieblicher Ausbildungsplätze verstärken. Das habenwir im Bündnis und mit den neuen Ländern vereinbart.Zugleich soll der regionale Einsatz der vielfältigen Pro-gramme, die wir haben, besser aufeinander abgestimmtwerden. Die Verstärkung der regionalen Aktivitäten unddie individuelle Ansprache vor Ort sind in Verbindung mitden Bündnisvereinbarungen der richtige Weg, um dieAusbildungsprobleme zu überwinden. Das hat sich sehrdeutlich gezeigt.Es hat sich auch sehr deutlich gezeigt, dass wir selbst-tragende regionale Strukturen brauchen, mit denen wir dieZiele des Ausbildungskonsenses wirklich erreichen kön-nen.Meine Damen und Herren, die Erfolge, die wir erzielthaben, sind Erfolge der guten Zusammenarbeit mit beidenSozialpartnern im Bündnis für Arbeit. Im Gegensatz zuIhnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ha-ben wir dabei nicht nur an die Sozialpartner appelliert,sondern wir haben mit ihnen gemeinsam konkrete Maß-nahmen vereinbart, und wir haben diese auch gemeinsammit ihnen umgesetzt, und genau das ist notwendig.Wir haben aber nicht nur mit dem Sofortprogramm undregionalen Lehrstellenaktionen für mehr Ausbildungs-plätze gesorgt; wir haben die Modernisierung derAusbildungsberufe beschleunigt und die EntwicklungneuerAusbildungsberufe intensiviert.
Die Entwicklung des letzten Jahres hat nämlich einessehr deutlich gezeigt: Neue Ausbildungsmöglichkeiten,neue Ausbildungsplätze entstanden vor allem in den ex-pandierenden Zukunftsbranchen wie zum Beispiel in derInformations- und Kommunikationsbranche, im Dienst-leistungssektor insgesamt und in der Biotechnologie.Allein in der Informations- und Kommunikations-branche sind in den letzten drei Jahren insgesamt über30 000 neue Ausbildungsplätze entstanden. Wir wollendiesen Weg weitergehen, und deshalb haben wir mit denUnternehmen, mit den Gewerkschaften der Informations-und Kommunikationsbranche ein Sofortprogramm zuDeckung des IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland aufden Weg gebracht.Wir haben in sehr harten und nicht einfachen Verhand-lungen erreicht, dass die Wirtschaft bis zum Jahr 2003weitere 20 000 Ausbildungsplätze über die im Bündnis fürArbeit bereits zugesagten 40 000 Plätze hinaus bereitstel-len wird. Es geht also um insgesamt 60 000 Ausbildungs-plätze in diesem Bereich. Das ist richtig und notwendig,weil die Jugendlichen, die hier ausgebildet werden, an-schließend eine wirklich hervorragende Beschäftigungs-chance haben. Genau den Weg müssen wir gehen.Außerdem soll die innerbetriebliche Weiterbildung fürinternetrelevante Technologien ausgebaut und verbessertwerden. Dabei wollen wir im Übrigen auch älteren Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Chance geben.Der Frauenanteil in der IT-Branche soll dadurch ebenfallserhöht werden.
Meine Damen und Herren, das Beispiel macht deutlich,dass wir uns in unseren Aktivitäten nicht allein auf dieErstausbildung beschränken, sondern dass wir auch dieBrücke zur Weiterbildung bauen.
Wenn wir heute IT-Spitzenkräfte nach Deutschland ho-len müssen, um die Qualifizierungsdefizite der Vergan-genheit zu überbrücken, dann geht es nicht um die wirk-lich falsche Alternative Ausbildung oder Zuwanderung,mit der Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,die Stammtische mobilisieren wollen. Nein, es geht umneue Ausbildungsplätze, um neue Arbeitsplätze inDeutschland,
denn jede Spitzenkraft in dieser Branche bringt drei bisfünf neue Arbeitsplätze mit sich. Wir wollen, dass dieseneuen Arbeitsplätze hier in Deutschland entstehen undnicht ins Ausland abwandern.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung in der in-formationstechnischen Branche hat dazu beigetragen,dass wir im Vergleich zum Vorjahr vor allem bei denDienstleistungsberufen erheblich zulegen konnten. Da-von haben besonders die Bereiche Industrie und Handelprofitiert. Hier ist die Zahl der betrieblichen Ausbil-dungsplätze um mehr als 10 000 gestiegen, so die Er-folgsmeldung des DIHT. Das macht deutlich, dass wir inunserer Wirtschaft eine Veränderung haben. Deswegenbrauchen wir gerade dort in Zukunft noch mehr Ausbil-dungsberufe und -plätze.Bei den Fertigungsberufen sind die Zahlen der betrieb-lichen Ausbildungsverträge zum Teil zurückgegangen.Das lag vor allem an der schlechten Entwicklung im Bau-gewerbe.Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden wir unsereOffensive zur Modernisierung der Ausbildungsberufefortsetzen und weitere neue Berufe in wachsenden inno-vativen Dienstleistungsbereichen schaffen. Wir konzen-trieren uns aber nicht nur auf den Dienstleistungsbereich.Wir konzentrieren uns auch auf die zukunftsträchtigenProduktionsbereiche und -berufe, um Einbrüche bei derAusbildung und den zukünftigen Fachkräften zu vermei-den, damit wir nicht noch einmal das erleben, was wir bei
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den informationstechnischen Berufen erlebt haben. Des-halb haben wir zum Beispiel die Ausbildungsinhalte derLaborberufe im Bereich der Chemie und der Biologieaktualisiert, weil wir wissen, dass wir wegen der sehrstark wachsenden Biotechnologiebranche diese Berufebrauchen. Wir werden genauso fortfahren. Wir sind zur-zeit dabei, 50 Berufe den neuen Erfordernissen anzupas-sen.Ein weites Beispiel ist die in Angriff genommene Mo-dernisierung der Metall- und Elektroberufe in der In-dustrie. Mit diesen Modernisierungen setzen wir die rich-tigen Maßstäbe für die Zukunftsfähigkeit unserer Berufs-ausbildung. Wir schaffen damit wieder mehr betrieblicheAusbildungsplätze.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ver-folgt mit ihrer Politik einen umfassenden Ansatz. Dieserreicht von der Schaffung neuer Ausbildungsberufe überdie Entwicklung und Nutzung neuer Medien bis zur ge-zielten Förderung von benachteiligten Jugendlichen.Wir wollen erreichen, dass auch leistungsschwächere Ju-gendliche eine berufliche Qualifizierung erhalten, die aufdem Arbeitsmarkt verwertbar ist. Wir werden deshalb diegezielte Förderung und Unterstützung von Jugendlichenmit schlechteren Startchancen weiter ausbauen. Wir set-zen dabei auf eine stärkere Kooperation aller Beteiligtenvor Ort: Schulen und Unternehmen.
Ich bin sehr froh darüber, dass es gerade in Nordrhein-Westfalen gute Beispiele dafür gibt, wo Unternehmen ihreVerantwortung aufgreifen und nicht nur warten, sondernaktiv werden und mit den Schulen Partnerschaftenschließen. Sie machen Jugendlichen, die schlechte Start-chancen haben, das Angebot: Komm in meinen Betrieb,mach ein oder mehrere Praktika. Du bekommst anschlie-ßend einen Ausbildungsplatz. – Genau das wünsche ichmir auch für viele andere Regionen unseres Landes.
Gerade bei einem zunehmenden Fachkräftebedarf –wir wissen, meine Damen und Herren, dass wir einen zu-nehmenden Bedarf haben, dass unsere Volkswirtschaftvon gut ausgebildeten Fachkräften abhängig ist – kommtes darauf an, dass wir durch eine vorausschauende Quali-fizierung einem Fachkräftemangel vorbeugen. Das tunwir. Das ist auch unsere Aufgabe. Es ist ebenfalls unsereAufgabe, gute Rahmenbedingungen für die Berufsausbil-dung zu schaffen. Auch daran arbeiten wir. Lassen Siemich aber noch einmal sagen: Entscheidend ist das En-gagement der Wirtschaft. Es ist entscheidend, um eineausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügungzu stellen, um eine gute qualifizierte Ausbildung zu leis-ten und um den Jugendlichen mehr Lernmöglichkeiten imArbeitsprozess zu eröffnen, und zwar bereits während ih-rer Schulzeit.Wir sind im letzten Jahr ein ganzes Stück weiter ge-kommen. Wir haben im Bündnis für Arbeit, Ausbildungund Wettbewerbsfähigkeit eine gute Basis gelegt. Ich binsehr froh darüber, dass das Engagement der Vertreter derWirtschaft wie auch der Vertreter der Gewerkschaften sogroß ist, dass ich zu Recht sagen kann, dass wir auch indiesem Jahr diese gute Ausbildungsbasis weiterentwi-ckeln werden. Das wollen wir. Wir wollen uns auch wei-ter für die Zukunft junger Menschen engagieren. Wir wol-len das Ziel, dass jeder, der kann und will, ausgebildetwerden soll, erreichen. Wir werden dieses Ziel nicht ausdem Auge verlieren, sondern wir werden den eingeschla-genen Weg weiter fortsetzen.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Jork von der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbil-dungsbericht gibt eine realistische Darstellung der Lageauf dem Lehrstellenmarkt. Allerdings lassen Durch-schnitts- und Zuwachsangaben die Dramatik der Lehr-stellensituation in den neuen Bundesländern überhauptnicht erkennen. Hier liegt der Schwerpunkt, auf den ichmich konzentrieren möchte.Mit dem Sonderprogramm der Bundesregierung, fürdas wir dankbar sind, wird die Notlage gemildert. Trotz-dem ist die Anzahl neuer betrieblicher Ausbildungsver-hältnisse „erneut deutlich rückläufig“. Früher hätten Sie,die jetzt an der Regierung sind, das als Katastrophe be-zeichnet. Ich denke, wir bleiben im Sinne derer, die es be-trifft, sachlich.Im Handwerk gab es Rückgänge. Warum wohl? Ichmöchte den Redestil des Herrn Bundeskanzlers von ges-tern nachmachen und antworten: Das hat mit der Öko-steuer zu tun. Das hat mit halbherzigen Gesetzen zurBekämpfung der schlechten Zahlungsmoral zu tun.
Sehr hilfreich waren die Entwickler und die Berater.An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern in den Ar-beitsämtern herzlich danken.
Ich bescheinige auch gern der ehemaligen Oppositioneinen Erkenntnisgewinn. Das, was im jetzigen Berufsbil-dungsbericht steht, ist schon interessant. Sie gehen davonaus – wir waren immer dieser Meinung –, dass die Pro-bleme nur partnerschaftlich lösbar seien. Sie erkennen,dass auch die Länder in der Pflicht stehen. Sie selbst sa-gen nun auch, dass ausländische Mitbürger gefordertseien. Toll finde ich es zu lesen, dass jetzt auch der Bedarfbedacht wird. Das hat vielleicht etwas mit dem Erkennt-nisgewinn auf dem Gebiet der Informationstechnologie –zuerst Schließung einer Hochschule und als logischeFolge davon Import von Computerspezialisten aus dem
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn9648
Ausland – zu tun. Das betrifft auch die Frage der berufli-chen Bildung.In dem Bericht steht:Dabei kommt der mittelständischen Wirtschaft einebesondere Bedeutung zu, sie bildet mit 1,2 Millionenetwa 80 % aller Auszubildenden aus.Weiter heißt es dort: Hauptanliegen ist,dass die mittelständische Wirtschaft ihre tragendeRolle in der Berufsausbildung beibehalten kann.Richtig! Schön wäre es! Genau darauf möchte ich hier be-sonders eingehen: Wer Lehrstellen mag, der muss auchdie mittelständische Wirtschaft mögen. Alles andere isthalbherzig.
Wie sehen nun angesichts der wirtschaftlichen Aus-gangslage in den neuen Ländern die praktischen Konse-quenzen aus? Frau Ministerin, wenn Sie sagen, Sie wol-len das politisch anpacken, dann antworte ich Ihnen: Siekönnen so viel wollen, wie Sie möchten! Ich weiß, dassSie und Ihr Ministerium sich bemühen. Aber das Problemder Lehrstellen in den neuen Bundesländern ist eine ge-samtwirtschaftliche sowie überministerielle Angelegen-heit. Sie ist Chefsache. Wenn Sie sich bemühen, dannreicht das nicht. Ich kann nur sagen: Hier muss der Chefran! Er muss den Stab zum Dirigieren in die Hand neh-men.
Im „Tagesspiegel“ vom 6. April 2000 steht: Der Auf-schwung geht am Osten vorbei.
Unter dieser Überschrift wird der Anstieg der Arbeitslo-sigkeit in den neuen Bundesländern beschrieben. Wennman sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit inWest und Ost anschaut – Herr Hilsberg, es war Ihr Hobby,die dortigen Zahlen zu bejubeln –, dann stellt man fest,dass die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundeslän-dern bei 9 Prozent und in den neuen Bundesländern bei15,7 Prozent liegt. Interessant ist auch der Vergleich derEntwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnenBundesländern: In Bayern liegt die Quote bei 5,8 Prozent,in Niedersachsen bei 11,1 Prozent.
Für uns Ostdeutsche – das richte ich an die Adresse vonFrau Müller, die gestern im Plenum gesprochen hat – istes Schönfärberei und Ausdruck von Arroganz, wenn FrauMüller sagt: Die Arbeitslosigkeit ist um 10 Prozentzurückgegangen. Ich weise noch einmal darauf hin:Durchschnitts- und Zuwachsangaben verkleistern denBlick auf die extreme Situation in den neuen Bun-desländern und gehen an der Realität vorbei.
Einst, als es in Ostdeutschland noch aufwärts ging,sagte einer, der Kanzler werden wollte: Das ist mein Auf-schwung. Er wurde Kanzler und erklärte den Aufbau zurChefsache. Nun erleben wir den Abschwung Ost. Das istIhr Abschwung, Herr Bundeskanzler. Da nützt uns auchein „Placebo-Minister Ost“ überhaupt nichts.
Der Hauptausschuss weist in seiner Stellungnahme zurEntwicklung des Berufsbildungsberichtes 2000 zu Rechtdarauf hin, dassdie Berufsbildungsstatistik nicht zwischen betriebli-chen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnis-sen differenziert. Der Hauptausschuss erwartet, dassdas Bundesinstitut für Berufsbildung bei der nächs-ten Erhebung mit dem Stichtag 30.9.2000 diese Dif-ferenzierung vornimmt.Ich halte das für richtig. Weiter steht im Bericht:Die Versorgungslücke auf dem Ausbildungsstellen-markt ist nicht nur eine Folge der Krise des Arbeits-marktes. Für sie sind vielmehr auch strukturelle Ver-änderungen in der Wirtschaft verantwortlich.Worum geht es also? Es genügt nicht, die offensichtli-chen Probleme mit sektoralen Maßnahmen – ich deutetedas an – zu kurieren. Die Wirtschaft, der Mittelstand unddas Handwerk müssen auch im Ministerienverbund un-terstützt werden. Man muss längerfristig planen undLehrstellen vorsehen können. Wer nicht weiß, ob er in ei-nem halben Jahr noch existiert, der wird natürlich keineLehrlinge ausbilden. „Feststellen und fortfahren“, wie esder Herr Bundeskanzler gestern ausdrückte, genügt nicht.Wir brauchen eine neue Mittelstandskultur. Unser frühe-rer Kollege Rixe sagte immer: Weiter so – aggressiv! Ge-nau das erleben wir jetzt. „Weiter so“ langt nicht; wirbrauchen eine neue Mittelstandskultur in den neuen Bun-desländern.
Dem Bericht der Bundesregierung zur technologischenLeistungsfähigkeit entnehme ich folgende Aussage:Dem Innovationssystem in den neuen Bundeslän-dern wesentliche Kernelemente und Kristal-lisationspunkte der Innovationssysteme der altenLänder. Darüber hinaus leiden die kleinen und mitt-leren Unternehmen sehr viel häufiger als in den altenLändern unter einer geringen Rentabilität, fehlen-dem Eigenkapital und daraus resultierend auch unterunzureichendem Zugang zu Fremdkapital.Was dort steht, stimmt.Wir hatten ein Gespräch mit der HandwerkskammerChemnitz. Zu diesem Gespräch wurden vier Forderungenformuliert – sie sind im Grundsatz klar –, die zeigen, wieWirtschaft und Lehrstellen unmittelbar zusammenhän-gen:Erstens. Die Lehrlinge sollen – darüber haben wirfrüher schon gesprochen – möglichst umfassend im Be-trieb arbeiten.Zweitens: eine deutliche Entlastung von Steuern undAbgaben.Drittens: Entlastung von Nebenkosten.Viertens: eine angemessene Relation des Lehrlingsent-geltes zum Gesellenlohn.
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Dr.-Ing. Rainer Jork9649
Bereits in Gesprächen mit dem Arbeitsamt Pirna wurdevor einiger Zeit – am 14. April hatte ich ein solches Ge-spräch in Meißen – festgestellt, dass wir eine Facharbei-terlücke haben werden. Ich freue mich, dass auch das indem Bericht angesprochen wird.Wir brauchen intelligente Lösungen für dieses Pro-blem. Ich gehe davon aus, dass ein größerer Schwerpunktauf die modulare Gestaltung der Ausbildung gelegt wer-den soll. Der Vertreter der IG Metall wies in einer Bera-tung übrigens darauf hin, dass die öffentliche Infrastruk-tur in den neuen Bundesländern einen Rückstand von30 Prozent hat und dass es vor allem Defizite im industri-ellen Bereich gibt. Wiederum stellt sich die Frage: Washemmt? Bestehende Hemmnisse haben mit der Steuerre-form, der Ökosteuer und hohen Lohnnebenkosten zu tun.Ich möchte Schlussfolgerungen ziehen. Unsere Frak-tion wird auf Drucksache 14/3185 eine Vorlage mit demTitel „Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungenangehen“ in die Beratungen einbringen. Wir fordern klar:Es hat keinen Sinn, an den Krankheitssymptomen zu la-borieren; es geht darum, dass der Körper Berufsbildung inden neuen Bundesländern insgesamt so konditioniertwird, dass der betriebliche Teil der dualen Ausbildungüberhaupt funktionieren kann. Ich erinnere dabei an dieVorschläge, die ich in der Debatte am 28. Januar gemachthabe.Den Leuten in den neuen Bundesländern ist nicht zumLachen. Die Zahlen dort sprechen eine deutliche Sprache.Es geht wirklich darum, dass sich die Bundesregierung alsRegierung und der Chef der Chefsache endlich als in derPflicht stehend verstehen.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen – ich freuemich, dass dieser Gedanke auch in den Papieren der Bun-desregierung zunehmend Akzeptanz findet –, dass dieDiskussion zu Modulen in der beruflichen Bildung ge-führt wird. Ich habe in meiner Rede vom 4.März 1999 denVersuch einer Definition gemacht und der Vertreter derSPD hat damals im Plenum gesagt, wir sollten darüber re-den. Das hat bisher nicht stattgefunden, aber ich finde dasan einigen Stellen schon in den Papieren.Die modulare Berufsbildung hat, wenn sie von ideolo-gischen Vorbehalten und Blockaden entkleidet wird, denVorteil, dass sie die Flexibilität der Arbeit erhöht, dass siedie schrittweise Modernisierung der Berufsbilder ermög-licht, dass es möglich wird, betriebsspezifische Aufgabenin der Ausbildung und Weiterbildung – davon ist heuteschon gesprochen worden – zu berücksichtigen. Außer-dem ist das – das halte ich für wichtig – eine Chance fürdie Befähigung bei unterschiedlicher Eignung.Abschließend möchte ich an dieser Stelle deutlich sa-gen, dass die modulare Berufsbildung keineswegs das Be-rufsprinzip infrage stellt, sondern dieses Berufsprinzip er-gänzt und flexibilisiert.
Ich möchte kurz auf die Drucksache eingehen, die ichgerade in die Hand bekommen habe. In diesem von denRegierungsparteien eingebrachten Entschließungsantragsteht unter Nr. 2:Die Bundesregierung wird aufgefordert, Wirtschaft,Handwerk, freie Berufe und öffentlichen Dienst ver-stärkt anzuhalten mehr Ausbildungsplätze anzubie-ten.Ich zitiere Sie, Frau Ministerin. Sie haben eben gesagt,Appelle genügten nicht. Genau das ist es. Die Wirtschaftbraucht keine Appelle. Sie will. In allen Beratungen, diewir zu Hause im Wahlkreis führen, merke ich das Ringen,mehr Ausbildungsplätze bereit zu stellen. Den Leuten istschon bewusst, dass es um die eigene Zukunft geht. Aberbitte – Ihre Worte – nicht nur Appelle, bitte gemeinsameArbeit über die Ministeriumsgrenzen hinweg! KommenSie zur Sache! Appelle nützen nichts und sind überflüssig.
Ich möchte kurz zu zusammenfassenden Bemerkungenkommen. Die Zeit ist um.Es gibt im Bericht eine realistische Darstellung. Ichfreue mich, dass das deutlich gesagt wird. Die Bundesre-gierung hat an vielen Stellen über JUMPgeholfen. Wir ha-ben wiederholt gesagt, dass wir das gut finden, dass dieNachhaltigkeit, der Effekt verbessert werden muss. Ichglaube, wir sind uns darüber einig. Die Arbeit über dieMinisteriumsbereiche hinweg halte ich für ungenügend.Die Konsequenzen sind halbherzig, begrenzt und ober-flächlich. Ich bin der Meinung, der Chef sollte kommenund das tun, was er versprochen hat.Danke schön.
Das Wort
hat nun der Kollege Ulrich Kasparick von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Jork, nur auf den Chef zu wartenreicht nicht,
sondern da muss man sich schon selber hinsetzen und sel-ber etwas unternehmen. Man muss sich mit den gutwilli-gen Menschen im Lande, die es in genügender Anzahlgibt, zusammentun und genauer definieren, wo dieSchwachpunkte sind.
Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Ich finde die Si-tuation in Ostdeutschland nicht nur bedrückend, sondernausgesprochen bedrohlich, weil es Trends gibt, die auchim Plenum des Deutschen Bundestages noch zu wenig be-sprochen worden sind. Deshalb erlauben Sie mir, dass ichauf ein paar dieser Trends heute aufmerksam mache.Wir beobachten leider, dass Berufsschullehrer, die wirfür neue IT-Berufe dringend brauchen, das Land verlas-
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Dr.-Ing. Rainer Jork9650
sen. In Sachsen-Anhalt beispielsweise ist es so, dass von40 ausgebildeten Berufsschullehrern 30 weggehen, zumTeil aggressiv abgeworben werden. Deswegen sage ich andieser Stelle: Wir müssen über den BAT reden.
Als ich kürzlich die Fachhochschule Stralsund be-suchte, sagte mir der Direktor auf meine Frage, wo seineAbsolventen hingingen, dass sie zu fast 100 Prozent in diealten Länder gingen.Wir müssen darüber reden, woran es liegt, dass die Men-schen, die wir dringend für Innovationen, bei der Ent-wicklung neuer Berufe und als Ausbilder brauchen, weg-gehen.Gut finde ich an dem Bericht der Bundesregierung, dassdie Regierung die Schwierigkeiten nicht verschweigt, son-dern vielmehr dieses besondere Problem in Ostdeutsch-land genau wahrnimmt. Dafür bin ich der Regierung aus-gesprochen dankbar, denn wir haben auch schon andereserlebt. Da wurde nicht in einer solchen Offenheit über dieSchwierigkeiten gesprochen. Ich wünsche mir, dass wirweiter untereinander so ehrlich bleiben. Es ist ein guterZug zu sagen, wie die Situation wirklich ist.
Ich will noch auf ein paar Besonderheiten aufmerksammachen, die die Berufsbildung in Ostdeutschland betref-fen: In Thüringen, so sagte mir der zuständige Referats-leiter im Landesarbeitsamt, als ich ihn zur Vorbereitungdieser Rede anrief, verhält es sich so, dass etwa 17 Pro-zent der Lehrlinge in die alten Länder gehen und zusätz-lich etwa 18 Prozent pendeln. Darüber hinaus gibt es nocheine große Grauzone. Es gibt andere Regionen in Ost-deutschland – ich nenne als ein Beispiel Stendal –, aus de-nen fast ein Viertel der Lehrlinge weggehen.Wenn man woanders in Deutschland eine Lehrstellefindet, ist das gut. Es entsteht aber zugleich ein struktur-politisches Problem: Wenn Menschen in den alten Län-dern – beispielsweise gehen sehr viele nach Süddeutsch-land – eine Ausbildung machen, liegt es nahe, dass siedann auch dort bleiben. Das heißt, es entsteht nicht nur ak-tuell ein Mangel an Fachkräften in Ostdeutschland, son-dern zukünftig werden wir auf dem Arbeitsmarkt nochmehr Probleme bekommen, wenn wir nicht jetzt mehr tun,als bisher getan worden ist. Deswegen lautet mein Appell –ich bin mir sehr sicher, dass der auch gehört werden wird –,noch ein wenig mehr Gewicht auf diese Frage der Be-rufsausbildung in Ostdeutschland zu legen. Ich denke,dass es eine ganze Reihe von gutwilligen Partnern gibt,die dazu auch bereit sind.Wir können es uns nämlich nicht leisten, bis zum Jahre2007 zu warten. 2007 wird sich die Situation völlig um-drehen. Da werden wir in Ostdeutschland die Situationhaben, dass mehr Ausbildungsplätze vorgehalten werden,als sich Auszubildende bewerben. Ich fand es gut, als mirLeute von der Industrie- und Handelskammer und auchvon den Kreishandwerkerschaften sagten, dass die Be-triebe in Ostdeutschland es mittlerweile verstehen, dassab 2006/07 dieser Einbruch kommt, und deshalb jetztschon damit beginnen, mehr auszubilden. Das ist einwichtiger Trend. Die Betriebe, insbesondere die Kam-merbetriebe, fangen an, mehr auszubilden. Wir müssensie dabei allerdings unterstützen.Ich nenne nur als Beispiel die IT-Berufe. Es ist gut,dass es da einen Aufwuchs gibt. Aber auch hier merkenwir, dass die jungen Leute in Ostdeutschland von diesemAufwuchs noch nicht so profitieren, wie das wün-schenswert wäre. Wir haben bei den gemeldeten Ausbil-dungsstellen in den neuen Berufen einen Aufwuchs vonetwa 3 bis 4 Prozent. Das ist zu wenig; es muss mehr wer-den. Was ist zu tun? Klar ist, solche Programme wieJUMP müssen fortgesetzt werden. Ich finde es gut, dassdas schon zugesichert wurde. JUMP geht weiter, das istganz wichtig für den Osten.
Jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß aller-dings, dass die Realität der beruflichen Ausbildung in Ost-deutschland noch weit entfernt ist von einem wirklichendualen System, denn dort ist Ausbildung fast eine reinstaatliche Veranstaltung.
Wenn man nämlich zu der staatlichen Ausbildung an denBerufsschulen die Pro-Kopf-Prämien, die in manchenLändern noch gezahlt werden, hinzuzählt, dann kommtman auf einen staatlichen Anteil am Ausbildungsmarktvon bis zu 80 Prozent. Von daher liegt es auf der Hand,dass sich der Staat da weiter engagieren muss. Ich findedie Zusage der Ministerin gut –
– Das kommt noch dazu; auf das zusätzliche Programmgehe ich gleich noch ein. Einige Länder, beispielsweiseThüringen, haben solch ein Programm ja schon aufgelegt.Wir müssen an einer Schlüsselstelle etwas tun, nämlichin der Verbundausbildung. Zurzeit sieht die Situationfolgendermaßen aus: Nur etwa die Hälfte der Betriebe inOstdeutschland glauben, dass sie ausbildungsberechtigtseien. Ich habe noch einmal mit den Handwerkskammerntelefoniert; sie haben mir das bestätigt. Das heißt: Vielewissen gar nicht, dass sie ausbildungsberechtigt sind.Daher brauchen wir eine konzertierte Aktion. Ver-bünde sind dazu wichtig. Die Kammern bemühen sichmit den Sozialpartnern. Die Länder sind sehr engagiertund auch der Bund hilft. Wir brauchen aber an einerSchlüsselstelle eine gezielte Förderung – ich bin mir si-cher, dass dies mit einem Sonderprogramm jetzt zu reali-sieren ist –: Wie bekommt man das Management dieserVerbünde angeschoben? Die Idee ist, dass man für dieerste Zeit eine degressive Förderung vorsieht. Man kannin diesem Zusammenhang – ob es nun die ersten dreiJahre sind – über Zeiträume reden. Ein Verantwortlichermuss Betriebe akquirieren und das Management der Ver-bundausbildung in die Hand nehmen. Er muss also auf diebeteiligten Akteure zugehen. Ich denke, eine degressiv
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Ulrich Kasparick9651
gestaltete Förderung ist sinnvoll. Das Ziel muss sein, dassdie Wirtschaft selber die Ausbildung übernimmt.
Ich möchte noch einen zweiten Punkt kurz ansprechen.Auch da gibt es eine große Bereitschaft zum Handeln, dienur noch mithilfe eines kleinen staatlichen Anstoßes so-zusagen zusammengeführt werden muss. Es stellt sichnämlich die Frage: Wie können sich die Arbeitsplatzent-wickler, die Arbeitsplatzvermittler und die Menschen, diefür die Akquise von Ausbildungsplätzen unterwegs sind,besser absprechen? Man kann häufig feststellen, dassdiese Akteure nebeneinander agieren. Ich wünsche mirdaher eine bessere Absprache, was den Regionen nur hel-fen kann.Der zentrale Punkt ist: Wir müssen den Betrieben, dieausbildungswillig sind – es gibt sie – helfen. Das Stich-wort heißt: Ausbilden zum Ausbilder. Das BMBF berei-tet entsprechende Maßnahmen vor, die in die richtigeRichtung gehen. Auch die Verbundausbildung weist in dierichtige Richtung, möglicherweise ausgestattet mit einemdegressiv gestalteten Förderprogramm.Ich rufe von dieser Stelle die Kammern auf, ihre eige-nen Betriebe darüber zu informieren, wer eigentlich allesausbildungsberechtigt ist. Mich hat die Zahl etwas irri-tiert, dass etwa nur die Hälfte der Betriebe wissen, dass sieausbilden können. In diesem Zusammenhang wäre eineInformationskampagne sehr sinnvoll; denn jeder Betrieb,der ausbildet, wird dringend benötigt, auch wenn er nureinen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellt. Wir wollenden Betrieben dabei helfen.Herzlichen Dank.
Als nächste
Rednerin hat das Wort die Kollegin Cornelia Pieper von
der F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsi-dent! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist noch gar nicht lange her, dass wir in diesem Hause denBerufsbildungsbericht 1999 abschließend behandelt ha-ben und ich an gleicher Stelle stand. Das ist insofern vonInteresse, als ich mit nur knapp vier Monaten Abstandzwei Berichte analysieren und miteinander vergleichenkann, die auf das Wirken von zwei grundverschiedenenBundesregierungen zurückzuführen sind.Damals sagte ich Ihnen: Der Berufsbildungsbericht1999 macht deutlich, dass die alte Bundesregierung beider Schaffung von Ausbildungsplätzen eine richtige Wei-chenstellung vorgenommen hat.
Mit vertrauensbildenden Maßnahmen schafft man geradeim Mittelstand den besseren Nährboden für Engagement.Ich bitte Sie, diese Tatsache einmal zur Kenntnis zu neh-men.
Ich komme auf das Thema Mittelstandspolitik gleichzurück.Heute haben wir darüber zu befinden, ob die neue Bun-desregierung – getreu dem Kanzlerwort „Wir machennicht alles anders, aber vieles besser“ – erfolgreich gear-beitet hat. Am Abbau der Jugendarbeitslosigkeitmöchtesich Herr Schröder messen lassen. In der Tat: Der Berichtweist einen Zuwachs gegenüber 1998 von 18 500Ausbil-dungsverträgen aus. Ich sage ganz deutlich: Jede Investi-tion in die Ausbildung eines Jugendlichen ist mir das Geldwert; denn die beste Sozialpolitik, die man für einen jun-gen Menschen machen kann, ist, ihm einen Ausbildungs-platz zu verschaffen.
Wir alle wissen, das Programm umfasste im vergange-nen Jahr insgesamt 2,2 Milliarden DM. Doch auch Ende1999 standen immerhin noch 8 100 Jugendliche ohne Aus-bildungsstelle da. Das sind die Fakten.Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition: Es gibt in Deutschland eine Schieflage,was die Ausbildungsplatzsituation anbelangt. Dabei han-delt es sich nicht um eine Situation, die ich als Oppositio-nelle im Deutschen Bundestag sozusagen herbeirede.Diese Situation ist im Berufsbildungsbericht beschrieben.Frau Nahles und elf andere Bundestagsabgeordnete derSPD haben dies in einem offenen Brief an BundeskanzlerSchröder zum Ausdruck gebracht.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt:Die Verbesserung der Ausbildungsplatzbilanz istallerdings im starken Maße auf die Ausweitung deröffentlich finanzierten Ausbildung, insbesondere aufdas Sofortprogramm der Bundesregierung zum Ab-bau der Jugendarbeitslosigkeit, zurückzuführen.Das heißt, Sie haben es nicht geschafft, dass Ausbil-dungsplätze in kleinen mittelständischen Betrieben in derWirtschaft entstehen können.
Das haben Sie nicht geschafft, und das müssen Sie sichvon der Opposition und von der deutschen Bevölkerungvorwerfen lassen. Ich sage noch einmal: Die Appelle andie Wirtschaft werden nicht reichen, und auch Ihre Poli-tik für die großen und starken Unternehmen wird nichtreichen. Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die diekleinen Handwerksbetriebe, die Freiberufler und die mit-telständische Wirtschaft unterstützt.
Dafür haben Sie sowohl mit dem 630-Mark-Gesetz alsauch mit dem Gesetz über die Scheinselbstständigkeit und
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mit der vorgelegten Unternehmensteuerreform die falschenRahmenbedingungen geschaffen.
Bringen Sie doch endlich den Mut zu echten Reformenauf, und hören Sie auf, mittelstandsfeindliche und damitausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden!Setzen Sie Ihren Schwerpunkt nicht allein auf noch soschöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäfti-gungsprogramme, sondern stärken Sie den Mittelstandvor Ort.
Der Kollege von der SPD, der vor mir gesprochen hat, hates ja auch deutlich gemacht. Es kommt darauf an, dass wirden Mittelstand stärken,
damit Ausbildungsplätze geschaffen werden. Aber Siemachen es ja nicht.
Das ist gerade für den Osten Deutschlands von existenzi-eller Bedeutung.Dazu will ich in diesem Hohen Hause noch einmal fest-stellen: Wir behandeln heute den Berufsbildungsbericht2000, werten also das Ausbildungsjahr 1999 aus. Wir allewissen um die dramatische Situation im Osten Deutsch-lands.Wir sind uns einig, dass dort die Ausbildungsplätzeauch öffentlich gefördert werden müssen. Wir diskutierenhier, und ich vermisse die Anwesenheit des dafür zustän-digen Ministers.
Wo ist Staatsminister Schwanitz?
Der Bundeskanzler dieser Bundesrepublik Deutschlandhat erklärt: Aufbau Ost ist Chefsache. Sind ihm die Aus-bildungsplätze so wenig wert? Ist ihm die Mittelstands-politik so wenig wert, dass er heute im Plenum nicht an-wesend ist?
Ich fordere den Staatsminister auf, an dieser Debatte teil-zunehmen. Für mich ist es ein Affront gegen die Jugend-lichen, insbesondere im Osten Deutschlands,
dass der Minister für besondere Aufgaben Aufbau Ost andieser Debatte im Plenum nicht teilnimmt.
Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass Sie die-ses Thema so begeistert. Ich will es noch einmal an einemganz konkreten Punkt deutlich machen.
Wenn Sie im Haushalt des Jahres 2000 für die Technolo-gieförderung im Wirtschaftsministerium Mittel streichenund ich weiß, dass im zuständigen Ministerium in einemUmfang von 35 Millionen DM Anträge ostdeutschermittelständischer Betriebe liegen, die in eine innovativeBranche vordringen wollen, Anträge, die nicht bewilligtwerden können, weil das Geld nicht eingestellt wordenist, Anträge, mit denen innovative Existenzgründungenauf den Weg gebracht werden könnten, dann ist das diefalsche Akzentuierung. Durch jeden Betrieb, der neu ent-steht, könnten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze ge-rade im Osten Deutschlands entstehen.
Das werfen wir Ihnen allerdings vor, meine Damen undHerren.
– Genau, weder Wirtschafts- noch Aufbauminister. Daskann auch ruhig ergänzt werden, denn dieses Thema isteinfach im Zusammenhang zu sehen. Es ist nicht allein,verehrte Frau Ministerin Bulmahn, ein bildungspoliti-sches Thema, es ist ein Wirtschaftsthema. Das kann mangar nicht genug deutlich machen.
– Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich im Momentkeine Frage beantworten möchte. Ich möchte gern denZusammenhang darstellen.Und es ist ein schulpolitisches Thema. Schulpolitik istAufgabe der Länder. Aber die Qualität der Schulbildungentscheidet über die Ausbildungsfähigkeit junger Men-schen. Das will ich hier auch noch einmal sagen.
Die schlechte Unterrichtsversorgung und Ausstattung anden Schulen Deutschlands trägt doch nicht dazu bei, dasswir gut ausgebildete und ausbildungsfähige junge Men-schen in den Berufsschulen haben.
22,6 Prozent Ausbildungsabbrecher, die mit den theoreti-schen Anforderungen nicht mitkommen, können uns nichtkalt lassen. Das muss uns doch bewegen. Da stimmt in derSchulpolitik etwas nicht.
Wir brauchen mehr praxisorientierte Schulpolitik, eineSchule, die auch gemeinsam mit der Wirtschaft rechtzei-tig Modelle entwickelt, damit Jugendliche auf ihre Aus-bildung, auf ihren zukünftigen Arbeitsplatz vorbereitetwerden.Aber auch die Berufsausbildung muss ihren Beitragleisten. Um den veränderten Bedingungen in der Arbeits-welt voll Rechnung tragen zu können, brauchen wir eine
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stärkere Flexibilisierung und Differenzierung in der Be-rufsausbildung. Die F.D.P. – das wissen Sie – setzt sichschon lange für eine Modularisierung der beruflichenAusbildung auf der Basis von Grundberufen mit an-schließenden Spezialisierungsrichtungen nach dem Mus-ter eines Baukastensystems ein. Dabei haben wir lei-stungsstarke und leistungsschwache junge Menschengleichermaßen im Auge. Eine Modularisierung vonAusbildungsgängen mit berufsqualifizierenden Ab-schlüssen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Berufsbil-der auch auf jene zuzuschneiden, die nicht durch ihreguten theoretischen Begabungen auffallen, sondern eherpraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen. Diesejungen Menschen erhalten in einem solchen System eineechte Chance für ihren Einstieg in den Beruf.
Gerade das ist wichtig, denn die Zahl der Einfachar-beitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immerweniger Chancen. Ich sage hier noch einmal: Der Fach-kräftemangel in der Wirtschaft, der in den nächsten Jah-ren auf uns zukommen wird – das stellt auch der Berufs-bildungsbericht fest –, wird immens sein. Deshalbbrauchen wir mehr Flexibilisierung in der dualen Be-rufsausbildung. Deswegen müssen wir zu einer echtenReform in der beruflichen Bildung kommen.
Hier erwarten wir von der Bundesregierung weiter ge-hende Akzente.Ich sage aber ebenfalls, Frau Ministerin Bulmahn – Siehaben es auch in Ihrem Bericht erwähnt –, dass die neuenBerufsbilder eine echte Chance bieten, die Anzahl derAusbildungsplätze zu erhöhen. Die alte Koalition hat1997 die ersten vier neuen Berufsbilder für die IT-Berufebeschlossen und auf den Weg gebracht. Die 30 000 Aus-bildungsplätze, die innerhalb der letzten drei Jahre ent-standen sind, insbesondere in den IT-Berufen, sind aufdiese Initiative zurückzuführen. Auch das darf noch ein-mal so deutlich gesagt werden. Ich möchte Sie ermutigen,diesen Weg weiterzugehen und moderne Berufsbilder zuentwickeln.
Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Kultur derSelbstständigkeit,Mut zur Existenzgründung, gerade beijungen Menschen in diesem Land. Wenn wir das hinbe-kommen, werden wir von denen, die eine Existenz, eineFirma in diesem Land gründen, auch einen Beitrag fürmehr Ausbildungsplätze in Deutschland erhalten. DieseKultur der Selbstständigkeit ist nicht zu erkennen. DasKlima für Maßnahmen, die den Mittelstand, die Freibe-rufler, die Handwerker unterstützen, ist bei der Politik derBundesregierung nicht befriedigend. Das stellen wir un-ter Kritik.Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem nächs-ten vorzulegenden Berufsbildungsbericht neue Akzentefür zukunftsträchtige Ausbildungs- und Arbeitsplätze fürjunge Menschen zu setzen.Vielen Dank.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Stephan
Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.
Liebe Frau Pieper, nach-
dem Sie in Ihrer Rede beliebt haben, Nebelkerzen zu wer-
fen
– das ist ja parlamentarisch erlaubt, das macht jeder; aber
dann ist es auch erlaubt, zu sagen, was die andere Seite
wirklich macht –, möchte ich sagen: Sie können natürlich
auf die technologische Leistungsfähigkeit ostdeutscher
Betriebe hinweisen. Sie wissen aber ganz genau, dass die
technologische Leistungsfähigkeit der Mittelstandsbe-
triebe in Ostdeutschland zum Teil exquisit und fantastisch
ist und teilweise besser als in manchen westdeutschen Be-
trieben.
Sie können natürlich auch Ihren Mangel an Gegenvor-
schlägen, was die Behebung der Probleme der ostdeut-
schen Ausbildungsplatzsituation angeht, zu kaschieren
versuchen, indem Sie immerfort rufen, das sei Chefsache.
Das ist noch kein einziger Vorschlag. Aber nehmen Sie
doch einmal Stellung zu den Fakten! Wenn Sie schon sa-
gen, dass wir das JUMP-Programm brauchen, um die
Lehrstellensituation in Ostdeutschland zu verbessern,
warum stimmen Sie dann beispielsweise im Haushalts-
ausschuss dagegen? Und warum nehmen Sie zu den
Nachwuchssorgen vieler ostdeutscher Betriebe, die kata-
strophal und existenziell sind, spätestens 2005, 2006, in
keiner Weise Stellung? Wenn Sie immer so tun, als sei nur
die Bundesregierung daran schuld, dass die Betriebe zu
wenige junge Leute einstellen, dann stärken Sie deren Si-
tuation noch, da die Betriebe so sagen können: Schuld ist
die Bundesregierung, sie unterstützt uns nicht, wir stellen
keinen ein.
Zum Schluss haben die Betriebe keinen einzigen Lehr-
ling. Wenn die Betriebe jetzt nicht anfangen – das gilt für
viele Betriebe; das ist wirklich als ein ernster Appell zu
verstehen –, sich auf die demographische Falle, die in den
Jahren 2005 bzw. 2006 einsetzt, so einzustellen, dass be-
reits jetzt antizyklisch ausgebildet wird, dann werden wir –
da gebe ich Ihnen Brief und Siegel – in vier Jahren über
die Frage diskutieren, warum viele Betriebe in Ost-
deutschland trotz hoher Arbeitslosigkeit dichtmachen
müssen. Das werden sie deshalb tun müssen, weil sie kei-
nen Nachwuchs mehr haben.
Frau Kol-
legin Pieper, zur Erwiderung, bitte schön.
Guten Morgen, HerrSchwanitz.
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Cornelia Pieper9654
Ich freue mich, dass die Opposition es erreicht hat, dassder für die Ausbildungsplätze im Osten Deutschlands zu-ständige Minister endlich anwesend ist.
Herr Kollege Hilsberg, trotz all meiner WertschätzungIhrer Person gegenüber möchte ich feststellen: Ich findees skandalös, dass Sie sagen, ich würde parlamentarischeNebelkerzen werfen, wo es doch um Existenzfragen fürkleine und mittelständische Handwerksbetriebe im OstenDeutschlands geht.
Das sind keine Nebelkerzen. Ganz im Gegenteil: Das hatetwas mit der Sorge um die Zukunft eines Teils inDeutschland zu tun, die für uns als Liberale ein ganzwichtiges Thema darstellt.
Sie haben überhaupt kein Konzept für den Aufbau Ost.Sie haben keine Ideen, was die Entwicklung von Arbeits-plätzen anbelangt. Sie schaffen keine entsprechendenRahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft.Das habe ich Ihnen vorgeworfen.In der Tat gibt es im Osten Deutschlands zum Glückauch leistungsfähige Betriebe. Nur ist leider deren Anzahlviel zu gering, um ausreichend Arbeits- und Ausbildungs-plätze insbesondere für junge Menschen zu schaffen. EineChancengleichheit ist nicht gegeben, wenn Sie allein andie Eigenkapitaldecke ostdeutscher mittelständischer Un-ternehmen denken.Ich habe genügend Vorschläge vorgetragen. Sie habenuns ja vorgeworfen, wir hätten nicht genügend Vor-schläge. Ich habe deutlich gemacht, dass das JUMP-Pro-gramm, insbesondere das Sonderprogramm für die neuenBundesländer wichtig ist und dass ich das sogar unter-stütze, dass dies aber nicht die Lösung des bestehendenProblems ist. Das ist der Punkt.
Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die sich sehenlassen kann. Eine solche Politik der Bundesregierung ver-missen wir. Sie zocken doch immer nur diejenigen ab, diefleißig sind und ihr Geld in Ausbildungs- und Arbeits-plätze investieren.
Schauen Sie sich doch Ihre Steuerreform an! Diese Poli-tik können wir als F.D.P. nicht unterstützen.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz
vom Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper,wenn junge Menschen hier in diesem Lande wieder eineChance auf Ausbildung haben, wenn diese Jugendlichen,wie es auch die Shell-Studie zeigt, wieder zuversichtlichund hoffnungsfroh in die Zukunft blicken, dann ist das derPolitik der jetzigen Regierung bzw. der jetzigen Koalitionzu verdanken.
Das zeigen die aktuellen Zahlen. Das sollte einmal deut-lich gemacht werden.Die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen haben wirals rot-grüne Koalition innerhalb von einem Jahr um runddrei Viertel reduziert. 30 000 Ausbildungsverträge wur-den 1999 in Berufen abgeschlossen, die erst in jüngsterZeit entstanden und entwickelt wurden. Zurzeit sind wei-tere 50 Berufsbilder in der Modernisierungs- bzw. Ent-wicklungsphase.Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen undauf unseren Lorbeeren ausruhen. Das heißt für uns vor al-lem, dass wir weiterhin tätig werden müssen, dass wirweitermachen und dass wir weiter gestalten wollen. Vie-les ist in diesem Bereich in der Tat noch zu tun. Die Si-tuation im Osten ist angesprochen worden. Dort ist dasduale System immer noch nicht so richtig in Schwung ge-kommen. Es entwickelt sich.Mehr als 50 Prozent der Auszubildenden erlernen Be-rufe, in denen nur 25 Prozent der Berufstätigen beschäf-tigt sind. Die Konzentration auf geschlechtstypische Mo-deberufe ist unverändert hoch. Die Quote der Ausbil-dungsabbrecher liegt bei 25 Prozent und ist immer nochsehr hoch. Häufig ist es so, dass diese Menschen späterkeine zweite Chance bekommen.Kritisches lässt sich sicherlich auch über die Qualitätder Ausbildung sagen. Kreatives Denken und Handeln,soziale Kompetenz, Team- und Kommunikationsfähigkeitkommen in der Ausbildung häufig zu kurz. Lernenlernen – eine Grundvoraussetzung in der Wissensgesell-schaft – wird leider noch etwas vernachlässigt. Aber ge-rade diese Herausforderungen erfordern eine koordinierteAnstrengung, sowohl von der politischen Seite als auch inden Betrieben vor Ort, in den Ausbildungsstätten. Was wirbrauchen, sind unkonventionelle, neue Lösungen, neueIdeen, neue Gestaltungskonzeptionen. Wenn dann aberVorschläge gemacht werden wie die Wiedereinführungvon Kopfnoten in den Schulen zum Beispiel, dann ist dasein Armutszeugnis für die Politik. Das in dieser Form indie Diskussion zu bringen war von der Frau Merkel nichtbesonders intelligent.
Zukunftsfähig sein heißt, auch Neues zu denken. EinAnsatz liegt in der Modularisierung: Module als Quali-fikationsbausteine. Mich wundert es, dass die Oppositionausgerechnet jetzt – da wir längst darüber reden und ver-suchen, das auszugestalten – auf die Idee kommt, das
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Cornelia Pieper9655
Ganze aufzugreifen. Wo waren Sie denn in den vergange-nen Jahren? Konnten Sie in Ihrer Regierungszeit dennnichts in diesem Bereich tun? Warum fällt es Ihnen aus-gerechnet jetzt ein, eine Modernisierungsphase einzulei-ten, wenn wir längst dabei sind?
Einzelne Firmen wie Siemens haben mit der Modula-risierung schon gute Erfahrungen gemacht, auf die wirauch zurückgreifen. Dabei ist es wichtig, nicht bei derAusbildung stehen zu bleiben, sondern auch die Fort- undWeiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an-zugehen. Wichtig sind auch Flexibilität und Transparenz:Eine Werkzeugmacherin von heute muss sich morgen zueiner Kfz-Meisterin ausbilden lassen können, ohne die ge-samte Ausbildung wiederholen zu müssen. Gleiches giltfür die Ausbildungsabbrecher. Auch sie müssen eineChance bekommen, ihre Qualifikation in die neue Aus-bildung einzubringen, ohne von vorne anfangen zu müs-sen. Wir dürfen diese Debatte nicht auf die Leistungsstar-ken reduzieren.Wenn wir über Modularisierung reden, dann müssenwir von vornherein ein paar Eckpunkte festhalten: Modu-larisierung darf nicht zu einer Qualitätsminderung der Be-rufsausbildung führen.
Es müssen klare Linien bestehen, wie die Ausbildung ab-laufen muss, damit ein vollwertiger Berufsabschluss ge-währleistet ist. Überhaupt nicht infrage stellen wir dabeidas duale Ausbildungssystem. Es hat sich bewährt. Waswir in diesem Bereich brauchen, ist nicht ein Ersatz,sondern eine Weiterentwicklung in Verbindung mit ei-ner Qualitätssicherung. Nicht zuletzt sind die Harmoni-sierungsbestrebungen auf europäischer Ebene wichtig.Wir müssen kompatibel werden mit dem Ausland; dannkönnen wir auch für unser Land einen Nutzen daraus zie-hen.Eine gute Ausbildung findet allerdings nicht in einemluftleeren Raum statt. Eine gute Wirtschafts- und Techno-logiepolitik ist die Grundlage. Da setzt bei uns die Mittel-standspolitik an.
Wir haben in diesem Bereich Akzente gesetzt.
Noch vor wenigen Jahren sind die Solarzellenherstelleraus Deutschland ausgewandert. Was passiert heute? NRWhat sich seit der Regierungsbeteiligung der Grünen bei derSolarkapazität von null an die Bundesspitze katapultiert.Das ist erfolgreiche Mittelstandspolitik.
Das 100 000-Dächer-Programm sowie das Energie-einspeisungsgesetz sind so erfolgreich, dass sie jeglicheErwartungen sprengen. Die Erzeugung regenerativer Ener-gien, die Energieerzeugung aus Sonne, Wind und Wasser,die Informationstechnologien, intelligente, vielseitigeMobilitätskonzepte und innovative soziale Dienstleistun-gen – das sind die Ausbildungsstätten der Zukunft, dassind die Arbeitsmärkte der Zukunft.
In diesen Bereichen entstehen nicht nur Jobs, sondernauch Ausbildungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungs-plätze. Dadurch dass heute junge Leute in ihrem Studium,in ihrer Ausbildung nicht mehr auf Dinosauriertechnolo-gien wie die Atomkraft zurückgreifen müssen, sondernsich mit neuen Technologien beschäftigen können, habensie viel mehr Möglichkeiten der Entwicklung und Gestal-tung. Sie können viel kreativer sein und haben mehr Mög-lichkeiten.
Was wir in diesem Land brauchen, sind Handwerker,die Experten für Solaranlagen und für die intelligenteNutzung von Biomasse und Erdwärme sind. Wir brauchenSpezialisten für ingenieurtechnische Grundlagen, die auchSoftware entwickeln können. Wir brauchen Ingenieure,die das Zweiliterauto und umweltfreundliche Kraftstoffeentwickeln. Nicht zuletzt brauchen wir engagierte jungeLeute, die optimistisch in die Zukunft sehen und neueWege bei den sozialen Dienstleistungen gehen.Dafür stellt diese Regierung heute und auch in Zukunftdie Weichen. Um es bewusst zu unterstreichen: Wir stel-len in der Koalition die Signale auf Grün.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Das Erste, was mir in den dies-jährigen Debatten zum Berufsbildungsbericht auffiel, wardie Geschlossenheit, mit der die Ergebnisse durch denHauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildungaufgenommen wurden. Da fragt sich doch: Wo ist das kri-tische Potenzial der vergangenen Jahre geblieben? Odersteht es mit der Ausbildung wirklich schon zum Besten,wenn die Bilanz durch das Sofortprogramm verbessertwerden konnte? Lediglich einige Abgeordnete der SPD-Fraktion unternahmen einen zaghaften Versuch, die Re-gierung an die Ausbildungsumlage zu erinnern, die erho-ben werden sollte, wenn die Wirtschaft ihre Lehrstellen-zusage nicht einhält.Obwohl in bekannter Weise mit den Unschärfen derStatistik hantiert wird – diese Hinweise gab es auch schonzu Zeiten des Herrn Rüttgers –, kommt auch die neue Re-gierung nicht um das Eingeständnis herum, dass die Zahlder von den Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsver-träge in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in den
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Ekin Deligöz9656
neuen Ländern um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist.Zudem muss man in diesem Zusammenhang bedenken,dass in der Berufsbildungsstatistik nicht zwischen be-trieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhält-nissen differenziert wird – das ist einer der wenigen Kri-tikpunkte, die im Hauptausschuss übrig geblieben sind –und überdies auch die betriebliche Ausbildung vom Steu-erzahler gesponsert wird. Das dürfte doch ein Alarmsig-nal sein. Auf jeden Fall – da haben Sie Recht, FrauBulmahn – ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen.Mit Sicherheit ist diese Situation ein weiteres Indizdafür, dass die politischen Instrumente, welche die Ar-beitgeber zwingen, ihre Lehrstellenversprechen einzuhal-ten, nicht allein Appelle und Bündnisgespräche sein kön-nen.
Wer sich heute Wettbewerbsvorteile verschafft, indem eran der Ausbildung spart, ruft morgen nach Green Cards,weil der Nachwuchs fehlt. Derweil werden mit immerneuen Sofortprogrammen oft konzeptionslos Jugendlichebeschäftigt und, wenn überhaupt, wieder in den falschenBerufen ausgebildet. Mit den viel gepriesenen Vorzügendes dualen Systems hat das alles schon lange nicht mehrviel zu tun.Die Verstaatlichung der Berufsausbildung schreitetweiter voran. In Brandenburg sind mittlerweile über80 Prozent der betroffenen Ausbildungsplätze staatlichsubventioniert. Politik verkommt zum Löcherstopfen imSchlepptau der Wirtschaft, sowohl in der Ausbildung alsauch bei der Behebung des aktuellen und künftig zu er-wartenden Fachkräftemangels. Politik ohne Perspektivewird einfach in „Jugend mit Perspektive“ umdefiniert unddas Problem ist gelöst.Aber so einfach geht es offensichtlich doch nicht. Auchwenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitfor-schung des JUMP-Programms nur tröpfchenweisedurchsickern, wird schon deutlich, dass weder Arbeits-noch reguläre Ausbildungsplätze in nennenswertem Um-fang zusätzlich geschaffen wurden. Von den befragten Ju-gendlichen, die dieses Programm bereits bis November1999 verlassen hatten, sind zwischen 13 und 35 Prozentwieder arbeitslos. Allerdings liegt der Anteil der Über-gänge in berufliche Ausbildungen bei bis zu 50 Prozentund in Erwerbstätigkeit bei zwischen 22 und 48 Prozent;auch das muss selbstverständlich gesagt werden.Vollends absurd wird das Ganze aber, wenn die Fun-damentalkritik am Sofortprogramm ausgerechnet von denArbeitgeberverbänden formuliert wird: außerbetrieblicheAusbildung ohne Beschäftigungschancen, Konkurrenzstaatlich finanzierter Wunschausbildungen gegen wenigerattraktive Ausbildungsplätze in Kleinbetrieben sowieBindungen von Ausbildungskapazitäten in Betriebendurch Praktika des Sofortprogramms.Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein beson-deres Problem aufmerksam machen – einige haben dasschon angesprochen –: Eine Studie zur Evaluierung derAusbildungsprogramme in Sachsen-Anhalt – ein Themaübrigens, dem sich inzwischen auch die ArbeitsgruppeAus- und Weiterbildung im Bündnis für Arbeit angenom-men hat – kommt zu gravierenden Schlussfolgerungenhinsichtlich der Folgewirkungen einer konzeptionslosen,unabgestimmten staatlichen Förderpolitik. Die Autorensprechen von einer „Förderfalle“, in die sich die staatlicheBerufsbildungspolitik hineinbewegt: Zum einen bildensich bei einer zunehmenden Zahl von Unternehmen Ver-haltensmuster heraus, für die die staatliche Förderung be-ruflicher Erstausbildung nicht mehr nur eine Chance zuMitnahmeeffekten, sondern eine Gelegenheit regulärerEinnahmeerzielung ist. Zum anderen führt die staatlicheFörderung zu einer Berufsstruktur der Auszubildenden,die in offenem Widerspruch zu den langfristigen Interes-sen der Jugendlichen und der Wirtschaft des Landes selbststeht.Eben dieser letzte Punkt sollte doch allen, die wie-derum Sonderprogramme zur Überwindung der Lehrstel-lenlücken konzipieren, schwer zu denken geben. Wenn inder Berufsstruktur der Auszubildenden jene dominieren,für die unter allen denkbaren Annahmen nur ein begrenz-ter bis sehr begrenzter Bedarf zu erwarten ist, bzw. jenedominieren, bei denen die Ausbildung nur sehr geringeNettokosten verursacht – wenn sie nicht sogar deutlicheNettoerträge erbringt –, so kann hier wohl kaum noch dieRede von „Jugend mit Perspektive“ sein.Deutlich unterrepräsentiert sind demgegenüber Berufemit einer hohen Verwendungsbreite der erworbenen Fer-tigkeiten und Kenntnisse sowie die Vorbereitung aufTätigkeiten mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Hierwirken sich vor allem unzureichende Ausbildungskapa-zitäten großer Teile der Industrie negativ aus.Angesichts des Förderdschungels, der Auszubildendeerster, zweiter und dritter Klasse produziert, der die Gren-zen von Ausbildung, Praktika und Erwerbstätigkeit zu-nehmend verwischt und so der Ausnutzung Auszubilden-der als billige Arbeitskräfte Vorschub leistet, ist es drin-gend notwendig, die Ausbildungsqualität endlich zurChefsache zu machen.Das Strukturproblem im Osten ist keinesfalls – das wis-sen hier alle; das ist ja auch schon deutlich geworden –durch Programme zu lösen. Dieses Problem ist nur lösbar,wenn sich alle Verantwortlichen die Frage beantworten:Durch welche Maßnahmen kann es erreicht werden, dassdie Wirtschaft Bedingungen vorfindet, die sie ermutigt,im Osten ein produzierendes Gewerbe zu schaffen? Dieduale Ausbildung verkommt ansonsten zur Farce; auchdas wissen wir hier im Saal alle. Damit ich richtig ver-standen werde: Es geht mir nicht um fehlendes Engage-ment der in den Ausbildungszentren Tätigen; denn diesesist sehr groß. Aber auch sie können dieses Strukturpro-blem nicht lösen, weil sie daran nicht herankommen.Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Reihe vonReformvorschlägen eingehen, die die GEW derzeit imZusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz und derHandwerksordnung diskutiert. Dort geht es um Kernfra-gen wie die Dominanz der Wirtschaft, die Stellung der Be-rufsschule, Struktur und Gestaltung der dualen Ausbil-dung sowie die Einbeziehung anderer Ausbildungsgänge.
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Maritta Böttcher9657
Ausgangspunkt der Analysen ist die Feststellung, dasssich die Berufsbildung in Deutschland de facto zu einemMischsystem von Angebotstypen entwickelt hat, die un-terschiedlichen Regelsystemen zugeordnet sind, quantita-tive Defizite, fehlende Auswahlmöglichkeiten, ungleicheAkzeptanz, heterogene Ausbildungsbedingungen, feh-lende Transparenz, fehlende Anschlussfähigkeit und eu-ropäische Kompatibilität aufweisen und durch eine un-gezielte, Nachfrage-, Bedarfs- und Qualitätsaspekte außerAcht lassende staatliche Berufsbildungs- und Förderpoli-tik gekennzeichnet sind.Die Antwort der PDS auf die Frage „Wozu eigentlichAusbildung, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt sowiesonichts bringt?“ kann nicht im Abbau von Bildungsmög-lichkeiten nach dem Motto „Eigenverantwortung undSelbststeuerung“ bestehen. Wir fordern einen weiterenAusbau, eine Differenzierung und Verlängerung von Bil-dungsgarantien – und zwar für alle, nicht nur für die, „diekönnen und wollen“.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian
Simmert von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Beim Berufsbildungsbericht geht es um die Start-chancen junger Menschen, um Ausbildung und die Mög-lichkeit für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Dies isteine zentrale Voraussetzung für junge Frauen und Männerfür die Teilhabe an unserer Gesellschaft.Beide Regierungsfraktionen waren und sind sich des-sen bewusst. Deshalb war und ist das Ziel der rot-grünenBundesregierung, das Recht auf Bildung möglichst füralle Jugendlichen umzusetzen.
Wir haben dazu mehrere wesentliche Schritte getan.Einer der zentralen ist und bleibt das Sofortprogrammzum Abbau der Jugenderwerbslosigkeit.Das ist an die-ser Stelle schon angesprochen worden. Mit dem Einsatzvon zum zweiten Mal 2 Milliarden DM hat Rot-Gründeutlich gemacht, was uns die Bekämpfung der Jugend-erwerbslosigkeit wert ist. Entsprechend erfreulich sinddie statistischen Zahlen. Das Plus auf dem Lehrstellen-markt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dassweitere Anstrengungen gerade in der beruflichen Bildungnötig sind.Die Bundesregierung ist hier in Vorleistung getreten.Wir reden von alleine 27 800 Ausbildungsplätzen imJahre 1999, die auf JUMP zurückzuführen sind. Wir re-den aber auch von der Vorreiterrolle des öffentlichenDienstes, denn die rot-grüne Bundesregierung hat ihrAusbildungsplatzangebot im Bereich der Bundesverwal-tung 1999 um 12 Prozent erhöht.
Die Anstrengungen im Bündnis fürArbeitmüssen ambesten im vergleichbaren Rahmen verstärkt werden. Dassind unsere Leistungen als Bundesregierung. Ich frage dieOpposition: Wo sind Ihre Leistungen? Noch nicht einmalder Zukunftsminister a. D., Herr Rüttgers, bequemt sichins Plenum, wenn es um seinen ehemaligen Zuständigkeits-bereich geht. Er scheint nach Indien gefahren zu sein oderirgendwohin, wo er gerade eine Festplatte oder Ähnlichessucht.
Wir alle wissen, dass Notprogramme allein kein Fun-dament für eine erfolgreiche berufliche Zukunft der jun-gen Menschen sein können. JUMP ist in die zweite Rundegegangen, weil die Bundesregierung ihre Aufgaben ernstnimmt. Die jungen Menschen haben ein Recht auf dieseChance und wir müssen sie ihnen geben. Teil der Abma-chung ist aber auch, dass die Wirtschaft ihre Verantwortungübernimmt und im Rahmen des dualen Ausbildungssys-tems ausreichend betriebliche Ausbildungsstellen zurVerfügung stellt.
Für die jungen Menschen, die vor der Tür stehen, reichtes nicht, Versprechungen zu machen. Sie wollen greifbareErgebnisse. Das heißt in diesem Falle: Sie wollen eineLehrstelle, und zwar eine Lehrstelle in einem richtigenBetrieb, in dem ihre Arbeit Sinn macht und in welchem siedas Gefühl entwickeln können, ihren Platz in der Gesell-schaft gefunden zu haben. Gerade in den neuen Bundes-ländern sind inzwischen rund zwei Drittel der Lehrstellenmit öffentlichen Mitteln gefördert.Dies bedeutet aber auch andere Probleme, zum Bei-spiel bei den Mitbestimmungsmöglichkeiten junger Men-schen. Junge Menschen in der außerbetrieblichen Ausbil-dung dürfen zurzeit keine Jugendausbildungsvertretunggründen, da in den Betrieben kein Betriebsrat existiert.Das wollen wir ändern und dafür werden sich Bünd-nis 90/Die Grünen durch die Novellierung des Betriebs-verfassungsgesetzes einsetzen.
Die vor einem Monat veröffentlichte Shell-Jugend-studie hat die Verbindung zwischen der Perspektivlosig-keit junger Menschen und ihren Möglichkeiten zur Teil-habe an Entscheidungen deutlich gemacht. Es geht ebennicht nur um die Bildung einer eigenständigen Existenz-sicherung. Es geht auch um die Selbst- und Mitbestim-mung von jungen Menschen in Betrieben.
Um die Ausbildungssituation zu verbessern, müssenwir aber auch die Beratungsstrukturen für Jugendlicheausweiten. Gerade junge Frauen wählen aus der gesamtenBerufspalette von circa 360 Ausbildungsberufen immernoch eher einen klassischen Frauenberuf. So ergreifenüber die Hälfte von ihnen nach wie vor einen der zehnhäufigsten Frauenberufe. Nur gut ein Drittel ihrer männ-
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lichen Kollegen machen eine Ausbildung in einem derzehn häufigsten Männerberufe. Diese Zahlen zeigen, dasswir hier nach wie vor Initiative ergreifen müssen.
Der zurzeit viel debattierte IT-Bereich muss sich die-sen Herausforderungen ebenfalls stellen. Frau MinisterinBulmahn leistet hier eine sehr gute Arbeit, unter anderemmit der in diesem Bereich wegweisenden Aktion „Frauenans Netz“.
Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht1999 macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Ausbil-dungsplatzsituation noch lange nicht über den Berg sindund aufpassen müssen, dass es hier nicht wieder zu einernegativen Entwicklung kommt. Hier sind vor allen Din-gen die Betriebe gefragt. Die Bundesregierung hat ihreHausaufgaben gemacht. Die Wirtschaft hat – vor allenDingen in einigen Bereichen – versprochen, ihre Haus-aufgaben zu machen. Versprechen allein reichen jedochnicht aus. Der Staat darf nicht zum Ausfallbürgen für dieWirtschaft hinsichtlich ihrer Ausbildungspflicht werden.Deshalb muss die Wirtschaft ihre Anstrengungen in Sa-chen Ausbildung verstärken. Wir werden ihr dabei mitNachdruck helfen.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU
Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine der größ-ten gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist es –auch Frau Ministerin hat in ihrer Rede großen Wert daraufgelegt, das deutlich zu machen –, jedem Ausbildungswil-ligen und Ausbildungsfähigen nach der Beendigung derSchulzeit eine Ausbildung und danach den Einstieg in dasBerufsleben zu ermöglichen.Vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte,dem rasanten Strukturwandel in der Berufs- und Arbeits-welt und nicht zuletzt dem jetzt stattfindenden Verdrän-gungswettbewerb werden die Lebensperspektiven jungerMenschen zunehmend von Bildung und Ausbildung ge-prägt. Daran muss sich auch die berufliche Bildung mes-sen lassen. So der Berufsbildungsbericht.Lassen Sie mich zunächst mein Augenmerk auf die Ge-samtentwicklung richten. Die Anzahl der unversorgtenJugendlichen konnte in diesem Jahr gegenüber dem Jahre1999 verringert werden. Diese vordergründig positiveEntwicklung ist dann ganz anders zu bewerten – dieswurde schon von vielen Vorrednern deutlich gemacht –,wenn sich herausstellt, dass dies fast ausschließlich aufdie Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung,insbesondere auf das zeitlich begrenzte SofortprogrammJUMP zurückzuführen ist. Es gibt sogar Situationen, indenen sich das JUMP-Programm als kontraproduktiverwiesen hat. So haben Ausbildungsbetriebe aufgrunddieses Programms weniger betriebliche Ausbildungs-plätze angeboten.
Auf diese Art und Weise sind tragfähige Strukturen zer-stört worden. Das kann so nicht bleiben.
Bei der Betrachtung der Ausbildungsplatzbilanz hin-sichtlich regionaler und berufsstruktureller Gewichtun-gen stellt man eine problematische Entwicklung fest. Dieschwierige Situation in den neuen Bundesländern hatmein Kollege Dr. Jork bereits umfassend dargestellt.
Es gibt aber auch im Westen Defizite. So ist in Nordrhein-Westfalen in fast allen Sparten eine negative Entwicklunghinsichtlich des Verhältnisses zwischen Lehrstellenange-bot und -nachfrage festzustellen. In Bayern und Baden-Württemberg dagegen werden teilweise freie Lehrstellen-plätze nicht besetzt. Die Gründe dafür sind hinreichendbekannt.
Dass wir in einigen Regionen eine positive Bilanz zie-hen können, haben wir den regionalen Netzwerken undden Ausbildungskonferenzen zu verdanken. Vor Ortwurden mit großem Engagement und Einsatz aller Betei-ligten die vielfältigen Aktivitäten gebündelt, und dadurchwurde ein besseres Ergebnis erzielt. Dafür möchte ich alldenen, die sich an dieser Stelle engagiert haben, herzlichdanken.
Meine Damen und Herren, es ist ein großes Problem,dass immer noch durchschnittlich jeder fünfte Ausbil-dungsvertrag vorzeitig aufgelöst wird. Diese Zahl ist na-hezu gleich bleibend und viel zu hoch. Dies muss uns allemiteinander wachrütteln. Auch im Wirtschaftsministe-rium sollte darüber nachgedacht werden.Seit Jahren ist die Liste der Top Ten unter den Wunsch-berufen bei Jugendlichen – mein Vorredner hat schon da-rauf hingewiesen – nahezu unverändert. Daher muss sichdie Berufsberatung viel stärker als bisher am veränder-ten Bedarf orientieren und die jungen Menschen motivie-ren, eine bedarfsgerechte Ausbildung anzustreben.Positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass wir im Be-reich der neuen und im Übrigen auch schon von JürgenRüttgers eingeführten Bereiche IT- und Kommunikations-berufe Steigerungsraten in überdurchschnittlichen Pro-zentsätzen verzeichnen können. Den dort angebotenen
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Christian Simmert9659
Stellen stehen allerdings zurzeit doppelt so hohe Zahlenvon Bewerbern, die in diesen modernen Informations-technologien ausgebildet werden wollen, gegenüber. Dabesteht einiger Nachholbedarf.
Hier müssen wir alle miteinander schnell handeln. Im Be-sonderen müssen natürlich auch die jungen Unternehmerin diesem Bereich aktiv werden.Im Kommunikations- und IT-Bereich gibt es viele sogenannte Senkrechtstarter, die ihr Unternehmen schnellund in kleinen Bereichen entwickelt haben. In diesen Be-reichen, in denen die jungen Unternehmer keine Quali-fikation zum Ausbilden haben, sollten wir verstärkt dafürwerben, dass sie sich an Ausbildungsverbünden beteiligenund dass damit natürlich über die Integration in gängigeWirtschafts- und Sozialstrukturen alle Möglichkeiten derAusbildung ausgeschöpft werden.
– Natürlich. Herr Tauss, das sind aber neue Wege, die wirverstärkt gehen müssen.
Wir haben die Situation, dass sich sehr viele junge Un-ternehmer in der IT-Branche durchaus mehr an der Aus-bildung beteiligen sollten,
und darauf möchte ich hinweisen.
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Be-reich der Zukunftstechnologien ein erschreckendes Süd-Nord-Gefälle. Darüber muss hier noch einmal ein Wortgesagt werden. Dieses Gefälle zeigt sich bereits in denInvestitionen an den Schulen. Dort muss nämlich begon-nen werden.In Baden-Württemberg haben wir in den letzten Jahrenvon 1996 bis 1999 pro Schule durchschnittlich 20 000DM in die neuen Medien investiert.
Bereits Ende 1998 waren bei uns drei von vier Schulen amNetz. Im gleichen Zeitraum haben in Ländern wie Nie-dersachsen und Nordrhein-Westfalen diese Investitionengerade einmal 20 Prozent davon betragen.
– Man kann nachlesen, dass hier im Süden besondereInvestitionen getätigt worden sind.Deshalb sitzen in denjenigen Ländern, in denen dieserBereich vernachlässigt wurde, heute noch mehr als dieHälfte der Schulen im elektronischen Niemandsland an-statt am Netz. Das ist ein Trauerspiel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem ange-sprochenen Verdrängungswettbewerb und aufgrund derSituation, dass die Jugendlichen individuelle Fähigkeitenund Begabungen mitbringen, gibt es natürlich Gewinnerder Modernisierung und demzufolge auch Verlierer derModernisierung. Gerade diese Modernisierungsverlie-rer sind unser Problem.Wir begrüßen es, dass im Bündnis für Arbeit neueWege gegangen werden
und wir nun auch neue Maßnahmen in diesem Bereich er-kennen.
Durch die Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitungund Berufsausbildung unter Einbeziehung betrieblicherPraktika, durch Qualifizierungsbausteine und durch dieZertifizierung erreichter Teilqualifikationen können auchdiesen schwer vermittelbaren Jugendlichen mit kogniti-ven und sozialen Defiziten neue Wege eröffnet werden,und vor allen Dingen können sie besser motiviert werden,sich vor allem im Bereich des lebensbegleitenden Ler-nens zu engagieren. Frau Ministerin, ich bin Ihnen dank-bar, dass Sie auch darauf eingegangen sind.
Ich glaube, das ist eine der Grundkompetenzen, die wirden jungen Menschen heute vermitteln müssen.Meine Damen und Herren, das duale System der Be-rufsausbildung in Deutschland insgesamt ist flexibel, aberder Berufsbildungsbericht weist natürlich mit Recht aufeinige Defizite hin. Wir müssen uns alle anstrengen, dasduale System in Deutschland konkurrenzfähig zu machenund weiterzuentwickeln.
Herr Kol-
lege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zumSchluss. – Meine Damen und Herren, Ausbildung undQualifizierung sind im europäischen und globalen Kon-text zu sehen. Fremdsprachenkompetenz, Bereitschaft zurMobilität und natürlich auch die Bereitschaft, sich in die-sem Bereich des lebensbegleitenden Lernens zu engagie-ren, sind unverzichtbar.Die Verbesserung der Zukunftschance der jungen Ge-neration ist unsere gemeinsame Aufgabe. Unsere Jugendbraucht verlässliche Partner. Wir wollen uns daran betei-ligen.Vielen Dank.
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Heinz Wiese
9660
Ich gebe
dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion das
Wort.
Guten Morgen, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Ich halte es für wichtig, kurz auf einige Punkte ein-
zugehen, Frau Pieper, die Sie hier in den Raum gestellt
haben. Wenn man über die Ausbildungssituation in Ost-
deutschland redet und gleichzeitig im Haushaltsausschuss
das JUMP-Programm finanzpolitisch ablehnt, dann frage
ich mich, welche Perspektive Sie den jungen Leuten in
den neuen Ländern geben wollen.
Wenn es so ist, dass 90 Prozent der Personengesell-
schaften im kleinen und mittelständischen Bereich weni-
ger als 100 000 DM versteuerbares Einkommen haben,
dann ist es richtig, dass wir den Einkommensteuersatz
senken und den Grundfreibetrag erhöhen. Das ist unser
Politikansatz, und der ist richtig.
Über das Thema Abzocken würde ich nicht so laut
sprechen, denn viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer haben in den 90er-Jahren vor dem Hintergrund der
Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
mitbekommen, was Abzockerei ist. Deshalb haben sie
sich 1998 anders entschieden. Das ist richtig so.
Jetzt möchte ich Ihnen etwas zur notwendigen Flexibi-
lisierung in der beruflichen Ausbildung sagen. Auch das
hat unsere Ministerin sehr deutlich angesprochen. Zum 1.
August 2000 werden neue Ausbildungsordnungen be-
schlossen: Chemielaborant, Biologielaborant und Lackla-
borant. Dort haben wir eine Flexibilisierung vorgenom-
men, wie wir sie immer diskutiert haben. Ich will Ihnen
das an den Bausteinen verdeutlichen: Der Beruf Chemie-
laborant wird 28 Bausteine haben, der Beruf Biologiela-
borant 21 Bausteine und der Beruf Lacklaborant 18 Bau-
steine. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Diesen
Weg werden wir weitergehen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wenn man sich die Debatten der letzten Tage zu
Gemüte führt, dann muss man sagen, dass die Diskussion
um die Green Card interessante Aspekte mit sich bringt.
Die alte Bundesregierung und insbesondere ihr Zukunfts-
minister
haben doch Jahre geschlafen. Ich werde darauf zurück-
kommen und dies begründen.
Die neue Bundesregierung hat mit der IT-Offensive im
letzten Jahr die Zeichen der Zeit erkannt. Ich glaube, dass
die Diskussion um die Green Card ein Anstoß in den Köp-
fen der Menschen ist. Das ist gut so, meine Damen und
Herren.
Wir nehmen aber auch gern kritisch zur Kenntnis, dass die
Debatte um die Green Card zeigt, dass das Thema IT of-
fensichtlich ein Problem im Bereich von Bildung und For-
schung ist. Auch dazu werden wir uns verhalten.
Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht zu Gemüte
führen, so will ich meine Ausführungen auf einige we-
nige, nach meiner Auffassung wichtige Punkte begrenzen.
Wir halten die strategische Ausrichtung im Bündnis für
Arbeit auf den Ausbildungskonsens für absolut richtig,
nicht nur weil er erfolgreich ist, sondern – Sie können das
an den Zahlen von Nordrhein-Westfalen erkennen – weil
vor allen Dingen Ausbildungsplätze im betrieblichen
Bereich organisiert wurden.
Es ist immer wieder gefordert worden: Macht mehr Aus-
bildung in den Unternehmen. Das ist richtig so. Nord-
rhein-Westfalen hat die Ausbildungsquote im Bereich der
neu eingetragenen Ausbildungsplätze noch einmal um
5,3 Prozent erhöht.
Wir haben weniger vollzeitschulische Ausbildungsplätze
als Baden-Württemberg oder Bayern, weil wir in Nord-
rhein-Westfalen gesagt haben: Wir wollen in die Betriebe
gehen, denn dorthin müssen die jungen Leute, dort lernen
sie am meisten.
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?
Ja.
Bitte
schön, Frau Lenke.
Von Ihnen nicht. – Ich möchte die
Frage stellen, ob Sie immer noch die Ausbildungsplatz-
abgabe in Ihrem Konzept haben. So wie Sie die Hand-
werker und den Mittelstand loben, müssten Sie von dem,
was Sie vorgeschlagen haben, jetzt Abstand nehmen. Wie
ist das mit der Ausbildungsplatzabgabe? Wie stehen die
Bildungspolitiker dazu?
Herzlichen Dank für Ihre Frage.
Ich will Ihre Frage sehr gern beantworten.Wir sind derAuffassung, dasswir imBereich der beruf-lichen Bildung eine strukturelle Erneuerung vorantreiben
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müssen und dass deshalb die Forderung nach der Umla-gefinanzierung, vor allem von der PDS gestellt, zum ge-genwärtigen Zeitpunkt nicht den Kern des Pro-blems trifft.
Wir glauben, dass wir die Probleme mit strukturellen Re-formen wesentlich besser lösen können und dass wir da-durch das duale System auch zukunftssicher machen kön-nen.
– Moment, bleiben Sie ganz ruhig!Weil wir in Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme,schon 1994, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, im Rahmen eines Ausbildungskonsenses gemeinsamfür genügend Ausbildungsplätze gesorgt haben, führenwir dort zurzeit auch keine Debatte über die Umlage-finanzierung. Ich muss trotzdem feststellen, dass die Ver-besserung der Ausbildungsstellensituation außerhalb desIHK-Bereichs vor allen Dingen durch die Bereitstellungöffentlicher Mittel, unter anderem durch JUMP, zustandegekommen ist. Ich fordere auch heute die Wirtschaft auf,sich stärker für mehr Ausbildungsplätze einzusetzen.Wenn die Wirtschaft das tut, dann müssen wir über eineUmlagefinanzierung nicht mehr diskutieren.
Herr Kol-
lege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle-
gin Lenke?
Sehr gerne.
Frau
Lenke, bitte.
Herr Kollege, Sie haben auf meine
Frage nur ausweichend geantwortet. Ich konnte Ihrer Ant-
wort nur entnehmen, dass Sie derzeit in Nordrhein-West-
falen keine Ausbildungsplatzabgabe einführen wollen.
Sehen Sie das länderspezifisch? Meine Frage ist: Treten
Sie persönlich weiter für eine Ausbildungsplatzabgabe
ein oder nicht? Ihre Antwort auf meine letzte Frage hat
dazu wirklich nichts enthalten.
Verehrte Kollegin, ich habe –
nachweislich des Protokolls – für die SPD-Bundestags-
fraktion und auch persönlich hier und heute – ausgehend
vom derzeitigen Zustand – den Einsatz der Umlagefinan-
zierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt, so wie
ich es auch in der Vergangenheit getan habe. Ich möchte
Ihnen das begründen, damit Sie es verstehen.
Wir haben im Rahmen der beruflichen Bildungspolitik
in der Region – das freut mich an diesem Ansatz beson-
ders – ein Modell von unten nach oben entwickelt und
festgestellt, dass es besser ist, sich gemeinsam zusam-
menzusetzen, statt Spiegelfechtereien über ideologische
Grundsätze in der beruflichen Bildung zu führen.
Deshalb haben wir die Umlagefinanzierung abgelehnt.
Die Zahlen und die Arbeitsweise in Nordrhein-Westfalen
und in anderen Bundesländern geben uns Recht, den ein-
geschlagenen Weg fortzuführen. Das halte ich für richtig.
Ich antworte konkret auf Ihre Frage: Wir werden der-
zeit die Umlagefinanzierung nicht einführen.
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion?
Sehr gerne.
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.
Kollege Brase,
Sie haben behauptet, dass gerade die PDS für die Umla-
gefinanzierung sei. Ist Ihnen bekannt, dass die Gewerk-
schaften seit den 70er-Jahren die Einführung einer Umla-
gefinanzierung fordern, dass führende Gewerkschaften
diese Forderung nach wie vor aufrechterhalten und dass
sowohl Ihre Partei in den Beschlüssen vom letzten Partei-
tag als auch die Jusos diese Forderung erheben?
Verehrte Kollegin, mir ist bekannt,dass es auch innerhalb der Gewerkschaften unterschiedli-che Positionen zur Ausbildungsplatzumlagefinanzierunggibt. Es gibt nicht nur Gewerkschaften, die eine Umlage-finanzierung fordern; vielmehr haben bestimmte Gewerk-schaften eine andere Position zur Umlagefinanzierung alszum Beispiel die IG Metall. Mir ist bekannt, dass die For-derung nach Einführung einer Umlagefinanzierung auchinnerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandserhoben wird. Aber das ändert nichts daran, dass wir der-zeit einen anderen politischen Weg gehen. Ich halte die-sen anderen politischen Weg bezüglich der Zurverfü-gungstellung von Ausbildungsplätzen für richtig. Deshalbbrauchen wir derzeit keine Umlagefinanzierung.
– Hören Sie doch genau zu. – Aber eines muss völlig klarsein: Wenn das derzeitige duale System erhalten werden
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Willi Brase9662
soll, dann müssen Wirtschaft, Handwerk und die freienBerufe genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stel-len. Das wollen und werden wir erreichen.
Die Wirtschaft, vor allen Dingen die Industrie- undHandelskammern – ich hatte das eben schon gesagt –, hatin vielen Regionen und in vielen Bundesländern die imRahmen des Bündnisses für Arbeit von ihr gegebenen Zu-sagen eingehalten. Das Handwerk, die freien Berufe undandere Berufsgruppen haben das nicht getan. Ich glaube,dass wir das kritisch würdigen müssen. Dies kann keinDauerzustand sein. Darüber haben wir eben diskutiert.Wir halten es für richtig, dass wir vor allem die struk-turelle Erneuerung der beruflichen Bildung vorantreiben.Ich verweise bewusst auf das Stichwort Green Card. Derentscheidende Effekt der Green-Card-Diskussion bestehtmeiner Meinung nach darin, dass wir uns noch einmal derstrukturellen Entwicklung und der Defizite bei der beruf-lichen Bildung erinnern.
Herr Kol-
lege Brase, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage,
diesmal des Kollegen Niebel?
Sehr gerne.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege, Sie haben für die
Vergangenheit und für die Gegenwart eine Ausbildungs-
platzabgabe als nicht sinnvoll erachtet. Darin stimme ich
Ihnen voll und ganz zu. Jetzt sehe ich allerdings, dass Sie
nicht nur Landesjugendsekretär beim DGB gewesen sind,
sondern dass Sie auch Mitglied der ÖTV sind. Beide Or-
ganisationen haben doch die Ausbildungsplatzabgabe für
die Zukunft gefordert. Werden Sie jetzt die Gewerkschaft
wechseln müssen?
Herr Niebel, nun machen Sie sich
keine Gedanken über meine gewerkschaftliche Zukunft.
Machen Sie sich vor allen Dingen keine Gedanken darü-
ber, dass ich meine gewerkschaftlichen Positionen
möglicherweise vergessen könnte.
Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Die Gewerkschaften
haben immer mit den Sozialpartnern, mit den Arbeitge-
bern, mit den Vertretern der berufsbildenden Schulen in
den berufsbildenden Ausschüssen zusammengearbeitet.
Dieses Geschäft mache ich schon seit Jahren; von daher
weiß ich, was dort zu tun und zu lassen ist. Sie können also
darauf setzen, dass ein Gewerkschaftswechsel nicht statt-
finden wird. Ich fühle mich da sehr gut aufgehoben. Wis-
sen Sie, was das Schönste ist? Auch die Menschen fühlen
sich durch mich sehr gut vertreten.
– Davon können Sie überzeugt sein.
Ich bitte,
jetzt fortzufahren.
Heute ist Freitag und wir sind mit einer sehr langen Ta-
gesordnung belastet. Es wäre nicht gut, wenn wir heute
Nachmittag mit sehr wenigen Zuhörern hier sitzen wür-
den.
Es ist richtig – das ist gesagt wor-den –: Wir brauchen mehr denn je zukunftsweisende Be-rufe. Die Schwerpunkte liegen auf der Hand und sindauch im Berufsbildungsbericht aufgezeigt worden: Ge-sundheit, Umwelt, Kultur, Freizeit, Tourismus, Trans-porte, Verkehr und Logistik. Nicht zu vergessen: Insbe-sondere gehören der IT- und der Mediensektor dazu.Nicht zuletzt wird die Biotechnologie zunehmend ein Zu-kunftsfeld. Auch auf diesem Gebiet müssen und werdenwir Ausbildungsberufe entwickeln. Es ist zudem richtig,dass die Bundesregierung der Verbesserung der Früh-erkennung ein ganz neues Gewicht beigemessen hat. Siehat dieses wichtige Feld fest im Blick.Ich möchte betonen: Strukturelle Erneuerung ist auchangesprochen, wenn wir uns das Berufswahlverhaltenjunger Frauen anschauen. Wenn Sie einmal die Untersu-chung der Bund-Länder-Kommission und ihre Anregun-gen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass noch ei-niges zu tun ist.Die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zu Com-putern und Internet sind zu verbessern. Die Aktualisie-rung der Richtlinien zur Koedukation in Schulen und dieVerankerung geschlechtsspezifischer Gesichtspunkte beider Berufsorientierung von Frauen, zum Beispiel im Me-dienbereich, sind an der Tagesordnung. Wir begrüßen es,dass auch die Bund-Länder-Kommission den Länderndies vorgeschlagen hat. Nicht zuletzt möchte ich in die-sem Zusammenhang darauf verweisen, dass die Bundes-regierung die Programme „Frauen ans Netz“ und „Frauund Beruf“ beschlossen hat.Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber kurzfristigenModeentwicklungen ist eines unbestreitbar – wir solltendas zur Kenntnis nehmen –: Der IT-Sektor und spezielldas Internet werden das Arbeitsleben und unser Lebeninsgesamt tief greifend verändern und bestimmen.
Ich habe in den letzten Tagen von der Opposition mehr-fach gehört, wir hätten gegenüber den USA einen Rück-stand. Ich gebe Ihnen in bestimmten Punkten Recht: Wirhaben einen gewaltigen Rückstand aufzuholen.
Aber warum? Das so genannte H-1-B-Programm derUS-Regierung im Rahmen des Non-Immigrant-Programs
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Willi Brase9663
wurde als Reaktion auf den sich abzeichnenden Fachkräf-temangel im IT-Bereich in den USA eingerichtet. Aberwann ist denn das geschehen? Das H-1-B-Programmwurde Anfang der 90er-Jahre eingerichtet. Wenn ich esrichtig sehe: Damals waren Sie an der Regierung.Warum halten Sie uns jetzt die Leistungen der USAvor, obwohl Sie damals nichts gemacht haben?
Warum haben Sie damals diese Entwicklung in den USAnicht erkannt?
Haben Sie in der Regierung vielleicht geschlafen?
Offensichtlich haben Sie auch diesen Reformbedarf ge-rade im IT-Bereich, der schon damals erkennbar war,nicht erkannt.
Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:Wo war denn der zuständige Minister in den letzten Jah-ren? Es war doch Ihr Zukunftsminister, es war doch HerrRüttgers, der diese Trends nicht erkannt hat.
Ich will es deutlich und direkt sagen: Ich möchte nichtnäher auf die nach meiner Meinung schäbige und charak-terlose Hofierung des Rechtspopulismus durch HerrnRüttgers eingehen. Er hat ja auch die Kritik der Kirchenmassiv provoziert. Diese Kampagne, die in Nordrhein-Westfalen gefahren wird, ist mit der katholischen Sozial-lehre oder mit der evangelischen Sozialethik, die HerrStoiber auf Ihrem Essener Parteitag so leidenschaftlich alsKompass ausgegeben hat, nicht vereinbar. Nein, die Kir-chen haben sich zu Recht gegen diese Kampagne ge-wandt.
Und dann erleben wir im Wahlkampf, dass dieser sogenannte Zukunftsminister auch mit Ihrer Unterstützung,Herr Merz, behauptet, zuständig für diese Entwicklungsei nicht die damalige Bundesregierung gewesen, das seivielmehr Job der Landesregierung NRW. Ich stelle nurfest, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die H-1-B-Rege-lung in den USA ist in Washington beschlossen wordenund nicht in den einzelnen amerikanischen Bundesstaa-ten. Insofern war auch die damalige Bundesregierung ver-antwortlich.
Wenn man das betrachtet, muss man die Aussage tref-fen, dass die Technikfeinde von heute auf der rechtenSeite des Hauses sitzen.Auch der Fall Schweden oder Finnland zeigt dengroßen Nachholbedarf Deutschlands in diesem Bereich.In Schweden haben circa 45 Prozent der privaten Haus-halte Internetanschlüsse, in Deutschland nur 17 Prozent.Die Schweden haben auf lange Sicht große Finanzmittelin Bildung und Forschung gesteckt mit dem Resultat, dassihre Wirtschaft seit Jahren boomt und schwedische IT-Un-ternehmen weltweit mit an der Spitze stehen.Die alte Bundesregierung hat dagegen den Bildungs-und Forschungsetat permanent gekürzt. Ich will es nocheinmal deutlich sagen, weil mir mittlerweile nicht mehrklar ist, wofür die Union in dieser Frage steht. DerMinisterpräsident Müller aus dem Saarland möchte dieSchaffung von zwei Ausbildungsplätzen pro Einsatz einesGreen-Card-Mitarbeiters gesetzlich vorschreiben. HerrRüttgers ist generell gegen die Green Card, wie wir wis-sen. Herr Stoiber ist für die Green Card und für ein Ein-wanderungsgesetz. Es wäre schön, in den nächsten Tagenzu erfahren, wofür die Union in dieser Frage eigentlichsteht.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, wir werden die Reformen im Bereich der berufli-chen Bildung anpacken. Das zeigt auch der Antrag, denwir vorgelegt haben. Wir freuen uns auf fruchtbare Dis-kussionen im Ausschuss über diesen Antrag. Zeigen SieMut zur Zukunft, unterstützen Sie uns, denn ich glaube,das ist der richtige Weg, den wir zu gehen haben.Ich möchte es noch einmal sagen: Die Entwicklung ei-nes Ausbildungsplatzkonsenses, geboren aus politischenAnsätzen und aus der Anerkennung der Realitäten in denRegionen, weitergeführt von der NRW-Landesregierung,hat vor allen Dingen zu einer großen Zahl betrieblicherAusbildungsplätze geführt. Diesen Weg sollten und wer-den wir weitergehen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ab-
schließend hat die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kol-legin Pieper hat schon angesprochen, dass es bemerkens-wert ist, dass wir den Berufsbildungsbericht 1999 im Ja-nuar 2000 beraten und verabschiedet haben und schonvier Monate später der nächste Berufsbildungsbericht aufder Tagesordnung steht. Entweder ist die Regierung soviel schneller geworden, was mich wundern würde, oderes könnte eventuell damit zusammenhängen, dass amSonntag in Nordrhein-Westfalen Wahlen stattfinden. Diezweite Variante scheint mir die wahrscheinlichere: DerBericht wird genutzt, um noch einmal kräftig Wahlkampfzu machen.
Nichtsdestotrotz ist natürlich nach wie vor festzuhal-ten, dass es zu begrüßen ist, dass Jugendliche eine Chancebekommen haben. Das ist keine Frage. Es stellt sich aber
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Willi Brase9664
immer noch die Grundsatzfrage: Handelt es sich um nach-haltige strukturelle Maßnahmen oder um Strohfeuer, dieirgendwann wieder erlöschen werden? Es handelt sich umlediglich kurzfristige Maßnahmen. Der beste Beweisdafür ist ja, dass in den neuen Bundesländern 70 Prozentder neu geschaffenen betrieblichen Ausbildungsplätzeund bundesweit 40 Prozent der neu geschaffenen Plätzesubventioniert sind. Das allein zeigt, dass es sich nicht umeine nachhaltige Entwicklung, sondern um ein Strohfeuerhandelt, das irgendwann wieder erlöschen wird. Sie selbstsehen das in Ihrem Bericht, den ich mir genau durchgele-sen habe, auch sehr kritisch. Deshalb muss man bei dengrundsätzlichen Fragen immer wieder ansetzen. Geradedie Wirtschaftspolitik kann man nicht außen vor lassen,
besonders mit Blick auf die neuen Bundesländer, aberauch im Hinblick auf die Steuerreform.Sehr geehrter Herr Brase, Sie reden zwar immer überdie Senkung des Spitzensteuersatzes. In diesem Zusam-menhang muss ich aber einen anderen Punkt in IhremSystem ansprechen: Sie senken die Grenze, bei der derSpitzensteuersatz erreicht wird, von 120 000 auf 98 000DM ab. Damit verschweigen Sie geflissentlich, dass im-mer mehr Steuerpflichtige wesentlich schneller von einerhöheren Steuerprogression betroffen werden. Das ist je-doch gerade für den Mittelstand nach wie vor ein wesent-liches Problem.
Ich kann Ihnen das gern vorrechnen, ich weiß aber nicht,ob Sie das verstehen.
Die Frage, ob zusätzlich betriebliche Ausbildungs-plätze neu geschaffen wurden, wird insbesondere in Be-zug auf die neuen Bundesländer sehr kritisch gesehen.Für diese kann das nicht bejaht werden. Auch das Bun-desinstitut für Berufsbildung kommt zu dem Schluss, dassim gleichen Zeitraum in etwa ebenso viele betrieblicheAusbildungsplätze im Rahmen der regionalen und loka-len Projekte nach Art. 2 des Sofortprogramms geschaffenwie abgebaut wurden.Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Lohnkosten-zuschüssen. Sie können sich durchaus gerne bei den In-dustrie- und Handelskammern und Handwerkskammerndanach erkundigen. Viele Betriebe warten erst einmal ab,ob ihnen Lohnkostenzuschüsse angeboten werden. Erstdann schaffen sie Ausbildungsplätze, die sie vielleicht sooder so geschaffen hätten. Sie wären natürlich – das istmenschlich nachvollziehbar – naiv, wenn sie diese Zu-schüsse nicht in Anspruch nehmen würden. Aber geradedas führt nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung; dafürist immer eine strukturelle Veränderung nötig.Des Weiteren ist es schon bemerkenswert, wie sich dieZahlen teilweise schlagartig zwischen Dezember 1999und März 2000 verändert haben. Vergleicht man die Zah-len der Jugendlichen, die an dem Sofortprogramm teil-nehmen, miteinander, stellt man einen Unterschied vonminus 28 000 zwischen Dezember 1999 und März 2000fest. Die Zahl ist schlagartig heruntergegangen, mankönnte meinen, weil sich der Berichtszeitraum bis De-zember 1999 erstreckt. Dasselbe ist bezüglich der ju-gendlichen Arbeitslosen anzumerken. Hier wurden imMärz 2000 453 000 registriert, im Dezember 1999 warenes dagegen 40 000 weniger. Auch hier ist ein schlagarti-ger Sprung zu erkennen. Man kann vielleicht davon aus-gehen, dass der Bericht dementsprechend verfasst wurde,um alles etwas schöner darzustellen als es in der Realitätist.
Des Weiteren stellt sich natürlich auch immer die Frageder Nachvermittlung, also wie viele Ausbildungsplatz-suchende im Zeitraum zwischen September und Dezem-ber nachvermittelt werden. Hier ist keine wesentliche Än-derung zu erkennen. Es ist nach wie vor erfreulich, dassin diesem Zeitraum circa 50 Prozent nachvermittelt wer-den konnten. Aber eine wesentliche Änderung zu den Jah-ren 1998 und 1999 ist hier nicht festzustellen. Schon 1997wurden ungefähr 50 Prozent nachvermittelt.
– Ja, wunderbar, Herr Tauss. Sie sind ja bekannt für Ihrefreundlichen Zwischenrufe. Ob sie aber qualifiziert sind,ist eine andere Frage.
Einen weiteren Punkt, der mir am Herzen liegt, möchteich noch ansprechen. Wenn wir sehen, dass in vielen Be-rufszweigen viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werdenkönnen, stellen wir fest, dass das zum Teil regionaleGründe hat, zum Teil aber auch daran liegt, dass mancheAusbildungsberufe für Jugendliche erst einmal nicht sointeressant sind. Trotzdem vermisse ich intensive Maß-nahmen, durch die die Jugendlichen davon überzeugtwerden könnten, dass es sinnvoller ist, eine Berufsausbil-dung aufzunehmen, die dann auch Weiterbeschäftigungs-möglichkeiten einräumt, als irgendeinen subventioniertenaußerbetrieblichen Ausbildungsweg einzuschlagen, derkeine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bietet. Auch hiervermisse ich konkrete Maßnahmen, durch die die Ju-gendlichen auf diese Möglichkeiten hingewiesen werden.Ein nächster Punkt ist die Frage von Mobilitätshilfen.Herr Kasparick hat ja eben freundlicherweise bestätigt,dass viele Jugendliche aus den neuen Bundesländern inden Süden Deutschlands kommen, um hier einen Ausbil-dungsplatz zu erhalten. Das ist eine vernünftige Entwick-lung, denn wenn Ausbildungsplätze frei sind, sollten sieauch besetzt werden. Wir könnten in diesem Zusammen-hang deshalb darüber diskutieren, ob dies in der einenoder anderen Weise, zum Beispiel durch Mobilitätshilfen,noch weiter unterstützt werden könnte.Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass dieJugendlichen in den Süden gehen und nicht nach
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Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Sie müsseneinräumen: Zumindest gehen sie nicht in einem entspre-chenden Ausmaß dorthin.
Das könnte eventuell mit dem Schulwesen zu tun haben,dessen Qualität sich an der Jugendarbeitslosigkei ablesenlässt.
Es gibt eben ein deutliches Qualitätsgefälle zwischen densüdlichen und den nördlichen Bundesländern,
wenn Sie es noch genauer haben wollen: zwischen denCDU- bzw. CSU-regierten und den SPD-regierten Län-dern. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen denLändern in diesem Bereich.
Ich komme jetzt zu dem immer wieder vorgebrachtenVorwurf, wir hätten hinsichtlich der Modernisierungnichts getan. Eine grundsätzliche Anmerkung: Ich kannmich noch sehr gut daran erinnern, dass die Gewerk-schaften – diese sind bei der SPD bei weitem nicht unter-repräsentiert; ich glaube, von 298 Fraktionsmitgliedernsind 250 in Gewerkschaften organisiert; es gibt viele mitlupenreiner Gewerkschaftsvergangenheit, die von derSchulbank in die Gewerkschaft gegangen sind und nochnie in einem Betrieb gearbeitet haben –
jahrelang die Flexibilisierung der Ausbildungsberufe ver-hindert haben, weil sie von einer sturen Ideologie ausge-gangen sind. Es war nicht möglich, neue Berufe zu schaf-fen. Diese Haltung kann ich mindestens für die letztenvier Jahre bestätigen.
Es ist Gott sei Dank ein Schritt in die richtige Richtung,wenn hier eine Art Bausteinsystem, Modulsystem – wieimmer Sie dieses System bezeichnen wollen – jetzt lang-sam Einzug hält. Diejenigen, die schneller lernen, sollendie Chance bekommen, zusätzliche Qualifikationen zu er-reichen. Diejenigen, die nicht so schnell sind, sollen nichtüberfrachtet werden. Sie sollen aber eine Chance erhalten,in den gewünschten Ausbildungsberuf hineinzukommen.Wir sind noch nicht am Ende dieser Diskussion. Ich freuemich auf weitere Diskussionen, damit wir in diesem Be-reich weiterkommen.Ich komme jetzt zu den Zahlen. Dabei berufe ich michauf einen Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung,der aufschlüsselt, wann welche Ausbildungsordnungenneu geschaffen bzw. reformiert wurden. In der Zeit zwi-schen 1996 und 1998 – weil immer der 1. August derStichtag ist, können Sie nicht abstreiten, dass dafür diealte Bundesregierung verantwortlich ist – gab es 28 neugeschaffene und 99 modernisierte Ausbildungsberufe.Zum 1. August 1999 haben Sie vier neue Berufe geschaf-fen. Darunter befinden sich zwei, die lediglich erst 1999anerkannt wurden, abere bereits existierten. 1999 gab es26 modernisierte Berufe. Davon sind bei einem bereits1997 die Grundlagen gelegt worden; 17 waren schonlange vorher in Vorbereitung.Die Bilanz, wer wann welche Ausbildungsordnungenmodernisiert hat, ist eindeutig zu ziehen. Dass in den letz-ten Jahren die Anstrengungen intensiviert wurden, dassSie manche Maßnahmen übernehmen und fortsetzen, istpositiv; das ist keine Frage. Aber die großen Impulse ins-besondere im IT-Bereich sind gewiss nicht von Ihnen ge-kommen. Die vier neuen Berufe, die Sie immer anführenund für die jetzt viele neue Ausbildungsplätze geschaffenwurden, sind nicht Ihr Verdienst. Sie sind von der altenBundesregierung – Gott sei Dank rechtzeitig – eingeführtworden. Ansonsten hätten wir selbst diese Ausbildungs-plätze jetzt nicht.
Zum Schluss möchte ich Sie noch einmal auffordern,mit uns an einer strukturellen Weiterentwicklung derBerufsausbildung weiterzuarbeiten, damit die Betriebenicht gezwungen werden – es ist egal, ob von Ihrer Seite,DGB oder PDS –, Ausbildungsplatzabgaben oder Ähnli-ches zu leisten. Sie sollten sich vielmehr freiwillig bereiterklären, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.Diese Erkenntnis ist bei den Betrieben vorhanden, weil siesehr wohl wissen, dass die Zahl der Fachkräfte zurückge-hen wird. Die Zahl wird demographisch bedingt nur nochbis zum Jahr 2006 steigen. Dann wird sie zurückgehen.Die Bereitschaft der Betriebe ist also da. Aber sie kön-nen diese Arbeit nur leisten, wenn erstens die Wirt-schaftspolitik stimmt
und wenn zweitens ihnen die Möglichkeit gegeben wird,vernünftige Ausbildungsberufe, die sich an der Realitätorientieren, anzubieten. Dann werden sie dementspre-chend handeln. Ich appelliere an Sie, mit uns gemeinsamin diesem Bereich weiterzuarbeiten.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 14/3244 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschlie-ßungsantrag auf Drucksache 14/3331 soll an dieselbenAusschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.
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Ilse Aigner9666
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 cauf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Schorlemer,Dr. Klaus W. Lippold , weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSUSchadensersatzforderungen und -prozesse desBundes gegen das Bundesland Niedersachsenim Zusammenhang mit Baustopps für das End-lager Gorleben in den Jahren 1990 bis 1994– Drucksachen 14/1375, 14/2639 –b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
– Drucksache 14/564 –c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
– Drucksache 14/1562 –Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än-derungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Mit der Großen An-frage der CDU/CSU greifen wir ein Thema auf, das auchin der Antwort der Bundesregierung zu einem Dokumentder politisch motivierten Rechtsverweigerung und desRechtsbruchs zulasten des Steuerzahlers durch eine rot-grüne Landesregierung wird.
– Ich trage nicht dick auf, Sie brauchen nur nachzulesen,Frau Ganseforth. Die Zahlen stehen ja alle drin.Ich denke, dass es ein Motiv gibt für diese Versuche derdamaligen niedersächsischen Umweltministerin – auchunter politischer Rückendeckung des damaligen Minis-terpräsidenten Gerhard Schröder –, nämlich zu verhin-dern, dass die Wahrheit über die Eignung des SalzstockesGorleben zutage gefördert wird.Es ist ja nicht so, dass die Juristen in Niedersachsen dasnicht gesehen hätten, sondern in den Ministerien ist voreiner solchen Politik der Rechtsverweigerung gewarntworden. In einem besonderen Fall ist es sogar so weit ge-kommen, dass ein Jurist, der diese seine Rechtsauffassungdokumentiert hat, innerhalb weniger Stunden versetztwurde mit der Begründung, er sei krank und der Aufgabenicht mehr gewachsen. Er hatte nichts anderes getan, alsaufzuschreiben, was rechtens ist und dass ein Rechtsan-spruch auf eine Teilerrichtungsgenehmigung bestand.
– Das ist keine Legende, sondern das ist die schlichte, ein-fache Wahrheit, und die tut weh. – Die Ideologie trium-phierte über das Recht.Die zentrale Frage übrigens, wie die Schadensersatz-forderung in Höhe von circa 30 Millionen DM, die derBund gegenüber dem Land hat, nun eigentlich eingetrie-ben werden soll, beantwortet die Bundesregierung nicht.Da gibt es nur einen Hinweis, man habe irgendwann imFebruar einmal miteinander gesprochen. Aber dieBundesregierung hat heute Gelegenheit, in der Ausspra-che über die Große Anfrage darzustellen, wie sie sich dieBezahlung der 30 Millionen DM vorstellt,
wobei alle Täter heute sozusagen Opfer sind, weil sie indie Bundesregierung bzw. in die Mehrheit dieses Parla-ments gewechselt sind.
Das, was in dieser Großen Anfrage dokumentiert ist, istja nicht das Einzige, was man unter dem Gesichtspunktder Rechtsverweigerung zulasten des Steuerzahlers doku-mentieren kann, sondern es gibt einen weiteren Fall, näm-lich die Verweigerung der zweiten Teilerrichtungsgeneh-migung für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben,wo das Landgericht Hannover die Landesregierung zu ei-nem Vergleich gezwungen hat. Hintergrund war, dass manandernfalls den jetzigen Bundeskanzler und die damaligeniedersächsische Umweltministerin zu 15 Millionen DMSchadensersatz wegen Amtspflichtverletzung verurteilthätte.
Daraus ist, wie Sie wissen, Frau Griefahn, ein Vertragdes Landes Niedersachsen mit der GMS geworden, indem steht: Wir halten uns in Zukunft an Recht und Gesetz.
Ich finde es schon aberwitzig, dass eine Landesregierungzur Vermeidung einer Amtspflichtverletzung –
– Der jetzige Bundeskanzler, Herr Kollege Repnik.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms9667
– Wenn der Herr Kollege Repnik das so gerne hört, sageich es ihm noch einmal: Für diese Frage sind verantwort-lich der niedersächsische Ministerpräsident GerhardSchröder und die Umweltministerin Monika Griefahn.
Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass mansagen könnte, Sie hätten nun etwa gelernt aus diesem Falloder Sie hätten begriffen, dass man das Recht nicht derIdeologie unterordnen kann.
Nein, wir haben einen neueren Fall, eine Schadenser-satzklage in Höhe von 66 Millionen DM des Betreibersdes Endlagers Konrad, weil dem Antragsteller die Ertei-lung der Genehmigung verweigert worden ist, obwohl dasLand Niedersachsen und das Bundesumweltministeriumin den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und öf-fentlich bekundet haben, dass der Schacht Konrad geneh-migungsfähig ist.Ich denke, nachdem Sie schon etliche Male verklagtund zu Schadensersatz verurteilt worden sind, weil Siedas Recht gebrochen haben, ist es eine Ignoranz und einVergehen wider die Verfassung, wenn Sie weiterhin da-rauf setzen, das Recht durch Verweigerung auszuhebeln.
Sie haben einen Amtseid zur Wahrung der Gesetze ge-leistet. Das Problem ist, dass man im Zusammenhang mitder Kernenergie bei Ihnen sein Recht nur bekommt, wennman klagt.In der Antwort der Bundesregierung wird alles das,was ich hier sage, überhaupt nicht bestritten. Denn wes-wegen sind Sie verurteilt worden? – Weil Sie das Rechtgebeugt haben. Weswegen haben Sie das getan? – WeilSie die Wahrheit in Gorleben nicht zur Kenntnis nehmenmögen. Das Dritte ist, dass Sie aus den Vorgängen zwi-schen 1994 und 1999 überhaupt nichts gelernt haben. Siemachen in gleicher Weise weiter.
Ich finde es erstaunlich, dass Sie diese Millionen zulastendes Steuerzahlers verpulvern.
Es ist vollkommen unnötig, dass Sie dieses Geld ausge-ben. Beträge in einer Größenordnung von 30Millionen DMlassen sich auch nicht mehr unter Hinweis auf grundsätz-liche Bedenken gegen die Eignung des Salzstockes Gor-leben erklären. Auch andere Ihrer politischen Aussagensind da nicht hilfreich. Die Begründung liegt einzig undallein in Ihrer ideologisch motivierten Politik.Deswegen reichen mir sechs Minuten aus, um zu die-sem Thema Stellung zu nehmen. Denn die zentralen Fra-gen der Politik, die hinter dieser Großen Anfrage stehenund das Motiv gewesen sind, nämlich wie die Bundes-regierung mit diesem Schadensersatzanspruch umgeht,sind dargestellt. Und die entscheidende Frage, wie dieBundesregierung dieses Geld von Niedersachsen ein-treibt, wird die Bundesregierung jetzt sicherlich von die-sem Pult aus beantworten.Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion das Wort.
Das sammeln wir jetzt vonIhnen ein, nämlich für die der Polizei entstandenen Kos-ten im Zusammenhang mit den Castor-Transporten.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich bin der Fraktion der CDU/CSU sehr dankbar fürdie Anfrage zu den Schadensersatzforderungen des Bun-des gegenüber dem Land Niedersachsen, die in der Zeitder Kohl-Regierung mit den Ministern Töpfer und Merkelgestellt worden ist. Sie bezieht sich auf die vier Atoman-lagen in Gorleben. Sie geben mir und damit der Landes-regierung von Niedersachsen in der damaligen Zeit, aberauch der jetzigen Bundesregierung die Möglichkeit, dienoch immer verbreiteten Unwahrheiten richtig zu stellen.Das ist gut.Es gibt nämlich im Gegensatz zu dem, was Herr Grillgerade gesagt hat, bislang kein Urteil über die Höhe vonZahlungen. Das heißt, die Zahlen, die immer im Raumschweben, seien es nun 100 Millionen DM, 60 Milli-onen DM oder 30 Millionen DM, existieren nicht durcheinen Gerichtsbeschluss, Herr Grill. Ich bitte, das endlicheinmal zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt nur Urteile imSinne des Gesetzes, das ein Gesetz zur Förderung derAtomenergie ist und deshalb bislang für jede Landesre-gierung eine Schwierigkeit dargestellt hat, überhaupt et-was zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Des-wegen sind wir froh, dass wir endlich eine rot-grüne Bun-desregierung haben und den Ausstieg auf den Wegbringen können.
Worum geht es? Die Bevölkerung hat schon 1990 füreine rot-grüne Regierung in Niedersachsen votiert, weilsie den Ausstieg aus der Atomenergie wollte, und sie willihn noch immer. Sie erwartete von der LandesregierungMaßnahmen. Der damalige Ministerpräsident von Nie-dersachsen, Gerhard Schröder, hat dann auch nach all denBemühungen, die wir auf Landesebene unternommen ha-ben, in drei Anläufen, nämlich 1994, 1995 und 1997, ver-sucht, einen Konsensmit der damaligen Bundesregierungüber einen Ausstieg aus der Atomenergie und über einegerechte Lastenverteilung von Endlagerkapazitäten zufinden. Gleichzeitig hat er versucht, den Einstieg in eineneue Energiepolitik, bestehend aus Energieeinsparung,
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Kurt-Dieter Grill9668
Energieeffizienz und alternativen Energien wie Sonne,Wind, Wasser und Biomasse, zu erreichen.Das ist von der damaligen Umweltministerin Merkelabgelehnt worden. Dieser Konsens ist nicht zustande ge-kommen. Wenn also von Atomaltlast gesprochen wird,dann ist das Frau Merkel.
Niedersachsen hat, um diesen Punkt umzusetzen, bereits1990 das Stromeinspeisungsgesetz des Bundes – eine sehrlobenswerte Einrichtung – durch einen sehr ehrgeizigenÖkofonds ergänzt. Durch diese gute Kombination vonÖkonomie und Ökologie haben wir in Niedersachsennicht nur den größten Anteil an Windenergie, sondernauch die wichtigsten Exportfirmen und Jointventures fürWindenergieanlagen in aller Welt. Das ist eine konstruk-tive Arbeit. Denn deren Ziel ist: Man will nicht nur aus derAtomenergie aussteigen, sondern auch eine andere Ener-giepolitik. Das ist genau das, wofür wir hier streiten.
Alle Anlagen in Gorleben haben wir von der CDU-Re-gierung unter Ernst Albrecht geerbt. In Gorleben habenwir die größte Ansammlung von Endlagereinrichtungenim Bundesgebiet, mit Verfahren, die 1990 bereits in einemStatus waren, der irreversibel erschien und auch offen-sichtlich ist. Ein Coup war es natürlich, dass zwischen derLandtagswahl und der Einsetzung der neuen Landesre-gierung sehr viele Genehmigungen noch soeben auf denWeg gebracht worden sind. Auch das ist einmal festzu-stellen. Das ist eigentlich nicht legitim. Sie werfen uns dasimmer vor. Aber genau das hat die Regierung Albrecht ge-tan, bevor die Schröder-Regierung in Niedersachsen an-treten konnte und mit diesem Erbe konfrontiert wurde.In Gorleben haben wir ein Endlager für hoch radioak-tiven Müll, ein Erkundungsbergwerk. In Bezug auf diedortige Pilotkonditionierungsanlage, die Herr Grill ge-rade erwähnt hat, ist festzustellen: Hier ist – Herr Grill,das wissen Sie sehr gut –, nachdem dem Management25Verfehlungen im Hinblick auf den Betrieb und das Ma-nagement nachgewiesen werden konnten und das Mana-gement ausgewechselt wurde, ein Vergleich geschlossenworden, weil die Betriebsgenehmigungen bereits in ei-nem so weiten Status waren, dass man sagte: Selbst nachdiesen Verfehlungen werden wir dagegen wahrscheinlichnicht angehen können. Dass die Firma aber Verfehlungengemacht hat, Herr Grill, das werden Sie sicherlich nichtaußer Acht lassen können. Es ist angesichts einer so hochsensiblen Angelegenheit, wie es eine Atomanlage ist,wichtig, dies einmal festzustellen.
Weiterhin haben wir in Gorleben ein Zwischenlager fürschwach radioaktiven Müll, ein Zwischenlager für abge-brannte Brennelemente, das durch die Castor-Transportebekannt geworden ist, und – nicht zu vergessen; auch dashat Herr Grill erwähnt – ein völlig überdimensioniertesEndlager für schwach Wärme entwickelnden Müll, wiesich verharmlosend die Abfälle aus nuklearen Einrichtun-gen wie AKWs, Wiederaufarbeitungsanlagen, Kranken-häusern etc. nennen, das im Schacht Konrad errichtetwerden soll. Wenn man sich die Dimensionen anschaut,erkennt man, dass die dort geplante Menge an Abfall dieMenge, die wir für die Bundesrepublik Deutschland pro-gnostizieren, um ein Vielfaches übersteigt. Wir haben im-mer wieder betont, dass das bedeutet, dass dies ein euro-päisches Lager wird. Frau Merkel hat damals immergesagt: Nein, dies ist kein europäisches, sondern aus-schließlich ein nationales Lager. Daraufhin haben wir ge-sagt: Der Bedarf für eine solche Dimension ist nicht vor-handen; also ist es nicht genehmigungsfähig.Das ist die Problematik, die hier besteht. Es wurde einviel zu hoher Bedarf geplant. Demnach ist diese Anlagenicht genehmigungsfähig, wenn man von einem nationa-len Lager spricht. Also sollte man auch ehrlich sein undsagen: Frau Merkel, Sie wollten eigentlich ein europä-isches Lager; einen diesbezüglichen Antrag haben Sie ge-stellt. Das ist aber bislang nicht aktenkundig. Deswegendenke ich, wir werden hier einvernehmliche Lösungenfinden müssen.Nun zum Erkundungsschacht in Gorleben. Die ers-ten Baustopps, die mit Prozessen überzogen worden sind,sind folgendermaßen entstanden – ich will das einmal inErinnerung rufen –: Im Erkundungsschacht des Bergwer-kes in Gorleben ist wenige Jahre zuvor ein Mensch um-gekommen, weil die Stabilität des Schachtes nicht ausrei-chend war. Da ich als zu diesem Zeitpunkt zuständige Mi-nisterin das Risiko eines weiteren Unfalles nicht eingehenwollte, ließ das Ministerium unter Beteiligung des Minis-terpräsidenten und des Kabinetts Sicherheitsgutachten an-fertigen, die zweimal zu Verzögerungen beim Weiterbauführten. Der Schutz von Menschenleben geht immer vor;das dürfte doch die Meinung aller sein.
Was hätten Sie gesagt, wenn wieder etwas passiert wäre,als es solche Vorfälle wie zum Beispiel Wassertropfen imSchacht gab?Auch die beiden weiteren Forderungen des Bundes wa-ren zu dem Zeitpunkt politisch motiviert. Bei der damali-gen Bundesregierung stand an – vergessen Sie das nicht;da gab es bei den Sozialdemokraten ja Urwahlen –: Viel-leicht wird Gerhard Schröder 1994 Kanzlerkandidat. Manwollte – das muss man hier doch einmal ganz deutlich ma-chen – Gerhard Schröder eins auswischen und da hat mansich gesagt: Na, mit Atompolitik kann man ihm am besteneins auswischen.Tatsache ist: Gerhard Schröder und das niedersächsi-sche Kabinett, dem auch ich angehörte, haben damalsmehrfach versucht, mit der Bundesregierung eine Eini-gung zu erzielen. Diese Versuche waren seitens des Bun-des nicht gewollt. Es gab kein Interesse an der Lösung der
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Monika Griefahn9669
Sache. Das Vorgehen war politisch motiviert. Das – da-rauf wird der Umweltminister auch hinweisen – ändernwir jetzt.Tatsache ist, dass das Land Niedersachsen bis heutekeine Mark Schadensersatz bezahlen musste. Kein Ge-richt hat bis heute ein Urteil in diesem Sinne gefällt. Viel-mehr kann man davon ausgehen: Da wir jetzt über die Per-spektiven insgesamt reden – auch über den Ausstieg –,wissen wir, wie viele weitere Endlagereinrichtungen wirbrauchen. Das Landgericht Hannover hat ja eine Einigungin dieser Sache angemahnt.Tatsache ist, dass die damalige Bundesregierung unterKohl mit den Ministern Töpfer und Merkel und einemHerrn Grill eine Atompolitik betrieben hat, die, wenn dasniedersächsische Kabinett nicht in der Weise gehandelthätte, wie ich das eben beschrieben habe, dazu geführthätte, dass wir heute gar nicht in der Lage wären, über-haupt über den Atomausstieg verhandeln zu können. Daswäre alles schon genehmigt, wir stünden nur da und könn-ten alles über uns ergehen lassen. Ich bin froh darüber,dass wir jetzt überhaupt die Möglichkeit haben, dieseAusstiegsdebatte zu führen.Deshalb: In allen erwähnten Fällen habe ich im Sinneder Umwelt und der Sicherheit der Menschen vor Ort ge-handelt. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe als gewähltePolitiker. Wir müssen in die Zukunft denken, anstatt Ent-scheidungen zu treffen, die nicht rückholbar oder, wie esChristine von Weizsäcker immer sagt, nicht „fehler-freundlich“ sind. Das aber wäre gerade der Fall gewesen.
Insofern bin ich froh, dass wir heute in der Situation sind,diese Einsparungen vornehmen zu können.Noch ein letztes Wort, Herr Grill: Wo ist denn derSchadensersatz für die Polizeikosten in Höhe von100 Millionen DM im Zusammenhang mit den Castor-Transporten, die Frau Merkel verursacht hat, weil die Cas-toren hinterher gestoppt werden mussten, da sie, so wieich das immer vermutet habe, leck waren? Davon hat dasLand Niedersachsen bislang noch nichts gesehen. DiesesGeld kann man – auch das sollten Sie zur Kenntnis neh-men – sicherlich einmal gegenrechnen.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ja, ich bin gleich fertig.
Wir sind jetzt dabei, ein anständiges Konzept zu erar-
beiten. Wir wollen die dezentrale Zwischenlagerung, um
dann ein Endlager zu finden, das eine Kapazität hat, die
wir wirklich brauchen, anstatt Überkapazität zu produzie-
ren. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst und brin-
gen den Ausstieg voran, aber eben auch den Einstieg in
die alternativen Energien. Dafür machen wir – das ist das
Entscheidende – sehr viel.
Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Günter
Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! An erster Stelle geht es heute um ei-nen volkswirtschaftlichen Schaden von 30MillionenDM,den die ehemalige niedersächsische UmweltministerinGriefahn bewusst herbeigeführt hat durch Baustopps, dieeinen eindeutigen politischen Hintergrund hatten: Aus-stieg aus der Kernenergie um jeden Preis.
Dann geht es darum, dass der heutige Bundesumwelt-minister Jürgen Trittin die berechtigten Schadensersatz-ansprüche des Bundes nicht in der Weise geltend macht,wie er das dem Steuerzahler schuldig ist.
Auch hier gilt: Ausstieg aus der Kernenergie um jedenPreis.Frau Griefahn, auch wenn Sie hier sagen, dass keinSchaden entstanden sei, so hat das Gericht doch eindeutigsignalisiert: Vergleicht euch in einer Weise, die den Inter-essen des Bundes entgegenkommen! Diese Gesprächewerden von Herrn Trittin bewusst nicht geführt. Zu dem,was Sie zu Ihren „berechtigten Maßnahmen und Anord-nungen“ vorgetragen haben, weil jemand zu Schaden ge-kommen sei, muss ich sagen:
Leider kommen Menschen auch auf anderen Baustellenzu Schaden. Das hat gar nichts mit dem Genehmigungs-verfahren zu tun. Das alles wurde nur herangezogen, umdas politische Ziel erreichen zu können,
das da heißt: Raus aus der Kernenergie!
Und das Instrument der Endlagerung wird benutzt, umweiter vorne im Prozess, nämlich beim Betrieb derAtomkraftwerke, zum Erfolg zu kommen.
Aber das ist ja nur ein Ausschnitt aus einem skandalö-sen Szenario, das deutlich macht, wohin rot-grüne Politikführen kann, und zwar nicht nur bei der Kernenergie. Ichhabe in den letzten Tagen und Wochen in Nordrhein-Westfalen mit vielen Menschen, vielen Bürgern und Mit-telständlern, gesprochen. Was die einem sagen, kann nichtaus der Luft gegriffen sein. Da werden zuhauf Klagen undBeschwerden über Frau Höhn geäußert, weil sie verzö-
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Monika Griefahn9670
gert, verschiebt und verhindert. Hintergrund ist nichts an-deres, als grüne Ideologie durchzusetzen.
Behindert wird die Erteilung von Baugenehmigungenund die Durchführung von Verkehrsprojekten. Behindertwerden gewerbliche Wünsche und andere Anliegen dergewerblichen Wirtschaft und der Bürger. Und das geht zu-lasten der Arbeitsplätze. Wir müssen die Dinge beim Na-men nennen: Diejenigen, die in Nordrhein-WestfalenArbeitsplätze erhalten und schaffen, sind in diesen Tagentief empört und über alle Maßen verunsichert.
Was in Nordrhein-Westfalen Frau Höhn ist, ist aufBundesebene Umweltminister Trittin. Durch den Aus-stieg aus der Atomenergie soll ein Stück grüner Identitätgerettet werden. Dies muss auch sein. Denn da HerrFischer mit bedeutungsvollem Gesicht im grauen Anzugnur noch politische Leerformeln dahersagt, Frau Fischersehr bemüht immer das Falsche tut, Frau Müller mit vie-len Worten im Grunde nichts sagt und Herr Schlauch al-lenfalls noch daherklügelt, muss es ja einen geben, der diegrünen Prinzipien hochhält, und das ist der Umweltminis-ter Trittin.
Man könnte ihm sogar folgen im Sinne eines demo-kratischen Respekts vor anderen Positionen, wenn diesePositionen schlüssig vorgetragen würden.
Aber das geht nicht, weil Herr Trittin zu einem Bürger-,zu einem Kinderschreck geworden ist.
Wenn die Kinder nicht ruhig sein wollen, dann sagen dieLeute: Seid ruhig, sonst kommt gleich Herr Trittin!
Das ist ja auch kein Wunder.
Da wird eine Ökosteuer aufgelegt, die nichts mit Öko,sondern nur mit Abkassieren zu tun hat. Da wird an einemUmweltgesetzbuch gearbeitet, das längst fertig seinmüsste.
Sie kommen aber nicht voran, weil dieser Mann einfachEU-Richtlinien negiert. Und in Brüssel wird dann auf Ge-heiß des Bundeskanzlers die Altautoverordnung verhin-dert.
Neuerdings faselt er auch wieder vom Tempolimit undvon einer Flugverkehrsabgabe. Das alles macht der Kin-derschreck Trittin.
Bei seinem Lieblingskind, dem Atomausstieg, provo-ziert er wegen der Wiederaufbereitung zunächst einenKonflikt mit Großbritannien und Frankreich; das wissenwir ja.
Bei der Gorleben-Angelegenheit geht überhaupt nichtsvoran. Und in der Ukraine verzögert sich die Abschaltungdes Kraftwerks in Tschernobyl, weil unsinnigerweise einKreditstopp veranlasst worden ist. Gleichzeitig aber wer-den Hermesbürgschaften für Kerntechnik in China über-nommen.
Das ist Umweltpolitik à la Trittin. Er ist ein Kinder-schreck, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Nichts ist verloge-ner, als die Gespräche mit der Wirtschaft, in denen dieStromindustrie zum Ausstieg aus der Atomenergie ge-bracht werden soll, als Konsensrunde zu bezeichnen. DieWirtschaft will diesen Ausstieg nicht. Die gegenwärtigenGespräche finden vor dem Hintergrund eines bewusst her-beigeführten Drucks im Zusammenhang mit den Castor-Behältern statt.
Gleichzeitig wird die Karte gezogen und man will denAusstieg per Gesetz verordnen. Der gegenwärtige Streitum die Restlaufzeiten ist im Grunde nichts anderes alseine Verteidigungsposition der Unternehmen, um wenigs-tens den größten volkswirtschaftlichen Unsinn einer
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Ressourcenverschwendung in Milliardenhöhe und diedreisteste Form der Staatsintervention zu verhindern.Niemand sieht derzeit die Notwendigkeit, in Deutsch-land Atomanlagen zu errichten. Wir sagen aber: Die Ent-scheidung, ob Kernkraft Bestandteil eines sinnvollen Ener-giemix sein kann, kann nicht allein die rot-grüne Regie-rung für alle Ewigkeit treffen.
Wir müssen – dies ist unsere Option; nicht mehr undnicht weniger, Frau Griefahn – die Option offen halten,dass die Kernenergie auch später Bestandteil einesEnergiemix sein kann. Das heißt auch, dass wir diese Op-tion im administrativen und im technischen Sinne offenhalten müssen.Ich füge hinzu – bitte hören Sie auch jetzt zu; dennes ist ernst gemeint –: Jeder will so weit wie möglichEinsparpotenziale nutzen. Wir wollen so viel wie möglichin regenerative Energien investieren.
Aber wir können noch so viel sparen und noch so viel fürregenerative Energien tun:
Den Energiebedarf einer explodierenden Menschheit in15 oder 30 Jahren damit decken zu wollen, das ist absolu-ter Unsinn. Das wissen auch Sie.
Herr Kol-
lege Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss.
Noch mehr Holz, Kohle, Öl oder Gas einzusetzen geht
nicht.
Rot-Grün will mit ideologischen Argumenten an diese
Probleme heran. Ideologien haben die Menschen nur zu
oft ins Verderben geführt. Deshalb muss die rot-grüne Po-
litik ein Ende haben, die den Bürger in zweifelhafter
Weise beglücken will. Es ist das Glück von Frau Höhn
und Herrn Trittin. Hören Sie auf zu verhindern und zu
blockieren! Wir brauchen wettbewerbsfähige Betriebe.
Nicht grüne Heilslehren sind angesagt, sondern eine mo-
derne Infrastruktur und sichere Arbeitsplätze.
Für dieBundesregierung hat jetzt Bundesminister Jürgen Trittindas Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich war neulich im „Tigerenten-Club“.Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Es waren vieleKinder da. Wenn ich in Ihrem Bild bleiben soll, dann mussich sagen: Diese Kinder müssen ungeheuer mutig gewe-sen sein; sie haben sich nämlich gefreut, dass ich da war.
Offensichtlich sind Kinder mutiger als F.D.P.-Abgeord-nete.
Sie, lieber Herr Rexrodt, haben ja gesagt, dass Sie erstzum Schluss ernst zu nehmen gewesen seien. Erst nachden ersten sieben Minuten Ihrer regulären Redezeit habenSie gesagt: Jetzt kommt etwas, was ernst zu nehmen ist.Von dem, was Sie in den ersten sieben Minuten gesagthaben, will ich nur einen Punkt aufgreifen. Sie sind ja ein-mal, in grauer Vorzeit, Bundeswirtschaftsminister gewe-sen.
Sie haben der Bundesregierung angehört. Wenn jemand,der dieser Bundesregierung angehört hat – ich kenne dieUnterlagen über die Ressortabstimmungen; sie sind ja allebei uns in den Akten –,
sich hier hinstellt und sagt, diese Bundesregierung treteeuropäisches Recht permanent dadurch mit Füßen, dassdie Richtlinien nicht umgesetzt würden, dann kann ich nursagen: Ich verbringe leider einen Großteil meiner Ar-beitszeit damit,
die von Ihnen nicht umgesetzten Richtlinien, beispiels-weise für eine integrierte Anlagenzulassung, für eine Um-weltverträglichkeitsprüfung – also für all das, was zwin-gendes europäisches Recht ist –, umzusetzen, währendSie in den Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts an-deres getan haben, als im Hinblick auf das europäische
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Dr. Günter Rexrodt9672
Recht die alte Lebensweisheit zu befolgen: legal, illegal –entschuldigen Sie –, scheißegal.
Meine Damen und Herren, ich verstehe, ehrlich gesagt,den Anlass dieser Anfrage nicht. Es ist falsch, dass es ei-nen Schaden in der von Ihnen genannten Höhe gibt. ZweiUrteile haben festgestellt, dem Grunde nach seien An-sprüche gegeben. Daneben gibt es die ausdrücklicheEmpfehlung der Gerichte, sich zu vergleichen. Wir sindda auf einem guten Weg. Es muss schon ein Mensch mitschwerer querulatorischer Veranlagung sein,
wenn er von der Bundesregierung in dieser Situation er-wartet, der Bundesumweltminister solle das Geld etwa imWege der Taschenpfändung bei Frau Griefahn beitreiben.
Das ist keine ernsthafte Art, mit diesem Problem umzu-gehen.Ich glaube in der Tat, dass die Unterbrechung der Er-kundung in Gorleben, die wir jetzt vorbereiten – Sie müs-sen diese Frage sachlich sehen –, nicht zu früh kommt,sondern angesichts der massiven internationalen Zweifelan einem Konzept der Trennung der Abfälle, an der Di-mensionierung, an der Nichtrückholbarkeit und an derEinlagerung in Salz eher zu spät kommt.
Das ist ein Punkt, über den wir gern streiten können.Ich habe aber inzwischen den Eindruck, dass sichCDU/CSU und F.D.P. davon verabschiedet haben, zu die-sem Thema sachlich Stellung zu nehmen.
Denn es scheint mir so zu sein, als fürchteten Sie, dass esin diesem Land wieder zu einem Konsens in derEnergiepolitik kommen könnte. Ich sage Ihnen: Voraus-setzung für einen Konsens in der Energiepolitik der Bun-desrepublik Deutschland ist die Lösung der Entsorgungs-fragen.
Diese Lösung muss so sein, dass sie von weiten Teilen derBevölkerung akzeptiert wird.
Über eine Energieform, die bei der Lösung ihrer Ent-sorgungsfragen darauf angewiesen ist, dass Zehntausendevon Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten regelmäßigÜberstunden ableisten, mag man unter Klima- und allenanderen möglichen Aspekten streiten – dazu haben Sieund wir unterschiedliche Positionen –, aber eine solcheEnergieform ist auf Dauer nicht demokratieverträglich.Es gibt viele in Ihren Reihen, die das sehr genau wissen.
Aus diesem Grund sagen wir: Voraussetzung eines ge-sellschaftlichen Konsenses in der Energiepolitik ist, wie-der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung in der Frage derEntsorgung zu erlangen. Akzeptanz erhält man nicht,wenn man Rechtsstreite – wie hier gefordert – rechtsque-rulatorisch zu Ende führt und sich in jeder Debatte überden Atomausstieg, werter Kollege Grill, aufführt, alswolle man sich um die Rolle des Zwerg Alberich bewer-ben, der auf dem Atommüllschatz im Salzstock Gorlebensitzen möchte.
Im Ernst:
Ich glaube, dass wir in der Tat noch eine Reihe von Pro-blemen zu lösen haben, zum Beispiel bei der Rücknahmedes von Ihrer Regierung gemeinschaftlich ins Auslandverschobenen Atommülls. Dieser Verantwortung wirdsich diese Bundesregierung, die immer vor dem Verschie-ben des Atommülls ins Ausland gewarnt hat, stellen müs-sen. Voraussetzung ist schlicht und ergreifend, dass dievon Ihnen aus politischen und nicht aus sachlichen Grün-den getroffene präjudizierende Entscheidung in Gorlebenrückgängig gemacht wird. Deswegen wollen wir dort un-terbrechen.Ein Letztes: Ich kann eine Haltung überhaupt nicht ak-zeptieren, die besagt: Wir wollen, dass die Atomkraft-werke möglichst lange laufen, möglichst bei uns in Süd-deutschland; aber mit dem Atommüll möchten wir nichtszu tun haben. Den wollen wir auf jeden Fall zum Beispielnach Ahaus in Nordrhein-Westfalen schicken. – Diese Po-litik – diktiert vom heiligen Sankt Florian – ist eine Poli-tik, die von Ihnen gefordert, aber auf dem Rücken der inDeutschland tätigen Polizeibeamtinnen und -beamtenausgetragen wird.
Dazu sage ich Ihnen eines: Das ist eine Form von Miss-brauch der Menschen in Ahaus in Nordrhein-Westfalenzugunsten sehr bornierter Lokalinteressen in Süddeutsch-land. Es ist absolut zynisch, die Polizeibeamtinnen und-beamten so zu missbrauchen. Dies wird es mit uns nichtgeben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Bundesminister Jürgen Trittin9673
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Großen Anfrage
der CDU/CSU möchte ich bemerken, dass wir das Enga-
gement der ehemaligen niedersächsischen Umweltminis-
terin Monika Griefahn würdigen, weil ihre Eingriffe Ge-
legenheit schufen, den Bau des Endlagers Gorleben zu
stoppen. Die Bundesregierung scheint das ähnlich zu se-
hen und verspricht, Schritte in Richtung einer außerge-
richtlichen Einigung über die Forderungen des Bundes an
das Land Niedersachsen zu tun. Ich denke, das ist der rich-
tige Weg.
Das ist aber auch schon alles, was der Bundesregierung
zugute gehalten werden kann. Die Botschaften, die diese
Bundesregierung und die Atomindustrie im Rahmen ihrer
Konsensgespräche an die Öffentlichkeit senden, sind
schlichtweg alarmierend. Die Arbeiten am Endlager Gor-
leben sind immer noch nicht gestoppt und für Schacht
Konrad schließt die Bundesregierung eine Genehmigung
als Endlager nicht mehr aus.
Nach der gewonnenen Bundestagswahl wurde Gorle-
ben plötzlich auch von SPD und Grünen zum prüffähigen
Endlagerstandort erklärt. Zwar verspricht die Bundesre-
gierung, an anderen Standorten ein ergebnisoffenes Prü-
fungsverfahren parallel durchzuführen; aber außer der
Einrichtung einer Arbeitsgruppe ist bisher leider nichts
passiert.
Alle bisherigen Regierungen haben die Risiken der
Atommüllentsorgung immer heruntergespielt und einen
ernsthaften politischen und naturwissenschaftlichen Dis-
kurs über die Möglichkeiten einer sicheren Entsorgung
des radioaktiven Abfalls verhindert. Doch nicht erst seit
dem Gutachten des Rates der Sachverständigen für Um-
weltfragen ist klar, dass kein absolut dichtes Endlager ge-
schaffen werden kann.
Um die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Lage-
rung des schon angefallenen Atommülls muss nach wie
vor politisch gerungen werden. Bisher hat uns der Regie-
rungswechsel aber weder der Entsorgung noch der
schnellstmöglichen Abschaltung der Atomanlagen einen
Schritt näher gebracht. So soll – den letzten Meldungen
nach zu urteilen – die Frist zur Abschaltung der Atom-
kraftwerke durch eine variabel handelbare Atomstrom-
menge bestimmt werden, die mit oder ohne Zustimmung
der Betreiber jedem Atomkraftwerk ein goldenes Ende
analog von etwa 30 Jahren Laufzeit garantieren soll.
Viele Ihrer Wähler, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen und der SPD, hatten realistischerweise
erwartet, dass die Bundesregierung einige Zeit benötigt,
um sich gut auf eine rechtlich abgesicherte Abwicklung
des Ausstiegs aus der Atomindustrie vorzubereiten. Heute
sind viele Menschen jedoch mehr als enttäuscht – das wis-
sen Sie auch –, da die Bundesregierung aus dem gebote-
nen Schutz von Leben und Gesundheit bisher kein schnel-
les Ende der Nutzung der Atomkraft, sondern ein Atom-
kraftverstromungsgesetz abgeleitet hat. Dieses Ergebnis
Ihrer Regierungstätigkeit war zu erwarten, da Sie bisher
nur mit den Eignern verhandelt haben. Mit dem bekann-
ten Auszug der Umweltverbände ist der Energiedialog
2000 erklärtermaßen gescheitert, da Sie sich in den Augen
der Verbände den Einwänden gegen Ihre Atompolitik
nicht zugänglich gezeigt haben.
Aus diesen Gründen ist ein schnelles Abschalten der
Atomkraftwerke eine Frage der Vernunft. Der längst über-
fällige wissenschaftliche Diskurs über die Möglichkeiten
einer maximal sicheren Verbringung des Atommülls muss
unverzüglich beginnen. Dabei sind sowohl die verschie-
denen Formen der möglichen Endlagerung als auch die
dafür infrage kommenden geologischen Formationen er-
gebnisoffen zu prüfen.
Für die früheren Endlager Asse und Morsleben, die
zu keinem Zeitpunkt durch ein ordnungsgemäßes atom-
rechtliches Verfahren nach bundesdeutschem Recht ge-
nehmigt worden sind, müssen Stilllegungsverfahren ein-
geleitet werden. Alle Risiken dieser Atomlager sollen
prinzipiell unter Beteiligung der betroffenen Öffentlich-
keit untersucht, offengelegt und minimiert werden. In
Gorleben darf die Pilotkonditionierungsanlage nicht in
Betrieb gehen. Weit über die betroffene Region hinaus
lehnen zahlreiche Menschen diese entschieden ab, weil
der Betrieb der Anlage mit erheblichen Risiken verbun-
den ist und darüber hinaus als Baustein und Signal für die
Durchsetzung eines Endlagers in Gorleben gesehen wird.
Wenn die Bundesregierung an ihrem Beschluss fest-
halten will, ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle zu
finden, dann kann dieser Standort nicht Gorleben, aber
auch nicht Schacht Konrad heißen. Schacht Konrad ist un-
strittigerweise nicht zur Aufnahme hoch radioaktiver,
wärmeentwickelnder Abfälle geeignet. Wenn dies so ist,
dann muss die Bundesregierung den Genehmigungsantrag
für Schacht Konrad zurückziehen. Mehr als 290 000 Men-
schen haben Einwendungen gegen Schacht Konrad erho-
ben, darunter viele tausend Einwohner der Städte Braun-
schweig und Salzgitter. Auch Betriebsräte von VW
gehören zu den Einwendern.
Natürlich werden wir die Anträge der CDU/CSU hin-
sichtlich der Petition ablehnen. Zum Schluss noch: Herr
Minister Trittin hat ausgeführt, dass eine Energieform, die
Polizeieinsätze nach sich zieht, nicht demokratieverträg-
lich sei. Wir werden ihn sicher daran erinnern, wenn nach
der Wahl in Nordrhein-Westfalen der erste Castor-Trans-
port rollen wird.
Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Arne Fuhrmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Dass wir uns heute mit der Großen Anfrage derCDU/CSU-Fraktion befassen, ist so etwas wie ein Uni-kum, weil diese Anfrage nur nach außen hin eine Serio-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 20009674
sität vorgibt. In Wirklichkeit hat sie zum Ziel, auf sehr un-seriöse Art und Weise die hier anwesende KolleginGriefahn, den Umweltminister Trittin und den Kanzler zudesavouieren. Dabei ist in der Zwischenzeit wohl jedemklar geworden, dass dies ziemlich schwierig ist und dassman sich nicht lediglich mit einigen überflüssigen Fragenbeschäftigen darf.
– Wissen Sie, Herr Rexrodt, bevor man den Mund auf-macht, sollte man das Gehirn einschalten. Dann ist das,was ankommt, ein bisschen intensiver und die Rednerkönnen sich damit auseinandersetzen.
Wie wir mittlerweile gehört haben, gibt es bisher keinrechtsverbindliches Urteil. Es gibt in der ganzen Angele-genheit im Augenblick lediglich ein Stillhalteabkommen,damit es möglich ist, einen vernünftigen und für alle deut-lich werdenden Konsens zwischen dem Land Nieder-sachsen und dem Bund zu erzielen. Dies aber ist nichtKern Ihrer Anfrage. Sie wollen im Prinzip lediglich daraufhinweisen, dass die derzeit laufenden Konsensgesprächenach Ihrer Meinung so überflüssig seien wie ein Kropf. Esgelingt Ihnen hin und wieder, dies in Ihrer polemischenArt und Weise deutlich zu machen. Aber es gelingt IhnenGott sei Dank nicht, der Öffentlichkeit an irgendeinerStelle ein X für ein U vorzumachen.Der Ausstieg aus der Kernenergie und damit auch dieFragen einer zukünftigen Endlagerung haben unmittelbaretwas mit dem zu tun, was sich derzeit auf politischer undwirtschaftlicher und damit auf der Verhandlungsebene ab-spielt. Es wird versucht, einen Konsens herzustellen, dervon allen Beteiligten mitgetragen und gewürdigt werdenkann. Sie wissen das so gut wie ich. Frau Merkel und HerrStoiber haben sich ja vor einiger Zeit sehr intensiv darumbemüht, an den Konsensgesprächen beteiligt zu werden.Dies geschah in erster Linie, um sie zu hintertreiben.Dann hat sie ihr eigener Mut eingeholt und sie haben ge-sagt: Nein, lieber nicht.In diesem Zusammenhang kann man zitieren, was die„Lüneburger Landeszeitung“, die bei Insidern – leider istHerr Grill jetzt nicht anwesend – weiß Gott nicht als links-radikales Blatt gilt, am 20. April 2000 geschrieben hat:Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass dieStrategen von CDU und CSU bei ihrem Engagementfür die Atomkraft mit gespaltener Zunge reden. Denndie von der Bundesregierung und den Kraftwerksbe-treibern bereits vereinbarten Zwischenlager an denKraftwerksstandorten wollen sich die Unionsregie-rungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessenmit aller Macht vom Halse halten. Das heißt: Für dieEntsorgungsfrage sollen weiterhin allein die sozial-demokratisch regierten Länder Niedersachsen undNordrhein-Westfalen zuständig sein. Eine solche Po-sition nach dem Motto „Wasch mir das Fell, abermach mich nicht nass“ ist scheinheilig.
Wenn man davon ausgeht, dass diese politische Zwei-gleisigkeit hinlänglich bekannt ist, dann schockiert dieje-nigen, die sich mit dem Thema intensiv auseinander set-zen, nur noch die Permanenz und die Penetranz, mit derSie diese Art von Politik kontinuierlich Jahr und Tag wei-ter fortführen.Die Debatte um die Situation in Gorleben zwischen1990 und 1994 hat im Grunde zwei Elemente. Das eineElement ist: Sie hat die Menschen nicht nur in der Region,sondern all diejenigen, die sich intensiv mit der Frage derEnergieversorgung der nächsten Jahrzehnte auseinandergesetzt haben, dazu gebracht, nicht mehr nach dem Mottozu diskutieren: Hier haben wir eine stets vorhandeneEnergiequelle. Vielmehr befasst sich die Diskussion seit-dem mit den Fragen: Was tun wir uns an? Was tun wir dennachfolgenden Generationen an? Was bedeutet eigentlicheine Endlagerung? Was bedeutet der atomare Müll für dieZukunft? Wir sind mit unseren Möglichkeiten, einen Kon-sens zu finden, heute wesentlich weiter, als Sie es sich da-mals, während Ihrer Regierungszeit, 1990, 1991, 1992,1993, 1994 in Ihren kühnsten Träumen hätten vorstellenkönnen.
Das zweite Element ist: Die Entscheidungen, die dieniedersächsische Landesregierung in diesen Jahren ge-troffen hat, haben in der Folgezeit deutlich gemacht, dasssie Recht hatte. Ich erinnere an ein Zitat der damaligenUmweltministerin Frau Merkel: „Beim Backen fällt ir-gendwann auch Backpulver daneben.“ Das sie dies im Zu-sammenhang mit der Undichtigkeit von Castorbehälterngesagt hat, sprach gegen die Qualifikation der damaligenUmweltministerin. Wenn ich mir überlege, was Herr Grilleben alles von sich gegeben hat,
– Herr Grill, wenn der liebe Gott in der Lage wäre, selbstIhnen etwas mehr Intelligenz zu vermitteln, dann würdenSie unter Umständen irgendwann lernen zuzuhören –,
dann erschüttert mich die Dreistigkeit, mit der Sie Rechts-fragen im Zusammenhang mit Gorleben diskutieren. Ichkomme aus Niedersachsen und habe mich in den letztenJahrzehnten gerade im Zusammenhang mit Rechtsfragensehr häufig auch mit Ihrer Person auseinander setzen müs-sen.
Das gehört aber sicher nicht in eine solche Debatte, sowenig wie Ihre Zwischenrufe.Ich bin fest davon überzeugt, dass die Fragen, die dasGericht im Zusammenhang mit Geldforderungen des
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Arne Fuhrmann9675
Bundes an das Land Niedersachsen zu beantworten hat,die eine Seite sind. Die andere Seite ist die Verantwor-tung, mit der das Land Niedersachsen in diesen Jahrenund auch heute noch mit dem Standort Gorleben und mitden Sorgen und Nöten der Bevölkerung umgeht. Dass wirnicht alles ganz falsch gemacht haben, hat das Wahler-gebnis im Jahr 1998 gezeigt und speziell in Ihrem Wahl-kreis, Herr Grill.
Sie haben damals die größte Ohrfeige bekommen, dieman politisch bekommen kann. Ich genieße das heutenoch, weil es mir klar macht, dass wir auf dem richtigenWeg sind. Sicherheit für die Menschen hatte immer obers-te Priorität für die Sozialdemokraten und die Grünen.
Dies wird auch die Prämisse unseres weiteren Handelnssein. Das wird auch die Zukunft insofern bestimmen, alswir unablässig und mit sehr viel Energie, wenn auch un-ter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten in den Kon-sensgesprächen, den Ausstieg aus der unseligen Energie,nämlich der Kernenergie, erreichen werden.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für dieCDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Axel Fischerdas Wort.Axel E. Fischer (CDU/CSU): HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Liebe Kollegin Griefahn, zu Ihrer Rede zwei Klarstellun-gen, die notwendig sind: Zum Ersten. Sie sind demGrunde nach zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.
– Natürlich nicht Sie persönlich. – Die genaue Höhe die-ser Zahlungen mag zwar strittig sein. Aber es wird auf je-den Fall ein zweistelliger Millionenbetrag sein. Das kön-nen Sie nicht von der Hand weisen. Sie können nicht sotun, als sei das nichts Schlimmes. Das ist schon etwas Be-deutendes.
Zum Zweiten. In Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes istganz klar festgelegt, dass sich die vollziehende Gewalt anRecht und Gesetz halten muss. Das gilt auch für Ihre Re-gierung, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie können sichzwar darüber beschweren, was im Gesetz festgeschriebenist, und sagen: Das gefällt mir nicht. Aber Sie sind dafürverantwortlich, dass die Gesetze eingehalten werden. Da-ran haben Sie sich zu halten. Das haben Sie nicht getan.Das sollte man hier noch einmal klarstellen.
Lieber Herr Rexrodt, auch zu Ihnen noch ein Wort: DieSache in Niedersachsen geschah unter absoluter Mehrheitder SPD. Das sollten wir nicht vergessen. Damit haben dieGrünen ausnahmsweise nichts zu tun. Deshalb sollten Siesich die Leute, denen Sie vor der Landtagswahl zuzwin-kern, ein bisschen genauer anschauen.
Wie die bisherige Debatte gezeigt hat, besteht hierkeine Möglichkeit, eine ideologiefreie Diskussion überdie friedliche Nutzung der Kernenergie zu führen. Diesliegt nicht zuletzt auch an dem teilweise diffusenInformationsstand, auf dessen Basis nicht nur hier imHaus, sondern vor allem auch in der Öffentlichkeit überdie verschiedenen Aspekte der Kernenergie diskutiertwird.Es war ja hautnah zu erleben, wie die Medien vor eini-gen Tagen den 14. Jahrestag des Reaktorunfalls vonTschernobyl „abgefeiert“ haben: Von 30 000 bis zu150 000 Opfern des Reaktorunfalls war in Zeitungen undim Fernsehen die Rede. Das ist eine breite Spanne. In of-fiziellen Verlautbarungen wie zum Beispiel denen derideologisch unverdächtigen UN wird im Vergleich dazuvon nur 31 direkten Opfern des Reaktorunglücks ausge-gangen. Ich sage das deshalb, um auch einmal in diesemHause auf die Diskrepanz zwischen dem Kenntnisstandoffizieller Quellen und dem der unabhängigen deutschenMedien hinzuweisen. Es ist klar, dass angesichts solcherHorrormeldungen der Massenmedien viele Bürger derfriedlichen Nutzung der Kernenergie kritisch gegen-überstehen.
Einige Bürger wenden sich sogar voll echter Besorgnisan den Petitionsausschuss des Bundestages und forderndie Stilllegung aller bestehenden deutschen Kernkraft-werke
wie auch die Verhinderung weiterer Forschungen über dieNutzung radioaktiver Energiequellen oder das Verbot derInbetriebnahme neuer atomtechnischer Anlagen.
Die jetzige Bundesregierung vertritt einen ähnlichenStandpunkt.Monika Griefahn [SPD]: Dafür sind wirgewählt worden!)Aber das ist auch ein Zeichen dafür, wie wenig die Men-schen über die Nutzung der Kernenergie informiert sindund mit welchen Qualitätsproblemen der Konsument öf-fentlicher Berichterstattung in Deutschland zu kämpfenhat.
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Arne Fuhrmann9676
Die heutige systematische Diffamierung eines moder-nen und eines der meistversprechenden Industrie- undForschungszweige der Welt kommt nicht von ungefähr;vielmehr ist sie auch das Ergebnis einer jahrzehntelangenideologischen Kampagne gegen die friedliche Nutzungder Kernenergie.
Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich ma-chen: Ich nenne als erstes Beispiel Atomtransporte. Siemachen heute wieder Stimmung gegen Atomtransporte –das wird auch über die Medien verbreitet – wegen angeb-licher Gefährdungen des Begleitpersonals und der Bevöl-kerung durch solche Transporte.
Dabei stellt die Bundesregierung fest, lieber HerrFuhrmann, dass es bei keinem der bisherigen über 1 700Transporten von bestrahlten Brennelementen zu einerFreisetzung radioaktiver Stoffe oder einer Strahlenbelas-tung des Begleitpersonals oder der Bevölkerung gekom-men ist.
Der hohe Sicherheitsstandard von Transportbehälternund Zwischenlagern in Deutschland schließt eine un-zulässige Freisetzung von Radioaktivität selbst nachschwersten Unfällen aus. Eine Gefährdung für Gesund-heit, Leben oder Umwelt kann daher nach Maßstäben derpraktischen Vernunft ausgeschlossen werden.Ich nenne als zweites Beispiel die kerntechnische For-schung. Sie wollen die Forschung über die Nutzung ra-dioaktiver Energiequellen abschaffen. Sie wollen die Be-endigung der Nutzung von radioaktivem Material zurEnergieerzeugung und ein Verbot der Inbetriebnahmeneuer atomtechnischer Anlagen. Damit blockieren Sie,lieber Herr Trittin, auch die Transmutationsforschung,also die einzige sich derzeit abzeichnende Möglichkeit,den hoch verstrahlten Atommüll so zu bearbeiten, dass derverbleibende geringe Rest mit einer Halbwertszeit von30 Jahren nicht nachfolgende Generationen belastet.Wie wollen Sie denn den Atommüll beseitigen?
So wie es bislang aussieht, ausschließlich auf Kostenzukünftiger Generationen – sollen die doch diese Pro-bleme lösen! Sie sind sich anscheinend zu fein dafür. Esist Trittbrettfahrerverhalten, den preiswerten Strom ausKernkraftwerken über Jahrzehnte genossen zu haben undweitere 30 Jahre davon profitieren zu wollen. Die mit derBeseitigung der Abfälle einhergehenden Forschungs- undLagerkosten wollen Sie möglichst weit in die Zukunftschieben. Das ist Ihr Stil. Von Nachhaltigkeit, das heißtdauerhafter Tragfähigkeit, ist in Ihrer Politik schon vomAnsatz her nichts zu finden. Es scheint Ihnen völlig egalzu sein, dass wir Gorleben brauchen.Auch an etwas anderes möchte ich an dieser Stelle er-innern, wenn Sie jetzt immer wieder über die Kernenergieschimpfen: Man ist doch unter Ihrer Regierung mit we-henden Fahnen in die Atomenergie eingestiegen.
Ich nenne als drittes Beispiel die Grundlagenfor-schung auf dem Gebiet der Atom- und Kernphysik. MitIhrer Forderung nach dem Ausstieg treffen Sie zum Bei-spiel die Krebsforschung und/oder die Fusionsforschung.Die medizinische Forschung ist ohne die kern- und atom-physikalischen Forschungen nicht denkbar. Wir könnendoch nicht ernsthaft die Beseitigung von Hirntumoren, dieChemotherapien oder Ähnliches infrage stellen.
Wer will denn heute allen Ernstes darauf verzichten?Menschen, die entsprechende Probleme haben, sind sehrbesorgt, wenn sie mitbekommen, was Sie vorhaben.
In der gesamten Diskussion über die zukünftige Ent-wicklung der Kernenergie sollten deshalb ein fairer Um-gang miteinander und eine ideologiefreie Diskussionselbstverständlich werden. Dazu gehört auch, dass Fragenbeantwortet werden. Wie sieht es denn nun mit den30 Millionen DM aus? Dazu würden wir gerne einmaleine Antwort hören.
Ich hoffe, dass ein ideologiefreier Umgang mit diesemThema zum Wohle unserer Generation und kommenderGenerationen zukünftig möglich wird.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wievielteGroße Anfrage zur Atomkraft ist das in dieser Legislatur-periode eigentlich? Die zweite, die dritte oder sogar dievierte? Aus Oppositionszeiten weiß ich noch, wie viel Ar-beit es bedeutet, Große Anfragen zu schreiben. Zu allenanderen energiepolitischen Themen, die auf der Tages-ordnung stehen, gab es keine einzige Große Anfrage;
nur zur Atomkraft haben Sie dieses Mittel benutzt.
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Axel E. Fischer
9677
Sie machen einen Veitstanz um die Atomkraft und fi-xieren Ihre Kraft im gesamten energiepolitischen Bereichallein auf dieses Thema. Damit verabschieden Sie sichvon der energiepolitischen Debatte. Ich weiß nicht, ob Ih-nen das überhaupt auffällt.
Ich war gestern mit einigen Kollegen auf einer Tagungüber die Kraft-Wärme-Kopplung. Das ist eine Techno-logie – 10 Prozent der Stromerzeugung kommt aus die-sem Bereich –, die von dem Sofortausstieg aufgrund derLiberalisierung, die Herr Rexrodt im letzten Jahr seinerAmtszeit durchgeführt hat, bedroht ist. Wir sind immerfür den Wettbewerb gewesen. Dass Sie dieses Gesetzes-werk so dünn gestrickt haben – ohne Rücksicht auf Ver-luste und auf umweltfreundliche Technologien –, könntejetzt, wenn wir nicht handeln würden, zum entschädi-gungslosen Ausstieg aus 10 Prozent der Stromerzeugungführen. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik, Herr Rexrodt.
Auf dieser Tagung waren Anlagenbauer und Anlagen-betreiber, Vertreter der Industrie mit hohem mittelständi-schen Anteil. Vertreten waren auch der energiepolitischeSprecher der SPD, Herr Hirche und ich. Von derCDU/CSU-Fraktion hatte keiner Zeit.
Sie mussten einen Mitarbeiter schicken. Dieser arme Mit-arbeiter hat zwar gesagt: Ja, wir sind für die Kraft-Wärme-Kopplung; wir sehen auch die Probleme. Aber er hattenicht eine einzige Antwort auf die Fragen, wie diese um-weltfreundliche Technologie vor dem entschädigungslo-sen Sofortausstieg, verursacht von Herrn Rexrodt und derCDU, bewahrt werden kann.
Herr Rexrodt, wenn Sie die Grünen als Verweigerer be-zeichnen, sage ich Ihnen Folgendes: Die Grünen sind fürerneuerbare Energien. Die Grünen sind für hocheffizienteNutzung der fossilen Energieträger, solange wir sie nochbrauchen. Die Grünen sind für Energieeinsparung. DieGrünen sind für GuD-Kraftwerke. Die Grünen sind fürstärkere Wärmedämmung. Die Grünen sind für Niedrig-energiehäuser und für Nullenergiehäuser. Die Grünensind für Nullemissionsfabriken usw.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Ihre Energiepolitik, vor allen Dingen die Energiepoli-
tik der CDU – denn Herr Hirche hat sich gestern in der Tat
sehr interessant in die Debatte eingeschaltet –, reduziert
sich im Augenblick lediglich auf die Verweigerung einer
gesellschaftlichen energiepolitischen Debatte.
Gestatten Sie jetzt
eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege
Rexrodt.
Frau Kollegin Hustedt,
ist Ihnen – erstens – bekannt, dass die Gesetze zur Libe-
ralisierung des Strommarktes Ausnahmeregelungen
für den Fall vorsehen, dass Umweltaspekte, insbesondere
die Kraft-Wärme-Kopplung, eine Durchleitung von
Fremdstrom nicht geboten erscheinen lassen?
Wissen Sie zweitens, Frau Hustedt, dass Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen immer dann einen wirt-
schaftlichen Erfolg erzielen, wenn sie in Regionen eta-
bliert sind, in denen ein echter Bedarf an Wärme und nicht
nur an Strom besteht,
aber nicht in solchen, in denen damit irgendwelchen Pre-
stigegedanken von Stadtwerken oder wem auch immer
entsprochen werden sollte?
Ist Ihnen drittens bekannt, Frau Hustedt, dass das Ge-
setzeswerk zur Liberalisierung der Strommärkte bislang
zu einer durchschnittlichen Senkung der Strompreise
um mehr als 20 Prozent geführt hat, und zwar nicht nur in
der Industrie, sondern auch im Gewerbe und bei den Ta-
rifkunden, und dass in den nächsten zwei Jahren eine
nochmalige Senkung der Strompreise um mindestens
15 Prozent zu erwarten ist?
Glauben Sie, Frau Hustedt, vor diesem Hintergrund
nicht – das ist meine Frage –, dass dieses Gesetzeswerk
mit umweltfreundlichen Aspekten und Ausnahmerege-
lungen insgesamt ein enormer Erfolg für die deutsche
Volkswirtschaft und die Verbraucher war?
Stehen bleiben, Herr Rexrodt! So ist nun einmal die Re-gel.
Zuerst zu Ihrer Frage, ob mir bekannt ist, dass bei derKraft-Wärme-Kopplung im Energiewirtschaftsgesetz einRecht zur Durchleitungsverweigerung – aus Gründen
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Michaele Hustedt9678
des Schutzes – besteht. Das ist mir bekannt. Nur zeigt ge-rade das, wie dilettantisch Sie an diesem Gesetz gestrickthaben.
Diese Regelung ist überhaupt nicht anwendbar, sie ist einereine Placebolösung, die keine einzige Kommune anwen-det. Kein Bürgermeister kann sagen: Wir haben Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen; die Bürger überall um unsherum dürfen den Strom frei wählen, nur in meiner Kom-mune verbiete ich das. – Das ist doch politisch überhauptnicht durchsetzbar und das wussten Sie auch.
Sie haben diese Regelung bewusst hineingeschrieben,weil Sie keinen ernsthaften Schutz für die Kraft-Wärme-Kopplung wollten.Zweitens. Sie haben behauptet – eigentlich sollten Sieja fragen, aber Sie haben behauptet –, es gebe kein Poten-zial für Kraft-Wärme-Kopplung. Ich sage Ihnen Folgen-des: Allein durch die Modernisierung der bestehendenKraft-Wärme-Kopplungsanlagen könnten wir mit demgleichen Wärmepotenzial doppelt so viel Strom produzie-ren, damit mehrere Atomkraftwerke CO2-frei abschaltenund gleichzeitig diesen Industriezweig erhalten. Wirhaben über das Wirtschaftsministerium mehrere Studienin Auftrag gegeben. Das Wärmepotenzial der Kraft-Wärme-Kopplung reicht mindestens für eine Verdopp-lung und noch weit darüber hinaus, weil es nämlich nochgroße ungenutzte Potenziale dieser umweltfreundlichenTechnologie zur effektiven Nutzung fossiler Energieträ-ger gibt, die bekanntlich endlich sind, insbesondere imBereich Industrie für die Prozesswärme und im Bereichdezentraler Blockheizkraftwerke.Das Potenzial ist vorhanden und diese Energie ist auchwirtschaftlich. Warum aber ist sie im Augenblick sozusa-gen so in Schwierigkeiten? Das kann ich Ihnen auch sa-gen: Das hängt damit zusammen, dass wir hier aufgrundIhrer Art der Liberalisierung keinen echten, fairen Wett-bewerb haben.
– Das verstehen Sie nicht, das weiß ich, denn Sie haben esnoch nie verstanden. Deshalb haben Sie es auch falsch ge-macht.Wir haben in Deutschland hohe Überkapazitäten anStrom. Jetzt beginnt sozusagen im Wettbewerb das Ab-schleifen der Überkapazitäten. Das ist sehr gut so. DieFrage ist nur, ob die Player dabei gleichberechtigt sind.Das sind sie nicht. Auf der einen Seite haben wir die großenStromkonzerne, die jahrzehntelang überhöhte Preise ge-nommen haben, auch von uns Bürgern, und ihre Kampf-kassen auch aufgrund der von Ihnen geforderten Rück-stellungen prall gefüllt haben. Auf der anderen Seite ha-ben wir die Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen derIndustrie, die kein strategisches Interesse daran hat, Stromzu erzeugen, und sofort ihre umweltverträglichen Anla-gen abschaltet, wenn sie Dumpingstrom von den Strom-konzernen, der aus den Kampfkassen subventioniert wird,angeboten bekommt.
Daneben gibt es außerdem die Stadtwerke, die ihre Ge-winne während der Monopolzeiten für sinnvolle Zweckeverwendet haben, beispielsweise für den ÖPNV oderFreibäder.Die von Ihnen durchgeführte Liberalisierung desMarktes führt aber nun dazu, dass im Augenblick die um-weltfreundlichste Technologie, die fossile, endliche Ener-gieträger ersetzen kann, Schritt für Schritt vom Markt ver-schwindet. Wenn wir nicht eingreifen, wird diese als Er-gebnis Ihrer Politik bald ganz vom Markt verschwundensein.
Sie hatten in Ihrer Frage noch nach einem weiterenTeilaspekt gefragt, nämlich danach, ob ich wisse, dass dieStrompreise gesunken seien. Darauf antworte ich: Ichweiß, dass die Strompreise gesunken sind: die von der In-dustrie verlangten um 20 Prozent, die von den Stadtwer-ken verlangten um 50 Prozent, die von den Bürgern ver-langten um 5 bis 10 Prozent.
Das ist gut so. Deswegen waren auch wir immer dafür,Wettbewerb im Energiebereich einzuführen, weil, wieman sieht und wie vorhin schon gesagt wurde, die Mono-pole über Jahrzehnte überhöhte Preise genommen haben.Diese Frage ist unter uns nie strittig gewesen.Ich erinnere an Ihren Entwurf zum Energiewirtschafts-gesetz aus der letzten Legislaturperiode. In der Begrün-dung ist – ich habe ihn nicht mit, ich kann ihn also nichtwörtlich zitieren, aber ich weiß noch, was sinngemäßdrinsteht – ein Verweis auf das grüne Poolmodell enthal-ten, also auf unseren Vorschlag, wie die Liberalisierungdurchgeführt werden könnte. Sie haben in dieser Begrün-dung eingestanden, dass dieses Poolmodell den intensiv-sten Wettbewerb bringen würde. So sieht der Sachverhaltaus. Das heißt, wir sind immer für Wettbewerb gewesen,aber haben zugleich gesagt, Wettbewerb muss mit Um-weltschutz verbunden werden. Beides zusammen ist un-ser Ziel und muss umgesetzt werden.
Frau Kollegin, nach-dem Sie jetzt gerade hemmungslos die Chance genutzthaben, Ihre Redezeit auszuweiten, könnten Sie jetzt einezweite Chance dazu bekommen, wenn Sie eine weitereZwischenfrage des Kollegen Rexrodt zulassen.
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Michaele Hustedt9679
Ich glaube, ich habe den Hinweis verstanden. Ich lasse sie
nicht zu.
– Herr Rexrodt, ich glaube nicht, dass ich feige bin. Ich
würde sie gerne zulassen, aber dann bekomme ich Ärger
mit dem Präsidium. Dennoch hat es eben Spaß gemacht.
Meine These ist: Ihre Politik, die einen Tanz um das
goldene Kalb Atomkraft darstellt, das schon lange nicht
mehr golden ist, sondern längst blechern ist
– „verrostet“, genau –, hindert Sie daran, aktuell in die
spannende Debatte über eine neue und moderne Energie-
politik einzusteigen.
Deshalb diskutieren wir heute wieder einmal über einen
Unteraspekt von Atomkraft, über Gorleben.
Was ist eigentlich die wahre Ursache für die Probleme
mit Gorleben? Die wahre Ursache ist doch, dass die Be-
treiber von Atomkraftwerken sowohl Gorleben als auch
die Wiederaufbereitung nur deswegen betrieben haben,
weil sie kein solides Entsorgungskonzept hatten. Sie
mussten nämlich nachweisen können, dass Gorleben aus-
reichend untersucht sei und die Wiederaufbereitung viel
teurer wäre und noch mehr Müll produziert hätte. Anson-
sten hätten sie nämlich keinen Entsorgungsnachweis ge-
habt und dann hätte selbst eine CDU-Regierung die
Atomkraftwerke schließen müssen. Deshalb musste Gor-
leben ohne Rücksicht auf Verluste, ohne nach rechts und
links zu schauen und ohne ernst zu nehmende Kritik da-
ran zuzulassen, weiterbetrieben werden.
Es ist zum Beispiel so, dass alle aktuellen Diskussio-
nen über sichere Entsorgungskonzepte davon ausgehen,
dass die Rückholbarkeit gesichert sein muss. Menschen
sollten sich nicht anmaßen, darüber zu entscheiden, ob ein
Lager tatsächlich Zehntausende von Jahren sicher ist. Das
Lager muss deshalb das Kriterium der Rückholbarkeit für
den Fall erfüllen, dass wider Erwarten ein Problem auf-
taucht. Dieses Kriterium erfüllt zum Beispiel Gorleben
nicht.
Nur weil die laufende Untersuchung den Entsorgungs-
nachweis sichern konnte, brauchten solche Bedenken we-
der von der alten Bundesregierung noch von der Atomin-
dustrie ernsthaft beachtet zu werden. Es ging ohne Rück-
sicht auf Menschenleben und ohne Rücksicht auf
Widerstände und Proteste vor Ort um eine Pro-Atom-Po-
litik, die trotz ernst zu nehmender Kritik durchgesetzt
wurde.
Die Bundesregierung wird jetzt versuchen, diesen un-
soliden Entsorgungsnachweis auf eine solide Basis zu
stellen, indem wir mit den Stromkonzernen darüber spre-
chen, dass der atomare Müll nicht sinnlos durch die Ge-
gend transportiert wird. Er soll vielmehr in den
Atomkraftwerken zwischengelagert werden.
In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, dass
sich Stoiber auf einmal in der Anti-Atom-Bewegung ge-
gen diese Zwischenlager wiederfindet. Ich kann dazu nur
sagen: Willkommen im Kreis derjenigen, die auf die Ver-
stopfungsstrategie setzen. Ich glaube aber nicht, dass es
moralisch lange durchgehalten werden kann, im Land
Bayern die meisten Atomkraftwerke zu betreiben und
gleichzeitig zu sagen, dass man mit dem Müll, der über
Zehntausende von Jahren strahlt, nichts zu tun haben will,
dass er in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen gela-
gert werden soll.
Dieses Spiel machen wir nicht mit. Wir werden mit den
Stromkonzernen ein solides Entsorgungskonzept erarbei-
ten, obwohl das wahrlich nicht unsere Aufgabe ist; denn
die Grünen – das muss ja wohl jeder einsehen – sind
diejenigen, die überhaupt keine Schuld daran tragen, dass
wir uns jetzt in dieser Misere befinden und nicht wissen,
wohin mit den vielen Tonnen von Atommüll.
Danke schön.
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Es war schon ganz in-teressant zu beobachten, dass diejenigen, die seitens derKoalition und der Bundesregierung hier geredet haben,zum eigentlichen Kern der Großen Anfrage und dem darinangesprochenen Problem bis auf ein paar wenige Sätzegar nichts gesagt haben – im Gegenteil.
Frau Griefahn, Sie haben sogar noch den Versuch ge-macht, uns zu erklären, dass das, was von Ihnen veran-staltet wurde und was dokumentiert wurde, von FrauMerkel verursacht worden sei. Sie haben es so dargestellt,als seien Sie sozusagen in den Rechtsbruch getrieben wor-den. Was für eine geradezu abwegige Schilderung!Frau Hustedt, Sie sind eigentlich intelligent genug, umhier nicht das Argument vorzutragen – ich weise diesenVorwurf mit aller Schärfe zurück –, wir würden unsere
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Politik ohne Rücksicht auf Menschenleben machen. Ichfordere Sie auf, sich dafür zu entschuldigen.
Wenn Sie der alten Koalition Unfähigkeit vorwerfen,dann müssen Sie den Menschen an den dezentralen Zwi-schenlagerstandorten, die Sie jetzt so preisen, einmal er-klären, warum Sie für diesen Bau das Muster von Gorle-ben und Ahaus verwenden. Egal, ob Sie Fuhrmann,Kubatschka oder wie auch immer heißen: Sie könnennicht behaupten, dass die CDU/CSU für alles verantwort-lich ist, was im Zusammenhang mit Gorleben geschieht.Darf ich Sie daran erinnern, dass etwa die SPD im nie-dersächsischen Landtag Ernst Albrecht in die Parade ge-fahren ist, indem sie gesagt hat: Du kannst dich nicht mitden fünf niedersächsischen Kernkraftwerken schmücken;vier davon haben wir genehmigt. – 80 Prozent der Kern-kraftwerke in Deutschland sind zurzeit der SPD-Regie-rung entstanden.
Alles, was in Deutschland im Hinblick auf die Entsorgungerrichtet wurde, Frau Griefahn – ob in Gorleben oderAhaus –, ist die Folge einstimmiger Beschlüsse des Bun-des und der Länder.Sie haben als niedersächsische Umweltministerin imAugust 1990 durch Ihren Staatssekretär Bull und durchIhren Ministerpräsidenten einem Beschluss – es war eineinstimmiger Beschluss, mit Gerhard Schröder aufWunsch von Johannes Rau – zugestimmt, in dem steht:Der Bund wird aufgefordert, schnellstmöglich ein Endla-ger für nicht Wärme entwickelnde Abfälle zu bauen –nicht zu planen, sondern zu bauen.Konrad ist doch nur „im Geschäft“, weil der ehema-lige Parlamentarische Staatssekretär Stahl den Arbeits-plätzen in Konrad den Vorzug gegeben hat. Das ist dochdie Wahrheit! Sie haben weder ein moralisches noch son-stiges Recht, sich hier hinzustellen und Ihre politischeAgitation gegen die Kernenergie als Rechtfertigung fürden Rechtsbruch zu missbrauchen. Das stimmt dochvorne und hinten nicht.Im Übrigen kann ich, was die Frage einer modernenEnergiepolitik angeht, nur sagen: Es war die SPD-Bun-destagsfraktion, die bis zur letzten Sitzung der Steue-rungsgruppe am Energiedialog der Bundesregierung nichtteilgenommen hat. Wir haben am Tisch gesessen, Sienicht. Sie haben Ihren eigenen Minister im Stich gelassen.Das alles trägt im Grunde genommen überhaupt nicht.Der Bundesumweltminister hat hier – lieber HerrTrittin, das ist Ihnen ja eigen – sozusagen das Verhalteneines Brandstifters an den Tag gelegt, der anschließendauch noch Feuerwehr spielen will. So wie Sie hier argu-mentiert haben, hält das einer Prüfung überhaupt nichtstand.
Sie haben Atommüll ins Ausland verschoben. Darf ichSie daran erinnern, dass die Altverträge, die ersten völ-kerrechtlich verbindlichen Verträge unter der RegierungHelmut Schmidt entstanden sind? Das ist doch das, wo-gegen Sie zu Felde gezogen sind. Sie haben die Leute aufdie Straße getrieben und beschweren sich hier über diePolizeikosten.
Im Übrigen sind die 100 Millionen DM genauso falschwie die 50 Millionen, die der erste Transport gekostet ha-ben soll. Im niedersächsischen Landeshaushalt steht, wasder erste Polizeieinsatz gekostet hat: nicht die öffentlichdiskutierten 40 Millionen DM, sondern 7 Millionen DM.Um auf 100 Millionen DM zu kommen, müsste der ein-gesetzte Polizist – und so wird es veranschlagt und ge-rechnet – 120 DM pro Stunde verdienen. Gehen Sie malraus und sagen den Polizisten, für sie würden 120 DM proStunde veranschlagt. Die würden sich bedanken; denn dassteht nun wirklich nicht mir ihren Gehältern in Einklang.Darüber hinaus, Herr Kollege Fuhrmann, will ich Siedarauf aufmerksam machen, dass Ihre Genossen inLüchow-Danneberg gerade umlernen. Die haben begrif-fen, dass sie jetzt eine andere Bundesregierung haben. Siehaben nämlich in der letzten Kreistagssitzung gesagt, siekönnten wohl nicht mehr so gegen die Transporte mar-schieren, weil das jetzt ihre Bundesregierung sei. Eine er-staunliche Erkenntnis!
Wenn Herr Trittin Kokillen aus Frankreich nach Gorlebenschickt, dann sind das Transporte, die anständig und si-cher sind. Sie waren nur unanständig und unsicher,
solange Frau Merkel Bundesumweltministerin war. Dasist die Logik Ihrer Argumente.
Frau Griefahn, Ihr Auftritt war wirklich peinlich, un-glaublich:
Sie haben sich hier hingestellt und den Unfall im Schachtals Anlass und Begründung für Ihre Rechtsbrüche ge-nommen.
Sie waren zu der Zeit, als der Unfall passiert ist, garnicht im Amt. Der Unfall ist 1987 passiert. Die zweiJahre Stillstandszeit zur Überprüfung des SalzstockesGorleben haben Werner Remmers als Umweltminis-ter von Niedersachsen – CDU – und Klaus Töpfer alsBundesumweltminister – ebenfalls CDU – veranlasst.
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Erst 1989 haben wir die Erkundung wieder aufgenom-men.
Es ist unglaublich, dass Sie sich hier hinstellen und mit ei-nem Toten aus einem Bergunfall, der mit Kerntechnik garnichts zu tun hat, Ihre Rechtsbrüche rechtfertigen. Das istder Punkt, über den wir reden.
Herr Kollege Grill,
Ihre Redezeit ist abgelaufen, aber Frau Griefahn möchte
Ihnen gern eine Frage stellen. Ich gebe Ihnen gern Gele-
genheit, sie zu beantworten.
Es wird mir eine
Freude sein.
Herr Grill, in dem Moment,
in dem es Risse im Schacht gibt und dadurch die Stand-
sicherheit zumindest gefährdet sein kann: Finden Sie es
nicht angemessen, das überprüfen zu lassen, damit nicht
ein weiterer Unfall passiert? Ist das nicht unabhängig
davon, ob ich im Amt war oder nicht? Ist das nicht meine
Fürsorgepflicht, Herr Grill?
Frau Ganseforth, die
Intelligenz der Zwischenrufe wächst nicht mit der Laut-
stärke.
– Ich habe mir in den letzten 20 Minuten von diesem Pult
aus einiges anhören müssen.
Frau Kollegin Griefahn, Sie haben Recht, man muss
das alles prüfen. Nur, als Sie im Amt waren, war das alles
geprüft. Das ist der Punkt. Das heißt, der Unfall von 1987
kann doch nicht die Rechtfertigung für den Rechtsbruch
1990, 1991, 1992 und 1993 sein. Das war auch damals
nicht die Begründung. Diese Begründung schieben Sie
erst heute nach.
Ich will Ihnen zum Schluss, weil Sie sich hier immer
hinstellen und sagen, wir hätten keinen Energiekonsens
gewollt, Folgendes sagen: Alle Versuche, mit Gerhard
Schröder einen Energiekonsens herzustellen, sind nicht
an der Union gescheitert sind, sondern an der Tatsache,
dass Gerhard Schröder 1993 und 1997 für das, was er mit
der Union, mit Frau Merkel und Herrn Töpfer, verhandelt
hat, in seiner eigenen Partei keine Mehrheit hatte.
Deswegen brauchen Sie bei uns auch nicht nachzufragen.
Wenn Sie einen ernsthaften Konsens wollen, laden Sie
uns dazu ein. Aber Sie möchten Ihre Energiepolitik lieber
alleine machen, so sieht es jedenfalls zurzeit aus.
Nunmehr hat der
Kollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich aufdie heutige Debatte mit einer Rede vorbereitet, die ichjetzt leider nicht halten kann; denn man muss einigenFouls, die hier von der rechten Seite begangen wurden,begegnen.
Herr Kollege Grill, durch Wiederholungen werden IhreLegenden nicht wahrer.
Sie versuchen permanent, Legenden zu bilden. Außerdembetreiben Sie eine rückwärts gewandte Politik.
Ich gebe zu: Es ist geschichtliche Wahrheit, dass auchdie Regierung Schmidt auf Kernenergie gesetzt hat. Auchdie Sozialdemokratie in den 50er- und 60er-Jahren hatauf Kernenergie gesetzt. Das ist angesichts dessen, wasuns die Wissenschaft damals versprochen hat, auch ver-ständlich.
Die Wissenschaft hat uns damals eine Welt ohne Energie-probleme versprochen. Darauf ist die Politik hereingefal-len.Außerdem hat Herr Minister Trittin überhaupt nicht da-von gesprochen, dass Atommüll ins Ausland verschobenwird. Auch das ist wieder Legendenbildung. Aber IhreLegenden sind geplatzt wie Seifenblasen.Herr Rexrodt, ich war sehr verwundert, dass Sie plötz-lich über Kernenergie gesprochen haben. Genauso ver-wundert war ich, dass Ihre Fachpolitiker aus dem Aus-schuss für Umwelt nicht da sind. Am Ende Ihrer Redewusste ich, warum sie nicht da sind. Sie hätten sich zuTode geschämt,
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denn Sie haben überhaupt keine Ahnung von Kernener-gie. Wenn Sie in der Schule in der sechsten Klasse zu die-sem Thema diesen Vortrag gehalten hätten, hätte die Leh-rerin gesagt: Setzen, Sechs! Sie haben nämlich völlig dasThema verfehlt.Außerdem möchte ich Ihnen in Erdkunde etwas wei-terhelfen. Gorleben liegt in Niedersachsen und nicht inNordrhein-Westfalen oder China. Aber diese Problemehaben Sie aufgegriffen.
– Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage; die Chance,sie zu beantworten, hätte ich gerne.Sie haben behauptet, der Salzstock Gorleben sei250 Millionen Jahre stabil gewesen. – Es hat aber Zwei-fel an der Stabilität gegeben, weil Risse aufgetreten sind.Deshalb ist diese Stabilität kritisch zu hinterfragen, des-halb hat man mit Erkundungen begonnen.Jetzt noch zu Herrn Kollegen Fischer: Er hat von einerviel versprechenden Technik gesprochen. Wenn Sie das inden 50er- und 60er-Jahren gesagt hätten, hätten Sie dafürBeifall bekommen. Auf diese Illusionen sind wir damalshereingefallen, auch ich als Student. Und weil Sie immervon „Ideologie“ sprechen: Harrisburg war keine Ideolo-gie, Tschernobyl war keine Ideologie und auch Tokaimurawar keine Ideologie.
Ein hochtechnisches Land wie Japan rührt eine Atom-bombe in Stahleimern zusammen. Das beweist doch nur:Selbst ein Land wie Japan kann mit einer solchen Techniknicht umgehen.
– Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage!Außerdem haben Sie anscheinend noch nicht mitbe-kommen, dass die deutsche Industrie aus dieser Techno-logie ausgestiegen ist. Seit den 80er-Jahren gibt es keineBestellungen von Kernkraftwerken in Deutschland mehr.
– Herr Kollege, Sie haben bis vor kurzem regiert. Alsohätten Sie es versaut. Leider haben Sie das nicht, denn Sieversuchen, diese rückwärts gewandte Technik fortzu-führen.
Außerdem ist doch, wie gesagt, die Industrie inDeutschland längst ausgestiegen. Siemens arbeitet mitfranzösischen Unternehmen zusammen. Es gibt keinendeutschen Hersteller mehr.
Sie kämpfen also für eine völlig falsche Sache. Die Kern-energie ist die Technik des letzten und nicht die des kom-menden Jahrhunderts.
Ich bitte Sie um Folgendes: Gehen Sie einmal in die Bi-bliothek des Deutschen Bundestages und informieren Siesich in Fachbüchern über die verbleibenden Reserven anUran. Dann werden Sie mit Erstaunen feststellen, dassdie verbliebenen Mengen an Uran nicht länger zur Verfü-gung stehen, als dies vergleichsweise beim Erdöl undbeim Erdgas der Fall ist. Die Kernenergie ist eine Tech-nik, die von einem begrenzten Rohstoff ausgeht. Deswe-gen haben wir auf zukünftige Technologien gesetzt.Nun möchte ich aber doch ganz kurz auf die vorlie-genden Petitionen eingehen. Ich halte es für richtig, dassdiese Petitionen der Bundesregierung als Material undden Fraktionen zur Kenntnis überwiesen werden. Ichhalte nicht alle Forderungen der Petition Hufnagel fürrichtig. Einige sind aber bereits erfüllt worden. Ichmöchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Die Förderungumweltfreundlicher regenerativer Energien wurdedurch die Bundesregierung und die sie tragenden Koaliti-onsfraktionen auf den Weg gebracht. Wir haben die ent-scheidenden Gesetze beschlossen, die besser wirken, alswir uns das vorgestellt haben. Das ist ein Erfolg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefreut hat mich diePetition der Klasse 6 der Grund- und Hauptschule mitWerkrealschule Waldburg.
– Auf dieses Niveau, Herr Rexrodt, habe ich Sie gestellt.Mit Ihren Kenntnissen wären Sie in dieser Klasse durch-gefallen. – Es freut mich, dass sich junge Menschen mitihrer Zukunft auseinander setzen. Dies ist in der Begrün-dung des Petitionsausschusses sehr schön formuliert. Ichmöchte aus dieser Begründung zitieren:Der Petitionsausschuss unterstützt das Anliegen. Erfreut sich, dass sich Jugendliche für eine sichere Zu-kunft einsetzen und sich mit ihren Forderungen andas Parlament gewandt haben. Sie unterstützen damitdas Bemühen und den Wunsch vieler Menschen, ineiner intakten Umwelt zu leben und den eigenenNachkommen die Erde wohlbehalten zu überlassen.Der Ausschuss wünscht sich und den Jugendlichen,dass sie in ihrem Engagement nicht nachlassen.
Ich halte das für eine gute Begründung. Ich möchte diejungen Menschen ermutigen, sich mit ihren Forderungenan das Parlament zu wenden, damit wir uns mit ihnen aus-einander setzen können. Noch einmal herzlichen Glück-wunsch, dass diese Klasse so erfolgreich war.Ein etwas bitterer Nachgeschmack ist dennoch vor-handen: Diesen jungen Menschen hinterlassen wir ein
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Horst Kubatschka9683
sehr schweres Erbe. Denn sie müssen die Probleme derEndablagerung lösen. Wir haben zwar eine Technik aufden Weg gebracht, überlassen es aber der nächsten undübernächsten Generation, die Probleme dieser Technik zulösen. Das ist eine sehr schwere Hypothek für die kom-menden Generationen.In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem Gut-achten 2000 des Umweltrates zitieren:Der Umweltrat hält insbesondere wegen der in wei-ten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eineweitere Nutzung der Atomenergie für nicht vertret-bar.Das ist das Entscheidende: Dieses Problem ist nirgendwoauf der Welt gelöst. Selbst die größten Atomfreaks inFrankreich haben dafür keine Lösung.
Wir belasten zukünftige Generationen. Deswegen ist derAusstieg aus der Kernenergie notwendig und richtig.Denn damit begrenzen wir dieses Problem.Ich danke Ihnen für das Zuhören.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses, zunächst zur Sammelübersicht 31 auf
Drucksache 14/564. Dazu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstim-
men. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 14/3296? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 31 ist mit der gleichen
Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Sammelübersicht 69 auf Drucksache
14/1562. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor. Über ihn stimmen wir jetzt
ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3297? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis
90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti-
onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
– Die Sammelübersicht 69 ist mit der gleichen Mehrheit
angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/2530 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 14/3194 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
Detlef Parr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dagegen gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der
Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea Fischer,
das Wort.
– Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die den weite-
ren Beratungen nicht beiwohnen möchten, bitten, den
Raum zu verlassen. – Ich bitte nunmehr um Ihre Auf-
merksamkeit für die Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wennhier immer ein Kommen und Gehen ist, wenn das Themawechselt: Ein bisschen symptomatisch für das Thema istdas schon. „Seuchenrechtsneuordnungsgesetz“ klingt inder Tat so, dass man gerne stiften gehen möchte.
Das ist das Schicksal des Gesetzes, obwohl man, wie ichfinde, gar nicht hoch genug einschätzen kann, was wirheute hier vorliegen haben und hoffentlich auch verab-schieden werden. Ich glaube, dass das ein wirklich großerSchritt ist.Um es auch für diejenigen nachvollziehbar zu machen,warum das wichtig ist, die nicht täglich mit diesen Fragenbefasst sind, führe ich den Fall des Mannes an, der letztesJahr aus Afrika mit einer sehr schweren Infektions-krankheit zurückkam. Manches von dem, was da gesche-hen ist, hat quasi die Regelungen vorweggenommen, diein diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Daran kannman, so glaube ich, erkennen, wie wichtig es ist.Es geht darum, den Schutz der Bevölkerung auf ei-nem Gebiet, das für uns in den nächsten Jahren eher wich-tiger werden wird, nämlich bei Infektionskrankheiten,zu erhöhen sowie Vorbeugung zu betreiben und Vorsorgedafür zu treffen.
Bei diesen spektakulären Fällen wird dann auch die Auf-merksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema gelenkt.Aber man sollte es noch einmal sagen: Krankheitserreger
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Horst Kubatschka9684
sind bei der Entstehung von sehr vielen Krankheitenbeteiligt. Wir gehen davon aus, dass etwa 25 bis 30 Pro-zent aller Diagnosen und Behandlungen mit Infektions-krankheiten zusammenhängen. Damit ist das wirklich einbedeutsamer Faktor für die Gesundheitsversorgung undden Umgang damit.Viele Infektionskrankheiten werden wir nicht – was einalter Traum ist – endgültig ausrotten können; zumindestkönnen wir das zurzeit nicht. Aber wir können die Infek-tionen damit vermeiden. Das geht vor allen Dingen durchSchutzimpfungen – wie gegen Masern, Diphtherie, He-patitis B oder Kinderlähmung – sowie durch andere For-men von Vorsorge, durch Früherkennung, Aufklärungüber Ansteckungsgefahren und gezielte Maßnahmen derGesundheitsbehörden. Das alles steckt in dieser Gesetzes-änderung drin.Voraussetzung dafür, dass das möglich wird, ist einegezielte Krankheitsüberwachung. In den 70er-Jahren un-terlag man der, wie wir heute wissen, Fehleinschätzung,dass Infektionskrankheiten zurückgehen und Seuchenüberhaupt keine Rolle mehr spielen würden. Das hat dazugeführt, dass man den Instrumenten, die zur Verfügungstehen, um Vorbeugung zu betreiben und die Gefahren zubekämpfen, immer weniger Aufmerksamkeit widmete. Eshat auch dazu geführt, dass man den öffentlichen Ge-sundheitsdienst vernachlässigt und ihn nicht weiterent-wickelt hat. All diese Mängel wollen wir mit diesem Ge-setz beseitigen.Wir modernisieren sehr umfassend ein Seuchenrecht,das weitestgehend aus den 50er- und 60er-Jahren stammt.An dem Punkt sind sich, wenn ich recht informiert bin,alle Parteien und auch Bund und Länder einig, bei allenUnterschieden, die wir gegebenenfalls im Detail haben.Ich will hier ausdrücklich sagen: Dieses Gesetz baut auflangjährigen Vorarbeiten aus der letzten Legislaturperi-ode auf, wofür ich ausdrücklich meinem Vorgänger undder ehemaligen Staatssekretärin Bergmann-Pohl dankenmöchte.
Selbstverständlich möchte ich mich auch bei den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgesundheitsmi-nisteriums bedanken. Ich glaube, dazu haben wir allenGrund; denn sie haben viele Jahre Arbeit investiert.
Lassen Sie mich die wesentlichen Ziele dieses Gesetz-entwurfes zusammenfassen: Erstens. Wir wollen die Vor-beugung, die Prävention stärken. Dafür soll etwas aus-gebaut werden, was einen fast so schwierigen Namen hatwie der Gesetzentwurf selber, nämlich die Infektionsepi-demiologie. Wir wollen also unseren Kenntnisstand darü-ber erweitern, wie groß das Problem ist, wen es betrifftund wo die Gefahren liegen.Zweitens wollen wir den öffentlichen Gesundheits-dienst so verändern – ich habe gerade gesagt, dass hier einVersäumnis der letzten Jahre vorliegt –, dass er seinen be-deutsamen Aufgaben besser nachkommen kann.Voraussetzung dafür ist, das Meldesystem für über-tragbare Krankheiten neu zu strukturieren und den ak-tuellen Erfordernissen anzupassen. Wir wissen inzwi-schen, aufbauend auf den Erfahrungen mit der KrankheitAids, die im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet wor-den sind – das wird in dieser Debatte sicher noch eineRolle spielen –, wie bedeutsam es ist, dass wir neu auf-tretende übertragbare Krankheiten und Krankheitserregererfassen können.Das Robert Koch-Institut spielt dabei eine wichtigeRolle; denn dort sollen die Koordinierung der Datenauf-bereitung und die Analyse erfolgen, natürlich in enger Ab-stimmung mit den Ländern. Es soll auch ein Knotenpunktbei der Beratung sein, wie diese Erkenntnisse umgesetztwerden können.Neben der Erweiterung unseres Wissens- und Kennt-nisstandes kommt auch der Aufklärung über die Verhü-tung von Infektionsgefahren eine wichtige Rolle zu. Wirhaben den öffentlichen Gesundheitsdienst im Gesetzent-wurf dazu verpflichtet, diese Aufgabe wahrzunehmen.Bei den sexuell übertragbaren Krankheiten und der Tu-berkulose soll den Gesundheitsämtern im Einzelfall sogardie Behandlungsbefugnis eingeräumt werden. Auch in dieneuen Vorschriften zur Prävention von Geschlechtskrank-heiten und zur Rolle der öffentlichen Gesundheitsdienstehaben sehr stark die Erfahrungen aus dem Umgang mitAids Eingang gefunden.Es gibt auch veränderte Vorschriften, was die Infekti-onsverhütung in Krankenhäusern und die Überwachungmedizinischer und sonstiger Einrichtungen, bei denen dieGefahr der Übertragung von Krankheitserregern besteht,anbelangt.Dass der öffentliche Gesundheitsdienst tatsächlich eineso wichtige Rolle spielen kann, setzt voraus, dass er vonuns dafür besser instand gesetzt wird. Dazu gehört, dasser von überflüssigen Aufgaben, die ihm in der Vergan-genheit zugekommen sind, befreit werden muss, indemman zum Beispiel überflüssige Routineuntersuchungenwegfallen lässt. Er soll sich auf die wichtigen Aufgabenkonzentrieren können. Zudem setzen wir sehr stark aufdie Eigenverantwortung der Personen; denn wir verlan-gen von ihnen, dass sie auf die Aufklärung reagieren undihr Verhalten entsprechend ändern.In den Beratungen des Bundestages zu diesem Gesetzhaben wir bereits die allermeisten Vorschläge des Bun-desrates aufgegriffen. Es wurden auch viele Vorschlägeaus den Fraktionen, und zwar nicht nur aus den Regie-rungsfraktionen, übernommen. Für diese konstruktiveBeratung möchte ich mich ausdrücklich beim Ausschussfür Gesundheit bedanken. Ich denke, dass wir in strittigenPunkten gute Kompromisse erzielt haben,
so zum Beispiel bei der Frage der Beibehaltung der na-mentlichen Meldepflicht für Hepatitis-C-Infizierte. Hierhaben wir meines Erachtens einen Weg gefunden, derebenso den Interessen der Betroffenen wie der Notwen-digkeit gerecht wird, über die Verbreitung dieser Infekti-onskrankheit zu informieren.
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Bundesministerin Andrea Fischer9685
Vor dem Hintergrund der langen und ausgiebigen Be-ratung und der vielen Arbeit bitte ich alle Fraktionen umZustimmung. Ich appelliere auch an die Bundesländer, diezügige Verabschiedung dieses Gesetzes zu unterstützen.Ich glaube, es ist höchste Zeit für die Modernisierung desSeuchenrechts. Wir haben hier eine hinreichend große ge-meinsame Grundlage dafür, in diesem Bereich entschei-dend voranzukommen.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht beiallen Beteiligten Einigkeit: Wir brauchen das neue Infek-tionsschutzgesetz mehr denn je. Nach Schätzungen desBundesgesundheitsministeriums sind – das haben wirschon gehört – infektiös verursachte Krankheiten mit ei-nem Anteil von 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen undBehandlungen ein erheblicher Kostenfaktor in der ambu-lanten und stationären medizinischen Versorgung in Deut-schland. Diese Schätzungen werden auch ungefähr stim-men. Aber wenn man versucht, die tatsächlichen Kostenin DM oder Euro herauszufinden, muss man plötzlich mitErstaunen feststellen, dass beispielsweise weder derAOK-Bundesverband noch der VdAK, noch die KVenoder die KBV ansatzweise über Zahlen zu den von den In-fektionserkrankungen verursachten Kosten verfügen.Übrigens nur nebenbei bemerkt: Das beweist, Budgetskönnen nur undifferenziert zu Rationierungen führen,wenn keiner Kenntnis von differenzierten Kostenstruktu-ren hat.
Wir stehen vor ernsthaften epidemiologischen Proble-men. Weltweit sind in den vergangenen 20 Jahren mehrals 30 neue, oft tödlich verlaufende Infektionskrankhei-ten, wie zum Beispiel Aids oder Ebola, bekannt gewor-den. Gerade durch die zunehmende Mobilität und Mi-gration der Menschen müssen wir unser Augenmerk aufdiesen Problembereich richten.Millionen Deutscher verbringen ihren wohlverdientenUrlaub im Ausland. Allein 50 Millionen Auslandsreisenzählte der Deutsche Reisebüro-Verband 1998. Für vieledieser Auslandsreisen werden infektionsprophylaktischeMaßnahmen empfohlen, beispielsweise für Malaria. Seit1996 hat es laut Robert Koch-Institut in Deutschland je-des Jahr etwa 1 000 eingeschleppte Malaria-Erkrankun-gen gegeben. 1998 wurden 20 Malaria-Todesfälle gemel-det. 57 Prozent der Erkrankten hatten nach Angaben desRobert Koch-Instituts überhaupt keine Chemoprophylaxevorgenommen. Jeder 350. Tropenheimkehrer leidet nachder Rückkehr an Hepatitis.Dass es sich dabei nicht allein um ein epidemiologi-sches, sondern auch um ein wirtschaftliches Problem han-delt, zeigt die Tatsache, dass 3 Prozent aller Fernreisendenvon ihrer Reise arbeitsunfähig zurückkehren. Der Anstiegvon Last-Minute-Fernreisen führt wegen unzureichenderpräventiver Maßnahmen zu einer gefährlichen Art vonMobilität. Aber es liegt auch an jedem Einzelnen. VieleErkrankungen und damit Kosten sind jedenfalls durch eingehöriges Maß an Eigenvorsorge und Prävention ver-meidbar.
Aber auch die Öffnung Europas in Richtung osteu-ropäische Staaten, vor allem Russland, wird uns in Zu-kunft vor erhebliche Herausforderungen stellen. Dort tre-ten vermehrt Fälle von multiresistenter Tuberkulose auf.1990 lagen zum Beispiel die Tuberkulose-Neuerkrankun-gen in Russland bei 34 je 100 000 Einwohner; bis zumJahre 1997 sind sie auf über 82 je 100 000 Einwohner ge-stiegen. Nur zum Vergleich: Bei uns liegt die Zahl bei9,6 je 100 000 Einwohner, bei den in Deutschland leben-den Ausländern jedoch bei 44. In Teilen Russlands er-reicht die primäre Medikamentenresistenz nahezu 30 Pro-zent. Doch auch die Tatsache, dass viele bekannte ErregerResistenzen gegen bislang wirksame Mittel, vor allemAntibiotika, zeigen, bereitet uns erhebliche Sorgen.Das in den Grundzügen aus dem Jahr 1961 stammendeBundes- Seuchengesetz sowie das auf eine Vielzahl vonweiteren Gesetzen und Verordnungen verteilte Seuchen-recht bieten keine zeitgemäße Handhabe mehr. Das liegtvor allem auch daran, dass auf der bisherigen Basis keineverlässlichen Daten erhoben werden können, die Rück-schlüsse auf die Verteilung bestimmter Erkrankungen aufBevölkerungsgruppen oder bestimmte Personenkreise zu-lassen.Epidemiologisch gesehen, ist Deutschland ein Ent-wicklungsland. Es ist schon peinlich, dass eine Masern-epidemie in Mittelfranken statt von deutschen Behördenzuerst von amerikanischen Wissenschaftlern in Atlantaentdeckt wurde. Aufmerksam wurden die Amerikanerdurch die Erfassung von aus Deutschland zurückgekehr-ten amerikanischen Touristen.Das zeigt: Nur auf einer soliden epidemiologischenBasis mit funktionierenden Meldewegen kann eine ver-lässliche Prävention und eine effiziente Bekämpfung vonInfektionskrankheiten erfolgen. Das Robert Koch-Insti-tut erhält deshalb durch das Gesetz eine Schlüsselfunk-tion. Es wird durch länderübergreifende Koordinierungein epidemiologisches Netz auf Bundesebene aufgebautund am europäischen Netzwerk beteiligt. Wie die konkre-ten Meldewege und auch der Rückfluss von Informatio-nen, zum Beispiel durch Erarbeitung von Falldefinitio-nen, aussehen sollen, wird geregelt.Mir ist ganz wichtig, dass von der Bundesregierung dieerforderlichen zusätzlichen Personal- und Finanzmittelfür die neuen Aufgaben des Robert Koch-Instituts bereit-gestellt werden. Nur so kann eine wirksame Epidemiolo-gie aufgebaut und kann auf bedenkliche Entwicklungenreagiert werden.Ein solches epidemiologisches Netz ist aber nur wirk-sam, wenn in den Ländern eine überschaubare und ein-heitliche Zuständigkeit besteht.
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Bundesministerin Andrea Fischer9686
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme gefordert, dieGesundheitsämter als Begriff zu eliminieren und durchnach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzesbestimmte Behörden zu ersetzen. Ich halte das für äußerstproblematisch.
Die bisherigen Gesundheitsämter haben sich vor allemin Ihrer Struktur bewährt. Sie haben in der Vergangenheitumfassende Aufgaben bei der Gefahrenabwehr für denEinzelnen oder die Allgemeinheit wahrgenommen. In derdeutschen Bevölkerung ist der Begriff Gesundheitsamtgeläufig. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren,dass mit einer Abschaffung des Begriffs eine Zergliede-rung und Einsparungen von personellen und sachlichenMitteln auf Landesebene einhergehen sollen. Deswegensollten die Gesundheitsämter nicht zerschlagen werdenund auch den politischen Einfluss durch die Länder solltees nicht geben.Meine Damen und Herren, nach wissenschaftlichenUntersuchungen erkranken hierzulande pro Jahr allein500 000 Menschen an nosokomialen, also in Kranken-häusern oder durch medizinische Behandlung erworbe-nen Infektionen. Die Behandlungskosten werden auf2,5 bis 3 Milliarden DM geschätzt. Ein Großteil dieserErkrankungs- und Todesfälle – man schätzt mindestens175 000 – sind vermeidbar.Deshalb ist eine Überwachung und statistische Er-fassung von nosokomialen Infektionen sehr wichtig.Wir sind uns aber mit den Experten einig, dass zusätzlichzu den im Gesetz genannten Einrichtungen auch Pflege-einrichtungen mit krankenhausähnlichem Charakter ein-bezogen werden müssen. Nur durch ein gezieltes Hygi-enemanagment mit entsprechenden Fachkräften und einegezielte Überwachung durch die Gesundheitsämter kön-nen diese Infektionsraten tatsächlich reduziert werden.Die Regierungskoalition ist unseren diesbezüglichen Än-derungsanträgen nicht gefolgt; ich bedauere das sehr.Noch ein paar Worte zu den Ärzten: Die gesetzlich vor-gesehenen Maßnahmen müssen praktisch realisierbar seinund auf eine Akzeptanz der Risikogruppen und der damitbefassten Berufsgruppen treffen. Vor allem die Akzep-tanz der Ärzte hinsichtlich Diagnostik und Meldungführt zu verlässlichen epidemiologischen Zahlen, um be-stimmte Gefahren frühzeitig zu erkennen und entspre-chende Maßnahmen einzuleiten.Durch die Einführung der Laborpauschalen ist eine ge-genläufige Entwicklung eingetreten. Untersuchungen aufDiagnostik von Infektionskrankheiten sind um 50 Prozentzurückgegangen, weil sie auf das Budget der Ärzte ange-rechnet wurden. Dies wurde jetzt zwar durch eine Reformder Reform geändert, ob das aber den Zustand beseitigt,müssen wir erst noch sehr genau beobachten.Meine Damen und Herren, der Impfschutz hat bei derPrävention nach wie vor seine Berechtigung. Ein Blickauf die Kinderkrankheiten in unserem Land veranschau-licht die Notwendigkeit von Schutzimpfungen. InDeutschland erkranken jährlich 50 000 Menschen an Ma-sern. Als Ursache für diese hohe Inzidenz werden vor al-lem unbefriedigende Durchimpfungsraten angegeben.Zwar sind mit einer halben Million Schulanfängern88 Prozent eines Jahrgangs einmal gegen Masern geimpft,bei der zweiten Impfung werden aber nur bis zu 15 Pro-zent eines Jahrgangs erreicht.Impfungen dürfen nicht aus Kostengründen unterblei-ben. Die Aufklärung eines Patienten über Schutzimpfun-gen ist zeitintensiv. Die ärztliche Vergütung für Impflei-stungen ist im Bereich einiger kassenärztlicher Vereini-gungen inzwischen auf 5,50 DM pro Impfung gesunken.Wir können uns vorstellen, wohin das führt. Deshalb müs-sen die Kosten der Impfungen von den Krankenkassen er-stattet werden, und zwar leistungsgerecht und außerhalbdes Budgets. Dies würde auch die Bereitschaft, sich imp-fen zu lassen, fördern.
Die Regierungskoalition hat mit ihrer Ablehnung un-seres Antrags, Impfungen außerhalb der Budgets zu ver-güten, deutlich gemacht, dass sie das Gesetz nicht so ernstnimmt, oder anders gesagt, die Beliebigkeit ihres Han-delns wird deutlich nach dem Motto: „Was interessiertmich eigentlich mein Gesetz von gestern?“ Um nichtfalsch verstanden zu werden: Impfungen für Auslands-reisen gehören auch weiterhin zur Eigenvorsorge und zumEigeninteresse der Bürger.Die Ablehnung der Regierungskoalition, eindeutigereRegelungen für bestimmte Risikogruppen in § 25 aufzu-nehmen, wie von uns vorgeschlagen, halte ich ebenfallsfür nicht sachgerecht.Es gäbe zu diesem umfassenden Gesetz noch sehr vielzu sagen, aber dazu ist die Redezeit zu kurz. Insgesamtmuss festgestellt werden, dass nur durch eine konsequenteAufklärung und Prävention, durch rasches und koordi-niertes Handeln bei Infektionsgeschehen und durch Bün-deln aller Informationen ein wirksamer Infektionsschutzgewährleistet werden kann. Ein Gesetz kann immer nureinen Handlungsrahmen geben. Es ersetzt nicht das ei-genverantwortliche Handeln sowohl im gewerblichen alsauch im privaten Bereich in der Form, dass die Regelnhygienischen Verhaltens eingehalten oder verpflichtendeKontrollen wahrgenommen werden.Obwohl die Regierungskoalition einigen von uns ein-gebrachten Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist,werden wir dem Gesetz zustimmen. Wir wollen dieBlockadepolitik der SPD nicht bei uns fortsetzen.
Ich möchte zum Abschluss noch einmal an alle Betei-ligten appellieren: Nehmen Sie den Infektionsschutz unddie Meldeverpflichtung nicht auf die leichte Schulter,denn das Gesetz kann nur so gut sein, wie die Akzeptanzder Beteiligten ist und wie diese nach dessen Vorgabenhandeln.Danke.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Dr. Sabine Bergmann-Pohl9687
Für die SPD-Bun-
destagsfraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang
Wodarg.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Es ist noch nicht lange her, da schienes, als würden die Infektionskrankheiten in Zukunftkeine große Rolle mehr spielen. Als zum Beispiel diePocken ausgerottet waren und die Tuberkulose inDeutschland nicht mehr zu den Volkskrankheiten gerech-net werden konnte, meinten sogar viele Fachleute, dassdie Seuchengefahr insgesamt für unser Land gebannt sei.Diese optimistische Auffassung musste in den letztenJahren leider – für alle sichtbar – revidiert werden, nach-dem der Aidserreger weltweit Millionen Menschen infi-ziert hatte und wir am Beispiel von BSE gelernt haben,dass der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln und de-ren Grundstoffen ein erhebliches Risiko darstellt. Dasglobale Bevölkerungswachstum und die Migration großerBevölkerungsgruppen – darauf hat meine Vorrednerinschon hingewiesen, und hiermit sind nicht nur die Flücht-lingsströme, sondern auch die Touristenströme gemeint –führen jedoch dazu, dass sich einerseits alte Krankheits-erreger wie zum Beispiel der Tuberkuloseerreger auch inden Industriestaaten wieder ausbreiten können, anderer-seits aber neben Aids zunehmend Fälle neuer, zum Teilbisher unbekannter Infektionskrankheiten auftreten, beidenen auch die moderne Medizin wenig Hilfe anbietenkann.Die ungezielte Anwendung von Antibiotika in derMedizin – das wurde hier noch nicht angesprochen – unddie Anwendung von antibiotisch wirksamen Stoffen in derTiermast haben außerdem dazu geführt, dass Krankheits-erreger zunehmend resistent gegen die zu ihrer Bekämp-fung eingesetzten Antibiotika werden. Viele Fälle von un-gewollter Kinderlosigkeit, Magengeschwüren, Gebär-mutterhalskrebs und anderen Krankheiten haben sich inden letzten Jahren als erregerbedingt erwiesen. Es bietetsich also ein völlig neues Bild der Infektionskrankheiten.Das aus der Nachkriegszeit stammende Seuchenrechtwurde deshalb in den letzten Jahren durch viele Einzel-verordnungen auf nationaler und internationaler Ebeneimmer wieder nachgebessert und ist dadurch ein Flicken-teppich geworden, der kaum noch überschaubar ist. Dasalte Bundes-Seuchengesetz wird seiner Funktion zur Ver-hütung und Bekämpfung der übertragbaren Krankheitennicht mehr gerecht.Hinzu kommt – das ist besonders bedrückend –, dasswir trotz modernster Medizin und modernster Datentech-nik für viele Infektionskrankheiten auch in Deutschlandnicht wissen, wie hoch die daraus resultierenden Risikeneigentlich sind. Epidemiologische Daten sind jedoch dieVoraussetzung für wirksame und effiziente Präventions-maßnahmen und auch für die Planung einer angemesse-nen Krankenversorgung. Strukturdefizite im Meldesy-stem und im Risikomanagement hat zum Beispiel schonder 3. Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durchBlut und Blutprodukte“ des 12. Deutschen Bundestageswarnend herausgestellt. Er forderte damals, dass Risiko-signale schneller erkannt und unverzüglich Maßnahmenzum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden.
Das neue Infektionsschutzgesetz, welches bereits seitmehreren Jahren, also auch schon unter der vorherigenRegierung – wir haben das gehört und gewürdigt –, in in-tensiver Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländernvorbereitet und formuliert wurde, soll heute endlich vomDeutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedetwerden.
Die Mitglieder des Gesundheitsausschusses – ichglaube, dabei kann ich alle einschließen – würdigen des-halb heute gemeinsam die intensive und fachlich hochqualifizierte Vorarbeit all derjenigen, die diese komplexeMaterie zu einem modernen Infektionsschutzgesetz zu-sammengefasst haben, und danken für die geleistete Ar-beit.
Das vorliegende Gesetz trägt neuesten Erkenntnissenund Entwicklungen Rechnung. Es ist ein Gesetz aus ei-nem Guss geworden. Es bietet vorbildliche Voraussetzun-gen für eine wirksame Prävention, für eine frühzeitigeErkennung und für eine effektive Bekämpfung von Infek-tionskrankheiten. Das Gesetz macht die Infektionsepide-miologie zur Grundlage des Infektionsschutzes und nutztdabei deutsche positive Erfahrungen ebenso wie interna-tionale Vorbilder.Zum Beispiel ist eine zentrale Einrichtung wie dasamerikanische Center for Disease Control für die Zusam-menfassung der Daten und für den Überblick über die in-fektionsepidemiologische Lage erforderlich. Es kann mitseinen hoch qualifizierten Fachleuten gezielten Einzelfra-gen nachgehen oder als Infektionsfeuerwehr den örtlichzuständigen Institutionen zu Hilfe kommen.Ein solches Zentralinstitut wäre jedoch hilflos ohne dasflächendeckende Netz von fachlich gut besetzten Ge-sundheitsämtern. Die Gesundheitsämter in allen Kreisender Republik haben in der Vergangenheit den Infektions-schutz erfolgreich sichergestellt. Auch das muss manheute anerkennend würdigen. Sie sind auch heute nochdie Basis für Prävention und Gesundheitsschutz inDeutschland. Ihre Ortskenntnis, ihr multidisziplinärerAnsatz mit infektionsepidemiologisch ausgebildetenAmtsärzten, guten Kontakten zu Krankenhäusern undniedergelassenen Ärzten, mit erfahrenen Gesundheitsin-genieuren, die zum Beispiel über die Trinkwasserhygieneoder die Klimaanlagen wachen, und mit fachlich qualifi-zierten Gesundheitsaufsehern, die in ihren Bereichen sehrgenau wissen, wo konkrete Gefahren drohen können –dies alles ist eine nicht zu ersetzende Basis, die wir auchfür den zukünftigen modernen Infektionsschutz nutzenund erhalten wollen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 20009688
Ich wollte heute eigentlich in Schwäbisch-Gmünd sein.Dort findet nämlich zurzeit der Bundeskongress des Öf-fentlichen Gesundheitsdienstes statt, der sich am heutigenFreitag von 16.00 bis 17.20 Uhr mit dem Thema „Schutzvor Infektionen – eine Schwerpunktaufgabe des ÖGD“beschäftigen wird. Ich habe das Programm vorliegen,grüße die sich auf dem Kongress befindlichen Kollegenund freue mich, dass wir heute die gesetzgeberischeGrundlage für die zukünftige Arbeit der Gesundheitsäm-ter in Deutschland schaffen können. Deshalb ein Grußvon hier an die Amtsärzte und das Personal der Gesund-heitsämter, das sich zurzeit in Schwäbisch-Gmünd mitdemselben Thema befasst!
Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundesta-ges und die befragten Fachleute waren sich einig, dass dieGesundheitsämter unverzichtbare und dezentrale Kompe-tenzzentren für den Infektionsschutz der Bevölkerungbleiben müssen. Das Robert Koch-Institut als eine demCenter for Disease Control in Amerika entsprechendezentrale Einrichtung soll die Kontaktstelle für die interna-tionale Zusammenarbeit im Infektionsschutz werden.Über seine Funktion ist hier schon einiges gesagt worden.Durch die Schaffung dieses Zentrums und durch das neueInfektionsschutzgesetz hat Deutschland gleichzeitig sei-nen Beitrag zur Schaffung eines Netzes für die epidemio-logische Überwachung und Kontrolle übertragbarerKrankheiten in der Europäischen Gemeinschaft geleistetund wichtige Grundlagen für die systematische Erfor-schung der Zusammenhänge zwischen einer sich raschwandelnden Umwelt und dem Auftreten neuer Infekti-onsrisiken geschaffen.Dass dieses wichtige Gesetz heute endlich verabschie-det wird, ist das Verdienst der neuen Bundesregierung.
Von der Sache her ist es bedauerlich, dass nicht bereits dievorige Bundesregierung es für nötig befunden hat, diesesGesetz aus ihren Aktenschränken heraus ins Parlament zubringen. Das hätte schon längst geschehen können. Wirhatten schon längst damit gerechnet, nachdem HerrMinister Seehofer es versprochen hatte.Als jemand, der viele Jahre mit dem alten Bundes-Seu-chengesetz und den dazugehörigen Einzelregelungen le-ben musste,
– ja, das stimmt – weiß ich, wie sehnsüchtig viele meinerehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis aufdas neue Infektionsschutzgesetz gewartet haben. Natür-lich gibt es auch Vertreter des öffentlichen Gesundheits-dienstes – sie haben sich auch lautstark bemerkbar ge-macht –, die vieles lieber so gelassen hätten, wie siees gewohnt waren. Tausende von fragwürdigen Routine-untersuchungen bei Lehrern, Erziehern, Küchenpersonalund Prostituierten täuschten aber eine falsche Sicherheitvor. Sie sind aus infektionsepidemiologischer Sicht nichtmehr zu rechtfertigen. Jede Untersuchung, die gemachtwird, aber nicht notwendig ist, ist bei denjenigen, die un-tersucht werden, ein Akt der Körperverletzung, wenn essich zum Beispiel um eine Blutentnahme oder eine Rönt-genaufnahme handelt. Wir sind froh, dass dies ein Ende hat.Einzelne Amtsärzte werden vielleicht den Wegfall die-ser Basisauslastung ihres Amtes bedauern. Aber auch siewerden feststellen können, dass ihnen durch das vorlie-gende Gesetz sowohl fachlich als auch organisatorischeine beträchtliche Hilfestellung geleistet wird. Den neuenInfektionsrisiken, den Erfordernissen des modernen In-fektionsschutzes wird auch die Arbeit der Gesund-heitsämter in Zukunft besser gerecht werden können.
Das neue Infektionsschutzgesetz ist ein umfangreichesund fachlich komplexes Gesetzeswerk, welches durchlangjährige Vorarbeit und breite Beteiligung aller Fach-kreise gereift ist. Es stellt für die Gesundheit und dieSicherheit der Bevölkerung eine wesentliche Verbesse-rung dar. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Bundes-rat – ich schließe mich den Wünschen meiner Vorrednerinan – ebenfalls dazu beiträgt, dass die letzte Hürde für dieArbeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes, des Gesund-heitsschutzes, möglichst schnell passiert wird, damit wirder Bevölkerung sagen können, dass sie sich vor Infekti-onskrankheiten zu Recht sicher fühlen kann.Ich danke Ihnen.
Ich gebe für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Detlef Parr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Infektionsschutz ist in den letzten Jahr-zehnten aus dem Gesichtsfeld der öffentlichen Diskussiongeraten. Die großen Seuchen galten als ausgerottet oderman wähnte sie unter Kontrolle. Zu Unrecht, wie es sichgerade in letzter Zeit gezeigt hat. Ohnehin bezog sichdiese vermeintliche Sicherheit nur auf den westeuro-päischen Raum. Welche neuen Gefahren in einer Welt derkurzen Wege lauern, ist uns allen jüngst durch einige sehrtragische Fälle vor Augen geführt worden. Frau Ministe-rin hat darauf hingewiesen.Eine breite öffentliche Diskussion um einen verbesser-ten Seuchenschutz tut deshalb Not. Die Anhörung hat ge-zeigt, dass in einem Bereich besondere Sorglosigkeit herr-scht: Das ist der Bereich des Impfens. Für viele Men-schen hat das Impfen nicht mehr die Bedeutung, die eshaben sollte. Die Eigenverantwortung wird in diesem Be-reich nicht hinreichend übernommen. Das ist eine sehr be-dauerliche Entwicklung. Zu der großen Mobilität derMenschen kommt hinzu, dass viele Erreger heute beson-ders aggressiv sind und ihre Gestalt rasch verändern. Her-kömmliche Therapieformen schlagen dann nicht mehr an.Leichtsinn in der Bevölkerung und gerade auch bei denWeltenbummlern trifft also mit einem erhöhten Gefähr-dungspotenzial besonders ungut zusammen. Außerdem
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Dr. Wolfgang Wodarg9689
konnte man in manchen Fällen den Eindruck gewinnen,dass in Deutschland nicht schnell und nicht zielgerichtetgenug mit Verdachtsfällen umgegangen wird. Offenbargibt es hier Strukturdefizite. Tatsächlich muss die Zu-sammenarbeit in der Bundesrepublik und auf europä-ischer und internationaler Ebene verbessert werden, müs-sen Früherkennungsmaßnahmen mit der Bereitstellungdes Expertenwissens und adäquaten Behandlungsmög-lichkeiten gekoppelt werden.Das Gesetz ist in weiten Bereichen für uns akzeptabel.Ich muss aber ein bisschen Wasser in den Wein schütten.Sie zwingen uns dennoch zur Ablehnung. Als Hauptgrundnenne ich die namentliche Nennung von Hepatitis-erkrankungen.Meine Damen und Herren, Aidserkranktewerden aus guten Gründen nicht namentlich erfasst.Warum dann eine namentliche Meldung bei Hepatitis?Der Nutzen einer solchen Meldung steht nach Auffassungder F.D.P. in keinem Verhältnis zu den möglichen erheb-lichen Nachteilen für die Betroffenen.
Das kann uns keiner sagen. Es ist nicht auszuschließen,dass sie zusätzlich zur Krankheit eine gesellschaftlicheStigmatisierung erleiden müssen. Da hilft auch eine Lö-schung der Daten nach drei Jahren nicht, denn wer zumBeispiel einmal am Arbeitsplatz ins Gerede gekommenist, wird dieses Stigma niemals wieder los. Einmal diskri-miniert, immer diskriminiert.
Und das alles, wo doch überhaupt keine besonderen Maß-nahmen zum Schutz der Bevölkerung möglich sind. Einsolch weitreichender Eingriff in die Intimsphäre ist ausunserer Sicht nicht zu rechtfertigen.Demgegenüber sehen wir bei der immer größeren Zahlvon Individualreisen in gefährdete Gebiete zumindestverstärkten Aufklärungsbedarf. Das haben meine Vor-rednerinnen und Vorredner schon angesprochen. VieleMenschen reisen viel zu sorglos und ohne eine angemes-sene Vorbereitung in die Welt. Hierauf sollten wir ein be-sonderes Augenmerk richten. Ich bin gespannt, wie dieReisebüros mit der ihnen auferlegten Aufklärungspflichtzurechtkommen.Die Verbesserung der sachgerechten Behandlung vonInfektionskrankheiten impliziert selbstverständlich auchdie Modifizierung der Aus- und Weiterbildung in die-sem Fachgebiet. Der Infektologie sollte an den Hoch-schulen und bei der Ausbildung in medizinischen Fach-berufen wieder mehr Platz eingeräumt werden.Üblicherweise sind es nämlich nicht die Spezialisten, son-dern die Hausärzte, die als Erste mit seltenen Krankheits-bildern konfrontiert werden. Gerade deshalb ist es enormwichtig, dass die Hausärzte schnell den richtigen Verdachtschöpfen und schnell die richtigen diagnostischen undtherapeutischen Maßnahmen einleiten können.Zu guter Letzt sollte die Materie flächendeckend Ein-gang in die Lehrpläne der Schulen finden. Dort könnenwir die Grundlage für das Wissen um Infektionen und umden Schutz vor Infektionen schaffen. Ein solches Wissenmuss wieder zum Allgemeingut in unserer Gesellschaftwerden.Zwei kurze Zusatzbemerkungen: Frau Fischer hat ge-sagt, dass sie den öffentlichen Gesundheitsdienst stär-ken möchte. Warum nehmen Sie dann die Pflichtuntersu-chungen für Prostituierte aus dem Gesetz heraus? Warumnehmen Sie die Pflichtuntersuchung für Verkäuferinnenund Verkäufer im Lebensmittelbereich aus dem Gesetzheraus? Wir halten die Lebensmittelsicherheit aus gutenGründen besonders hoch. Hier begehen Sie aus unsererSicht einen Fehler. Deshalb können wir Ihrem Gesetzent-wurf nicht zustimmen.Ich danke Ihnen.
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die Verhütung und die Bekämpfung der In-fektionskrankheiten zu verbessern ist das Ziel des Ge-setzentwurfes. Das ist zu begrüßen. Flüchtlingsströme,Kriege, ein zunehmender Reiseverkehr, wachsende Anti-biotikaresistenzen und viele weitere Faktoren haben neueRisiken geschaffen. Alte, schon unter Kontrolle geglaubteProbleme sind wieder akut geworden. Neue Krankheitenwie Aids und BSE zeigen die Gefahren auf, die von In-fektionskrankheiten ausgehen.Auf der anderen Seite sind in der Vergangenheit ernst-hafte Defizite im Kampf gegen die ansteckenden Krank-heiten entstanden. Ich nenne als Beispiele nur den nach-lässigen Umgang mit der Meldepflicht, eine zurückblei-bende Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesensund den unzulänglichen Impfstatus der Bevölkerung.Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass indem vorliegenden Gesetzentwurf notwendige und zweck-mäßige Antworten auf viele dieser angestauten Problemegegeben werden. Dazu zählen ein modernisiertes Melde-system, die bessere Vernetzung der Institutionen des In-fektionsschutzes oder die Schaffung einer kompetentenZentrale, des Robert Koch-Instituts. Es ist auch konse-quent, die Personal- und Sachmittel des Robert Koch-In-stituts aufzustocken, damit es seiner künftigen Aufgabeals Leitinstitution gerecht werden kann.Durch die Beratungen im Ausschuss ist es gelungen,das Gesetz in wichtigen Punkten zu verbessern. Zu be-grüßen ist, dass die wichtige Rolle, welche die Gesund-heitsämter auf dem Gebiet des Infektionsschutzes aus-zufüllen haben, nicht verwässert, sondern insgesamt deut-licher herausgehoben wurde. Wünschenswert wäreallerdings, wenn von der Beratung dieses Gesetzes imDeutschen Bundestag auch Signale in Richtung personel-ler und finanzieller Stärkung der Gesundheitsämter aus-gehen würden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Detlef Parr9690
Wichtig ist, dass der Ausschuss die Regelungen für denInfektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Al-ten- und Pflegeheimen weiter verschärft hat. Dazu gehörtder von uns eingebrachte und mehrheitlich angenommeneVorschlag, Hygienepläne als innerbetriebliche Instru-mente des Infektionsschutzes verbindlich in das Gesetzaufzunehmen.Allerdings bleibt nach unserer Meinung fraglich, obdie für den Impfschutz vorgesehenen Bestimmungenausreichen, um die seit längerem beklagten Defizite zubeseitigen. Diese Defizite sind auch schon von meinenVorrednern angedeutet worden. Fortschritte auf diesemGebiet verlangen vor allem eine verbesserte Organisation.Der Übergang von Impfempfehlungen zu verbindlicherenImpfprogrammen, die politisch gemeinsam getragen undvon der Öffentlichkeit akzeptiert werden, könnte dafür einentscheidender Anstoß sein. Wir bedauern, dass dieserVorschlag keine Mehrheit gefunden hat.Abschließend ist festzustellen, dass dieses Gesetz vieleVerbesserungen für die Bekämpfung von Infektions-krankheiten bringt. Wir stimmen ihm deshalb zu.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften auf den
Drucksachen 14/2530 und 14/3194. Ich weise darauf hin,
dass 33 Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion eine Erklärung zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben. Diese Er-
klärung wird zu Protokoll genommen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist ebenso wie in der zweiten Beratung mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3194 die
Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Ent-
schließung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-
zes
– Drucksachen 14/2292, 14/2355 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 14/3320 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann -Mauz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Horst Schmidbauer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heutedie 10. AMG-Novelle verabschieden, dann ist kein Jubel-tag; denn mit diesem Gesetz schultern wir eine Altlast derRegierung Kohl. Es ist kein Jubeltag, weil es sich um einReparaturgesetz handelt, mit dem 14 000 Altarzneimitteleiner gemeinschaftskonformen Nachzulassung zugeführtwerden müssen.
Es handelt sich um Altarzneimittel, die in ihrem Lebennoch nie eine Prüfung durchlaufen haben.Dennoch haben wir Grund zur Freude, weil wir eineReparatur erfolgreich abschließen konnten. Wir haben Grundzur Freude, weil damit eine Altlast fachgerecht entsorgtwerden kann. Sie kann so fachgerecht entsorgt werden,dass sich die Europäische Kommission nicht mehrgenötigt sieht, das Vertragsverletzungsverfahren gegendie Bundesrepublik Deutschland fortzuführen. Außer-dem haben wir Grund zur Freude, weil es uns mit der10. AMG-Novelle gelungen ist, im Dreieck der Anforde-rungen von Brüssel, von den Herstellern und von den Ver-brauchern so etwas wie einen Königsweg zu finden.
Dies war dringend geboten; denn mit dem Erlass der Eu-ropäischen Kommission vom 21. Oktober 1998 sind die14 000 deutschen Altpräparate auf dem europäischenMarkt „illegal“. Handlungspflicht war also da.Mit diesem erfolgreichen Reparaturansatz dürfen wirnicht einfach über die Ursachen und den Auslöser für dasVertragsverletzungsverfahren durch die EuropäischeKommission hinwegtäuschen. Die Europäische Kommis-sion sah sich genötigt, dieses Vertragsverletzungsverfah-ren gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten,um die Harmonisierung des deutschen Arzneimittel-gesetzes mit dem europäischen Arzneimittelrecht zu er-zwingen. Das ist schon beschämend; denn Deutschland istder einzige Mitgliedstaat, der seinen gemeinschaftsrecht-lichen Verpflichtungen auf dem Arzneimittelsektor nichtnachgekommen ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Dr. Ruth Fuchs9691
Von der Europäischen Kommission wissen wir: Esmuss ein stringentes und plausibles Gesamtpaket für dieAngleichung unseres Arzneimittelrechts an das Arznei-mittelrecht der Gemeinschaft vorgelegt werden. DasNachzulassungsverfahren muss so schnell wie möglichabgeschlossen werden; sonst würde die EuropäischeKommission das Vertragsverletzungsverfahren fortset-zen. In diesem Fall müsste die Bundesrepublik damitrechnen, Tag für Tag eine Million Erzwingungsgeld zu be-zahlen. Deshalb ist der Versuch der Opposition zu durch-sichtig. Sie ignorieren diese Millionen- oder Milliarden-bedrohungen aus Brüssel in unverantwortlicher Weise.Damit wollen Sie – nur so ist Ihr Verhalten verständlich –von der Unverantwortlichkeit der alten Regierung ablen-ken.
Denn unbestritten steht fest, dass die alte Bundesregie-rung gegen die Handlungspflicht, die in der Richtlinie65/65 EWG festgelegt ist, grob fahrlässig verstoßen hat.Letzter Stichtag aus dieser Richtlinie war der 30. April1990. Den Sachverhalt aber kennt man schon seit 23 Jah-ren. Bis zu ihrer Abwahl hat die alte Regierung diese Alt-last also in bewährter Weise schlichtweg ausgesessen.Heute stellen wir fest, dass die alte Regierung unterSeehofer mit der 2004er Regelung Europa regelrecht pro-voziert hatte Mit dieser Regelung hat Herr Seehofer beiRücknahme des Nachzulassungsantrages durch den Her-steller eine Abverkaufsfrist für die Arzneimittel bis 2004gewährt.
Die Folgen – das sehen wir – haben in Brüssel nicht aufsich warten lassen: Die Europäische Kommission zwingtnun die Bundesrepublik, diese seehofersche 2004er Rege-lung abzuschaffen. Aus diesem Grund können Sie sichIhre Ratschläge sparen. Ihre Vorschläge geben keine Ga-rantie dafür, die millionen- oder milliardenschwere Be-drohung aus Brüssel abzuwenden.Ich bin sicher, dass wir im Hinblick auf den Wettbe-werbsverstoß in Europa durch die Interessenabwägungzwischen den Erfordernissen der betroffenen Pharmafir-men und dem erforderlichen Verbraucherschutz die rich-tige Lösung gefunden haben, um Brüssel von unseremHandeln überzeugen zu können. Durch diese Überzeu-gung können wir erreichen, dass das eingeleitete Ver-tragsverletzungsverfahren der Europäischen Union gegendie Bundesrepublik eingestellt wird.Ob der Weg der 10. AMG-Novelle allerdings trägt,wird nicht allein von der Kommission und auch nicht al-lein von der Generaldirektion abhängig sein, sondernauch von den Herstellern in Europa und in Deutschland.Warum sage ich dies? Wir wissen heute, dass es nicht vor-rangig die Kommission war, die in dieser Frage aktivwurde; es waren vielmehr Wettbewerbsfirmen aus Eu-ropa, aber auch Wettbewerbsfirmen aus Deutschland, diebei der Kommission vorstellig geworden sind und dieseAktivität erzwungen haben. Deshalb müssen wir im Ge-setzgebungsverfahren sehr sorgfältig und in Stufen abwä-gen und ausloten, wie weit wir Wünschen und Interessender betroffenen Firmen entsprechen können, ohne dasswir in die Gefahr kommen, dass das Vertragsverletzungs-verfahren fortgesetzt wird.Die Prioritätenabfolge unseres Handelns in der Koali-tion ist also der der Opposition genau entgegengesetzt. Anerster Stelle steht das Ziel, Millionen- oder Milliarden-schaden von der Bundesrepublik abzuwenden. Damitaber keine Missverständnisse auftreten und keine Legen-den entstehen: Auch wir treten für die Pluralität desArzneimittelangebotes ein, allerdings in dem Rahmen,den das Gemeinschaftsrecht abgesteckt hat. Deshalb ha-ben wir zum Beispiel die Richtlinie 92/73 EWG fürhomöopathische Arzneimittel in die 10. AMG-Novelleeingearbeitet.Längerfristig können wir den Anhängern der besonde-ren Therapierichtungen allerdings die Perspektive ver-mitteln, dass die Präparate, die wegen des fehlendenNachweises ihrer therapeutischen Wirksamkeit ihre Ver-kehrsfähigkeit verlieren, als „Gesundheitspflegemittel“wieder zur Verfügung stehen.
Das setzt aber voraus, dass auf der Ebene der Europä-ischen Union ein Markt für Gesundheitspflegemittel ent-steht. Für nationale Alleingänge gibt es – das haben wir inBrüssel feststellen können – keinen Raum. Deshalb un-sere Bitte an Sie, Frau Ministerin, bei der Entwicklung ei-ner Richtlinie für Gesundheitspflegemittel, an die man inBrüssel große Erwartungen hat, aktiv mitzuwirken, damitwir hier ein Stück vorankommen.Die Europäische Kommission hat – wie wir im Ge-sundheitsausschuss feststellen konnten – bereits eine Pro-jektgruppe eingerichtet, die das Ob und das Wie eines sol-chen Marktes vorklären soll. In Brüssel konnte ich fest-stellen, dass man an einer Zu- und Mitarbeit gerade ausDeutschland aufgrund der hohen Erfahrungswerte höchs-tes Interesse hat. Deswegen unterstützen wir die Schaf-fung eines europäischen Gesundheitspflegemittelmark-tes.Unabhängig davon haben wir eine ganze Reihe vonAnregungen von Sachverständigen, von Pharmafirmenund von Verbänden aufgegriffen und entsprechende Än-derungsanträge eingebracht: die Frist auf ein Jahr verlän-gert, innerhalb deren Arzneimittelhersteller Mängel ihrerNachzulassungsanträge beseitigen müssen; die Möglich-keit, dass Mängel der Nachzulassungsunterlagen vorran-gig durch Auflagen beseitigt werden, um schneller voran-zukommen; die Nachzulassung auf der Grundlage vonArzneimittelzulassungen in anderen europäischen Mit-gliedstaaten verfahrensmäßig zu erleichtern; eine Über-gangsregelung für homöopathische Arzneimittel; eineÜbergangsregelung für Kombinationsarzneimittel.Nicht vergessen wollen wir, die 10. AMG-Novelleauch einen entscheidenden Beitrag für die Verbesserungder Qualität der Arzneimittelversorgung der Bevölkerungleistet.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Horst Schmidbauer
9692
Interessant ist in diesem Zusammenhang – das wird deutlich,wenn man sich die Synopse zu diesem Gesetz ansieht –, dassTransparenz und Verbraucherschutz für die OppositionFremdworte geblieben sind.Wir haben uns zwar entschieden, den Begriff „Alt-arzneimittel“ herauszunehmen, weil er in dieser Formohne Erklärung diskriminierend wirken könnte. Aber wirmussten feststellen, dass wir selbst für den jetzt nicht aufder Verpackung, sondern lediglich auf dem Beipackzettelbefindlichen Hinweis „Dieses Arzneimittel ist nach dengesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die be-hördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirk-samkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlos-sen.“ keine Zustimmung vonseiten der Opposition im In-teresse von Transparenz und Verbraucherschutz erwartenkönnen.Zum Schluss möchte ich noch eines deutlich machen:Ich richte meine Bitte vor allem an das Bundesinstitutfür Arzneimittel und Medizinprodukte und seine Ver-antwortlichen in Berlin bzw. Bonn. Dieses Institut ist ver-pflichtet, seiner Aufgabenstellung besser gerecht zu wer-den. Es ist nicht einsichtig, dass das BfArM trotz der jet-zigen Personalausstattung, die von 200 Stellen im Jahre1980 auf 900 Stellen 1995 gesteigert wurde und noch um70 weitere Stellen gesteigert werden soll, immer nochkeine optimalen Zeiten für die Nachzulassung erreichthat. Es soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass man beineuen innovativen Produkten dem Ziel schon sehr nahegekommen ist. Aber es ist bei dieser Personalausstattungeinfach nicht hinnehmbar, dass das gleiche Ziel nicht auchbei der Nachzulassung erreicht wird.Sie sehen also, Reparatur alleine beseitigt nicht alleAltlasten. Es gibt noch viel zu tun.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber KollegeSchmidbauer, dass Sie heute Grund zur Freude haben,freut natürlich auch uns. Wie lange diese Freude aller-dings anhalten wird, ist eine andere Frage. Wenn sie sokurzweilig ist wie bei den letzten gesundheitspolitischenReformgesetzen, die Sie hier im Hause eingebracht ha-ben, kann sie ja nicht so wahnsinnig lange währen. ImMittelpunkt unseres politischen Handelns steht nicht dieEuropäische Kommission, sondern der Mensch in derBundesrepublik Deutschland,
sei er Patient oder Beschäftigter im Bereich der pharma-zeutischen Industrie.Wer über die 10. AMG-Novelle reden will, darf nichtüber die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierungschweigen. Was hier an Stabilität, Vertrauen und sozialerGerechtigkeit kaputt gemacht worden ist, haben selbstLeute mit den dunkelsten Visionen nicht für möglich ge-halten. Auch wir haben Ihnen ja einiges zugetraut, aberbeim besten Willen nicht so ein rücksichtsloses kaltes Po-litikverständnis. Wo bleiben soziale Gerechtigkeit und In-novation – wir erinnern uns? Dank Ihrer patienten- undmittelstandsfeindlichen Marktbereinigungskonzeptionenstehen wir heute vor einer nachhaltig unsoliden Gesund-heitspolitik. Das fängt bei Ihren mittlerweile sprichwört-lichen Fehlern an, geht über koalitionsinterne Streitereienund endet bei permanenten Nachbesserungen.Die Gesundheitsreform 2000 ist schon nach wenigenMonaten wieder reformbedürftig. Die Kollektivhaftungfür Budgetüberschreitungen stehe auf tönernen Füßenund sei ein untaugliches Steuerungsinstrument, so heißt esin einem internen Arbeitspapier der SPD-ArbeitsgruppeGesundheit.
Die Pflegekasse wird durch Ihren ungenierten Griff in dieRücklagen selbst zum Pflegefall. Jetzt legen Sie uns inForm der 10. Novelle zum Arzneimittelgesetz eine Geset-zesvorlage vor, die es wahrlich in sich hat.Ein erster Durchbruch schien bei der 10. AMG-No-velle geschafft. Nach mehrwöchigen Beratungen des Ge-sundheitsausschusses, nach Anhörung der Sachverständi-gen und nachdem wir von CDU/CSU konstruktive eigeneAnträge zu Ihrem Entwurf eingebracht haben, sind Sienach mehreren langwierigen, schwierigen Anläufen zu-mindest teilweise auf Unionskurs umgeschwenkt. Sie ha-ben einige unserer Positionen übernommen, aber den Kö-nigsweg, von dem Sie, Herr Schmidbauer vorher gespro-chen haben, haben Sie nicht erreicht.Sie sind auf halbem Wege stecken geblieben. So sind esnur oberflächliche Schönheitsreparaturen, die Sie hiereingebracht haben. Substanziell bringt das meist nichts.Aber immerhin konnten wir ein paar schlimme Brockenverhindern.Seit einigen Wochen liegen die Fakten auf dem Tisch.Schon längst hätte die 10.AMG-Novelle abschließend be-raten werden können. Doch dann gab es bei Rot-Grün er-neuten Beratungsbedarf.
Unsere Argumente zeigten Wirkung; man merkt es auchjetzt. Die Verwirrung auf Ihrer Seite wurde größer.Dabei ist das Ganze – beruhigen Sie sich wieder! – garnicht so schwierig.
Es geht um die Beschleunigung bei der Nachzulassungvon Arzneimitteln. In der Zielsetzung stimmen wir ja mitIhnen überein. Allein der Weg, den Sie hier beschreitenwollen, ist bei bestem Willen nicht gangbar.
Denn Sie gehen ganz bewusst – ich sage das sehrdeutlich – über die Beanstandungen der Europäischen
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Horst Schmidbauer
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Kommission hinaus. Wir haben entsprechende Stellun-gnahmen bei unserem gemeinsamen Besuch in Brüsselgehört.
Hier sollen zahlreiche Arzneimittel vom Markt ver-schwinden. Da kann ich nur sagen: Die Moorhühnerschießen zurück und gefährden jetzt in letzter Kon-sequenz und in dramatischer Weise eine ganze Reihe vonmittelständischen Unternehmen, von Arbeitsplätzen, undsie gefährden nicht zuletzt die Therapievielfalt in unseremLand.Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier klipp und klar zusagen: Wenn Sie die 10. AMG-Novelle heute so, wie siejetzt auf dem Tisch liegt, nach Ihren verqueren Vorstel-lungen beschließen, dann gibt es morgen mindestens einDutzend Unternehmen, die große wirtschaftliche Schwie-rigkeiten haben. Sie betreiben hier eine knallharte Markt-bereinigung durch die Hintertür. Sie tun zwar immer an-ders, aber in Wirklichkeit wollen Sie die alternativen Arz-neimittel nicht.
Weil Sie nicht an den entsprechenden Beratungen imGesundheitsausschuss teilnehmen, will ich Ihnen das hierganz konkret an drei Punkten aufzeigen:Der erste Punkt. Derzeit dürfen zurAbhilfe von Män-geln im Nachzulassungsverfahren Änderungen der arz-neilich wirksamen Bestandteile vorgenommen werden.Diese Änderungsmöglichkeiten wollen Sie jetzt abschaf-fen. Wenn also das BfArM bei einem Arzneimittel hin-sichtlich der Zusammensetzung etwas bemängelt und derHersteller daran nichts mehr ändern darf, dann wird dieZulassung automatisch versagt. Das Arzneimittel ver-schwindet vom Markt.Von einer solchen Streichung besonders betroffen sindvor allem Kombinationspräparate. Versetzen Sie sichdoch einmal in die Lage eines Unternehmers, der seit Jah-ren ein bewährtes Produkt hat, das er nachzulassen willund muss! Beim BfArM konnte sein Antrag bislang nichtbearbeitet werden. Von sich aus kann er keine Änderun-gen vornehmen, weil nach wie vor unklar ist, welche Kri-terien für die Kombination gelten. Eine Änderung der Zu-sammensetzung im Vorgriff eines Mängelbescheides istihm damit nahezu unmöglich. Die Änderung im Nach-hinein soll jetzt verboten werden. Was hat dieses mitQualitätssicherung und Qualitätsentwicklung zu tun?Überhaupt nichts! Es ist praxisfern, rechtlich höchst be-denklich und wirtschaftlich absolut katastrophal.
Mit dieser Streichung machen Sie, Frau Fischer, eineganze Palette alternativer Medizinpräparate kaputt. DieSPD will die Schulmedizin; das wissen wir. Aber warumgerade die Grünen – nach der Positivliste zum zweitenMal – gegen die Alternativmedizin vorgehen, müssen SieIhren Wählerinnen und Wählern schon einmal erklären.
Die Naturheilpräparate – phytotherapeutische, homöo-patische, anthroposophische Arzneimittel – sind keinemedizinischen Second-Hand-Arzneien, Frau Ministerin.Es sind zum Teil seit Jahrzehnten bewährte Produkte.
Bereits mit der Positivliste werden Sie eine ganzeReihe von Arzneimitteln aus dem Sortiment nehmen. Mankann diese Präparate dann zwar noch bekommen, abernicht auf Krankenschein, sondern nur gegen Bares. Dashat mit sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen we-nig zu tun.Doch jetzt schlagen Sie erst richtig zu. Mit der10. AMG-Novelle wollen Sie Hunderte von Produktenpraktisch verbieten. Das heißt, diese Präparate ver-schwinden völlig vom Markt; sie sind damit weg. WissenSie überhaupt, was Sie tun? Ich frage Sie: Warum wollenSie ohne Not – nur so nebenbei – Änderungsmöglichkei-ten streichen, anstatt die Kooperation zwischen denHerstellerfirmen und den staatlichen Behörden zu verbes-sern? Warum können wir hier nicht von den USA lernen?Dort arbeiten Hersteller und FDA bereits im Vorgriff ei-nes möglichen Mängelbescheides konstruktiv zusammen.So muss es erst gar nicht zu formalen Bescheiden kom-men.Wie wir wissen, fliegt die Ministerin demnächst in dieUSA zur FDA. Wenn Sie schon nicht uns glauben, dannlassen Sie sich wenigsten dort einmal erklären, wie manbesser vorgehen kann.
Der zweite Punkt: Um das Nachzulassungsverfahrenzu beschleunigen, wollten Sie die Frist zur Mängelbesei-tigung von 18 auf – man höre und staune – sechs Monateverkürzen. Dies haben wir noch halbwegs umbiegen kön-nen. Ihre Fristenregelung war am Anfang viel zu kurz, dawaren wir uns mit den Sachverständigen einig. Innerhalbvon sechs Monaten wäre nämlich eine Mängelbeseitigungpraktisch ausgeschlossen.Nehmen Sie zum Beispiel Bioäquivalenzstudien oderklinische Studien. Wenn dort Mängel auftreten in der Zu-lassungspraxis, die sich aufgrund der Interpretation derStudienergebnisse der Behörde ergeben, dann wärensechs Monate einfach zu wenig, um die Mängel zu behe-ben. Sie können solche Studien unter keinen Umständenin sechs Monaten qualifiziert durchführen.Auch hat es nicht der Hersteller zu verantworten, wennvon der Zulassungsbehörde noch kein Mängelbescheidergangen ist. Eine Frist von sechs Monaten wäre keineNovellierung, sondern – ich muss es Ihnen an dieser Stellenochmals sagen – kalte Marktbereinigung durch die Hin-tertür.Wir forderten in unserem Antrag von Anfang an eineFrist von zwölf Monaten. Das ist ausgewogen. Die Fristbeschleunigt das Verfahren, aber sie überfordert die Her-steller nicht. Es kann nicht sein, dass Rot-Grün bei jedemgesundheitspolitischen Schritt an den Interessen der Pati-enten vorbeigeht und gegen den Mittelstand auftritt. Das
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Annette Widmann-Mauz9694
haben wir im Ausschuss immer wieder deutlich gemachtund wir haben auch da die besseren Argumente auf unse-rer Seite.Gott sei Dank übernehmen Sie jetzt unsere Position derZwölfmonatsfrist.Aber leider war der Hintergrund wohleher eine Laune von Kanzler Schröder, der irgendwo vondem Unsinn in Ihren Reihen gehört haben muss und of-fenbar gesagt hat: Dann lassen wir doch eben mal sechsezwölf sein. Aber das befriedigt uns überhaupt nicht, dennhier regiert Laune und nicht Einsicht.
– Ich argumentiere hier Punkt für Punkt im Blick auf IhrGesetz.Aber auch bei zwölf Monaten muss aus unserer Sichtein Nachreichen von Unterlagen im Rechtsmittelverfah-ren noch zulässig sein. Ihre Novelle sieht vor, dass zumBeispiel im Klageverfahren keine neuen Unterlagen mehrvorgelegt werden dürfen.Wir haben hier nicht nur verfassungsrechtliche Beden-ken, auch von der Sache her bringt das nichts. Sie werdenes noch erleben und ich sage es Ihnen heute schon voraus:Wenn Sie die Präklusion einführen, um die Verfahren zubeschleunigen, erreichen Sie das glatte Gegenteil. Auf-grund Ihrer Präklusion wird es zu vollständig neuen Zu-lassungsverfahren kommen. Durch diese Verzögerungentstehen nicht nur ein erheblicher wirtschaftlicher Scha-den bei den Unternehmen und auch eine Mehrbelastungbeim BfArM, sondern es werden den Patienten mögli-cherweise wichtige Arzneimittel zunächst vorenthalten.Sie gefährden die naturärztliche Versorgung in Deutsch-land. Das ist rot-grüne Politik von heute.Der dritte Punkt, den Sie auch angesprochen haben,Herr Kollege Schmidbauer: Sie wollen die besondereKennzeichnung der bisher nicht zugelassenen Arzneimit-tel in der Packungsbeilage. Ich will auf den irrsinnigenmateriellen Aufwand gar nicht eingehen. Den will ich garnicht ansprechen, das ist mir nicht so wichtig. Ursprüng-lich sollte ja in der Packungsbeilage „Altarzneimittel“stehen. Sie haben das Wort ja heute immer wieder ver-bannt. Das war völlig inakzeptabel und ist – Gott seiDank – jetzt vom Tisch.Aber auch die Formulierung, die Sie hier vorher zitierthaben, ist in der Substanz ein fragwürdiger Hinweis.Diese Information hat für die Verbraucherinnen und Ver-braucher keinen praktischen Nutzen. Ich möchte heutenicht die Zuhörer fragen, welchen praktischen Nutzen sieaus der Zitierung dieses Satzes gezogen haben.
– Nein, im Gegenteil, Sie stigmatisieren lediglich Arznei-mittel, die noch im Nachzulassungsverfahren und damitlediglich vorläufig zugelassen sind.
Wir brauchen weniger noch kompliziertere Gesetze alsvielmehr eine zügige, effiziente, fachlich qualifizierte Be-arbeitung der Anträge beim BfArM. Diesem Gesetz kön-nen wir, auch nach Ihren wenigen Schönheitskorrekturen,so jedenfalls in keinem Fall zustimmen. Dieses Gesetz ge-fährdet eine Vielzahl mittelständischer Betriebe und da-mit auch Arbeitsplätze, schränkt die Therapievielfalt inDeutschland ein und nimmt kranken Menschen scho-nende, kostengünstige und alternative Behandlungsmög-lichkeiten.Wir haben die Chance, dass der Bundesrat, der diesemGesetz noch zustimmen muss, Einspruch erhebt. Ich binmir sicher, er wird das mit kritisch-konstruktiven Vor-schlägen tun.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Monika
Knoche.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!Zunächst einmal möchte ich auf Sie eingehen, Frau Kol-legin Widmann-Mauz. Ich glaube, es ist völlig unstrittig,dass man für eine qualitativ hochwertige Arzneimittelver-sorgung, für Innovation und Kontinuität, aber auch für dieMöglichkeit, in der Arzneimittelversorgung die pluralisti-sche Grundposition zu stärken, einen Mittelstandbraucht, der zu all dem beiträgt, und dass das immer imZusammenhang mit der Entwicklung des Gesundheits-verständnisses stehen muss. Aber ich habe sehr stark denEindruck gewonnen, Sie nehmen die Mittelstandspolitikzum Ausgangspunkt für Gesundheitspolitik. So kann esnicht sein.
Zu dem Arzneimittelgesetz, dessen 10. Novellewir hier diskutieren, möchte ich sagen, Frau Widmann-Mauz – wir kennen ja die Debatte –: Im Grunde ge-nommen sagen Sie nichts anderes aus, als dass alles sobleiben soll, wie es ist,
in dem Wissen, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist,weil es ganz einfach nicht europarechtskonform ist. Ichhalte es für ein sehr eigenwilliges Politikverständnis, sichdaran nicht halten zu wollen und die jetzige Regierungdeswegen zu kritisieren.
Im Übrigen ist Ihre Kritik ein bisschen ältlich odernicht ganz en vogue.
Denn Sie befassen sich nicht wirklich mit dem neuen Ge-halt dieser Novelle. Sie nehmen das eigentlich nicht gerne
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Annette Widmann-Mauz9695
zur Kenntnis, denn dann bleibt nicht viel von der Kritik,die Sie hier vorgebracht haben, übrig.Warum? Bei der Fülle von Arzneien, die im Nachzu-lassungsversagen
– im Nachzulassungsverfahren stecken, rufen Sie nach ei-ner raschen abschließenden Regelung und nach einemVerfahren. Dazu kommt es jetzt. Die Nachzulassung be-kommt Regeln, die die Herstellerfirmen erfüllen könnenund die vor allem geeignet sind, die Firmen untereinandergleichzustellen. Auch das gehört zu einer gerechten Mit-telstandspolitik.Die Europäische Kommission gibt bestimmte Stan-dards vor, verbindliche Regeln also, an die sich die Re-gierung in der Vorzeit mit Nonchalance nicht gehalten hat.Wir setzen nun Gemeinschaftsrecht um. Verständlicher-weise gilt unser spezielles Augenmerk den besonderenTherapierichtungen. Diese werden meines Erachtens indem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetz nicht dis-kriminiert. Schon gar nicht trifft der Vorwurf zu, Herstel-lergruppen würden marktbereinigend eliminiert. Das istUnsinn.Sinn aber macht, dass die Unsitte aufhört, dass man sotut, als könnte für die besonderen Therapierichtungen undihre Präparate allgemeines europäisches Recht nicht gel-ten, weil sie dieses nicht erfüllen könnten. Das ist falsch.Die Kommission hat ausdrücklich beanstandet, dass diegeforderte Verpflichtung zur Vorlage der Unterlagen zurUnbedenklichkeit und Wirksamkeit sowie der entspre-chenden Sachverständigengutachten nicht eingehaltenwird und dass die so genannte 2004-Regelung erlischt.Nach der jetzt vorgeschlagenen Regelung kann dasVerfahren auf Antrag wieder aufgegriffen werden. Insge-samt steht nunmehr fest: Die Nachzulassungsverfahrenwerden in einem überschaubaren Zeitraum zum Ab-schluss gebracht. Eine Straffung und Beschleunigung hierist richtig. Eine Sechsmonatsfrist für die Vorlage der Un-terlagen zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ist aus-reichend. Ich weiß auch wirklich nicht, was man gegendas Kriterium Unbedenklichkeit und Wirksamkeit einzu-wenden hat.Die Praxis einiger pharmazeutischer Unternehmen, einArzneimittel erst nach der Entscheidung einer Behördezulassungsreif zu machen, soll nicht mehr möglich sein.Wer die Sache kennt, weiß, dass dieses Interesse im Kerndahinter steht.Was bleibt also eigentlich von Ihrer Kritik? Die Zeit fürdie Beseitigung der Mängel ist ausreichend. Wir habensie auf zwölf Monate begrenzt. Damit ist den Einwen-dungen Rechnung getragen worden. Es gibt natürlich im-mer wieder den Versuch, Frau Widmann-Mauz, etwas Po-lemik hineinzubringen. Aber wir haben, weil Sie – zuRecht – das Interesse der besonderen Therapierichtungenhervorgehoben haben, das Beratungsverfahren ausdrück-lich so gestaltet, dass alle Anträge und Änderungsanträgevon Ihnen ausreichend beraten und diskutiert werden kön-nen. Jetzt haben Sie sich hier hingestellt und uns das zumVorwurf machen wollen.Sie müssen sich schon entscheiden, auf welche Art undWeise und mit welchem Ziel Sie die Regierung kritisierenwollen. An diesem Gesetz bleibt nicht viel zu kritteln. Daist die Rolle der Opposition schwierig; das gebe ich gernezu.
Aber nichtsdestotrotz ist der vorliegende Gesetzentwurfsehr gut gelungen.
Ein Argument noch: Wenn künftig die bereits in ande-ren EU-Staaten geleistete Bewertungsarbeit für die Nach-zulassung weitestgehend genutzt werden kann, dann sindwir in diesem Bereich, so meine ich, im europäischenHaus angekommen. Auch hier weiß ich nicht, was es da-ran zu kritisieren gibt.Verbraucherinformationen zu verharmlosen – HerrSchmidbauer hat es schon angesprochen – ist nach IhremVerständnis vielleicht möglich, nach meinem Verständnisals Grüne nicht. Diese machen auch vor alternativenVerfahren nicht Halt. In diesem Zusammenhang solltendie Information der Verbraucherinnen und Verbrauchersowie Qualitätskriterien eine Norm sein, die man nichtumgeht.
Noch eine Überlegung: Wie können wir durch die No-velle erreichen, langfristig auch im Pharmabereich einpluralistisches Therapieverständnis zu sichern? Diesbetrifft die Vergleichbarkeit der Kriterien. Die Monogra-phien sind nämlich geblieben. Auch an dieser Stelle alsogreift Ihre Kritik nicht so recht.Wichtig ist, dass durch die angepasste Novellierungdes AMG – auch betreffend die Bedingungen der beson-deren Therapierichtungen – europaweit klare und gefes-tigte Marktchancen vergrößert werden. Ich sehe nicht ein,warum, langfristig gesehen, ein Produkt, das in Deutsch-land besonders ausgeprägt be- und genutzt und der Berei-cherung sowie der Therapievielfalt im interkulturellenBereich dienen könnte, dadurch eine europaweiteMarktbenachteiligung behalten würde, dass wir es nichtden gleichen qualitativen Anforderungen unterstellen.Erst dadurch, dass wir dies tun, haben die Produkte der be-sonderen Therapierichtungen eine realistische Chance,sich auf dem europäischen Markt auszudehnen.Danke.
Für die F.D.P.-Frak-tion spricht der Kollege Detlef Parr.
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Monika Knoche9696
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Volksmund weiß: Reisen bildet. Wenn
der Kanzler reist, sowieso. Wenn er zu Pharmaunterneh-
men reist, führt der Bildungszuwachs gelegentlich auch
zu Änderungen von Gesetzentwürfen der Regierung. Das
ist zwar ungewöhnlich, aber dies ist auch gut.
Wir begrüßen die Streichung einer besonders negati-
ven Verschärfung der Nachzulassungsvorschriften, die
die F.D.P. bereits frühzeitig gefordert hatte. Nun haben die
Unternehmer wenigstens eine angemessene Frist, um
Mängel zu beseitigen. Andernfalls hätte es besonders für
viele kleine und mittelständische Betriebe, die zwar we-
nig Personal, aber viele gute Ideen haben, das Aus bedeu-
ten können. Mit ihnen wären mit Sicherheit viele Arznei-
mittel der besonderen Therapierichtungen hier vom Markt
verschwunden.
In diesem Punkt konnte also Schlimmes verhindert
werden, in anderen leider nicht. Dort blieb der wahre
Geist des vorgesehenen Gesetzes erhalten: Es soll in
Wahrheit vor allem der Marktbereinigung dienen, zumin-
dest aber drastisch verminderte Marktchancen bescheren.
Warum sonst, meine Damen und Herren von der Ko-
alition, wollen Sie Restriktionen beschließen, die weit
über das hinausgehen, was die EU gefordert hat? Warum
sonst wollen Sie bewährten Arzneimitteln, die seit vielen
Jahren auf dem Markt sind, den Stempel der Unseriosität
aufdrücken? Warum sonst wollen Sie den Firmen die
Konsequenzen einer unangemessen langen Bearbeitungs-
zeit beim Bundesinstitut anlasten? Das alles macht keinen
Sinn, wenn man sich die Forderungen der EU anschaut.
Es macht aber sehr wohl Sinn, wenn man sich die dirigis-
tische und in diesem Bereich wirtschaftsfeindliche
Grundhaltung der Bundesregierung ins Gedächtnis ruft.
Bei aller berechtigten Kritik an der immer noch großen
Zahl der nicht nach AMG zugelassenen Arzneimittel: Die
Schuld dafür darf nach Meinung der F.D.P. nicht einseitig
den Firmen angelastet werden.
Sie haben das Recht auf eine faire Chance. Auch unter den
neuen Rahmenbedingungen muss der Marktzugang mög-
lich sein. Wenn sich während der langen Liegezeit der An-
träge beim Bundesamt, die nicht selten mehrere Jahre be-
trägt, neue Erkenntnisse ergeben, muss die Möglichkeit
eingeräumt werden, darauf zu reagieren. So viel Flexibi-
lität ist wohl nicht zu viel verlangt. Sie ist ein Gebot des
fairen Umgangs mit den Unternehmen.
Arzneimittelvielfalt darf uns kein Graus sein. Manch-
mal hat man ja diesen Eindruck. Arzneimittelvielfalt ist
vielmehr ein Guthaben für die Gesundheit unserer Bürger.
Sie muss gepflegt werden und darf nicht auf kaltem Wege
beschnitten werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird aus unserer Sicht
leider genau das bewirken. Ich fürchte, dass gerade die be-
sonderen Therapierichtungen, auch wenn ich eingangs die
Verlängerung der Mängelbeseitigungsfrist gelobt habe,
stark betroffen sein werden. Der Ausweg über die Aner-
kennung als Gesundheitspflegemittel ist ein Holzweg,
Herr Kollege Schmidbauer.
Ich frage Sie: Was ist sinnvoll daran, wenn ein Medika-
ment nur deshalb keine Zulassung erhält, weil die Her-
stellerfirma personell nicht in der Lage ist, in kurzer Zeit
womöglich für mehrere Präparate gleichzeitig die gefor-
derten Nachweise beizubringen?
– Ich rede jetzt nicht von den großen Firmen, die die dafür
notwendigen Ressourcen vorhalten.
– Ich rede von den kleinen, oft auch sehr innovativen Be-
trieben, die wir fördern sollten, anstatt ihnen das Leben
unnötig schwer zu machen.
Es wird die Damen und Herren von der Koalition viel-
leicht überraschen, aber es gilt, auch dort die Arbeits-
plätze zu erhalten und vielleicht sogar welche zu schaffen.
Gesundheitspolitik, Frau Knoche, ist eben auch Wirt-
schaftspolitik.
Wir sollten uns darüber eigentlich einig sein. Meine Da-
men und Herren der SPD, wenn ich daran denke, wie Sie
den Bundestagswahlkampf geführt haben, wenn ich an Ihr
Plakat „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ denke, dann muss ich
feststellen: Das Ergebnis Ihrer Gesundheitspolitik ist Ar-
beitsverdichtung auf Kosten der Ärzte und Patienten, Ver-
lust von Tausenden von Arbeitsplätzen – in zunehmendem
Maße – und ein staatlich gedrosselter Gesundheitsmarkt.
Das, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit.
Ich gebe nunmehr
das Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Erst unter dem Druck eines Vertragsverlet-zungsverfahrens seitens der EU-Kommission und einerdrohenden Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ha-ben Regierung und Koalition einen Gesetzentwurf vorge-legt, in dem es erneut um die Nachzulassung von Arznei-mitteln geht. – Ich werde die Frage nicht stellen, ob wirdiese Debatte zu der 10. Novelle auch ohne diesen Druckgeführt hätten.
Nichtsdestotrotz ist grundsätzlich zu begrüßen, dassnunmehr auch für das Nachzulassungsverfahren dieVerpflichtung der Hersteller festgeschrieben wird, vonvornherein die notwendigen pharmakologischen und
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klinischen Prüfungsunterlagen sowie entsprechendeSachverständigengutachten einzureichen.Auch die mit der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetznoch einmal großzügig bis 2004 verlängerte Abver-kaufsfrist für noch nicht geprüfte Medikamente wird auf-gehoben. Allerdings wird jenen Unternehmen, die end-gültig auf eine Nachzulassung verzichten – man sollteeinmal die Frage stellen, warum sie darauf verzich-ten –, immer noch ein weiterer Abverkauf von zwei Jah-ren eingeräumt. Das zeigt, dass der Gesetzgeber bemühtwar, nicht nur den Forderungen der EU-KommissionRechnung zu tragen, sondern auch den heimischen Her-stellern deutliche Zugeständnisse zu machen.Während die Pharmaindustrie zunächst dennoch er-hebliche Bedenken vorbrachte, spricht sie jetzt vonüberwiegend sachgerechten Regelungen und davon, dassman sie insgesamt mittragen könne. Die Ursachen für die-sen Sinneswandel sind nicht schwer zu finden. Zu Beginndes Gesetzgebungsverfahrens ging die Bundesregierungnoch zwingend davon aus, dass zur Straffung der Zulas-sungen kürzere Fristen für die Einreichung der Unterla-gen und für die Beseitigung von Mängeln erforderlichsind. Die Zeitspannen sollten deshalb auf sechs Monateverkürzt werden. Auch die massiven Proteste der Indus-trie schienen die Regierung zunächst nicht zu beein-drucken.In der Sitzung des Gesundheitsausschusses, in der derGesetzentwurf eigentlich abschließend beraten werdensollte, präsentierten die Koalitionsparteien aber plötzlicheinen weiteren Änderungsantrag. Damit wurde dieMängelbeseitigungsfrist auf zwölf Monate angehoben.Zugleich wurde die zuständige Bundesbehörde verpflich-tet, in Zukunft anstelle von Mängelbescheiden vorrangigmit Auflagen verbundene Zulassungen zu erteilen. Natür-lich entsprechen beide Veränderungen vor allem den In-teressen der Industrie.Fazit: Auf dem Arzneimittelsektor herrschen die ge-wohnten Kräfteverhältnisse. Im Zweifel setzt sich diePharmaindustrie durch – wenn nötig, mit Hilfe des Bun-deskanzlers, wie auch in diesem Fall zu hören ist. Es zeigtsich, dass der Regierungswechsel selbst in diesem Detailkeinen Politikwechsel gebracht hat. Für die im Interesseder Menschen gebotene Handlungsfähigkeit des Staatesin Sachen Arzneimittelsicherheit ist dies allerdings keingutes Omen.Notwendig ist ein zügiger Abschluss der Nachzulas-sungsverfahren. Geringere Anforderungen an die behörd-liche Prüfung der Arzneimittel sind dabei nicht gerecht-fertigt.Lieber Kollege Parr, es ist ja richtig: Die Gesundheits-politik in diesem Land ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Da-gegen hat niemand etwas einzuwenden. Aber unsererMeinung nach muss der GesundheitsschutzVorrang vorden Herstellerinteressen haben.Aus den hier genannten Gründen – der Gesetzentwurfbeinhaltet zwar Fortschritte gegenüber dem alten Zu-stand, aber wir haben auch Kritik anzubringen – werdenwir uns bei der Abstimmung enthalten.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Arzneimittelgesetzes, Drucksachen 14/2292 und
14/3320. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit, also mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS, angenom-
men.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 14/3320, die Unterrichtung durch
die Bundesregierung auf Drucksache 14/2355 zur Kennt-
nis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela
Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der
Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums
– Drucksache 14/3005 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch für
diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus
ist einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für den
Antragsteller der Kollegin Maritta Böttcher von der PDS
das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrteDamen und Herren! Die Bundesregierung entpuppt sichzunehmend als eine Regierung der leeren Versprechen.Auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitikist die Koalition gerade dabei, gleich drei ambitionierteReformprojekte gegen die Wand zu fahren und damit eineJahrhundertchance zur Erneuerung unserer Hochschulenzu verspielen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Dr. Ruth Fuchs9698
Anfang des Jahres musste sich die Bundesbildungsmi-nisterin dem Druck eines Kanzlermachtwortes beugenund das Scheitern der versprochenen Strukturreform derAusbildungsförderung eingestehen. Auch bei der Reformder aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Perso-nalstruktur der Hochschulen ist die Regierung drauf unddran, nach der Devise zu verfahren: Reparaturreförmchenstatt Strukturreform.Schließlich zeichnet sich auch in der Studiengebühren-frage ein Bruch der rot-grünen Wahlversprechen ab. In Ih-rer Koalitionsvereinbarung haben Sie noch unmissver-ständlich angekündigt:Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einver-nehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln unddabei die Erhebung von Studiengebühren aus-schließen sowie die verfasste Studierendenschaft ab-sichern.Inzwischen ist beinahe die Hälfte der Legislaturperi-ode verstrichen, aber es ist keine Gesetzesinitiative derBundesregierung in Sicht. Ich erinnere daran, dass Sienoch vor zwei Jahren Ihre Zustimmung zur Novellierungdes HRG verweigerten, weil der vom Rüttgers-Ministe-rium vorgelegte Gesetzentwurf kein Studiengebührenver-bot enthielt. Damals, vor der Bundestagswahl, drohten Siezu Recht mit einer Verfassungsklage, weil der Bundesratübergangen worden ist. Heute, nach der Wahl, sehen Sieder schrittweisen Einführung von Studiengebühren in denLändern tatenlos zu. Das ist schon enttäuschend.Die Studentinnen und Studenten sind mit ihrer Geduldübrigens am Ende. Das Aktionsbündnis gegen Studien-gebühren hat bekanntermaßen 123 000 Unterschriftenfür ein gebührenfreies Studium ohne Wenn und Aber ge-sammelt. Doch die Bundesregierung stellt sich weitertaub, sodass die Studierenden ihren Forderungen im Junidieses Jahres mit bundesweiten Demonstrationen und Ak-tionen Nachdruck verleihen wollen.
– Hören Sie doch einmal zu, Herr Tauss.Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Sicherung der Ge-bührenfreiheit des Hochschulstudiums unterstützt diePDS-Fraktion im Bundestag den außerparlamenta-ri-schen Protest und fordert die Regierungskoalition auf, ihr1998 gegebenes Wahlversprechen endlich einzulösen.
Für die Sicherung der Gebührenfreiheit des Hoch-schulstudiums gibt es gute Gründe. Es ist geradezu gro-tesk: Zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Industrie-ländern bereits mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangseine Hochschulausbildung absolviert, wird in Deutsch-land, das gerade einmal eine Studentenquote von 30 Pro-zent aufweisen kann, über eine Verteuerung und Priva-tisierung des Studiums nachgedacht. Es kann doch nichtsein, dass wir als Antwort auf die in der Green Card-De-batte offen gelegte deutsche Bildungsmisere Studienge-bühren einführen und die Nachfrage nach einer qualifi-zierten Hochschulausbildung drosseln. Studiengebührensind sozial ungerecht und stellen die Chancengleichheit inBildung und Wissenschaft grundsätzlich in Frage.
Das neueste Argument der Studiengebührenbefürwor-ter, ohne Gebühren würde die Krankenschwester demArztsohn das Studium finanzieren, ist übrigens zynischund falsch; zynisch, weil es den erschwerten Hoch-schulzugang einkommensschwacher Schichten zum An-lass für weitere soziale Zugangsbarrieren nimmt, falsch,weil eine kürzlich vom DSWvorgelegte Studie den Nach-weis erbracht hat, dass Akademikerinnen und Akademi-ker nach ihrem Studium an den Staat weit mehr zurück-zahlen, als ihre Ausbildung gekostet hat.Zu einer gesetzlichen Sicherung der Gebührenfreiheitdes Hochschulstudiums gibt es keine Alternative. DerVersuch von Frau Ministerin Bulmahn, Studiengebührenüber einen Staatsvertrag mit den Ländern zu verhindern,ist gescheitert. Die Kultusminister diskutieren heute überein Studienkontenmodell, das nichts anderes als einenmodern verpackten Vorstoß zur Einführung von Stu-diengebühren darstellt. Studiengebühren gefährden dieGleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesge-biet substanziell. Zweifel an der verfassungsrechtlichenZulässigkeit eines Studiengebührenverbots halte ich da-her für absolut unbegründet.Um eine unterschiedliche Entwicklung der Hochschul-systeme der Länder in der zentralen Frage des Hoch-schulzugangs zu verhindern, brauchen wir eine verbindli-che Regelung im Hochschulrahmengesetz. Ich macheauch nachdrücklich auf den internationalen Pakt über diewirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf-merksam, mit dem sich die Bundesrepublik völkerrecht-lich dem Ziel der Unentgeltlichkeit des Hochschulunter-richts verschrieben hat.Mit den Worten „Bei mir rennen Sie offene Türen ein“hat die Ministerin Bulmahn die Unterschriften gegen Stu-diengebühren entgegengenommen.
Frau Ministerin, meine Damen und Herren, erlauben Sie,dass sich die PDS heute als Türöffnerin betätigt. Das seitJahren chronisch unterfinanzierte Hochschulsystem stehtvor einer Fülle von Problemen. Studiengebühren lösenkein einziges Problem, aber sie erzeugen neue.
Lassen Sie uns daher mit den Studentinnen und Stu-denten die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums unddamit eine zentrale sozialstaatliche Errungenschaft in die-sem Land verteidigen.
– Ja, notfalls mit Ihnen gemeinsam, Herr Hilsberg.
Für die SPD-Frak-tion spricht nun der Kollege Stephan Hilsberg.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Maritta Böttcher9699
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beliebtuns heute wieder einmal mit einem Gesetzentwurf zurbundesweiten Verhinderung von Studiengebühren dieEhre zu geben, damit wir in diesem Hohen Hause erneutüber Studiengebühren diskutieren. Das ist nicht neu, dashaben wir immer wieder einmal getan. Wir haben auf un-terschiedlichem Niveau diskutiert, aber auf einer so plat-ten Grundlage, wie der PDS-Gesetzentwurf sie darstellt,haben wir es noch nie getan.
Bevor ich hier zu unserer grundsätzlichen Haltung zuStudiengebühren komme, die übrigens bekannt ist und ander sich überhaupt nichts ändert
– ich gehe davon aus, dass wir hier einen weitestgehendenKonsens mit den Grünen und der CDU haben –, muss icheinen Einwand machen. Sie sind in einer Landesregierungbeteiligt und haben zu der Zeit, als Sie noch SED hießen,große Regierungserfahrung gesammelt. Man kann Ihnenvielleicht verzeihen, dass Sie nicht wissen, wie Regie-rungsgeschäfte in der Bildungspolitik in der Bundesrepu-blik laufen, es ist aber klar: Die Bildungspolitik gehört zuden kompliziertesten Geschäften, die es überhaupt gibt.Das von Ihnen verlangte Verbot von Studiengebührenist ohne die Länder überhaupt nicht zu machen.
Deshalb brauchen Sie den Konsens in dieser Sache.
Sie haben schon darauf hingewiesen, dass ein solchesStudiengebührenverbot nicht rechtskonfliktfrei ist. Siekönnen das nicht einfach veranlassen. Wir könnten dasnatürlich einfach beschließen, aber wer garantiert Ihnendann, dass das nicht anschließend beklagt wird? Genaudas ist doch die Situation.
Wenn Sie uns wirklich unterstützen wollten, indem Siesagen: „Macht das doch“, dann hätten Sie das machen sol-len, als wir noch die entsprechenden Mehrheiten im Bun-desrat hatten, da wäre es vielleicht noch machbar gewe-sen. Aber selbst damals wäre es ausgesprochen schwieriggewesen. Jetzt ist das nichts anderes als warme Luft.
Wir sind aus grundsätzlichen Erwägungen nach wievor gegen Studiengebühren. Ich will das in aller Deut-lichkeit betonen.
Es ist das falsche Signal. Wir brauchen mehr Studentenaus den sozial einfachen Schichten, aus den Schichten, dienicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wir dürfen dieHemmschwelle, die vor der Aufnahme eines Studiumsliegt, nicht anheben. Genau das würde aber passieren,wenn man Studiengebühren einführte.
Das war schon immer die Position der SPD.Nebenbei bemerkt: Ich wünsche wirklich gute Verrich-tung bei dem Versuch, mindestens 1 Million Studentenzusätzlich Studiengebühren aufzudrücken. Ich kann mirvorstellen, was das an Aufschrei und Protest geben wird.Den Versuch möchte ich lieber nicht unternehmen. Ichmöchte das auch aus rein machiavellistischen Überlegun-gen erst gar nicht erwägen.Manchmal fragt man sich allerdings, ob einige Länderan dieser Stelle wirklich wissen, worauf sie sich einlassen,wenn sie die Einführung von Studiengebühren fordern.Aber sie sind nicht die Einzigen.
Es ist nicht ganz einfach, unsere Position aufrechtzuer-halten, wenn beispielsweise die Hochschulrektorenkonfe-renz die Einführung von Studiengebühren, wie jüngst ge-schehen, verlangt.
– Sie sprechen das Wort „Niedersachsen“ aus, FrauPieper.
– Herr Rachel, wir können auch noch auf Herrn vonTrotha zu sprechen kommen.
Wir haben gegenwärtig unterschiedlichste Entwick-lungen. Ich will nicht verhehlen: In jeder Partei gibt esLeute, die den großen Auftritt lieben. Auch einer meinerVorgänger beispielsweise beliebte das zu tun.
Nun wollen wir die Debatte mit dem richtigen Ernst be-trachten.
Es gibt bei denjenigen, die die Einführung von Studien-gebühren immer wieder gefordert haben, entsprechendeArgumente. Es lohnt sich, sich mit diesen Argumentenauseinander zu setzen. Aber selbst wenn wir das tun, kom-men wir immer wieder zu der gleichen Auffassung, dassStudiengebühren das Falsche sind.
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Man sollte sich auch nicht von spekulativen „dpa“-Meldungen in Panik versetzen lassen.
– Herr Rachel, man sollte auch nicht auf spekulative„dpa“-Meldungen mit ebenso spekulativen „dpa“-Mel-dungen reagieren. Damit haben Sie überhaupt noch keinePolitik gemacht. Was Sie brauchen, ist der Konsens mitden Ländern. Das ist in der Tat völlig richtig.Was Sie brauchen, sind Länder, die sich darüber imKlaren sind, welcher Dominoeffekt in dem Moment ein-setzen würde, in dem ein einziges Land Studiengebühreneinführte. Schon deshalb müssen die Länder selber eingroßes Interesse daran haben, zu einer Verwaltungsver-einfachung hinsichtlich der entsprechenden Studienge-bühren zu kommen. Sie sind jetzt auch dabei und das istder richtige Weg. Dabei wurden auch Signale zur Verhin-derung von Studiengebühren gesetzt. Diese müssen vonden Ländern ausgehen, denn sie sind die wirklich Betrof-fenen. Ohne die Länder werden Sie das in keiner Weisehinbekommen.Es gibt noch ein paar Fragen, über die man sich ne-benbei unterhalten kann: Es wird ideologisch debattiert,und Verwaltungsgebühren werden beispielsweise mitStudiengebühren gleichgesetzt. Sie von der PDS tun dasübrigens auch.Das würde ich nicht machen. Lesen Sie sich Ihren Ge-setzentwurf durch.
Darin steht, dass davon gleichzeitig das Verbot von Ver-waltungsgebühren betroffen sei. Man soll nicht Äpfel mitBirnen gleichsetzen. Dies sind schon zwei unterschiedli-che Sachen.Ich will mich einmal in die Diskussion über die Studi-engebühren beispielsweise mit dem CHE einmischen. Esgibt dieses schöne Gutachten vom Deutschen Studen-tenwerk, das klar die Haltung widerlegt, in unserem Landwürden die armen Leute das Studium der Reichen finan-zieren. Dies ist einfach nicht wahr. Wenn Sie sich dieSteuerbilanz ansehen, stellen Sie fest, dass diejenigen, diedie Universität abgeschlossen haben, infolge des progres-siven Steuersatzes sehr viel mehr in die Steuerkasse zah-len als die armen Leute. Deswegen ist die in dem Gegen-gutachten enthaltene Antwort des CHE darauf schlichteine Frechheit, weil so getan wird, als würde sozusagendie Rendite verglichen werden. Dabei sind die Bürger dieentsprechenden materiellen Produkte, deren Rendite fürdie Bilanzierung entscheidend ist.
– Herr Präsident, möchten Sie eine Frage zulassen?
Ich war gerade abge-
lenkt, weil ich mit Freude gesehen habe, wie viele Kolle-
gen ihre Reden zu den nächsten Tagesordnungspunkten
zu Protokoll geben.
Frau Pieper, der Kollege Hilsberg gestattet eine Zwi-
schenfrage. Bitte, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsi-
dent. – Herr Hilsberg, es reizt mich jetzt doch, eine Frage
an Sie zu richten. Ich sehe, wie sehr sich der Kollege
Tauss darüber freut, dass ich Ihnen eine Frage stellen
möchte.
Herr Kollege Hilsberg, da Sie die Studie des Deutschen
Studentenwerkes zur Hochschulfinanzierung und zu den
Studiengebühren genannt haben, möchte ich Sie fragen,
ob Ihnen die Aussage Ihres Wissenschaftsministers aus
Niedersachsen, Herrn Oppermann, bekannt ist, die lautet:
Die Verkäuferinnen und Facharbeiter bezahlen mit ihren
Steuern das Medizinstudium des Arztsohns.
Diese Aussage ist mirbekannt. Darauf antworte ich mit dem Satz, den ich vorhinschon gesagt habe: Es gibt in jeder Partei Leute, die dengroßen Auftritt lieben; aber nicht jeder große Auftritt istrichtig und in sich logisch. Diese Aussage von HerrnOppermann ist schlicht falsch und widerspricht den Tat-sachen. So ist es nämlich nicht.
Dies wird man in aller Freundlichkeit einmal sagen kön-nen und dies sagen wir uns auch untereinander.Wir haben unterschiedliche Meinungen. Daran kannman feststellen, wie drängend das Problem inzwischendiskutiert wird. Die jetzige Arbeitsgruppe, die eingesetztwurde, um die Einführung von Studiengebühren bis zumErreichen eines ersten berufsqualifizierenden Abschlus-ses zu verhindern, ist vermutlich die letzte Chance, um dieEinführung von Studiengebühren in dieser Republikwirklich zu verhindern. Dies jedoch ist ein bildungspoli-tisches Gebot.
Ganz anders ist die Situation bei den privaten Hoch-schulen in unserem Lande, von denen ich mir mehr wün-sche. Etwas ganz anderes ist es auch mit den Studenten,die bereit sind, Studiengebühren zu zahlen, manchmal biszu einer Höhe von 3 000 bis 4 000 DM pro Semester.Wenn diese das gerne möchten, sollen sie es machen.Wenn wir Angebote haben, mit denen diese gut leben kön-nen, ist das nicht schlecht. Wenn wir mehr privates Kapi-tal bekommen, um in dieser Republik entsprechende Stu-diengänge anbieten und damit das Studienangebot berei-chern zu können, ist auch das nicht schlecht und belebtdas Geschäft. Aber natürlich kommt dadurch das gesamteHochschulsystem unter gewaltigen Reformdruck. Daraufreagieren wir auch.Beispielsweise setzen wir mit der Dienstrechtsreformdie Hochschulen in den Stand, sich selber mehr profilie-ren, ein besseres Angebot erarbeiten zu können, um an der
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Stephan Hilsberg9701
Spitze exzellenter Universitäten in dieser Republik stehensowie bei dem Ranking ganz vorne mitspielen zu können,damit bei uns eine wichtige Voraussetzung erfüllt bleibt,nämlich dass es nicht am Geldbeutel der Eltern liegendarf, ob jemand ein gutes Studium absolviert oder nicht.Dies muss in diesem Haus Konsens bleiben und dies wares bisher auch immer.
Gegen Wettbewerb ist überhaupt nichts einzuwenden.Wir brauchen den Wettbewerb. Wettbewerb schadet nicht,sondern nützt und muss von uns so organisiert werden,dass wir unseren Studenten auch in den nächsten Jahrenein studiengebührenfreies Studium garantieren können.Ich hoffe, dass Sie alle mit uns darin einig sind, dass wirdiesen Weg weitergehen, und Sie uns dabei unterstützen.Vielen Dank.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Rachel.
Sehr geehrter HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mal wiederfordert die PDS-Fraktion ein bundesweites Verbot vonStudiengebühren im Hochschulrahmengesetz. UnsereHaltung als Unionsfraktion ist klar: Über die Einführungvon Studiengebühren müssen nach der Aufgabenver-teilung des Grundgesetzes die Bundesländer entscheiden.Die Länder sind für die Grundfinanzierung der Hoch-schulen zuständig. Sie finanzieren die Hochschulen ausihren Länderhaushalten. Das Grundgesetz lässt eineMischfinanzierung nur beim Hochschulbau und dergemeinsamen Forschungsförderung zu. Der Bundesge-setzgeber hat also nicht das Recht, per Gesetz festzu-legen, ob Studiengebühren erhoben werden oder nicht.Entsprechend dieser Rechtsauffassung der CDU/CSUhaben wir schon im März 1998 den Antrag des SPD-do-minierten Bundesrats abgelehnt, ein Verbot von Studi-engebühren in das Hochschulrahmengesetz aufzuneh-men.
Wie schaut es nun aus? Vollmundig hatte die SPD imBundestagswahlkampf das klare Versprechen gegeben,in einem Bundesgesetz Studiengebühren auf Dauer zuverbieten. Was ist aus diesem hochschulpolitischen Ver-sprechen von SPD und Grünen geworden? Schauen Siesich einmal eine „dpa“-Meldung von heute an, – ich zi-tiere –:Als erstes SPD-geführtes Bundesland plant Nieder-sachsen die Einführung von Studiengebühren ab dem13. Semester.Ich finde, es ist ein Unding, wie Sie die Öffentlichkeittäuschen, obwohl Sie in Wirklichkeit die Einführung vonStudiengebühren vorbereitet haben.
Die Studiengebühren sollen nach der DeutschenPresse-Agentur in Niedersachsen nach den Vorstellun-gen des dortigen Wissenschaftsministers Oppermann be-reits ab dem Jahre 2001 erhoben werden; nach dieser Mel-dung wolle Oppermann mit Rücksicht auf die nordrhein-westfälischen Landtagswahlen am kommenden Sonntagseine Absicht erst nächste Woche veröffentlichen. Dasheißt, Sie verschweigen Ihre politischen Vorhaben vordem Wahltermin. Das ist eine Sauerei!
– Herr Tauss, das ist glatter Wahlbetrug. Sie haben imBundestagswahlkampf versprochen, ein Verbot von Stu-diengebühren im Hochschulrahmengesetz bundesweiteinzuführen. In Wirklichkeit machen Sie in Niedersach-sen genau das Gegenteil. Sie haben den Bundestagswahl-kampf perfide geführt. Die SPD hat sich die Zustimmungder Studierenden wissentlich durch Wahlbetrug erkauft.
Die Wählerinnen und Wähler sind getäuscht worden.Noch in der Koalitionsvereinbarung haben SPD undGrüne vertraglich zugesichert – ich zitiere aus der Koali-tionsvereinbarung –:Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Ein-vernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickelnund dabei die Erhebung von Studiengebühren aus-schließen ...In Wirklichkeit wird in Niedersachsen ab Montag dieEinführung von Studiengebühren vorbereitet. Was Siesich in Ihrer Regierungsverantwortung in Niedersachsenleisten, ist ein gigantischer Wahlbetrug.
Man muss sich vor Augen führen, dass die Bundesbil-dungsministerin, die wir heute hier vermissen – nochnicht einmal ein Vertreter des Ministeriums scheint heutedas Wort ergreifen zu wollen, um diese Blamage vor demParlament zu entschuldigen –,
Landesvorsitzende in Niedersachsen und damit in demLand ist, in dem gerade Studiengebühren ab dem 13. Se-mester eingeführt werden. Man kann nur sagen: Wissen-schaftsminister Oppermann fährt Schlitten mit FrauBulmahn und macht sie damit zur Witzfigur. Das ist lei-der auch in unserem Sinne nicht erfreulich.
Wie war denn Ihr eigener Anspruch? Frau Bulmahn hatin der Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt –ich zitiere –:Wir werden im Zusammenhang mit der Novellierungdes Hochschulrahmengesetzes darauf bestehen, dassein Verzicht auf die Einführung von Studiengebührenfestgeschrieben wird.
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Stephan Hilsberg9702
Die Realität Ihres Regierungshandelns ist genau dasGegenteil. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung ver-traglich besiegelt, dass Sie Studiengebühren ausschließenwollen. Das Gegenteil davon findet statt. Sie führen dieStudierenden an der Nase herum und das empfinden wirals Wählertäuschung. Auch die Studierenden werden dasso empfinden.Sie haben die Studierenden im Bundestagswahlkampf1998 getäuscht.
Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vertraglich mitStempel und Unterschriften von Joschka Fischer undGerhard Schröder ein Verbot von Studiengebühren ver-sprochen. In Wirklichkeit führen Sie sie in Niedersachsenein. Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Rot-Grün him-melweit auseinander.
Die Situation an den Hochschulen in Deutschland hatsich in den eineinhalb Jahren Ihrer Regierungszeit nichtverbessert. Ihre groß angekündigte BAföG-Reform mitSockelmodell ist am Veto des Kanzlers gescheitert. An-statt nun im bestehenden BAföG-System grundlegendeVerbesserungen für die Studierenden noch in diesem Jahrin Kraft zu setzen, wollen Sie die anstehende BAföG-Re-form auf Mitte 2001 verschieben. Die Studenten spüren,dass sie bei Ihnen leer ausgehen. Das kritisieren wir.
Die Diskussion über die Studiengebühren zeigt, woranIhre Bildungspolitik krankt. Eine sektorale Diskussionhilft uns nämlich nicht weiter. Die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion fordert Bundesbildungsministerin Bulmahnauf, endlich ein umfassendes Konzept der Bundesregie-rung zu einer Reform der gesamten Bildungsfinanzie-rung vorzulegen.
Die Grünen, Herr Tauss, haben sich jedenfalls von derSPD-Position zu den Studiengebühren verabschiedet.Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 18. April berichtete,haben die Grünen einen Kurswechsel vorgenommen. Ichverstehe, dass Sie dabei blass werden. So fordert der bil-dungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen,Matthias Berninger, Studiengebühren für jene Lang-zeitstudenten, die ihr Guthaben an Lehrveranstaltungen inder Regelstudienzeit bereits verbraucht haben. Damit ha-ben sich die Grünen auf das Gebührenmodell in Baden-Württemberg und des rheinland-pfälzischen Wissen-schaftsministers Zöllner zubewegt. Aber, wie verträgtsich das mit dem Wahlversprechen von Bündnis 90/DieGrünen zur Bundestagswahl im Jahre 1998, meine Damenund Herren? Wie verträgt sich das mit der Zusage im Ko-alitionsvertrag, ein Verbot von Studiengebühren in einemBundesgesetz durchzusetzen?
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier himmelweitauseinander.Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten sind das Par-lament und die Öffentlichkeit in einer derartigen Art undWeise nicht nur in Reden, in Bundestagswahlprogram-men und in Koalitionsvereinbarungen so getäuscht wor-den wie in diesem Falle. Rot-Grün hat die Studenten imBundestagswahlkampf 1998 belogen. Dafür werden Siein Nordrhein-Westfalen auch von den Studenten und de-ren Eltern die Quittung bekommen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Matthias
Berninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man indieser Woche CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalenhat reden hören, dann weiß man, an welcher StelleAnspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Das wer-den Sie am nächsten Sonntag zu spüren bekommen.Nun zum Thema Studiengebühren. Herr KollegeRachel, wir alle sind über folgende Zahlen besorgt – ichglaube, dass das die Fraktionen im Bundestag eint –: Von100 Kinder aus eher wohlhabenden Familien machen 84Abitur. 72 von diesen 100 Kindern besuchen nach demAbitur die Universität. Von 100 Kindern aus einkom-mensschwachen Familien machen 30 Abitur. Davon ge-hen ganze sieben Kinder an die Universität. Würde manab dem ersten Semester Studiengebühren einführen, hättedas die Konsequenz, dass man die sieben Kinder durchnull ersetzen könnte. Deswegen kämpft diese Koalitiondafür, dass es eine bundeseinheitliche Regelung gibt, diedie Erhebung von Studiengebühren ausschließt, damitdiese Menschen studieren können.
Daran gibt es nichts zu deuteln.Die entscheidende Frage haben Sie selbst angespro-chen, Herr Rachel. Sie haben den Koalitionsvertrag rich-tig zitiert. Es muss im Einvernehmen mit den Länderneine Regelung geben. Die ganze Diskussion, die wir heuteführen, hätte es nicht gegeben, wenn die CDU – der HerrRüttgers, der Herr Rachel – im März 1998 unserem An-sinnen zugestimmt hätte und wir im Rahmen der HRG-Reform eine einheitliche Regelung von Bund und Län-dern erreicht hätten.
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Thomas Rachel9703
Sie sind stolz darauf, dass diese Einigkeit nicht erzieltwurde. Das finde ich absurd.
– Der Kollege möchte mir eine Zwischenfrage stellen.Stehen Sie einfach auf. – Nein, okay.
Der entscheidende Punkt ist, dass die CDU stolz daraufist, einheitliche Regelungen nicht durchgesetzt zu haben,mit der Konsequenz, dass wir heute in dieser Situationsind.Ich bin aus zwei Gründen über einen gewissen Lan-despolitiker in Hannover, der meint, Studiengebühreneinführen zu müssen, ärgerlich: Der eine Grund ist, dassNiedersachsen ein Land ist, aus dem die Leute weglaufen,in dem sie nicht studieren. Viele Niedersachsen studierenin Hamburg, Bremen oder Berlin. Gleichzeitig spielt ersich als der bedeutendste Bildungspolitiker in Deutsch-land auf. Der andere Grund ist – das ärgert mich minde-stens genauso –, dass Herr Oppermann, genauso wieeinige CDU-Politiker, eine Einigung von Bund undLändern, die den jungen Menschen in DeutschlandPlanungssicherheit gibt, durch seine Manöver gefährdet.Dem müssen Bund und Länder einen Riegel vorschieben.Ich bin zuversichtlich, dass das auch gelingen kann. Daskann aber nur dann gelingen, wenn man bereit ist, Kom-promisse zu schließen. Diese Kompromisse können nichtso aussehen, wie sich das die Bildungspolitiker in Baden-Württemberg vorgestellt haben, und zwar nach demMotto: Ich lege irgendeine Semesterzahl fest, und werlänger als diese Semesterzahl studiert, zahlt Gebühren.Warum geht das nicht? Es geht deshalb nicht, weil dieLebenswirklichkeit der Studierenden nicht einheitlich ist.Es gibt Leute, die ein Teilzeitstudium machen. Es gibtLeute, die während ihres Studiums Kinder erziehen. Esgibt Leute, die zur Finanzierung ihres Studiums gezwun-gen sind zu jobben. Diese Vielfalt der Lebenswirklichkeitvon Studierenden an den Hochschulen muss man berück-sichtigen, wenn man einen Konsens zwischen den Län-dern sowie zwischen dem Bund und den Ländern herstel-len möchte.Ich halte den Vorschlag von Herrn Zöllner in der Tat fürsehr nachdenkenswert, nach dem jeder Mensch eine be-stimmte Zahl an Bildungsgutscheinen, also ein Bildungs-konto, erhalten soll, das er für ein Studium nutzen kann.Dieses Bildungskonto kann er für sein Erststudium ver-wenden oder er kann – wenn er schneller als die vorgege-bene Regelstudienzeit studiert – den auf dem Bildungs-konto verbliebenen Rest nutzen, um – wir haben ja ges-tern über Weiterbildung geredet – ein zweites Mal an dieHochschule zu gehen.Wir sagen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung.Dieses Recht wird mit Bildungskonten auch verwirklicht,und zwar in jedem Bundesland. Das Ziel einiger Bundes-länder, mit der Erhebung von Studiengebühren Studier-willige zur Aufnahme eines Studiums in einem anderenBundesland zu bewegen, trägt dagegen nicht zur Ver-wirklichung dieses Rechts bei. In Deutschland soll ein-heitlich gelten: Jeder junge Mensch hat für eine gewisseZeit ein Recht auf Bildung. Diese Zeit muss ausreichen,um ein Studium abzuschließen. Sie muss ausreichen, umein Studienfach zu wechseln. Sie muss ausreichen, um ei-nen Bachelor- und einen Master-Abschluss zu machen.Sie muss auch ausreichen, um das Studium mit einer Be-rufstätigkeit zu kombinieren, sei es, weil man ein Teil-zeitstudium macht, sei es, weil man zur Finanzierung desStudiums darauf angewiesen ist zu jobben. Hier einenKonsens zwischen CDU-regierten, PDS-mitregierten,rot-grün- und rot-regierten Ländern zu finden ist aus mei-ner Sicht die Herausforderung, vor der wir stehen.Vor diesem Hintergrund finde ich es selbstgefällig,wenn Sie, lieber Kollege Rachel, hier so tun, als sei dieLösung des Problems nur Sache der BildungsministerinBulmahn. Sie möchte genau wie wir die Gebührenfreiheitsicherstellen, und zwar in dem Rahmen, den ich geradebeschrieben habe. Darauf kommt es an; das wollen wir er-reichen. Wir wollen auf Dauer Planungssicherheit für diejungen Menschen schaffen.
Darüber hinaus werden wir im Rahmen der Reform derPersonalstruktur an den Hochschulen ohnehin die Ände-rung des Hochschulrahmengesetzes in Angriff nehmen.Dabei werden wir uns mit weiteren Fragen zu beschäfti-gen haben, etwa mit der Frage der Zuständigkeiten für dieBildungsfinanzierung. Sie wollen uns tatsächlich weis-machen, dass erst die CDU/CSU uns darüber die Diskus-sion aufgezwungen habe, obwohl Sie in diesem Bereichüber Jahre hinweg nichts getan haben. Das ist schlichtlächerlich. Die Fragen, ob wir lieber Köpfe finanzierenwollen oder ob wir die Mittel lieber in die Erhaltung derHochschulgebäude investieren wollen, ob wir die heutigeMischfinanzierung des Hochschulbaus überhaupt erhal-ten wollen oder ob wir ein neues System einführen wol-len, werden im Rahmen der Neuregelung des föderalenFinanzausgleiches zwischen Bund und Ländern zur Spra-che kommen.Ich bin dafür, dass man Köpfe finanziert und dass manden Ländern und den Hochschulen, die viele Studierendeausbilden, auch mehr Geld als denjenigen gibt, die dasnicht tun. Wer viel ausbildet, der muss belohnt werden.Diese Belohnung muss sich an der Zahl der ausgebildetenStudierenden orientieren.Wenn es uns gelingt, den Rechtsanspruch auf Bildungsicherzustellen und die Bildungsfinanzierung umzustel-len, dann bin ich sehr optimistisch, dass sich die Studien-situation in Deutschland verbessert. Aber Ihren kleinka-rierten und parteipolitisch motivierten Streit, den Sie hieranzetteln, können Sie sich für die Zukunft sparen.
Für die Fraktion derF.D.P. spricht die Kollegin Cornelia Pieper.
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Matthias Berninger9704
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage gleich in
der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der PDS: Wir
lehnen es ab, Gebührenfreiheit in einem Paragraphen des
Hochschulrahmengesetzes festzuschreiben und somit un-
eingeschränkt zu gewährleisten.
Es kommt noch hinzu, dass die Gebührenfreiheit auch
für die Langzeitstudierenden gelten soll. Dazu sage ich
ganz deutlich: Das entspricht überhaupt nicht unserem
Ideal von dem jungen Menschen in dieser Gesellschaft.
Die jungen Menschen in unserer Gesellschaft streben
nicht als erstes Ziel ein Langzeitstudium an, um dann –
nach einer Tätigkeit als Fahrradbeauftragter – in den Ge-
nuss einer Staatspension zu kommen. Wer glaubt, dass
junge Menschen das wollen, der ist ein bisschen welt-
fremd. Wir wollen jedenfalls nicht die Langzeitstudieren-
den durch Studiengebührenfreiheit fördern.
Ich kann auch nicht feststellen, dass die Studienge-
bührenfreiheit zur Steigerung der Attraktivität des Hoch-
schulstandortes Deutschland beigetragen hätte. Das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen. Von daher brauchen
wir in der Diskussion ganz neue Ansätze.
Ich fand gut, dass Herr Berninger hier ein Modell vor-
getragen hat, das die F.D.P. schon vor drei Jahren be-
schlossen hat, nämlich über Bildungsgutscheine – so
heißt bei uns das, was bei Ihnen Bildungskonten genannt
wird – in die Köpfe zu investieren. Man gibt den jungen
Menschen Gutscheine für einen Rechtsanspruch auf ein
Studium. Mit den entsprechenden Wertpapieren darf man
bestimmte Veranstaltungen an Hochschulen besuchen.
Das soll bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss
gelten. Daraus ergibt sich unsere klare Antwort auf die
Frage der Studiengebühren: Natürlich steht die F.D.P.
weiterhin für Chancengleichheit aller jungen Menschen
beim Start ins Berufsleben;
deswegen wollen wir keine Studiengebühren für den ers-
ten Teil der akademischen Ausbildung, also für den Teil
bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss.
Wenn Sie Chancengleichheit tatsächlich wollen, dann
lassen Sie mich mit Blick auf die Regierungsbank, Herr
Catenhusen, sagen: Wenn Sie das Studium nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängig machen wollen, dann
stimmen Sie doch unserer BAföG-Reform, dem Dreikör-
bemodell, zu. Danach soll jedem Studierenden in
Deutschland ein Ausbildungsgeld in Höhe von 500 DM
ausgezahlt werden. Mit dieser Maßnahme kann man et-
was für die Chancengleichheit insbesondere von jungen
Menschen aus einkommensschwachen Elternhäusern tun.
Ich will daran erinnern – auch Herr Hilsberg hat es ge-
sagt –, dass es in Deutschland insgesamt 75 Privathoch-
schulen mit circa 40 000 Studierenden gibt. Wenn man
sich die Qualität der Privathochschulen anschaut, dann
kann man feststellen, dass sie wie ein Magnet auf die jun-
gen Menschen wirken. Es ist nicht so, dass diese Hoch-
schulen Probleme damit haben, Studierende zu bekom-
men – ganz im Gegenteil. Ich selber war an den Privat-
universitäten in Witten-Herdecke und in Leipzig, der äl-
testen Handelshochschule. Ich habe feststellen dürfen,
dass sich die Studienbewerber um die Studienplätze
reißen. In Leipzig kommen auf einen Studienplatz 20 Be-
werber, obwohl das Studium dort nicht gerade billig ist.
Wir sollten den Hochschulen in Deutschland kein allzu
enges Korsett aufzwingen. Unser Kredo war immer: mehr
Autonomie und Wettbewerb der Hochschulen. Dabei wol-
len wir bleiben. Von daher sage ich ganz klar: Wir wollen
kein Verbot über ein Bundesgesetz. Das wäre rechtlich so-
wieso nicht machbar; Herr Rachel hat das hervorragend
ausgeführt.
Ich will daran erinnern, dass wir in europäischen Di-
mensionen leben. Demnächst wird die EU-Osterweite-
rung stattfinden und Polen, Tschechien und Ungarn wer-
den der EU beitreten. Ich hatte in dieser Woche ein Ge-
spräch mit dem Marketingbeauftragten der privaten
Fachhochschule für Verwaltung und Finanzen in Breslau.
Er hat mir erzählt, wie es dort funktioniert: Die polnischen
Studenten zahlen monatlich eine Studiengebühr von
200 DM bis 400 DM. An dieser Hochschule studieren
8 000 Studenten. Das Durchschnittsgehalt in Polen be-
trägt 800 DM.
Das Aufkommen der Studenten halte ich für eine
enorme Leistung. Damit will ich nur deutlich machen,
dass der Wettbewerb zwischen den Hochschulen nicht nur
in Deutschland, sondern auch international stattfindet.
Wir sollten alles daransetzen, den Hochschulstandort
Deutschland zu stärken.
Kurz gesagt, für mich ist wichtig, wie lange und bis zu
welchem Abschluss die staatliche Finanzierung des Stu-
diums gewährleistet werden soll. Wir haben die Diskus-
sion über die künftige Studienstruktur noch nicht abge-
schlossen. Das Koalitionsversprechen, die Erhebung von
Studiengebühren auszuschließen, wird auch von Frau
Bulmahn Schritt für Schritt umgedeutet. Von der Formu-
lierung, Studiengebühren im ersten Studium werde man
ausschließen, ist man inzwischen zur Formulierung ge-
kommen, Ziel sei es, Studiengebühren bis zu einem be-
rufsqualifizierenden Abschluss auszuschließen. Hierin
sehen wir eine gewisse Annäherung der Positionen.
Vielen Dank.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3005 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9705
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten GudrunKopp, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe– Drucksache 14/3107 –Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die KolleginGudrun Kopp.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Modellprojekt „Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in
Ostwestfalen-Lippe“ ist ein Modellprojekt, das ich schon
seit über einem Jahr intensiv und akribisch verfolge und
umzusetzen versuche. Ich wünsche mir dafür sehr viel
mehr Aufmerksamkeit,
auch aus den Reihen dieses Gremiums.
Bundeslandwirtschaftsminister Funke hat – das richte
ich an die Adresse der SPD-Abgeordneten – diesem Vor-
schlag zur Innovation der direkten Vernetzung von Land-
wirtschaft und Wirtschaft sein Plazet gegeben. Er wird
dies fördern. Das begrüße ich ausdrücklich, denn dies ist
gleichzusetzen mit der Förderung einer Existenzgrün-
dung, mit einer Innovationsförderung und mit einer An-
schubfinanzierung, die notwendig und sinnvoll ist. Für
die F.D.P.-Fraktion danke ich dem Landwirtschaftsminis-
ter ganz herzlich dafür.
Wofür der Heil- und Gewürzpflanzenanbau – eine
Säule der Landwirtschaft – genutzt werden kann, möchte
ich Ihnen kurz darlegen: Dieser Pflanzenanbau soll zur
Herstellung von homöopathischen Arzneimitteln, von
Biokosmetika, von Extrakten bzw. Naturheilmitteln so-
wie von alternativen Dämmstoffen für die Bauwirtschaft
dienen. Nun wissen wir, dass circa 90 Prozent aller auf
dem deutschen Markt benötigten Heil- und Gewürzpflan-
zen aus dem Ausland importiert werden, beispielsweise
aus Südamerika, aus Indien und aus Osteuropa.
Diese Abnahme erfolgt zu Weltmarktpreisen. Es stellt sich
natürlich die Frage, wie wir uns dem in Deutschland mit
den 10 Prozent, die hier angepflanzt werden – dieses Mo-
dellprojekt soll ja ein positives Beispiel auch für andere
Regionen geben –, stellen können. Womit haben wir eine
Chance? – Nur mit Topqualität am heimischen Standort;
denn die importierten Rohstoffe – das wissen wir alle –
sind häufig verschmutzt bzw. sogar belastet.
Die Anschubfinanzierung soll in erster Linie eine fach-
liche Betreuung dieses Projektes vom ersten Tag an ge-
währleisten – Professionalität ist gefragt – sowie eine In-
vestition in Maschinen bzw. Anlagen, um dieses Projekt
auf die Schiene zu bringen und die Projektphase mög-
lichst erfolgreich zu beenden. Am Projekt in der Region
arbeiten auch Hochschulen mit, die bei diesem speziellen
Projekt im Augenblick mit der Erzeugergemeinschaft, die
noch zu gründen ist, und mit den Vertragspartnern auf der
anderen Seite nach neuen Wegen der Extraktgewinnung
suchen. Also auch technologisch soll es Fortschritte ge-
ben.
Ich bin heute hier die Einzige, die zu diesem Tagesord-
nungspunkt redet. Das mag zeigen, wie wenig wichtig die
Fraktionen dieses Thema nehmen. Gleichwohl wünsche
ich mir die Unterstützung von Ihnen allen. Ich wünsche
mir auch, dass Sie sich diesem Thema ein wenig positiver
nähern und auch den innovativen Aspekt entsprechend
würdigen. Ich sage es noch einmal: Hier geht die Land-
wirtschaft neue Wege, wobei sie sich marktwirtschaftli-
chen Gegebenheiten stellt. Damit kann sie sich – das ist
unser Anliegen – ein Stück weit von der bisherigen EU-
Subventionspraxis entfernen und Eigenständigkeit ge-
winnen. Das ist etwas, was man nicht hoch genug anrech-
nen kann. Ich bitte Sie also herzlich um Unterstützung
dieses Antrages der F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank.
Die KollegenMeinolf Michels, Marianne Klappert, Kersten Naumann,Helmut Heiderich, Steffi Lemke und der Parlamentari-sche Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten Dr. Gerald Thalheim gebenihre Reden zu Protokoll.*) Ich kann deshalb die Ausspra-che schließen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3107 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damiteinverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt3 auf:20. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUZulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na-tionaler und EU-Ebene beschleunigen– Drucksache 14/3096 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten MaritaSehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der F.D.P.Wettbewerbsnachteile durch unterschiedlicheZulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln inEuropa zügig abbauen– Drucksache 14/3298 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Vizepräsident Rudolf Seiters9706
*) Anlage 3Die Kollegen Albert Deß, Gustav Herzog, MaritaSehn, Kersten Naumann und Ulrike Höfken geben ihreReden zu Protokoll. **)Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließedamit die Aussprache, die nicht stattgefunden hat.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/3096 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage aufDrucksache 14/3298 soll an dieselben Ausschüsse und zu-sätzlich an den Ausschuss für Gesundheit überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle StundeHaltung der Bundesregierung zu Veröffent-lichungen, wonach Bundesfinanzminister Eicheleine Erhöhung derMehrwertsteuer im nächstenJahr plantDiese Aktuelle Stunde ist von der Fraktion der PDS be-antragt worden.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol-legin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche infor-mierte das „Handelsblatt“ die interessierte Öffentlichkeitüber die Pläne des Bundesfinanzministers zur Reform derRentenbesteuerung. Besonderes Interesse fand dabeinatürlich die Frage der Finanzierung. Man scheint im Fi-nanzministerium bereits fündig geworden zu sein; die Lö-sung lautet: Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dies wurdenatürlich umgehend dementiert, da der Zeitpunkt der Ver-öffentlichung für Rot-Grün unmittelbar vor den Land-tagswahlen in Nordrhein-Westfalen extrem ungünstigwar. Als Oppositionspolitikerin musste ich in den letztenJahren jedoch wiederholt die Erfahrung machen, dassüber politische Vorhaben und ihre konkrete Umsetzungzuerst, gut und detailliert aus der Zeitung, unter anderemaus dem „Handelsblatt“, Kenntnis zu beziehen war.Ausgangspunkt der heutigen Aktuellen Stunde ist einerot-grüne Politik, die in trauriger Kontinuität zu der vonSchwarz-Gelb steht. Bereits vor 20 Jahren, im Jahre 1980,forderten die Verfassungsrichter den Gesetzgeber auf, füreine gleichmäßige Besteuerung aller Alterseinkünfte zusorgen. Aber nicht eine einzige Regierung hat sich seit-dem an die grundsätzliche Lösung dieses Problems ge-wagt. Über die Besteuerung der Alterseinkünfte zu redenheißt nämlich, darüber zu sprechen, ob es innerhalb derBevölkerung zwischen Männern und Frauen, zwischenverschiedenen Berufsgruppen, zwischen Arbeitnehmernund Arbeitnehmerinnen und Beamten sowie Unterneh-mern überhaupt annähernd gleiche Chancen zur Erlan-gung von Alterseinkünften gibt.Die PDS hat heute diese Aktuelle Stunde nach bittererErfahrung in der letzten Legislaturperiode beantragt. ZurErinnerung: Die letzte Mehrwertsteuererhöhung 1997wurde in einer großen Koalition von Rot-Schwarz durch-gesetzt. Sie war politisch in der Bevölkerung nur durch-zudrücken, indem man sie an die Rentendiskussion kop-pelte. Nun steht zu befürchten, dass Sie trotz aller De-mentis vonseiten der SPD und aller Kritik vonseiten derCDU/CSU bei Ihren Rentenkonsensgesprächen, von de-nen Sie ja die PDS ausschließen, genau in diese Richtungmarschieren werden.
Auch beim Thema Reform der Rentenbesteuerunggeht es wieder um die Frage der sozialen Gerechtigkeit.Der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, die vorallem eine starke Entlastung von gut verdienenden Ar-beitnehmern und Arbeitnehmerinnen beinhalten wird, istnotwendig. Dagegen ist auch überhaupt nichts zu sagen.Skandalös ist aber die beabsichtigte Finanzierung durcheine Erhöhung der Mehrwertsteuer, denn damit werdenvor allem Menschen mit geringem Einkommen wie So-zialhilfeberechtigte, Studenten und Studentinnen, Ar-beitslose, Rentner und Rentnerinnen besonders belastet.Das sind die Gruppen in der Bevölkerung, die fast ihr ge-samtes Einkommen für ihren Konsum ausgeben müssen.Das haben wir bisher im Bundestag nicht mitgetragen unddas wird die Partei der Demokratischen Sozialistinnenund Sozialisten auch zukünftig nicht mittragen.
Ebenso wenig tragen wir die Überlegungen von Bünd-nis 90/Die Grünen mit, eine erhöhte Ökosteuer als Finan-zierungsquelle anzuzapfen; denn dies ist genauso unso-zial. Nebenbei bemerkt: Auf diese Art und Weise verab-schieden Sie sich von Ihrer eigenen Logik, nämlich Arbeitzu verbilligen und Umwelt zu verteuern. Die PDS hatdiese Logik von Anfang an vehement kritisiert, da sie we-der politisch noch ökonomisch stichhaltig ist. Noch unlo-gischer ist es aber, nun zu überlegen, die Ökosteuer für dieEntlastung einer ausgewählten Gruppe von Erwerbstäti-gen zu erhöhen.Es ist nicht gerecht, über die Erhöhung der indirektenBesteuerung nachzudenken, wenn Sie gleichzeitig in dernächsten Woche eine Unternehmensteuerreform verab-schieden werden, mit der Sie wieder massive Steuerge-schenke insbesondere an große Unternehmen verteilen,
ohne sicherzustellen, dass durch diese enormen Steuer-entlastungen tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen werden,und ohne zu wissen, wie die mit der Steuerreform ver-bundenen Einnahmeausfälle gegenfinanziert werden sol-len. Das blinde Vertrauen auf Selbstfinanzierungseffektehaben Sie noch in der Opposition an der damaligen Re-gierung immer harsch kritisiert.Die notwendige Diskussion über die Besteuerung derAltersvorsorge kann nur im Rahmen einer tatsächlichenRentenreform umfassend stattfinden. Die unterschiedli-chen Voraussetzungen zur Erlangung einer Altersvorsorgehaben auch im Steuerrecht ständig zu Verzerrungen ge-führt; Ungerechtigkeiten wurden noch verschärft.
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Vizepräsident Rudolf Seiters9707
**) Anlage 4Ein Beispiel sind die Freibeträge von Vorsorgeaufwen-dungen! Während ein Arbeitnehmer diese mit seinenPflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung be-reits aufzehrt, stehen einem Beamten die gesamten Frei-beträge zur Verfügung, um steuerlich entlastet seine zu-sätzliche private Vorsorge zu treffen. Hier wird ganz deut-lich: Eine Steuerreform allein reicht nicht aus, umumfassend soziale Gerechtigkeit herzustellen. Genausowichtig wie die angemahnte Gleichbesteuerung aller Al-terseinkünfte ist die Chancengleichheit zu ihrer Erlan-gung.Es ist immer noch so, dass ein nicht unerheblicher Teilder Menschen in der Bundesrepublik keine eigenen Ren-tenansprüche erwirbt. Zur Frage der Steuerfreistellungder Altersvorsorge werden wir noch über viele Problemediskutieren müssen, um wenigstens etwas mehr sozialeGerechtigkeit herzustellen. Eine Hauptaufgabe für diePDS wird es sein, für eine allgemeine Rentenversiche-rungspflicht und eine menschenwürdige Grundsicherungim Alter für alle Menschen zu kämpfen.
Mit uns ist keine Finanzierung der Reform der Renten-besteuerung über eine Mehrwertsteuererhöhung durchzu-setzen. Wir raten Ihnen vielmehr: Holen Sie das benötigteGeld da, wo es vorhanden ist! Verzichten Sie bei den sehrhoch Vermögenden nicht auf diese Einnahmequelle!Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister
der Finanzen, Dr. Barbara Hendricks.
D
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich wende mich an Sie, Frau Kollegin
Höll, und an die Fraktion der PDS, aber auch vorsorglich
im Hinblick auf die zu erwartende Debatte an die übrigen
Oppositionsfraktionen und erkläre hier für die Bundesre-
gierung: Es gibt keine Pläne der Bundesregierung zur Er-
höhung der Mehrwertsteuer.
Es gibt auch im Bundesfinanzministerium keine Ge-
spräche über solche eventuellen Pläne. Es gibt auch keine
Vorlagen von Beamten an die Leitung des Hauses, die sol-
che Vorschläge beinhalten würden.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns bald
ins Wochenende fahren zu lassen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Otto Bernhardt.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wenn doch die Weltnur so einfach wäre, Frau Staatssekretärin!Ich will zunächst einmal feststellen, dass zwar nachaußen die Unterschiede zwischen den großen Volkspar-teien immer weniger sichtbar werden, dass aber doch gra-vierende Unterschiede bestehen. Gerade bei dem Thema,um das es in dieser Aktuellen Stunde geht, kann man dasdahin gehend verdeutlichen: Wir von den Unionsparteienwollen weniger Staat als die Sozialdemokraten. Das heißtin der Konsequenz: Wir sind die Partei der Steuersenker,und Sie sind die Partei der Steuererhöher.
– Mich überrascht nicht, dass Sie dies energisch zurück-weisen. Nur: Die Fakten – und ich werde Ihnen ein paarZahlen nennen – unterstreichen, dass die, die lachen, dieZahlen nicht kennen.
Meine Damen und Herren, es kommt nicht darauf an,wie der eine oder andere Steuersatz ist. Entscheidend istdie Staatsquote insgesamt. Das wird Ihnen jeder Natio-nalökonom sagen, auch wenn es nicht jeder begreift.
– Einen Weltrekord haben Sie aufgestellt.Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen:
In den 70er-Jahren war die Staatsquote in Deutschlandimmer unter 40 Prozent. Unter sozialdemokratischen Re-gierungen – die Staatssekretärin wird die Zahlen bestäti-gen, weil sie aus ihrem Hause kommen – hatte sich dieStaatsquote in Deutschland auf über 50 Prozent erhöht, alswir 1982 die Verantwortung übernahmen. Dann ist es uni-onsgeführten Regierungen gelungen – hier ist insbeson-dere der Name Gerhard Stoltenberg zu nennen –, dieStaatsquote auf 46 Prozent zurückzufahren.
Im Rahmen der Wiedervereinigung ist die Staatsquotedann allerdings wieder auf etwa 50 Prozent gestiegen,
aber seit 1996 rückläufig. Im letzten Jahr der RegierungKohl betrug die Staatsquote – nach den Veröffentlichun-gen des Finanzministeriums – 48,3 Prozent.
Und siehe da: Im ersten Jahr der Regierung Schröder istsie wieder auf 49 Prozent gestiegen.
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Dr. Barbara Höll9708
Sie sind die Steuererhöhungspartei.
Ich nenne Ihnen auch gerne die anderen Zahlen.
Nehmen wir die Zusammenfassung der Steuer- und Ab-gabenquote. Die Zahlen sehen ähnlich aus. Deshalb kriti-siert – schauen Sie einmal ins „Handelsblatt“ – der Präsi-dent des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,Hans-Olaf Henkel, heute zu Recht, dass im letzten Jahrerstmalig seit längerer Zeit die Steuer- und Abgabenquotewieder gestiegen ist. Das sind die Fakten.Vor dem Hintergrund der diskutierten Mehrwertsteuer-erhöhung geht es nun um – die Kollegin Dr. Höll hat da-rauf hingewiesen – das sich abzeichnende Urteil des Bun-desverfassungsgerichts. Alles spricht dafür, dass das Ur-teil wohl in die Richtung geht, dass die Alterseinkünftegleichmäßig zu versteuern sind. Im Gegenzug wird es si-cher dazu führen, dass die Beiträge, die wir aufbringen,steuerfrei sind. Nun wissen wir noch nicht,
wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wirwissen auch noch nicht – das ist ein ganz wichtiger Punktfür die Größenordnung –, wie die Übergangsfristen aus-sehen werden. Nur wenn es zu ganz kurzen Übergangs-fristen kommt, könnte es zu Steuerausfällen in einerGrößenordnung von 40 Milliarden DM führen.Es kann natürlich nicht überraschen – auch wenn Sie esdementieren –, dass man, wenn solche Größenordnungenim Raum stehen, natürlich auf die Mehrwertsteuer undvielleicht auf die Ökosteuer guckt, weil das Steuern sind,die zunächst einmal den Vorteil haben: Sie bringen wirk-lich viel Geld; 1 Prozent Mehrwertsteuer, 16 Milliar-den DM. Aber bei beiden Steuern, bei Ökosteuer undMehrwertsteuer, besteht natürlich – wie Sie richtig gesagthaben, Frau Kollegin Dr. Höll – das Problem: Sie treffenjeden, unabhängig von der Leistungsfähigkeit.Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich als Mit-glied einer Steuersenkungspartei:
Wir werden weder einer direkten noch einer indirektenSteuererhöhung zustimmen. Denn Steuererhöhungenschaden der Konjunktur und damit den Arbeitsplätzen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Kristin
Heyne.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Also führen wirhier zu später wochenendlicher Stunde noch ein kleinesSchattengefecht.Frau Höll, wenn Sie in die Presse geguckt haben, dannkonnten Sie natürlich auch da schon sehen – wie es dieStaatssekretärin gesagt hat –: Es ist weder eine Erhöhungder Mehrwertsteuer geplant noch eine Erhöhung der Öko-steuer. Wir haben ganz klar gesagt: Was wir in dieser Le-gislaturperiode über die Ökosteuer einnehmen, werdenwir über die Lohnnebenkosten vollständig wieder ausge-ben. Das tun wir auch und das wissen Sie.Der Zweck der Debatte ist, Verunsicherung zu schüren.Ich finde, dass es besonders der PDS als Partei, die sozialeVerantwortung suggeriert, relativ schlecht ansteht, geradebei den Menschen mit geringem Einkommen Unsi-cherheit zu schüren. Dafür sollte Ihnen eine AktuelleStunde eigentlich zu schade sein.
Worum es geht und worüber wir wirklich in einenWettbewerb eintreten sollten, ist die Reform der Renten-versicherung, der Altersvorsorge. Hier besteht großer Be-darf, dass wir auf lange Sicht Strukturen schaffen, die ge-recht sind, sowohl für die Älteren als auch für die Jungen.Da wird es notwendig sein, dass wir nicht nur den Pflicht-versicherungsbereich haben, sondern auch den Bereichbetrieblicher Altersvorsorge und privater Vorsorge stär-ken. Das wird möglich sein, gerade deswegen, weil wirdeutlich entlasten, nicht zuletzt mit der Steuerreform, diewir in der nächsten Woche hier beschließen werden. Da-mit – das wissen Sie genau, Frau Höll – werden die Fa-milien, die kleinen und mittleren Unternehmen in großemMaße entlastet. Auch der Kollege von der CDU/CSUweiß das natürlich.Wenn wir Anreize für die private Vorsorge schaffenwollen, müssen wir uns auch mit dem Thema Besteuerungder Renten beschäftigen. Es macht Sinn, hier zu Verände-rungen zu kommen, damit es Geld für die private Vor-sorge gibt.Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, der dafürspricht, die Besteuerung von Alterseinkünften zu ändern.Denn gerade wenn jemand ins Erwerbsleben eintritt,braucht er viel Geld. Da lässt man sich nieder, gründetmöglicherweise sogar eine Firma, gründet vielleicht eineFamilie. Zu diesem Zeitpunkt ist es gut, wenn die Alters-vorsorge steuerfrei gestellt ist. Später, wenn man ein gutesAlterseinkommen erreicht hat und von den familiärenund beruflichen Belastungen befreit ist, kann eine Steuergezahlt werden. Deswegen ist eine solche Umstellungsinnvoll. Ich freue mich, wenn wir da einer Meinung sindund in den Rentengesprächen vielleicht zu einer Einigungkommen können.
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Otto Bernhardt9709
Sie haben zu Recht gesagt, wenn man das von heuteauf morgen machen würde, würde das etwa 40 Milliar-den DM kosten, weil für die heute Erwerbstätigen dieSteuer wegfiele. Aber die, die heute eine Rente erhalten –das muss man ganz deutlich sagen –, werden auch nichtplötzlich besteuert. Sie haben ihr Einkommen schon ver-steuert, als sie eingezahlt haben. Das hieße, es würde einesehr große Diskrepanz bei den Steuereinnahmen entste-hen. Deswegen werden wir die Steuerfreibeträge allmäh-lich ansteigen lassen. Es wird bei der Besteuerung derRenten einen ganz langsamen, der tatsächlich gezahltenSteuer entsprechenden Übergang geben. Es ist wichtig,das hier noch einmal zu sagen.Ich will aber auch ganz klar sagen: Es ist uns gelungen,in die Konsolidierung des Haushalts einzusteigen. Wirsetzen das bei dem neuen Haushalt fort. Es ist uns gelun-gen, die Belastung vor allem der kleinen und mittlerenEinkommen zu senken. Deswegen sind wir der Meinung,dass wir den allmählichen Übergang zur Rentenbesteue-rung finanziell leisten können und dass wir dafür keinezusätzlichen Steuereinnahmen benötigen. Wir haben beiunserer jetzigen Steuerreform den Grundsatz, alles ausdem Bestehenden zu finanzieren. Wir haben ganz klar ge-sagt, dass es keine Verbrauchssteuererhöhung zur Sen-kung der anderen Steuern geben wird. Dabei werden wirbleiben. Das gilt für die gesamte Legislaturperiode. Da-rauf können Sie sich verlassen.
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht der Kollege Dr. Otto Solms.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde essehr erfreulich, dass nun auch im Finanzministerium dieErkenntnis gewachsen ist, dass man eine Rentenreformnicht ohne eine enge Verzahnung mit der Steuerpolitikdurchführen kann. Es ist völlig unausweichlich – das wis-sen alle, die sich mit dieser Frage befassen –, dass wir zumehr privater Altersvorsorge kommen, und deshalb klar,dass wir bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbst-ständigen finanziellen Spielraum schaffen müssen, damitsie diese zusätzlichen Anstrengungen für die Altersvor-sorge leisten können.Deswegen müssen wir im Steuersystem darauf Rück-sicht nehmen. Da gibt es, glaube ich, auch kaum andereMeinungen in diesem Hause. Alle Betroffenen wissen: Eswird zu einem System der nachgelagerten Besteuerungkommen müssen.Nun konnten die Rentengespräche nicht weitergeführtwerden, ohne dass die Finanzpolitiker daran beteiligt wer-den. Deshalb hat die F.D.P. gefordert, dass der Bundesfi-nanzminister bei diesen Gesprächen zugezogen wird, per-sönlich oder vertreten durch Frau Dr. Hendricks oder wenauch immer. Das hat jetzt zum Nachdenken auf der Re-gierungsseite geführt. Ich nehme Frau Dr. Hendricks ohneweiteres ab, dass es auf Ihrer Seite keine konkreten Vor-stellungen zur Verbrauchssteuererhöhung gibt. Aber manweiß natürlich, dass das nachgelagerte Besteuerungssy-stem zunächst einmal zu Steuerausfällen führen muss.Das ist unzweifelhaft. Dabei kommt es auf die einzelnenGestaltungen an.Wer sich in diesem Zusammenhang weiter hervorge-wagt hat, das waren die Grünen, und zwar die Steuerex-pertin Scheel, die am 5. Mai dieses Jahres im „Handels-blatt“ gesagt hat, es gebe zwar keine konkreten Pläne undAbsprachen, aber wenn es darum gehe, die Steuerausfälleauszugleichen, die mit der nachgelagerten Besteuerungentstünden, dann wolle man eher bei der Ökosteuer als beider Mehrwertsteuer ansetzen. Es geht also gar nicht mehrum das Ob, sondern nur noch um die Steuerart, die erhöhtwerden soll.
Natürlich hat der Fraktionsvorsitzende Schlauch dieseÄußerung unverzüglich dementiert.
– Nein, eine Ente war das nicht. Das war überlegt. Wir alledenken ja über diese Probleme nach.Einem Interview mit Ihrem Kollegen Metzger in der„Zeit“ vom 11. Mai dieses Jahres – dies war eine Wochespäter – können Sie entnehmen, dass dieser das bestätigt.Er sagt – auch das will ich Ihnen nicht vorenthalten –:Ich gehe von einem Modell aus, in dem derVorsorgefreibetrag in drei oder vier Stufen angeho-ben wird.– Also dadurch, dass die steuerfreie Möglichkeit zum Auf-bau einer Altersversorgung geschaffen wird.In den ersten ein, zwei Stufen könnte man auf eineVerbrauchsteuererhöhung verzichten. Zu einem spä-teren Zeitpunkt ... lässt sich eine Erhöhung der Ver-brauchsteuern der Bevölkerung vermitteln ...Schön und gut.
Was entnehme ich dem? Diesem Gedanken wird ge-rade bei den Grünen weiter nachgegangen. Ich kann indiesem Zusammenhang nur sagen: Das ist bzw. wäre
– Sie haben ja einen wesentlichen Beitrag an der Regie-rungspolitik; ich denke, dass Sie den auch einbringen wer-den – eine völlig widersinnige Politik. Ich will einmal da-rauf hinweisen, warum das so widersinnig wäre: WennSie gerade den kleinen Einkommensbeziehern durchSteuererleichterungen einen finanziellen Spielraum ver-schaffen, um eine zusätzliche private Altersvorsorge auf-zubauen, dann können Sie jenen diesen finanziellen Spiel-raum nicht gleichzeitig durch Verbrauchssteuererhöhun-gen wieder wegnehmen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Kristin Heyne9710
Das macht wirklich keinen Sinn. Deswegen bitte ich da-rum, über diese Fragen ernsthaft weiterzudiskutieren.Frau Dr. Hendricks, wir brauchen übrigens nicht aufdas diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichtszu warten. Wir wissen doch, worauf es im Prinzip hinaus-laufen muss.
Das Verfassungsgericht hat ja leider mittlerweile mitge-teilt, dass dieses Urteil in diesem Jahr nicht mehr zu er-warten sein wird. Wir können also darauf nicht warten.Wir müssen die anstehende Entscheidung im Zusam-menhang mit jener über die Zukunft der Rentenversiche-rung fällen, weil das zwingend zusammengehört. Nur soentsteht ein Gesamtbild. Das wird nicht einfach; das weißich wohl. Wir sind bereit, uns genauso konstruktiv wie dieanderen Mitglieder dieses Hauses an diesen Diskussionenzu beteiligen. Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, zu einer ver-nünftigen Reform der Rentenversicherung unter Einbe-ziehung der Reform des Steuersystems zu kommen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatsse-kretärin, ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen:Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Nach Ihrer klaren Aus-sage, die Sie hier soeben getroffen haben, verzichte ichnatürlich darauf.Es ist aber, wenn man sich den Zeitungswald anschautund beispielsweise im „Focus“ unter der Überschrift„Furcht vor dem M-Wort“ liest, dass auf den Gängen desMinisteriums unter den dortigen Fachleuten eine Mehr-wertsteuererhöhung stetes Thema sei im Zusammenhangmit der Neuregelung der Renten, eine Überlegung wert,warum die Öffentlichkeit so dazu geneigt ist, diesesThema aufzunehmen. Dies ist deshalb der Fall, weil siedie Erfahrung gemacht hat, dass es für die Regierungspo-litik von SPD und Grünen typisch ist, dass dann, wenn ir-gendeine neue Aufgabe auftaucht, darüber nachgedachtwird: Wo können wir mehr Steuern einnehmen, um das zubewältigen? Das ist ein Kernproblem Ihrer Politik.
Wir sollten nicht, wie Sie das tun, die Wirtschaft unddas Sozialprodukt unserer Volkswirtschaft als einen kon-stanten Kuchen betrachten. Sie sind immer nur am Um-verteilen.
Sie meinen, man müsse die Stücke kleiner schneiden, da-mit jeder eines bekommt. Stattdessen müssen wir daran-gehen, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt,dass dieser Kuchen wächst und dass mehr verteilt werdenkann.
Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel.Wenn Sie bei der Steuerreform, die wir in der nächstenWoche in zweiter und dritter Lesung beraten werden, Muthaben für ein wirklich durchgreifendes Reformwerk, fürein Herangehen an die Einkommensteuersätze in demSinne, wie wir es Ihnen vorgeschlagen haben,
wenn Sie das Steuersystem wirklich einfacher und ge-rechter machen und die Sätze deutlich senken, dann schaf-fen Sie die besten Voraussetzungen dafür, dass wir die unsgestellte Aufgabe, die Rentenbesteuerung möglichst ge-meinsam zu regeln, bewältigen können. Aber es geht nichtso, wie Sie es vorhaben: mit einer Reform, die eben nichtbreit entlastet, sondern die auf die Körperschaften fokus-siert und nur mühsam versucht, auch die vielen anderenUnternehmer – 85 Prozent sind Personenunternehmen –,die von der strangulierenden Steuerlast betroffen sind, zuentlasten.Ich freue mich, dass es – leider erst nach Abschluss derDebatte im Finanzausschuss – einige Anzeichen dafürgab, noch einmal neu nachzudenken. Ich ermuntere Sieausdrücklich dazu, das zu tun. Sie müssen durch den Bun-desrat. Wenn wir hier herangehen, können wir in Deutsch-land wieder wirkliches Wachstum generieren und von derPosition des Schlusslichts, die wir in Europa hinsichtlichder Dynamik der Wirtschaft einnehmen, endlich wiedernach vorne kommen.
Herr Metzger hat immerhin schon angedeutet, was Siesich konzeptionell vorstellen. Dass bei einem solchenThema Spekulationen ins Kraut schießen, solange Sienicht klar sagen, wohin Sie wollen, ist doch völlig klar.Herr Metzger hat ein paar Hinweise gegeben; Frau Heynehat das eben noch einmal aufgegriffen. Sie haben es sichnach der Bundestagswahl furchtbar einfach gemacht. Wirhaben für den Bereich der Renten – wenn auch nicht spe-ziell zu dem Problem der nachgelagerten Besteuerung,sondern generell – eine Reform beschlossen, die Sie aus-gesetzt haben.
Seitdem warten wir darauf, dass von Ihnen in diesem Be-reich irgendetwas Konzeptionelles kommt, aber bis jetztist da Fehlanzeige.
Legen Sie endlich ein Konzept aus einem Guss vor!Dann brauchen wir nicht mehr über Spekulationen zureden, dann können wir über Konzepte reden, dann
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Dr. Hermann Otto Solms9711
können wir in den parlamentarischen Streit darüber ein-treten und dann wird sich das beste System durchsetzen.
Nur so bekommen wir die Rentenproblematik langfris-tig in den Griff. Ich fordere Sie auf: Machen Sie IhreHausaufgaben! Sie können damit Diskussionen dieser Artganz schnell beenden und vor allen Dingen Ihrer Pflicht,eine Politik zum Vorteil dieses Landes zu machen, gerechtwerden.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Luft.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Der Volksmund weiß – es isteben schon zitiert worden –: kein Rauch ohne Feuer!Liebe Frau Kollegin Hendricks, alle Dementis klingendann auch ziemlich hilflos, zumal der grüne haushalts-und finanzpolitische Sprecher, der in der Diskussion hierschon einige Male erwähnt worden ist, die Katze kürzlichaus dem Sack gelassen hat. Er hat – ich verweise hier aufein anderes Zitat – am 5.Mai in der „Berliner Zeitung“ ge-sagt: Wenn die Koalition eine höhere Mehrwertsteuernoch vor der Bundestagswahl beschließen würde, hättesie doch nicht alle Tassen im Schrank.Damit ist, denke ich, alles gesagt.
Das, liebe Kollegin Heyne, verunsichert die Menschen.Denn die zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahlsind ja rasch herum. Offenbar soll es doch so sein: Nachder Bundestagswahl kann dieses Thema aufgegriffen wer-den, vor der Bundestagswahl auf keinen Fall.
Damit gibt es offenbar genau das umgekehrte Vorge-hen im Vergleich zur Vermögensteuer. Dazu haben Sie vorder Bundestagswahl 1998 gesagt, Sie wollten nicht nurdie Prüfung hinsichtlich der Wiedererhebung der Vermö-gensteuer in Angriff nehmen, sondern das nach Möglich-keit auch durchsetzen. Nach der Wahl war diesbezüglichFehlanzeige. Hier wird es offenbar anders herum kom-men. Wir werden Sie von der Koalition daran immer wie-der erinnern.
Es ist schon eigenartig, es verwirrt die Öffentlichkeitund spricht, so finde ich, auch nicht für eine stringenteKonzeption, wenn die Koalition bei den Themen Renteund Steuern sozusagen jeden Monat einen neuen Ballonsteigen lässt.
Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Deckung der Steu-erausfälle nach Umsetzung des zu erwartenden Urteilsdes Bundesverfassungsgerichts zur nachgelagerten Be-steuerung der gesetzlichen Renten würde übrigens nahezualles konterkarieren, wofür sich die Koalition, im Beson-deren die Regierung, dieser Tage auf die Schultern ge-klopft hat, nämlich dafür, das größte Steuerentlastungs-volumen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land für abhängig Beschäftigte und Unternehmen auf denWeg gebracht zu haben.
Mit der Mehrwertsteuer werden Sie es so machen wie mitder Ökosteuer:
Mit der einen Hand werden Sie geben und mit der ande-ren wieder nehmen.
Herr Kollege Bernhardt, Sie haben sozusagen eine wit-zige Bemerkung in diese Debatte eingestreut, indem Siegesagt haben, die CDU sei die Steuersenkungspartei.
Ja, die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die Re-duzierung des Soli und die Aussetzung der Vermögen-steuer gehen wirklich auf Ihr Konto. Aber Sie habenauch – leider gemeinsam mit der SPD – eine Erhöhungder Mehrwertsteuer um 2 Prozent auf den Weg gebracht.Somit haben Sie diesen Sack aufgebunden. Das darf hiernicht unerwähnt bleiben.
Wenn Sie in der Koalition schon über Renten und Steu-ern in einem Zusammenhang diskutieren, dann solltenSie, um keine Verwirrung zu schaffen, den heute 50- und55-jährigen Männern und Frauen insbesondere in denneuen Ländern, die hoch qualifiziert sind, die abgewickeltwurden, denen gekündigt wurde, die sich von Weiterbil-dung zu ABM hangeln, die keine Aussicht auf einen re-gulären Job haben, der eine private Altersvorsorge er-möglicht, die nichts haben außer der Aussicht auf eineRente, die von Sozialhilfe abhängig macht, auch sagen,wovon sie im Alter leben sollen.Mit Verlaub: Diese große Personengruppe interessiertdas Thema der künftigen Rentenbesteuerung wenig; siehat auch vom zugesagten Bestandsschutz nichts. Sie siehtnur einer weiteren Belastung ihres Konsums durch die inErwägung gezogene Mehrwertsteuererhöhung entgegen.Das ist die Verwirrung, die eintritt, Frau Kollegin Heyne.Sie ist nicht durch die PDS verursacht worden,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Klaus-PeterWillsch9712
sondern sie ist aus einem Feuer entstanden, das offenbarhinter den Kulissen schwelt.
Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dassnach Ablösung der nationalen Währungen durch den Eurodie unterschiedlichen Steuersysteme der Länder stärkerins Visier geraten und dass Deutschland im Vergleich zuanderen Ländern noch Spielräume bei der Gestaltung derMehrwertsteuer hat. Ich vermute, dass das Ihr Konzept ist.Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Mehrwertsteuererhöhungangehen wollen, dann machen Sie dies nicht partiell, son-dern im Komplex. Dann sagen Sie den Menschen bitteschon heute, dass Sie nicht an eine Erhöhung des Mehr-wertsteuersatzes denken, mit dem die Produkte des All-tags belegt sind. Das nämlich würde insbesondere die ein-kommensschwachen Menschen belasten.
Dann sagen Sie, dass Sie künftig arbeitsintensive Dienst-leistungen, insbesondere Reparaturleistungen, mehrwert-steuerlich begünstigen wollen. Jeder Punkt Mehrwert-steuererhöhung würde nur die Schwarzarbeit befördern,und davon haben wir heute schon genug. Man muss vie-les im Zusammenhang sehen. Zudem könnte man über ei-nen dritten Steuersatz für außergewöhnliche Konsumgü-ter – ich könnte auch sagen: Luxussteuer; so liest man esin der Literatur – nachdenken.Ich glaube, dass es hier, wenn es eine strukturelle Re-form geben soll, noch viel zu debattieren gibt. Jeder par-tielle Schritt steht außerhalb eines Konzeptes. Sie müssenendlich nachweisen, dass Sie ein stringentes, ein komple-xes Konzept haben.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Diethard Schütze.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Luft,das mit der Luxussteuer sollten wir am besten ganzschnell vergessen.
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte scheint ei-nes klar zu sein: Je heftiger eine Erhöhung der Mehrwert-steuer von der Regierungskoalition dementiert wird –Frau Staatssekretärin hat dazu sehr grundsätzlicheAusführungen gemacht –, umso wahrscheinlicher ist,dass sie kommen wird. Tun Sie doch nicht so, als ob esnicht längst derartige Planspiele im Bundesfinanzministe-rium gäbe!Auch das Dementi des Herrn Eichel vom 4. Mai liestsich ausgesprochen halbherzig, wenn es dort heißt, dass esderzeit – ich betone: derzeit – keine solchen Pläne gebe.
Die Frage ist also: Wann und in welcher Höhe wird dieMehrwertsteuererhöhung kommen? Wird es eine Er-höhung um einen Punkt oder um zwei Punkte geben?Meine Damen und Herren, um die Beantwortung einerFrage haben sich die Redner der Koalition heute herum-gemogelt.
Die Frage lautet: Wie sollen die Einnahmeausfälle vonbis zu 40 Milliarden DM ausgeglichen werden, wenn dieAltersvorsorgeaufwendungen generell von der Steuerfreizustellen sind? Denn – das scheint ja hier Konsens zusein; davon können wir alle mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit ausgehen – das Bundesverfassungs-gericht wird infolge seiner bisherigen Entscheidungen inabsehbarer Zeit, Ende dieses oder Anfang nächsten Jah-res, feststellen, dass alle Alterseinkünfte voll zu besteuernsind.
Das bedeutet, dass Rentenbeitragszahlungen steuerfreizu stellen sind. Wie, Frau Staatssekretärin, wollen Siedenn diese 40 Milliarden DM aufbringen? Von Ihnen ha-ben wir dazu heute keine Antwort gehört. Ich sage Ihnen:Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Meine Damen und Herren, die Antwort wird heißen:Die Mehrwertsteuererhöhung kommt. Herr KollegeMetzger ist bereits mehrfach zitiert worden. Er hat dieszwischenzeitlich mehr oder weniger deutlich eingeräumt.Eine Mehrwertsteuererhöhung ist ja an sich auch die ein-fachste Lösung – so zumindest für die Allianz der Beque-men, auch rot-grüne Bundesregierung genannt, die wie-der einmal getagt hat. Die Bezeichnung „Allianz der Be-quemen“ ist
keine Bezeichnung, die von mir oder von einem Kollegenaus der Opposition erfunden worden ist. Nein, es war be-sagter Herr Metzger, der haushaltspolitische Sprecher derGrünen höchstselbst, der seine eigene Regierungskoali-tion so titulierte. Dies geschah vor gut einem Jahr. DasThema war die Mehrwertsteuererhöhung, und zwar da-mals im Zusammenhang mit der vom Verfassungsgerichtgeforderten Entlastung der Familien.Meine Damen und Herren, verkaufen Sie doch dieMenschen nicht für dumm. Sie ziehen zwar durch dieLande und erzählen immer etwas von Steuerentlastung.Was ist seither geschehen?
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Dr. Christa Luft9713
Der Mittelstand wird massiv benachteiligt.
Die notwendige breite Entlastung der Steuerzahler bleibtaus. Was den Bürgern als Nettoentlastung verkauft wird,zieht Rot-Grün ihnen auf der anderen Seite aus der Tasche.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-alition, haben mit der Besteuerung der 630-Mark-Jobsund der Einführung der so genannten Ökosteuer geradeden Schwachen in unserem Land den Boden unter denFüßen weggezogen.
Dazu fällt Herrn Eichel lediglich ein, der Öffentlichkeitmitzuteilen, dass er es allmählich leid sei – so Eichel wört-lich –, dass die Leute den Hals nicht voll kriegen können.Ich sage: Das ist blanker Zynismus.
Die Ökosteuer steigt. Das Thema Erbschaftsteuer istnoch nicht ausgestanden.
Wir wollen einmal sehen, wie es nach dem kommendenSonntag weitergehen wird. Die Mehrwertsteuererhöhungwird kommen.
Das ist die Wahrheit. So wird sich zum Ende dieser Le-gislaturperiode die dem Bürger vom Staat auferlegte Lastnicht vermindert haben. Sie wird – wie das „Handelsblatt“in einem Artikel vom 5. Mai dieses Jahres zutreffend fest-stellt – eher größer sein.Einige von Ihnen haben es schon getan. Auch ichmöchte jedoch auch noch einmal auf die fatalen Folgeneiner Mehrwertsteuererhöhung hinweisen.
Sie würde in erster Linie diejenigen treffen, die schon imletzten Jahr überproportional unter Rot-Grün zu leidenhatten. Das sind die Einkommenschwachen, kinderreicheFamilien, Arbeitslose, Studenten und Rentner. Ökosteuerund Mehrwertsteuer belasten gerade diese Schichten derBevölkerung. Sie zahlen die Zeche für die verfehlte Poli-tik der Bundesregierung.
Bereits eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Pro-zentpunkt hätte katastrophale Folgen für den Arbeits-markt. Gerade im Handwerk und im Einzelhandel, denStiefkindern dieser Koalition, bedeutet dies nicht nur Um-satzeinbußen, sondern auch den Verlust von bis zu100 000 Arbeitsplätzen. Eine höhere Mehrwertsteuer istgleichbedeutend mit mehr Schwarzarbeit. Die Vergan-genheit hat gezeigt: Jede Mehrwertsteuererhöhung fördertdie Schattenwirtschaft und zerstört reguläre Arbeits-plätze.
Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit diesen Plä-nen! Mit uns jedenfalls wird dies nicht zu machen sein.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Damenund Herren! Ich sage dies hier einmal ganz deutlich, undzwar vor allen Dingen für die SPD-Fraktion: Wir wollenkeine Erhöhung der Mehrwertsteuer und wir planen auchkeine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Frau Luft, wir pla-nen auch keine partielle Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Das Gegenteil ist der Fall: Wir senken die Steuersätze fürdie mittelständischen Unternehmen in unserem Land
sowie für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Unsere Steuerreform 2000 sieht vor, die Körperschaft-steuer auf 25 Prozent zu senken, den großen Personenun-ternehmen die Möglichkeit zu eröffnen, die Gewerbe-steuer in pauschalierter Form auf ihre Einkommensteueranzurechnen – dies entspricht einer Entlastung bei derEinkommensteuer für die großen Unternehmen, die Per-sonengesellschaften sind, in Höhe von ungefähr 12 Pro-zent –, den Grundfreibetrag in der ersten Stufe ab 2001 auf14 000 DM anzuheben, sie sieht ferner die Senkung desEingangssteuersatzes auf 19,9 Prozent und die Senkungdes Spitzensteuersatzes auf 48,5 Prozent vor. Ich sage dasjetzt so ausführlich, damit das auch die Damen und Her-ren von der CDU begreifen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000
Diethard Schütze
9714
Unsere Steuerreform hat eine zweite Stufe. Sie tritt imJahre 2003 in Kraft.
Wir senken den Eingangssteuersatz auf 17 Prozent undden Spitzensteuersatz auf 47 Prozent.Wir machen eine Steuerreform, die im Jahre 2005 dasErgebnis haben wird, dass der Spitzensteuersatz 45 Pro-zent und der Eingangssteuersatz nur noch 15 Prozent be-tragen werden. Der Grundfreibetrag, von dem vor allenDingen die kleineren Einkommen profitieren, wird auf15 000 DM angehoben werden.
Ich denke, diese Zahlen machen deutlich, dass wir pla-nen, unsere Politik fortzusetzen, die den Mittelstand unddie Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer und Arbeitneh-merinnen entlastet,
das Wachstum unterstützt und die Beschäftigung fördert.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb. Er ist der letzte Red-
ner in der Debatte.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich kann mich des Eindrucksnicht erwehren, dass der Bundesfinanzminister und seinHaus allzu schnell geneigt sind, Pressemeldungenunangenehmen Inhalts oder jedenfalls solche, die nachihrem Dafürhalten zur Unzeit erscheinen, als Rauschenim Blätterwald abzutun. Nun wissen wir alle, dass die„Wirtschaftswoche“ nicht zu den reißerischen Blättern inunserem Land gehört, sondern eine seriöse Wirtschafts-zeitung ist, bei der man nicht alles sofort in den Bereichder Fantasie verweisen sollte.Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie sagten, esgebe keine Pläne und es werde nicht über eine Steuer-erhöhung gesprochen. Das wäre nicht die erste Entschei-dung der Regierung, die den Eindruck hinterlässt, sie seinicht besonders besprochen oder gar geplant worden.
Meine Damen und Herren, man darf uns auch nicht fürso naiv halten, als wüssten wir nicht, dass der Bundesfi-nanzminister vor einer kniffligen Aufgabe steht. Die Kon-sequenzen einer nachgelagerten Besteuerung haben natür-lich auch eine unschöne Kehrseite, und in Anbetracht deranstehenden Wahlen spricht man natürlich ungern übersolche Kehrseiten.
– Herr Tauss, bemühen Sie sich doch einmal, sich vonIhrem fast psychopathisch anmutenden Zwang, mich pau-senlos zu unterbrechen, zu befreien.
Selbstverständlich ist zu erwarten, dass den Bürgernzumindest reiner Wein eingeschenkt wird. Es geht dochgar nicht um die Konsequenzen der Mehrwertsteuer; dazuist aus berufenem Munde schon alles gesagt worden. Ichbin auch kein Steuerfachmann,
eines aber weiß ich: Ich komme aus Kassel und dort hießder Oberbürgermeister jahrelang Eichel;
dort habe ich lange genug gelitten. Anschließend war erMinisterpräsident in Hessen und jetzt ist er Bundesfi-nanzminister. Was von der Glaubwürdigkeit seiner Aus-sagen zu halten ist, will ich Ihnen an zwei Beispielen deut-lich machen.Das erste Beispiel: In der Wahlnacht nach der Hessen-wahl – das war übrigens das einzige Mal, dass ich fürHerrn Eichel Hochachtung empfunden habe – hat er inBeifall heischender Art und Weise gesagt: Jetzt werde ichals Auslaufmodell natürlich nicht mehr die Steuerreformbei den Bundesratsverhandlungen blockieren; das magmein Nachfolger Koch machen. – Drei Tage später ist ervon seinem Vorgänger im Amt, Herrn Lafontaine – er wareine Weile Vorsitzender der SPD –, „eingenordet“ wordenund hat natürlich – wie Sie alle wissen – zugestimmt undspielt sich heute als Obermeister eines Reparaturbetriebsauf, in dem der Schaden reguliert werden soll, den seinVorgänger Lafontaine hinterlassen hat.
Das zweite Beispiel: Vor vielleicht zwei Stunden wareben jener frühere Ministerpräsident und jetzige Finanz-minister in meinem Heimatort Kassel zum Spatenstich ei-nes Bauabschnitts der A 44 und ließ sich dort für ein Pro-jekt feiern, das er und die Grünen 10 Jahre lang mit Zäh-nen und Klauen zu verhindern versuchten.
In der Presse, im „Spiegel“, im „stern“ und in der„Wirtschaftswoche“, lesen wir, dass es Pläne zur Mehr-wertsteuererhöhung gibt. Der Finanzminister bedauert
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Nina Hauer9715
lediglich, dass diese Pläne vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl bekannt werden; dies ist also ein wahltaktisches De-menti. Dazu kann ich nur sagen: Das ist typisch.
Eines kann ich Ihnen sagen: Wir von der Union werdenuns nicht jedes Mal in die politische Mitverantwortung fürunpopuläre und unvermeidliche Maßnahmen nehmen las-sen, während Sie selber sich für politische Segnungen öf-fentlich feiern und huldigen lassen. So geht es nicht. Dasist hier genau so beabsichtigt.
Deswegen wäre es schön, wenn Sie vor einer Wahl aucheinmal das sagen würden, was Sie hinterher machen wol-len. Dass das keine große Freude macht, ist klar.
– Mir macht alles große Freude, das sehen Sie doch. Ichbin eine Frohnatur, vor allen Dingen zu dieser Zeit.
Ich freue mich auch, meine Damen und Herren. Auf derRegierungsbank ist ja nur noch die Frau ParlamentarischeStaatssekretärin da.
– Nein, das nehme ich nicht zurück.Es ist jetzt kurz vor halb vier. Ich bin der letzte Rednerfür heute und ich habe noch einmal gesagt, was ich vonIhren Dementis halte. Ich weiß auch, warum so wenigevon der SPD gesprochen haben. Ich würde gerne mit al-len eine Wette eingehen und sehen, wie diese hinterhereingelöst wird.
– Herr Tauss, ich weiß nicht, womit man Ihnen eineFreude machen kann.
Ich muss darauf
achten: Es wird hier nicht öffentlich gewettet.
Es sollte auch nur eine
symbolische Handlung sein. Ich kann nur sagen: Gegen-
über der Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft
unseres Bundesfinanzministers – wie bei Herrn Eichel so
häufig – ist das Chamäleon geradezu ein farbloses Lebe-
wesen.
Vielen Dank.
Damit sind wir
am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17. Mai 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.