Protokoll:
14099

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 99

  • date_rangeDatum: 13. April 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:08 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Hans-Eberhard Urbaniak .................. 9209 A Wahl der Abgeordneten Dorothea Störr-Ritter zur Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9209 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 3 und 18 Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 9209 B Tagesordnungspunkt 1: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes- erziehungsgeldgesetzes (Drucksache 14/3118) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9210 A b) Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Ausbau eines bedarfsge- rechten und öffentlich geförderten Be- treuungs- und Freizeitangebotes für Kin- der bis zu 14 Jahren (Drucksache 14/2758) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9210 A c) Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion PDS: Ver- einbarkeit von Beruf und Kinderbetreu- ung für Frauen und Männer (Drucksache 14/2759) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9210 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: Erziehungs- zeit statt Erziehungsurlaub (Drucksache 14/3192) . . . . . . . . . . . . . . . 9210 B Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9210 B Renate Diemers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9212 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9215 A Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9217 B Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9219 B Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9220 D Klaus Holetschek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9223 B Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 9225 A Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9226 B Ulla Schmidt (Aachen) SPD . . . . . . . . . . . . . 9227 A Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9229 B Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 9230 A Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9231 D Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 9232 B Tagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Fraktion CDU/CSU: Keine überstürzte und konzeptionslose Durch- brechung des Anwerbestopps (Drucksache 14/3012) . . . . . . . . . . . . . . . 9232 C b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion F.D.P.: Zuwande- rung steuern, Aus- und Weiterbildung intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht ent- rümpeln (Drucksache 14/3023) . . . . . . . . 9232 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU . . . . . . . . . . . 9232 D Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9236 A Plenarprotokoll 14/99 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 99. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 I n h a l t : Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . . 9236 C Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . 9237 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 9238 C Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9240 B Dieter Wiefelspütz SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9241 B Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9242 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9244 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . . 9244 D Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (Bayern) 9246 B Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9247 C Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . 9248 A Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9249 A Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . 9250 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . 9251 A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9253 A Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9254 B Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9255 D Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9257 A Tagesordnungspunkt 16: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- gesetzes (Staatsziel Tierschutz) (Drucksachen 14/282, 14/3165) . . . . . . . . 9258 C – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Guido Westerwelle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines ... Gesetzes zurÄnderung des Grundgesetzes (Verankerung des Tier- schutzes in der Verfassung) (Drucksachen 14/207, 14/3165) . . . . . . . . 9258 C – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Naumann und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- setzes zur Änderung des Grundgesetzes (Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel) (Drucksachen 14/279, 14/3165) . . . . . . . . 9258 D – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel „Tierschutz“) (Drucksachen 14/758, 14/3165) . . . . . . . . 9258 D Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9259 A Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9261 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9262 D Rainer Funke F.D.P . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9264 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 9265 C Marianne Klappert SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9267 B Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9269 A Heinz Schmitt (Berg) SPD . . . . . . . . . . . . . . . 9270 B Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . . . 9271 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9272 B Erika Reinhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 9273 C Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9274 B Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . 9275 A Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9275 D Karl-Heinz Funke, Bundesminister BML . . . . 9276 D Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 9278 D Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9279 A Ulrich Heinrich F.D.P. (zur GO) . . . . . . . . . . 9282 A Tagesordnungspunkt 23: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die assoziierte Mit- gliedschaft der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Re- publik Ungarn in der Westeuropäi- schen Union (Drucksache 14/3076) . . . . . . . . . . . . . 9282 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Steueransprüchen und der Bekannt- gabe von Schriftstücken (Drucksache 14/3077) . . . . . . . . . . . . . 9282 C c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. 10. März 1998 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung der Republik Südafrika über die Seeschifffahrt (Drucksache 14/3091) . . . . . . . . . . . . . 9282 C Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Äpril 2000II d) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung gemäß Artikel 13 Abs. 6 Satz 1 GG (Drucksache 14/2452) . . . . . . . . . . . . . 9282 D e) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und über das Unfall- und Berufskrankheiten- geschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998 (Drucksache 14/2471) . . . . . . . . . . . . . 9282 D f) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung Technikfolgenabschätzung hier: „Umwelt und Gesundheit“ (Drucksache 14/2848) . . . . . . . . . . . . . 9282 D Tagesordnungspunkt 24: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Maßnah- men zur akustischen Wohnraumüber- wachung – Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Artikel 13 Abs. 6 GGund § 100 e Abs. 2 StPO (Drucksachen 14/1146, 14/2383) . . . . 9283 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu der Verordnung der Bundes- regierung: Aufhebbare Neunund- vierzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 14/2486, 14/2555 Nr. 2.1, 14/3131) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9283 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu der Verordnung der Bundes- regierung: Aufhebbare Einhundert- vierzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – (Drucksachen 14/2487, 14/2555 Nr. 2.2, 14/3132) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9283 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der dem Deut- schen Bundestag zugeleiteten Streit- sache vor dem Bundesverfassungs- gericht 2 BvE 6/99 (Drucksache 14/3116) . . . . . . . . . . . . . 9283 C e) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 14/3117) . . 9283 D f) – m) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses Sammelübersichten 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152 zu Petitionen (Drucksachen 14/3108, 14/3109, 14/3110, 14/3111, 14/3112, 14/3113, 14/3114, 14/3115) . . . . . . . . . . . . . . . . 9283 D Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zuwande- rungsbegrenzungsgesetzes (Drucksachen 14/48, 14/2019) . . . . . . . . . 9284 C Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9284 D Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatsse- kretärin BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9286 C Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9287 C Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9289 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. 9290 C Sylvia Bonitz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9291 C Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9291 D Ulla Jelpke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9292 B Sebastian Edathy SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9293 B Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9296 A Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg führen (Drucksachen 14/2908, 14/3163) . . . . . . . 9297 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Heidi Lippmann und der Fraktion PDS: Überprüfungs- konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag (Drucksache 14/3190) . . . . . . . . . . . . . . . 9297A Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Äpril 2000 III Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . . 9297 A Dr. Karl Lamers (Heidelberg) CDU/CSU . . . 9299 D Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9301 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 9303 A Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9304 B Dr. Ludger Volmer, Staatsminister AA . . . . . . 9305 A Tagesordnungspunkt 6: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Waldzustandsbericht der Bundesregierung 1999 – Ergebnis des forstlichen Umweltmo- nitoring – (Drucksache 14/3090) . . . . . . . . . . . . . . . 9306 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – zu dem Antrag der Fraktion CDU/CSU: Hilfsprogramm für die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den Orkan „Lothar“ – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Rasche und wirksame Hilfe für Waldbesitzer – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Wright, Iris Follak, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Winfried Hermann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Waldschäden durch die Orkane im Dezember 1999 (Drucksachen 14/2570, 14/2583,14/2685, 14/3045) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9306 C Heidemarie Wright SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9306 D Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/CSU 9308 D Steffi Lemke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9310 B Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9312 A Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9313 D Christel Deichmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9314 D Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9315 D Karl-Heinz Funke, Bundesminister BML . . . 9317 B Albert Deß CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9318 C Siegfried Hornung CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 9319 B Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat (Rentenauszahlungsgesetz) (Drucksache 14/3159) . . . . . . . . . . . . . . . 9321 A Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 9321 B Heinz Schemken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 9322 B Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9323 A Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P. . . . . . . . . . . . . 9323 C Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9324 A Monika Balt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9324 D Heinz Schemken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9325 C Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9325 D Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Markus Meckel, sowie weiterer Abgeord- neter: Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit (Drucksache 14/3126) . . . . . . . . . . . . . . . 9326 A b) Antrag der Fraktion PDS: Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öf- fentlichkeit zugänglich machen (Drucksache 14/3120) . . . . . . . . . . . . . . . 9326 B Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 9326 B Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9328 A Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9329 C Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9330 C Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9331 D Eckhardt Barthel (Berlin) SPD . . . . . . . . . . . . 9332 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9333 A Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9333 B Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Drucksache 14/3158) . . . . 9333 D Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: 50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschenrechts- schutz (Drucksachen 14/1568, 14/2209 [neu]) . . 9334 A in Verbindung mit Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Äpril 2000IV Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Gegen die Todesstrafe in den USA – Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal (Drucksache 14/3196) 9334 A Wolfgang Behrendt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 9334 A Klaus Bühler (Bruchsal) CDU/CSU . . . . . . . 9335 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9337 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P. . 9337 D Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 9338 C Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . . . . 9339 B Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Fred Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus (Drucksachen 14/1002, 14/2901) . . . . . . . 9340 B Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9340 C Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucher- rechts sowie zur Umstellung von Vor- schriften auf Euro (Drucksachen 14/2658, 14/2920, 14/3195) 9341 C Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung. Landwirt- schaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Schutz der Bewirtschaftung der Tropenwälder – 6. Tropenwaldbericht derBundesregierung (Drucksachen 14/1340, 14/2703) . . . . . . . 9341 D Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Johannes Singhammer, Horst Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Neue Belastungen für ehrenamtlich Tätige zurücknehmen (Drucksache 14/2989) . . . . . . . . . . . . . . . 9342 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9342 C Berichtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9342 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9343 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rolf Stöckel (SPD zur namentlichen Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Än- derung des Grundgesetzes (Staatsziel Tier schutz) (Tagesordnungspunkt 16) . . . . . . . . . 9343 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fortent- wicklung der Altersteilzeit (Tagesordnungs- punkt 9) Renate Rennebach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 9344 A Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . . 9345 A Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9346 A Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 9347 A Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . . . . . . . . . . 9347 D Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMA . . . . . 9349 A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalso- zialismus (Tagesordnungspunkt 11) Gisela Schröter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9350 B Martin Hohmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 9351 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9352 D Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 9353 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatz- verträge und andere Fragen des Verbraucher- rechtes sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro (Tagesordnungspunkt 12) Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9353 C Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . . . . . . . . 9355 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9357 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9357 C Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9358 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 9358 C Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Äpril 2000 V Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Schutz der Bewirtschaftung der Tropenwälder – 6. Tro- penwaldbericht der Bundesregierung (Tagesord- nungspunkt 13) Christel Deichmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9359 C Cajus Caesar CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9361 B Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9363 C Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9364 B Carsten Hübner PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9365 A Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BML 9365 D Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung desAntrags: Neue Belastungen für ehrenamtlichTätige zurücknehmen (Tagesordnungspunkt 14) Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9366 C Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 9368 A Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9369 A Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 9369 D Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9370 A Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Äpril 2000VI Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000
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    Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 Vizepräsident Rudolf Seiters 9342 (C) (D) (A) (B) 2) Der Redebeitrag wird aus technischen Gründen als Anlage zum Stenographischen Bericht der 100. Sitzung abgedruckt 3) Anlage 7 1) Anlage 6 Berichtigung 97. Sitzung, Seite 9072 D, der letzte Absatz ist wie folgt zu lesen: „Auf die Ratifizierung und praktische Umsetzung der von Peking bereits unterzeichneten UN-Menschenrechtspakte ist deshalb seitens der Bun- desregierung und der EU mit Nachdruck hinzuwirken.“ 97. Sitzung, Seite 9073 D, die Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Volker Kröning (SPD) ist wie folgt zu lesen: „Ich lehne den Antrag nach einer Abwägung zwischen ästhetischem Urteil und Spielregeln des Parlaments ab: Auch wenn ich das Projekt weder dem Titel, noch der Ausführung, noch der Begrün- dung nach für gelungen halte, bin ich dafür, dass kein (weiteres) Präjudiz für eine Zensur von Kunst durch den Deutschen Bundestag geschaffen wird. Dies braucht nicht die Absicht zu sein, wäre indessen die Wirkung.“ Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9343 (C) (D) (A) (B) Adam, Ulrich CDU/CSU 13.04.2000 Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 13.04.2000 Marieluise DIE GRÜNEN Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13.04.2000** Bohl, Friedrich CDU/CSU 13.04.2000 Brinkmann (Detmold), SPD 13.04.2000 Rainer Dr. Eckardt, Peter SPD 13.04.2000 Eichhorn, Maria CDU/CSU 13.04.2000 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 13.04.2000 Frick, Gisela F.D.P. 13.04.2000 Friedrich (Altenburg), SPD 13.04.2000 Peter Gebhardt, Fred PDS 13.04.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 13.04.2000 Haack (Extertal), SPD 13.04.2000* Karl-Hermann Hinsken, Ernst CDU/CSU 13.04.2000 Ibrügger, Lothar SPD 13.04.2000 Imhof, Barbara SPD 13.04.2000 Irmer, Ulrich F.D.P. 13.04.2000** Jünger, Sabine PDS 13.04.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 13.04.2000 Koppelin, Jürgen F.D.P. 13.04.2000 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 13.04.2000 Kossendey, Thomas CDU/CSU 13.04.2000** Leidinger, Robert SPD 13.04.2000 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13.04.2000 Erich Dr. Meyer (Ulm), SPD 13.04.2000 Jürgen Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 13.04.2000 Müller (Berlin), PDS 13.04.2000 Manfred Ohl, Eckhard SPD 13.04.2000 Dr. Pfaff, Martin SPD 13.04.2000 Pflug, Johannes SPD 13.04.2000 Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 13.04.2000 DIE GRÜNEN Raidel, Hans CDU/CSU 13.04.2000** Rauber, Helmut CDU/CSU 13.04.2000** Dr. Rexrodt, Günter F.D.P. 13.04.2000 Scharping, Rudolf SPD 13.04.2000 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 13.04.2000 Christian Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 13.04.2000 Hans Peter Schröder, Gerhard SPD 13.04.2000 Simm, Erika SPD 13.04.2000 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 13.04.2000 Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 13.04.2000 Zapf, Uta SPD 13.04.2000 * für die Teilnahme an Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungder OSZE Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Rolf Stöckel (SPD) zur na- mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz) (Tagesordnungspunkt 16) Ich stimme dem Gesetzentwurf der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen zu, obwohl ich 1. die Verankerung von subjektiven Rechten minder- jähriger Kinder in der Verfassung für vorrangig halte und ich 2. den Begriff „Mitgeschöpf“ nur als umgangssprach- lichen Ausdruck akzeptiere und für mich damit keine Anerkennung der christlich-religiösen Schöpfungsge- schichte und Ablehnung der wissenschaftlichen Evoluti- onstheorie verbunden ist. entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Ta- gesordnungspunkt 9) Renate Rennebach (SPD): Die Diskussion um die Altersteilzeit in den letzten Monaten zeigt, dass es sich um ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslo- sigkeit handelt. Aus diesem Grunde haben wir Ende letz- ten Jahres die Regelung von 1996 den Bedingungen des Arbeitsmarktes angepasst, indem wir Zugangsmöglich- keiten für Teilzeitbeschäftigte ermöglicht und das Verfah- ren vereinfacht haben. Es ist heute zweifellos noch zu früh, die Beschäfti- gungseffekte verlässlich zu benennen. Eines bleibt jedoch festzuhalten: Die Altersteilzeit gewinnt zunehmend an Akzeptanz. Das ist auch Sinn der Übung, denn nur da- durch können wir eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Die Tatsache, dass Altersteilzeit in 350 Tarif- verträgen festgeschrieben ist, belegt, dass wir auf einem guten Weg sind: Altersteilzeit hat sich als grundlegendes Element moderner Arbeitsmarktpolitik etabliert. Alters- teilzeit wird von Arbeitgebern und Gewerkschaften als Mittel zum Generationswechsel in den Betrieben aner- kannt. Altersteilzeit ist ein wichtiges Instrument der Per- sonalplanung und macht sich für die Unternehmen letzt- lich bezahlt. Altersteilzeit ist – zusammen genommen – eine Chance für mehr Beschäftigung. Die jüngsten Tarifabschlüsse bestätigen dies. In der Metall- und Elektroindustrie können die Beschäftigten nun bereits mit 57 Jahren in Altersteilzeit gehen. Das be- deutet für diese Branche, dass in den nächsten Jahren rund 370 000 Arbeitnehmer vom gleitenden Ruhestand profi- tieren können. Gleichzeitig wurden maßvolle Regelungen getroffen, die sicherstellen, dass die Betriebe nicht zu viel Fachkräfte verlieren. In der Chemieindustrie zeigen die jüngst veröffentlichten Umfragen des Bundesarbeitgeber- verbandes Chemie, dass mehr als 26 000 Arbeitnehmer tarifvertraglich geregelte Altersteilzeit in Anspruch neh- men. Danach haben sich 4,2 Prozent der insgesamt 610 000 Beschäftigten der Branche für den gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand entschie- den. Es setzt sich zudem die Erkenntnis durch, dass ge- rade mittelständische Unternehmen in der Altersteilzeit ein modernes Mittel der Personalpolitik sehen, um den strukturellen Wandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt zu bewältigen. Fazit: Es weht ein neuer Wind in unserem Land. Die Koalition hat mit der Fortentwicklung der Altersteilzeit ein neues Denken in Gang gebracht und dem Grundge- danken, eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt zu schaffen, neuen Schwung verliehen. Und das, ob- wohl das Modell der Altersteilzeit vor ein paar Jahren noch in der Versenkung zu versinken drohte, weil es von Blüm und Co nicht energisch, nicht mutig und nicht konsequent genug vertreten wurde. Heute dagegen können wir auf eine Vielfalt von Altersteilzeitregelungen und betriebli- cher Altersvorsorge blicken, die mir Anlass zu Hoffnung und Optimismus gibt. Heute hat die Koalition ein zweites Gesetz zur Fortent- wicklung der Altersteilzeit vorgelegt. Warum? Im Bünd- nis für Arbeit sind wir gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zu dem Ergebnis gekommen, dass wir die Altersteilzeit stärker fördern können, wenn wir erstens die Geltungsdauer weiter ausdehnen, zweitens die Förder- höchstdauer erhöhen, parallel die Mindestdauer für die Wiederbesetzung verlängern und drittens das Verfahren zur Berechnung der Nettobeträge des Altersteilzeitentgel- tes vereinfachen. Wir kommen damit dem Bündnis der Ta- rifpartner nach und schaffen mehr Planungssicherheit. Die Koalition beweist damit einmal mehr ihre Fähig- keit, flexibel auf die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu reagieren. Wir erheben nicht den Anspruch, das Patent- rezept zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme zu besitzen. Aber: Wir wissen sehr genau, dass es nötig ist, ein fraglos sinnvolles Konzept zu überprüfen und praxisnah anzu- passen. Das unterscheidet uns von der heutigen Opposition, die offensichtlich nicht in der Lage ist, ein Konzept vorzule- gen, geschweige denn konstruktive Vorschläge zu ma- chen. Dass aus der CDU-Fraktionsführung mal wieder die Rente mit 70 gefordert wird, unterstreicht, dass es mit der selbsternannten „Rückkehr zur Sachpolitik“ in der CDU noch nicht so weit her sein kann. Während wir mit den So- zialpartnern über moderne und flexible Arbeitszeitmo- delle diskutieren, reden Sie mit Ihren Vorschlägen mal wieder an der Sache und an der Realität vorbei. Bleiben wir bei der Sache. Ich darf noch einmal daran erinnern, dass wir es bei der Altersteilzeit mit einem Mo- dell zu tun haben, das auf beiderseitiger Freiwilligkeit be- ruht. Was wir qua Gesetz verbessern können, ist die At- traktivität des Angebots, um die Bereitschaft zum gleiten- den Übergang in den Ruhestand anzuregen. Wie sieht unser Angebot aus? Wir wollen die Gel- tungsdauer bis zum 31. Dezember 2009 ausdehnen und die Höchstdauer der Förderung von Altersteilzeit um ein Jahr auf sechs Jahre erhöhen. Damit wird die Altersteilzeit in den Betrieben zukünftig besser zu planen sein. Die Ver- längerung der Förderungsdauer ermöglicht einen größe- ren Spielraum – sowohl für die individuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer als auch für die wirtschaftlichen Erfor- dernisse in den Betrieben. Die längere Laufzeit wird da- mit die Entscheidung für Altersteilzeitverträge in den Un- ternehmen befördern. Der arbeitsmarktpolitische Effekt: Gehen ältere Arbeitnehmer ein Jahr früher in Altersteil- zeit, werden auch die Beschäftigungseffekte früher ein- setzen. Voraussetzung für die Verlängerung der Förder- dauer ist, dass die frei gewordenen Arbeitsplätze für min- destens vier Jahre wieder besetzt werden. Damit bleibt das zeitliche Verhältnis von Förderung und Wiederbesetzung auch zukünftig stabil. Neben der verbesserten Planungssicherheit wollen wir dazu beitragen, das Verfahren zu vereinfachen. Durch die Einführung einer Verordnung über pauschalisierte Netto- beträge des Altersteilzeitentgelts können die individuellen Aufstockungsbeträge leichter ermittelt werden. Damit wird ein für die Betriebe teilweise schwieriger Prozess überflüssig, was die Akzeptanz der Altersteilzeit weiter erhöhen dürfte. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009344 (C) (D) (A) (B) Noch ein Wort zu den Kosten, weil in der Diskussion fälschlicherweise noch immer die Zahl von 50 Millionen DM genannt wird. Nach dem vorliegenden Entwurf führen die Gesetzesänderungen zu Mehrausgaben von 20 Millionen DM. Den Mehrausgaben der Bundesanstalt für Arbeit durch die Verlängerung der Förderhöchstdauer müssen aber die Einsparungen gegenübergestellt werden, die wir durch die Wiederbesetzung der durch Altersteil- zeit frei gewordenen Stellen erreichen. Natürlich sollten wir aus all den vorgenannten Gründen für die Altersteil- zeit werben; denn vor allem ist sie eben auch ein mögli- ches Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Seit Monaten hat die Bundesregierung kein sozialpolitisches Gesetzge- bungsvorhaben mehr auf den Weg gebracht. Der letzte Gesetzentwurf der Regierungskoalition datiert auf den Oktober des letzten Jahres und ist dabei noch nicht einmal auf die eigene Initiative der Regierung, sondern auf den Druck der Partner im Bündnis für Arbeit zurückzuführen! Zusätzlicher Beleg für die sozialpolitische Untätigkeit der Bundesregierung ist, dass in der letzten Woche – erstmals seit vielen Jahren – die regelmäßige Sitzung des Aus- schusses für Arbeit und Sozialordnung ausgefallen ist. Die Bundesregierung verharrt im sozialpolitischen Win- terschlaf – und seitdem herrscht Frühjahrsmüdigkeit. Der letzte Donnerschlag war das erste Gesetz zur Fort- entwicklung der Altersteilzeit. Nun wartet die Koalition mit dem zweiten Gesetz zur Fortentwicklung der Alters- teilzeit auf das – ebenfalls auf Betreiben der Partner im Bündnis für Arbeit erfolgt. Damit entwickelt Rot-Grün zum zweiten Mal ein Ge- setz fort, dessen Fundament noch von Norbert Blüm ent- wickelt worden ist. Wir stehen den Beratungen über die neuen Vorschläge im Ausschuss offen und aufgeschlossen gegenüber. Mit der Altersteilzeit befinden wir uns im Bereich zwi- schen dem Arbeitsmarkt und der Frage des vorzeitigen Übergangs in den Ruhestand. Es ist nicht die klassische Variante der Frühverrentung, die zu viel Geld gekostet hat und die wir gestoppt haben. Es ist nicht die viel diskutierte Variante der Rente mit 60, die mit Kosten von 60 bis 70 Milliarden DM nicht finanzierbar ist. Es ist vielmehr eine Variante, die kostengünstiger ist, attraktiver bei Ar- beitgebern und Arbeitnehmern, eine Variante, die tarif- vertraglich verwertbar ist. Dennoch muss sich der vorge- legte Gesetzentwurf eine kritische Durchleuchtung gefal- len lassen. Welchen Beitrag leistet die Altersteilzeit zur Bekämp- fung der Arbeitslosigkeit? Eines ist klar: Altersteilzeit ent- lastet den Arbeitsmarkt dadurch, dass sie ältere Arbeit- nehmer früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden lässt und damit Arbeitsplätze frei macht für jüngere Menschen an der Schwelle zum Berufsleben. Dadurch – und das muss hier auch festgehalten werden – entstehen aber keine neuen Arbeitsplätze. Die Regierung ist damit noch nicht aus dem Schneider, für Beschäftigung zu sorgen. Unter diesem Vorzeichen ist sie angetreten und daran will sie sich messen lassen. Das soll auch heute geschehen. Wir sehen allerdings beim Blick in die aktuelle Statistik, dass hier keine Fortschritte erzielt wurden. Bei nach wie vor mehr als 4 Millionen Arbeitslosen gibt es keinen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Vielmehr ist bei ge- nauem Hinsehen festzustellen, dass es einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials von 500000 Personen gibt. Das weisen die Gutachten der Wirtschaftsinstitute aus. Die sind in diesem Fall sicher ausreichend unver- dächtig zu nennen. Man kommt bei einem Blick in die Statistik zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 136000 – deutlich geringer als in den letzten beiden Jah- ren. Saisonbereinigt ist die Zahl der Arbeitslosen sogar um 8000 Personen gestiegen! Seit dem Regierungswech- sel hat damit die Zahl der Arbeitslosen – und so geht die Rechnung auf – um mehr als 175000 Personen zugenom- men. Mir sei noch der Hinweis auf die von der „Wirt- schaftswoche“ vorgenommene Zählung mit der „Schrö- der-Uhr“ erlaubt, die ein trauriges Minus von 1052000 Er- werbstätigen aufweist. Herr Schröder, die Uhr steht im- mer noch auf fünf vor zwölf! Vor diesem Problemberg steht die Regierung immer noch; die Altersteilzeit ist nur ein kleiner Schritt. Gesetz- lich geförderte Altersteilzeit ist noch die günstigste Vari- ante für den Arbeitsmarkt, weil sie über die öffentliche Förderung der Bundesanstalt für Arbeit sicherstellt, dass für jeden ausscheidenden älteren Arbeitnehmer eine Neu- einstellung erfolgt. Bei rein tarifvertraglicher Regelung, die auf öffentliche Förderung verzichtet, ist Altersteilzeit zunehmend ein Instrument für die Arbeitgeber, um Ar- beitsplätze nicht wieder zu besetzen und lediglich das Ausscheiden aus dem Betrieb sozial verträglich zu be- gleiten. Das muss in den Beratungen zur Sprache kom- men. Welches Signal gibt die Regelung eigentlich? Für die Rentendiskussion könnte es ein mutiges Signal sein, wenn die Bundesregierung eindeutig sagen würde: Die Rente mit 60, so wie sie nach wie vor in der Diskussion ist, geht nicht. Das wäre zumindest eine Klarstellung in dieser Frage. Vom Instrument der Altersteilzeit sollte aber nicht das Signal ausgehen, dass man immer früher in die Rente gehen kann. Für die gesamte Rentendiskussion wäre das ein falsches Zeichen! Für ältere Arbeitnehmer darf durch das Instrument der Altersteilzeit nicht der Eindruck entstehen, sie würden nicht mehr gebraucht und bloß in den Ruhestand abge- schoben. Für ältere Arbeitslose wäre es noch weniger, weil sie noch eher den Eindruck bekommen müssen, keine Chance mehr zu haben, am Erwerbsleben teilneh- men zu können. Ein Beispiel aus der aktuellen Diskussion um die so genannte Green Card belegt das: Bei etwa 30000 Ar- beitslosen, die für IT-Arbeitsplätze infrage kämen, ist – nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit – ein Hinde- rungsgrund für die Einstellung, dass sie über 45 Jahre sind. Ältere Arbeitnehmer und ihre Berufserfahrung wer- den immer mehr benötigt. In der IT-Branche belegt das nicht nur das Jahr-2000-Problem. Wir werden uns immer weniger leisten können, Menschen frühzeitig in Rente zu schicken oder in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Das ist der Logik der demographischen Entwicklung geschuldet. Wer hier die Augen verschließt, reagiert nicht angemessen Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9345 (C) (D) (A) (B) zum Ersten darauf, dass ältere Arbeitnehmer über uner- setzliche Erfahrung verfügen, und zum Zweiten darauf, dass wir alle – glücklicherweise – immer älter werden. In der Ausschussberatung sollten auch noch die Punkte vertieft diskutiert werden, die ich hier nennen möchte: Erstens. Wir müssen uns die Verteilung der Maßnahme der Altersteilzeit auf Unternehmen unterschiedlicher Größenordnungen anschauen. Es gibt berechtigterweise aus Reihen des Handwerks die Kritik, dass Altersteilzeit zu einem übergroßen Teil vor allem in Großunternehmen angewandt wird, aber von den Beitragszahlungen aller Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert wird. Zweitens. Wir müssen über die Kostenentwicklung der Altersteilzeit reden. Zwar sind die Altersteilzeitmodelle nicht mit der teuren Frühverrentung und der Rente mit 60 vergleichbar, aber dennoch steigen die Ausgaben der Bun- desanstalt für Arbeit an. Ich nenne hier die Zahlen: 1997 waren es 20 Millionen DM, 1998 fast 100 Millionen, 1999 sind sie auf das Doppelte gestiegen. Drittens. Wir müssen uns der Frage zuwenden, ob die vorgesehene Neuregelung des zeitlichen Geltungsrah- mens des Alterszeitgesetzes zum gegenwärtigen Zeit- punkt sachlich gerechtfertigt ist. Die Bayerische Landes- regierung hat auf diesen Punkt im Bundesrat hingewiesen. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Philosophie der Altersteilzeit ist ausgesprochen sozial und zukunftsgewandt. Sie umfasst die Möglichkeit für äl- tere Arbeitnehmer, sich Arbeitserleichterung in den letz- ten Arbeitsjahren vor ihrem Ruhestand durch Arbeitszeit- verkürzung zu verschaffen, ohne dabei gleichzeitig un- vertretbar hohe Einkommenseinbußen hinnehmen zu müssen. Es ist deshalb sehr sinnvoll, die Voraussetzung für die Anwendung der Altersteilzeit hier noch einmal in einer zweiten Gesetzesänderung zu erleichtern. Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat viel zur Verbreitung der Altersteilzeit beigetragen. Es hat auch dazu beigetragen, dass sich nicht die Rente mit 60, son- dern die Möglichkeit zur Altersteilzeit mittlerweile flächendeckend verbreitet. Mit der 2. Novellierung wird wiederum eine Vereinba- rung im Bündnis für Arbeit umgesetzt. Mit der Änderung soll das Altersteilzeitgesetz beschäftigungswirksamer werden. Außerdem wurde die Geltungsdauer bis zum 31. Dezember 2009 verlängert. Die Förderhöchstdauer wird um ein Jahr auf sechs Jahre erhöht. Dies trägt zur stärkeren Akzeptanz der Al- tersteilzeit bei Arbeitgebern und Arbeitsnehmern bei. Bei einer längeren Förderdauer werden Arbeitgeber eher be- reit sein, mit ihren Arbeitnehmern längere Laufzeiten der Altersteilzeitverträge zu vereinbaren als bisher. Mit Änderungen bleibt das bisherige Verhältnis des Zeitraums der Wiederbesetzung zum Zeitraum der Förde- rung im Wesentlichen unverändert. Die Altersteilzeit ist aber nicht nur beschäftigungspoli- tisch, sondern auch kulturell interessant. Sie ist ein Schritt hin zu einer Kultur der Altersarbeit – und die werden wir in Zukunft, auch in der Bundesrepublik Deutschland, mehr brauchen. Es geht darum, Menschen nicht aus dem Erwerbsleben auszumustern, sondern ihnen die Arbeit zu erleichtern und sie zu integrieren. Dafür ist die Altersteil- zeit ein besonderes Instrument. Darüber hinaus aber sind die weitere Verbreitung vom Lebensarbeitszeitkonten, aber auch die Verbesserung der betrieblichen Qualifika- tion gerade für ältere Arbeitnehmer wichtige Instrumente. Die Altersteilzeit boomt, und das ist auch ein Erfolg des Bündnisses für Arbeit. Bei den jüngsten Tarifab- schlüssen in der chemischen Industrie, im westdeutschen Baugewerbe, bei der Metallindustrie ist die Altersteilzeit ein wesentliches Instrument auch zur beschäftigungsori- entierten Tarifpolitik. Es wird in Zukunft kaum noch Ta- rifverträge ohne die Einführung oder die Verbesserung der Altersteilzeit geben. Die Potenziale für die Altersteilzeit sind sehr hoch. Bisher betreffen tarifvertragliche Rege- lungen schon knapp 14 Millionen Beschäftigte. In kon- kreten Einzelfällen wird sie zurzeit von 1,4 Millionen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern genutzt. Dieses kann also noch weit ausgebaut werden. In den Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist die Beschäfti- gungswirkung und der Beschäftigungseffekt natürlich von hoher Bedeutung. Nur bei Wiederbesetzung ist eine öffentliche Förderung der Altersteilzeit möglich. Die tatsächliche Anzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmern in Altersteilzeit ist bis zu viermal höher als die Zahl der Arbeitnehmer in geförderter Altersteilzeit. Das bedeutet, dass es insgesamt gesehen bei Altersteilzeit ei- nen Wiederbesetzungseffekt von 1 : 4 gibt. Bei der geför- derten Altersteilzeit liegt der Beschäftigungseffekt natür- lich bei 100 Prozent. Die Förderung von Altersteilzeit ist eine Arbeitsmarktpolitik mit hoher Effizienz und einem sehr hohen Refinanzierungsgrad. Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten ist die Altersteilzeit daher eine sehr vernünftige Regelung. Denn die frei gewordenen Arbeitsplätze werden zurzeit zur Hälfte von Arbeitslosen und zur anderen Hälfte von Be- rufsanfängern besetzt. Die Wiedereingliederung nutzt also der Integration von Erwerbslosen, aber auch der In- tegration von Berufsanfängern ins Berufsleben. Wenn nur durch die Erleichterung, durch eine weitere Änderung des Altersteilzeitgesetzes die Anwendung der Altersteilzeit insgesamt ansteigt, ist davon auszugehen, dass die Wiederbesetzungsquote noch verbessert werden kann. Kritisch allerdings beobachten wir weiterhin die aus- gedehnte Nutzung der Altersteilzeit durch Blockbildung. Hier wird die Altersteilzeit, die Blockbildung dazu ge- nutzt, den Weg in die Frühverrentung exzessiv zu nutzen. Aber die Frühverrentung ist langfristig der falsche Weg für die Beschäftigungspolitik. Für die Zukunft ist zu diskutieren, ob die Streichung der bestehenden Altersgrenze von 55 Jahren aus beschäf- tigungspolitischer Perspektive einen sinnvollen Weg eröffnen könnte. Die Altersteilzeit könnte für Beschäftigte mit ausreichender Vorbeschäftigungszeit in eine bis zu 5-jährige Lebensphasenteilzeit weiterentwickelt werden. Die Ausgleichszahlungen sollten dann durch die Bundesanstalt Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009346 (C) (D) (A) (B) für Arbeit den Arbeitgebern erstattet werden, wenn für die Dauer der Teilzeit eine Wiederbesetzung durch einen Ar- beitslosen oder Auszubildenden nachgewiesen werden kann. Wir stellen dies für eine zukünftige Debatte, auch im Bündnis für Arbeit, zur Diskussion, denn mit der Begüns- tigung von Lebensphasenteilzeit kann auch die Teilzeit- barriere gerade in kleinen und mittleren Unternehmen durchbrochen werden. Eine Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln ist durch die obligatorische Wiederbesetzung mit einem ho- hen Refinanzierungsgrad verbunden. Zugleich wird der Gedanke einer solidarischen Arbeitsumverteilung ge- stärkt. Auch für Männer und Frauen, zum Beispiel in der Er- ziehungsphase oder beim Erwerb von Zusatzqualifikatio- nen, ist es sinnvoll, hilfreich, die Möglichkeit der Teilzeit zu nutzen, jedenfalls für einen befristeten Zeitraum, ohne dabei Einbußen in der Altersversorgung hinnehmen zu müssen. Was wir brauchen, sind weitere Möglichkeiten und In- strumente, die Lebensarbeitszeit flexibel und selbstbe- stimmt zu gestalten. Was wir auch brauchen, sind intelli- gente Instrumente der Arbeitszeitverkürzung. Die Alters- teilzeit ist eine davon. Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Der französische Schriftsteller André Maurois hat einmal gesagt: „Altern ist eine schlechte Gewohnheit, die ein beschäftigter Mann gar nicht erst aufkommen lässt.“ Damit ist zum vorlie- genden Gesetzentwurf eigentlich alles gesagt. Die Altersteilzeit wird entgegen den hochtrabenden Prognosen der Koalition in der Praxis schon bisher und wird auch zukünftig von den Unternehmen dazu genutzt werden, ältere Mitarbeiter auf Kosten der Bundesanstalt für Arbeit loszuwerden. 300 Millionen DM muss diese nach einer Presseinformation vom 28. Januar 2000 für die Förderung der Altersteilzeit allein in diesem Jahr aufwen- den. Die Belastungen der Rentenversicherung und der Krankenversicherung – über die Ihr Gesetzentwurf Aus- sagen vermeidet – dürften ebenfalls nicht unerheblich sein. Zudem werden es ganz überwiegend Großunterneh- men sein, wie ich bereits im letzten Jahr in der Debatte zur ersten Fortentwicklung des Altersteilzeitgesetzes in die- sem Hause sagte, die von dieser Möglichkeit zulasten al- ler Beitragszahler profitieren. Und es gilt auch weiterhin unser grundlegender Ein- wand, dass dieses Gesetz für kleine und mittlere Unter- nehmen schlicht nicht handhabbar ist. Es ist zu bürokra- tisch und umständlich. Es bleibt damit ein Machwerk, das auf die Bedürfnisse der großen Unternehmen – ich will sie einmal „Kanzlerunternehmen“ nennen – zugeschnitten ist. Es macht daher keinen Sinn, dessen Laufzeit – und das gleich bis 2009 – zu verlängern. Dass Sie eine große Zustimmung für die so genannte Fortentwicklung der Altersteilzeit im Bündnis für Arbeit erhalten, kann vor dem beschriebenen Hintergrund nie- manden ernsthaft verwundern. Der Mittelstand ist dort nicht angemessen repräsentiert. Nur das Handwerk war immer dagegen. Und die BDA hat nun auch Bauchschmerzen, wenn, wie es in einer Be- wertung vom März 2000 heißt, auf die Sozialversicherung insgesamt höhere Kosten zukommen. Und das wird der Fall sein. Denn die Annahme, eine vermehrte Inan- spruchnahme der Altersteilzeit, von der Sie ja ausgehen, lasse sich kostenneutral bewerkstelligen, kann nur rot- grünen Köpfen entspringen. Das funktioniert hier so we- nig wie bei der Ökosteuer. Dort setzen Sie die Einnahmen aus dem Lenkungsinstrument Steuer für die Senkung der Lohnnebenkosten ein. Nur: Wenn die Lenkungswirkung einsetzt – was Sie ja wollen – und die Menschen weniger Energie verbrauchen, haben Sie ein Problem bei der Sen- kung der Lohnnebenkosten. Eine vernünftige Steuerre- form würde hier mehr helfen und auch mehr Beschäfti- gungswirkung zeitigen, mehr als die Altersteilzeit je zei- tigen wird. Der ZDH, der bei Wirtschaftsminister Müller wegen Majestätskritik in Ungnade gefallen ist, hat in der Frage der Altersteilzeit den Durchblick und lehnt den vorliegen- den Gesetzentwurf ab. Er hat Recht. Hier sollen die „Kanzlerunternehmen“ auf Kosten der kleinen und mitt- leren Betriebe subventioniert werden. Wir haben unsere Bedenken schon bei der Verabschie- dung des ersten Gesetzes zur Fortentwicklung der Alters- teilzeit deutlich gemacht und gegen das Gesetz gestimmt. Wir werden daher den Teufel tun, dieses mittelstandsun- taugliche Machwerk in seiner Laufzeit auch noch zu ver- längern. Im Handwerk – und da kenne ich mich als Un- ternehmer ein bisschen aus – gilt eher noch das Zitat von Jeanne Moreau: „Alternde Menschen sind wie Museen: Nicht auf die Fassade kommt es an, sondern auf die Schätze im Innern.“ Oder wie Handwerkspräsident Philipp gesagt hat: „Machen wir unseren älteren Arbeit- nehmern Mut, statt durch immer neue Ausstiegsbrücken den Druck auf ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Ar- beitsleben zu erhöhen.“ Darüber sollten wir alle einmal nachdenken. Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit wird von der Bundesregierung eingebracht mit der Ziel- setzung, die Beschäftigungswirksamkeit des Altersteil- zeitgesetzes zu erhöhen. Die wesentlichen Änderungen sind dabei: – Verlängerung der Geltungsdauer des Altersteilzeit- gesetzes um fünf Jahre bis 2009 (§ 1): Damit soll die voraussichtliche Entwicklung des Arbeits- marktes mit einem weiterhin hohen Bestand an Ar- beitslosen berücksichtigt werden. Die Altersteil- zeit kann noch länger, nicht nur bis 2004 in An- spruch genommen werden. Es kann über den jetzigen Zeitraum hinaus eine weitere Entlastung des Arbeitsmarktes stattfinden. – Verlängerung der Förderdauer Altersteilzeit (Leis- tungen der Bundesanstalt für Arbeit) um ein Jahr auf sechs Jahre (§ 4): Arbeitnehmer können da- durch bereits ein Jahr früher verkürzt arbeiten oder im Blockmodell ein halbes Jahr eher von der Freistellung profitieren. Das führt dazu, dass auch Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9347 (C) (D) (A) (B) entsprechend früher ein Wiederbesetzer nach- rückt. Ob diese Änderung allerdings auch zu einer stärkeren Akzeptanz der Altersteilzeit bei Arbeit- gebern führt, sei dahingestellt. – Die für die Förderung maßgebliche Mindestbe- schäftigungsdauer des Wiederbesetzers wird um ein Jahr auf vier Jahre erhöht (§ 5): Der frei wer- dende Arbeitsplatz wird dadurch statt für drei für mindestens vier Jahre durch einen Wiederbesetzer besetzt. Das schafft eine höhere Arbeitsplatzsi- cherheit. – Das BMA wird ermächtigt, durch Rechtsverord- nung jeweils für ein Kalenderjahr neben den Min- destnettobeträgen auch pauschalierte Nettobeträge zu bestimmen (§ 15): Dies soll die Errechnung des altersteilzeitspezifischen Nettoentgelts für Unter- nehmen und für die Bundesanstalt für Arbeit ver- einfachen und einen Beitrag zur höheren Akzep- tanz der Altersteilzeit darstellen. Diesen Änderungen und damit dem 2. AtG-Ände- rungsgesetz kann zugestimmt werden. Ob damit aber die Inanspruchnahme des Altersteilzeit- gesetzes wesentlich gesteigert und der Arbeitsmarkt deut- lich entlastet werden kann, ist fraglich. Dies sind auch nicht die wesentlichsten Änderungen des AtG, die jetzt notwendig sind, um seine Beschäftigungswirksamkeit wesentlich zu erhöhen. Dazu bedarf es anderer, konse- quenterer Reformmaßnahmen. Zwar gibt es eine leicht steigende Tendenz; das Alters- teilzeitgesetz wird aber bisher zu wenig in Anspruch ge- nommen. So wurden 1999 22 450 Anträge bei der Bun- desanstalt für Arbeit gestellt, wobei die BA von einer Größenordnung von circa 1,5 Millionen potenziell inte- ressierter Personen ab 55 Jahre ausgeht. Was sind die Gründe für die geringe Inanspruchnahme des Altersteilzeitgesetzes? Das Altersteilzeitgesetz wie auch die erste Altersteil- zeitgesetznovelle (Gesetz zur Novellierung der Altersteil- zeit) kranken vor allem an den unzulänglichen finanziel- len Bedingungen für den in Frage kommenden Personen- kreis sowie an weiteren unzureichenden sozialen und strukturellen Regelungen. Die erste Altersteilzeitgesetznovelle der Bundesregie- rung sieht die Möglichkeit der Halbierung der bisherigen Teilzeitarbeit vor. Das ginge bis zu einer Versicherungs- pflichtgrenze von mindestens 15 Wochenstunden Be- schäftigung. Das daraus resultierende Nettoarbeitsentgelt ist bei einem durchschnittlichen Monatsbrutto von 4 180 DM sehr gering, deshalb sollte die Altersteilzeit da- bei mindestens die Hälfte der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit betragen. Die Bundesregierung sollte bei einer Novellierung des Altersteilzeitgesetzes besser Überlegungen aus den Rei- hen der Gewerkschaften folgen, andere Elemente einzu- beziehen. Dies wären: Das Blockmodell, also die auch schon nach der gegenwärtigen Gesetzeslage vorhandene Möglichkeit, Altersteilzeitarbeit zusammenzufassen und entsprechend früher aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, muss stärker gefördert werden, da fast 100 Prozent der Ar- beitnehmer dies favorisieren. Es sollte so ausgestaltet werden, dass es ohne Einbußen beim Nettoeinkommen und der späteren Rentenhöhe auskommt, zum Beispiel in- dem der Lohn bzw. das Gehalt als Bezugsgröße künftige Lohnerhöhungen berücksichtigt und indem die Wahl des Blockmodells finanziell honoriert wird, etwa durch einen 1 bis 2 Prozent höheren Zuschuss bei Altersteilzeitentgelt durch die Bundesanstalt für Arbeit. Das Mindestnetto nach dem AtG ist zu niedrig: Es be- trägt nach der geltenden Regelung 70 Prozent des Voll- zeitnettos. Viele Tarifverträge sehen 85 Prozent vor, so der Tarifvertrag in der Chemieindustrie, der in der Metallin- dustrie immerhin mindestens 82 Prozent. Mit einer sol- chen Regelung wären der Anreiz und damit der arbeits- marktpolitische Effekt größer. Die soziale Sicherung in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit bei Altersteilzeit ist unzureichend geregelt: Das Gesetz sieht eine soziale Sicherung nur für den Fall vor, dass der Arbeitsplatz vom Arbeitgeber wiederbesetzt wird. Gerade im Fall einer Arbeitsunfähigkeit können angesichts des geringen Krankengeldes vielfach die monatlichen Fixkos- ten nicht abgedeckt werden. Bei Arbeitsunfähigkeit muss in diesem Fall die Fortzahlung des aufgestockten Arbeits- zeitentgelts und der Rentenversicherungsbeiträge durch den Arbeitsgeber gesetzlich verbindlich vorgesehen wer- den. Im AtG fehlt eine Regelung zur Insolvenzsicherung, um insbesondere die im Blockmodell in der Arbeitsphase erworbenen Ansprüche der Arbeitnehmerinnen gesetzlich abzusichern. Die Harmonisierung von AtG und Steuerrecht ist ge- boten: Das zu versteuernde Einkommen für die Teilzeit- arbeit wird nach § 32 EstG einem besonderen Steuersatz unterworfen (Progressionsvorbehalt). Dadurch steigt die Steuerbelastung, und das gesetzliche bzw. tarifliche Min- destnetto sinkt unter den Garantiebetrag. Das löst einen neuen Anspruch auf Aufstockung aus, weil das Mindest- netto nicht erreicht ist. Der Aufstockungsbetrag für Teilzeitarbeitsentgelt muss deshalb vom „Progressionsvorbehalt“ des § 32 b Einkommensteuergesetz ausgenommen werden. Darüber hinaus muss bei einer Novellierung des AtG Folgendes einbezogen werden: Für Auszubildende, die ei- nen durch Altersteilzeit freiwerdenden Arbeitsplatz beset- zen, muss es nach einer Ausbildung eine mindestens ein- jährige Weiterbeschäftigungsgarantie geben. Die gesetzlichen Regelungen der Altersteilzeit können von Arbeitsnehmern nur in Anspruch genommen werden, wenn ein Tarifvertrag vorliegt, aufgrund einer Regelung der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, einer Be- triebsvereinbarung oder einer individuellen Regelung mit dem Arbeitgeber. Ein Anspruch, der allein auf das Begeh- ren des Arbeitnehmers zurückgeht, besteht nicht. Das Al- tersteilzeitbegehren muss daher als individueller Rechts- anspruch gesetzlich geregelt werden, der eingefordert werden kann, auch wenn kein entsprechender Tarifvertrag oder keine Betriebsvereinbarung usw. vorliegt. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009348 (C) (D) (A) (B) Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen: Die Bundesregierung sollte gerade bei arbeitsmarktpoliti- schen Vorhaben ihr Ohr eher den Gewerkschaften als den Arbeitgeberverbänden leihen, das wäre für die Betroffe- nen nicht nur in diesem Falle wohl allemal günstiger. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- ter für Arbeit und Sozialordnung: Der flexible Übergang aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand ist ein zentrales sozialpolitisches Vorhaben der Bundesregierung. Dabei ist unverrückbare Position, die Rentenkasse nicht zu be- lasten, gleichwohl durch das Gesetz den Tarifvertragspar- teien und damit Betrieben wie Arbeitnehmern Spielraum für neue und kreative Lösungen zu geben. Die Bundesregierung erledigt ihre Hausaufgaben rasch und überlegt. Sie sieht sich bestätigt durch Tarifvertrags- partner und durch den Willen vieler älterer Beschäftigter, für sich einen humanen und finanziell attraktiven gleiten- den Übergang aus dem Erwerbsleben in die Rente zu fin- den. Am 9. Januar 2000 haben sich die Teilnehmer des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbs- fähigkeit darauf verständigt, dass die Geltungsdauer des Altersteilzeitgesetzes verlängert und das Gesetz mit dem Ziel geändert werden soll, die Beschäftigungswirksam- keit weiter zu erhöhen. Mit dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit wird diese gemeinsame Erklärung der Teilnehmer des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit zügig umgesetzt. Weitere Hemmnisse, die bei der Altersteilzeit noch bestehen, sollen nun abgebaut werden, damit noch mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als bisher Al- tersteilzeit nutzen. Erster Eckpunkt des Gesetzentwurfs ist die Verlänge- rung der Geltungsdauer der Altersteilzeitförderung. Die jetzige Altersteilzeitregelung läuft am 31. Juli 2004 aus. Folglich dürfte die Bundesanstalt für Arbeit nach gelten- der Rechtslage die Altersteilzeit ab 1. August 2004 nur noch dann fördern, wenn der Arbeitnehmer spätestens am 31. Juli 2004 in die Altersteilzeit eingetreten ist. Die Pra- xis hat nun gefordert, die Geltungsdauer zu verlängern, weil die Personalplanung vielfach deutlich über Mitte 2004 hinausgeht. Viele Arbeitnehmer, die erst nach dem 31. Juli 2004 die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, wollen wissen, ob dann noch von der Bundesanstalt für Arbeit geförderte Altersteilzeitverträge abgeschlossen werden können. Und dies ist verständlich. Mit dem neuen Gesetz dehnen wir nun die Geltungs- dauer bis Ende 2009 aus. Damit geben wir der Praxis für einen langen Zeitraum Planungssicherheit an die Hand. Ein solch langer Zeitraum ist meines Erachtens auch aus arbeitsmarktpolitischer Sicht gerechtfertigt. Denn mit ei- ner signifikanten Verringerung des Erwerbspersonenpo- tenzials, das das frühzeitige Überwechseln älterer Arbeit- nehmer in die Altersteilzeit nicht mehr rechtfertigen würde, ist erst ab den Jahren 2014/2015 zu rechnen. Wie Sie wissen – die Medien haben ja ausführlich da- rüber berichtet –, sind bereits die ersten Tarifverträge zur Altersteilzeit praktisch im Vorgriff auf die gesetzliche Re- gelung mit einer Laufdauer bis Ende 2009 abgeschlossen worden. Den Tarifvertragspartnern ist es natürlich unbe- nommen, Altersteilzeittarifverträge auch für kürzere Zeiträume als fünf Jahre abzuschließen bzw. zu verlän- gern, wenn sie der Auffassung sind, dies sei in ihrer Bran- che aus tariflichen oder anderen Gründen angebracht. Als zweiter Eckpunkt unseres Gesetzentwurfs soll deshalb ebenfalls die Förderhöchstdauer von fünf auf sechs Jahre erweitert werden. Die Verlängerung der Förderung um ein Jahr wird nach unserer Einschätzung zur stärkeren Ak- zeptanz der Altersteilzeit sowohl bei Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern beitragen. Bei einer längeren För- derdauer werden Arbeitgeber eher bereit sein, mit ihren Arbeitnehmern längere Laufzeiten der Altersteilzeitver- träge zu vereinbaren als bisher. Auf Arbeitnehmerseite ist die Verlängerung der Förderung für die Beschäftigten von Interesse, die die Altersteilzeit für einen längeren Zeit- raum nutzen wollen. Plant der Arbeitnehmer heute die Al- tersteilzeit so, dass er am Ende der Altersteilzeit keine oder nur geringfügige Rentenabschläge in Kauf nehmen muss, wird er wahrscheinlich die Verlängerung der För- derdauer auf sechs Jahre nutzen. Dadurch kann er bereits ein Jahr eher mit der Altersteilzeit beginnen, um zum sel- ben Zeitpunkt wie heute in Rente zu gehen. Hat der Ar- beitnehmer das so genannte Blockmodell vereinbart, bei dem er zunächst in der ersten Hälfte der Zeit voll weiter- arbeitet und dann in der zweiten Hälfte freigestellt wird, kann er dann ein halbes Jahr länger von der Freistellung profitieren als heute. Der frühere Beginn der Altersteilzeit führt dazu, dass auch entsprechend früher ein Wiederbesetzer auf den – teilweise – frei gewordenen Arbeitsplatz nachrückt und dementsprechend früher die Entlastung des Arbeitsmark- tes eintritt. Damit können in den nächsten Jahren junge Menschen Ausbildungs- und Arbeitsplätze besetzen, die sonst arbeitslos wären – ein echter Beitrag für das Bünd- nis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, ein echter Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssitua- tion in unserem Land. Ich freue mich in diesem Zusammenhang ganz beson- ders über die in den letzten Wochen erzielten Tarifab- schlüsse zur Altersteilzeit etwa in der chemischen Indus- trie und der Metall- und Elektroindustrie. Die Tarifpar- teien haben schnell und entschlossen die Chance genutzt, die ihnen die Vereinbarung im Bündnis und deren rasche Umsetzung durch die Bundesregierung bietet. Und – be- sonders wichtig – diese Tarifverträge sehen auch Abfin- dungen zum Ausgleich für die Rentenabschläge vor, die die Arbeitnehmer in Kauf nehmen müssen, wenn sie früher in Rente gehen. Auch diese Regelungen werden dazu beitragen, dass viele Arbeitnehmer früher mit der Al- tersteilzeit beginnen werden als bisher, da Einbußen durch die Rentenabschläge erheblich abgemildert werden. Nun noch ein Wort zu einer Folgeänderung der Verlän- gerung der Förderungshöchstdauer. Es geht dabei um die so genannte Mindestnachbesetzungsdauer. Diese wollen wir von bisher drei auf vier Jahr verlängern und damit si- cherstellen, dass Förderleistungen nur dann gezahlt wer- den, wenn eine längere Zeit der Wiederbesetzung gesi- chert ist. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9349 (C) (D) (A) (B) Entsprechend den Wünschen aus den Betrieben, der Bundesanstalt für Arbeit und von Länderseite wollen wir – als drittes Element der Neuregelung – die Errech- nung des altersteilzeitspezifischen Nettoentgelts erheb- lich vereinfachen. Der Entwurf sieht vor, dass es dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ermög- licht wird, jährlich neben der Mindestnettobetrags-Ver- ordnung eine Verordnung über die pauschalierten Netto- beträge des Altersteilzeitentgelts zu erlassen. Damit könn- ten die Aufstockungsleistungen der Betriebe und dementsprechend auch die Erstattungsleistungen der Bundesanstalt losgelöst von individuellen Besonderhei- ten pauschaliert werden. Ein Verfahren, das ja auch bei Entgeltersatzleistungen der Bundesanstalt praktiziert wird und dort bereits spürbar zur vielbeschworenen Ver- waltungsvereinfachung beiträgt. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir der Entwick- lung der Altersteilzeit einen weiteren Impuls geben. Schon jetzt ist die Altersteilzeit ein fester Baustein der Personalpolitik in den Unternehmen. Das beweisen nicht zuletzt die bereits existierenden über 375 Tarifverträge zur Altersteilzeit – und das in fast sämtlichen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung. Im Geltungsbereich die- ser Tarifverträge sind rund 13 Millionen Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer beschäftigt. Noch lassen sich keine seriösen Prognosen abgeben, inwieweit Beschäftigte künftig Altersteilzeit als attraktive Alternative des vorzei- tigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben empfinden. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Linie von Bundesregierung und Bündnis als Erfolg erweist. Es sind nicht zuletzt die Tarifpartner gefordert, den Arbeitnehme- rinnen und Arbeitsnehmern Angebote zu machen. Die in den vergangenen Wochen getätigten Tarifverträge, die zum Teil schon im Vorgriff die Änderungen dieses Ent- wurfs umsetzen, sind hierfür eine hervorragende Aus- gangsbasis, die mich zuversichtlich macht, dass das ver- besserte Gesetz in der Praxis eine starke Resonanz finden wird. Deshalb hoffe ich auch, dass unser Gesetzentwurf in diesem Haus eine breite Zustimmung erfährt. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Na- tionalsozialismus (Tagesordnungspunkt 11) Gisela Schröter (SPD): Am 8. Mai erfolgte die be- dingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches. Damit wurde dem nationalsozialistischen Wüten und Morden ein Ende gesetzt. Das deutsche Volk bekam die Chance für einen demokratischen Neuanfang. Dieser Tag markiert eine tiefe Zäsur in der jüngeren deutschen Geschichte. Unmissverständlich möchte ich feststellen, dass dieser Tag für mich ein Tag der Befreiung ist, kein Tag der mi- litärischen Niederlage, wie er von mancher Seite immer noch umgedeutet wird. Der 8. Mai ist ein Tag der Befrei- ung. Erstmals klar ausgesprochen hat das 1985 der dama- lige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Und in- zwischen hat sich diese Sichtweise auch bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Neben dem 8. Mai haben wir eine ganze Reihe wichti- ger Daten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialis- mus. Seit 1996 steht für uns der 27. Januar im Zentrum, der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde. Den 27. Januar be- gehen wir als großen nationalen Gedenktag. Dann geden- ken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Der Tag steht aber ebenso für die Befreiung vom Nazi-Terror. Daneben gibt es den Volkstrauertag, als Tag des Gedenkens an die Opfer der beiden Weltkriege. Am 9. November erinnern wir uns an die Reichspogromnacht von 1938 als einen ers- ten Höhepunkt der antisemitischen Barbarei. Am 20. Juli gedenken wir des Widerstands gegen Hitler. Auch unser nationaler Feiertag am 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ist in seinem historischen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu begreifen: Die deutsche Spaltung war das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und der Zweite Weltkrieg wurde von den Nazis angezettelt. Ebenso gemahnt uns der 23. Mai, der Tag der Verkündung des Grundgesetzes, an die Überwindung des Nationalso- zialismus. Wir haben also einen ganzen Komplex von Feiertagen, die Anlass geben, sich mit der jüngeren deutschen Ver- gangenheit auseinander zu setzen. Entscheidend ist aber nicht, dass wir diese Tage formal zu nationalen Gedenk- tagen erheben und Gedenkveranstaltungen im Deutschen Bundestag zelebrieren. Entscheidend ist doch, dass wir eine lebendige Gedenkkultur schaffen, lebendiges Geden- ken statt leerer Rituale. Der Bundestag selber hat mit sei- ner Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas einen – wie ich meine – herausragenden Beitrag zu einer solchen lebendigen Erinnerungskultur geleistet. Dazu gehört nach meiner Auffassung auch die Tatsache, dass wir – wenn auch reichlich spät – die Regelung der Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter angepackt haben. Die Entschädigung anderer Opfergruppen steht noch aus ebenso wie das angemessene Gedenken an die nichtjüdi- schen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtung. Das alles sind Anlässe zu einer möglichst breiten gesellschaft- lichen Debatte um die Auseinandersetzung mit dem Na- tionalsozialismus. Andere Beispiele für eine intensive Kultur des Geden- kens sind für mich die regional begangenen Gedenktage und -veranstaltungen. So gab es Anfang dieser Woche eine Gedenkveranstaltung in Buchenwald. Im April 1945 gedachten die KZ-Häftlinge ihrer ermordeten Mitgefan- genen und leisteten den „Schwur von Buchenwald“, woll- ten für das „Nie wieder!“ kämpfen. Daran erinnert man sich alljährlich, wie am vergangenen Montag, in der Ge- denkstätte Buchenwald. Das nenne ich gelebtes Erinnern. Hier nehmen die Menschen Anteil. Hier, vor Ort, wird für sie die Geschichte nachvollziehbar, greifbar, erfahrbar. Dazu gehört es auch, zu bedenken, was in Buchenwald ebenso wie in mehreren anderen ehemaligen Konzentra- tionslagern nach 1945 geschah. Hier bedarf es eines großen Maßes an historischer Präzision. Denn während die Geschichte in den Lagern Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009350 (C) (D) (A) (B) fortgeschrieben wurde, begann schon bald die Legenden- bildung. Doch einfache Geschichtsbilder helfen nicht weiter. Wir müssen die Geschichte der Lager sorgfältig und differenziert aufarbeiten. Das müssen wir insbeson- dere denjenigen gegenüber leisten, die wir vor allem er- reichen wollen: die jungen Menschen. Am Montag fanden sich in der Gedenkstätte Buchenwald erfreulicherweise übrigens besonders viele Jugendliche ein. Und einige ar- beiten sogar aktiv im Häftlingskomitee mit. Und wie sähe das aus an einem 8. Mai, den wir als of- fiziellen Gedenktag im Bundestag mit einer Gedenkver- anstaltung begehen würden? Aus meinen eigenen Ge- sprächen mit jungen Menschen weiß ich: Die fühlen sich von solchen Veranstaltungen nicht angesprochen. Seit vielen Jahren bemüht sich die PDS, den 8. Mai zum offi- ziellen Gedenktag zu machen. Vor drei Jahren schon ha- ben wir an dieser Stelle die Argumente für und wider aus- getauscht und das Ansinnen mit großer Mehrheit abge- lehnt. Mit ihrem Entwurf will die PDS folgende Ziele umsetzen: Wachhalten der historischen Lehre „Von deut- schem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“, Wachhal- ten der mahnenden Erinnerung an den Nationalsozialis- mus. Neonazistische Tendenzen sollen ebenso bekämpft werden wie Bestrebungen, die das ungeheure Ausmaß des Nazismus relativieren wollen. Das sind Ziele, denen wir wohl alle zustimmen können. Nur, diese Ziele erreichen wir nicht dadurch, dass wir einen weiteren offiziellen Ge- denktag beschließen. Ich fürchte, das wäre eher kontra- produktiv. Ein Mehr an Gedenktagen schafft nicht ein Mehr an historischem Bewusstsein. Abgesehen von der eingangs herausgestellten zentra- len Bedeutung des 8. Mai für uns Deutsche, kann aber auch nicht verschwiegen werden, dass dieser Tag durch ungute DDR-Traditionen so vorbelastet ist, dass er für ei- nen nationalen Gedenktag einfach ungeeignet ist. In der DDR war der 8. Mai ein Tag des verordneten Antifaschis- mus. Gedacht wurde der „Opfer von Faschismus und Mi- litarismus“. Mit einer wirklichen Auseinandersetzung mit den his- torischen Tatsachen hatte das wenig zu tun, eher mit der Legitimierung der eigenen Herrschaft. Zunächst war der 8. Mai ein Feiertag – ich erinnere mich gut, wie wir uns als Kinder über einen schulfreien Tag freuten. Schon bald wurde dieser Tag wieder zu einem Arbeitstag. Das Plan- soll musste schließlich erfüllt werden. Übrigens auch der Ostermontag wurde 1967 aus demselben Grund als Feier- tag abgeschafft. Was war denn ursprünglich der 8. Mai nach DDR-Les- art? Das war in erster Linie der Tag der Befreiung durch die Rote Armee. Schon bald bekam der Wahlspruch „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ Schieflage. Vollends seit der Ära Gorbatschow gerieten die alten Leit- bilder ins Wanken. Der 8. Mai verkam mehr und mehr zur leeren Hülle. Da halte ich es nicht für vertretbar, diesen Tag nun wieder in seiner tatsächlichen historischen Be- deutung wiederbeleben zu wollen. Ich fasse zusammen: Für das Wachhalten der Erinne- rung an das, was nie wieder geschehen soll, brauchen wir keine weiteren Gedenktage, erst recht keine, die aufgrund gewisser Traditionen vorbelastet sind. Stattdessen brau- chen wir eine lebendige, breite gesellschaftliche Ausei- nandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Der Bundestag selber kann dazu immer wieder den Anstoß geben. Das hat er bewiesen anlässlich der Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal; das wird er – so hoffe ich – fortsetzen bei der Debatte zur Einrichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, ebenso wie bei den anstehenden Entscheidungen zur Entschädigung anderer Opfergruppen. Erinnerungsarbeit leisten wir am besten dadurch, dass wir die bestehenden Gedenktage mit dezentralen regiona- len Veranstaltungen begehen. Große zentrale Gedenktage sollten – gerade damit sie ihre Wirkung entfalten können – die Ausnahme sein. Der 27. Januar erfüllt diesen An- spruch. Gefragt sind Ideen für Aktionen und Projekte, die vor allem die jungen Menschen ansprechen. Das ist auch eine Kernaufgabe der politischen Bildungsarbeit, die wir durchaus ernster nehmen sollten. Die notwendige Mahnung hat Elie Wiesel in seiner An- sprache zum diesjährigen 27. Januar hier an dieser Stelle so formuliert: „Vergesst nicht, dass ihr wahnsinnig wart, vergesst nicht, dass die Geschichte den Wahnsinn beher- bergte.“ Um diese Erinnerung wach zu halten, sind noch mehr gesetzlich verordnete und alljährlich wiederkeh- rende Gedenktage wenig hilfreich. Martin Hohmann (CDU/CSU):Der PDS-Antrag zum 8. Mai hat im Laufe der Jahre seinen provozierenden Cha- rakter verloren. Bei der Ersteinbringung im Jahr 1990 hat Chuzpe dazu gehört. Damals hat es den Demokraten der anderen Parteien sicher den Puls hoch getrieben. Heute ist die Provokation dem Ritual gewichen, heute fehlt dem Antrag jeglicher Neuigkeitswert, heute belegt der Antrag lediglich eine funktionierende Wiedervorlage in der PDS- Fraktionsbürokratie. So müssen Sie in Kauf nehmen, dass Ihr Antrag heute eine gewisse Langweile verbreitet. Hierin könnte Berechnung liegen. Warum? Der normale Mensch, ebenso das demokratische Gemeinwesen, erliegt der Gefahr, quengelnd wiederholten Forderungen nach- zugeben. Steter Tropfen höhlt den Stein. Damit man seine Ruhe hat, sagt man schließlich Ja, auch wenn das Ergeb- nis falsch ist. Die PDS wird uns aber nicht auf die falsche Fährte lei- ten: Erstens. Am 27. Januar gedenken wir der Befreiung von Auschwitz. Auschwitz ist das Synonym für absolute Gottesferne, für brutalen Terror, für Menschenverach- tung, für Menschenausbeutung, für Menschenvernich- tung. Schlimmeres ist kaum vorstellbar. Auschwitz – kein anderes Wort steht so exemplarisch für das Verbrecheri- sche des Nationalsozialismus. Der 8. Mai hätte neben dem Gedenktag 27. Januar viel inhaltliche Überschneidung. Gerade für junge Menschen im Schulalter wäre das schlechte Pädagogik. Wiederholung und Überschneidung könnten zu Abstumpfung, zum Weghören führen. Das können wir nicht wollen. Zweitens. Die Antragsbegründung der PDS ist eine Beleidigung für das Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland. Es stimmt einfach nicht, dass „es in allen Be- reichen der Gesellschaft seit Jahren Bestrebungen gibt ..., Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9351 (C) (D) (A) (B) die Verbrechen des ... Nationalsozialismus und Militaris- mus ... zu relativieren“. Im Gegenteil: In einer weltweit einzigartigen, dauerhaften Anstrengung stellt sich unser heutiger Staat dem Versagen und den Verbrechen während der NS-Diktatur. Wir tragen schwer an unserer Ge- schichte. Wir bekennen uns zu ihr. Wir übernehmen Ver- antwortung. Die Wiedergutmachungspolitik seit Konrad Adenauer belegt dies eindringlich. Es ist unverantwort- lich und grundfalsch, den Staatsterrorismus der NS-Zeit mit unserem heutigen Deutschland und seiner Gesell- schaft auch nur ansatzweise zu vergleichen. Drittens. Der PDS-Antrag käme nicht von der PDS, wenn er nicht seinen ideologischen Sinn hätte. Camou- flage, Bemäntelung der, nein besser Herausstehlen aus der eigenen geschichtlichen Rolle, das steht hinter dem PDS- Antrag. Indem die Linksextremen den Rechtsextremen zurufen: „Haltet den Dieb“, wollen sie sich auf die Seite der Rechtschaffenen stellen. Bevor Sie dort ankommen, haben Sie noch einen weiten Weg vor sich. Die Erkennt- nis, der geschichtlichen Kraft zu entspringen, die für 100 Millionen Tote Verantwortung trägt, verlangt von ih- nen noch viel Arbeit. Lesen Sie das Schwarzbuch des Kommunismus. Lesen Sie es mehrfach. Leisten Sie die gleiche Aufarbeitung Ihrer Geschichte, die die Bundesre- publik Deutschland bereits geleistet hat. Das wird Sie lange beschäftigen. Eines werden die Demokraten dieser Republik nicht zulassen: dass Sie sich, ähnlich wie die DDR, mit verbalen Tricks ideologisch selbst freisprechen. Weil das alles so ist, brauchen wir von Ihnen keine Lehren in Sachen Gedenkkultur. Deswegen brauchen wir von Ihnen keine Lehren in Sachen Gedenkkultur. Deswe- gen brauchen wir von Ihnen keine Hinweise für demo- kratische Traditionsbildung. Die PDS greift auf Vokabular des real existierenden Sozialismus zurück, wenn sie uns den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ anbietet. Durch Volkskammerbeschluss vom 21. April 1950 wurde der 8. Mai „Staatsfeiertag“. Bis 1967 behielt der 8. Mai diesen Charakter. Da wurde die Freundschaft mit der Sowjetunion und die Kampfbereit- schaft der DDR demonstriert. Stechschritt, Blauhemden, ein Meer von roten Fahnen, große Militärparade in Ostberlin. Fackelzüge uniformierter FDJ, öffentliche Schwüre auf die ewige Treue zur Sowjetunion. Soll das im Jahr 2000 unser Vorbild sein? Abgesehen davon, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt, was mancher aus der PDS bedauern mag: Dieser 8. Mai ist in Deutschland be- setzt. Er ist vorbelastet. Wer sich ein Rest geschichtlichen Gespürs bewahrt hat, kommt zu dem Schluss: Dieser 8. Mai taugt einfach nicht als Vorbild für das demokrati- sche Deutschland. Herzlich bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von der PDS, uns mit ähnlichen Vorschlägen aus dem Arsenal der DDR-Gedenktage zu verschonen. Im Angebot wäre etwa der 1. März als „Tag der Volksarmee“ oder der „Tag der Republik“ am 7. Oktober. Der „Weltfriedenstag“ hätte auch seinen Reiz. 1968, nach der bewaffneten „Bruder- hilfe“ für die Tschechoslowakei, konnte man ihn beson- ders freudig feiern. 8. Mai 1945 – Tag der Befreiung? Befreiung für alle? Glück hatte und Freiheit gewann, wer im Westen war. Für KZ-Häftlinge öffneten sich die Tore. Andere wurden auch befreit: befreit im Sinne von etwas loswerden. Be- freit von Eigentum, von Gesundheit, von Freiheit, von Geschlechtsehre, vom Leben. Die Millionen von Kriegs- gefangenen, die neuen Zwangsarbeiter und Verschlepp- ten, die Millionen Vertriebenen, die Millionen Vergewal- tigungsopfer, die neuen Volksfeinde, die neuen Insassen von Buchenwald: Wie können sie den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sehen? Die Kontroverse „besiegt oder befreit“ ist im Grunde müßig. Da gibt es die Alliierten, da gibt es die Deutschen. Nach ihrer Selbsteinschätzung und ihren überdeutlich be- kundeten Selbstbewusstsein sahen sich die Alliierten als Sieger, einzig und ausschließlich als Sieger. „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat“ so das alliierte Oberkommando. Diese Worte sind kristallklar. Da wirken Ihre Versuche ab- surd, sozusagen nachträglich aufs Siegertreppchen zu schleichen. Eine allgemein verbindliche Selbsteinschätzung für uns Deutsche ist nicht möglich. Das entscheidet sich am je konkreten Einzelschicksal. Auf die Gesamtheit unseres Volkes gesehen, folge ich lieber einem verlässlichen Zeit- zeugen als nachgeborenen Heißspornen. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, nannte den 8. Mai 1945 „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns ... Weil wir erlöst und vernichtet in ei- nem gewesen sind“. Erlöst und vernichtet in einem ... Schließlich: Wenn man das Wort „Befreiung“ erst nimmt, dann waren die Deutschen zuvor unfrei. Der Un- freie handelt unter Zwang, er kann sich nicht widersetzen. Wer sich nicht widersetzen kann, den trifft keine Verant- wortung für sein Handeln, weder rechtlich noch mora- lisch. Wo wäre denn dann die Begründung für Wiedergut- machungsleistungen? Wo wäre die Begründung für die Zwangsarbeiterentschädigung? Für die CDU/CSU-Fraktion kündige ich eine Ableh- nung des PDS-Antrages an. Die PDS bitte ich, uns mit ei- ner Reprise ihres Ladenhüters zu verschonen. Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will Ihnen kurz in vier Punkten unsere Position zu dem vorlie- genden Gesetzentwurf der PDS schildern. Erstens. Der 8. Mai 1945 war und ist für uns der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Dass dies zum Konsens unserer Gesellschaft wird, daran wollen wir ge- meinsam arbeiten. Ich finde es völlig inakzeptabel, wenn manche in diesem Datum noch immer den Tag der Nie- derlage der Deutschen sehen. Die Niederlage der deut- schen Demokratie war der 30. Januar 1933. Hiernach wa- ren Humanität und Kultur nur noch in Opposition zum Regime der Nationalsozialisten zu bewahren. Die bedin- gungslose Kapitulation des Deutschen Reiches setzte dem Völkermord an Juden, Sinti und Roma und den Völkern Osteuropas sowie dem millionenfachen Töten in diesem Krieg endlich ein Ende. Die verbrecherische Diktatur des Nationalsozialismus war damit beendet. Zweitens. Der Bundespräsident hat den 27. Januar zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009352 (C) (D) (A) (B) Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sollte gerade im Land der Täter einen besonderen Stellen- wert einnehmen. Es sollte im Zentrum stehen. Dieses Ge- denken ist Mahnung, uns mit Rassismus, Antisemitismus und Minderheitenfeindlichkeit, mit religiöser und politi- scher Intoleranz auseinanderzusetzen. Dies erfordert, dass der Benachteiligung und Diskriminierung von Minder- heiten durch Staat und Gesellschaft mit rechtlichen Schritten und pädagogischen Maßnahmen konsequent entgegengetreten wird. Drittens. Gedenken muss sich vor allem am Umgang mit den Opfern messen lassen. Hier haben wir mit dem 27. Januar einen Prüfstein gesetzt, dessen wir uns erst noch würdig erweisen müssen: bei der Einbeziehung der osteuropäischen Juden in den Artikel-2-Fonds, bei der Anerkennung des Schicksals der vergessenen Opfer, der Deserteure, Homosexuellen, Zwangssterilisierten, Behin- derten und der so genannten Asozialen. Für mich haben die Rehabilitierung aller Opfer und die Sorge für die Überlebenden eindeutig Vorrang vor weiteren offiziellen Gedenkveranstaltungen. Viertens. Der vorliegende Entwurf überzeugt mich auch in der Form nicht. Die jährliche Durchführung einer Gedenkveranstaltung des Bundestages gesetzlich festzu- schreiben erscheint mir nicht seriös. Ich finde es sogar al- bern. Vorschläge zum Gedenken sollten angemessen ange- gangen werden und gründlich durchdacht sein. Der Streit um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die Forderung nach Denkmälern für die anderen Opfer zei- gen, wie schwierig es ist, eine angemessene Form für die notwendige Auseinandersetzung mit unserer Geschichte zu finden. Wir müssen uns auch vor so leeren Ritualen wie unendlich vielen Gedenkveranstaltungen hüten. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Der 8. Mai 1945, der Tag der militärischen Niederlage des national- sozialistischen Deutschlands, ist ohne jeden Zweifel ein markantes, höchst wichtiges Datum in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner wohl berühmtesten Rede die historische Be- deutung dieses Ereignisses gewürdigt und dabei die Be- freiung Deutschlands und Europas von der Diktatur des Nationalsozialismus als epochale Leistung der Alliierten herausgestellt. Spätestens seit dieser Rede Richard von Weizsäckers wird alljährlich am 8. Mai durch Politik und Publizistik, in den Schulen, in vielen gesellschaftlichen Institutionen gerade auch an den Aspekt der Befreiung vom National- sozialismus erinnert. Dies geschieht aus freien Stücken, ohne staatliche Vor- gabe. Gerade deswegen ist dieser Vorgang so wertvoll. Nicht die Frage ist entscheidend, ob an ein Ereignis Kraft staatlicher Anordnung gedacht wird, sondern entschei- dend ist, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen jüngsten Geschichte stattfindet. Umso besser, wenn die Gesellschaft selbst dafür sorgt, dass die Auseinandersetzung über Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus wach bleibt. Ein Vergessen darf es nicht geben. Nicht zuletzt eine leider festzustellende gewisse Anfälligkeit eines Teils der Jugendlichen für rechtsextremes Gedankengut beweist, welch große politi- sche Bildungsaufgabe immer wieder erfüllt werden muss. Offizielle Gedenktage können dabei ein geeignetes Hilfsmittel sein. Sie sind dann nicht nötig, wenn die Erin- nerung an das entsprechende Ereignis ohnehin lebendig ist. Genau dies ist am 8. Mai zu beobachten. Die F.D.P. lehnt daher den vorliegenden Gesetzentwurf der PDS ab. Wir lehnen damit nicht das Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus ab. Wir meinen viel- mehr, das in unserer lebendigen Demokratie dieses Ge- denken nicht vom Staat vorgeschrieben werden muss. Da- her ist das von der PDS angestrebte Gesetz überflüssig. Anlage 5 Zu Protokoll gegene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Ver- braucherrechtes sowie zur Umstellung von Vor- schriften auf Euro Dirk Manzewski (SPD):Am heutigen Tag debattieren wir hier im Deutschen Bundestag über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Fernabsatzgesetz. Nach dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlun- gen sowie dem Gesetz zur vergleichenden Werbung und zur Änderung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften befas- sen wir uns damit im Rahmen der Rechtspolitik in kürzes- ter Zeit erneut mit einem wirtschaftspolitischen Thema. Der Gesetzentwurf dient dabei in erster Linie der Um- setzung der entsprechenden Richtlinie des Europäischen Parlaments über den Verbraucherschutz bei Vertragsab- schlüssen im Fernabsatz. Vorrangiges Ziel ist es in diesem Zusammenhang, den Verbraucher vor irreführenden und aggressiven Verkaufs- methoden im Fernvertrieb zu schützen und das Recht der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vollendung des Bin- nenmarktes zu hamonisieren. Dem Gesetzentwurf kommt dabei rechtspolitisch be- sondere Bedeutung zu. Er bildet quasi den rechtlichen Grundpfeiler auf dem Weg Deutschlands in die Informa- tionsgesellschaft. Das Gesetz wird zukünftig die Vertriebsarten regeln, bei denen sich Verkäufer und Käufer nicht mehr, wie bis- her in der Regel üblich, physisch begegnen und Verbrau- cher die Ware oder Dienstleistung in der Regel nicht vor Vertragsschluss in Augenschein nehmen können. Dies betrifft neben dem klassischen Versandhandel ins- besondere die Geschäfte, die unter Einsatz der neuen Kommunikationstechnologien getätigt werden. Zukünftig werden Produkte oder Dienstleistungen im- mer verstärkter über Internet, Fernsehen, aber auch Presse und Telefon angeboten und Auftragserteilungen Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9353 (C) (D) (A) (B) dementsprechend immer häufiger über Computer, Telefax und Telefon erfolgen. Den größten Nutzen wird der Fernabsatz dabei aus der Öffnung der Grenzen im europäischen Binnenmarkt zie- hen. Die Möglichkeit, unter Einsatz der neuen Kommuni- kationstechnologien auch grenzüberschreitend elektro- nisch geschützte Käufe zu tätigen, wird ein Übriges tun. Für viele ist dies der Markt der Zukunft, insbesondere weil hier den neuen Informationstechnologien ein immer höherer Stellenwert zukommt. Optimistische Studien se- hen in diesem Zusammenhang allein für die Bundesrepu- blik ein Wachstumspotenzial von bis zu 60 Milliarden DM in den Bereichen Online- und Teleshopping voraus. Der Umstand, dass immer mehr Firmen ihre Erzeug- nisse oder Dienstleistungen mithilfe der neuen Technolo- gien vertreiben, kann vor allem für Verbraucher jedoch nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile bieten. Insbe- sondere aufgrund der fehlenden physischen Präsenz der Vertragsparteien entstehen besondere Probleme, denen mit speziellen Regelungen begegnet werden muss. Die hieraus resultierenden Gefahren und relative Unsi- cherheiten, die diese in juristischer Hinsicht mit sich brin- gen, sind erkannt und ausgeräumt worden. Der Gesetz- entwurf der Bundesregierung erfüllt die insoweit an ihn gestellten Anforderungen. Er wird für Verbraucher und Anbieter in einem veränderten Marktumfeld Rechtssi- cherheit gewährleisten. Das Recht auf die Wahlfreiheit des Verbrauchers wird gesichert sein. Dieses beddeutet nicht nur, dass der Verbraucher in sei- ner Privatsphäre vor belästigenden Bestellaufforderun- gen- oder -angeboten geschützt wird; ihm steht auch ein hoher Informationsanspruch vor der Bestellung und während der Auftragsausführung zu. Die neue Technolo- gienutzung wird keinesfalls zu einer Einschränkung der dem Verbraucher zu liefernden Informationen führen. Daneben steht dem Verbraucher ein wirkungsvolles Widerrufsrecht als klassisches Schutzinstrument zur Seite. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt wird im Übrigen die in diesem Zusammenhang vorgenommene Vereinheitlichung nahezu aller Widerrufsfristen sein. Zudem ist die Verbandsklagemöglichkeit konkretisiert und der Verbraucher vor den Risiken einer betrügerischen Verwendung seiner Zahlungskarten stärker geschützt worden. Das Gesetz wird auch konsequent gegen diejenigen vorgehen, die meinen, den Verbrauchern durch Mitteilun- gen über angebliche Gewinne Warenangebote aufdrängen zu können. Die frohen Botschaften über angebliche Ge- winne von Geld, Schmuck, Reisen oder Autos, an deren Ende dann bis auf die Erkenntnis „außer Spesen nichts ge- wesen“ nichts bleibt, werden damit hoffentlich der Ver- gangenheit angehören. Zukünftig wird der Unternehmer beim Wort genommen werden können und den Gewinn auszukehren haben. Nun können einige meinen, dass der Gesetzentwurf tendenziell doch sehr verbraucherfreundlich sei. Ich selbst halte ihn für ausgewogen, da ich davon ausgehe – auch wenn dies zunächst widersprüchlich klingen mag –, dass hier Verbraucher und Unternehmer ein gemeinsames berechtigtes Interesse am Verbraucherschutz haben müs- sen. Die Erwartungen der Unternehmer in den Fernabsatz werden sich meiner Auffassung nach nämlich nur erfül- len, wenn dem Verbraucher die Angst vor diesem expan- dierenden Vertriebsweg genmmen wird. Die Interessen von Verbrauchern und Unternehmen decken sich inso- weit. Die Unternehmer haben ein berechtigtes Interesse daran, dass potenzielle Kunden nicht wegen schlechter Erfahrungen von dem neuen Markt abgeschreckt werden. Wer Probleme mit dieser neuen Vertriebsart gehabt hat, sei es aufgrund von Unzufriedenheit mit dem Produkt selbst oder mit der Abwicklung, bei dem wird sich anson- ten eine Hemmschwelle aufbauen. Ohne ausreichenden Verbraucherschutz wird sich der Kunde scheuen, hierauf noch einmal zurückzugreifen. Mir ist durchaus bewusst, dass zum Beispiel gerade die größeren Firmen im klassischen Versandhandel dem in der Vergangenheit vielfach bereits freiwillig nachgekom- men sind und ihren Kunden auch selbstständig beispiels- weise ein großzügiges Widerrufsrecht oder Rücktritts- recht eingeräumt haben. Es hat sich aber auch gezeigt, dass sich gerade diese Firmen auf dem Markt durchge- setzt haben. Da zum Beispiel das Medium Internet aufgrund der re- lativ geringen Kostenbelastung einerseits und der hohen Frequentierungsmöglichkeit andererseits auch vielen kleineren unbekannten Firmen eine Chance bietet, muss aufgepasst werden, dass dieses nicht von „schwarzen Schafen“ missbraucht wird. Klare Regelungen sind des- halb insoweit erforderlich und auch getroffen worden. Die Sachverständigen in der Anhörung haben den Ge- setzentwurf deshalb auch durchweg gelobt. Der Sachverständige Berendt vom Bundesverband des Deutschen Versandhandels sprach von „... einem insge- samt ausgewogenen Entwurf ...“ Er habe in seiner lang- jährigen Praxis noch kein Gesetzgebungsverfahren erlebt, das so gut von der Regierung vorbereitet worden sei. Professor Dr. Heinrichs, der Kommentator des BGB schlechthin, hat den Entwurf als sehr gelungen bezeichnet und gegenüber dem Bundesministerium der Justiz sein Kompliment ausgedrückt. Professor Dr. Micklitz brachte es letztendlich auf den Punkt, indem er meinte, dass er sich das Lob sozusagen schenken müsse, da es ansonsten bei so viel Zustimmung langsam peinlich werde. Dem ist nichts hinzuzufügen. Es zeigt, dass hier ein ge- lungenes Gesetzeswerk vorliegt. Auch mir bleibt deshalb nichts anderes übrig – und ich mache das natürlich gern –, als der Bundesjustizministe- rin und ihrem Haus mein Lob und meinen Dank für die- ses hervorragende Gesetz auszusprechen. Ich kann deshalb auch nicht verstehen, wie man dieses Gesetz nur wegen eines einzigen strittigen Punktes – der Kostentragungspflicht bei der Rücksendung der Ware – ablehnen kann. Hier geht es um reine Fundamentaloppo- sition, mehr nicht. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009354 (C) (D) (A) (B) Fachlich ist diese Einstellung jedenfalls nicht zu ver- stehen, zumal die größeren Firmen im klassichen Ver- sandhandel dies ohnehin schon seit langem so praktizie- ren. Hierzu kommt Folgendes: Die Informationen ein- schließlich der Rückabwicklung und deren Kosten sind dem Kunden auf einem dauerhaften Datenträger zur Ver- fügung zu stellen, spätestens mit Lieferung der Ware. Es kann doch aber nicht sein, dass dem Verbraucher die Rücksendekosten auferlegt werden, wenn er erstmalig bei Lieferung der Ware hiervon erfährt. Dies ist nicht sachge- recht. Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU):Der vorliegende Gesetzesentwurf erfolgt auf Grundlage der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Ver- tragsabschlüssen im Fernabsatz und ist bis zum Ablauf des 4. Juni 2000 in deutsches Recht umzusetzen. Der Gesetzentwurf befasst sich mit Verträgen, die un- ter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikati- onsmitteln abgeschlossen wurden. In diesem Zusammen- hang wird zunächst geregelt, welche Vertragsarten nicht unter den Gesetzeswortlaut fallen (§ 1 Abs. 3 Nrn. 1–7 FernAG). Kernstück der Richtlinie und damit auch eines zukünftigen Gesetzes sind aber folgende Punkte: die Auf- klärungspflicht des Unternehmers gegenüber dem Ver- braucher über den geschäftlichen Zweck und die Identität des Unternehmers (§ 2 FernAG) sowie die Regelung ei- nes Widerrufsrechts bzw. Rückgaberechts des Verbrau- chers (§ 3 FernAG). Damit gehen Änderungen im Bereich des BGB und AGBG einher. Insbesondere sollen die neuen §§ 361 a und 361 b des BGB Widerrufsrecht und Rückgaberecht regeln. § 661 a BGB soll die zivilrechtli- che Verpflichtung des Unternehmers enthalten, bei Ge- winn- oder Preiszusagen gegenüber dem Verbraucher die- sen Preis auch tatsächlich zu leisten. Schließlich sollen im AGBG die Möglichkeiten der Verbandsklage erweitert werden, wie es die Richtlinie vorgibt. Die Richtlinie strebt mehr Rechtssicherheit aufseiten des Verbrauchers an. Wir können feststellen: Allein für den Bereich des traditionellen „Katalog-Versandhandels“ wäre ein solches Gesetz nicht notwendig. Bestünde in die- sem Bereich des Versandhandels tatsächlich eine nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit zulasten des Verbrau- chers, so hätten sich große Versandhäuser, wie sie in meh- reren Städten Deutschlands angesiedelt sind, nicht eta- blieren und nicht mit diesem Erfolg halten können. Durch die neuen Medien, wie das Internet und den E-Commerce, ist jedoch ein neuer Typ von Versandhandel und dement- sprechend Fernabsatzverträgen entstanden. Allein ange- sichts der so genannten Online-Auktionen bedarf es eines erhöhten Verbraucherschutzes, da dem Verbraucher nun- mehr zum Beispiel nicht ohne weiteres erkennbar ist, mit wem er in Vertragsverhandlungen steht. Unter dem Einfluss der europäischen Richtlinienge- bung einerseits, der technologischen Entwicklung ande- rerseits bringt dieses Gesetz einen grundlegenden Para- digmenwechsel in unserem bürgerlichen Recht: Verträge werden europaweit, weltweit, seit Hunderten von Jahren prinzipiell formfrei durch schlichten Konsens geschlos- sen. Dies ist ein Prinzip, welches seit dem Dreißigjähri- gen Krieg naturrechtlich vermittelt praktiziert wird. Durch das FernAG, welches durch die Formulierung in § 1 Abs. 2 FernAG auf fast alle Verträge anwendbar ist, die per Brief, Katalog, Telefon, Telefax, E-Mails ge- schlossen werden, entfernt man sich von diesem Prinzip. In die Stellen des freien Konsens werden nun starke Formvorschriften, Bindungen, Informationspflichten und Widerrufsrechte gesetzt. Weiterhin soll nach der Formu- lierung des § 361 a BGB-E der Verbraucher im Falle des Widerrufs an seine auf den Vertragsabschluss gerichtete Willenserklärung nicht mehr gebunden sein. Bei der Be- gründung wird von einer „schwebenden Wirksamkeit“ gesprochen. Hingegen wird bisher bei den meisten Fällen des Widerrufsrechts von einer schwebenden Unwirksam- keit ausgegangen. Der Begriff der „schwebenden Wirk- samkeit“ ist neu. Für bestimmte Sondergesetze, wie zum Beispiel das Fernunterrichtsgesetz, mag eine solche Kon- struktion hinnehmbar sein. Sie passt aber nicht in das BGB. Das europäische Recht ist als Entscheidungsvorgabe diesbezüglich nicht zu ändern. Seine Umsetzung in natio- nales Recht ist als Entscheidungsvorgabe diesbezüglich nicht zu ändern. Seine Umsetzung in nationales Recht muss dieser grundsätzlichen Problematik jedoch Rech- nung tragen. Denn in der Tat führt dieses Gesetz nun auch im nationalen Bereich zu einem neuen Verbraucherrecht, und wir müssen sehr darauf achten, dass der rechtssyste- matische Paradigmenwechsel in Verbindung mit der Durchnormierung des Vertragsverhältnisses des Fern- absatzes, also die Einschränkung der im Zivilrecht grundsätzlich bestehenden Vertragsautonomie, uns nicht wegführt vom Bild des mündigen Verbrauchers, den wir uns wünschen. Gegen die Umsetzung der Richtlinie selbst ist in wei- ten Bereichen wenig einzuwenden. Jedoch sind folgende Punkte herauszustellen: Wir halten es für gut, dass ent- sprechend dem Gestaltungsrahmen der Richtlinie neben dem Widerrufsrecht des Verbrauchers auch ein Rückga- berecht vorgesehen wird, wie es ja auch der Praxis ent- spricht. Ein Punkt fordert jedoch unseren Widerspruch heraus: Aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf wurde in § 3 FernAG die Formulierung gestrichen, dass der Ver- braucher im Falle eines Widerrufs die Kosten der Rück- sendung zu tragen hat, wenn der Vertrag dies vorgesehen hat. Dabei würde die Richtlinie eine derartige Vereinba- rung zwischen den Vertragsparteien gestatten. Der Ge- setzentwurf nimmt hier also nicht eine Umsetzung der Richtlinie im Verhältnis 1:1 vor, sondern engt den ver- traglichen Spielraum der Parteien über die Vorgaben der Richtlinie hinaus ein. Dabei erfordert gerade der von mir beschriebene zivilrechtliche Paradigmenwechsel äußerste Sensibilität bei der Umsetzung. Ziel der Regelung sollte der angemessene Schutz des Verbrauchers sein, und nicht, Vertragstypen und Absatz- systeme, bei denen ein Widerrufsrecht besteht, insge- samt zu erschweren. Durch das Widerrufsrecht wird dem Verbraucher ein Vorteil zulasten eines Unternehmers eingeräumt, obwohl diesem als Vertragspartner kein missbilligendes Verhalten vorgeworfen werden kann. Es Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9355 (C) (D) (A) (B) ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb dem Verbraucher, der sich von einem aus freier Willenserklärung abge- schlossenen Vertrag löst, nicht wenigstens die Kosten und die Gefahr der Rücksendung auferlegt werden können. Stattdessen soll nun in §§ 361 a Abs. 2 BGB obligatorisch vorgesehen werden, dass der Verbraucher im Falle des Widerrufs zur Rücksendung der Ware auf Kosten und Ge- fahr des Unternehmens verpflichtet ist. Als Begründung für diese Kehrtwendung bezüglich der Kostentragung wurde ausgeführt, dass der Verbraucher durch die mögli- che Kostenlast der Rücksendung an seiner freien Aus- übung des Widerrufsrechts sich gehindert sieht und es so- mit zu einer Aushöhlung des Verbraucherschutzes in die- sem Bereich kommen könnte. Diese Argumentation überzeugt in keinster Weise. Zum einen wird durch Richtlinie und zukünftiges Gesetz die Vertragsfreiheit ohnehin in erheblicher Weise be- schnitten. Auch und gerade im Interesse eines wirksamen Verbraucherschutzes muss Vertragsfreiheit aber zumin- dest in Ansätzen noch bestehen bleiben. Dabei kann es ge- rade auch im Interesse eines funktionierenden Marktes liegen, wenn die Tragung der Rücksendekosten durch den Verbraucher vom einzelnen Unternehmer verlangt und vom Verbraucher gegenüber der Qualität von Ware bzw. dem Service dieses Unternehmens gegenüber anderen Unternehmen abgewogen werden kann. Gerade kleine und mittlere Unternehmen würden durch eine grundsätz- liche gesetzliche Verpflichtung, die Kosten der Rücksen- dung zu übernehmen, betroffen. Die großen Versandhäu- ser übernehmen schon heute als besonderen Kunden- dienst freiwillig die Rücksendekosten des Verbrauchers. Wenn nun alle Versandunternehmen verpflichtet werden, diese Rücksendekosten zu tragen, besteht die Gefahr, dass gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen dies finanziell nicht verkraften können, bzw. wenn sie die Kosten der Rücksendung durch eine Preisanhebung zu kompensieren versuchen, nicht konkurrenzfähig bleiben. Die möglichen Folgen dieser Entwicklung sind ein- deutig vorherzusehen: Die Anzahl der kleinen und mittle- ren Unternehmen, die sich teilweise auf bestimmte Pro- dukte spezialisiert haben, geht zurück, die Arbeitslosen- zahlen werden sich erhöhen, und es folgt eine Einschränkung des Wettbewerbs hin zu oligopolartigen Strukturen zwischen einigen wenigen großen Versand- häusern. Außerdem: Gerade im Bereich des E-Commerce und Internethandels wird der Markt der Zukunft gesehen, der auch erhebliche Wachstumschancen für den deut- schen Versandhandel im europäischen Raum beinhalten kann. Durch die Regelung, dass der Unternehmer obliga- torisch die Kosten und die Gefahr der Rücksendung zu tragen hat, wird aber die Möglichkeit der Erschließung neuer Märkte im Keim erstickt, da es nicht möglich ist, unfreie Pakete durch die Deutsche Post aus dem europäi- schen Ausland befördern zu lassen. Dies hätte zur Folge, dass entweder deutsche Versandhäuser nicht außerhalb Deutschlands Kunden beliefern könnten oder aber Zweig- stellen im europäischen Ausland zur Annahme von Rück- sendungen eröffnet werden müssten. Dies hätte wiederum zur Folge, dass mögliche neue Arbeitsplätze, die durch die Ausweitung des Versandhandels auf dem europäischen Raum geschaffen werden könnten, nicht in Deutschland, sondern im europäischen Ausland im Zusammenhang mit der Eröffnung der Zweigstellen geschaffen werden. Weiterhin wird durch die Regelung, dass der Unter- nehmer die Kosten der Rücksendung zu tragen hat, dem Missbrauch der Überstellung Tür und Tor geöffnet, und diese kann ja nicht Sinn des Verbraucherschutzes sein. Der Verbraucher benötigt im Einzelfall eigentlich nur ein Hemd, bestellt aber gleich fünf bis zehn Hemden, um dann eine Auswahl zu treffen. Eines der Hemden behält er, die anderen werden im Rahmen des Widerrufs auf Kosten des Unternehmens an dieses zurückgesendet. Dadurch, dass durch die Neuregelung das Unternehmen die Kosten der Rücksendung nicht vertraglich auf den Kunden übertragen kann, wird dieses Problem verstärkt auftreten. Nochmals: Waren bislang nur die großen Versandhäu- ser, die die Kosten der Rücksendung freiwillig übernom- men haben, davon betroffen, so werden in Zukunft auch kleinere Versandhäuser von diesem Problem betroffen sein. Es ist daher fraglich, ob gerade kleinere Unterneh- men dies finanziell verkraften können, bzw. wenn sie die Kosten der Rücksendung durch eine Preisanhebung zu kompensieren versuchen, noch konkurrenzfähig bleiben. Hier sollte über alle Feiertagsreden über die Bedeutung des Mittelstandes für unsere Volkswirtschaft hinaus auch einmal ganz konkret an die Teilhabechancen kleiner und mittlerer Unternehmen an diesem Fernabsatzmarkt ge- dacht werden. Übrigens: Es leuchtet auch nicht ein, warum der Ver- braucher, der ein Produkt im Versandhandel bestellt, in- soweit obligatorisch besser zu stellen ist als der Verbrau- cher, der ein Produkt herkömmlich im Laden erwirbt. Bei Verträgen im Versandhandel hätte das Unternehmen nach dem Gesetzesentwurf die Kosten der Rücksendung zu tra- gen. Falls aber der Verbraucher, der das Produkt her- kömmlich im Laden erworben hat, dieses zurückgeben bzw. umtauschen will, so hat er sich selbstverständlich auf seine Kosten zu dem Geschäft zu begeben und dort die Rückabwicklung des Kaufvertrages zu vollziehen. Sinnvoll wäre es, die ursprüngliche Version des Ge- setzentwurfes wieder aufleben zu lassen. Danach könnte das Unternehmen die Kosten der Rücksendung vertrag- lich auf den Verbraucher übertragen. Das heißt, es wäre dem Unternehmen freigestellt, ob es die Kosten der Rück- sendung übernehmen will oder ob der Kunde sie zu tragen hat. Dies würde dazu führen, dass wie bisher die großen Versandhäuser die Kosten für ihre Kunden übernähmen, die kleineren dagegen die Kosten auf den Kunden ver- traglich übertragen würden. Eine Gefahr der Aushöhlung des Verbraucherschutzes durch eine Hemmung des Ver- brauchers in der Ausübung seines Widerrufsrechts besteht auch in diesem Fall nicht. Entweder der Verbraucher in- formiert sich, wobei der Unternehmer gemäß § 2 FernAG zur umfassenden Unterrichtung des Verbrauchers ver- pflichtet ist, vor der Bestellung, ob das Unternehmen die Kosten der Rücksendung im Falle des Widerrufs trägt und bestellt von vornherein nur bei Unternehmen, die dies tun, oder er ist von dem Produkt so wenig überzeugt, dass er auch dann, wenn der die Kosten der Rücksendung zu tra- gen hat, von seinem Widerrufsrecht Gebrauch macht. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009356 (C) (D) (A) (B) In diesem Punkt schießt also der Gesetzentwurf über das Ziel, das heißt: die Richtlinie und den Verbraucher- schutz, hinaus. Wegen der grundsätzlichen rechtssyste- matischen Bedeutung dieses Punktes für die Vertragsfrei- heit in unserem Zivilrecht können wir dem Gesetz aus diesem Grunde nicht zustimmen. Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Rechtsausschussanhörung hat der renommierte Sachver- ständige Prof. Schwintowski uns kürzlich Tiefstapelei beim Titel dieses Gesetzes vorgeworfen. Die Bezeich- nung „Fernabsatz“ sei nicht angemessen. Das Gesetz sollte viel besser „Verbrauchervertragsgesetz“ heißen. In der Sache hat er ja Recht. Aber unabhängig von die- sen kosmetischen Fragen, die im Übrigen etwas mit der möglichst wortgetreuen Übersetzung der englischsprachi- gen Richtlinie zu tun haben, gilt: Mit diesem Gesetz schafft die Koalition Rechtssicherheit beim E-Commerce. Durch Verbesserungen beim Verbraucherschutz stär- ken wir den Handel übers Internet und andere Telekom- munikationsmittel. Wir schaffen Vertrauen in die Nutzung der neuen Medien. Wem bislang der Kauf von Waren in der virtuellen Welt des Internet unheimlich war – zum Beispiel, weil er befürchtete, rechtlich nicht ausreichend geschützt zu sein – der braucht sich künftig keine Sorgen mehr zu machen. Das 14-tägige Widerrufsrecht schützt den Verbraucher vor bösen Überraschungen. Es ist ja ein Unterschied, ob ich mir die Ware im Laden in Ruhe anschauen kann oder ob ich ein kleines und vielleicht unscharfes Bild auf dem Bildschirm sehe. Macht der Verbraucher von seinem Recht auf Widerruf Gebrauch, muss er selbstverständlich die Ware zurückschicken. Aber, meine Damen und Herren von Union und F.D.P.: Warum sollen wir diesen Verbraucherschutz an anderer Stelle des Gesetzes wieder aushebeln? Wenn es nach Ih- nen ginge, sollte der Bürger die Kosten für die Rücksen- dung der Ware tragen. Typisch für Sie: Da lässt uns die Richtlinie an einer Stelle etwas Gestaltungsspielraum und Sie entscheiden sich sogleich gegen die Verbraucher. Eine solche Aushöhlung der Verbraucherrechte wollen wir nicht, und der Bundesrat auch nicht. Im Übrigen: Schon heute bietet der Versandhandel die- sen Gratis-Service seinen Kunden an. Wissen Sie warum, Herr Funke? Nicht aus Selbstschädigungsabsicht, son- dern weil man so das Vertrauen zu den Verbrauchern erst herstellt. Vertrauen in die neuen elektronischen Handels- formen werden außerdem auch die zahlreichen Unter- richtungspflichten schaffen. Das anbietende Unterneh- men muss künftig den Verbraucher über sämtliche Moda- litäten und Bedingungen des Vertrages informieren. Das ist fair. Nur wer weiß, was auf ihn zukommt, sollte ein Ge- schäft eingehen. Unseriöse Lockangebote, verkappte Gewinnzusagen: Bürgerinnen und Bürger werden von unseriösen Geschäfte- machern an der Nase herumgeführt. Wer kennt diese Art von Postwurfsendungen nicht: Es wird eine Reise oder ein PKW versprochen, aber am Ende kommen nur Kosten dabei he- raus und kein Gewinn. Damit soll künftig Schluss sein. Den Bürgerinnen und Bürgern wird deshalb ein einklagbarer An- spruch auf den angeblichen Auto-Gewinn eingeräumt. Ich bin mir sicher, dass demnächst die Zahl der leeren Verspre- chungen in den Briefkästen rapide abnehmen wird. Eine klare Rechtslage schafft das Gesetz auch bei un- aufgefordert zugesandten Waren. Hier sollen den Ver- braucher keinerlei Pflichten treffen – weder zur Rücksen- dung noch zur Aufbewahrung. Warum auch? Wer einem anderen etwas in der Hoffnung aufdrängt, vielleicht ein Geschäft zu machen, soll darin vom Gesetzgeber nicht auch noch bestärkt werden. Die Fernabsatzrichtlinie verpflichtet uns auch dazu, das haftungsrechtliche Problem beim Geldkartenmiss- brauch klar und unmissverständlich zu regeln. Auch das haben wir gemacht: Werden Geldkarten – sei es EC- der Kreditkarten – von Dritten missbräuchlich verwendet, darf dies keine negativen Folgen für den Karteninhaber haben. Hier muss die Bank haften. Das steht künftig so ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das Fernabsatzgeschäft wird im Wesentlichen zum 1. Juni in Kraft treten. Die Fernabsatzrichtlinie wird also pünktlich umgesetzt. Und nicht nur das: Es ist gelungen, die Verbraucherschutzgesetze in Deutschland weitgehend zu vereinheitlichen. Für diese wirklich beeindruckende Leistung möchte ich mich abschließend bei den Mitarbei- tern des Justizministeriums noch einmal ausdrücklich be- danken. Rainer Funke (F.D.P): Wir stimmen dem Gesetzent- wurf über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Ver- braucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro nicht zu. Wir hätten unsere grundsätzlichen Bedenken zurück- gestellt, wenn die Koalitionsfraktionen bei der ursprüng- lichen Fassung der Bundesregierung verblieben wären, wonach der Verbraucher die Kosten der Rücksendung zu tragen hat, wenn dies im Vertrag vorgesehen war. Diese Klausel hätte den kleinen und mittleren Unternehmen des Versandhandels die Möglichkeit eröffnet, über AGBs spe- zifische Regelungen zu finden. Diese Klausel ist über die AGV und damit über die grüne Fraktion aus ideologi- schen Gründen kaputtgemacht worden. Eine solche ideo- logische Grundhaltung können wir nicht teilen. Mit Sorge beobachten wir, dass über die europäischen Verbraucherschutzbestimmungen und deren Richtlinien immer mehr Regelungen unseres deutschen Schuldrechts verändert werden. Nun muss eine Veränderung nicht not- wendigerweise negativ sein, aber die einseitige Verbrau- cherschutzbetrachtungsweise führt zu einer Systemände- rung unseres bürgerlichen Rechts. Deswegen sind wir stets dafür eingetreten, einzelne verbraucherspezifische Gesetze nicht im BGB zu regeln, sondern in gesonderten Gesetzen, wie zum Beispiel im AGB-Gesetz oder Ver- braucherkreditgesetz. Das wäre der richtige Weg gewesen und hätte nicht zu einem Flickenteppich in unserem BGB geführt, das grundsätzlich vom Recht der Vertragsfreiheit ausgeht. In dieses Recht der Vertragsfreiheit wird dann durch das Gesetz über Fernabsatzverträge erneut einge- griffen, und zwar mehr als notwendig. Die Fernabsatz- richtlinie hätte uns hierfür durchaus Freiräume gegeben. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9357 (C) (D) (A) (B) Zusätzliche Bedenken habe ich hinsichtlich der Erwei- terung des Fernabsatzgesetzes durch weitere Vorschriften bei der Umstellung auf Euro. Inhaltlich ist gegen die Be- stimmung nichts zu sagen, aber warum muss die Umstel- lung auf Euro auf ein Verbraucherrechtgesetz draufgesat- telt werden? Warum können nicht systematisch passende Gesetze benutzt werden, um einheitliche und geschlos- sene Gesetze zu verabschieden? Omnibusgesetze führen langfristig zu unklaren Gesetzen und einer undurchsichti- gen Gesetzgebung, Lassen Sie uns doch in einer Zeit, in der wir ruhig und gelassen Gesetze verabschieden können, bei unserem her- kömmlichen System verbleiben. Rolf Kutzmutz (PDS):Wie verhält man sich zu einem gelungenen Gesetz mit einem misslungenen Titel, weil missdeutig, und einer misslichen Sprache, weil paragra- phenweise bürokratisch-technokratisch? Man befürwor- tet es, obwohl Inhalt und Form nicht die Einheit bilden, die wünschenswert wäre. Warum kann ein Verbraucher- schutzgesetz nicht auch so benannt und verbraucher- freundlicher abgefasst werden? Ich sage das vor allem deshalb, weil die Vertreter des Bundesjustizministeriums in Sachen Justizreform keine Gelegenheit auslassen, auf Bürgerfreundlichkeit hinzuweisen. Die rechtssystematischen Probleme, die das Gesetz an der einen oder anderen Stelle aufwirft, dürften dagegen eher die Juristen bewegen, aber sie nicht wirklich in ihrer Tätigkeit behindern. Der Schutz der Verbraucher, die auf dem Weg des elektronischen Geschäftsverkehrs – wie dem Tele-Shop- ping oder bei Online-Geschäften im Internet – Waren be- stellen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen wol- len, ist vor allem angesichts der rasanten Entwicklungen auf dem internationalen Marktplatz Internet dringend er- forderlich. Eine jüngste Studie von Verbraucherverbän- den, an der sich 11 Organisationen in vier Kontinenten beteiligten, belegte noch einmal deutlich auf der Grund- lage eines internationalen Einkaufstests in 17 Ländern, wie wichtig Rechtssicherheit zum Schutz der Internet- Konsumenten ist. Klare Regelungen schaffen aber auch Vertrauen im so genannten E-Commerce, was letztlich natürlich ebenso den Anbietern zugute kommt. Der Be- sonderheit des Fernabsatzes, der im Kern dadurch ge- kennzeichnet ist, dass zum einen Anbieter und Verbrau- cher sich nicht physisch begegnen und zum anderen der Verbraucher die Ware oder Dienstleistung in der Regel nicht vor Vertragsabschluss in Augenschein bzw. in die Hand nehmen kann, musste also dringend durch spezielle rechtliche Regelungen Rechnung getragen werden. Dass der Regierungsentwurf über die Mindestanforderungen der EU-Fernabsatzrichtlinie hinausgeht, kann nur be- grüßt werden. Begrüßenswert ist vor allem die Erweiterung der In- formationspflichten – eingeschlossen die wichtige Pflicht zur Information des Verbrauchers, wann der Vertrag zu- stande kommt – und der Vorschlag zur Verpflichtung des Unternehmers, in jedem Fall nach Vertragsabschluss alle Informationen auf einem dauerhaften Datenträger dem Verbraucher zur Verfügung zu stellen. Ausgesprochen verbraucherfreundlich ist auch, dass in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der Unternehmer die Gefahr und die Kosten einer möglichen Rücksendung tragen soll, dieses Problem also nicht der Vertragsfreiheit überlassen wird. Diese bis zuletzt umstrittene Regelung scheint mir im Interesse einer eindeutigen, weil aus- nahmslosen Regelung als überaus vernünftig. Einen ech- ten Gewinn für alle Glückssucher dürfte im Übrigen auch die nunmehr klare Bestimmung darstellen, dass Gewinn- zusagen eingehalten werden müssen. Positiv hervorhebenswert ist schließlich, dass die in vielen Sondergesetzen vorgesehenen Widerrufs- und Rückgaberechte des Verbrauchers vereinheitlicht und im BGB geregelt werden. Alles in allem wird mit diesem Gesetz ein erster Schritt zur Vereinfachung des unüber- sichtlichen Verbraucherrechts getan. Ich erwarte, dass das Fernabsatzgesetz den Verbraucherschutz hierzulande tatsächlich stärken und eine wichtige Schutzlücke schließen wird. Das verbesserte Verbandsklagerecht dürfte schließlich ein Übriges dazu beitragen. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister der Justiz: Mit dem Gesetz über Fernabsatzver- träge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro beginnen wir, un- sere Rechtsordnung für den elektronischen Handel vorzu- bereiten. Gleichzeitig nutzen wir die Gelegenheit, das verstreute Verbraucherrecht übersichtlicher zu gestalten und zugleich auch effektiver zu machen. Wer heutzutage Einkäufe erledigen muss, ist nicht mehr nur von den Ladenöffnungszeiten abhängig. Er kann auch bequem vom heimischen Sofa aus bestellen. Damit meine ich nicht nur den guten alten Versandhandel. Für Unternehmen gehört es heute zunehmend zum guten Ton, dass sie eine Website haben, auf der man Online-Kataloge durchstöbern und Bestellungen aufgeben kann. Die neuen Möglichkeiten werfen aber auch neue Fra- gen auf: Wer in einem Laden kauft, hat die Ware vor Au- gen. Man weiß, an wen man sich wenden soll, wenn der Fernseher oder der Fotoapparat nicht funktionieren. An- ders ist die Ausgangslage beim Kauf über das Internet: Hier ist es sehr verlockend zu bestellen, wenn man nur per Mausklick tätig werden muss. Was aber ist, wenn sich die auf der Homepage schön präsentierte Ware als minder- wertig erweist? Was ist zu unternehmen, wenn die Ware mangelhaft ist und die Homepage keine Angaben über den Vertragspartner enthält? Auf diese und andere Fragen müssen wir Antworten finden, die den Verbraucher schüt- zen, aber den Unternehmen trotzdem die effektive Nut- zung der neuen Techniken erlauben. Antworten darauf enthält das neue Fernabsatzgesetz. Der Verbraucher muss über den Anbieter, seine Pro- dukte und Bedingungen informiert werden. Die Informa- tionen müssen so dargeboten werden, wie es das jeweils eingesetzte Medium – Fax, Telefon, Internet usw. – er- laubt. Solche Informationen müssen dem Verbraucher spätestens mit der Lieferung der Ware gegeben werden, damit er seine Rechte kennt. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein Widerrufsrecht. Es besagt, dass der Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009358 (C) (D) (A) (B) Verbraucher sich innerhalb von 14 Kalendertagen wieder von dem Vertrag lösen kann. Manche haben anfangs gefragt: Wie passt denn das zu unseren traditionellen Grundsätzen? Ist dass denn nicht eine unzumutbare Belastung für den Unternehmer? Natürlich zwingt uns die Fernabsatzrichtlinie zu diesem Schritt. Aber hinzu kommt: Das Widerrufsrecht stärkt das Vertrauen der Kunden in die Seriosität eines Unterneh- mers. Sie wissen, dass sie nicht übervorteilt werden, weil sie sich die Sache anders überlegen können. Und die Kun- den geben dem Unternehmer das Vertrauen zurück. Er- fahrungen zeigen, dass die Kunden zu ihren Verträgen ste- hen. Man könnte etwas überspitzt sagen: Sie machen von ihrem gesetzlichen Widerrufsrecht keinen Gebrauch, ge- rade weil es besteht, weil sie sich sicher fühlen. Genau darum räumen viele Unternehmen ihren Kunden schon jetzt – ganz ohne Gesetz – ein Widerrufsrecht ein. Bei der technischen Gestaltung des Widerrufsrechts haben wir sehr darauf geachtet, dass der Verbraucher- schutz nicht zum Hindernis für die modernen Techniken wird. Die Information muss nicht mehr wie früher auf Pa- pier erfolgen. Zugelassen ist die Information auf dauer- haftem Datenträger. Der Kunde kann zudem mit qualifi- zierten elektronischen Signaturen signieren. Im Grundgesetz ist uns solch ein Widerrufsrecht nicht unbekannt. Im Haustürwiderrufsgesetz, Verbraucherkre- ditgesetz, Teilzeit-Wohnrechtegesetz und Fernunterrich- tungsschutzgesetz finden sich solche Rechte. Hierbei han- delt es sich allerdings um unterschiedliche Regelungen. Dies trägt nicht zur Übersichtlichkeit bei und hat nicht zu- letzt die Wirtschaft selbst veranlasst, eine Vereinheitli- chung zu fordern. Einen ersten Schritt unternehmen wir mit diesem Gesetz. Das Fernabsatzgesetz enthält diese Vereinheitlichung im Hinblick auf die Frist für die Ausü- bung des Widerrufsrechts, ihre Modalitäten und die Fol- gen des Widerrufs. Gleichzeitig schaffen wir einheitliche Definitionen für die Schlüsselbegriffe „Verbraucher“ und „Unternehmer“. Diese integrative Lösung ist von den Sachverständigen begrüßt worden. Sie trägt ganz ent- scheidend zur Übersichtlichkeit unseres Rechts bei. Die Umsetzung von EU-Richtlinien ist eine Chance zur Modernisierung unserer Rechtsordnung. Das Fernab- satzgesetz ist ein gutes Beispiel dafür. Das Fernabsatzgesetz macht das Verbraucherrecht schließlich auch effektiver: Die Zusendung unbestellter Ware wird jetzt unterbunden. Der Unternehmer, der so et- was macht, riskiert nicht mehr nur einen Wettbewerbs- verstoß, sondern er verliert künftig alle Rechte. Entsprechendes gilt für nicht ernst gemeinte Gewinn- zusagen, die nur Kunden anlocken sollen. Künftig ist der Unternehmer verpflichtet, solche Gewinne auch tatsäch- lich auszuschütten. Durch eine entsprechende Klausel wird sichergestellt, dass niemand Nachteile hat, wenn ihm seine Kredit- oder andere Zahlungskarte entwendet wird. Alles in allem ist das heute zu beschließende Fernab- satzgesetz ein gelungener Schritt zur Vorbereitung unse- rer Rechtsordnung auf den elektronischen Handel und zur Modernisierung des Verbraucherrechts. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Schutz der Bewirtschaftung der Tropenwälder – 6. Tropenwaldbericht der Bun- desregierung (Tagesordnungspunkt 13) Christel Deichmann (SPD): Wälder sind das größte und wichtigste terrestrische Ökosystem auf unserer Erde. Über die Hälfte der Wälder befindet sich in den tropischen Regionen. Mit ihrem hohen Biomassevorrat spielen die tropischen Wälder für das globale und regionale Klima eine wichtige Rolle. Wir können davon ausgehen, dass 70 bis 80 Prozent der Pflanzen- und Tierarten der Welt in den Tropen beheimatet sind, davon allein 25 bis 40 Prozent in den tropischen Feuchtwäldern. Setzt sich die Tropen- waldzerstörung weiter in dem bislang zu verzeichnenden Ausmaß fort, werden in den nächsten 30 Jahren 25 Pro- zent von ihnen verschwinden. Der Erhalt der Tropenwälder ist nicht nur für die Er- haltung der Artenvielfalt, sondern in ganz besonderem Maße auch für die Stabilität des Klimas der Erde von ent- scheidender Bedeutung. Auch für die Landwirtschaft der jeweiligen Regionen ist der Tropenwald in allergrößtem Maße bedeutend. Er bietet Schutz vor Erosion und Über- schwemmungen, stabilisiert den Wasserhaushalt, bietet Nahrungs- und Rohstoffquelle und trägt somit zur Ar- beits- und Einkommenssicherheit bei. Trotz aller internationaler Bemühungen zum Schutz der Tropenwälder schreitet die Zerstörung dieser wertvol- len Ökosysteme scheinbar unaufhaltsam fort. Zwei Drit- tel aller Wälder der Erde wurden bereits durch den Men- schen vernichtet. Den Angaben der FAO zufolge wird jährlich eine Tropenwaldfläche von der Größe der gesam- ten Waldfläche Deutschlands zerstört. Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam ma- chen, dass damit zu rechnen ist, dass der Umfang der tatsächlichen Verluste an wertvollen Tropenwaldflächen noch größer ist als das durch FAO-Angaben verdeutlichte Ausmaß. Dies ist nicht nur die Aussage von Umweltver- bänden. Auch die von der Weltbank seit circa vier Jahren zusammengestellten Daten über den Rückgang von Tro- penwäldern führen zu diesem Schluss. Allerdings ist die gesamte Datenlage noch nicht hinreichend gesichert. Selbst Auswertungen von Satellitenaufnahmen brachten bisher keine ausreichend genaue Datengrundlage, da man Bananenplantagen nicht von Primärwäldern unterschei- den konnte. Ich sehe hier noch erheblichen Forschungs- bedarf, um gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Si- tuation effektiv zu starten. Lassen sie mich nun zu den Ursachen der Tropenwald- zerstörung Stellung beziehen. Als Hauptverursacher der Waldzerstörung in den Tropen wird mit rund 90 Prozent die landwirtschaftli- che Nutzung genannt. Das heißt, es ist nicht die direkte Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9359 (C) (D) (A) (B) landwirtschaftliche Nutzung an sich, sondern nach wie vor die Rodung von Wäldern zur Schaffung von Agrar- plantagen. Dazu zählen auch die Landnutzungsfeuer, aber auch in enormem Ausmaß unkontrollierte Brände. Die großflächigen Waldbrände, die 1997 in Indonesien, La- teinamerika und Afrika loderten, hatten und haben noch immer dramatische Auswirkungen auf Ökologie, Wild- tiere, menschliche Gesundheit, Feldfrüchte, Eigentum, Luftreinheit, Weltklima und wirtschaftliche Entwicklung. Die Risiken der Brandenstehung werden teilweise durch menschliche Aktivitäten erhöht, zum Beispiel durch se- lektiven Holzeinschlag, Entwässerung und auch durch den Klimawandel. Bis zu 80 Prozent der Brände gingen von Plantagenbe- sitzern aus. Aufgrund starker Dürre gingen im Herbst 1997 zahlreiche einzelne Feuer zu einem bis dahin nicht gekannten Flächenbrand ineinander über. Nicht nur Tro- penwälder, auch Plantagen wurden großflächig geschä- digt und zerstört. Die Kosten der Zerstörung sind gewaltig: Allein den durch Rauch und Luftverschmutzung entstandenen Scha- den in Indonesien beziffern Experten auf gut 1 Milliarde US-Dollar. Addiert man dem die direkt durch Feuer ver- ursachten Schäden hinzu, beträgt die Gesamtschaden- summe alleine für Indonesien im Jahre 1997 308 Milliar- den US-Dollar. Die durch diese Feuer an der Umwelt ver- ursachten Schäden wie verstärkte Erosion, erhöhter Was- serabfluss, klimawirksame Belastungen der Atmosphäre und Verlust an Biodiversität lassen sich hingegen nicht bzw. nur sehr, sehr schwer quantifizieren. Ab 1998 hat die Bundesregierung, unter anderem auch mit Mitteln des Auswärtigen Amts, den Aufbau des Glo- bal Fire Monitoring Center, GFMC, unterstützt. Das GFMC hat die vorrangige Aufgabe, über ein weltweites „Realtime Monitoring“ von Feuer ein objektives Situati- onsbild für pragmatische und damit auch operative Ent- scheidungen in Anwendung und Politik zu liefern; also mittels der zeitnahen Interpretation von Satellitenbildern und anderen Informationsquellen frühzeitig zielgerichtete Gegenmaßnahmen bezüglich einer effektiven Brand- bekämpfungsstrategie zu ermöglich. Eine weitere wichtige Ursache, die zur Zerstörung der letzten Urwälder der Erde führt, ist auch heute noch der il- legale Holzeinschlag. So wird zum Beispiel in Kamerun – das Land ist Afrikas größter Tropenholzproduzent – über die Hälfte des exportierten Holzes unkontrolliert und ohne Lizenz gefällt. In Indonesien stammen bis zu 70 Pro- zent des Urwaldholzes aus illegalem Einschlag, im brasi- lianischen Amazonas-Gebiet sind es offiziellen Angaben zufolge sogar 80 Prozent. Alle diese Länder liefern den Großteil ihres Holzexports in die G-8-Staaten. 1997 und 1998 haben sich die größten Industrienatio- nen der Welt in den Erklärungen von Denver und Bir- mingham verpflichtet, ein „Aktionsprogramm gegen ille- galen Holzeinschlag“ zu starten und sich weltweit für nachhaltige Waldnutzung einzusetzen. Dies war ein sehr wesentlicher Schritt, um der unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten und auch gezielt Gegenstrategien zu entwickeln. Doch Aktionsprogramme alleine ändern die Situation noch nicht. Die genannten sektoralen Ursachen der Tropenwald- zerstörung sind begründet mit den jeweiligen Gesell- schaftsstrukturen wie Armut, Unterernährung, Bevölke- rungswachstum, ungeklärten Landschutzungsrechten, in- stitutionellen Defiziten, Rechtsunsicherheit und geringer Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungspro- zessen (mangelnde Demokratisierung). Auch die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle. Hier sind insbesondere Ver- schuldung, Strukturanpassung, Zwang zu Exportorientie- rung und Devisenbewirtschaftung sowie steigende inter- nationale Holznachfrage zu nennen. Allein durch Inangriffnahme dieser strukturellen Pro- bleme kann die nachhaltige Waldbewirtschaftung zu einer attraktiven Landnutzungsform werden, die konkurrenz- fähig gegenüber andern Landnutzungssystemen, insbe- sondere auch der Landwirtschaft, ist. Nur somit kann ver- hindert werden, dass Wälder als Landreserven für kon- kurrierende Wirtschaftsweisen betrachtet werden und weiterhin der Zerstörung unterliegen. Notwendig sind deshalb ganzheitliche Ansätze, die sektorübergreifender Art sein müssen. Als dringlichstes Ziel zu Erhalt und Schutz der Tropen- wälder sehe ich es an, so bald wie möglich eine natur- gemäße, nachhaltige Produktion von Holz durch markt- wirtschaftliche Anreize weltweit durchsetzen. Einen wich- tigen Beitrag dazu kann die Holzzertifizierung leisten, wie sie zum Beispiel mit dem 1993 in Kanada gegründeten Gü- tesiegel des Forest Stewardship Council (FSC) erfolgt. Das Ziel, weltweit den Schutz der Primärwälder und eine nach- haltige, naturnahe und sozio-ökonomisch verträgliche Be- wirtschaftung der Sekundärwälder voranzutreiben, wird von der Bundesregierung begleitet und unterstützt. Das FSC-Siegel ist zurzeit das einzige Zertifikat mit nachvoll- ziehbaren, international verbindlichen Prinzipien und Kri- terien, das unter anderem auch die in den Regionen leben- den Menschen und ihre Rechte mit einbezieht. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ha- ben es in der Vergangenheit versäumt, hier ein eindeutiges Signal zu setzen. In der Tropenwaldpolitik der alten Bun- desregierung zeigte sich eine starke Tendenz zur Förde- rung von Vorhaben der industriellen Holzproduktion. Da- bei war die Holzproduktion in den Tropen nur in wenigen Ausnahmefällen auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Ich denke, es ist der richtige Weg, wenn Handelsunter- nehmen sich verpflichten, künftig nur noch dann Tropen- holz einzukaufen, wenn dass Holz aus einer umweltge- rechten und sozial akzeptablen Forstwirtschaft mit einem anerkannten Gütesiegel stammt. Das Engagement der Bundesregierung zur Unterstüt- zung der Entwicklung des Waldsektors im nationalen Kontext der Partnerländer wurde ergänzt durch die ak- tive Beteiligung am internationalen Diskussionsprozess im Rahmen des Zwischenstaatlichen Waldforums (IPF und IFF). In diesem Zusammenhang begrüße ich die Ini- tiative der Bundesregierung bei der Formulierung und Ausgestaltung „Nationaler Waldprogramme“ für die Partnerländer. Grundlage der Waldprogramme sind: na- tionale Souveränität, die Prinzipen der Nachhaltigkeit, Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009360 (C) (D) (A) (B) sektorübergreifende Ansätze und der politische Wille, ei- nen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Nutzung der Güter und Dienstleistungen des Waldes zu initiieren. Zu den letzten gehören, neben den klassischen Waldpro- dukten wie Holz, auch Dienstleistungen wie der Erhalt der Biodiversität, Klimaschutz, Stabilisierung des Was- serhaushaltes und Erosionsschutz. Um das Naturerbe nachhaltig erhalten zu können, ist weiterhin eine Ausweitung der Schutzgebiete auch im Be- reich der Tropenwälder unbedingt erforderlich. Letzte Forschungsergebnisse zeigen, dass lediglich 6 Prozent der existierenden Wälder weltweit unter Naturschutz stehen. Dieser Anteil wird der Bedeutung der Wälder – insbeson- dere der Tropenwälder – für das gesamte Ökosystem un- serer Erde in keiner Weise gerecht. Prognosen von Um- weltverbänden zufolge wird binnen 50 Jahren außerhalb geschützter Gebiete kein natürlicher Wald mehr vorhan- den sein. Mag sein, dass dies ein wenig dramatisch skiz- ziert ist; auf alle Fälle ist die Richtung der Waldentwick- lung leider so. In diesem Zusammenhang möchte ich da- rauf aufmerksam machen, dass 1999 30 Prozent der 159 Millionen DM für das Tropenwaldschutzprogramm zur Verfügung stehenden Gelder für die Förderung von reinen Naturschutzvorhaben bereitgestellt wurden. Diesen Pro- zess gilt es weiter zu forcieren. Im Vordergrund bei den von der Bundesregierung er- griffenen Maßnahmen steht die Verknüpfung von Maß- nahmen des Waldschutzes mit Maßnahmen der nachhalti- gen Waldbewirtschaftung. Hierbei ist es unabdingbar, die heimische Bevölkerung in die Maßnahmenkonzepte mit einzubeziehen. Eine Verknüpfung von Naturschutz und ländlicher Entwicklung durch die Berücksichtigung der Ansprüche indigener Bevölkerungsschichten und ihrer traditionellen Rechte verspricht eine höhere Akzeptanz und langfristige Erfolgsaussichten für einen dauerhaften Schutz der Tropenwälder. Ein Öko-Diktat des Nordens gegenüber dem Süden wird nicht akzeptiert werden – mit vollem Recht! Diese harte Erfahrung der Rio-Konferenz darf nicht in Verges- senheit geraten. Wenn wir die Tropenwälder schützen, ha- ben alle etwas davon. Cajus Caesar (CDU/CSU): Wir beschäftigen uns heute mit dem 6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung und dem Antrag der Koalitionsfraktion, die beiden bishe- rigen Berichte – Waldbericht und Tropenwaldbericht – zusammenzuführen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten diesen Antrag nicht für sinnvoll. Bevor ich mich jedoch damit auseinander setze, möchte ich Ihnen zuerst einmal die Wichtigkeit der tropischen Wälder erläutern. Die tropischen Wälder sind aus meiner Sicht – und da geben mir viele Experten Recht – als eine der größten Schatzkammern der Artenvielfalt unserer Welt zu be- zeichnen. Es ist deshalb das Ziel der CDU/CSU-Fraktion, sich für den Erhalt, Schutz und die nachhaltige Bewirtschaf- tung der Wälder einzusetzen. Die Bedeutung der Tropen- wälder wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass rund 5 Millionen höhere Tier- und Pflanzen- arten in diesen Regionen leben. Damit beherbergen die Regenwälder circa 50 Prozent aller bisher bekannten Arten der Welt. Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Auf ei- nem Hektar Regenwald des Amazonas leben etwa 400 verschiedene Baumarten. In Deutschland dagegen sind insgesamt nur rund 60 Baumarten beheimatet. Über 7 Pro- zent aller bekannten Baumarten – es gibt rund 120 000 – sind weltweit in ihrer Existenz bedroht. Diese Zahlen be- legen, welche ungeheure biologische Vielfalt in den tro- pischen Wäldern vorzufinden ist. Jeder Hektar Tropenwald und jede dort lebende Art sind für uns wichtig. Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen! Die tropischen Wälder haben jedoch nicht nur eine im- mense Bedeutung für die dort lebenden Tier- und Pflan- zenarten, wir wollen auch nicht die dort lebenden Men- schen vergessen. Diese Wälder sind auch Lebensraum für etwa eine halbe Milliarde Menschen, die entweder direkt in den Wäldern oder in den benachbarten Gebieten leben. Viele leben dort in waldgepasster Weise und nutzen die sich ihnen bietenden Gegebenheiten, um sich zu ernähren und kleinere Wirtschaftsformen wie zum Beispiel Gum- mizapfen zu betreiben. Deren Lebensgrundlage wird durch die fortschreitende Waldzerstörung zunehmend vernichtet. Sie sind dann gezwungen, aus ihrer ange- stammten Umgebung in die Städte umzusiedeln, so lan- den sie oft verelendet in Slums. Dieser Prozess muss aus humanitären und sozioökonomischen Gründen dringend gestoppt werden. Wir alle sind gefordert, uns für die Men- schen in den Slums und die Umwelt stark zu machen. Wesentlich ist aber auch die globale Bedeutung unter anderem für unsere Wasservorkommen. So versorgen die Tropenwälder rund 1 Milliarde Menschen mit Süßwasser und stellen einen gigantischen Filter für Luft und Wasser auf unserer Erde dar. Jeder Hektar Wald, der zerstört wird, trägt somit auch zum globalen Rückgang an Trinkwasser bei. Auf die Folgen des globalen Wasserrückgangs brau- che ich hier nicht näher einzugehen. Diese kann sich jeder ausmalen, wenn er sich die Bilder der hungernden Men- schen in Afrika vor Augen hält. Leider ist es so, dass die Zerstörung der tropischen Wälder in den letzten Jahren kaum reduziert oder gar ge- stoppt werden konnte. Noch immer werden jedes Jahr rund 12,5 Millionen Hektar Fläche tropischer Wald zer- stört. Das ist mehr als die gesamte bewaldete Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Berechnungen des brasilia- nischen Umweltschutzministeriums haben ergeben, dass im Jahre 2050 kein Baum mehr am Amazonas stehen wird, wenn die Zerstörung nicht schnellstens gestoppt wird. Bei einer solchen Prognose muss uns Angst und Bange werden. Hier ist die jetzige Regierung gefordert, ihre Versprechungen auch einmal in Taten umzusetzen. Der tropische Regenwald ist etwa 100 Millionen Jahre alt und wir Menschen sind dabei, ihn in wenigen Jahr- zehnten vollständig zu zerstören. Dieser Prozess muss jetzt gestoppt werden. Die Hauptursachen für die Zer- störung des Waldes liegen in der rasanten Zunahme der Weltbevölkerung. Rund 90 Prozent der Waldzerstörung in den Tropen ist auf die Landwirtschaft zurückzuführen. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9361 (C) (D) (A) (B) Fast die Hälfte der durch die Landwirtschaft in Anspruch genommenen Wälder sind durch Brandrodung für immer vernichtet worden. Die durch Brandrodung gewonnenen Flächen werden von den dort lebenden Menschen genutzt, um Getreide und andere Produkte anzubauen. Aus Sicht dieser Menschen ist es nachvollziehbar, dass sie den Wald roden, um zu überleben. So hat zum Beispiel Indonesien in jüngster Zeit wieder bis zu 100 000 Hektar Naturwald als Rodungsflächen frei- gegeben, um dem wachsenden Hunger in Lande wenigs- tens teilweise stillen zu können. Dies gilt natürlich auf für andere Länder, die ähnliche Versorgungsprobleme haben. Wir können daher selbstverständlich nicht leicht aus un- serer sicheren Position den Entwicklungsländern zurufen „Rettet den Tropenwald!“, ohne selbst an der Versorgung der Menschen mitzuarbeiten. Die Zerstörung der tropischen Wälder hat nicht nur Auswirkungen auf die betroffenen Regionen oder Länder, sondern insbesondere auch auf das globale Klima. Unter- suchungen haben ergeben, dass durch die Zerstörung des Tropenwaldes die Temperaturen dort in den betroffenen Regionen um zwei bis drei Grad Celsius ansteigen. Dies bedeutet, dass die Niederschläge zurückgehen, die Ver- dunstung auf den Böden zunimmt und die Bodenfeuchte zurückgeht. Die Folge ist eine sich ausbreitende Erosion und vielfach auch Zerstörung der ehemals fruchtbaren Böden. Nicht zu unterschätzen ist die CO2-Problematik. Auchdas globale Klima wird durch die Regenwälder beein- flusst, da sie als riesige Biomasse für die Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff zuständig sind, bei nach- haltiger Forstwirtschaft CO2-Neutralität darstellen.Nimmt der Wald ab, so steigt gleichzeitig der CO2-Gehaltder Luft und trägt somit zum Treibhauseffekt bei. Wie wollen wir die Klimaproblematik ernsthaft in den Griff bekommen, wenn wir bei uns in Deutschland aus der Kernenergie aussteigen, ohne regenerative Alternativen globalen Umfangs zur Verfügung zu stellen und auch hier eine Negativentwicklung zu verzeichnen ist? Darauf kann Rot-Grün keine ausreichende Antwort geben. Die Folgen bekommen wir auch in Europa langsam zu spüren, wie die verheerenden Stürme des letzten Winter gezeigt haben, – ein Grund mehr, gemeinsam zu handeln. Aber ich meine auch: Handeln statt nur reden! Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat die Not- wendigkeit des Schutzes der tropischen Wälder schon vor Jahren erkannt und Maßnahmen ergriffen. So hat sich die alte Bundesregierung seit Mitte der 80er-Jahre für den Schutz der Erdatmosphäre eingesetzt und 1991 den ersten Tropenwaldbericht vorgelegt. Bereits 1988 hat die Bun- desregierung entschieden, die Mittel für die Waldschutz- maßnahmen auf bis zu 300 Millionen DM anzuheben. Schon darin ist erkennbar, dass der Schutz der Wälder ein herausragendes Ziel unserer Umweltpolitik war und ist. Immer wieder haben sich CDU und CSU dafür einge- setzt, dass die vorliegenden Erkenntnisse über die Zer- störung der Tropenwälder und deren Auswirkungen auch in die weltweiten Umweltschutzabkommen mit aufge- nommen wurden. Zu nennen ist dabei unter anderem das Umweltabkommen zu Klima und Biodiversität auf der Konferenz von Rio 1992, auf der sich die Vertreter der Bundesregierung für den Schutz der Wälder stark ge- macht haben. Für die Wiederaufforstung zerstörter Wäl- der wurden in Zusammenarbeit mit anderen Industrie- und Entwicklungsländern mehrer Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. In den vergangenen Regierungsjahren unter CDU/CSU und FDP wurden jährlich zwischen 250 und 300 Millionen DM für die Entwicklungszusammen- arbeit im Bereich des Waldschutzes zur Verfügung ge- stellt. Damit hatte die alte Bundesregierung gezeigt, dass ihr der Schutz der Tropenwälder am Herzen lag und sie sich intensiv um Vereinbarungen und deren Umsetzung bemühte. Wenn ich nun den jetzt vorliegenden Bericht der rot- grünen Bundesregierung vor mir sehe, dann bin ich ent- setzt, und zwar nicht allein darüber, dass die Waldzer- störung weiter fortschreitet. Dies ist ein Zustand, den auch rot-grüne Umweltpolitik offensichtlich nicht bremsen kann. Nein, verheerend aus der Sicht der CDU/CSU- Fraktion ist, dass Sie die Mittel für die technische und fi- nanzielle Zusammenarbeit mit anderen Ländern drastisch gekürzt haben. Stellte die alte Bundesregierung 1997 noch rund 296 Millionen DM für die Zusammenarbeit zur Verfügung, so sind in diesem Jahr nur noch 243,2 Millio- nen DM dafür vorgesehen. Wie wollen sie aktiv zur CO2-Reduzierung beitragen,wenn Sie einen der wichtigsten Klimafaktoren, nämlich den tropischen Wald, so sträflich vernachlässigen? Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordern die Bundes- regierung daher nachdrücklich auf, die Kürzungen in die- sem Bereich rückgängig zu machen. Die vagen Andeutungen der Parlamentarischen Staats- sekretärin Gila Altmann im Umweltausschuss, man werde sich bei der finanziellen und technischen Zusammenar- beit wegen der Mittelverknappung auf Schwerpunkte konzentrieren müssen und effizienter sein, sind doch nur Ausreden. Konzepte für eine materielle Umweltpolitik sind ganz offensichtlich bei der jetzigen Regierung ebenso wenig vorhanden wie der Wille, international die Dinge voranzubringen. Sie verspielen ganz offensichtlich das Erbe von Klaus Töpfer und Angela Merkel! Wir fordern die Bundesregierung auf, mehr Mittel im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen, um einen effizienten Schutz der Waldressour- cen zu ermöglichen. Nur wenn es uns gelingt, die Wald- zerstörung in Zusammenarbeit mit der ansässigen Bevöl- kerung zu bekämpfen, können wir das Tropenwaldpro- blem dauerhaft lösen. Wir müssen den Menschen vor Ort Mittel und Wege aufzeigen, mit denen sie in der Lage sein werden, einerseits ihren Lebensunterhalt durch Landwirt- schaft zu erarbeiten. Andererseits müssen wir ihnen deut- lich machen, dass eine nachhaltige Forstwirtschaft, die eben nicht den Wald zerstört, sondern sinnvoll bewirt- schaftet, der einzig gangbare Weg zur Erhaltung ihres Le- bensraums ist. Die Bundesrepublik muss den Ländern helfen, die be- reit sind, Armutsbekämpfung und Ressourcenschonung miteinander zu vereinen. Wir müssen uns dafür einsetzen, mehr Menschen aus den betroffenen Regionen fachlich Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009362 (C) (D) (A) (B) auszubilden. Dies kann entweder vor Ort geschehen oder an den entsprechenden Ausbildungsstellen in der Bundes- republik. Ein Beispiel aus unserer Regierungszeit: an der Forst- lichen Fakultät der Universität Göttingen werden ständig 20 bis 30 junge Indonesier in einem englischsprachigen Master-Kurs ausgebildet. Diese können in ihrem Heimat- land wichtige Multiplikatoren für die Verhinderung der Waldzerstörung sein. Gerade in Indonesien sind zuletzt rund 1 bis 1,5 Millionen Hektar Tropenwald zerstört wor- den. Ausbildung und Schaffung eines Problembewusst- seins bei der Bevölkerung sind die gangbaren Wege für eine erfolgreiche Tropenwaldpolitik. Ein weiteres Mittel zur Bekämpfung der Waldzer- störung ist nach unserer Meinung – und da stimmen mit uns die Vertreter der Umweltschutzverbände überein – die Zertifizierung des Holzes aus nachhaltiger Bewirtschaf- tung. Wir brauchen internationale Instrumente, die die kon- trollierte Nutzung von Tropenholz ermöglichen. Zukünf- tig sollte nur noch zertifiziertes Tropenholz aus nachhal- tiger Forstwirtschaft aus den betroffenen Ländern expor- tiert werden. Ich erinnere mich noch gut, als SPD und Grüne landauf, landab den Tropenholzboykott propagiert haben. Daraus wurde dann nichts. Wir brauchen Umwelt- schutz anstatt Ideologien. Was wir brauchen ist ein ge- meinsames Miteinander mit den betroffenen tropischen Ländern, um deren Probleme vor Ort zu lösen. Noch mehr als bisher sollten Nationalparks und Wald- schutzgebiete eingerichtet werden. Nach Ansicht vieler Wissenschaftler würde die Ausweisung großer Wald- flächen als Schutzgebiete wesentlich dazu beitragen, die tropischen Wälder langfristig zu schützen. Nur wenn sol- che Gebiete generell nicht land- und forstwirtschaftlich genutzt werden dürfen, kann sich die Natur wieder erho- len oder wird vor der Vernichtung bewahrt. Dass eine erfolgreiche Wiederaufforstung in den be- troffenen Gebieten möglich ist, wurde auf der Insel Java bewiesen. Hier konnten großflächige Rodungen zumin- dest teilweise rückgängig gemacht werden, ohne dass die dort lebende Bevölkerung leiden musste. Sie sehen also, dass solche Projekte Erfolg haben, wenn man sie finanzi- ell technisch und inhaltlich unterstützt. Nun haben Sie heute auch einen Antrag eingebracht, der aus dem Tropenwaldbericht und dem nationalen Waldbericht einen Bericht machen will. Diesen Bericht wollen sie nur noch alle vier Jahre vorlegen, mit einem Zwischenbericht nach zwei Jahren. Aus unserer Sicht ist dies mehr als enttäuschend, wenn Ihnen nicht mehr ein- fällt, als die Zusammenfassung von Berichten, dann ist das substanzlos und weit von einer Umweltpolitik mit Perspektive entfernt. Einen solchen Weg können wir nicht mitgehen. Der Schutz und die Bewirtschaftung des Waldes in Deutschland ist auf einer ganz anderen Grundlage zu dis- kutieren als das Anliegen, die fortschreitende Waldzer- störung und der Artenrückgang, insbesondere in der Tro- penwaldregion. Als Regierung hätte es Ihnen gut angestanden, zum Ausdruck zu bringen, welches Handlungskonzept Sie ha- ben. Aber da ist auch in diesem Bereich Fehlanzeige. Ein- mal pro Periode oder alle vier Jahre bedeutet: nicht mehr zu Ihrer Regierungszeit. Wollen Sie ein so wichtiges Thema wirklich in dieser Art und Weise behandeln? Wo bleiben die Vorschläge, den Energiebedarf vor Ort durch einen Anbau schnell wachsender Hölzer zu decken? Denn 90 Prozent des im Tropenwald genutzten Holzes wird als Brennholz verwendet. Es müssen Vorschläge auch zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Nutzung und da- mit zur Verhinderung zur von Brandrodung und Auslau- gung der Flächen auf den Tisch. Nur so werden wir erfolg- reich sein. Unser Appell richtet sich an die deutsche Regierung und die Regierungsparteien von SPD und Grünen, Vor- schläge zu unterbreiten, die darauf abzielen, die vor Ort lebenden Menschen einzubeziehen, die oft sehr arm sind und hungern, und gemeinsam mit den Regierungen dort Maßnahmen zu ergreifen, die darauf ausgerichtet sind, Versteppung und Verwüstung aufzuhalten, wieder an- zupflanzen im Sinne von Mensch und Umwelt, um welt- weit etwas für den Klimaschutz zu erreichen. Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Situation der tropischen Regenwälder ist nach wie vor Besorgnis erregend. Der 6. Tropenwaldbe- richt der Bundesregierung beschreibt, dass zwischen 1990 und 1995 jährlich etwa 12,5 Millionen Hektar Tropen- wald vernichtet wurden. Das ist mehr als die gesamte Fläche Deutschlands. Dies geschieht durch Brandrodung, Erschließungsprojekte und illegalen Holzeinschlag. Die Ursachen für die Zerstörung dieses unersetzlichen Ökosystems sind vielfältig und hinlänglich bekannt: Ar- mut, keinen Zugang zu Land für die ärmeren Bevölke- rungsschichten, institutionelle Defizite in den Tropen- waldländern selbst. Aber auch eine ungerechte Weltwirt- schaftsordnung, eine hohe Verschuldung oder Einfluss ausländischer Holzfirmen sind entscheidend. Dabei ist klar, dass nur die Veränderung aller Faktoren nachhalti- gen Erfolg verspricht. Das gegeneinander Ausspielen von inneren und äußeren Ursachen und damit Verant- wortlichkeit ist eine Haltung, die wir uns angesichts der dramatischen Situation nichts leisten können. Deshalb begrüße ich hier zum wiederholten Male nachdrücklich die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung. Da- durch wird den betroffenen Ländern wieder Luft zum At- men gegeben. Und das ist für den Umgang dieser Länder mit ihren natürlichen Ressourcen von entscheidender Bedeutung. Es ist auch gut und wichtig, dass das Thema „Tropen- waldzerstörung“ Schwerpunkt der deutschen Entwick- lungspolitik bleibt. Deutschland ist der größte bilaterale Geber für den Tropenwaldschutz. Herausragendes Bei- spiel ist nach wie vor das Pilotprogramm zur Rettung der tropischen Regenwälder in Brasilien. Hier in Deutschland mit 45 Prozent an der Gesamtfinanzierung beteiligt. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich vor allem auch auf brasi- lianischer Seite ergeben, ist das Pilotprogramm ein un- verzichtbarer Bestandteil des Tropenwaldschutzes. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9363 (C) (D) (A) (B) An diesem Beispiel erkennt man, dass die von man- chen aufgestellte Forderung, die Entwicklungszusam- menarbeit mit Schwellenländern herunterzufahren, Un- sinn ist. Gerade im Umweltbereich ist es nötig, Unterstüt- zung zu leisten, um zentrale Probleme der globalen Ökologie in den Griff zu bekommen. Die rot-grüne Bun- desregierung legt einen besonderen Schwerpunkt auf die internationale Umweltpolitik. Deshalb ist es richtig, mit Ländern zu kooperieren, die in diesem Zusammenhang von zentraler strategischer Bedeutung sind. Ein Tropenholzboykott reicht nicht aus. Hier ist gut ge- meint oft das Gegenteil von gut. Scheidet der tropische Wald für Mensch als Wirtschaftsgut aus, wird noch sorg- loser mit ihm umgegangen. Deshalb müssen Wege der nachhaltigen Waldnutzung aufgezeigt und die dort ge- wonnenen Produkte besser vermarktet werden. Ein wirk- sames Mittel hierzu ist die Zertifizierung. Dabei muss da- rauf geachtet werden, ob bei den einzelnen Zertifi- zierungsmodellen tatsächlich nachhaltige Kriterien ange- wendet werden. Entscheidend sind auch transparente Überprüfungsmechanismen. Wie wird tatsächlich sicher- gestellt, dass nur Holz aus nachhaltiger Bewirtschaftung mit einem Siegel auf den Markt kommt? Das FSC-Siegel ist aus meiner Sicht bisher das einzige Erfolg verspre- chende Modell, weil dort neben ökologischen auch so- ziale und wirtschaftliche Kriterien zugrundegelegt wer- den. Dafür sollte noch weitaus mehr Werbung gemacht werden. Ohne die in Europa zertifizierten Flächen hat FSC weltweit etwa 4,6 Millionen Hektar Waldfläche zer- tifiziert. Das ist weitaus weniger als die Hälfte der jährlich zerstörten Tropenwaldfläche. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass Untersuchungen der brasilianischen Regierung da- von ausgehen, dass 80 Prozent des Holzeinschlages in Amazonien illegal sind. Deshalb ist es notwendig, dass die G-8-Staaten beim nächsten Gipfel in Japan ihr 1998 beschlossenes „Forest Action Programme“ überprüfen und weiterentwickeln. Illegal geschlagenes Holz muss von unseren Märkten ferngehalten werden. Der zuständige Ausschuss hat empfohlen, zukünftig den Tropenwaldbericht zusammen mit dem nationalen Waldbericht zu erstellen und zu diskutieren. Ich halte das für eine gute Lösung, nicht nur aus arbeitsökonomischen Gründen und deswegen, weil man dann vielleicht auch mehr Aufmerksamkeit für eine Debatte im Deutschen Bundestag bekommt. Ich denke, der Schutz des Tropen- waldes sollte einen genauso hohen Stellenwert bekom- men wie der Schutz des deutschen Waldes. Der entschei- dende Grund für eine Zusammenfassung der nationalen und internationalen Walddiskussion ist für mich jedoch: In allen politischen Handlungsfeldern, wo wir Verände- rungen im Süden anmahnen oder Hilfe dafür anbieten, muss unsere erste Handlung sein, bei uns selbst mit Ver- änderungen zu beginnen. Deshalb eine gemeinsame Dis- kussion sinnvoll. Ulrich Heinrich (F.D.P.): Bereits vor mehreren Jahr- zehnten haben wir in der Schule gelernt, dass die Zer- störung des Tropenwaldes ein globales Problem ist. Der Raubbau schreitet leider auch heute weiter fort. Daran ha- ben die verschiedenen Umwelt- und Klimagipfel von Rio bis Bonn wenig geändert. Insbesondere die mit der Tropenwaldvernichtung ver- bundenen möglichen Klimaverschlechterungen berühren auch die Menschen in Europa und Nordamerika. Daher ist es richtig und wichtig, dass wir der fortschreitenden Zer- störung des Tropenwaldes und der Diskussion um drin- gend notwendigen Lösungssätze im Deutschen Bundes- tag eine noch größere Bedeutung beimessen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die von den Koaliti- onsfraktionen vorgeschlagene Verflechtung der nationa- len und internationalen Forst- und Umweltpolitik zu be- grüßen. Allerdings darf die Zusammenfassung von Tro- penwald- und Waldbericht zu einem Gesamtwaldbericht der Bundesregierung – einmalig in jeder Legislaturperi- ode – nicht dazu führen, dass die positiven Funktionen des deutschen Waldes in den Hintergrund rücken. Zudem ist für die F.D.P. klar, dass eine weitere Zusammenfassung unter Einschluss des jährlich zu erstellenden Waldzu- standsberichtes nicht sinnvoll ist. Im Gegensatz zu den tropischen Wäldern, mit deren Abholzung Jahr für Jahr auch viele Tier- und Pflanzen- arten unwiederbringlich verschwinden, hat die Wald- fläche in Deutschland seit 1960 um rund 500000 Hektar zugenommen. Außerdem werden unsere Wälder von den privaten Waldbesitzern seit Jahrhunderten nachhaltig bewirtschaftet. Die Waldbauern in Deutschland arbeiten ökologisch und nachhaltig. Das ist auch der entscheidende Grund dafür, weshalb das von SPD und Grünen vertretene Ökosiegel FSC sehr wohl in Ländern Sinn macht, deren Tropenwald von der Zerstörung bedroht ist, nicht zuletzt deshalb, weil dort weder eine ökologische noch eine nachhaltige Waldbe- wirtschaftung stattfindet. In Deutschland und in weiten Teilen Europas ist die Situation aber völlig anders. Das wird von dem PEFC-Siegel, wiederum entsprechend den hiesigen Standortbedingungen, sehr viel besser erfasst. Daher ist die F.D.P. klar für das PEFC-System. Die Menschen rund um den Globus müssen sich Sor- gen machen, wenn die FAO den jährlichen Waldflächen- verlust in den Tropen von 1990 bis 1995 auf rund 12,5 Millionen Hektar beziffert. Hauptursachen für die Zer- störung der tropischen Feuchtwälder sind die landwirt- schaftliche Nutzung und hier insbesondere die Brandro- dung. Im Tropenwaldbericht wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass zudem strukturelle Einflussgrößen wir Armut, Unterernährung, Landlosigkeit, Bevölkerungs- wachstum, weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen und institutionelle Defizite diese Entwicklung ermöglichen und beschleunigen. Wichtig ist auch, dass es sich hier um ein sozialpoliti- sches und ökonomisches Problem handelt, sodass es keine allgemein gültige Lösung und wirksame Patentlö- sung gibt. Deutschland und Europa müssen die betroffe- nen Tropenwaldländer flankierend unterstützen. Diese Hilfe zur Selbsthilfe müssen wir aus vielerlei Gründen leis- ten. Allerdings werden alle auch noch so gut gemeinten Maßnahmen ins Leere laufen, solange die herrschenden Politiker die ohnehin spärlich zur Verfügung stehenden Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009364 (C) (D) (A) (B) Finanzmittel für den Kauf von Waffen verwenden. Be- sonders schlimm ist das zurzeit in Äthiopien, wo diese Mittel aus Verkäufen von Lebensmitteln stammen, sodass Millionen von Menschen im Land vom Hungertod be- droht sind. Für die F.D.P. bleibt es dabei, dass freier Handel fairen Handel bedeutet, von dem gerade Entwicklungsländer profitieren, die darauf angewiesen sind, Nahrungsmittel zu exportieren. Die Gelder müssen dann aber für Projekte eingesetzt werden, von denen die Menschen profitieren. Carsten Hübner (PDS): Mehr als für alle anderen Nutzwälder gilt für die Tropenwälder die Einsicht, dass sie mehr als nur ein Holzacker sind und mehr als Han- delsware. Sie sind als Sauerstoffproduzent und Klimasta- bilisator Lebensquelle für uns und unsere nachfolgenden Generationen, für Flora und Fauna weltweit. Das und nur das kann die oberste Prämisse unseres Umgangs mit den Tropenwäldern und dem dringenden Schutz vor Raubbau und Kahlschlag sein. Die Beschlussempfehlung des Landwirtschaftsaus- schusses zum 6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung sendet aber diesbezüglich ein falsches Signal: Mit der be- absichtigten Zusammenlegung der beiden Berichte, Tro- penwaldbericht und Waldbericht zu einem Gesamtwald- bericht, besteht die Gefahr, dass die Tropenproblematik weiter marginalisiert wird und nicht in der erforderlichen Breite und Tiefe und mit den notwendigen weitreichen- den, nicht nur entwicklungspolitischen Konsequenzen be- handelt wird. Die Anhänge zum Tropenwaldbericht sprechen eine deutliche Sprache: Alle noch so gut gemeinten Maßnah- men, auch der Mitteleinsatz des BMZ oder auch der in- ternational tätigen Gremien und Organisationen haben nicht bewirken können, dass der Kahlschlag, dass der Raubbau, ja auch der Export von Tropenhölzern zurück- geht. Im Gegenteil: Die Tendenz der weiteren Tropen- waldvernichtung konnte nicht umgekehrt werden. Die Empfehlung der Klima-Enquete-Kommission des deut- schen Bundestages von 1990, die Vernichtungsrate bis 2000 unter die Vernichtungsrate von 1980 zu drücken, blieb lediglich eine Empfehlung, zur Praxis wurde sie nicht. Denn letztendlich hat sich nur ein Ressort, die Ent- wicklungszusammenarbeit, zu dieser Zielsetzung be- kannt. Auch wenn die Bemühungen, jährlich 200 bis 300 Millionen DM an Entwicklungshilfegeldern dafür einzu- setzen, sich mächtig ausnehmen, ermöglichen sie doch nur punktuelle Hilfsprogramme und sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie sind eben nicht ganzheitlich im An- satz. Schutz von Tropenwäldern heißt Armutsbekämpfung, muss heißen: Diversifizierung von Wirtschaft, Regionali- sierung von Wirtschaftskreisläufen und keine weitere Li- beralisierung und Deregulierung, die entsprechend ihrer inneren Logik, der Marktlogik, den Ausverkauf und Raubbau an Ressourcen nur weiter forcieren. Wenn der 6. Tropenwaldbericht insgesamt sehr wohl die Dringlichkeit der Aufgabenstellung nachhaltiger Nut- zung vor Augen führt, gleichzeitig aber zur Feststellung kommt, dass daran gemessen weltweit nur in Ausnahme- fällen nach den Grundsätzen nachhaltiger Ressourcenbe- wirtschaftung die Nutzung tropischer Naturwälder er- folgt, ist schlicht zu fragen, wieso man sich vehement gegen Verwendungs- und Importbeschränkungen aus- spricht, nicht bereit ist, eine ganzheitliche Unterschutz- stellung zuzulassen, und ob nicht doch, selbst ein Boykott im Einzelfall erwogen werden muss. Zertifizierung, Kennzeichnungs- und Selbstverpflichtung sind hilfreiche, aber bisher ungenügende Maßnahmen. Der Ansatz, der auch hinter der Beschlussempfehlung steht, dass eine nachhaltige Forstwirtschaft schon der Schlüssel zum Beenden der Waldverluste sei, ignoriert eben wichtige Ursachen und Rahmenbedingungen der Waldzerstörung. Dazu gehört der Überkonsum von Holz und anderen Rohstoffen – da ist die Verringerung des Ver- brauchs der Schlüssel! Denn infolge der ungleichen Ver- teilung bestimmt die Verbrauchsrate in den Industrielän- dern die Nachfragerate und damit die Naturressourcener- schöpfung auf globaler Ebene. Kriterien der Nachhaltigkeit und der Entwicklungsver- träglichkeit müssen als oberste Priorität durchgesetzt wer- den. Das heißt in der Konsequenz, den in Armut lebenden Menschen andere Möglichkeiten für ihre wirtschaftliche Entwicklung zu geben, eine Entwicklung, die sich nicht nach den Konsumbedürfnissen und den Interessen der Ex- port- wie Importwirtschaft hier im Norden ausrichtet, son- dern regionale Wirtschaftskreisläufe und ursprüngliche Lebensweisen der indigenen Bevölkerung erhält. Gerade am Beispiel Brasilien – ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungszusammenarbeit im Bereich Tropenwald- schutzmaßnahmen – zeigt sich, wie wenig Entwicklungs- zusammenarbeit leisten kann, wie unzureichend der bis- herige entwicklungspolitische Ansatz ist, wenn die Ge- mengelage aus gewaltigen Wirtschaftsinteressen und einer stagnierenden und rückschrittlichen Politik gegen- über der indigenen Bevölkerung dem entgegenstehen. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Der Tropenwaldbericht wird im Zweijahresturnus erstellt. Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über das aktuelle Ausmaß der Tropenwaldzerstörung und über den deut- schen Beitrag zur Erhaltung der Tropenwälder. Die Welternährungsorganisation FAO hat 1999 Zahlen vorgelegt, die jedoch auf Schätzungen beruhen. Danach ist in den außertropischen Waldregionen eine leichte Zu- nahme der Waldfläche zu verzeichnen, während in den Tropen allein 12,5 Millionen Hektar Naturwald jährlich verloren gehen. Zum Vergleich: Das ist mehr als die ge- samte Waldfläche in Deutschland. Dies sind wohlgemerkt Schätzungen, die jedoch die Tendenz andeuten. Verlässli- che Zahlen sind erst wieder durch die weltweite Waldres- sourcenerfassung der FAO zu erwarten, die im Laufe die- ses Jahres veröffentlicht wird. Die Ursachen der Tropenwaldzerstörung sind äußerst vielschichtig. Es bestehen große Unterschiede zwischen ver- schiedenen Ländern und Regionen. Zusätzlich verändern sich die Triebkräfte der Zerstörung. Sie sind zudem abhän- gig von international und national wirksamen wirtschaftli- chen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9365 (C) (D) (A) (B) Die Tropenwaldzerstörung wirkt sich verheerend auf die forst- und holzwirtschaftliche Bewirtschaftung aus. Infolge der rasch eintretenden Bodendegradation und -erosion wird das Nutzungspotenzial stark geschädigt. Zudem lassen sich Klimaänderungen und ihre mutmaßli- chen Auswirkungen heute kaum abschätzen. Die vorliegende Veröffentlichung geht von der Be- sorgnis erregenden Situation aus, informiert über Lö- sungsstrategien, die auf internationaler Ebene zur Erhal- tung der Wälder angewendet werden und stellt den deut- schen Beitrag zur Verbesserung der Tropenwaldsituation dar. Anhand zahlreicher Projektbeispiele wird der Beitrag der Bundesregierung in der forstlichen Entwicklungszu- sammenarbeit veranschaulicht. Als Schwerpunkte des diesjährigen Tropenwaldberich- tes möchte ich hervorheben: Erstens. Entwicklungsmaßnahmen: Im Jahr 1997 wur- den 298,5 Millionen DM und im Jahr 1998 268,6 Millio- nen DM für bilaterale Maßnahmen, vorwiegend im Haus- halt des BMZ, aufgewendet. Das entspricht etwa 20 Pro- zent der international für die Tropenwalderhaltung auf bilateraler Ebene bereitgestellten Mittel. Deutschland ist damit eines der wichtigsten bilateralen Geberländer. Hierzu kamen umfangreiche Beiträge im Rahmen der eu- ropäischen und multilateralen Entwicklungszusammenar- beit. Zweitens. Die Tropenwaldforschung: Hier laufen um- fangreiche Projekte und Programme auf nationaler, su- pranationaler und internationaler Ebene mit dem Schwer- punkt nachhaltiger Bewirtschaftungs- und Entwicklungs- konzepte. Neben der nationalen Forschung, zum Beispiel an der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirt- schaft in Hamburg, nehmen vor allem die Programme der von BMBF und BMZ geförderten Forschungsprogramme breiten Raum ein. Im Bereich Waldbewirtschaftung hat das internationale Forschungszentrum CIFOR in Indonesien – unter ande- rem mit deutscher wissenschaftlicher und finanzieller Un- terstützung – Vorschläge für weltweit anwendbare Krite- rien der Nachhaltigkeit vorgelegt. Drittens. Der Nachfolgeprozess zur VN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung; UNCED, 1992: Hier wurden in den letzten zwei Jahren besonders intensive Verhand- lungen zum Thema Wälder geführt. Das zwischenstaatli- che Waldpanel, IPF – ein Ad-hoc-Ausschuss der VN- Kommission für nachhaltige Entwicklung, CSD – hat nach zweijähriger Arbeit 1997 eine umfangreiche Liste von Empfehlungen zur Verbesserung der weltweiten Walderhaltung erarbeitet, die von der Sondergeneralver- sammlung der VN im Juni 1997 angenommen wurden. Besonders hervorzuheben ist der erreichte internatio- nale Konsens über die Bedeutung nationaler Forstpro- gramme. Auch in Deutschland haben wir begonnen, ein entsprechendes Forstprogramm zu erarbeiten. Damit kommen wir den internationalen Verpflichtungen nach. Zugleich hatte die Sondergeneralversammlung die Fort- führung des globalen Dialogs zur Waldthematik und die Einrichtung eines zwischenstaatlichen Waldforums, IFF, beschlossen. Über die erzielten Ergebnisse hat der IFF im Februar 2000 einen Bericht für die VN-Kommission für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, in dem auch Vor- schläge für den internationalen forstpolitischen Dialog enthalten sind. Durch den Beschluss zur Einsetzung eines „Waldforums der Vereinten Nationen“ – kurz UNFF ge- nannt – ist der Weg frei für ein dauerhaftes Gremium im VN-Bereich zur internationalen Koordinierung waldbe- zogener Aktivitäten. Zusammenfassend ist festzustellen: Allein werden wir das Problem der Tropenwaldzerstörung nicht lösen. Die Bundesregierung wird daher ihre intensiven Bemühungen zur Erhaltung und nachhaltigen Entwicklung der Tropen- wälder unvermindert und in internationaler Zusammenar- beit fortsetzen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Neue Belastungen für ehrenamtlich Tätige zurücknehmen (Tagesord- nungspunkt 14) Peter Dreßen (SPD): 16 Jahre Regierung Kohl mit dem Anspruch der geistig-moralischen Wende haben dazu geführt, dass sich vieles in unserer Gesellschaft verändert hat. Diese Politik hat dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen aus dem unbezahlten Ehrenamt zurückziehen, dass es nicht mehr verständlich ist, sich solidarisch für an- dere zu engagieren, dass betriebliche Freistellungen zur Wahrnehmung von freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkei- ten immer wieder neu erkämpft werden müssen, und die politischen Dimensionen, dass die unentgeltlichen frei- willigen Leistungen, die Bürgerinnen und Bürger für diese Gesellschaft erbringen und die Demokratie lebendig halten, wieder neu definiert werden müssen. Obwohl Deutschland das Land mit den meisten Verei- nen und vielen Menschen ist, die sich im sozialen, karita- tiven und kulturellen Bereichen bewegen, gibt es immer mehr Menschen, die fragen: „Was bringt mir das?“ „Wel- che Vorteile habe ich?“ Genau aus diesem Grund sehen wir auch, dass es Probleme bei den ehrenamtlich Tätigen gibt. Genau deshalb haben wir die Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ eingesetzt. Enquete- Kommissionen werden zur Vorbereitung von Entschei- dungen und zur Aufklärung von Sachkomplexen einge- setzt. Sie sind auf Bundesebene eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen Politik, Wissenschaft und den Be- troffenen. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass in ihnen Sachverständige, die nicht dem Bundestag an- gehören, gemeinsam und gleichberechtigt mit Bundes- tagsabgeordneten ein Thema bearbeiten. Hinzu kommen Anhörungen, bei denen die Betroffenen ihre Ansicht zu den Problemen äußern. Ziel ist also, mit den Betroffenen und Sachverständigen gemeinsam nach besseren Lösun- gen zu suchen und Entscheidungen für dieses Hohe Haus vorzubereiten. Ich denke, hier ist auch der richtige Ort, um zum Bei- spiel die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung des Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009366 (C) (D) (A) (B) Ehrenamtes zu erörtern. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass in Baden-Württemberg ehrenamtliche Ortsvor- steher für ihren Salär, den sie erhalten, bis auf eine steu- erfreie Aufwandsentschädigung von 350 Mark Steuer- und Sozialabgaben leisten und in Bayern regt man sich darüber auf, was in anderen Bundesländern gang und gäbe ist. Insofern hat ihr Antrag für mich den Anschein, hier Er- gebnisse der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ vorwegnehmen zu wollen. Solche Schnell- schüsse der CDU sind nicht hilfreich und dienen meines Erachtens einzig und allein der populistischen Darstel- lung ihrer Partei. Ziel der Enquete-Kommission muss es auch sein, dass wir für alle ehrenamtlichen Helfer gleiche Voraussetzungen schaffen, und zwar von Flensburg bis Lörrach und von Saarbrücken bis Passau. Mit diesem An- trag versuchen Sie, bei den Beteiligten Pluspunkte zu sammeln, ohne zu fragen, was dies für die anderen Län- der bedeutet. Warum eigentlich solch ein schwammiger Antrag? Sie fordern – ich zitiere –: „Die pauschale Aufwandsentschädigung für ehren- amtliche Tätigkeit ist von Sozialversicherungs- beiträgen auch insofern freizustellen, als nach allge- meiner Lebenserfahrung üblicherweise von einem Anerkennungsobolus ausgegangen werden kann“. Gehen Sie dabei von der Lebenserfahrung eines ar- beitslosen Menschen aus oder von den Erfahrungen eines Bankmanagers? Das würde mich dann schon interessie- ren. Denn der Anerkennungsobolus eines Arbeitslosen- hilfebeziehers liegt meist unter 1 900 DM, die er übrigens versteuern muss, während es für den Bankmanager ein Nasenwasser ist. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, würden wir wiederum ein Chaos auf dem Arbeitsmarkt produzieren, das wir gerade gegen Ihren Widerstand beseitigt haben. Ergänzend möchte ich noch darauf hinweisen, dass viele Beschäftigte, die im karitativen oder gemeinnützi- gen Bereich tätig werden, auf den sozialversicherungs- rechtlichen Schutz, den sie aufgrund ihrer Tätigkeit erhal- ten, dringend angewiesen sind und die Forderung nach ei- ner generellen Freistellung des Ehrenamtes auch aus sozialpolitischer Sicht zumindest problematisch er- scheint. Weiter wollen Sie die Bundesregierung auffordern, hierzu geeignete Abgrenzungskriterien zu definieren. Nun habe ich ja Verständnis dafür, dass eine Opposition nicht zu allem einen Gesetzentwurf machen kann, da je- doch diese Forderung aus dem Sozialministerium in Bay- ern kommt, hätte ich schon etwas mehr an Substanz er- wartet, zumal die Finanzministerkonferenz am 22. Januar 1998 zu diesem Thema folgendes Beratungsergebnis hatte: Die Finanzminister(innen) der Länder nehmen die von der Innenministerkonferenz übermittelten aufgeschlüs- selten Ergebnisse der Länderumfrage bei den Komman- danten der Gemeindefeuerwehren zur Kenntnis. Sie stim- men aufgrund der Stellungnahme der Steuerabteilungslei- ter darin überein, dass die vorgelegten Ergebnisse der Länderumfrage keine Änderung der derzeitigen typisie- renden steuerlichen Behandlung der Aufwandsentschädi- gungen der ehrenamtlichen Funktionsträger bei den Ge- meindefeuerwehren zu rechtfertigen vermögen. Sie wei- sen darauf hin, dass im Einzelfall entstandene höhere steuerlich berücksichtigungsfähige Aufwendungen jeder- zeit dem Finanzamt gegenüber nachgewiesen oder glaub- haft gemacht werden können, sodass den Betroffenen auch bei weiterer Anwendung der Drittelregelung kein steuerlicher Nachteil entsteht. Erwähnen möchte ich, dass die Abstimmung 16:0 war, also auch mit dem Finanzminister Erwin Hafer aus Bayern und Finanzminister Mayer-Vorfelder aus Baden- Württemberg. Im Duden Band 10 steht unter ehrenamtlich „ohne Be- zahlung ausgeübt, eine ehrenamtliche Tätigkeit, freiwil- lig, unentgeltlich“. Dem stimme ich voll zu. Wir müssen anerkennen, dass es nun so genannte, zum Teil nicht schlecht bezahlte Eh- renämter gibt. Und wenn zum Beispiel ehrenamtliche Führungskräfte bei der Feuerwehr über 1 900 Mark erhal- ten und dafür Sozialabgaben leisten, kann man da noch von einem Ehrenamt im klassischen Sinn sprechen? Natürlich sehen wir Handlungsbedarf wie zum Beispiel im Falle eines Feuerwehrmannes, der für Einsätze auf der Autobahn bis zu 300 DM erhält und dafür Steuern und So- zialversicherung zahlt, und Feuerwehrleute für Übungs- leitertätigkeiten denselben Betrag steuer- und sozialversi- cherungsfrei erhalten. Ich darf daran erinnern, dass die so genannte Übungs- leiterpauschale von 2 400 auf 3 600 DM im Jahr angeho- ben und auch auf Betreuer ausgeweitet wurde; insofern haben wir eine Regelung getroffen, das Ehrenamt zu stär- ken. Wieso soll ein Fußballtrainer eines Kreis- oder Be- zirksligavereins, der 1000 DM und mehr erhält, eigent- lich keine Steuer und Sozialabgaben bezahlen? Ist dies noch ein Ehrenamt? Welche Folgen hätte eine Freistellung ehrenamtlicher Tätigkeit von der Sozialversicherungspflicht? Erstens. Der Sozialversicherung entfielen Beiträge in noch nicht zu beziffernder Höhe. Zweitens. Für einen Teil der Betroffenen würden ent- gegen ihrem Willen zukünftig keine Beiträge zur Sozial- versicherung entrichtet. Rente und Krankengeld fielen im Bedarfsfall entsprechend geringer aus. Drittens. Probleme gäbe es ferner bei der Freistellung von der Beitragspflicht des im Wege der Aufwandsent- schädigung geleisteten Ersatzes eines Verdienstausfalls. Viertens. Eine Öffnung der Regelungen zur geringfü- gigen Beschäftigung im Sinne § 7 Abs. 1 SGB IV lässt er- warten, dass eine entsprechende Ergänzung des § 8 SGB IV die Diskussion um die Neuregelung zur geringfügigen Beschäftigung neu entflammen wird und Forderungen zur Öffnung oder der Abschaffung der Regelung aus anderen Bereichen gestellt werden. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9367 (C) (D) (A) (B) Ich glaube, hier liegt auch die wahre Intension des An- trags der CDU/CSU. Aber dann seien Sie bitte so ehrlich und sagen Sie das. Spannen Sie deshalb die Ehrenamtli- chen nicht vor Ihren Karren. Das haben diese Menschen nicht verdient. Leisten Sie aktiv einen Beitrag in der En- quete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“. Die ersten Ansätze sind ja nicht schlecht. Ich empfehle Ih- nen, aus all den genannten Gründen Ihren Antrag zurück- zuziehen, bis wir, vielleicht sogar gemeinsam, in der En- quete-Kommission zu realistischen und vor allen Dingen machbaren Verbesserungen für die vielen Menschen kom- men, die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir debattie- ren heute im Deutschen Bundestag einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der das Ehrenamt stärkt und ehrenamtlich Tätigen hilft. Mit diesem Antrag wollen wir eine der schreiendsten Ungerechtigkeiten des 630-DM-Gesetzes beseitigen. Die Auswirkungen dieses unsäglichen Gesetzes hat Rot-Grün trotz unserer heftigs- ten Warnungen bis heute nicht zur Kenntnis genommen. Die rot-grüne Bundesregierung ist vor der Bundestags- wahl 1998 mit dem Motto angetreten, vieles nicht anders, aber dafür vieles besser zu machen. Aber nach der Wahl war das schnell vergessen. Jetzt sieht es so aus, als ob sich Rot-Grün zum Ziel gesetzt hat, die kleinen Leute auszu- nehmen. Von Ökosteuer bis zum 630-DM-Gesetz hat Rot- Grün eine Abkassierwelle in die Wege geleitet, die den Menschen und Deutschland insgesamt schadet. Ausgelöst durch das neue 630-DM-Gesetz der Bundesregierung sind die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger im November letzten Jahres zu dem Ergebnis gekommen, dass zum Beispiel Führungskräfte der freiwilligen Feuer- wehren in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen und deshalb Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen. Damit ist der Weg bereitet, jegliche eh- renamtliche Tätigkeit als eine auf Einkommenserzielung ausgerichtete Tätigkeit anzusehen. Dies widerspricht al- lerdings Sinn und Zweck ehrenamtlicher Tätigkeiten. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist nämlich die Auf- wandsentschädigung für das Ehrenamt ein Ersatz für ent- standenen Aufwand und Anerkennung für die geopferte Freizeit sowie für die eingebrachte Sachkunde und das Engagement. Mit unserem Antrag – und ich lade die Regierungspar- teien ein, sich unserem Antrag anzuschließen – wird klar- gestellt, dass ehrenamtliche Tätigkeiten keine Erwerbs- tätigkeiten darstellen. Im Ergebnis wollen wir, dass Auf- wandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen. Es ist den Menschen schwer zu erklären, dass sie für ihr ehren- amtliches Engagement Sozialversicherungsabgaben leis- ten müssen. Ich weiß, dass die rot-grüne Bundesregierung bei diesem Thema uneinsichtig ist, und zwar deswegen, weil das Geld in den Sozialkassen natürlich gerne gese- hen wird. Den Schaden den Rot-Grün dadurch anrichtet, halte ich allerdings für unermesslich. Einerseits wird vom bürgerlichen Engagement, von der Förderung ehrenamtli- cher Tätigkeiten gesprochen, andererseits belastet diese Bundesregierung ehrenamtlich Tätige, ohne mit der Wim- per zu zucken. Seit der Neuregelung des 630-DM-Geset- zes im April 1999 ist, wenn der Ehrenamtliche noch einem Hauptberuf nachgeht, der steuerpflichtige Anteil von Aufwandsentschädigungen für das Ehrenamt auch dann sozialversicherungspflichtig, wenn er unter 630 DM im Monat liegt. Durch das neue 630-DM-Gesetz ist das Eh- renamt in aller Regel durch Steuern und Sozialversiche- rungsabgaben doppelt belastet. Der gesetzgeberische Murks dieses Gesetzes muss wenigstens in seinen schlimmsten Auswirkungen wieder zurückgenommen werden. Ich will Ihnen einen Beispielsfall aus der Praxis nen- nen – dabei beziehe ich mich auf ehrenamtliche Feuer- wehrleute –: Allein in Bayern gibt es 7 793 freiwillige Feuerwehren, die nicht existieren könnten ohne das eh- renamtliche Engagement der Feuerwehrleute. Nehmen wir an, ein ehrenamtlicher Feuerwehrkommandant, der hauptberuflich in einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit beschäftigt ist, erhält monatlich eine Auf- wandsentschädigung von zum Beispiel 510 DM. Nach der neuesten Gesetzeslage muss er von den 510 DM als Arbeitnehmeranteil 68 DM in die Sozialversicherung zahlen. Weitere 68 DM muss die Gemeinde als Träger der Feuerwehr als Arbeitgeberanteil überweisen. Nehmen wir des Weiteren einmal an, dass dieser Feuerwehrkom- mandant 50 Prozent seiner Tätigkeit für eine Ausbil- dungstätigkeit bei der feiwilligen Feuerwehr aufwendet, er also junge Feuerwehrleute ausbildet. Selbst dann würde er wegen der so genannten Übungsleiterpauschale nur zur Hälfte entlastet. Es sind immer noch 34 DM Ar- beitnehmerbeiträge abzuführen und die Gemeinde muss den Arbeitgeberanteil übernehmen. Der bürokratische Aufwand, mit dem diejenigen, die ehrenamtliche Tätig- keiten vergeben, belastet werden, ist enorm. Sie werden als Arbeitgeber behandelt, mit allen damit anfallenden Pflichten. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nicht nur eine unhaltbarer Zustand, dass Aufwandsentschädigun- gen für ehrenamtlich Tätige mit Sozialversicherungsab- gaben belegt werden, sondern noch viel unerträglicher ist, dass damit einer Denkweise Vorschub geleistet wird, die nicht richtig sein kann. Ehrenamtliche Tätigkeiten sind nicht auf Einkommenserzielung ausgerichtet. Das Ehren- amt ist kein Beschäftigungsverhältnis. Sozialrechtliche Leistungen wie etwa das Arbeitslosengeld bei Arbeitslo- sigkeit, Rentenversicherung für das Alter, Kündigungs- schutz, bezahlter Urlaub oder Mutterschutz sind der eh- renamtlichen Tätigkeit grundsätzlich fremd. Ziel des eh- renamtlichen Engagements von 100 000 Mitbürgern ist nicht ein Entgelt wie in einem Arbeitsverhältnis, sondern das Engagement für die Allgemeinheit. Wenn Rot-Grün dies nicht bald klarstellt, wird das Ehrenamt in der Be- völkerung diskreditiert und werden immer weniger Men- schen bereit sein, ehrenamtliches Engagement zu leisten. Deswegen fordere ich Sie auf, stimmen Sie unserem An- trag zu. Setzen Sie mit uns dem Beitragsrausch der Sozial- versicherungsträger Grenzen. Das unsägliche 630-DM- Gesetz zeitigt im Bereich des Ehrenamtes Konsequenzen, die Rot-Grün gar nicht überschaute. Wir bieten Ihnen die Gelegenheit, Ihre eigenen Fehler zu korrigieren. Im Nach- bessern ist Rot-Grün ja geübt. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009368 (C) (D) (A) (B) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der CDU/CSU-Antrag hat einen populistischen Aufhän- ger, das 630-DM-Gesetz. Der politische Auslöser dieser Debatte, vor allem in Bayern, ist die Frage, ob zum Bei- spiel die Aufwandsentschädigungen der Freiwilligen Feu- erwehr der Sozialversicherungspflicht unterliegen sollen. Es handelt sich um Aufwandsentschädigungen in einer Größenordnung von bis zu 2000 DM monatlich. Damit liegt doch auf der Hand, dass es sich hier nicht um die Frage des 630-DM-Gesetzes handeln kann. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob ehrenamtliche Tätigkeiten mit Entgelt in jeder Höhe von der Sozialver- sicherungspflicht freigestellt werden. Genau hier ist der Lösungsvorschlag im CDU/CSU- Antrag unzureichend, zu pauschal und problematisch. Vorgeschlagen wird, dass jede ehrenamtliche Tätigkeit bei jeder beliebigen Höhe der Aufwandsentschädigung sozialversicherungsfrei gestellt werden soll. Der Antrag hat allerdings einen sachlichen Kern, über den es sich zu diskutieren lohnt. Es ist die Frage nach der Definition und der Abgrenzung der ehrenamtlichen Tätig- keit. Die Unterscheidung von ehrenamtlicher Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung ist in der Tat schwierig. Und es hat einen Bedeutungswandel der ehrenamtlichen Tätigkeit eingesetzt. Dennoch muss klar sein, dass allein das subjektive Empfinden und der psychologische Effekt für die sozialrechtliche Behandlung nicht ausschlagge- bend sein können. Die Definition eines modernen Ehrenamtes und neue Ansatzpunkte zur Belebung und zum Ausbau des ehren- amtlichen und bürgerschaftlichen Engagements der Men- schen sind zentrale Fragen, um die sich die rot-grüne Ko- alition kümmern will. Auch aus diesem Grunde wurde die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ eingerichtet. Der hier von der CDU/CSU vorgelegte Lösungsvorschlag wird dem Thema nicht ge- recht. Ist eine Tätigkeit ehrenamtlich, wenn sie subjektiv so empfunden wird? Ist sie dann noch ehrenamtlich, wenn die Aufwandsentschädigung den sachlichen Aufwand weit überschreitet? Das sind nur einige wenige Fragen zum Komplex des Ehrenamtes. Aber es stellt sich auch die Frage, ob eine generelle Freistellung von der Sozialabga- benpflicht die richtige oder gar die einzige Möglichkeit zu einer gesellschaftlichen Aufwertung der Bürgerarbeit ist. Umgekehrt könnte doch gerade die Einbeziehung in die soziale Sicherung ein Anreiz sein, die Bürgerarbeit aufzu- werten und attraktiver zu machen. Dies gilt aber vermut- lich für eine andere Personengruppe als die Feuerwehr- kommandanten. Diese Fragen müssen geklärt werden. Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaft- lichen Engagements“ wird an diesen schwierigen Fragen arbeiten. Die Diskussion um das 630-DM-Gesetz hilft uns bei den Fragen des Ehrenamtes nicht weiter. Trotzdem haben wir in diesem Zusammenhang bereits einen Schritt getan, zu dem die CDU/CSU in der Vergangenheit nicht fähig war. Durch die Anhebung der Übungsleiterpauschale auf 3600 DM im Jahr wird der freiwillige Einsatz in mehre- ren 100000 gemeinnützigen Vereinen, Verbänden, Orga- nisationen des Sports, der Kinder- und Jugendarbeit, der Sozialarbeit, des Katastrophenschutzes, im Umwelt- und Tierschutz, für Senioren und Frauen, in den Kirchen und für Behinderte sowie für andere gesellschaftliche Zwecke erheblich verbessert. Ich teile die Einschätzung im CDU/CSU-Antrag, dass für die Abgrenzung einer ehrenamtlichen Tätigkeit von ei- nem Beschäftigungsverhältnis das Kriterium der Wei- sungsgebundenheit alleine unzureichend ist. Wenn man aber gleichzeitig, wie es im CDU/CSU-Antrag beschrie- ben ist, davon ausgeht, dass ein Ehrenamt unentgeltlich ausgeübt wird, dann wird bei der Höhe der hier zur De- batte stehenden Aufwandsentschädigungen der Sachauf- wand des Ehrenamtes ganz offensichtlich überschritten. Diese Differenz begründet nicht nur die Steuerpflicht, sondern auch die Sozialabgabenpflicht. Bei einer Auf- wandsentschädigung von 2000 DM monatlich von einem Anerkennungsobolus zu sprechen, scheint mir bei aller gebotenen Vorsicht doch nicht sachgerecht zu sein. Ich wünschte, die bayerische Landesregierung würde für sachgerechte Lösungen Luft schaffen, indem sie die jetzt hochgekochten Fragen der Feuerwehr oder der stell- vertretenden Bürgermeister zunächst pragmatisch auf Landesebene löst. Es ist eine wichtige Aufgabe, Abgrenzungskriterien zwischen Ehrenamt und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung neu zu definieren. Dazu aber bietet der vorliegende Antrag der CDU/CSU nur wenig Material. Die Enquete-Kommission ist der richtige Ort dafür. Das gilt auch für unsere gemeinsame Aufgabe, das bürger- schaftliche Engagement zu fördern. Gerhard Schüßler (F.D.P): Aus Sicht der F.D.P.- Bundestagsfraktion ist der Antrag der Union berechtigt. Wie hieß es noch so emphatisch in dem Koalitionsvertrag von Rot-Grün? Wir werden das Ehrenamt stärken und neue Perspektiven für die künftige Bürgergesellschaft schaffen. Was haben sie daraus gemacht? Ich will es sagen: Eh- renamtlich Tätige trauten ihren Augen und Ohren nicht mehr. Da wurden einerseits die 630-Mark-Jobs neu gere- gelt, mit der Folge, dass mittlerweile 1,25 Millionen die- ser Arbeitsverhältnisse weniger bestehen. Andererseits wurde die Übungsleiterpauschale im Einkommensteuer- recht eingeschränkt, was zu einer zusätzlichen finanziel- len Belastung für Ehrenamtsinhaber führte. Keine einzige Neuregelung der letzten Jahre hat dem Ehrenamt in Deutschland mehr geschadet als diese beiden Maßnah- men der neuen Regierung. Und schließlich die mit Pauken und Trompeten angekündigte Reform des Stiftungsrechts: Aus dieser großen Reform des Stiftungszivil- und Stif- tungsteuerrechts wurde lediglich ein Stiftungsteuer- rechtsreförmchen. Die notwendige Reform der §§ 80 ff. BGB mit einer Vereinfachung der Errichtungsvorschrif- ten und der Schaffung von Transparenz hat Rot-Grün erst gar nicht in Angriff genommen. Alles in allem fällt eine erste Zwischenbilanz rot-grüner Ehrenamtspolitik mehr als dürftig aus. Von ehrenamtsfreundlicher Politik der neuen Bundesregierung kann keine Rede sein. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9369 (C) (D) (A) (B) Mit ebenfalls pathetischen Worten hat sich die neue Regierung für die Einsetzung der Enquete „Bürgerschaft- liches Engagement“ eingesetzt. Die F.D.P.-Fraktion un- terstützte die Einsetzung der Enquete ausdrücklich und ist auch heute noch der Ansicht, dass diese wichtige Impulse für die Renaissance einer freiheitlichen gemeinwohlori- entierten Bürgergesellschaft geben kann. Doch erwarten wir, dass die Enquete entsprechend ihrem Einsetzungsbe- schluss gutachterlich Stellung nimmt zu laufenden parla- mentarischen Initiativen, soweit diese von Bedeutung für die Gestaltung einer neuen Bürgerkultur in Deutschland sein können. Im Falle des Gesetzgebungsverfahrens zum Stiftungsrecht war von der Enquete nichts zu hören. Dies muss sich jetzt ändern. Deshalb fordert die F.D.P.-Bundestagsfraktion, dass der vorliegende Antrag der Union auch Gegenstand von Erörterungen der Enquete werden muss. Inhaltlich unter- stützen die Liberalen den CDU/CSU-Antrag voll und ganz. Pauschale Aufwandsentschädigungen für ehren- amtlich Tätige müssen von Sozialversicherungsbeiträgen freigestellt werden, wenn die Aufwandsentschädigung le- diglich Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung für die Übernahme eines Ehrenamtes ist. Der geltenden Praxis der Sozialversicherungsträger, Aufwandsentschädigun- gen für verschiedene ehrenamtlich Tätige als sozialversi- cherungspflichtig zu kategorisieren, muss Einhalt gebo- ten werden. Die Enquete muss hier ein sichtbares Zeichen setzen und sich öffentlich für die Initiative der Union ein- setzen. Dr. Klaus Grehn (PDS): Seit einigen Monaten gibt es die Enquete-Kommission über die Zukunft des bürger- schaftlichen Engagements. Der vorliegende Antrag der CDU berührt wichtige Inhalte, die letztlich Ergebnis der Arbeit der Kommission sein werden und müssen. Der An- trag der CDU ist insoweit richtig, als darin ein nicht un- wesentlicher Aspekt der ehrenamtlichen Tätigkeit berührt wird, nämlich der Umgang des Staates mit denjenigen, die für ihr Engagement eine Aufwandsentschädigung erhal- ten. Für mich als Sozialpolitiker ist trotzdem Aufwandsent- schädigung nicht gleich Aufwandsentschädigung. Es ist schon ein Unterschied, ob ein Arbeitsloser oder ein Rent- ner oder auch ein Erwerbstätiger ehrenamtlich zum Bei- spiel eine Selbsthilfegruppe oder eine soziale Beratungs- stelle betreut, Arbeit mit Seniorinnen und Senioren leistet – sich also unentgeltlich für das Gemeinwohl engagiert und bestenfalls eine pauschale Aufwandsentschädigung von 200 oder 250 DM im Monat erhält – oder ob aus steuer- rechtlichen oder sonstigen Gründen ein Teil des Gehalts, so etwa 2 000 DM, bei der Erfüllung kommunaler Pflicht- aufgaben als „Aufwandsentschädigung“ gezahlt wird. Unter anderem zur klaren Definition bürgerschaftli- chen Engagements, auch zur Abgrenzung bestimmter Tätigkeitsmerkmale, gibt es die Enquete-Kommission. Die Grenzen zwischen geringfügiger Beschäftigung und Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Arbeit sind manchmal nicht klar erkennbar und werden zurzeit leider ausschließlich über das Steuerrecht definiert, jene allseits beliebten und doch so umstrittenen 630-DM-Jobs. Die PDS hat die Sozialversicherungspflicht in bestimmten Fällen für diese Form der geringfügigen Beschäftigung unterstützt. Es wird also Aufgabe der Enquete-Kommis- sion bleiben, das weite Feld ehrenamtlicher Tätigkeit deutlich von geringfügiger Beschäftigung abzugrenzen und Mitnahmeeffekte, aber auch Zuordnungsprobleme zu verhindern. Es ist natürlich unabdingbar und gerechtfer- tigt, ehrenamtliche Arbeit deutlich zu fördern und in ge- eigneter Form auch finanziell besser zu stellen als Ein- kommen anderer Art. Eine solche Regelung fehlt, im Mo- ment werden alle Geldbezüge der Bürger im wesentlichen lediglich nach ihrer Höhe betrachtet. Es gibt auch ein weitaus größeres Problem, nämlich ob bei der ehrenamtlichen Arbeit überhaupt der individuelle Aufwand entschädigt werden kann und wer dafür die Ver- antwortung übernimmt. Der engagierte Bürger soll nicht auch noch sein privates Einkommen, das bereits umfas- send und kräftig versteuert ist, dafür einsetzen, sein ge- meinnütziges Engagement zu bezahlen. Seine Arbeits- kraft und seine Freizeit setzt er ja schon für das Gemein- wohl ein – daran soll sich der Staat nicht auch noch bereichern können. Genau das aber passiert, wenn mehr und mehr kommunale Pflichtaufgaben durch freiwillige Arbeit der Bürger ersetzt wird. Wir verlangen eine steuerliche Besserstellung all derer, die sich bürgerschaftlich engagieren und werden das in die Enquete-Kommission einbringen. Das wäre wenigs- tens eine minimale Entschädigung. Es ist ein wenig frus- trierend, dass die regierende Koalition selbst bei ehren- amtlichem Engagement nur in den Dimensionen von fis- kalischen Überlegungen handelt. Sichtbar wird das auch beim Umgang mit den Männern und Frauen der freiwilli- gen Feuerwehren. Hier fehlt es praktisch an allem: an Re- gelungen für die Freistellung von beruflicher Arbeit, an Aufwandsentschädigungen ganz generell, an Versiche- rungen gegen Unfälle und anderem. Viele andere Regelungen des Staates behindern ehren- amtliches Engagement – wir werden die alle in der Kom- mission zur Sprache bringen. Stellvertretend möchte ich hier nur das in der 13. Wahlperiode bereits angesprochene Problem von ehrenamtlicher Arbeit von Arbeitslosen nen- nen. Es ist doch schändlich, dass ein Arbeitsloser Sank- tionen des Arbeitsamtes unterliegt, wenn er – und zwar ohne jedwede Aufwandsentschädigung – mehr als 15 Wo- chenstunden ehrenamtlich tätig ist. Angeblich wider- spräche das der Definition von geringfügiger Beschäfti- gung, andererseits verletze er auch das Prinzip der ständi- gen Erreichbarkeit. Diese Ungleichbehandlung von Erwerbstätigen und Arbeitslosen betrachten wir als we- sentliche Einschränkung der persönlichen Freiheit eines Arbeitslosen und damit als eine Verletzung von Grund- rechten. Wir unterstützen das Anliegen des vorgelegten Antra- ges, wollen aber zunächst die Ergebnisse der Arbeit der Enquete-Kommission abwarten, um den bisherigen Pro- blemen nicht auch noch neue hinzuzufügen, die einer allzu großen Eile und einem Vorgriff auf umfassendere Regelungen zuzuschreiben wären. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009370 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak, der am
9. April seinen 71. Geburtstag feierte, die besten Glück-
wünsche des Hauses aussprechen.


(Beifall)

Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege

Heinz Seiffert sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat.
Als Nachfolgerin wird die Kollegin Dorothea Störr-
Ritter vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Störr-
Ritter als Schriftführerin gewählt.

Interfraktionell wurde Folgendes für die verbundene
Tagesordnung vereinbart: Die zweite und dritte Beratung
der Grundgesetzänderung zum Tierschutz soll bereits heu-
te als drittes Kernzeitthema aufgerufen werden. Die ur-
sprünglich für heute als Tagesordnungspunkt 3 vorgese-
hene erste Beratung des Gesetzentwurfs zur Errichtung ei-
ner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
soll am Freitag um 9.00 Uhr stattfinden. Die Wahl des
Wehrbeauftragten kann somit erst im Anschluss daran, al-
so am Freitag, gegen 10.40 Uhr, durchgeführt werden. Die
zweite und dritte Beratung des Arzneimittelgesetzes, Ta-
gesordnungspunkt 18, soll abgesetzt, und dafür soll an
dieser Stelle, also unmittelbar nach Tagesordnungspunkt
17, das Seuchenrechtsneuordnungsgesetz beraten werden.

Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, die
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vor-
liegenden Punkte zu erweitern:

1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.: Erziehungszeit statt Erziehungsurlaub
– Drucksache 14/3192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann und
der Fraktion der PDS: Überprüfungskonferenz zum Nicht-
verbreitungsvertrag – Drucksache 14/3190 –

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred
Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Gegen die Todesstrafe in den USA
– Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal
– Drucksache 14/3196 –

4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens,
Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Albert Schmidt (Hitzhofen), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Antistauprogramm
– Drucksache 14/3179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,
Christine Ostrowski, Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Beibehaltung der Reisezug-Ver-
bindungen zwischen Polen und Berlin
– Drucksache 14/3191 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

6. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-

(15. Ausschuss)

reuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Straßenbau
statt Autostau – Drucksache 14/2582, 14/ ... –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c sowie
Zusatzpunkt 1 auf:

9209


(C)



(D)



(A)



(B)


99. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000

Beginn: 9.00 Uhr

1. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Bundeserziehungsgeldgesetzes
– Drucksache 14/3118 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina
Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Gregor Gysi und der
Fraktion der PDS
Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich
geförderten Betreuungs- und Freizeitangebotes
für Kinder bis zu 14 Jahren
– Drucksache 14/2758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina
Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung
für Frauen und Männer
– Drucksache 14/2759 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke,
Dr. Irmgard Schwaetzer, Klaus Haupt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erziehungszeit statt Erziehungsurlaub
– Drucksache 14/3192 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-
nisterin Christine Bergmann das Wort.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Mei-
ne sehr geehrten Damen und Herren! Heute bringen wir
ein Kernstück unserer Familienpolitik in dieser Legis-
laturperiode auf den Weg. Mit der Reform von Erzie-
hungsgeld und Erziehungsurlaub machen wir deutlich: Fa-
milien sind bei dieser Bundesregierung gut aufgehoben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Gesetzesentwurf sieht entscheidende Verbesserun-
gen für Familien vor. Da wir eine Debatte darüber sicher-
lich noch bekommen werden, möchte ich Sie alle aufrufen,
eine bessere Bezeichnung für das Wort „Erziehungsur-
laub“ zu suchen. Die Bezeichnung „Erziehungszeit“ kön-
nen wir leider nicht verwenden, da sie sozialrechtlich an-
ders definiert wird. Suchen Sie also alle mit!

Mit der Reform des Erziehungsurlaubs wird die Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie für Väter und Mütter
erleichtert. Eltern erhalten mehr Wahlmöglichkeiten für
eine individuelle Lebensgestaltung. Mit der Erhöhung der
Einkommensgrenzen und der Kinderzuschläge erhalten
zukünftig wieder mehr Familien in unserem Land Erzie-
hungsgeld.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie von der Opposition haben über viele Jahre an-
gekündigt, dass Sie die Einkommensgrenzen erhöhen wol-
len. Es ist aber nie etwas passiert. Wir machen das jetzt.
Wir machen eine Familienpolitik, die die Realität in unse-
rem Land im Blick hat. Wir vollziehen mit diesem Geset-
zesentwurf die längst überfällige Abkehr vom bisherigen
Erziehungsgeldgesetz, das immer noch von der traditio-
nellen Aufgabenverteilung in der Familie mit der Zuwei-
sung der Kinderbetreuung an die Mütter und der Ernäh-
rerrolle an die Väter ausgeht. Denn dieses Modell hat heu-
te bei den jungen Menschen, sowohl bei den jungen
Frauen als auch bei den jungen Männern, ausgedient. Das
zeigen zum Beispiel auch die Ergebnisse der Shell-Studie
sehr deutlich. Dem werden wir gerecht.

Für die durchweg gut ausgebildeten jungen Frauen ist
das berufliche Engagement heute eine Selbstverständlich-
keit. Junge Frauen wollen heute beides: Beruf und Fami-
lie. Aber auch bei den jungen Männern rangieren Partner-
schaft und Familie gleichberechtigt neben dem Beruf.
Auch die jungen Väter wollen heute mehr Zeit für ihre
Kinder haben; das ist sehr gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber wir wissen, dass es bei den Vätern noch eine er-

hebliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit
gibt. Über 90 Prozent der anspruchsberechtigten Mütter,
aber nur wenige Väter nehmen Erziehungsurlaub. Über
98 Prozent der Eltern im Erziehungsurlaub sind Frauen.
Unser Ziel ist, gerade das zu ändern und das Verhältnis zu-
gunsten der Väter zu verbessern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit diesem Gesetz machen wir auch mit der Wahlfrei-
heit fürEltern bei der Gestaltung der Aufgabenverteilung
in der Familie Ernst. Deshalb werden künftig Väter und
Mütter gemeinsam Erziehungsurlaub nehmen können.
Das bisher starre System des Erziehungsurlaubs, bei dem
sich die Eltern entscheiden mussten, welcher der Partner
ihn in Anspruch nimmt, ist damit passé. Das ist eine ganz




Präsident Wolfgang Thierse
9210


(C)



(D)



(A)



(B)


entscheidende Verbesserung, die man fast schon als revo-
lutionär bezeichnen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mehr Flexibilität erhalten Eltern auch durch das neue
Angebot, mit Zustimmung des Arbeitgebers ein Jahr des
Erziehungsurlaubs zwischen dem dritten und achten
Geburtstag des Kindes zu nehmen, um beispielsweise das
erste Schuljahr begleiten zu können.

Wir erweitern die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit im
Erziehungsurlaub von derzeit 19 Stunden auf bis zu
30Wochenstunden für jeden Elternteil, der Erziehungsur-
laub nimmt. Darauf haben Beschäftigte in Betrieben mit
mehr als 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen
Rechtsanspruch. Bei einem gemeinsamen Elternurlaub
können Vater und Mutter zusammen jetzt also bis zu
60 Stunden pro Woche arbeiten.

Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, warum wir uns
für genau dieses Modell der gemeinsamen Inan-
spruchnahme des Erziehungsurlaubs mit dem Angebot,
ihn auch als „Teilzeiturlaub“ gestalten zu können, ent-
schieden haben. Wenn man sich in Europa umguckt, wie
die verschiedenen Modelle gewirkt haben und ob sie wirk-
lich dazu geführt haben, dass mehr Väter Erziehungsur-
laub nehmen, muss man feststellen, dass selbst im Mus-
terland Schweden, das uns gleichstellungspolitisch um
Welten voraus ist, das dortige Modell nicht viel gebracht
hatte. Dort gab es bereits ein Jahr Erziehungsurlaub mit ei-
ner Lohnersatzleistung als Alternative zur Erwerbsarbeit,
aber keinen Teilzeitanspruch. Ergebnis war, dass auch in
Schweden über 90 Prozent der Frauen Erziehungsurlaub
in Anspruch nahmen.

Deshalb setzen wir so sehr auf die gemeinsame Inan-
spruchnahme mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit.
Bei dieser Regelung müssen Eltern, die Erziehungsurlaub
nehmen, nicht ganz aus dem Beruf aussteigen. Das ist ge-
rade für viele Frauen sehr wichtig, die im Erziehungsur-
laub Teilzeit arbeiten wollen. Dieses Gesetz ist also nicht
nur familienfreundlich, sondern auch sehr frauenfreund-
lich. Der Bundesregierung geht es darum, Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, bei denen für Mütter und Väter die
Zugänge zu beiden Welten, zu Beruf und Familie, offen
sind und die auch Übergänge zwischen diesen beiden Wel-
ten möglich machen.

Aber auch Unternehmen werden von diesen Regelun-
gen profitieren. Der weiterhin bestehende Kontakt zum
Beruf, das Nicht-aussteigen-Müssen aus dem Beruf
während des Erziehungsurlaubs, die höhere Zufriedenheit
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die höhere Moti-
vation – das alles sind doch Faktoren, die, wie wir wissen,
für Betriebe positiv zu Buche schlagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Familienfreundlichkeit und betrieblicher Vorteil vertragen
sich durchaus miteinander. Daher fordere ich die Unter-
nehmen auf, zur Abwechslung einmal Familienfreund-
lichkeit auch als Väterfreundlichkeit zu praktizieren.
Unter Familienfreundlichkeit werden ja meistens Rege-

lungen verstanden, die den Müttern helfen, Beruf und
Familie zu vereinbaren. Wir sollten uns auch einmal ein
Stückchen mehr auf die Väter konzentrieren; denn auch
Väter gehören zur Familie, nicht nur als virtuelle Väter,
sondern als ganz real existierende.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS])


Mit dem vorliegenden Gesetz wird es in Deutschland
zum ersten Mal einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
geben. Ich möchte es ganz klar sagen: Familienpolitik hat
mit diesem Gesetz eine hohe Hürde genommen. Es gibt
jetzt einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während des
Erziehungsurlaubs. Dieser Anspruch gilt in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten, wenn dem keine dringenden
betrieblichen Gründe entgegenstehen.

Nun wissen Sie alle, dass diese Regelung nicht unum-
stritten war. Viele Arbeitgeber wollten überhaupt keinen
Rechtsanspruch. Andere meinten, wenn schon ein solcher
Rechtsanspruch eingeführt werden müsse, dann solle er
für Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten oder – bes-
ser noch – ab 100 Beschäftigten gelten. Mit der nun vor-
gesehenen Regelung für Betriebe ab 15 Beschäftigte er-
reichen wir 75 Prozent der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten in Deutschland. Das ist ein Ergebnis, das
sich wirklich sehen lassen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch ein Zeichen an die Unternehmen in unserem
Land, sich mutiger und innovativer für neue Modelle zur
Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzusetzen und sich
auch an die Väter zu wenden. Sie profitieren davon, wie
positive Beispiele zeigen. Wir wissen längst, dass flexible
Arbeitszeitmodelle Innovationsschübe in den Unterneh-
men auslösen. Ich weiß durchaus, worüber ich rede: Ich
habe lange genug als Arbeitssenatorin in dieser Stadt ge-
arbeitet. Damals haben wir viele solcher Modelle auf den
Weg gebracht. Das war für beide Seiten sehr positiv, so-
wohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
auch für die Unternehmer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Politik für Familie muss auch in der Arbeitswelt ansetzen.
Wenn sie das nicht tut, ist sie nicht glaubwürdig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genau dort setzen wir mit der Reform des Erziehungsur-
laubs und mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit an.

Familien brauchen gemeinsame Zeitstrukturen. Sie
brauchen Zeit für gemeinsame Gespräche. Nur so können
Kinder und Jugendliche Fürsorge und persönliche Zu-
wendung erfahren. Nur so können Eltern ihnen jene Wer-
te des menschlichen Zusammenlebens vermitteln, die für
die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend sind. Wir
verbessern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ganz ent-
scheidend die Rahmenbedingungen für die Eltern, damit
sie diesen Ansprüchen gerecht werden können. Da wir




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

9211


(C)



(D)



(A)



(B)


wissen, wie viel Familie jungen Menschen bedeutet – das
war ein sehr interessantes Ergebnis der Shell-Studie –,
muss sich Politik auch darauf einstellen und Möglichkei-
ten schaffen, damit Familien Zeit füreinander haben und
damit es in der Arbeitswelt zu entsprechenden Verände-
rungen kommen kann.

Mit unserem Gesetzentwurf werden wir genau den Be-
dürfnissen der Menschen gerecht. Das besagt nicht nur die
Shell-Studie. Wir haben vor einiger Zeit eine repräsenta-
tive Umfrage in Auftrag gegeben. Danach waren 68 Pro-
zent der Befragten der Meinung, dass mehr getan werden
müsse, damit auch Väter Erziehungsurlaub in Anspruch
nehmen. Sogar 81 Prozent der Befragten sprachen sich für
einen Anspruch auf Teilzeitarbeit im Erziehungsurlaub
aus. Wir sorgen also mit unserem Gesetz dafür, dass die
Übernahme der Elternverantwortung nicht gleichbedeu-
tend ist mit dem Verzicht auf andere Gestaltungsmöglich-
keiten. Gerade das ist es, was junge Leute in unserem
Land zu Recht von uns erwarten. Dem wollen wir gerecht
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist für mich eine Frage der Chancengleichheit von
Familien in unserer Gesellschaft, wenn Familien nicht auf
Dinge verzichten müssen, die für andere selbstverständ-
lich sind. Chancengleichheit beginnt auch damit, dass die
finanziellen Verhältnisse der Familien mit geringen und
mittleren Einkommen verbessert werden. Genau das tun
wir mit diesem Gesetzentwurf auch: In Zukunft werden
wieder mehr Eltern Erziehungsgeld erhalten. Das ist ein
Verdienst dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nach 14 Jahren Stillstand, in denen sich nichts getan
hat, erhöhen wir die seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im
Jahre 1986 unverändert gebliebenen Einkommensgrenzen
für das Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des
Kindes.


(Zuruf von der CDU/CSU: Woher haben Sie denn diese Zahlen?)


– Es ist so: Die Einkommensgrenzen sind nicht erhöht
worden. Wir erhöhen sie jetzt um etwa 10 Prozent.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir erhöhen auch den Kinderzuschlag stufenweise um
jährlich 14 Prozent. Das ist ebenfalls ein ganz wichtiger
Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist notwendig, weil derzeit nur noch etwa 50 Prozent
der Familien ab dem siebten Lebensmonat des Kindes den
vollen Betrag des Erziehungsgeldes erhalten.

Ich will noch auf eine weitere Verbesserung hinweisen.
Wir haben den jungen Familien folgendes Budgetangebot
unterbreitet: Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub in
Anspruch nehmen, bekommen ein höheres Erziehungs-

geld von dann 900 DM; derzeit sind es maximal 600 DM.
Es gibt insbesondere in den neuen Bundesländern eine
Menge Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub nehmen;
für diese Eltern erhöhen sich die finanziellen Zuwendun-
gen ganz erheblich, nämlich um 50 Prozent.

Dieser Gesetzentwurf fügt sich somit in die Reihe der
Maßnahmen ein, die wir zur Verbesserung der finanziel-
len Situation der Familien bereits auf den Weg gebracht
haben, und zwar vom ersten Tage unserer Regierung an.
Sie wissen: Wir haben das Kindergeld erhöht und es
hat erhebliche Verbesserungen durch das Steuerent-
lastungsgesetz gegeben. In diesem Jahr wird eine durch-
schnittliche Familie mit zwei Kindern insgesamt um
gut 2 000 DM entlastet. Im Jahr 2001 werden es fast
3 000 DM und im Jahr 2005 über 4 000 DM sein. Mit die-
sen Mosaiksteinen verbessern wir die finanzielle Situati-
on der Familien weiterhin. Das kann sich sehen lassen und
die Familien in unserem Land wissen es zu schätzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir reden eben nicht nur darüber, wie wichtig uns Fa-
milien sind, sondern wir tun auch etwas: Wir entlasten die
Familien finanziell und wir nehmen die notwendigen
strukturellen Verbesserungen vor, damit die Familien
mehr Wahlmöglichkeiten haben. Die geschätzten Mehr-
kosten des Bundes für diese Reform zugunsten der Fami-
lien betragen jährlich etwa 300 Millionen DM.

Diese Novellierung ist durch eine gemeinsame Kraft-
anstrengung der gesamten Bundesregierung und der Re-
gierungsfraktionen zustande gekommen. Ich möchte allen
Kolleginnen und Kollegen für ihr Engagement zum Woh-
le der Familien auch in Zeiten angespannter öffentlicher
Haushalte danken. Ich denke, auch die Familien werden
diesen Dank aussprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir machen mit diesem Gesetzentwurf deutlich: Diese
Regierung will den Menschen Mut zur Familie machen.
Wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, die Frauen und
Männern mehr Optionen in ihrer Lebensgestaltung eröff-
net und die bessere Bedingungen schafft, um Familienle-
ben und Arbeitswelt zu vereinbaren.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900100
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.


Renate Diemers (CDU):
Rede ID: ID1409900200
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Palmenstrand, Sandburgen
bauen an der Ostsee, Ferien auf dem Bauernhof und Wan-
derungen im Schwarzwald – das ist Urlaub. Zeit für
Kinder zu haben, den Erziehungsauftrag mit all seinen
Schwierigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissenwahr-
zunehmen und auch die schwierigen beruflichen Perspek-




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
9212


(C)



(D)



(A)



(B)


tiven nicht aus den Augen zu verlieren sind dagegen kein
Urlaub.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist keineswegs Urlaub, ein krankes Kind zu pflegen,
wenn es quengelig ist, wenn es liebebedürftig ist oder
wenn es zahnt. Es ist natürlich, dass es zahnt; aber es ist
für die Familien kein normaler Alltag, sondern eine be-
sondere Situation mit außergewöhnlichen Belastungen.
Nicht durchschlafen zu können, sich zu sorgen, nicht ab-
schalten zu können, immer für das Kind da zu sein – ich
könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Daher ist
es erstaunlich, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die aktu-
elle Diskussion um die Umbenennung des Begriffs „Er-
ziehungsurlaub“ ignorieren. Aber, Frau Ministerin, Sie
haben uns ja gerade aufgefordert, einen besseren Begriff
zu finden. Eigentlich müsste es bekannt sein, dass die
CDU/CSU für den Begriff „Erziehungszeit“ plädiert.


(Bundesministerin Dr. Christine Bergmann: Nein, das geht nicht!)


Wir wollen mit der zeitgemäßen Begriffsänderung deut-
lich machen, dass es sich nicht um eine Erholungsphase
für Mütter und Väter handelt, sondern dass den Eltern
mehr Zeit für die Familie, für die Kinder gegeben werden
sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie außer dem Begriff noch etwas zu kritisieren?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die
Interessen und Bedürfnisse der Kinder werden in Ihrem
Gesetzentwurf nur mangelhaft gewahrt – auch wenn Sie
das anders ausdrücken –, da sie als eigene kleine Persön-
lichkeiten eine nur untergeordnete Rolle spielen. Ich ver-
deutliche dies anhand der Schilderung einer Familiensi-
tuation. Klassische Familie: Vater, Mutter, Kind. Beide El-
ternteile gehen arbeiten, sagen wir, zum Beispiel, der Vater
40 Stunden, die Mutter 30 Stunden – so wie Sie es in Ihrem
Entwurf vorschlagen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der darf auch nur 30 Stunden!)


Die Mutter geht also zum Beispiel täglich von 9 bis 15 Uhr
arbeiten oder sie geht ganztägig arbeiten und hat pro Wo-
che einen freien Tag.


(Ulla Schmidt [Aachen] SPD): Der Vater bleibt

zu Hause!)

In ihrer verbleibenden freien Zeit erledigt sie die Hausar-
beit, die Einkäufe, Behördengänge,


(Zurufe von der SPD – Irmingard ScheweGerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manche sitzen sogar im Parlament!)


alles – kurz gesagt –, was klassischer Weise bei demjeni-
gen Partner hängen bleibt, der etwas mehr Freizeit hat.
Auch die jungen Mütter, die hier im Parlament sind, kön-
nen ein Lied davon singen, und insbesondere die alleiner-
ziehenden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ach ja, da war ja noch das Kind. Das Kind – vielleicht
im Alter von sechs oder 18 Monaten – ist mindestens sie-
ben Stunden – An- und Abfahrt inklusive – bei einer Kin-
derbetreuung, welcher Art auch immer. Wenn Sie auf Müt-
ter und Väter gehört hätten, wüssten Sie, dass eine derar-
tige Konstellation puren Stress bedeutet.

Die erste Reaktion auf diese Schilderung müsste ei-
gentlich sein: Wir müssen unbedingt den Erziehungsur-
laub bzw. die Erziehungszeit einführen. Dem müsste ich
entgegnen: In den 30 Stunden bzw. 70 Stunden für beide
Elternteile ist der Erziehungsurlaub nach den Plänen der
SPD und der Bündnisgrünen schon enthalten. Und ich fü-
ge hinzu: Dies ist das alte linke Dogma von außerhäusli-
cher Erwerbsarbeit beider Elternteile um jeden Preis.


(Widerspruch bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zwar findet
Ihre Forderung nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit auch
in unseren Reihen Unterstützung, vehemente Unterstüt-
zung, aber nicht die Erhöhung der Wochenarbeitszeit
von 19 Stunden auf 30 Stunden. Das würde nämlich be-
deuten, dass bei gleichzeitigem Anspruch auf Erziehungs-
geld bis zu 70 Stunden pro Woche gearbeitet werden könn-
te. Wohlgemerkt: bei Inanspruchnahme der Erziehungs-
zeit durch ein Elternteil.


(Zurufe von der SPD)

Dieser Ausbau höhlt das Ziel, den Grundgedanken und

die ursprüngliche Philosophie des Erziehungsurlaubs aus,
nämlich trotz Berufsleben mehr Zeit für die Betreuung und
Erziehung der Kinder insbesondere in den ersten Le-
bensjahren zu haben und durch das Erziehungsgeld den
Verlust des verloren gegangenen zweiten Einkommens et-
was auszugleichen.


(Zuruf von der SPD: Aber wirklich nur etwas!)

Wir stimmen mit Ihnen überein,


(Zurufe von der SPD: Oh!)

dass die Schaffung der Möglichkeit der gemeinsamen Er-
ziehungszeit von Mutter und Vater verstärkt angestrebt
werden muss. Wenn es aber ein Anreiz für die Väter sein
soll, dass sie neben der Erziehungszeit möglichst viel
außerhäuslich arbeiten dürfen, läuft doch irgendetwas
falsch.

Ich frage Sie – Frau Ministerin, Sie haben ja von der
Wichtigkeit der gemeinsamen Zeit gesprochen –: Wie viel
Zeit verbringen denn die Familien überhaupt noch mit-
einander?


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Eben! – Weitere Zurufe von der SPD)


Selbst bei 30 Stunden wird es schwierig, das Kind – ich
spreche von dem Kleinkind – wach anzutreffen, insbe-
sondere in den ersten Lebensmonaten. Außerdem wird
suggeriert, dass die Erziehung der Kinder keine wesent-
liche Veränderung des Alltagslebens bedeutet.

Wir schlagen Ihnen vor, dass nur bei gleichzeitiger
Inanspruchnahme der Erziehungszeit – unabhängig von




Renate Diemers

9213


(C)



(D)



(A)



(B)


der Verteilung zwischen den Partnern; das ist der Unter-
schied zu Ihrem Entwurf – im Sinne des Kindeswohls
eine maximale Obergrenze von 60 Stunden außerhäusli-
cher Erwerbsarbeit möglich wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pläne zur Ände-

rung des Bundeserziehungsgeldgesetzes weisen zugege-
benermaßen auch gute Ansätze auf, die die CDU bereits im
letzten Jahr in ihrem familienpolitischen Papier formuliert
hat.


(Lachen bei der SPD)

Hierzu gehört die Möglichkeit zur variablen Einteilung der
Erziehungszeit in den ersten acht Lebensjahren, um zum
Beispiel in der schwierigen Phase der Einschulung wie-
der mehr Zeit für das Kind zu haben.


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Das hätten Sie ja schon einmal testen können!)


Aber es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei – ich sa-
ge das in aller Deutlichkeit, weil immer wieder der Ver-
such unternommen wird; Sie werden das von Fachleuten,
Verbänden und Eltern bestätigt bekommen –: Die ersten
Lebensjahre prägen das Leben eines Kindes so stark,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sollen ja auch die Väter etwas davon haben, genau deshalb!)


dass auf eine möglichst umfassende Betreuung durch die
Eltern nicht verzichtet werden kann. Keine außerhäusliche
Kinderbetreuung kann die Eltern voll ersetzen. Das hat
überhaupt nichts mit einer Kochtopfmentalität zu tun, wie
Sie es uns in den 80er-Jahren ja immer vorgehalten haben.
Hier geht es um das Wohl des Kindes. Natürlich müssen
wir die Rahmenbedingungen verbessern.

Durch Ihr Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, wird die nötige Wahlfreiheit für Mütter und
Väter nicht geschaffen. Ganz im Gegenteil: Sie zementie-
ren, dass Frauen auch mit Kleinkindern arbeiten gehen
müssen.


(Hildegard Wester [SPD]: Wo steht das denn?)

Ich bin der Meinung, wir müssen alles tun, um die Wahl-
möglichkeiten auszubauen, sodass sich Frauen zum Bei-
spiel ohne Angst vor Karriereknicken und ohne große fi-
nanzielle Einbuße für eine Erziehungszeit entscheiden
oder eben Berufstätigkeit und Erziehung – allerdings kind-
gerecht – unter einen Hut bekommen können. Das gilt
natürlich genauso für die Väter.

Die CDU/CSU hat seit 1986, auch wenn es hier immer
heißt, in den 16 Jahren sei nichts passiert, im Bundeser-
ziehungsgeldgesetz die staatlichen Leistungen, wie zum
Beispiel die Anrechnung von Erziehungszeiten, stetig ver-
bessert.


(Zuruf von der SPD: Wo denn?)

Die Dauer des Erziehungsurlaubs, wie es damals noch
hieß, wurde von zehn Monaten auf heute drei Jahre aus-
geweitet. Wir geben es gerne zu: Finanzprobleme haben
uns in den letzten Jahren unserer Regierungszeit leider

gehindert, zum Beispiel das Erziehungsgeld von 600 DM
und vor allem die Einkommensgrenzen zu erhöhen. Uns
war aber auch bewusst, eine Erhöhung bringt nur dann et-
was, wenn zur Finanzierung der Beträge die Familien
nicht an anderen Stellen stärker belastet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielsweise die
Ökosteuer.


(Monika Ganseforth [SPD]: Kindergelderhöhung!)


Sie erhöhen nun das Erziehungsgeld auf 900 DM. Das
hört sich gut an, hat aber einen ziemlich unangenehmen
Haken: Die Erziehungszeit wird auf ein Jahr beschränkt.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Nein, nein! Sie haben nicht gelesen, Frau Diemers!)


Was ist, wenn sich Eltern, von der scheinbar höheren Sum-
me geblendet, für die Zahlung von 900 DM über ein Jahr
entscheiden und in sechs Jahren feststellen, dass zur Ein-
schulung des Kindes ein weiteres Erziehungsjahr mit fi-
nanzieller Unterstützung sinnvoll wäre? Ich frage mich
auch, wie viele Eltern trotz der Erhöhung der Einkom-
mensgrenzen überhaupt in den Genuss der 900 DM kom-
men, wenn sie durch die erhöhte Zahl der Arbeitsstunden
auch ein erhöhtes Einkommen haben.


(Monika Ganseforth [SPD]: Sie haben Schwierigkeiten mit der Wahrheit!)


Budgets haben sich im Gesundheitswesen nicht be-
währt. Sie sollten auch in der Familienpolitik davon kei-
nen Gebrauch machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auf diesen Punktwird abermeinKollegeHerr Holetschek
noch entsprechend eingehen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird dann sicher noch schlimmer!)


Zum Schluss möchte ich doch noch einmal ein Wort zur
Anzahl der erlaubten Wochenarbeitsstunden sagen. Über
die sich daraus ergebenden höheren Einkommen und die
damit verbundenen höheren Abgaben freuen sich, laut
Ihren eigenen Aussagen, insbesondere die gesetzlichen
Krankenversicherungen. Für wen machen Sie denn Ihre
Gesetze? Sie können doch ein Leistungsgesetz für Fami-
lien nicht unter dem Aspekt verändern, dass sich am Ende
nur die Sozialkassen über die Mehreinnahmen freuen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich appelliere daher
an uns alle – ich sage bewusst: an uns alle –: Wir sollten
bei aller Notwendigkeit, Regelungen zur Ermöglichung
einer gleichberechtigten Lebensgestaltung von Frauen und
Männern zu treffen – dafür habe ich seit vielen Jahrzehn-
ten gekämpft –,


(Hildegard Wester [SPD]: Was? Wo?)

das Wohl des Kindes nicht außer Acht lassen.

Ich danke Ihnen.




Renate Diemers
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(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900300
Ich erteile das Wort
der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Frau Diemers, ich habe mir schon die Frage gestellt,
wie Sie es wohl schaffen könnten, gegen diesen guten
Gesetzentwurf zu argumentieren. Jetzt muss ich feststel-
len, dass es Ihnen nicht besonders gut gelungen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Einen neuen Begriff für das Gesetz zu finden oder den So-
zialismus auszurufen, wenn Mütter neben der Kinderer-
ziehung auch der Erwerbsarbeit nachgehen, ist nicht sehr
überzeugend. Ich habe da andere Sorgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich frage mich, wie es denn eigentlich um die Demo-
kratie der Geschlechter bestellt ist, wenn eine Maßnah-
me zu 98 Prozent von einem Geschlecht, nämlich von den
Frauen, und zu weniger als 2 Prozent von dem anderen Ge-
schlecht, nämlich den Männern, in Anspruch genommen
wird. Ich behaupte: schlecht. Gemeint ist hiermit der Er-
ziehungsurlaub. Es gibt in der Tat aber auch Gründe, war-
um so wenig Väter von ihrem Recht, wenigstens einen Teil
des Erziehungsurlaubes zu nehmen, Gebrauch machen.
Noch immer sind ihre Einkommen meist weit höher als die
der Ehefrauen. Die Frage, wer für die Erziehung des Kin-
des aus dem Beruf aussteigt, stellt sich faktisch nicht, soll
nicht das Familieneinkommen bedrohlich sinken.

Den wenigen Vätern, die ihre Arbeitszeit wegen der
Kinder reduzieren wollten, zeigten die Arbeitgeber bisher
die kalte Schulter. So waren es meist die Frauen, die in der
Regel für drei Jahre – die Hälfte davon für immer – aus ih-
rer Erwerbsarbeit ausgestiegen sind. Dieses haben Politik
und Gesellschaft bewusst oder zumindest billigend in
Kauf genommen.

Väter hatten nie ein Problem, Erwerbsarbeit und Fami-
lie unter einen Hut zu bringen. Sie wurden weder vom
Arbeitgeber noch vom Arbeitsamt gefragt, wie sie denn ih-
re Kinder während der Erwerbsarbeit versorgten.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Die 900 DM machen den Kohl auch nicht mehr fett! Gegenruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Es reicht immer alles nicht, Frau Lenke!)


Diese Frage wurde immer nur an berufstätige und arbeits-
suchende Frauen gerichtet.

Nun ist ja die Geduld der Frauen sprichwörtlich. Die
einseitige Zuweisung der Familienarbeit zeigt aber gera-
de bei den jungen Frauen Wirkung. Sie verweigern sich
nämlich. Vor die Alternative gestellt, zwischen Beruf oder
Kindern entscheiden zu müssen, treffen sie die Entschei-
dung für den Beruf. Dies besagt eine neue Studie. So wun-

dert es nicht, dass künftig jede dritte Frau kinderlos blei-
ben wird und dass die Bevölkerung in Deutschland bis
zum Jahre 2020 – Zahlen belegen dies – um 10 Millionen
schrumpfen wird.

Fragt man allerdings die jungen Frauen nach ihren
Zukunftsperspektiven, so ist die Antwort von bestechen-
der Klarheit: Sie wollen einen existenzsichernden Beruf
und eine Familie; sie wollen Zeit für Hobbys und
bürgerschaftliches Engagement. Eine partnerschaftliche
Aufteilung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit ist
also das Gebot der Stunde. Darum freue ich mich, dass wir
heute so etwas wie eine kleine Revolution im Bundestag
einleiten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg van Essen [F.D.P.]: Na! Na!)


Herr van Essen, ich finde es in der Tat revolutionär,
wenn Männer, die ihre Identität häufig über ausgedehnte
Arbeitszeiten, Überstunden oder Unabkömmlichkeit defi-
nieren, als Väter – ebenso wie die Mütter – einen Anspruch
auf Reduzierung ihrer Arbeitszeit um bis zu 30 Stunden
während des Erziehungsurlaubs haben. Das ist mit dem
Recht verbunden, zur vollen Arbeitszeit zurückzukehren.

Wir wollen, dass Väter und Mütter zudem die Mög-
lichkeit haben, gleichzeitig den Erziehungsurlaub in An-
spruch zu nehmen. Frau Diemers, „gleichzeitig“ heißt:
Vater und Mutter zusammen, also kein Sozialismus. Die-
se Vorschriften stärken insbesondere die Rechte der Väter;
denn wegen des überkommenen Rollenverständnisses ha-
ben es Väter bisher ungleich schwerer, ihre Arbeitgeber
von der Verkürzung ihrer Arbeitszeit zu überzeugen, als es
bei Frauen der Fall ist. Diese Diskriminierung von Män-
nern wollen wir mit dem heutigen Gesetzentwurf beenden.
Davon profitieren alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es profitieren die Männer, weil sie eine wichtige Be-
reicherung ihres einseitig auf Erwerbsarbeit ausgerichte-
ten Lebens erfahren – aus dem „Big Boss“ wird der „Big
Daddy“ –; die Kinder profitieren, weil sie nicht länger in
einer vaterlosen Gesellschaft leben müssen;


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ach Gott!)


die Frauen profitieren, weil sie nicht mehr allein für die Fa-
milien- und Erziehungsarbeit zuständig sind. Letztendlich
profitieren auch die Betriebe, weil sie qualifizierte Mitar-
beiter und Mitarbeiterinnen an sich binden können.

Zudem wird auf die besonderen Belange der Betriebe
Rücksicht genommen. Sie erhalten nämlich das Recht,
von den Bestimmungen abzusehen, wenn dringende be-
triebliche Gründe der Reduzierung der Arbeitszeit von El-
tern entgegenstehen. Deshalb finde ich es schade, dass auf
Druck der Wirtschaft dieser Rechtsanspruch nur für Be-
schäftigte in Betrieben ab 16 Vollzeitbeschäftigten oder ab
32 Teilzeitbeschäftigten gilt. Damit werden fast 90 Prozent
der Betriebe und 8 Millionen Beschäftigte von dem
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ausgeschlossen.




Renate Diemers

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(C)



(D)



(A)



(B)


Wie gut gerade kleine Betriebe mit bis zu fünf Be-
schäftigten mit teilzeitbeschäftigten Frauen arbeiten, zeigt
die Tatsache, dass in diesen Betrieben die Teilzeitquote
von Frauen bei 78 Prozent liegt. Die Eingabe der
Handwerkskammer, das Gesetz erst für Betriebe ab 50 Be-
schäftigte gelten zu lassen, spricht Bände. Es heißt doch
nichts anderes als: Wir sind für das Gesetz, aber bitte nicht
bei uns. – Oder kennen Sie viele Handwerksbetriebe mit
über 50 Beschäftigten?

Die Möglichkeit, ein Jahr des Erziehungsurlaubs bis
zum achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch zu neh-
men, ist ein wichtiger Reformschritt; denn noch immer ha-
ben Eltern bei der Einschulung ihrer Kinder Probleme. Ge-
rade im ersten Schuljahr stehen die Kinder bereits nach
zwei oder drei Stunden häufig wieder vor der Woh-
nungstür. An eine Erwerbsarbeit – auch nicht in Teilzeit –
ist dabei nicht zu denken. Bis zu einer verlässlichen Be-
treuung in der Grundschule oder in Horten brauchen wir
neben Ganztagsschulen flexiblere Arbeitszeiten der Eltern
mindestens bis zum achten Lebensjahr des Kindes. Dass
dieses dritte Jahr des Erziehungsurlaubs rechtlich nicht ab-
gesichert ist, weil es von der individuellen Zustimmung ei-
nes Arbeitgebers abhängig ist, ist ein Problem, das wir in
einer Anhörung noch näher beleuchten sollten.

Aber die positiven Aspekte des Gesetzentwurfs sind
unübersehbar. Wir setzen zugleich das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom November 1998 um, in dem
gefordert wurde, dass der Staat die Voraussetzung dafür
schafft, dass die Wahrnehmung der familiären Erzie-
hungsaufgaben nicht zu beruflichen Nachteilen führt und
dass ein Nebeneinander von Erziehung und Erwerbsarbeit,
Frau Diemers, für beide Elternteile ermöglicht wird. Da-
zu hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgefordert.
Dies haben wir in unserem Entwurf getan. Wir hoffen, dass
die 20 Prozent der Väter, die sich schon jetzt dazu beken-
nen, dieses Angebot auch annehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ebenfalls wird die finanzielle Situation der Kinder
mit diesem Gesetz verbessert. Auch wenn die Einkom-
mensgrenzen nur um circa 10 Prozent und die Kinder-
zuschläge für Mehrkinderfamilien 2001 zunächst um
14 Prozent, in Stufen bis 2003 aber bis auf 6 000 DM er-
höht werden, ist dies in Zeiten von Sparhaushalten mehr,
als die alte Bundesregierung in zwölf Jahren des Bestehens
des Bundeserziehungsgeldgesetzes auf den Weg gebracht
hat.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie haben es zugelassen, dass seit 1986 von ehemals
96 Prozent heute gerade einmal 47 Prozent der Eltern das
ungeschmälerte Erziehungsgeld erhalten.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Jawohl!)

Nun kritisieren Sie uns, dass wir zu wenig tun!


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Aber Sie haben es doch angekündigt! – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das kann nur die CDU!)


– Wir haben das getan. Ich hätte auch gerne mehr, aber Sie
merken doch wohl, dass Sie sich eigentlich für das kriti-
sieren, was Sie selbst in drei vollen Legislaturperioden un-
terlassen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn jetzt die CDU/CSU drei Jahre lang 1 000 DM
monatlich fordert – das sind im Jahr 15 Milliarden DM
Mehrkosten –, scheint mir das eher ein Oppositionsreflex
zu sein als ein ernsthafter Vorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das muss Herr Merz noch steuerpolitisch rausholen!)


Ich frage Sie: Wer hat Sie denn eigentlich daran gehin-
dert, in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit das umzuset-
zen, was Sie uns heute vorschlagen? – Wir waren das
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Besonders zynisch ist in diesem Zusammenhang der
Vorschlag der bayerischen Schwesterpartei. Sie arbeitet
quasi mit Zuckerbrot und Peitsche. Leider sehe ich heute
niemanden hier von den Familienpolitikerinnen. Wer so
lebt, wie es sich die CSU vorstellt und es vorschreibt, wird
belohnt. Wer es sich erlaubt, andere Familienformen zu le-
ben, wird bestraft. Verheiratete Mütter sollen 1 000 DM
monatlich erhalten, Alleinerziehende vielleicht auch. Aber
für Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaf-
ten aufwachsen, soll es kein Familiengeld geben. Das ist
einfach nur schäbig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Verehrte Kolleginnen aus Bayern – leider sehe ich Sie
nicht –, sind Sie wirklich so realitätsfremd, dass Sie nicht
zur Kenntnis nehmen wollen, dass gerade bei lesbischen
Paaren sehr häufig Kinder aufwachsen? Welchen Grund
haben Sie dafür, diese Kinder zu diskriminieren?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Auch von der F.D.P., die uns in einem heute eilig ein-
gebrachten Antrag


(Zuruf der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])

– ja, gestern Abend, per Fax – auffordert, das Erziehungs-
geld auf 800 DM zu erhöhen, habe ich in den vergangenen
Jahren – das waren ja sehr viele der Regierungsbeteili-
gung, Frau Lenke – derartige Forderungen vermisst.


(Zuruf von der F.D.P.: Irgendwann muss man anfangen!)


Wie kleinkariert sind Sie eigentlich, dass Sie in ein Gesetz
schreiben wollen, dass ein Wechsel der Steuerklasse ein
Jahr vor der Geburt bei der Auszahlung des Mutter-
schaftsgeldes nicht berücksichtigt werden darf? Frau Kol-
legin Lenke, ich glaube, da ist die Steuerfachfrau mit Ih-
nen durchgegangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heiterkeit bei der SPD)





Irmingard Schewe-Gerigk
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(C)



(D)



(A)



(B)


Welches Bild haben Sie eigentlich von der bösen Mut-
ter, die durch eine Steuerklassenveränderung 30 DM Mut-
terschaftsgeld zusätzlich erhält? Hätten Sie in der Vergan-
genheit mit dieser Verve Steuerverkürzungstatbestände bei
den großen Einkommen verfolgt, hätten Sie uns hier nicht
einen so maroden Haushalt hinterlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der F.D.P., so gerne ich aus familienpoliti-
scher Sicht Ihre Vorschläge zur Erhöhung der Leistung po-
sitiv bewerten möchte, ich kann sie nicht ernst nehmen,
weil sie zu durchsichtig sind. Mit solchen Schauanträgen
ohne ernsthafte Vorschläge für eine Finanzierung


(Ina Lenke [F.D.P.]: Na! Na! Na!)

werden Sie auch die Wähler und Wählerinnen in Nord-
rhein-Westfalen nicht gewinnen. Das durchschauen die
Menschen einfach.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Das wollen wir auch gar nicht! Das haben wir auch gar nicht vor!)


Wir bieten ein verlässliches Konzept für eine partner-
schaftliche Gestaltung der Erziehungsarbeit. Wir unter-
stützen Eltern darin, dass aus ihrem Kinderwunsch auch
Realität werden kann. Wir unterstützen Frauen in ihren
Ansprüchen auf eine existenzsichernde Arbeit und wir si-
chern eigenständige Ansprüche für eine auskömmliche Al-
terssicherung. Endlich haben Eltern eine wirkliche Wahl-
freiheit.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Sie vergessen, dass wir einmal damit angefangen haben! Gegen euren Willen!)


Ich hoffe, dass wir im Laufe der Beratung noch dazu
kommen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900400
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1409900500
Guten Morgen! Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! 1986 ist das Bundeserzie-
hungsgeldgesetz in Kraft getreten. Es regelt unter ande-
rem, dass Mutter oder Vater während des Erziehungsur-
laubes Teilzeit arbeiten können, und auch die Höhe und die
Dauer des Erziehungsgeldes. Hervorzuheben ist – es wird
sicherlich auch Ihre Zustimmung finden, dass man das hier
noch einmal sehr deutlich sagt –, dass in den ersten drei
Lebensjahren Kündigungsschutz besteht.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das war 1986 sicherlich ein Grund, dieses Gesetz zu for-
mulieren und zu verabschieden, damit die Mütter wirklich
Arbeitsplatzschutz haben. Darüber sind wir uns ja einig.

Wenn die Ministerin sagt: „Es geht los“ und Frau
Schewe-Gerigk von der großen Leistung spricht, die hier

stattfindet, frage ich Sie: Haben Sie in der Vergangenheit
eine parlamentarische Initiative zur Erhöhung des Erzie-
hungsgeldes gemacht?


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja!)


Haben Sie da etwas gemacht?

(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ja! Jedes Jahr! Jedes Jahr parlamentarisch, gucken Sie nach! Jedes Jahr! Da bin ich mir sicher!)


– Jedes Jahr parlamentarisch? Das werde ich noch einmal
nachprüfen. Wir wollen uns dann im Ausschuss einmal
darüber unterhalten, was Sie damals gefordert haben und
was Sie heute fordern. Denn heute sind Sie in der Verant-
wortung.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sie haben 1,5 Billionen Schulden hinterlassen! 1,5 Billionen!)


Meine Damen und Herren, die von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Änderungen sind wie-
der einmal nicht der große Wurf. Das sage ich hier ganz
deutlich.


(Beifall bei der F.D.P.)

Daraus macht auch die Rhetorik, die Sie heute vorbringen,
nicht unbedingt mehr. Sie haben auch im letzten Jahr, als
uns das Bundesverfassungsgericht den Auftrag gegeben
hat, die steuerliche Entlastung von Familien zu überprü-
fen, nur sehr wenig für die Familien getan und sind an der
unteren Grenze geblieben.


(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

Ich möchte zu dem vorliegenden Entwurf des Bundes-

erziehungsgeldgesetzes kommen. Sie formulieren politi-
sche Ziele, an denen Sie sich auch messen lassen müssen.

Erstens zu den strukturellen Verbesserungen beim Er-
ziehungsgeld und beim Erziehungsurlaub. Das ist in
Maßen passiert. Das gebe ich gerne zu und das finde ich
auch so in Ordnung.

Bei einem zweiten Punkt werden wir nicht den erhoff-
ten Erfolg haben. Sie wollen den Anreiz für Väter, Erzie-
hungsurlaub zu nehmen, erhöhen.

Meine Damen und Herren, zu Beginn möchte ich noch
einmal anmerken, dass Sie immer noch den Begriff „Er-
ziehungsurlaub“ verwenden. Etwas anderes ist Ihnen nicht
eingefallen. Wenn Sie so lange und so gründlich an diesem
Gesetz gearbeitet haben, wie Frau Schewe-Gerigk gesagt
hat, frage ich mich, warum Ihnen da kein anderer Begriff
eingefallen ist. Das wurde jedenfalls nicht geändert. Wir
haben „Erziehungszeit“ vorgeschlagen. Wir werden uns
jedenfalls nicht mit Ihnen auf den Begriff „Erziehungsur-
laub“ einigen – ganz einfach, weil es die Männer bei die-
sem Begriff noch schwerer haben, diesen so genannten Ur-
laub zu nehmen. Wir alle, die wir Kinder erzogen haben,
wissen, dass das kein Urlaub ist, dass das – verdammt noch
mal – Arbeit ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Irmingard Schewe-Gerigk

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(C)



(D)



(A)



(B)


Von daher lassen Sie uns – das ist keineWortklauberei –
einen anderen Begriff finden. So geht das nicht. Der jetzi-
ge Begriff ist diskriminierend für Männer und für Frauen.

Nun zum Inhalt dieses Gesetzes. Unseres Erachtens
wird das Ziel nicht erreicht, dass nämlich 98,5 Prozent der
Väter mit diesem Gesetz überzeugt werden, Erziehungs-
zeit zu nehmen. Mit einer angebotenen Reduzierung der
Arbeitszeit von nur sieben Stunden wöchentlich wird die
Erziehungszeit nämlich nicht gelebt und nicht praktiziert
werden können.


(Beifall bei der F.D.P. – Irmingard ScheweGerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Mindeste! Das ist nicht das Maximale!)


Das ist keine Teilzeitarbeit, sehr geehrte Frau Ministe-
rin, das ist eher Vollzeitarbeit. Sie mögen damit den Ver-
such unternehmen, Männern einen Einstieg in ihre Erzie-
hungszeit durch geringe zeitliche Reduzierung der Wo-
chenarbeitszeit schmackhaft zu machen. Aber eine echte
Entlastung für die Frauen, die heute leider immer noch den
größten Teil der Erziehungsarbeit übernehmen, wird das
nicht sein. Uns Frauen wird es leider nicht helfen.

Durch das Gesetz werden die bestehenden hohen Hür-
den nicht abgebaut. Ich weiß, das können Sie nicht; das
werden wir sicher auch nicht können. Aber wir müssen an-
dere Möglichkeiten finden. Die Hemmnisse sind der
drohende Karriereknick und das Unverständnis von
vielen von uns, auch Männern das einmalige Erlebnis zu-
zugestehen, für die Erziehung ihrer Kinder in den ersten
Lebensjahren umfassend verantwortlich zu sein. Daran
müssen wir alle gesellschaftspolitisch arbeiten.

Meine volle Aufmerksamkeit hat der Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit in Ihrem Gesetz. Das ist neu. Wenn
man sich aber nicht einigt, soll es – das steht in Ihrem Ge-
setzentwurf – vor Gericht ausgefochten werden. Ich den-
ke, das ist keine gute Lösung; das sollten wir nicht ma-
chen.

Ich will noch einen Punkt in Ihrem Gesetz ansprechen,
der auch etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun hat. In der
letzten Woche hat mich die treuherzige Aussage der Staats-
sekretärin auf meine Frage, wie die Betriebsgröße von 15
Mitarbeitern beim Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit zu-
stande gekommen sei, empört. Sie sagte:

Wir haben mit dem Wirtschaftsminister diskutiert, ab
welcher Größe Unternehmen diese Art von Flexibili-
sierung ... verkraften können.

Das bezieht sich also auf den Rechtsanspruch auf Teil-
zeitarbeit. Sie sagte weiter:

Wir sind mit dem Wirtschaftsminister einer Meinung,
dass es für Betriebe ab 15 Mitarbeitern keine Proble-
me gibt.

Sie stellen das also politisch fest, und damit ist das dann
so!


(Hildegard Wester [SPD]: Und Sie stellen fest: „Es ist nicht so“?)


Ich kann Ihnen eins sagen: Das stimmt nicht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die hätten mal mit der Wirtschaft reden sollen!)


Wir haben entsprechende Gespräche geführt: Es ist un-
möglich!

Ich möchte noch zu unserem Initiativantrag kommen
und fasse deshalb zusammen: SPD und Grüne haben einen
Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einige Verbes-
serungen bringt, aber wenig innovativ ist. Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgeber haben wenig Raum, Arbeitszeiten individuell
auszuhandeln, und zwar während der ganzen Erzie-
hungszeit. Da sind Sie einfach zu kurz gesprungen; das
sollten wir in den Ausschüssen noch einmal gemeinsam
überdenken.

Deshalb hat die F.D.P. heute einen eigenen Antrag ein-
gebracht. Das ist keine Absicht und hat nichts mit Wahlen
zu tun, wir sind einfach nicht früher fertig geworden.


(Lachen bei der SPD)

– Ich bin zwar Rheinländerin, komme aber aus Nieder-
sachsen. Dort haben wir keine Wahl.

Wir haben diesen Antrag eingebracht und wollen kon-
struktiv mitarbeiten. Wir wollen dabei aber ganz deutlich
blau-gelbe Markierungspunkte setzen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Änderung von Steuerklassen!)


– Ja, genau. Dazu komme ich noch, ich habe ja noch eine
Minute Redezeit.

Wir wollen weg von dem Erziehungsurlaub und wollen
deutlich machen, dass es eine Anstrengung – und eine
Freude! – ist, Kinder zu erziehen. Wir wollen keinen
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, denn wir wollen als
Alternative eine sehr flexible Teilzeitregelung. Vielleicht
machen die CDU und die CSU dabei mit. Wir wollen das
Erziehungsgeld einkommensabhängig auf höchstens
800 DM monatlich sowie die Einkommensgrenzen er-
höhen.

Ich bin seit Beginn dieser Legislaturperiode frauen-
und familienpolitische Sprecherin. Wenn ich mir deutlich
mache, wie die Diäten 1986 ausgesehen haben, als das
Bundeserziehungsgeldgesetz auf den Weg gebracht wor-
den ist, und wie sie jetzt aussehen und die Einkommens-
grenzen für die Frauen bzw. Mütter, die Erziehungsurlaub
oder Erziehungszeit nehmen, dagegenhalte, dann meine
ich, dass wir „kräftig“ etwas machen müssen. Vielleicht
kommen wir ja gemeinsam zu etwas.

Wir wollen die Erziehungszeit ausweiten, wollen diese
zusätzliche Zeit aber nicht nur auf das letzte Jahr be-
schränken. Sie haben gesehen, dass wir flexibilisieren
wollen. Damit meine ich nicht nur die Flexibilisierung in
der Woche. Vielmehr sollen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber we-
sentlich flexibler innerhalb eines Jahres mit ihrer Ar-
beitszeit umgehen.

Frau Schewe-Gerigk, ich muss Ihnen etwas dazu sagen,
dass Sie sich über unseren Punkt 6, der bei der Berechnung




Ina Lenke
9218


(C)



(D)



(A)



(B)


des Mutterschaftsgeldes Änderungen vorsieht, lächerlich
machen. Wenn Sie sich genauer informieren, werden Sie
feststellen, dass die Findigen belohnt werden und dass die,
bei denen die Frauen ganz brav ihre Steuerklasse V und
deren Männer Steuerklasse III haben, weniger bekommen,
als wenn sie drei oder sechs Monate vorher ihre Steuer-
klasse geändert hätten.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen die Steuerklasse V für die Frauen sowieso abschaffen!)


Wir wollen nicht die Findigen belohnen. Wir wollen, dass
der Gesetzgeber alle Frauen richtig behandelt und dass es
eine steuerliche Gerechtigkeit gibt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Da ich Fachfrau bin, sollten Sie das nicht lächerlich ma-
chen, sondern sich erst einmal ins Gesetz einarbeiten.


(Beifall des Abg. Hans-Peter Repnik [CDU/CSU])


Als Letztes ein Appell: Sie sollten die Vereinfachung
der Zuständigkeiten auch bei den Ländern überprüfen.
Denn wir sind mobil. Wir werden zum Beispiel in Mett-
mann geboren, wohnen dann in Hamburg und ziehen spä-
ter nach München. Von daher sollten die Ansprechpartner
gleich sein.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Lassen Sie uns alle Ihren und unseren Vorschlag intensiv
beraten. Vielleicht kommt dabei ein vernünftiges und
hilfreiches Ergebnis für die Menschen in unserem Land
heraus. Dann hätten wir hier im Bundestag unsere Arbeit
für die Bürgerinnen und Bürger gut erledigt.

Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900600
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.


Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1409900700
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In ihrer Koalitionsvereinbarung haben
SPD und Grüne betont, dass Beruf und Kinderbetreuung
wieder besser miteinander vereinbar sein müssen.
Angekündigt wurde eine umfassende Reform des Erzie-
hungsgeldgesetzes. Das, was die Bundesregierung jetzt
vorgelegt hat, sind allenfalls – das muss man klar sagen –
erste Schritte zu einer solchen Reform – mehr leider nicht.

Die Höhe des Erziehungsgeldes bleibt unverändert
bei 600DM. Das ist nach wie vor nur ein Taschengeld. Da-
von kann niemand leben. Seit 1986 haben sich die Le-
benshaltungskosten um 33 Prozent erhöht. Nicht einmal
das ist ausgeglichen worden. Die Folge ist, dass sich die
Bezieherinnen von Erziehungsgeld – auch künftig werden
dies in erster Linie Frauen sein – in jedem Falle in finan-
zieller Abhängigkeit von Staat oder Ehemann wieder fin-
den. Alleinerziehende werden im Normalfall zu Sozialhil-
feempfängerinnen mit all den Folgen, die das hat: Kündi-
gung der Lebensversicherungen und Verbrauch des

Gesparten. Das ist ein Skandal und daran hat die jetzige
Bundesregierung nichts geändert.


(Beifall bei der PDS)

Im vorliegenden Entwurf eines Erziehungsgeldgesetzes

wird nach wie vor davon ausgegangen, dass Kinder in der
traditionellen Kleinfamilie, also bei ihren biologischen
Eltern, aufwachsen. Immer mehr Kinder jedoch – das
dürfte eigentlich allen hier im Raum bekannt sein – wer-
den außerhalb der Ehe geboren und wachsen bei Alleiner-
ziehenden, bei so genannten Stiefeltern oder bei ihren les-
bischen bzw. schwulen Eltern auf. Es ist überfällig, dass
der Gesetzgeber dieser Vielfalt an Lebensformen Rech-
nung trägt und die Bedingungen für soziale Eltern verbes-
sert.

(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Ina Lenke [F.D.P.])

Das heißt, dass der Anspruch auf Erziehungsgeld und Er-
ziehungsurlaub auch auf andere Bezugspersonen des Kin-
des übertragbar sein sollte.

Eindeutig positiv sind die ersten Schritte zur Flexibili-
sierung des Erziehungsurlaubs und auch die Erhöhung
der zulässigen Teilzeitarbeit während des Erziehungsur-
laubs auf 30 Stunden pro Woche.

Wir begrüßen auch die Möglichkeit, künftig das Erzie-
hungsgeld zu budgetieren. Wir meinen, das ist ein klares
Signal an Frauen, ihre Erwerbstätigkeit nicht volle drei
Jahre am Stück zu unterbrechen. Denn wer heute zwei Jah-
re und länger aus dem Beruf aussteigt, gilt als dequalifi-
ziert und ist in der Konkurrenz mit Männern um gut
bezahlte und Aufstiegschancen versprechende Arbeits-
plätze hoffungslos unterlegen. Da helfen auch keine
Gleichberechtigungsgesetze und noch so gut gemeinte
Frauenförderpläne. Darüber hinaus ist festzustellen: Kin-
dern tut es durchaus gut, im Rahmen gemeinschaftlicher
Kinderbetreuung Kontakte zu Gleichaltrigen zu haben und
ein Stück weit der Überbehütung durch die eigenen Eltern
zu entkommen.


(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, damit bin ich bei einem Pro-

blem, auf das in dem vorliegenden Regierungsentwurf lei-
der nicht eingegangen wird: Eltern, die all diese angebo-
tenen Neuregelungen nutzen wollen, stehen vor einem
schier unlösbaren Problem. Wohin mit den Kindern, wenn
die Eltern ihren Teilzeitanspruch einlösen wollen? Diese
Frage lässt die Bundesregierung leider unbeantwortet. Wir
alle hier kennen die nach wie vor besonders im
Westen, aber zunehmend auch im Osten bestehende Not-
lage bei der öffentlichen Kinderbetreuung. Es fehlen
Plätze sowohl für die ganz Kleinen als auch für die Hort-
kinder. Nur in einem sehr geringen Teil der Kitas stehen
Ganztagsplätze zur Verfügung. Es fehlen also die Rah-
menbedingungen, um wenigstens die von der Bundesre-
gierung geplanten kleinen Schritte für eine bessere Ver-
einbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung überhaupt zum
Tragen zu bringen.




Ina Lenke

9219


(C)



(D)



(A)



(B)


Damit wird im Übrigen – auch das will ich hier deut-
lich sagen – das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
vom November 1998 ignoriert, in dem ganz klar gefordert
wurde, das Angebot an institutioneller Kinderbetreuung zu
verbessern. Das ist die entscheidende Fehlstelle im Kon-
zept der Bundesregierung.


(Beifall bei der PDS)

Der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen bleibt
auch künftig das wirksamste Instrument, um Frauen zum
Ausstieg aus der Erwerbsarbeit zu zwingen.

Die Bundesregierung nennt als Ziel ihrer Reform, Män-
ner mehr an der Familienarbeit beteiligen zu wollen. Ich
meine, dass die bloße freundliche Aufforderung an Män-
ner und das Angebot, den so genannten Erziehungsurlaub
gleichzeitig mit der Partnerin zu nehmen oder Teilzeit zu
arbeiten, im Einzelfall durchaus hilfreich sein können.
Was aber ist, wenn kein Krippenplatz frei ist und sich die
Frage stellt, wer mit dem Kind zu Hause bleibt? Für Väter
waren die negativen Folgen einer Berufsunterbrechung
wie Karriereknick, Statusverlust und materielle Einbußen
bislang Grund genug, dankend abzuwinken. Das wird sich
nur dann ändern, wenn Männer einen individuellen, nicht
übertragbaren Rechtsanspruch auf Freistellung zur Be-
treuung ihrer Kinder erhalten, der konsequenterweise ver-
fällt, wenn sie davon keinen Gebrauch machen. Ein sol-
cher Rechtsanspruch könnte Männer ebenfalls auch un-
terstützen, ihren vielfach geäußerten Wunsch nach aktiver
Elternschaft gegenüber ihrem Arbeitgeber oder ihren Kol-
legen zu vertreten.


(Beifall bei der PDS)

Der Vorschlag der Bundesregierung belässt die Verant-

wortung für Kinder bei den Frauen. Auch in seiner novel-
lierten Form wird dieses Gesetz dazu führen, dass Frauen
in der Phase der Familiengründung aus der Berufstätigkeit
herauskomplimentiert werden, sie den Weg frei machen
für die berufliche Karriere ihres Mannes und aller übrigen
Männer. Das Bundeserziehungsgeldgesetz bleibt das, was
seine Kritiker und Kritikerinnen von Anfang an befürch-
tet haben: ein Handicap für Frauen im Beruf.

Die von der PDS hier vorgelegten Vorschläge – im
Übrigen haben wir uns schon im Februar dazu positioniert,
Frau Lenke – eröffnen die wirkliche Chance, Frauen wie
Männern die Vereinbarkeit von Kindern und Berufs-
tätigkeit zu ermöglichen. Berufstätige Eltern erhalten
nach unserem Konzept tatsächlich die Wahlfreiheit zwi-
schen einer vollen Erwerbstätigkeit, einer zeitweisen Frei-
stellung oder einer vorübergehenden Arbeitszeitreduzie-
rung entsprechend den altersspezifischen Bedürfnissen ih-
rer Kinder und der eigenen, individuellen Lebensplanung.
Beruf und Kinder sollen nicht mehr nur nacheinander,
sondern auch gleichzeitig lebbar sein.

Wir wollen deutliche Anreize setzen, dass die Freistel-
lungsansprüche zwischen Frauen und Männern verbind-
lich geteilt werden, indem diese zum Teil nicht übertrag-
bar sind. Das ist ein klares Signal vor allem an die Väter:
Soll der Freistellungsanspruch nicht verfallen, müssen sie
ihren Teil im Interesse ihrer Kinder einlösen. Eltern kön-
nen den Erziehungsurlaub am Stück oder in einzelnen
Zeitabschnitten, nacheinander oder gleichzeitig nehmen.

Wir wollen ein Recht auf Teilzeitarbeit für Eltern. Die
Zahlung einer Lohnersatzleistung bzw. einer Grundsiche-
rung soll verhindern, dass Familien während der berufli-
chen Freistellung größere finanzielle Einbußen haben und
dass Alleinerziehende von Sozialhilfe abhängig werden.


(Beifall bei der PDS)

Ich sage es noch einmal: Das beste Vereinbarkeitsge-

setz verfehlt sein Ziel, wenn die Frage der Kinderbetreu-
ung nicht verlässlich gelöst wird. Deshalb gehört für uns
zur Vereinbarkeit der Rechtsanspruch auf öffentliche und
bedarfsgerechte Kinderbetreuung.

Wir wissen natürlich um die Finanzsituation der Kom-
munen und fordern deshalb – das ist in unserem Antrag
nachzulesen –, dass sich der Bund endlich an den Kosten
für die Kinderbetreuung beteiligt. Die Kosten, die durch
unser Konzept entstehen, sind nicht gering. Wer aber die
Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung wirklich
will, der darf über die Kosten nicht schweigen.

Ich möchte zum Schluss die Hoffnung zum Ausdruck
bringen, dass wir in den Ausschussberatungen noch die ei-
ne oder andere Nachbesserung an der Vorlage der Bun-
desregierung vornehmen werden.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409900800
Ich erteile der Kolle-
gin Hildegard Wester, SPD-Fraktion, das Wort.


Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1409900900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! In meinen ersten Sätzen möchte ich auf
das eingehen, was Frau Diemers und Frau Lenke dem
Hohen Haus gesagt haben. Einiges davon hat mich schon
sehr überrascht, man muss schon fast sagen: belustigt.

Frau Lenke, wann hören Sie endlich mit dem Märchen
auf, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die
jetzige Regierung kritisiert hat, und gestehen ein, dass die
Finanzpolitik der alten Regierung für Familien Gegen-
stand dieses Urteils war?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir schon ohne die-
ses Urteil zum 1. Januar dieses Jahres das Kindergeld um
30 DM erhöht hatten und dass wir im ersten Schritt der
Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils noch
einmal 20 DM draufgesattelt haben. Im Jahre 2002 wer-
den wir diesem Urteil voll nachgekommen sein. Dann
werden wir zum ersten Mal davon reden können, dass die
Familienpolitik den Vorgaben des Bundesverfassungsge-
richts voll gerecht wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Lenke, Sie haben weiter gefragt, welche parla-
mentarischen Initiativen wir in der Vergangenheit in
Bezug auf das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub
ergriffen hätten. Ich muss Ihnen sagen:




Christa Schenk
9220


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben in der 13. Wahlperiode einen umfassenden An-
trag vorgelegt, der fast gleich lautend mit dem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf war.

Frau Diemers, Sie hätten Gelegenheit gehabt, diesem
Antrag zuzustimmen. Wenn Sie davon überzeugt sind,
dass das fast das Gleiche war wie das, was in Ihrem Papier
„Lust auf Familie“ steht, dann weiß ich nicht, warum Sie
sich damals dagegen entschieden haben, diesen Antrag zu
unterstützen. Es ist, was die Zeitabläufe betrifft, doch wohl
eher so, dass Sie bei uns abgeschrieben haben, und nicht
umgekehrt. Aber wie dem auch sei: Es ist eine gute Sache
und ich fordere Sie deswegen heute auf, dem Gesetzent-
wurf in der zweiten und dritten Lesung zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was mich sehr belustigt, Frau Diemers, sind Ihre sehr
engagierten Auslassungen zum Begriff „Erziehungsur-
laub“. Ich erinnere mich nicht daran, dass unsere Frakti-
on diesen Begriff geprägt hat. Vielmehr haben Sie ihn ge-
prägt. Sie haben ihn 16 Jahre lang benutzt und waren im-
mer stolz auf dieses Gesetz. Sie sind von der Ministerin
Bergmann bereits eingeladen worden, sich an einer neuen
Begriffsfindung zu beteiligen. Tun Sie das doch bitte; dann
kommen wir vielleicht zu einem entsprechenden Namen
für dieses Gesetz.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte noch einmal betonen: Es geht mir nicht da-

rum, über Begriffe zu streiten, sondern es geht um Inhalte.

(Ina Lenke [F.D.P.]: Auch! Sprache prägt Bewusstsein!)


– Gut. Dann frage ich mich, wie das Bewusstsein 16 Jah-
re lang geprägt worden ist. Dann ist wohl 16 Jahre lang das
Bewusstsein dafür geschaffen worden, es sei für Mütter
eine schöne erholsame Zeit und sie könnten sich von den
Beschwernissen des Berufslebens ausruhen, wenn sie sich
der Erziehung ihrer Kinder widmen.


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Das war die Einführung! Darauf waren wir stolz!)


Genau damit wollen wir aufhören, und zwar nicht, weil
wir Ideologie betreiben wollen, Frau Diemers, sondern
weil wir sehen, wie die Menschen leben und wie sie leben
möchten. Die Menschen zeigen uns, dass sie Beruf und Fa-
milie miteinander vereinbaren wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genau deswegen wollen wir nach 14 Jahren Stillstand,
in denen den Eltern ein gesetzlicher Rahmen geboten wor-
den ist, der ihre Entscheidungsfreiheit erheblich einge-
schränkt hat, wieder Flexibilität einführen. Wir wollen,
dass Väter und Mütter selbst entscheiden können,


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Das ist unsere Politik! Aber sie müssen auch entscheiden können!)


ob und in welchem Umfang sie für die Erziehung ihrer
Kinder Arbeitszeit reduzieren wollen. Wir wollen vor al-

len Dingen, dass Väter und Mütter nicht miteinander aus-
handeln müssen, wer von beiden nun diese Reduzierung
der Arbeitszeit vornimmt. Beide sind Eltern und beide sol-
len ihren Beitrag sowohl zur Erziehung als auch zur fi-
nanziellen Absicherung der Familie leisten können.

Mit der Neuordnung, die wir heute vorlegen, vollziehen
wir einen Paradigmenwechsel – das ist schon gesagt wor-
den; es kann aber nicht oft genug betont werden –,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Unter Paradigmenwechsel verstehen wir schon etwas anderes!)


der nachhaltig das Zusammenleben der Menschen mit prä-
gen wird. Endlich wird deutlich, dass Kinder ein Recht auf
beide Eltern haben, dass Väter und Mütter ein Recht auf
Familie und Erwerbsarbeit haben. Nicht zuletzt wird deut-
lich, dass Betriebe und Unternehmen die Pflicht haben, zur
Bewältigung dieser gesellschaftlich wichtigen Aufgabe
beizutragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen bin ich froh, dass ein Rechtsanspruch auf
Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 30 Stunden
wöchentlich geschaffen wird. Das heißt nicht, dass man –
ich hatte heute Morgen den Eindruck, dass es bei vielen so
angekommen ist – auch 30 Stunden arbeiten muss, son-
dern dass man höchstens 30 Stunden arbeiten darf und für
die restliche Zeit für die Erziehung des Kindes freigestellt
wird. Dadurch wird eine große Bandbreite von Entschei-
dungsmöglichkeiten für die Familien eröffnet.

Ich verstehe auch an dieser Stelle die Kritik der CDU,
die man vorab schon lesen konnte, und der ihr nahe ste-
henden Familienverbände nicht. Wieso wenden Sie sich
gegen größere Gestaltungsfreiräume? Sie werfen uns vor,
das Lebensmodell Berufstätigkeit zu präferieren. Dazu
kann ich nur sagen: Niemandem wird es nach dem Gesetz
verwehrt, sich beruflich ganz freistellen zu lassen, um sich
der Betreuung seines Kindes zu widmen. Niemand wird
auch dazu gezwungen, sich die Erziehungszeiten mit sei-
nem Partner zu teilen.

Die volle Breite der Entscheidungsmöglichkeiten wird
durch unser neues Gesetz erst hergestellt. Vorher war es so,
dass das von der CDU bevorzugte Modell „Mutter bleibt
zu Hause und erzieht Kind“ ohne Probleme möglich war,
während alles andere sehr problematisch war.


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Das ist aber uralte Vergangenheit! – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Sie sind noch bei vorgestern, nicht bei gestern!)


Wir wollen unser Familienbild den Menschen nicht auf-
drücken; vielmehr reagieren wir auf die Notwendigkeit der
Veränderung. Diese wird uns aufgezeigt durch das tatsäch-
liche Verhalten der Betroffenen und äußert sich in den Le-
benserwartungen von Jugendlichen. Laut Shell-Studie,
die eben schon einmal zitiert wurde, sagen 75 Prozent der
befragten Jugendlichen „Für mich werden Familie und
Beruf immer gleich wichtig sein, es soll sich die Waage
halten“,


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Jawohl!)





Hildegard Wester

9221


(C)



(D)



(A)



(B)


– und zwar Mädchen und Jungen zu fast gleichen Tei-
len.

Wenn junge Menschen zu fast 75 Prozent äußern, ihre
Lebensplanung sehe Gleichzeitigkeit von Familie und Be-
ruf vor, wenn 39 Prozent der Frauen den Erziehungsurlaub
nicht voll ausschöpfen und wenn nur 1,5 Prozent der Män-
ner Erziehungsurlaub nehmen – trotz anderer eigener Vor-
stellungen –, dann muss der Gesetzgeber darauf reagieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist es auch kein „Spartopf“ – wie die CDU uns
vorwirft –, wenn wir das Angebot machen, für eine ver-
kürzte Erziehungsurlaubszeit eine Erhöhung des Erzie-
hungsgeldes in Anspruch nehmen zu können. Nein, die
165 000 Frauen und Männer, die in den vergangenen Jah-
ren nach einem Jahr in den Beruf zurückgekehrt sind, wa-
ren in der Vergangenheit ein Spartopf des Finanzministers
Waigel.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Jawohl!)

Natürlich ist dieses eine Jahr, das für die Budgetierung

entscheidend ist, wie die Erfahrung zeigt, auch ein ent-
scheidender Zeitraum in der Entwicklung von Kindern so-
wie für den Erhalt des Arbeitsplatzes und der Qualifizie-
rung. Aber ich möchte noch einmal betonen: Wir haben
kein Modell zur Förderung von Fremdbetreuung vorge-
legt, sondern für eine möglichst umfassende Betreuung
durch beide Elternteile.

Ich habe bei dieser Fragestellung immer eine Petition
vor Augen, die ich als Mitglied des Petitionsausschusses
zu bearbeiten hatte. Da wollte ein Elternpaar, beide Ange-
stellte im öffentlichen Dienst, ihre Arbeitszeit jeweils auf
24 Stunden reduzieren. Der Deutsche Bundestag und der
Petitionsausschuss hatten beschlossen, diese Petition der
Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Das heißt,
der Bundestag hat sich voll hinter das Anliegen dieses El-
ternpaares gestellt.

Nur, die damalige Bundesregierung in Gestalt von Frau
Nolte wollte dies nicht. Sie war der Meinung, es sei für das
Kind zuträglicher, wenn ein Elternteil maximal 19 Stun-
den arbeite und der andere Elternteil 40 Stunden. Zusam-
men mit eventuell anfallenden Überstunden wäre dieses
Elternpaar leicht auf mehr als 60 Stunden gekommen. Das
sollte letzten Endes zuträglicher für das Kind sein als der
Wunsch beider Eltern, zusammen nur 48 Stunden pro Wo-
che zu arbeiten. Wenn dahinter nicht die pure Ideologie
steckt, dass es eigentlich gewünscht ist, wenn die Mutter
zu Hause bleibt und das Kind betreut! Wir dagegen reden
von den Anliegen der Menschen, und diesem wollen wir
gerecht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für das betroffene Elternpaar kommt unser Gesetzentwurf
leider zu spät. Aber ich denke, dass uns noch sehr viele El-
tern dankbar sein werden.

An dieser Stelle muss aber deutlich gesagt werden: Es
ist eine Illusion, zu glauben, die Vereinbarkeit von Er-
werbs- und Familienarbeit sei möglich ohne einen weite-

ren flexiblen Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtun-
gen. So passgenau wird die elterliche Arbeitszeit nicht mit
den Bedürfnissen von Kindern vereinbar sein, schon gar
nicht bei Alleinerziehenden. Darum müssen wir diesen
Punkt im Auge behalten und alle Kraft darauf verwenden,
hier erheblich nachzubessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der heute vorgelegte Gesetzentwurf seine volle
Wirkung erzielen will, müssen auch die Länder und Kom-
munen ihren Anteil an den Hausaufgaben leisten. Aber das
kann, bitte schön, nicht „Landeserziehungsgeld“ heißen.
Vielmehr muss es um Betreuungseinrichtungen für unter
3-Jährige, für Schulkinder, um Tagesmüttermodelle usw.
gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Unternehmen müssen sich die Frage stellen,

welchen Anteil sie leisten können, um Betreuungseinrich-
tungen für die Kinder ihrer Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer bereitzuhalten. Denn dies ist ja durchaus im
Interesse der Unternehmen. Dass wir trotz hoher Arbeits-
losigkeit einen Mangel an hoch qualifizierten Kräften ha-
ben, ist in diesen Tagen kein Geheimnis. Es dürfte sicher-
lich im Interesse der Unternehmen sein, gut qualifizierten
Frauen den Zugang oder den Wiedereinstieg in den Ar-
beitsmarkt zu erleichtern. Auch dies sollte ein Aspekt ver-
antwortungsvoller Unternehmenspolitik sein.

Es geht also bei unseren Vorschlägen zum Erziehungs-
urlaubsgesetz um eine möglichst breite Berücksichtigung
der Interessen aller, die am Erziehungsprozess beteiligt
sind. Natürlich steht dabei das Interesse des Schwächsten
in der Konstellation, nämlich des Kindes, an zentraler Stel-
le. Deshalb begrüße ich es, dass die Möglichkeit vorgese-
hen ist, das dritte Erziehungsurlaubsjahr bis zum ach-
ten Lebensjahr des Kindes flexibel einzusetzen.

Dies soll nur mit Zustimmung des Arbeitgebers mög-
lich sein, also nicht als Rechtsanspruch abgesichert wer-
den. Ich halte dies für eine realistische Lösung. Natürlich
wäre es wünschenswert, in für die Familie oder das Kind
besonders belastenden Situationen Anspruch auf eine
Auszeit zu haben. Aber wie bei allen Regulierungen muss
darauf geachtet werden, dass positiv gemeinte Regelungen
nicht zum Hindernis zum Beispiel in Form eines Einstel-
lungshemmnisses werden, sondern dass sie tatsächlich das
bringen, was man erreichen will, nämlich größeren Ge-
staltungsfreiraum für die Menschen.


(Beifall bei der SPD)

Zum Antrag der PDS, der genau in diese Richtung geht,

möchte ich deutlich sagen: Man kann sich natürlich vieles
wünschen, aber Ihre Vorschläge, die Sie festzementieren
wollen, erschweren es den Frauen und Männern, die die-
se Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen, in Arbeit zu
kommen oder zurückzukommen.

Die neu geschaffene Möglichkeit, dem Vater Erzie-
hungsurlaub während der Mutterschutzfrist zu ge-
währen, ist auch im Sinne des Kindes und des Vaters. Das
eröffnet die Chance, durch frühzeitige Verantwortungs-




Hildegard Wester
9222


(C)



(D)



(A)



(B)


übernahme ein intensives Verhältnis zwischen Vater und
Kind wachsen zu lassen.

Es ist eigentlich schade, dass Tony Blair von diesem
Recht jetzt anscheinend doch nicht Gebrauch machen will.
Es wäre schon gut, wenn gerade viel beschäftigte Männer
hier ein deutliches Zeichen setzen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Er hätte für viele europäische Männer ein Vorbild sein
können. Ich hoffe, unser neues Gesetz wird trotzdem ein
wenig dazu beitragen, mit dem Mythos zu brechen, dass
wichtige Männer überall unverzichtbar sind, nur nicht bei
ihrem Kind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Auch beim finanziellen Teil des Gesetzentwurfes kom-
men wir einen guten Schritt voran. Die Einkommens-
grenzen werden erhöht. Das war überfällig. Seit 1986 ist
in dieser Richtung nichts getan worden. Das haben wir
heute vielfach gehört.

Ich kann nur sagen: Mich wundert es, woher Sie das
moralische Recht nehmen, uns wegen der recht beschei-
denen Erhöhung des Erziehungsgeldes zu kritisieren, die
wir uns ehrlichen Herzens abgerungen haben und die wir
ehrlichen Herzens anbieten. Wir zeigen sogar eine Per-
spektive für die nächsten zwei Jahre auf, um damit deut-
lich zu machen, dass die Lebenshaltungskosten für Kinder
wie auch die Einkommen steigen.

Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden diesen
Weg fortsetzen und wir bitten Sie herzlich, uns dabei zu
unterstützen und damit etwas für die Familien und die Ge-
staltungsfreiheit der Familien in unserem Lande zu tun.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409901000
Nun hat der Kollege
Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Klaus Holetschek (CSU):
Rede ID: ID1409901100
Herr Präsident! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns das Recht he-
rausnehmen, Sie zu kritisieren, liegt einfach daran, dass
Sie in der Regierung sind und sich an dem messen lassen
müssen, was Sie versprochen haben. Das ist relativ ein-
fach. Jeder, der Verantwortung übernimmt, muss sich die-
sem Maßstab stellen und dem werden Sie, meine Damen
und Herren, nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir können das Schwarze-Peter-Spiel relativ lange be-
treiben und ihn hin und her schieben: Sie haben im Mo-
ment die Verantwortung und hier im Parlament die Mehr-
heit. Sie müssen diese Entwürfe vorlegen und sich auch
der Kritik stellen. Danach können wir uns in der Sache
auseinander setzen. Wir müssen es uns aber nicht antun,
ständig den schwarzen Peter hin und her zu schieben.

Es ist völlig unbestritten, welche familienpolitischen
Leistungen die CDU/CSU in 16 Jahren erbracht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Das hat aber das Bundesverfassungsgericht anders gesehen!)


Meine Damen und Herren von der zukünftigen Oppositi-
on, Sie werden in den nächsten zweieinhalb Jahren das,
was wir in den Jahren unserer Regierungszeit erreicht ha-
ben, nicht schaffen.

Erfreulicherweise liegt der Entwurf jetzt endlich vor,
der lange angekündigt war. Erfreulicherweise enthält er
auch viele Elemente, die in den Grundsatzpapieren der
CDU und der CSU enthalten sind. Das freut uns und wir
brauchen nicht zu diskutieren, wer voneinander ab-
schreibt. Es ist schön, dass darin zum Beispiel die Anhe-
bung der Einkommensgrenzen, die Flexibilisierung des
Erziehungsurlaubes und der Anspruch auf Teilzeittätigkeit
enthalten sind. Dies ist ein positiver Ansatz. Diesen wer-
den wir auch positiv begleiten.

Es gibt natürlich auch einige Kritikpunkte, Dinge, die
wir nicht mittragen können. Ich halte die Budgetregelung
für verfehlt, und zwar zum einen, weil hiermit ein Anreiz
für diejenigen geschaffen wird, die sich nur ein Jahr rund
um die Uhr um ihre Kinder kümmern, und zum anderen,
weil die Regelung sehr kompliziert ist.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wieso ist die Regelung kompliziert?)


Die Berechnung des Erziehungsgeldes ist so kompliziert,
dass die Eltern nicht mehr selber einschätzen können, was
sie bekommen, sich aber trotzdem nach der Geburt ent-
scheiden müssen.

Es fehlt auch eine Härtefallregelung, meine Damen
und Herren, weil wir in der Praxis sehen werden, dass es
nicht immer einfach ist, alles vorauszuplanen und voraus-
zusehen.

Sie haben auch nicht daran gedacht, dass durch diese
Regelung eine erhöhte Beratungskapazität notwendig
wird. Wenn Sie eine bürgerfreundliche Politik machen
wollen, dann müssen Sie in Zukunft auch den Ämtern sa-
gen, dass die, die kommen, einen erhöhten Beratungsbe-
darf haben.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist ja albern!)

Ich möchte zum zweiten Punkt kommen. Wenn Sie die

Erhöhung der Einkommensgrenzen betrachten, dann
werden Sie feststellen, dass die verheirateten Eltern deut-
lich benachteiligt werden. Während die Einkommens-
grenze für Alleinerziehende mit einem Kind deutlich über
dem steuerfreien Existenzminimum liegt, befindet sie
sich bei verheirateten Eltern deutlich unterhalb des steu-
erlichen Existenzminimums. Auch das muss man anspre-
chen. Wenn Sie einen neuen Entwurf vorlegen, hätten Sie
diesen Punkt berücksichtigen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Noch problematischer wird diese Einkommensgrenze für
jedes weitere Kind.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das Leitbild ist die Ein-Hund-Familie!)





Hildegard Wester

9223


(C)



(D)



(A)



(B)


Hierzu möchte ich sagen, meine Damen und Herren,
dass Sie wieder zulasten kinderreicher Familien sparen.
Das ist aber Ihre Politik insgesamt. Hier vollzieht sich der
Paradigmenwechsel: Sie verlassen das Wertefundament,
indem Sie die Familie nicht mehr als Keimzelle der Ge-
sellschaft sehen. Sie setzen auf Zuwanderung, statt auf
Hilfen und Rahmenbedingungen für Familien mit Kin-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Sie sollten auch das

Verfassungsgerichtsurteil berücksichtigen, das es im
November 1998 gegeben hat. Auch da kennen Sie die Pro-
blematik von Alleinerziehenden und deren Besserstellung.

Ich darf auf die Minderungsquote eingehen. Sie wer-
den die Erhöhung der Einkommensgrenzen teilweise
durch Einsparung bei Erziehungsgeldempfängern mit
mittlerem Einkommen erzielen, weil Sie die Minderungs-
quote von 40 auf 50 Prozent erhöht haben. Auch das muss
angesprochen werden, meine Damen und Herren.

Des Weiteren fehlt die Dynamisierung bei diesem Ge-
setzentwurf, die es bei anderen Sozialleistungen gibt. Wo
haben Sie die?


(Beifall bei der CDU/CSU)

AuchdieErhöhungderwöchentlich erlaubtenErwerbs-

tätigkeit von 19 auf 30 Stunden – das hat die Kollegin
Diemers bereits angesprochen – ist nicht im Sinne des Ge-
setzes, die Betreuung des Kindes durch die Eltern finanzi-
ell zu erleichtern. Sie legen dieses Gesetz anders aus und
gehen nicht mehr auf die Wurzeln Ihrer Regelung zurück.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Frauen an den Herd!)


Das einstufige Antragsverfahren, Frau Bergmann, ha-
ben Sie einmal vorgesehen. Es ist schade, dass Sie sich in
der Fraktion nicht durchsetzen können. Es wurde bereits
angesprochen, dass die Regelungen immer komplizierter
werden und dass viele Eltern manchmal verzweifeln,
wenn sie die Anträge ausfüllen müssen. Deshalb wäre die
Rückkehr zum einstufigen Antragsverfahren, in dem vor-
gesehen ist, einen Antrag für die gesamte Zeit des Bezu-
ges von Erziehungsgeld zu stellen, eine wirkliche Er-
leichterung, ein möglicher Gewinn für die Familien und
auch für die Behörden gewesen.

Ich stelle fest: Meine Damen und Herren, wir begrüßen
jede Verbesserung, die Sie für Familien erreichen. Sie ha-
ben hierbei unsere volle Unterstützung.

Sie sollten aber endlich eine nachhaltige, zukunftsori-
entierte und innovative Familienpolitik betreiben. Dazu,
meine Damen und Herren, gehören ein klares Bekenntnis
zur Familie mit Kindern, eine konkrete Antwort auf geän-
derte Lebensbedingungen der Familien und eine konzep-
tionelle Neuausrichtung.

Diese Neuorientierung kann in der Bündelung ver-
schiedener Leistungen, wie zum Beispiel des Kindergel-
des und des Erziehungsgeldes, zu einem Familiengeld
bestehen. Dadurch soll die materielle Leistungsfähigkeit
der Eltern erhöht werden, die Gleichwertigkeit von Erzie-
hung und Erwerbsarbeit besser zum Ausdruck kommen

und die Familienförderung transparenter werden. Das ist
ein sehr wichtiger Punkt, meine Damen und Herren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Woher nehmen Sie die 15Milliarden DM?)


– Wir werden diesen Vorschlag weiter konkretisieren. Es
ist ein Vorschlag, der in die Zukunft geht, Frau Kollegin
Schewe-Gerigk. Wir wollen einmal an die Zukunft den-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die haben für alles Geld, nur nicht für Kinder!)


Wahrscheinlich sieht die Zukunft so aus, dass Sie dann
nicht mehr an der Regierung sind. Dann werden wir unse-
re Gedanken selber umsetzen. In der Zwischenzeit sollten
Sie versuchen, Ihre Familienpolitik nicht daran auszu-
richten, dass Sie in die eine Tasche hineinstecken, was Sie
aus der anderen herausholen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch einmal die Ökosteuerbelastung anspre-

chen. Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, meine Damen und
Herren, so müssen Sie sich sagen lassen, dass die Famili-
en, die auf dem flachen Land auf das Auto angewiesen
sind, unter dieser Ökosteuer leiden. Es nützt ihnen nichts,
wenn Sie auf der einen Seite Angebote machen und auf der
anderen Seite die steuerliche Belastung erhöhen. Das ist
keine familienfreundliche Politik für unser Land, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Ministerin, glaubwürdige Familienpolitik versteht

die Herausforderung dieser gewaltigen Querschnitts- und
Gemeinschaftsaufgabe nicht als Stückwerk. Wir brauchen
einen neuen Ansatz, der den Familien das gibt, was sie
brauchen, nämlich eine verlässliche Unterstützung, einen
intensiven Rückhalt und einen umfassenden Schutz in der
Gesellschaft. Sie bleiben auch hier hinter den Verspre-
chungen der Koalitionsvereinbarung zurück. Sie haben
dort geschrieben, Sie beabsichtigten, „das Erziehungsgeld
mit besonderen Maßnahmen weiterzuentwickeln“. Was
übrig bleibt, meine Damen und Herren, sind viele Fragen
und Ungereimtheiten.

Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu den vorliegen-
den Anträgen der PDS sagen. Ich lese hier von der Forde-
rung nach einem Rechtsanspruch auf ganztägige außer-
häusliche Kinderbetreuung von der Geburt bis zum Ende
des 4. Schuljahres und bis zum Ende des 8. Schuljahres auf
öffentlich geförderte Freizeitgestaltung. Oder: Das Gesetz
will umfassende außerhäusliche Kinderbetreuung zur
„Normalbiografie“ festschreiben und Kinderbetreuung als
gesellschaftliche Aufgabe definieren. Meine Damen und
Herren von der PDS, Sie sollten endlich erkennen, dass der
real existierende Sozialismus vorbei ist


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das gab es im real existierenden Sozialismus auch nicht!)


und dass Sie die Familienpolitik nicht planwirtschaftlich
gestalten können.




Klaus Holetschek
9224


(C)



(D)



(A)



(B)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409901200
Ich erteile der Kolle-
gin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409901300
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es erstaunt
mich doch sehr, dass ich hier im Bundestag zu hören be-
komme, wie sich Herr Holetschek enthusiastisch für die
Unterstützung und Beratung der Familien einsetzt,
während ausgerechnet in seinem Wahlkreis das Frauen-
haus, das gerade auf Unterstützung und Beratung setzt und
das zurzeit kurz vor dem finanziellen Aus steht, den eige-
nen Abgeordneten um Hilfe anging. Herr Holetschek stahl
sich aber davon und sagte, dafür sei er nicht verantwort-
lich. Das ist doppelzüngig; so etwas sollte man nicht ma-
chen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Holetschek, ich weiß, das schockiert Sie. Aber Sie
sollten sich in Ihrem eigenen Wahlkreis einmal erkundi-
gen.

Es erstaunt mich auch, dass Sie in Ihrer Rede mit
keinem Wort auf das eingegangen sind, was die Frau
Ministerin uns vorhin in einer sehr eindrucksvollen Auf-
zählung vorgeführt hat: all die Steuerentlastungen, die wir
bereits im vergangenen Jahr im Plenum beschlossen hat-
ten, ebenso wie die Kindergelderhöhung,


(Klaus Holetschek [CDU/CSU]: Ökosteuer!)

sogar eine Kindergelderhöhung für Sozialhilfeempfänge-
rinnen und -empfänger. Wir haben gesagt, dass wir Politik
für die Kinder und im Sinne der Kinder machen. Das ha-
ben wir schon umgesetzt.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ökosteuer, Gas, Heizung, Benzin, alles wird teurer!)


Wir sind auf einem guten Weg. Die ersten Schritte haben
wir hinter uns, weitere Schritte folgen. Aber das scheint Ih-
nen ja leider entgangen zu sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neue Shell-Stu-
diemacht eine bemerkenswerte Entwicklung deutlich: Bei
Jugendlichen beiderlei Geschlechts ist ein verstärktes In-
teresse an Familie und Kindern, aber auch an Berufstätig-
keit vorhanden. Die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf
steht im Vordergrund. Die Jugend von heute will beruf-
stätig sein und Karriere machen, um sich selbst zu ver-
wirklichen, aber zur selben Zeit nicht auf Familie und
Kinder verzichten. Sie sieht die Familie als einen Ort der
Geborgenheit, des Rückzugs, des Vertrauens an. Daher
muss es die Aufgabe der Politik sein, diesem Interesse
nachzukommen.

Tatsächlich hat die Jugendstudie festgehalten, dass sich
die Wertehaltungen von Mädchen und Jungen nach und
nach annähern, auch wenn Frauen ab einem bestimmten

Alter nach wie vor stärker kinder- und familienorientiert
sind. Das nähert sich aber auch bei jungen Männern an,
während Machos – der Mann geht arbeiten, die Frau an
den Herd – bei der Jugend out sind.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Wenn sie dreißig sind, ändert sich das leider wieder!)


Vorgestanzte Rollenklischees sind nicht mehr zeitgemäß.
Das ist eine Herausforderung an die Politik. Mit unse-

rem Gesetzentwurf, in dem es um Teilzeitarbeit und um
Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, sind wir auf der
Höhe der Zeit. Wir setzen mit ihm wichtige Maßnahmen
für Frauen um.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber ein Punkt muss uns nach wie vor zu denken ge-
ben: Die Studie zeigt auch, dass ausgerechnet junge Frau-
en von 22 bis 24 Jahren sehr resigniert sind, weil sie be-
fürchten, dass ihr Wunschziel nicht erfüllt werden kann,
dass sie keinerlei Chance haben, Familie und Beruf wirk-
lich unter einen Hut zu bringen.

Dabei fehlt es ganz bestimmt nicht, wie die PDS meint,
am gesellschaftlichen Druck auf die Partner der jungen
Frauen. Es fehlt den Männern nicht an Bereitschaft mit-
zumachen. Tatsächlich fehlt es an Rahmenbedingungen,
Chancen und Wahlmöglichkeiten. Genau an diesen
Wahlmöglichkeiten müssen wir arbeiten.


(Christina Schenk [PDS]: Das haben Sie gar nicht verstanden! Genau dies meinen wir auch! Lesen Sie einmal unsere Anträge!)


Mit dem Entwurf der Koalition soll den Eltern Zeit für
ihre Kinder gesichert werden. Er soll Rahmenbedingun-
gen für eine gleichberechtigte Teilung der Erziehung zwi-
schen den Eltern schaffen. Aber wir müssen in diesem Be-
reich auch schon über künftige Schritte nachdenken, wie
zum Beispiel über die Kinderbetreuung, die Sie in Ihrem
Antrag aufgreifen. Auch wir wissen, dass die Kinderbe-
treuungsmöglichkeiten ausgebaut werden müssen, wenn
die Chancengleichheit von Männern und Frauen und von
Familien hergestellt werden soll. Wir wissen auch, dass
der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten wichtig
für die Entwicklungschancen der Kinder ist. Aber zum
Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist von den
Kollegen der Opposition bis jetzt leider noch nichts Neu-
es vorgetragen worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Einen Bauchladen an Wohltaten enthält Ihr Vereinbar-
keitsgesetz. Es ist teuer, aber gerecht ist es nicht.

Wir dürfen heute keine ideologische Scheu vor Teil-
zeitarbeit haben. Wir dürfen nicht irgendetwas fordern,
was utopisch ist und von dem wir wissen, dass es in der
kommenden Zeit sowieso nicht umgesetzt werden kann,
wie zum Beispiel eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung.
Das ist zwar ein tolles Versprechen, aber es ist weder rea-
listisch noch pragmatisch.




Klaus Holetschek

9225


(C)



(D)



(A)



(B)


In einem Punkt muss ich Ihnen Recht geben: Die Kar-
rierechancen von Teilzeitbeschäftigten sind noch immer
gemindert. Teilzeitarbeit ist in Deutschland noch nicht an-
erkannt und hat sich hier noch nicht durchgesetzt. Aber wir
dürfen die Teilzeitarbeit deswegen nicht abwerten; viel-
mehr muss es unsere Aufgabe sein, Möglichkeiten zu
schaffen, damit mehr Menschen in Teilzeit gehen, Teil-
zeitarbeit aufzuwerten, die Chancen in diesem Bereich zu
verbessern, Teilzeitarbeit in der Öffentlichkeit nach vorne
zu bringen und attraktiv zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409901400
Kollegin Deligöz, Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409901500
Gut,
nur noch ein Schlusssatz: Wir sind uns bewusst, dass zu ei-
ner kinderfreundlichen Gesellschaft vieles dazugehört:
Kinderbetreuung, Teilzeitarbeit, Kinderzeit und Eltern-
zeit. Mit dem vorliegenden Gesetz gehen wir einen ent-
scheidenden Schritt in die richtige Richtung. Diesen
entscheidenden Schritt sollten wir unbedingt gemeinsam
vollziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409901600
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1409901700
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Wer den Antrag der PDS auf staat-
liche Kinderbetreuung und Freizeiteinrichtungen liest,
bei dem kommt angesichts des Füllhornes angeblicher
kinderfreundlicher Maßnahmen richtig Freude auf.


(Christina Schenk [PDS]: Schön, dass Sie das erkannt haben!)


– Kollegin Schenk, ein solcher Antrag kann eigentlich nur
von der PDS gestellt werden; denn im Klartext heißt er:
Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid! Der
Staat wird euch erlösen.

Selbstverständlich gibt die PDS keine Antwort auf die
Frage, woher das Geld kommen soll, mit dem der Staat die
Erlösung bewirken soll.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist das alte DDR-Modell!)


Dieser Antrag – das möchte ich hier deutlich sagen –
bestätigt den Eindruck, den der Bundesparteitag Ihrer Par-
tei bei mir hinterlassen hat:


(Christina Schenk [PDS]: Waren Sie dabei? Ich habe Sie gar nicht gesehen!)


Sie beschäftigen sich nicht mit realitätsnahen Problemlö-
sungen, sondern mit Wunschdenken.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich wäre angesichts der gesellschaftlichen Ver-
änderungen, die auch Sie beobachten, einiges wünschens-
wert. Ja, Sie haben Recht: Wir brauchen mehr Ganztags-
schulen und Ganztagseinrichtungen auch zur Entlastung
junger Familien. Es ist unbestritten, dass solche Einrich-
tungen und solche öffentlichen Freizeitangebote auch zur
Entwicklung der Kompetenz und der Identität der Kinder
beitragen können. Es ist auch unbestritten: Wir brauchen
mehr innovative pädagogische Konzepte mit Altersmi-
schung in Zusammenarbeit mit Nachbarschaftszentren.
Das ist durchaus erstrebenswert.

Besonders der Wunsch nach niedrigen Beiträgen für die
Betreuungseinrichtungen stößt auf meine Sympathie.
Selbst Ihrem Ziel der langfristigen Beitragsfreiheit würde
ich sehr gern zustimmen – im Schlaraffenland, aber nicht
im Deutschen Bundestag.

Immerhin konnten Sie von der PDS sich zu so viel Rea-
litätssinn durchringen, dass Sie feststellen: Ihr Programm
überlastet die Kommunen und sie wären damit hilflos
überfordert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist schon sehr großzügig von Ihnen, dass sie schließlich
der Bundesregierung die Vorlage eines Finanzierungskon-
zeptes für Ihren Wunschzettel überlassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch klar:
Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig sein will, dann
muss sie Kindern mehr Chancen bieten. Ja, Deutschland
muss kinder- und familienfreundlicher werden; deshalb
hat die F.D.P. mit ihrem Familienpapier und ihrem heute
eingebrachten Antrag, in dem es auch um Erziehungsgeld
geht, wichtige, aber vor allem praktikable Vorschläge ge-
macht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])


Wir Liberalen verkennen nicht, dass Familie im weites-
ten Sinne der wichtigste Ort für Kinder ist, um soziale
Kompetenz zu erwerben. Ein staatlicher Kinderbetreu-
ungsplatz kann zwar eine große Hilfe sein, aber niemals
die Nähe individueller, ganz persönlicher Bezugspersonen
wie der Eltern ersetzen. Das unverzichtbare Engagement
des Einzelnen für Kinder kann nicht allein durch Gesetze
und staatliche Vorschriften verordnet werden.


(Christina Schenk [PDS]: Aber behindert werden!)


Der Staat muss Rahmenbedingungen setzen, die die
Chance erhöhen, dass Kinder in einem intakten sozialen
Umfeld aufwachsen. Deshalb sind die F.D.P.-Vorschläge
geeignet, junge Familien zu entlasten, ohne aber die Last
den Unternehmen oder dem Staat undifferenziert aufzuer-
legen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn, meine Damen und Herren von der PDS, die zusätz-
liche Belastung öffentlicher Kassen, wie Sie sie mit Ihren
Anträgen demagogisch fordern, ist doch letztlich, wenn
Sie ehrlich sind, eine Belastung für diejenigen, denen sie




Ekin Deligöz
9226


(C)



(D)



(A)



(B)


eigentlich zugute kommen soll: der jungen Generation.
Wir befinden uns in Deutschland längst in der großen Ge-
fahr, die Wohltaten von heute durch Hypotheken zulasten
kommender Generationen zu finanzieren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das macht gerade die Bundesregierung nicht!)


Kinderfreundliche Politik, Frau Schewe-Gerigk, be-
deutet aus unserer Sicht eben auch, den künftigen Gene-
rationen Perspektiven offen zu halten und neue zu eröff-
nen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau das macht die Bundesregierung!)


Deshalb wird die F.D.P. jede realistische Bemühung in
dieser Hinsicht unterstützen, aber jede populistische
Traumtänzerei ablehnen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409901800
Ich erteile der Kolle-
gin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409901900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der Uni-
on, das eine ist es, ein Papier zu schreiben und zu be-
schließen, in dem es um Lust auf Familie geht; das ande-
re ist es, tatsächlich eine Politik zu machen, die die Rah-
menbedingungen dafür schafft, dass die Lust auf Familie,
die junge Menschen zweifelsohne haben, anhält, sodass
der Kinderwunsch nicht immer diametral zur möglichen
Erwerbstätigkeit steht.

Dass Sie diese Vereinbarkeit nicht herstellen wollen,

(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: So ein Unsinn!)

sieht man daran, dass Sie bis heute keinen einzigen Ände-
rungsantrag zu diesem Gesetzentwurf, den Sie offensicht-
lich schlecht finden, eingebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Auch wenn Sie schreien, liebe Kollegen von der Union:
Ich weiß, dass Sie noch in einem Selbstfindungsprozess
sind. Herr Biedenkopf hat dies heute im Hinblick auf die
Renten festgestellt. Nötig ist dieser Prozess auch hinsicht-
lich Familien. Vielleicht brauchen Sie noch einige Zeit.

Wenn Sie das ernst nehmen, was Sie auf Ihren Partei-
tagen – auch auf den kleinen Parteitagen – beschließen,
dann versuchen Sie einmal, den Vorstellungen junger
Menschen von Familie entgegenzukommen und entspre-
chende Chancen zu schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie sprechen davon, mit diesem Gesetzentwurf solle ein
Zwang zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit geschaffen

werden. Ich verstehe nicht ganz, was damit gemeint ist.
Sollen wir etwa die innerhäusliche Erwerbsarbeit fördern?
Wahrscheinlich meinen Sie, dass Mütter nach der Geburt
ihres Kindes am besten zu Hause bleiben sollen, um sich
dort um den Nachwuchs zu kümmern.

Nein, meine Damen und Herren, 80 Prozent der jungen
Menschen und auch der jungen Familien sagen: Wir wol-
len beides; wir wollen Erwerbsarbeit und wir wollen Fa-
milienarbeitmiteinander teilen. Die jungen Mädchen sa-
gen: Ich möchte einen Beruf, ich möchte darin in meiner
Qualifikation tätig sein, ich möchte einen Mann haben,
möchte Kinder haben, aber der Mann muss sich die Er-
ziehungsarbeit mit mir teilen.


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Dann kommt das Entscheidende, was gesagt wird: Aber
wenn es so ist, dass ich, wenn ich Kinder habe, zunächst
einmal auf einen Start in meinem Beruf verzichten muss
und hier dauerhaft ausgeschlossen werde, dann entscheide
ich mich zuerst dafür, in meinen Beruf einen Fuß zu set-
zen und dort meine Frau zu stehen, und nicht für die Kin-
der. Ich glaube, wir sollten das ernst nehmen.

Ich finde, dass junge Menschen – genau wie sie das
wollen – das Recht haben müssen, Kinder zu gebären,
Kinder aufzuziehen, und ich appelliere an die Verantwor-
tung der Väter, hier mehr zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Frau Kollegin Diemers, es geht doch nicht darum, dass
wir, wie Sie sagen, den Vätern jetzt möglichst viel außer-
häusliche Erwerbsarbeit neben der Erziehungsarbeit auf-
halsen wollten. Ich wäre ja froh, wenn wir darüber schon
einmal reden könnten. 1,6 Prozent der Väter verzichten
bisher auf die volle Erwerbstätigkeit, um ihre Kinder zu er-
ziehen. Es geht doch gerade darum, diese Zahl zu erhöhen,
und da spricht doch keiner davon, Kollegin Lenke, dass
wir mit diesem Gesetz direkt 90 Prozent erreichen würden.

Wenn wir in ein oder zwei Jahren hier feststellen könn-
ten, 5, 6, 7, 8, 9, 10 oder 15 Prozent der Väter teilen sich
die Erwerbsarbeit und die Familienarbeit, dann würde ich
sagen: Uns ist wirklich etwas gelungen, und dieser Ge-
setzentwurf hat etwas auf den Weg dahin gebracht, was wir
in der Familie und was wir auch in der Erziehung wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb haben wir in dem Gesetz Möglichkeiten einge-
baut, die es Vätern erleichtern, sich an der Familienarbeit
zu beteiligen.

Ich persönlich bin eine große Anhängerin davon und
habe dafür auch immer gekämpft, dass wir den Erzie-
hungsurlaub vom ersten Tag der Geburt an ermöglichen,
und zwar aus einem bestimmten Grund. Wenn die Mutter
im Mutterschutz ist, das Kind geboren ist und der junge
Vater sagen kann: „Ich bleibe vier Wochen ganz zu Hau-
se, ich nehme Erziehungsurlaub oder ich gehe für zwei
Monate, in denen meine Frau noch zu Hause ist, auf hal-
be Stundenzahl“ – das kann er jetzt machen –, dann – so




Klaus Haupt

9227


(C)



(D)



(A)



(B)


sage ich Ihnen – ist diese Zeit, in denen der Vater gemein-
sam mit der Mutter die Erziehung und die Betreuung des
Kindes vornehmen kann, wichtig für das Wecken der Be-
reitschaft des Vaters zu sagen: Ich mache das, ich bleibe
einen Tag in der Woche zu Hause und kümmere mich ganz
um mein Kind. Wenn wir in zwei, drei Jahren – der erste
Bericht wird das zeigen – erreicht haben, dass es mehr Vä-
ter geworden sind, dann haben wir viel für unser Ziel ge-
tan; dann haben wir Chancen eröffnet. Wir geben den
Menschen darüber hinaus Chancen,


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Wo ist der Widerspruch zu uns?)


Frau Kollegin Diemers, indem wir sagen: Du musst nicht
ganz zu Hause bleiben, du musst nicht auf 19 Stunden oder
weniger heruntergehen. – Das ist doch so gewesen: Es lag
ja nicht nur an den jungen Vätern, sondern die finanzielle
Situation, dass die Frauen heute immer noch rund ein Drit-
tel weniger verdienen als die Männer, hat doch die Fami-
lien dazu gezwungen, dass die Frauen zu Hause blieben.
Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, dass jedes der bei-
den Elternteile bis zu 30 Stunden arbeiten kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen eines, Frau Kollegin Lenke: Vor zwei
Tagen kam ein Angestellter des Bundestages zu mir und
sagte: Ich finde es richtig toll, was Sie da machen. Meine
Frau und ich haben bereits ein Kind und wollen noch ein
Kind haben. Und durch die vorgesehene Erhöhung der
Einkommensgrenzen ist es möglich, dass ich einen Tag zu
Hause bleibe – ich gehe auf 30 Stunden –, und meine Frau
kann an diesem Tag ihre Weiterbildung machen, denn wir
wollen, dass sie irgendwann auch wieder ganz in den Be-
ruf kommt. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen, denn ohne
die Erhöhung der Einkommensgrenzen hätte ich das nicht
machen können.

Wenn uns das demnächst ganz viele sagen und überall
dort, wo wir sind, diese jungen Väter kommen, ja, was
glauben Sie, was sich dann für die Gesellschaft verändert
hat, und was glauben Sie, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, was sich eigentlich für die Erziehung eines Kin-
des geändert hat! Dieses Kind lernt, dass Partnerschaft in
der Ehe bedeutet, dass Vater und Mutter da sind, aber bei-
de auch eigenständige Wesen sind, die ihre eigene Exis-
tenz sichern können. Ich glaube, das prägt die Kinder bes-
ser als die Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren
machen mussten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie sprachen außerdem die Frage der Einkommens-
grenzen an. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass wir
weiß Gott die Einkommensgrenzen gerne auf 60 000 oder
70 000 DM angehoben und liebend gerne ein Erzie-
hungsgeld in Höhe von 1 000 oder 1 500 DM eingeführt
hätten; aber, wie es der Herr Kollege Haupt richtig gesagt
hat, die Frage ist, wie wir mit dem Geld, das dem Staat zur
Verfügung steht, umgehen und ob wir tatsächlich eine
nachhaltige Politik machen. Sie, Frau Kollegin Diemers,
sagen, sie hätten gerne Erhöhungen vorgenommen, aber
Finanzprobleme hätten sie gehindert. Sie haben dabei al-

lerdings vergessen zu sagen, dass Sie uns diese Finanz-
probleme vererbt haben, als wir die Mehrheit erhielten,


(Renate Diemers [CDU/CSU]: Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt hinterlassen!)


wir aber trotz dieser Finanzprobleme – 1,5 Billionen DM
Schulden, meine Damen und Herren von der ehemaligen
Koalition, und 90 Milliarden DM nur für Zinsen in diesem
Jahr – gehandelt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir diese Lasten abbauen, dann haben wir auch das
Geld dafür, um den Familien endlich all das zu geben, was
sie brauchen. Dann hätten wir sogar das Geld dafür, eine
kostenlose Kinderbetreuung in den Kindergärten anzubie-
ten.


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Was wollten Sie nicht alles machen!)


– Das wollen wir auch; das dauert nur noch eine Weile.
Wir haben die Einkommensgrenzen erhöht, 220 000 jun-

ge Eltern von derzeit etwa 690 000, die Erziehungsgeld
in Anspruch nehmen, werden mehr Geld erhalten. Das ist
entscheidend. Insbesondere haben wir trotz der geringen
Finanzspielräume festgelegt, dass die Einkommensgren-
zen in Familien mit zwei und mehr Kindern erhöht wer-
den.

Wir haben auch noch in einigen anderen Bereichen Un-
gerechtigkeiten beseitigt, die Sie nie beseitigt haben: Wir
haben endlich klargestellt, dass Erziehungsgeld auch dann
gezahlt wird, wenn die Eltern Arbeitslosengeld beziehen;
das haben Sie nie gemacht. Wir haben klargestellt, dass für
jedes behinderte Kind in einem Haushalt ein Pauschalbe-
trag angerechnet wird, sodass auch so die Einkommens-
grenzen erhöht werden; auch das haben Sie nie gemacht.
Sie haben die Familien mit mehreren behinderten Kindern
in dieser Hinsicht im Stich gelassen.

Sie können sehr gerne kritisieren, dass mit diesem Ge-
setz zu wenig auf den Weg gebracht wurde. Ich aber bin
stolz darauf, dass wir anderthalb Jahre nach Übernahme
der Regierungsverantwortung hier diesen Gesetzentwurf
beraten. Dieser wird sehr viel mehr für die Familien brin-
gen als die schönen Worte, die man in Ihren Anträgen fin-
det.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Renate Diemers [CDU/CSU])


Ich komme jetzt noch auf einen letzten Punkt zu spre-
chen, den auch die Kollegin Lenke angesprochen hat. Sie,
Frau Kollegin Lenke, haben bezweifelt, dass es keine
Schwierigkeiten mache, in Betrieben mit mehr als
15 Beschäftigten den Rechtsanspruch auf Teilzeitar-
beit umzusetzen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Willkürlich festgesetzte Grenze!)


– Da gibt es natürlich eine Grenze; wir gehen davon aus,
dass Betriebe ab 16 Beschäftigten dieses können, sofern




Ulla Schmidt (Aachen)

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(C)



(D)



(A)



(B)


nicht außergewöhnliche betriebliche Belange dem entge-
genstehen. Sie müssen sich schon anschauen, was da steht.

Warum haben wir diese Grenze festgesetzt? Wir glau-
ben, dass für einen Unternehmer in einem kleinen Betrieb,
in dem ein Beschäftigter Teilzeitarbeit beantragt – obwohl
auch in kleineren Betrieben sehr viele Teilzeit arbeiten –
damit zu viel Bürokratie verbunden ist, insbesondere wenn
nach einer Ablehnung ein Arbeitsgerichtsverfahren statt-
findet. Darauf haben wir Rücksicht genommen. Ab 16 Be-
schäftigten kann man Teilzeit einrichten oder eine Ableh-
nung entsprechend rechtfertigen. Ebenso wie hier habe ich
auch in allen Diskussionen mit Vertretern des BDI oder an-
deren gesagt: Die Industrie sieht heute, welche Fehler sie
in der betriebsnahen Ausbildung von Menschen in den In-
formations- und Kommunikationstechnologien gemacht
hat. Wenn sie jetzt nicht Rahmenbedingungen schafft und
wirklich darauf schaut, wie Beruf und Familie familien-
freundlich miteinander vereinbart werden können und wie
das hohe Qualifikationspotenzial der Frauen in der Bun-
desrepublik Deutschland von heute erhalten bleiben kann,
auch wenn sie über viele Jahre Teilzeit arbeiten, dann wür-
de sie den gleichen Fehler machen, den sie in den letzten
Jahren gemacht hat, indem sie sich immer mehr von der
Ausbildung verabschiedet hat. Heute beklagt sie aber, dass
wir einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften haben.

Ein wirklich guter Unternehmensgeist und eine ver-
nünftige unternehmerische Planung müssten vorwärts
weisend sein, indem sie Frauen und Männern ermögli-
chen, mehr Zeit für ihre Familien zu haben. Unsere Un-
ternehmenspolitik ist Gesellschaftspolitik. Deswegen be-
grüßen wir diesen Entwurf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409902000
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409902100
Ja.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1409902200
Frau Kollegin Schmidt, können Sie
mir die Grenze von 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
eines Betriebes sachlich begründen? Für mich ist sie will-
kürlich.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409902300
Man muss natürlich ei-
ne Grenze setzen. Darin liegt immer ein wenig Willkür. Ich
glaube nur, dass ein Betrieb mit 16 oder mehr Beschäftig-
ten dies leisten kann. Es gibt ja kaum Betriebe, die zwi-
schen 16 und 20 Beschäftigte haben. Eine größere Zahl
von Betrieben hat über 20 Beschäftigte. Schauen Sie sich
die entsprechenden Statistiken an!


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)


– Ich lebe mitten in Deutschland. Ich weiß, wie das Leben
hier ist.

Wir glauben, dass es Betrieben ab dieser Grenze besser
möglich ist, Teilzeitarbeitsplätze einzurichten, weil sie
über mehr Beschäftigte verfügen. Wenn jemand sagt, das
sei in seinem Betrieb nicht möglich, dann muss er das
schriftlich begründen, sodass der Arbeitnehmer oder die
Arbeitnehmerin eine Möglichkeit hat, dagegen vorzuge-
hen. Aber es gilt: Je größer ein Betrieb ist, desto besser
kann er die neuen Regelungen verkraften.

Ich hätte gerne die Grenze bei 10 Beschäftigten gesetzt.
Die Grenze von 15 Beschäftigten ist ein Kompromiss.
Aber trotzdem ist diese Grenze genauso willkürlich wie
die von 13 oder 17 Beschäftigten. Die Grenze hängt damit
zusammen, dass wir Kleinbetriebe ausnehmen wollen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409902400
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin
Lenke?


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409902500
Gerne.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1409902600
Frau Schmidt, Ihre Erklärung be-
friedigt mich sehr, weil ich nun kein Vorurteil mehr habe.
Ich habe jetzt vielmehr die Gewissheit, dass Sie glauben,
dass die Betriebe ab 15 Mitarbeitern dieses schaffen kön-
nen. Ich finde es aber traurig, dass Sie auf bestimmte Be-
triebe nicht abheben.


(Zurufe von der SPD: Fragen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409902700
Sie müssen eine Fra-
ge stellen.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1409902800
Ich frage Sie: Haben Sie mit Ihrer
Regelung auch die Betriebe ab 15 Mitarbeitern gemeint,
die überwiegend Frauen eingestellt haben, weil Frauen
qualifiziert und in ihrer Arbeit verlässlich sind? Diese Tat-
sache haben Sie meines Erachtens bei der Festlegung der
niedrigen Grenze, ab der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
besteht, nicht bedacht.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409902900
Frau Kollegin Lenke,
70 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten in Betrieben
mit mehr als 15 Beschäftigten. Es gibt darüber Statistiken,
in denen man die Zahlen nachlesen kann, was Ihr Kollege
einmal tun sollte. Rund 30 Prozent der beschäftigten Frau-
en arbeiten in Betrieben mit unter 10 Beschäftigten. In die-
sen Betrieben gibt es viel Teilzeitarbeit. Für sie wäre es
aber eine große Belastung, wenn dort der Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit bestehen würde. Ich glaube, dass in klei-
nen Betrieben sehr viel mehr durch das Miteinanderreden
zu erreichen ist.

Wenn wir feststellen, dass es für Mütter und Väter in
Betrieben unter 15 Beschäftigten ein großes Problem ist,
im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber eine Teilzeitarbeit
zu bekommen, dann müssen wir darüber reden. In diesem
Falle würde aber die Grenze nach unten und nicht nach
oben gesetzt.




Ulla Schmidt (Aachen)


9229


(C)



(D)



(A)



(B)


In größeren Betrieben kann diese Teilzeitregelung –
auch im Einvernehmen – besser durchgesetzt werden. Wir
werden in zwei oder drei Jahren einen Bericht über die
Wirksamkeit dieses Gesetzes vorlegen. Dann können wir
sehen, ob es wirkt oder ob wir etwas tun müssen. In die-
sem Punkt bin ich nicht bange; denn es gehört dazu, zu
Veränderungen bereit zu sein und auf Fehlentwicklungen
zu reagieren, wenn man etwas Neues macht. Es ist
zunächst einmal ein Riesenerfolg, dass wir den Rechtsan-
spruch auf Teilzeitarbeit in Betrieben ab 15 Beschäftigten
haben. Mir schwebt vor, dass wir wie die Niederländer, die
immer als Vorbild für unsere Wirtschaft dienen, den Teil-
zeitanspruch für alle Beschäftigten verankern. Das wäre
mir noch viel lieber.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409903000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der Herr Weiß mit der Mär von der Ökosteuer!)


Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf
einige Aspekte der Debatte aufnehmen. Ich möchte mit Ih-
nen, Frau Ministerin Bergmann, beginnen und gleichzei-
tig Frau Schewe-Gerigk ansprechen. Sie beide haben da-
von gesprochen, dieses Gesetz sei eine kleine Revolution.
Aber mit dieser Revolution hätten Sie noch keinen deut-
schen Bahnsteig gestürmt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Novelle zum Bundeserziehungsgeldgesetz ist doch
die Magerstufe einer familienpolitischen Reform, Reform
light. Ein seltenes Phänomen: wenig Licht, viel Schatten.

Wir haben ja das Positive an diesem Gesetzentwurf an-
erkannt:AnhebungderEinkommensgrenzen–abernursehr
bescheiden –, Flexibilisierung des Erziehungsurlaubs –
aber sehr in Maßen –, Anspruch auf Teilzeittätigkeit
während des Erziehungsurlaubs – okay. Aber sehr weit
reicht dieser Entwurf nicht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und dann noch die Ökosteuer!)


Wenn man Sie an all Ihren Verheißungen, Ankündi-
gungen und Ihrer Kritik von gestern an der Vorgängerre-
gierung misst, ist dieser Entwurf nur eine Maus, die der
Berg geboren hat, und trägt nicht sehr weit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Was wir übrigens – der Kollege Holetschek hat es be-

reits gesagt – einfach nicht akzeptieren, ist, dass die wirk-
lich bahnbrechenden familienpolitischen Leistungen,
von denen man sagen kann, dass sie in den 80er-Jahren re-
volutionär und neu waren, geleugnet werden: Einführung
des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs – wir sa-
gen lieber: Erziehungszeit; im Gegensatz zu Ihnen sind wir
bereit zu lernen –, Anrechnung der Kindererziehungszei-

ten in der Rente, Ausbau des Familienleistungsausgleichs.
Das war revolutionär!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dann kam die Zäsur. Frau Schmidt, Sie haben hier wie-

der von den 1,5 Billionen DM gesprochen, was ich nicht
mehr hören kann. Sie wissen doch, dass diese 1,5 Billio-
nen DM im Wesentlichen die Abbruchlasten des konkurs-
reifen Sozialismus in der DDR sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist schwierig für Sie – das war es auch für die Vor-
gängerregierung –, Familienpolitik zu gestalten. Das muss
man akzeptieren. Aber es gilt, eine neue Zäsur zu setzen.
Frau Lenke hat Recht: Ihr Gesetzentwurf ist kein großer
Wurf und keine große Zäsur.

Aber ich will mich noch mit etwas anderem auseinan-
der setzen. Man kann nicht über Haltungen und Wertur-
teile streiten. Werturteile stehen in der Zustimmungskon-
kurrenz der Bürgerinnen und Bürger. Man muss sie nur of-
fen legen und transparent machen. Ich bin Frau Wester
dankbar, dass sie als eine der wenigen gesagt hat, der Ge-
setzentwurf beinhalte einen Paradigmenwechsel. Im We-
sentlichen bewegen Sie sich in den Bahnen der Vorgän-
gerregierung. Es sind die Ecksteingesetze, die Sie jetzt
weiter gestalten. Aber es ist schon ein Paradigmenwech-
sel. Wenn Sie beispielsweise einen klaren Anreiz setzen,
indem Sie 900 DM Erziehungsgeld zahlen, wenn man es
nur ein Jahr in Anspruch nimmt


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Nicht den Erziehungsurlaub! Nur das Geld!)


– das sage ich ja –, führt das faktisch dazu, dass der An-
reiz, sich dem Kind längere Zeit zu widmen – was wir
wollten, weil wir meinen, das Kind braucht in den prä-
genden ersten Jahren besondere Zuwendung –, schwindet.
Sie rücken die Schiene des Erwerbslebens in den Vorder-
grund.

Wir denken die Reform anders als Sie. Wir denken sie
vom Kinde her.


(Lachen der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sagen, es ist für das Kind besser, wenn in seinen prä-
genden ersten Jahren ein Elternteil oder beide Partner für
die Erziehungsarbeit zur Verfügung stehen. Sie setzen die
Anreize fälschlich genau in die entgegengesetzte Rich-
tung. Das ist der Paradigmenwechsel, der in Ihrem Gesetz
spürbar wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt fehlt nur noch die Ökosteuer, Herr Weiß!)


Ein bisschen mehr Fantasie wäre doch wünschenswert.
Sie beklagen mit Recht – das hängt auch mit dem Zustand
der Einkommensverteilung und des Familienleistungs-
ausgleichs, wie er heute, im Status quo ist, zusammen –,
dass so wenig Väter Erziehungsurlaub nehmen. Hier einen




Ulla Schmidt (Aachen)

9230


(C)



(D)



(A)



(B)


Anreiz ins Gesetz einzubauen, indem wir sagen: „Die El-
tern, die die Erziehungsarbeit in der frühkindlichen Phase
partnerschaftlich miteinander leisten, sollen auch etwas
mehr Erziehungsurlaub haben“, wäre doch prüfenswert.
Wie wäre es denn mit einem Partnerschaftsbonus für die
Eltern, die diesen Erziehungsurlaub teilen? Das wäre ein
Anreiz für mehr Partnerschaft. Den vermisse ich in we-
sentlichen Passagen Ihres Gesetzes.

Wir halten es auch für ganz bedenklich, dass Sie die
Einkommensgrenzen für Alleinerziehende gegenüber
verheirateten Eltern überproportional erhöhen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 0,4 Prozent!)


Das ist eine Schlechterstellung, eine Benachteiligung ver-
heirateter Eltern, die wir nicht akzeptieren. Im Übrigen
glauben wir, dass diese Ungleichbehandlung sehr schnell
am Eisberg des Verfassungsrechts schrammen könnte.

Wir stehen auch der Bestimmung und der Wirkung die-
ses Gesetzes ganz kritisch gegenüber, dass die erhöhten
Einkommensgrenzen im Wesentlichen von den Erzie-
hungsgeldempfängern mit mittlerem Einkommen finan-
ziert werden. Was ist das für eine Revolution, wenn wir
Umverteilung zwischen Eltern machen? Das ist doch zu
kurz gesprungen, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vieles andere, was im Raum ist, was jetzt realisiert

werden müsste, kommt in Ihrem Entwurf nicht zum Tra-
gen. Der Kollege Holetschek hat es gesagt. Wie ist es mit
der Dynamisierung von Familienleistungen? Wie ist es –
ich habe das bereits ausgeführt – mit einem Anreiz im Sin-
ne eines Partnerschaftsbonus? Wie ist es mit der Förderung
wirklicher Partnerschaft zwischen den Eltern?

Hier will ich mit einem granitenen Vorurteil aufräumen,
das in mehreren Diskussionsbeiträgen rot-grüner Sprecher
genannt worden ist. Die Union ist dafür, die Rahmenbe-
dingungen so zu gestalten und so zu verbessern, dass die
Entscheidungsfreiheit der Eltern gefördert wird, ge-
stärkt wird. Wir wollen die wirklich faire Wahlchance,
wann, wie, wo und ob Familie und Beruf miteinander ver-
einbart werden sollen. Wir halten Ihnen vor, dass Sie in
Wahrheit diese Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit
nicht wollen.

Sie wollen die Entscheidung – siehe die verunglückte
Budgetregelung in Ihrem Gesetz – in eine ganz bestimm-
te Richtung lenken. Sie können sich nur vorstellen: außer-
häusliche Betreuung so bald als möglich, so lange wie
möglich und zurück ins Berufsleben so früh wie möglich.

Unser Vorschlag ist: Denken Sie die Reform vom Kind
her. Das Kind braucht Bezugspersonen,


(Zuruf von Frau Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Kind braucht den Vater!)


Nähe, Betreuung durch die Eltern. Die Anreize, die Sie set-
zen, sind alle falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Also keine Revolution, aber gewisse Elemente eines
Paradigmenwechsels weg von einer gewollten und zu
wünschenden Entscheidungsfreiheit, die zu stützen wir
uns durch Ausbau und Aufbau der richtigen Rahmenbe-
dingungen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Fa-
milienleistungsausgleich, zum Anliegen machen müssten.
So gesehen begegnen wir diesem Entwurf sehr kritisch.

Sie haben nach Anträgen gefragt. Wir werden unsere
Gegenvorstellungen im Gesetzgebungsverfahren zur Gel-
tung bringen.
Wir werden Alternativen sichtbar machen, auch die Wert-
urteile, auch die Wertentscheidungen, die alternative Vor-
stellungen tragen. Daran liegt uns sehr. Es geht um die un-
terschiedlichen Grundansätze, um die Grundeinstellung zu
Familie und Kindern und wirklicher Partnerschaft in der
Debatte zu verdeutlichen.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Gehen wir in diesem Sinne ans Werk! Viel, Frau

Bergmann – den Bergmannsgruß „Glück auf!“ mag man
bei diesem Gesetz gar nicht sagen –, liegt uns allerdings
als Grundlage nicht vor.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409903100
Zu einer
Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Christa Wolf
das Wort.


(Zurufe von der SPD und der PDS: Christa Luft!)


– Christa Luft.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1409903200
Das ist nicht das erste Mal,
dass ein solcher Lapsus passiert, Frau Präsidentin. Das ist
kein Problem.

Sehr geehrter Herr Kollege Weiß, Sie haben eben die
Debatte benutzt, um abermals eine These in die Welt zu
setzen, die von Ihrer Seite des Hauses häufig wiederholt
wird, nämlich dass die 1,5 Billionen DM Verschuldung der
Bundesrepublik Deutschland auf das so genannte kom-
munistische Erbe zurückgingen. Ich will Ihnen sagen:
Diese Aussage wird durch ständiges Wiederholen nicht
richtiger.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es gibt keinerlei Zweifel daran – meine Fraktion und mei-
ne Partei haben daran auch nie einen Zweifel gelassen –,
dass es eine international nicht wettbewerbsfähige Wirt-
schaft gegeben hat. Das wissend ist eine Währungsunion
in Gang gesetzt worden, die ohne Anpassungs-
fristen und ohne entsprechende Modalitäten diese Wirt-
schaft total in den Ruin geführt hat. Zu Beginn der deut-
schen Einheit war die alte Bundesrepublik Deutschland
schon mit 900 Milliarden DM verschuldet. Als die Deut-
sche Bahn privatisiert worden ist, hat es eine Übernahme
der Schulden gegeben. Das ist in den Bundeshaushalt als
Schuldposten übernommenworden.Bei der Privatisierung
von DDR-Unternehmen ist es nie geschehen, dass man




Gerald Weiß (Groß-Gerau)


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(C)



(D)



(A)



(B)


deren Schulden so komplett übernommen hat. Die Schul-
den der Treuhandanstalt haben am Ende 256 Milliarden
DM betragen. Sie wollen doch nicht behaupten, dass es
nicht möglich gewesen wäre, die Arbeit der Treuhandan-
stalt mit einem anderen Ergebnis zu beenden. Wenn es ei-
ne komplette Marktumverteilung gibt, dann ist es klar,
dass eine international nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft
nicht in eine Marktwirtschaft hineinwachsen kann. Wenn
man ein Potenzial von qualifizierten Menschen lieber ali-
mentiert, als es nutzbar zu machen – über diesen Punkt
werden wir noch im Rahmen des neuen Punktes auf der
Agenda zu sprechen haben –, dann ist völlig klar, was an
Verschuldung entstehen muss.

Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, dass Sie die
Öffentlichkeit nach wie vor bezüglich dessen irreführen,
was in die deutsche Einheit eingebracht worden ist. Wir
haben auch Potenziale eingebracht; wir haben nicht nur ein
Minus eingebracht. Das muss die Öffentlichkeit ausge-
hend von diesem Haus bitte zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der PDS)

Ein letzter Satz. Die Außenschulden der DDR haben zu

Beginn der Währungsunion – das ist keine Berechnung,
die die PDS angestellt hat; die Bundesbank hat sie ange-
stellt – 19 Milliarden DM betragen. Auch dieses möge die
Öffentlichkeit ausgehend von der heutigen Debatte bitte
zur Kenntnis nehmen. Alle Horrorszenarien sind in der Tat
fehl am Platze.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409903300
Herr Kollege
Weiß, bitte.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Frau Luft,
ich möchte mich eigentlich nur ungern mit Ihnen ausei-
nander setzen.


(Widerspruch bei der PDS)

– Erstens habe ich es nicht besonders gerne, mit der PDS
zu reden.


(Lachen bei der PDS und bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens stehen Sie für viele Irrtümer – Zahlenirrtümer
und Irrtümer in der Sache – in der DDR von gestern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie waren, glaube ich, die Dame, die den Sanierungsbedarf
der DDR-Wirtschaft einmal auf 3Milliarden DM beziffert
hat. Lasst Zahlen sprechen! Ich lasse Zahlen auch im Übri-
gen sprechen: Die Gesamtheit der DDR-Auslandsschul-
den, des Umstrukturierungsbedarfs, des Folgemittelbe-
darfs etwa auf dem Sektor der Angleichung der Sozial-
versicherungssysteme – alles zusammen wiegt
900 Milliarden DM. Da 900 Milliarden DM der größere
Teil von 1,5 Billionen DM sind, ist richtig, was ich sagte,
nämlich dass der größte Teil der Schuldenlast, mit der wir
es zu tun hatten und mit der es die heutige Regierung zu
tun hat, das Erbe der untergegangenen DDR darstellt.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409903400
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/3118, 14/2758 und 14/2759 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/3192 soll an dieselben
Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/3118 über-
wiesen werden. Einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/

CSU
Keine überstürzte und konzeptionslose Durch-
brechung des Anwerbestopps
– Drucksache 14/3012 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik
folgenabschätzung
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Guido Westerwelle, Dirk Niebel, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung
intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrüm-
peln
– Drucksache 14/3023 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Das ist auch
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.


Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1409903500
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung
hat angekündigt, den seit 1973 existierenden Anwerbe-
stopp aufzuheben


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut – Gerd Andres [SPD]: Falsch!)


und damit die seit mehr als 25 Jahren erste staatlicherseits
veranlasste Zuwanderungswelle zu organisieren. Die
CDU/CSU-Fraktion beantragt, diese unvorbereitete und
unkoordinierte Aktion der Bundesregierung abzulehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Auch das ist Blödsinn!)





Dr. Christa Luft
9232


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist etwas mehr als zwei Monate her, dass Minister
Riester hier im Deutschen Bundestag auf eine entspre-
chende Anfrage der CDU/CSU-Fraktion wörtlich mitge-
teilt hat:

Wie in den anderen Branchen muss auch im Bereich
der Datenverarbeitung das Problem der ausreichen-
den Gewinnung von Fachkräften durch Maßnahmen
am inländischen Markt gelöst werden. Die Zulassung
von Arbeitnehmern aus dem Ausland würde die Ur-
sachen des Mangels nicht beheben, sondern allenfalls
kurzfristig verdecken.

Ich bin einmal gespannt, wie Minister Riester heute hier
im Bundestag versucht, uns das Gegenteil zu erklären.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Es gibt Leute, die intelligenter werden!)


Meine Damen und Herren, ich bin ebenso gespannt, wie
sich der ehemalige stellvertretende Gewerkschaftsvorsit-
zende Riester zu den Äußerungen der Gewerkschaften in
Deutschland stellen wird, zum Beispiel zum Artikel des
Vorsitzendender IGMetall, dessenStellvertreter erwar,der
in der Zeitschrift „Metall“ gerade erklärt hat, die Green
Card sei eine rote Karte für die Arbeitslosen. Herr Zwickel
hat zwar selten Recht, aber an dieser Stelle hat er Recht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Rüttgers ist sich für nichts zu schade!)


Gleichauf der DGB-Vorsitzende Schulte: „Die Forde-
rung ist angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen nicht
nachvollziehbar“, oder der DAG-Vorsitzende Issen: „Man
kann nicht einfach die Schleusen öffnen.“ Jeder, der sich
mit Arbeitsmarktfragen beschäftigt, weiß, dass dies eine
falsche Lösung für die bestehenden Probleme ist und dass
es deshalb nicht richtig ist, die Probleme auf dem Arbeits-
markt dadurch lösen zu wollen, dass wir den Entwick-
lungsländern ihre neu ausgebildeten Eliten wegkaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Dummheit! – Susanne Kastner [SPD]: Quatsch!)


Einwanderung kann keine vernünftige Arbeitsmarkt-
politik ersetzen. Es hat niemand etwas dagegen, dass in
dem einen oder anderen Bereich Fachleute nach Deutsch-
land kommen. Das ist schon heute so. Das geht mit dem
bestehenden Instrumentarium. Aber jetzt eine staatliche
Einwanderungspolitik betreiben zu wollen – und das oh-
ne Konzept, ohne ausreichende Vorbereitung und vor al-
len Dingen ohne ein Gesetz, das heißt ohne Einbeziehung
des Deutschen Bundestages –, ist der falsche Weg. Des-
halb stelle ich fest: In dieser Frage wird vonseiten Rot-
Grün versucht, die Bevölkerung der Bundesrepublik sys-
tematisch zu täuschen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Susanne Kastner [SPD]: Nicht so markig!)


Wer sagt denn, dass es im Bereich der Computertech-
nologie wirklich 75 000 offene Stellen gibt? Jede Kolle-
gin und jeder Kollege, die oder den ich gebeten habe, ein-
mal zu Hause im Arbeitsamt nachzufragen, wie die Si-

tuation aussieht, kommt mit völlig anderen Zahlen. Das
Institut fürArbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB,
in Nürnberg sagt dazu wörtlich: Das sind allenfalls grobe
Schätzungen, die nur Sinn machen, um die immer wieder
auftretenden Engpässe plakativ in die Öffentlichkeit zu
tragen und Aktionen auszulösen.

Das ist es wahrscheinlich. Es geht nicht darum, die Pro-
bleme zu lösen, sondern darum, eine ganz bestimmte
öffentliche Kampagne zu fahren. Eines allerdings ist wahr:
Die Industrie hat in den letzten Jahren zu wenig ausgebil-
det und versucht jetzt, von ihren Versäumnissen abzulen-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers mit seinen Appellen – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war denn Minister? – Susanne Kastner [SPD]: Der Exzukunftsminister und seine Appelle!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie sich
einmal mit diesem Thema beschäftigen, dann werden Sie
schnell zu der Erkenntnis kommen, dass in diesem Jahr
47 000 Personen in Deutschland für diesen Bereich aus-
gebildet werden. Davon kommen 32 000 aus Weiterbil-
dungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, 6 000 aus
den Informatikstudiengängen unserer Universitäten, 2 000
aus den Berufsfachschulen, aber nur 7 000 aus der dualen
Ausbildung, also aus der Industrie.Da liegt das Problem,
nirgendwo anders – und da muss es auch gelöst werden,
nicht im Ausland.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Da wird behauptet, es gebe in Deutschland keine

Arbeitskräfte, die man auf diese freien Stellen, die es
unzweifelhaft gibt, vermitteln kann. Wahr ist aber, dass
es mehr als 30 000 arbeitslose Computerexperten in
Deutschland gibt. Wahr ist, dass es mehr als 50 000 ar-
beitslose Ingenieure gibt. Wahr ist, dass wir jedes Jahr
12 Milliarden DM für Umschulung und Weiterbildung
ausgeben. Aber anstatt sich jetzt darauf zu konzentrieren,
die freien Stellen mit diesen Leuten zu besetzen, wird ge-
sagt: Das geht nicht, wir brauchen Leute aus dem Ausland.

Wer aber einmal nachhakt, warum diese Leute nicht
eingestellt werden,


(Susanne Kastner [SPD]: Herr Rüttgers, warum sind Sie denn so aufgeregt?)


der kommt zu der Erkenntnis – ich beziehe mich auf den
Artikel aus der „Computerwoche“: Mit 40 auf dem Ab-
stellgleis! –, dass die entsprechenden Firmen sagen: Wir
stellen keinen über 35-Jährigen ein. Jetzt sind wir bei ei-
nem in diesem Zusammenhang ganz spannenden Punkt.
Es kann nicht sein, dass wir zu einer Gesellschaft werden,
die bereits 40-Jährigen mitteilt, sie seien zu alt, moderne
Berufe auszuüben. Dies ist nicht zu verantworten, und
allein deshalb brauchen wir in diesem Bereich eine ande-
re Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Da sitzt der Blüm mit seinem Vorruhestand! Ihr habt das gemacht! Keine Ahnung von nichts!)





Dr. Jürgen Rüttgers

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(C)



(D)



(A)



(B)


Da behaupten Sie, man müsse sofort Leute aus dem
Ausland holen, weil die Stellen jetzt zu besetzen seien, und
Ausbilden würde zu lange dauern. Nun weiß ich noch, was
ich als Minister in diesem Hause gesagt und was ich getan
habe. Ich weiß zum Beispiel, dass ich 34 neue Berufe ein-
geführt habe – davon manche in diesem Bereich –, in de-
nen sich zurzeit 35 000 junge Menschen in Ausbildung be-
finden,


(Beifall bei der CDU/CSU)

während Ihr Bundeskanzler damals in Hildesheim einen
ganzen Informatikstudiengang abgeschafft hat – mit der
Begründung, es gebe zu viele Informatiker in Deutsch-
land.


(Jörg Tauss [SPD]: Dummheit!)

Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich habe die Aktion „Schulen ans Netz“ ins Leben ge-
rufen. Damit haben wir in unseren Schulen überhaupt erst
den Einstieg in das Internetzeitalter geschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ach, du lieber Himmel, Herr Rüttgers! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Während Herr Clement jetzt in Nordrhein-Westfalen sagt,
er wolle für jede Klasse bis zum Jahre 2003 einen Inter-
netzugang, sagen Sie: Die Experten müssen sofort kom-
men.


(Jörg Tauss [SPD]: Verpennt haben Sie es!)

Das verstehe einmal jemand: Unsere Klassen haben bis
zum Jahr 2003 Zeit, aber die Experten aus dem Ausland
sollen sofort kommen. Das, was Sie hier verkaufen wol-
len, ist die falsche Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Sie lenken von Versäumnissen ab! – Zuruf von der SPD: So ein Populist! Wahlkampfredner!)


Beschäftigen wir uns doch einmal damit, wie die Wirk-
lichkeit aussieht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage es übrigens mit ein Stück Scham und mit Trauer:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In Bayern sind inzwischen 87 Prozent der Schulen mit
Computern ausgestattet, in Baden-Württemberg 100 Pro-
zent.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach was!)

In Nordrhein-Westfalen aber sind es leider nur 45 Prozent.
Das zeigt, wo das Problem liegt. Weil Rot-Grün die Zu-
kunft verschläft, kommen wir in der Sache nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409903600
Herr Kollege
Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?


Dr. Jürgen Rüttgers (CDU):
Rede ID: ID1409903700
Nein. – Ganz kon-
kret: An der Bergischen Universität – Gesamthoch-
schule Wuppertal kann der Studiengang „Angewandte
Informatik“ nicht eingeführt werden, weil die Genehmi-
gungen von der nordrhein-westfälischen Landesregierung
nicht vorgelegt werden. An der RWTH Aachen wird der
neue internationale Studiengang, zusammen mit den bel-
gischen und niederländischen Freunden, nicht eingerich-
tet, weil die entsprechenden Genehmigungen durch Rot-
Grün in Düsseldorf nicht vorliegen. An der Universität
Dortmund muss der Fachbereich Informatik eine Profes-
sur, 4,5 Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter und
2,5 Stellen für Nichtwissenschaftler abgeben. Das ist die
Realität, die Sie zu übertünchen versuchen, indem Sie Ex-
perten aus dem Ausland holen. Sie sollten eher nach dem
Motto verfahren: mehr Ausbildung statt Einwanderung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Völlig unverständlich ist, wenn die Fernuniversität

Hagen, die eigentlich das Paradestück ist, das wir in
Deutschland in dem Bereich haben, 50 Stellen im Rahmen
eines so genannten Qualitätssicherungspaktes abgeben
muss. Das zeigt, dass wir viel mehr Anstrengungen ma-
chen müssen, um unseren Kindern Möglichkeiten zu ge-
ben, in diesen modernen Berufen ausgebildet zu werden,


(Zuruf von der SPD: Dafür hatten Sie lange genug Zeit!)


und dass das der einzige Weg ist, die freien Stellen lang-
fristig und mittelfristig zu besetzen.


(Susanne Kastner [SPD]: Langsam, langsam! – Jörg Tauss [SPD]: Verheddern Sie sich nicht! Keine Panik, Herr Rüttgers!)


35 000 junge Leute sind zurzeit bereits in den damals
von mir durchgesetzten Berufen in Ausbildung. Die ersten
7 000 kommen in diesem Jahr aus der Ausbildung. Alles
das beweist, dass es falsch ist zu behaupten, die Stellen
könnten nicht besetzt werden. Sie können besetzt werden
mit Arbeitslosen im Bereich der Computerberufe. Sie
können besetzt werden mit neu ausgebildeten jungen Leu-
ten. Sie können besetzt werden mit Umschülern und Leu-
ten, die weitergebildet werden müssen. Daher gibt es eine
Chance, mit dem sicherlich vorhandenen Problem auch
kurz- und mittelfristig fertig zu werden.

Deshalb sage ich: Die Debatte wird nicht mehr enden.
Wir werden hier im Deutschen Bundestag über die Frage
der Regelung von Zuwanderung diskutieren müssen und
zu Lösungen kommen müssen, weil solche unkoordinier-
ten und unvorbereiteten Aktionen nicht nur verunsichern,
sondern den falschen Weg in die Zukunft zeigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dann will ich Ihnen ein weiteres Zitat aus der „Com-

puterwoche“ 13/2000 vorlesen. Da werden Meinungen,
unter anderem eines Sali S., aufgeführt.




Dr. Jürgen Rüttgers
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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich zitiere das einmal:

(Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie, was sie zu Ihnen gesagt hat, Her Rüttgers! Das ist viel interessanter!)

Obwohl ich als Inder selbst in Deutschland studiert
habe,

(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ist das der Inder, der Ihnen die Programme gemacht hat?)


muss ich doppelt so gut sein wie ein Deutscher, damit
ich die Hälfte von dem verdiene, was er verdient. Ich
kenne einige Inder, die für 1 200 DM im Monat ar-
beiten. Es geht nur um billige Arbeitskräfte. Keiner
kann mir etwas anderes weismachen.


(Jörg Tauss [SPD]: Quatsch!)

Meine Damen und Herren, wenn das der Hintergrund

ist, wenn jetzt mit Unterstützung von Rot-Grün Lohn-
dumping in Deutschland stattfinden soll,


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dann sind wir an einem Punkt angekommen, an dem eben
nicht Zukunft gestaltet wird, sondern an dem Menschen
schlicht in die falsche Richtung geführt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: So ein Schwachsinn! – Unruhe – Glocke der Präsidentin)


Dass Sie um das Ganze wissen, hat Herr Wiefelspütz
gerade in diesen Tagen deutlich gemacht. Er hat nämlich
gesagt – ich zitiere aus der „Rheinischen Post“ –:

Mit den Greencard-Plänen hat der Bundeskanzler ei-
ne Kettenreaktion ausgelöst, deren Folgen er kaum
bedacht hat. Er hat einen Dominostein umgeschmis-
sen und der klackert jetzt durchs Land.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der schmeißt Sie um!)


Ich sage Ihnen: Mit solchen Themen kann man nicht so
umgehen, wie es der Bundeskanzler bei der CeBIT ge-
macht hat. Vielmehr muss darüber diskutiert werden und
da müssen Regelungen gefunden werden. Die zukünftigen
Spielregeln müssen in einem vom Deutschen Bundestag
zu verabschiedenden Gesetz festgehalten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Was sind Sie so nervös? – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der erste Dominostein sind Sie am 14. Mai!)


Ich weiß, dass Sie die ganze Sache nervös macht;

(Lachen bei der SPD)


denn Sie wissen genau, dass die Menschen im Ruhrgebiet
und anderswo spüren, dass sie letztlich von Ihnen allein
gelassen werden mit ihren Ängsten vor Fusionen, vor dem
Verlust des Arb eitsplatzes und dem Verlust von Zukunft.


(Zuruf von der SPD: Hetzer!)

Ich stehe nicht an – da können Sie versuchen, so viel

Meinungsterror zu machen, wie Sie wollen –, diese Ängs-

te ernst zu nehmen und den Menschen zu sagen: Zukunft
geht auch menschlich. Es ist notwendig, solche Äußerun-
gen aufzunehmen; denn Modernisierung geht nur, wenn
man Menschen mitnimmt und nicht über sie hinwegre-
giert, wie Sie das zurzeit versuchen, meine sehr geehrten
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Es spricht ein Verlierer!)


Lassen Sie mich abschließend etwas sagen, was sehr
deutlich macht, dass es sich nicht nur um eine nicht koor-
dinierte und nicht vorbereitete Aktion handelt, sondern
wahrscheinlich sogar um eine Aktion wider besseres Wis-
sen.


(Zuruf von der SPD: Meinen Sie Ihre eigene?)

Ich zitiere einmal aus der „FAZ“ vom 17.August 1995.

Dort heißt es in dem Artikel „Fremde Federn“ wörtlich:
Morgen könnte es durch die Internets für Unterneh-
men lohnender sein, Ingenieurleistungen in Indien zu
kaufen und den deutschen Konkurrenten zum Ar-
beitsamt zu schicken.

(Jörg Tauss [SPD]: Was haben Sie für Konsequenzen daraus gezogen? – Gerd Andres [SPD]: Da waren Sie doch Minister! Waren Sie da Minister?)

Volkswirtschaftlich wäre das eine Katastrophe.

Weiter heißt es:
Die Arbeitswelt insgesamt und die Menschen in ihr
werden sich verändern. Sozialdemokraten müssen
sich hier einmischen und den Mut haben, die Ar-
beitswelt von morgen mitzugestalten. Sonst könnten
wir in eine entsinnlichte Welt hineinwachsen.

Dieser Artikel ist von Gerhard Schröder, 17. August
1995.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Da waren Sie Minister!)


Das zeigt: Der Mann ist nicht nur beliebig.

(Jörg Tauss [SPD]: Nein, Sie haben es verpennt!)

Er weiß nicht nur nicht, wovon er redet, sondern dieser
Mann tut etwas wider besseres Wissen. Green Card ist
eben ein Signal der Ohnmacht und nicht ein Signal des
Aufbruchs.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie haben es verpennt! Das ist das Problem!)


Rot-Grün weiß das. Deshalb lehnen wir dies ab.

(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war dünn! – Susanne Kastner [SPD]: Das war ein markiger Schlusssatz! – Jörg Tauss [SPD]: Pfui! Beschämend!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409903800
Zu einer Kurz-
intervention erhält jetzt der Kollege Tauss das Wort.




Dr. Jürgen Rüttgers

9235


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1409903900
Hätte Herr Rüttgers den Mut, in ei-
ner laufenden Debatte auf Fragen zu antworten, dann
könnte man sich Kurzinterventionen sparen.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Rüttgers, zunächst einmal: Sie werden Ih-

rer Verantwortung, mit dem, was Sie hier vortragen, nicht
gerecht. Laut Shell-Studie sind 25 Prozent der Jugendli-
chen in unserem Land ausländerfeindlich. Statt denen zu
sagen, was an Koordination und Kooperation mit intelli-
genten Köpfen in einer globalisierten Welt auf sie zu-
kommt, hetzen Sie Jugendliche auf.

Das größere Problem aber ist, dass Sie in vielen Berei-
chen die Unwahrheit verbreiten. So sagen Sie, die Schu-
len in Baden-Württemberg seien zu 100 Prozent am Netz.
Wissen Sie: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst ge-
fälscht hast! – Wenn in einer baden-württembergischen
Schule nur ein einziger Computer stand – das war die Po-
litik der CDU/F.D.P.-Regierung: einen PC an die Schulen
zu bringen –, dann hieß es, diese Schule sei am Netz. So
stellen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
uns die Ausstattung von Schulen mit Computern nicht vor,
lieber verehrter Kollege Rüttgers.


(Beifall bei der SPD)

Und zu der Behauptung, Sie hätten die Schulen ans

Netz gebracht: Gut, Sie hatten nie einen Computer. Sie
wissen nicht, was das Internet ist. Vom „Spiegel“ mussten
Sie sich vor dem PC Ihrer Mitarbeiterin fotografieren las-
sen. Deswegen mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf, dass
Sie von Computern nichts verstehen; das war schon, als
Sie noch Forschungsminister waren, offensichtlich. Nur,
Ihr Programm war, 10 000 Schulen ans Netz zu bringen.
Wir bringen im Moment 44 000 Schulen ans Netz


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und sorgen dafür, dass die Gebühren der Schulen dafür
sinken. In Ihrem Verantwortungsbereich waren die Ge-
bühren ein Hauptgrund dafür, dass die Schulen von Inter-
netnutzung wieder abgelassen haben – ohne dass Sie sich
um diese Probleme auch nur annähernd gekümmert hätten.
Das ist die Wahrheit und nicht das, was Sie mit Ihrer Aus-
länderhetze hier betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen ist nur ein Blinder gegen Inder.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nehmen Sie Valium, ist besser! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Brauche ich nicht! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Geht’s jetzt bitte weiter?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409904000
Darf ich Sie alle
bitte ermahnen, dass es zumindest so leise sein muss, dass

man den nächsten Redner hören kann. Das ist jetzt für die
Bundesregierung der Herr Bundesminister Walter Riester.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Lieber Herr Rüttgers, ich kann gut nach-
vollziehen, dass dem Wahlkämpfer die Nerven blank lie-
gen.


(Beifall bei der SPD)

Aber trotzdem: Der Deutsche Bundestag debattiert heu-

te über ein Zukunftsprogramm. Es geht um die Schaf-
fung zusätzlicher Arbeitsplätze in einer Zukunftsbranche,
Herr Rüttgers. Es geht mittelbar also auch um die Steige-
rung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die
Qualität der Arbeit in der Zukunft. Um dies zu erreichen,
hat die Bundesregierung beschlossen, die Grenzen des Ar-
beitsmarktes für einen begrenzten Personenkreis, nämlich
für 20 000 IT-Spitzenkräfte, für eine Beschäftigung von
bis zu fünf Jahren zu öffnen.

Dieser Beschluss entspricht dem politischen Willen der
Bundesregierung, die Entwicklung eines boomenden Be-
reiches – in Absprache mit den Fachbranchen – nicht zu
bremsen. Die Bundesregierung hat rasch reagiert. Wir
werden verhindern, dass der aktuelle Mangel an Spitzen-
kräften zum Engpass für die Schaffung von Arbeitsplät-
zen wird. Diese Engpässe werden wir beseitigen.

Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers Engpässe!)
Denn die Branche sagt ganz eindeutig – daran zweifeln

wenige –, dass jeder Experte in diesem Bereich, wenn er
denn tätig wird, die Schaffung weiterer vier bis fünf Ar-
beitsplätze auslöst. Darum geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Herr Rüttgers, ich komme gerne zurück auf
Ihren Hinweis, der Arbeitsmarkt werde jetzt erstmals
geöffnet. Herr Rüttgers, wo waren Sie denn, als die alte
Regierung unter Ihrer Mitwirkung mit zwölf osteuropäi-
schen Ländern Regierungsvereinbarungen über 54 000
Bauarbeiter, Stahlarbeiter und Landarbeiter getroffen hat?


(Jörg Tauss [SPD]: Spargelbauern!)

43 000 davon sind im Moment noch bei uns tätig. Ich wür-
de Ihnen gern sagen, wie viele davon in NRW sind. Das
war doch nicht im Interesse des Arbeitsmarktes. Ich weiß
auch nicht, ob es unmittelbar im Interesse Deutschlands
war. Ich kritisiere das nicht – um das deutlich zu machen –,
denn man kann das machen, um dem Arbeitsmarkt dieser
Länder zu helfen. Aber ich halte es für unmöglich, lieber
Herr Rüttgers, dass diese Vereinbarungen ohne Konditio-
nen gemacht worden sind. Die Schaffung nicht eines ein-
zigen Ausbildungsplatz hat man zum Inhalt der Vereinba-
rungen gemacht.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Wahrheit!)

Wir haben die Genehmigung für 20 000 Spitzenkräfte,

die zu zusätzlicher Beschäftigung führen werden, daran
gebunden, dass zusätzlich 20 000 Ausbildungsverhältnis-
se angeboten werden.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
9236


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Susanne Kastner [SPD]: Hören Sie genau zu, Herr Rüttgers! – Jörg Tauss [SPD]: Zukunftsgerichtete Politik!)


Meine Damen und Herren, das ist zusätzlich zu dem, was
wir in den letzten Monaten mit der Branche vereinbart ha-
ben, und zusätzlich zu dem Zuwachs an Ausbildungsplät-
zen, der sich dort wie nirgends sonst entwickelt.

Sie haben auch Unrecht, Herr Rüttgers, wenn Sie nur
auf das duale Ausbildungssystem abheben.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)

Nein, die Mängel – das wollen wir deutlich aufzeigen – lie-
gen natürlich auch in der Hochschul- und Fachhoch-
schulausbildung.Aber ich will hier gar nicht nachkarten.
Natürlich gibt es Defizite auf breiter Ebene, aber die kön-
nen Sie nicht nur der Industrie anlasten. Diese haben
andere mitzutragen. Aber heute darüber zu rechten, wo
überall die Fehler lagen – vor allen Dingen, wenn Sie das
tun – grenzt an eine Heuchelei, die kaum zu überbieten ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wenn das dann die Basis für eine inhaltliche Auseinan-
dersetzung in Wahlkampfzeiten ist und Sie in Nordrhein-
Westfalen die Ängste schüren, die Sie hier unters Volk
bringen, müssen Sie sich über Retourkutschen, die dann
von manchen Stammtischen kommen, nicht wundern.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

Bitte schlagen Sie sich dann nicht in die Büsche, sondern
stehen Sie zu dem, was Sie im Moment ankurbeln.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen gern sagen, wie viele im Moment in den
Branchen arbeitslos sind, für die es Regierungsabkom-
men gab, die Sie mitgetragen haben. Wir haben im Mo-
ment 148 000 Arbeitslose in der Land- und Forstwirt-
schaft. Wir haben 202 000Arbeitslose – übrigens viele da-
von in Nordrhein-Westfalen – in der Eisen und Stahl
schaffenden Industrie. Dort sind im Moment 7600 auf der
Basis der von Ihnen abgezeichneten Regierungsvereinba-
rungen aus Polen und anderen Ländern tätig. Ich kritisie-
re das nicht, ich stehe dazu. Aber ich mache keine so ver-
logene Politik, wie ich das im Moment aus Ihrem Wahl-
kampf höre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie mit den Verhetzungsparolen nicht aufhören,
werde ich die Arbeitslosenzahlen Nordrhein-Westfalens in
diesem Bereich für die einzelnen Arbeitsamtsbezirke
aussortieren und zur Verfügung stellen. Dann erklären Sie
Ihre Politik von vorgestern den Leuten von heute.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das ist aber schwierig!)


Aber hören Sie bitte mit diesen Kampagnen auf.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Womit haben Sie jetzt gedroht?)


Diese Kampagnen machen nicht nur die Zukunft kaputt,
sondern stoßen Leute in die Vergangenheit und hetzen sie
auf.

Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, die Nervosität
eines Wahlkämpfers,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Können Sie das noch einmal erklären?)


die heute überdeutlich zu hören war, zu korrigieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war einfach doof, was Sie gesagt haben!)


Wir stehen dazu, in begrenztem Umfang, klar ausge-
wiesen, Spitzenkräfte mitarbeiten zu lassen, um an zu-
sätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten das zu entfalten,
was wir dringend nötig haben.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409904100
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Schauerte?

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Aber gerne.


(Susanne Kastner [SPD]: Im Gegensatz zu Herrn Rüttgers!)



Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1409904200
Eine solche Debat-
te hat nur Sinn, wenn die, die Sie mit einer Maßnahme oder
einer Reaktion bedrohen, auch verstehen können, was Sie
meinen, was Ihre Alternative sein soll.


(Susanne Kastner [SPD]: Der Schlauberger hat nicht zugehört!)


Ich möchte Sie bitten, uns noch einmal zu erklären, was
Sie im konkreten Fall bei den einzelnen Arbeitsämtern in
Nordrhein-Westfalen tun wollen. Sie haben das etwas ver-
schlüsselt gesagt. Es ist eine wichtige Botschaft. Ich möch-
te hier gerne Klarheit haben. Sie haben gesagt, Sie wollen
die Arbeitslosen bei den einzelnen Arbeitsämtern sortieren
oder aussortieren. Das möchte ich noch einmal geklärt ha-
ben.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Das will ich Ihnen gern erklären. Als Erstes
möchte ich Ihnen aber erklären, was wir im Moment für
Arbeitslose machen und nicht nur versprechen. Die Bun-
desanstalt für Arbeit hat im letzten Jahr für diesen Bereich
1 Milliarde DM in Weiterbildungsmaßnahmen gesteckt.
Wir haben diesen Betrag in diesem Jahr um 200 Millio-
nen DM aufgebessert.


(Zurufe von der CDU/CSU: Was hat das mit der Aussortierung zu tun? – Das war nicht die Frage!)


– Ich komme gerne darauf zurück, wenn Sie mir jetzt ein-
mal zuhören wollen.




Bundesminister Walter Riester

9237


(C)



(D)



(A)



(B)



(Jörg Tauss [SPD]: Sie müssen für Herrn Schauerte erst einmal die Grundlagen legen!)


Ich sage nicht „aussortieren“,

(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Sie haben „aussortieren“ gesagt!)

sondern ich sortiere gern einmal in den Arbeitsamtsbezir-
ken, wie viele Arbeitslose wir in den Bereichen haben, für
die wir Regierungsabkommen haben und wo wir tatsäch-
lich Arbeitslose unterbekommen: Bau, Stahl, Landwirt-
schaft. Darüber können wir sprechen.

In Anbetracht Ihrer Hetzkampagnen sage ich Ihnen da-
zu eines: Ich stehe zu den alten Regierungsabkommen,
weil ich die Menschen nicht verunsicheren will, aber ich
wehre mich vehement gegen das, was im Moment in
Nordrhein-Westfalen abläuft, wo man Menschen verun-
sichert und Kampagnen macht, die menschenunwürdig
sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Schauerte, setzen!)


Nun können wir wieder zur Zukunftsdebatte überge-
hen, weil dieser Bereich eine, wenn nicht die Schlüsselin-
dustrie ist, die für die Entwicklung von Arbeitsplätzen und
Ausbildungsplätzen zentrale Bedeutung hat. Natürlich ist
es richtig, dass es in der Vergangenheit viele Versäumnis-
se gegeben hat: im Bereich der Hochschulausbildung, der
Fachhochschulausbildung, aber auch im Bereich des dua-
len Ausbildungssystems – leider nicht nur in diesem Be-
reich.

Aber daraus müssen wir doch lernen. Wir können es
nicht einfach verdrängen. Wir können uns auch nicht er-
lauben, nur über die Fehler der Vergangenheit zu reden,
was einer neuen Regierung ja ganz leicht fallen würde. Wir
müssen schauen, wohin die Entwicklung in Zukunft gehen
soll. Es gibt in keinem anderen Bereich – wir haben am
Mittwoch die Ausbildungsplatzbilanz des letzten Jahres
ausgewiesen – einen so starken Zuwachs. Im Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ist
bereits im letzten Jahr vereinbart worden, die vorhandenen
26 500 Ausbildungsverhältnisse im IT-Bereich auf
40 000 anzuheben. Ich sagte Ihnen bereits, dass wir eine
weitere Zusage von 20 000 zusätzlichen Ausbildungsplät-
zen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist sehr gute Politik!)


Das sind insgesamt 60 000 Ausbildungsplätze. Das hat
diese Regierung geschaffen. Deswegen ist dieser eigenar-
tige Slogan „Ausbildung statt Einwanderung“ – Sie haben
das einmal viel schlimmer formuliert – so etwas von hin-
terfotzig,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


so etwas von Verdrängen der Realität, dass es kaum zu
überbieten ist. Aber diese Debatten, lieber Herr Rüttgers,
werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, wir werden Ih-

nen auch nicht in die Vergangenheit folgen, sondern wir
werden weiterhin eine zukunftsgerichtete Politik für Aus-
bildungsplätze und Arbeitsplätze in diesem Land betrei-
ben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409904300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409904400
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist
vor allen Dingen deshalb bemerkenswert, weil sie eine
verkehrte Welt darstellt. Herr Riester vertritt – es erstaunt
mich, dass man das noch erleben darf – als Repräsentant
der Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit und Herr
Rüttgers befürchtet ein Lohndumping in Deutschland.


(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der SPD)


Dies, was hier gerade stattfindet, ist außerordentlich be-
eindruckend. Verkehrte Welt. Es ist im Grunde genommen
eine Diskussion, die nur noch unter Wahlkampfaspekten
zu erklären ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein, nein, Wahlkampf kann auch intelligent sein!)


Da bemühen sich zwei Politiker jeweils auf einem Feld
Kompetenz hinzuzugewinnen, auf welchem sie bislang
keine hatten. Unter dem Strich bleibt leider vor lauter
Wahlkampfpopulismus die Zukunftsdebatte auf der
Strecke.


(Zuruf von der SPD: Die erklärt uns jetzt Herr Westerwelle!)


Das ist ein großer Fehler in dieser Debatte.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)


Herr Kollege Tauss, Sie haben eine Ihrer unnachahmli-
chen Kurzinterventionen gemacht – mit unnachahmlich
meine ich nicht, dass wir sie nachahmen möchten –, in der
Sie darauf hingewiesen haben, Sie würden sich darum
bemühen, die Gebühren für den Internetzugang an den
Schulen zu senken. Dabei haben Sie möglicherweise et-
was vergessen: Die Tatsache, dass wir jetzt über Gebühren
im Zusammenhang mit dem Internet überhaupt reden kön-
nen, ist auf die Privatisierungspolitik der letzten
Legislaturperiode zurückzuführen, nicht auf die jetzigen
Initiativen an den Schulen.


(Beifall bei der F.D.P. – Jörg Tauss [SPD]: Das ist Unfug! Das ist falsch!)


Diese Debatte sollte aus unserer Sicht vor allen Dingen
Anlass dafür sein, dass wir uns über die zukünftige Mi-
grationspolitikGedanken machen. Meiner Meinung nach
liegt in dieser Debatte unter dem Strich eine ganz große
Chance. Diese Chance kann man ergreifen oder man kann
sie verpassen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wie der Rüttgers!)





Bundesminister Walter Riester
9238


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich glaube, es hilft uns überhaupt nichts, wenn die eine
Seite der anderen Seite ihre jeweiligen Versäumnisse aus
der Vergangenheit vorrechnet.


(Jörg Tauss [SPD]: Doch, Sie waren auch beteiligt!)


Sie werden die Arbeit der alten Bundesregierung anders
bewerten als wir. Sie werden auch die Vorgänge in Nie-
dersachsen anders bewerten, als wir es tun. Das hilft uns
nicht weiter.

Die Fragen, denen wir uns in einer globalisierten Welt,
in der es nicht nur um harte Standortfaktoren, sondern
auch um einen Wettbewerb der Bildungssysteme geht,
stellen müssen, lauten: Wie kann man die Talente des ei-
genen Landes motivieren und wie holt man die klügsten
Köpfe für die besten Chancen ins eigene Land? Das ist
mittlerweile internationaler Wettbewerb.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Darum geht es!)


Wenn uns das nicht gelingt, wird die deutsche Wirtschaft
auf der Strecke bleiben.

Das Gesamtbild ist bei der Union Gott sei Dank nicht
so einheitlich, wie es von Herrn Rüttgers gezeichnet wur-
de.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr! Es gibt dort auch intelligente Leute!)


Es gibt beispielsweise Äußerungen des sächsischem Wirt-
schaftsministers, die ich begrüße und ausdrücklich unter-
stütze. Er hat sich eindeutig von der Kampagne „Kinder
statt Inder“ abgesetzt. Er sagt, Rüttgers habe sich offen-
sichtlich verrannt. Ich glaube – Herr Kollege Rüttgers –,
dass das stimmt. Sie haben sich verrannt


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und sollten die Gelegenheit nutzen, im Interesse der Wett-
bewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze eine Korrektur
vorzunehmen. Es wäre gut, wenn Sie diese Debatte dazu
nutzten. Bei aller berechtigten Kritik an der rot-grünen
Bundesregierung – auch was deren verfehlte Politik an-
geht – appelliere ich an Sie: Nutzen Sie die heutige Gele-
genheit, Ihre Kampagne „Kinder statt Inder“ zu beenden!


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Es ist besser, dass ein indischer Computerspezialist nach
Deutschland kommt, als dass ein deutsches Unternehmen
nach Indien geht. Über diese Frage müssen wir in Deutsch-
land eine Auseinandersetzung führen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber nicht gerade Globalisierung!)

Ich möchte die neue Bundesvorsitzende der Union,

Frau Merkel, zitieren, die am 8. April dieses Jahres in
einem Interview auf die Frage, wie sie sich zu der ge-
planten Anwerbung von 20 000 Computerspezialisten

stelle, sagte: „Das werden wir nicht grundsätzlich ableh-
nen“. Diese differenzierte Haltung sollte auch die Haltung
dieses Hauses sein.

Es geht nicht darum, die Einwanderung nach Deutsch-
land auszuweiten, sondern es geht um eine systematische
Migrationspolitik in Deutschland. Die Einwanderung
muss endlich besser begrenzt und gesteuert sowie an ei-
genen, wohlverstandenen nationalen Interessen unseres
Landes ausgerichtet werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das tut jede moderne Industrienation. Wir scheuen bisher
davor zurück und das ist eindeutig ein Fehler.

Das Versäumnis liegt aus unserer Sicht, Herr Minister
Riester, in dem, was Sie bisher vorgelegt haben. Der Bun-
deskanzler reist zur Computermesse CeBIT,


(Jörg Tauss [SPD]: Das war gut!)

ist vorher von entsprechenden Wirtschaftsexperten aufge-
bracht worden und legt prompt seinen Green-Card-Vor-
schlag auf den Tisch.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein so einfach ist es auch wieder nicht!)


Leider ist es ein Konzept ohne System und Methode. Es
wird einfach eine Zahl genannt. Das, was die Bundesre-
gierung bisher vorgelegt hat, entspricht nicht den Ankün-
digungen des Kanzlers: Das Green-Card-Modell der
Bundesregierung ist nicht schnell, unbürokratisch und fle-
xibel, sondern umständlich, bürokratisch und kleinkariert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das ist das entscheidende Defizit, das von denen, die sich
in der Wirtschaft engagieren bzw. dort tätig sind, genau ge-
sehen wird. Es reicht nicht aus, wenn man alle drei Mona-
te eine neue Branche mit einem Mangel an Arbeitskräften
entdeckt und dann – diesmal was es auf der CeBIT; näch-
stes Mal geschieht es vielleicht auf der Grünen Woche –
irgendeine Zahl hinausposaunt. Wir brauchen syste-mati-
sche Regelungen, mit denen die Einwanderung nach
Deutschland gesteuert und berechenbar gemacht wird, da-
mit die Menschen in allen Ländern – vor allen Dingen
auch in unserem eigenen Land – wissen, woran sie sind.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass ich jemals

in die Situation kommen würde, die Lektüre des Wahl-
programms der SPD zu empfehlen.


(Jörg Tauss [SPD]: Gutes Programm!)

Auf Seite 44 des Bundestagswahlprogramms der Sozial-
demokraten heißt es:

Deshalb wollen wir eine wirksame gesetzliche Steue-
rung und Begrenzung der Zuwanderung. Sie muss die
Arbeitsmarktlage, die Leistungsfähigkeit der sozialen
Sicherungssysteme und humanitäre Gesichtspunkte
berücksichtigen.

Auch Herr Rüttgers spricht von der Notwendigkeit einer
Einwanderungsregelung. Lassen Sie uns doch endlich in
den Ausschüssen darüber beraten. Heute Nachmittag steht




Dr. Guido Westerwelle

9239


(C)



(D)



(A)



(B)


der Gesetzentwurf der F.D.P. auf der Tagesordnung. Sie
waren im Ausschuss nicht bereit, über die Details zu be-
raten. Ihre Antwort war Ablehnung, weil Sie, die Vertreter
beider Volksparteien, Angst vor einer qualifizierten Aus-
einandersetzung haben, die aber im Interesse unserer deut-
schen Arbeitsplätze mehr als notwendig wäre.


(Beifall bei der F.D.P. – Susanne Kastner [SPD]: Da liegen Sie völlig falsch!)


Die befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für
ausländische Spezialisten, die Sie, Herr Riester, vorge-
schlagen haben, ist doch keine Green Card. Die Amerika-
ner lachen sich über den Begriff „Green Card“ in diesem
Zusammenhang kringelig. Das ist doch keine intelligente
Anwerbung der klügsten Köpfe der Welt, damit sie in
Deutschland Arbeitsplätze schaffen. Das, was Sie mit Ih-
rer zeitlichen Befristung vorgelegt haben, ist in Wahrheit
nichts anderes als das Saisonarbeiterprinzip, hochgerech-
net auf drei Jahre. Nichts anderes haben Sie vorgelegt!


(Beifall bei der F.D.P. – Gerd Andres [SPD]: Fünf Jahre!)


Darin besteht das große Manko Ihrer Regelung. Es besteht
damit leider die Gefahr, dass die Chance der gegenwärti-
gen Debatte verpasst wird. Wir sollten diese Auseinander-
setzung dazu nutzen, eine Debatte über ein Einwande-
rungsgesetz zu führen, das steuert, begrenzt und die Zu-
wanderung auch an den eigenen Interessen, wie etwa an
bestimmten Notwendigkeiten in Mangelberufen, ausrich-
tet.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409904500
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409904600
Bitte, gerne.


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1409904700
Herr Kollege, ich hätte es mir auch
nicht vorstellen können, dass wir uns zumindest partiell
über den Unfug des Herrn Rüttgers einig sind. So verän-
dern sich die Einschätzungen, wenn sich die Koalitionen
verändern.

Sie haben nun behauptet, die vorgesehene Regelung
bringe nichts. Haben Sie zur Kenntnis genommen – viel-
leicht haben Sie in Ihrem Büro Ähnliches erlebt –, dass es
im Moment eine ganze Reihe junger hoch qualifizierter
Computerfachkräfte gibt, die zum Teil in Deutschland stu-
diert haben, die aber Deutschland nach ihrem Studium
verlassen sollen, obwohl sie selber sagen: „Wir würden
gerne für zwei oder drei Jahre in Deutschland bleiben, wir
würden dann auch gerne in unserer Heimat mit einem
deutschen Unternehmen kooperieren, oder wir würden
nach unserem Studium hier gerne ein Projekt realisieren.“?
Sind Sie nicht der Auffassung, dass genau solche Leute
uns auch weiterhelfen können und dass die Zahl derer, die
sich dafür interessieren, doch wesentlich größer ist, als Sie
behauptet haben?


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409904800
Nein. Sie gehen of-
fenbar von der Annahme aus, dass Hunderttausende von
hoch qualifizierten indischen Computerspezialisten auf

gepackten Koffern sitzen und nur darauf warten, nach
Deutschland auswandern zu können, um hier ihr Wissen
einzubringen.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein, ich rede von denen, die im Moment hier sind!)


Solche hoch qualifizierten ausländischen Computerspe-
zialisten haben nicht nur Chancen in Deutschland, sondern
beispielsweise auch im Silicon Valley in Kalifornien. Das
ist der Wettbewerb der Systeme. Wenn wir die wirklich in-
telligenten Computerspezialisten im Interesse der Wirt-
schaft und der Arbeitsplätze nach Deutschland holen wol-
len, dann müssen die Rahmenbedingungen für diese Spe-
zialisten auch stimmen. Diese Bedingungen stimmen
nicht, wenn Sie eine bürokratische, reglementierte und vor
allen Dingen befristete Regelung beschließen, wie das die
rot-grüne Koalition in diesem Hause jetzt vorhat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich will übrigens einen anderen Aspekt ausdrücklich

würdigen, nämlich die in der heutigen Diskussion ange-
sprochene Kopplung mit der Ausbildung in der Wirt-
schaft. Diese Kopplung ist sinnvoll. Wir als Freidemo-
kraten begrüßen ausdrücklich, dass es der Bildungsminis-
terin nach eigenen Angaben gelungen ist, mit der
Wirtschaft eine Kopplung zu vereinbaren, sodass diese
mehr Computerlehrlinge ausbildet. Von 25 000 ist die Re-
de. Das sollte über die Parteigrenzen hinweg ein Grund zur
Freude sein.


(Zuruf von der SPD: Genau!)

Nur, die Idee, das werde uns sofort helfen, stimmt eben

nicht. Bis aus einem zehnjährigen Computertalent ein 20-
jähriger Computerspezialist geworden ist, vergehen nun
einmal nach Adam Riese zehn Jahre, und bis dahin ist der
Zug aufgrund der schnellen Entwicklung im Bereich der
Computertechnologie abgefahren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen müssen wir jetzt schnell und kurzfristig, vor al-
lem systematischer als bisher handeln.

Herr Kollege Tauss, da Sie danach gefragt haben: Der
indische Finanzminister ist vor kurzem in Berlin gewesen.
Er hat darauf hingewiesen – das beantwortet Ihre Frage im
Grunde genommen –, dass seine Landsleute in den USA
oder in Kanada bessere Voraussetzungen finden. Wenn
heute zwischen 75 000 und 100 000 Arbeitsplätze in der
Branche der Informationstechnologie unbesetzt sind und
wenn jährlich nur 10 000 Absolventen unsere Universitä-
ten verlassen, dann ist das „Start-up-Unternehmen“, das
Existenzgründungsunternehmen in Nordrhein-Westfalen
längst vom Markt verschwunden, bis dieses Programm
greift. Wir müssen jetzt eilig handeln, gegensteuern und
die Zuwanderungspolitik auf eine verlässliche, berechen-
bare Grundlage stellen.

Wir Freidemokraten wollen nicht mehr Zuwanderung;
vielmehr wollen wir eine Begrenzung und eine bessere
Steuerung der vorhandenen Zuwanderung. Wir möchten,




Dr. Guido Westerwelle
9240


(C)



(D)



(A)



(B)


dass sich Zuwanderung an den Interessen unseres Lan-
des – auch an wirtschaftlichen – ausrichtet.


(Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht ausschließlich!)

Es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen: Wir lassen zu
viele von denjenigen nach Deutschland herein, die wir
nicht so gut gebrauchen können; aber wir lassen nicht die-
jenigen herein, die wir dringend brauchen, zum Beispiel
für den Bereich weltweit nachgefragter Computertechno-
logie.


(Beifall bei der F.D.P. Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber eine gefährliche Kante, die Sie da ha ben!)

Was wir fordern, beinhaltet keinen Widerspruch. Wer

behauptet, wir könnten nur den Weg der Ausbildung und
nicht gleichzeitig den der Anwerbung qualifizierter Ar-
beitnehmer gehen, macht einen Fehler. Es geht nicht um
eine Kampagne „Kinder statt Inder“. Diese Kampagne ist
genauso falsch wie Ihre Hire-and-fire-Politik auf dem Ge-
biet der Computertechnologie.


(Jörg Tauss [SPD]: Unsere Hire-and-fire-Politik. Wer will denn das Arbeitsrecht liberalisie ren, Herr Westerwelle?)

Es geht darum, dass wir endlich begreifen: Die deutschen
Arbeitsplätze haben nur dann eine Chance, wenn wir be-
reit sind, die klügsten Köpfe für unser Land zu gewinnen.
Dafür sind zwei Aufgaben zu erfüllen:

Die Aufgabe der Bildungspolitik ist, zu qualifizieren,
die eigenen Talente zu fördern. Die Bildungspolitik von
Bund und Ländern – Bildungspolitik ist nun einmal über-
wiegend Länderangelegenheit – muss besser werden.

Zugleich besteht die Herausforderung, möglichst viele
derjenigen Talente nach Deutschland zu holen, die wir in
Deutschland dringend brauchen.

VizepräsidentinDr.AntjeVollmer:HerrWesterwelle,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Dieter Wiefelspütz?


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409904900
Ja.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409905000
HerrKollegeWesterwelle,
sind Sie nicht der Meinung, dass wir dieses sehr wichtige
konkrete Projekt, das der Bundeskanzler angestoßen hat,
einfach einmal gemeinsam pragmatisch-praktisch und
unideologisch umsetzen und


(Jörg Tauss [SPD]: So ist es!)

dass wir damit Erfahrungen sammeln sollten? Sollten wir
nicht diesem ersten Schritt, der in der Tat für viele etwas
ganz Neues ist – ich finde das sehr positiv –, weitere
folgen lassen? Wäre das nicht besser, als jetzt eine sehr
grundsätzliche Debatte über die Einwanderungspolitik zu
führen? Damit ist die Gefahr verbunden, ein ganz
konkretes und praktisches Konzept wie die Green Card,
das Sie im Grunde für richtig halten, zu zerreden, Herr
Westerwelle.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Absicht von Rüttgers!)


Dr. Guido Westerwelle F.D.P.: Die Idee, ausländische
Intelligenz nach Deutschland zu holen, damit hier bei uns
Arbeitsplätze entstehen und die deutschen Firmen nicht
ins Ausland auswandern, ist richtig. Die Umsetzung, die
bislang von Ihrer Regierung vorgelegt worden ist, dient
aber nicht diesem Ziel, sondern wird das Gegenteil errei-
chen.


(Widerspruch bei der SPD)

Sie ist bürokratisch, sie ist unflexibel und sie ist nicht at-
traktiv genug. Wir bräuchten eine Attraktivität, die es bei-
spielsweise bei der zeitlichen Befristung nicht gibt.


(Zuruf von der SPD)

Da Sie dazwischenrufen, möchte ich Ihnen nur sagen:

Wir haben im Innenausschuss – reden Sie doch nicht so,
als gäbe es diese Debatten nicht – in zwei Sitzungen, glau-
be ich und auch in anderen Ausschüssen die Vorstellungen
der Bundesregierung gehört. Bei uns hat der Innenminister
selber gesessen. Ich will Ihnen doch gar nicht abstreiten,
dass die Idee, Intelligenz nach Deutschland zu holen, rich-
tig ist. Aber das, was Sie machen, ist bislang absolut un-
tauglich. Lassen Sie sich auf ein vernünftiges Konzept ein!
Dann reden wir parlamentarisch darüber. Das wissen Sie
doch. So haben wir uns doch auch in den Ausschüssen ein-
gelassen. Aber es reicht nicht, einfach so die Idee zu ha-
ben, Finger in den Wind,


(Zuruf von der SPD: Ach was!)

da gibt es eine entsprechende Messe, da wird ein Mangel
geortet, wo es doch im gesamten mittelständischen Be-
reich ebenfalls Fachkräftemangel gibt! Da verweigern Sie
jede Antwort. Das ist in meinen Augen ein falscher Weg.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-

legen, zum Schluss: Arbeitsplätze in Deutschland sichert
nicht, wer die Grenzen abschottet. Arbeitsplätze in
Deutschland sichert, wer die eigenen Talente fördert und
wer ausländischen Experten in Deutschland eine Chance
gibt. Aber das ist nur umsetzbar, wenn an anderer Stelle die
Zuwanderung begrenzt, gesteuert wird und wenn sie sich
an eigenen Interessen ausrichtet. Das ist im Grunde ge-
nommen die Aufgabe der Moderne. Das ist bei der Mi-
grationspolitik die eigentliche Antwort, die dieses Haus
geben muss. Wenn dieses Wahlkampfgewitter, wenn die-
ses gegenseitige Hin und Her nach der Wahl in Nordrhein-
Westfalen einmal ein Ende hat, begreifen wir hoffentlich,
es geht in Wahrheit nicht darum –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409905100
Herr
Kollege, – –


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409905200
Ich bin beim letzten
Satz, Frau Präsidentin!

Hoffentlich begreifen wir– –




Dr. Guido Westerwelle

9241


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zuruf von der SPD:Alleswohl, niemandweh – Westerwelle und F.D.P.!)


–EntschuldigenSie,HerrKollege, ichmuss Ihnensagen,– –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409905300
Nein, Herr Kol-
lege Westerwelle, bitte keine längere Debatte!


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409905400
Ich weiß, dass Ihnen
differenziertes Denken schwerer fällt,


(Widerspruch bei der SPD)

aber es muss erlaubt sein, in diesem Parlament auch ein
paar differenzierte Gedanken vorzutragen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das passt Ihnen nicht, aber es ist notwendig. Die Wahrheit
liegt hier nun einmal nicht bei schwarz und weiß, rechts
und links, gut und böse,


(Zuruf von der SPD: Aber auch nicht bei der F.D.P!)


sie liegt in einer differenzierten, vernünftigen Politik, die
systematischer als das ist, was Sie vorlegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409905500
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller.


(Jörg Tauss [SPD]: Stark nachgelassen, Herr Westerwelle! Es war gut am Anfang – Heiterkeit bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Ich bezweifle, dass Sie das beurteilen können!)


Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Rüttgers, mit Ihrer Rede heute vor diesem Haus haben Sie,
wie ich finde, leider eine gute Gelegenheit verpasst.


(Jörg Tauss [SPD]: Sich zu entschuldigen!)

Sie hätten nämlich die einmalige Gelegenheit gehabt, in
der Green-Card-Debatte zur Vernunft zurückzukehren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele seiner Kollegen!)


Stattdessen haben Sie erneut bewiesen, dass es Ihnen in
dieser Diskussion längst nicht mehr um eine ernsthafte po-
litische Auseinandersetzung geht. Sie wissen nämlich sehr
genau, dass Sie in Nordrhein-Westfalen nicht mehr die ge-
ringsten Chancen haben, die Landtagswahl zu gewinnen –
auch nicht mit dieser erbärmlichen Postkartenaktion. Ge-
ben Sie doch zu, dass das nur das letzte Aufgebot ist, das
Sie hier noch einmal in die Öffentlichkeit bringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Weil Sie wissen – das ist für mich in dieser Rede auch
noch einmal deutlich geworden –, dass Sie die Wahl nicht
mehr gewinnen können,


(Jörg Tauss [SPD]: Läuft er Amok!)

versuchen Sie jetzt wie Roland Koch in Hessen, aus frem-
denfeindlichen Stimmungen Stimmen für die CDU zu
machen. Das finde ich das Üble an der Kampagne, Herr
Rüttgers! Deshalb sollten Sie diese Kampagne schnells-
tens einstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich bin allerdings überzeugt, dass Ihnen das nicht ge-
lingen wird. Die Lage sieht anders aus. Nordrhein-West-
falen ist nicht Hessen und die Menschen verstehen mehr
und mehr, dass Ihre Sprüche nichts, aber auch gar nichts
zur Lösung der Probleme in unserem Land beitragen.
Denn laut Umfragen unterstützen 65 Prozent der Men-
schen in Nordrhein-Westfalen die Initiative der rot-grünen
Bundesregierung und Ihre Postkartenaktion wird von der
Mehrheit der Menschen abgelehnt. Deshalb, Herr Rüttgers
und meine Damen und Herren von der CDU, zur Sache!
Kommen Sie doch zur Sache!

In IhrerVerantwortung hat die Kohl-Regierung in ihren
letzten vier Jahren dieBildungsausgaben um fast eine hal-
beMilliardeDMzusammengestrichen. Sie,HerrRüttgers,
waren als so genannter Zukunftsminister im Kabinett Kohl
für die Berufsbildung zuständig – das haben Sie hier ja
auch noch einmal deutlich gemacht – und Sie – nicht nur
die Industrie! – haben damit die Lücke bei den Fachkräf-
ten in der IT-Branche maßgeblich mit zu verantworten.
Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, die Entwicklung in diesem
Bereich zu erkennen und die Weichen richtig zu stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Doch was haben Sie getan? Nichts.
Sie, Herr Rüttgers, haben ja hier mit dem Einstieg ins

Internet-Zeitalter ein wenig geprotzt. Von wegen!
Deutschland liegt bei der Anzahl der privaten Internetan-
schlüsse heute auf dem neunten Platz in Europa. Laut
OECD liegen wir auf Platz 29, bilden also das absolute
Schlusslicht bei den Investitionen in diesen Zukunftsbe-
reich. Das ist das Ergebnis Ihrer Arbeit. Das zeigt sehr ein-
drucksvoll: Sie haben während Ihrer Ministerzeit kläglich
versagt. Mit Ihrer unsäglichen Kampagne wollen Sie nur
von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben auch noch die gesamte Wirtschaft gegen die
CDU aufgebracht. Es gibt dazu unendlich viele Zitate.
Das eine oder andere möchte ich Ihnen nicht ersparen.
IBM-Chef Staudt sagte zum Beispiel:

Die Kampagne von Rüttgers ist platt und nicht ak-
zeptabel. Für unseren politischen Willensbildungs-
prozess ist die Diskussion in NRW eine Schande.

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist noch eine höfliche Formulierung!)





Dr. Guido Westerwelle
9242


(C)



(D)



(A)



(B)


BMW-Vorstand Teltschik schämt sich für Ihren Slogan.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist schon besser!)


Auf Ihr heuchlerisches Argument, wir dürften den Ent-
wicklungsländern nicht ihre Fachkräfte abwerben, hat Ih-
nen ja der Finanzminister Indiens die richtige Antwort ge-
geben. Er sagte nämlich am Montag in Berlin, sie hätten
50 Millionen, davon könnten sie einige ruhig abgeben;
Herr Rüttgers solle sich da mal keine Sorgen machen.
Recht hat der Mann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Regierung in Indien hat nämlich schon vor einigen
Jahren erkannt, dass hier Entwicklungschancen liegen,
und hat deshalb in diesen Bereich investiert, hat Ausbil-
dungs- und Arbeitsplätze geschaffen. Genau das haben
Sie versäumt.

Aber nicht nur die Wirtschaft ist gegen Sie, was Ihnen
ja egal ist, wie Sie immer wieder betonen,


(Jörg Tauss [SPD]: Das Geld brauchen sie schon! Das hat Herr Cartellieri ja angekündigt!)


sondern auch in Ihren eigenen Reihen steht kaum jemand
hinter Ihrer Aktion. Herr Cartellieri zum Beispiel – gera-
de mit 99 Prozent zum Schatzmeister der CDU gewählt –
ist für die Initiative der Bundesregierung und begrüßt sie
ausdrücklich. Kajo Schommer, sächsischer Wirtschafts-
minister und Vorsitzender der Wirtschaftsministerkonfe-
renz, meint, dass Sie sich da offensichtlich verrannt haben
und dass die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers
richtig ist. Man kann da nur sagen: Der Mann weiß als
Wirtschaftsminister offensichtlich, wovon er spricht.
Wenn wir nicht schnell handeln, wird die Entwicklung ei-
ner ganzen Zukunftsbranche weiter an Deutschland vor-
beigehen. Genau das will diese Bundesregierung mit der
Initiative verhindern.

So ähnlich sieht das auch der neue CDU-Generalse-
kretär, der Kollege Ruprecht Polenz – der heute gar nicht
erst gekommen ist –; er wird mit der Bemerkung zitiert:

Der Wahlkampfslogan „Rüttgers – der Mensch“ hört
sich angesichts der Rüttgers - Kampagne auf einmal
wie ein verständnisloses „Mensch, Rüttgers“ an.

Recht hat er, der Kollege Polenz. Herr Wissmann äußerte
in einem Interview auf die Frage, ob er Ihre Kampagne un-
terstützt, sehr klar, kurz und präzise:

Mir gefällt der erste Teil der Parole besser: mehr
ausbilden.

Frau Merkel hat jetzt – trotz Wahlkampf in NRW – auf
dem Parteitag einen Kurswechsel angekündigt. Sie sagte,
die CDU werde die Anwerbung von 20 000 Computer-
fachleuten nicht länger ablehnen.


(Zuruf von der SPD: Was sagt Herr Rüttgers dazu?)


Ich möchte Frau Merkel und Herrn Merz, die jetzt nicht
mehr da sind, fragen: Warum wird Herr Rüttgers dann

nicht zurückgepfiffen und dieser Antrag, mit dem wir uns
leider beschäftigen müssen, nicht zurückgezogen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers hat nichts zu sagen!)


Trotz der öffentlich verkündeten Einsicht müssen wir uns
nämlich mit diesem Pamphlet beschäftigen. Man muss
sich einmal das auf der Zunge zergehen lassen, was da
schon in der Überschrift steht:

Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbre-
chung des Anwerbestopps.

„Nichts überstürzen!“ ruft uns die CDU heute zu. Träumen
Sie eigentlich immer noch? Heute fehlen 70 000 IT-Fach-
kräfte. Wir wollen diesen Mangel beheben, Sie aber reden
davon, man solle nichts überstürzen. Das heißt, Sie wol-
len immer noch so weitermachen wie in den 16 Jahren Ih-
rer Regierung. Das ist eine tolle Botschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir jedenfalls werden den Kurs ändern. Wir investie-
ren pro Jahr 1 Milliarde DM zusätzlich in Bildung, Wis-
senschaft und Forschung. Wir erhöhen die Mittel der Bun-
desanstalt für Arbeit für Qualifizierungsmaßnahmen im
IT-Bereich nochmals um 200 Millionen DM auf 1,2 Mil-
liarden DM. Vor allem hat die rot-grüne Bundesregierung
mit der Wirtschaft die Schaffung von 60 000 zusätzlichen
Ausbildungsplätzen in der Informationsbranche bis 2003
vereinbart. Gleichzeitig wollen und müssen wir kurzfris-
tig mit der Green Card dafür sorgen, dass hoch qualifi-
zierte Menschen aus diesem Bereich ohne bürokratische
Hürden nach Deutschland kommen können, damit durch
sie die Entwicklung hier vorangebracht werden kann und
so neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen wer-
den.

Herr Westerwelle, wir brauchen dafür wirklich nicht die
klugen Ratschläge der F.D.P. Die F.D.P. hatte bis 1998 30
Jahre lang in der Regierung die Gelegenheit, all das, was
Sie uns vorgeschlagen haben, durchzusetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])


– Wir sind erst 18 Monate, also viel weniger als 30 Jahre,
an der Regierung. – Ich kann mich noch gut daran erin-
nern, dass Herr Möllemann seinerzeit als Bildungsmini-
ster mehr als einmal angekündigt hat, er werde zurücktre-
ten, wenn er nicht mehr Geld bekäme. Er hat fast nie mehr
Geld bekommen. Er ist stattdessen Wirtschaftsminister
geworden und musste dann zurücktreten, weil er private
offensichtlich nicht von dienstlichen Interessen unter-
scheiden konnte. So weit zur F.D.P.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Echt intelligent!)


Zurück zur CDU: Wenn es nach Ihnen ginge, würden
noch weitere Unternehmen ins Ausland abwandern. Aber
Unternehmen, die ins Ausland gehen, nehmen ihre Ar-
beitsplätze und auch ihre Ausbildungsplätze mit. Deshalb




Kerstin Müller (Köln)


9243


(C)



(D)



(A)



(B)


brauchen wir Ausbildung und Einwanderung. Wir brau-
chen eine Qualifizierungsoffensive und die Green Card.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409905600
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christa
Luft?

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, gerne.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409905700
Danke,FrauKolleginMüller. –
Sie geben mir doch in der Einschätzung sicher Recht, dass
die rot-grüne Regierung nicht gerade privatisierungsabsti-
nent ist. Ich will diesen Sachverhalt jetzt gar nicht bewer-
ten. Ich will aber fragen: Warum entschließt sich die Bun-
desregierung nicht dazu, eine ureigene Aufgabe der Wirt-
schaft, nämlich für die Ausbildung von jungen Menschen
zu sorgen, zu reprivatisieren? Ich begrüße es, dass es ein
Sonderprogramm für die Ausbildung junger Menschen
gibt. Aber dadurch wird die Wirtschaft von ihrer ureigenen
Aufgabe entpflichtet. Es gibt Kopfprämien für Unterneh-
men, die Lehrlinge ausbilden.

Jetzt gibt es die Aktivität bezüglich der Green Card.
Meine Frage ist: Wäre es nicht denkbar, dass wir endlich
eine Offensive starten, damit die Wirtschaft ihre ureigene
Aufgabe, nämlich junge Menschen auszubilden, wieder
übernimmt, dass wir also eine Reprivatisierung vorneh-
men? Könnten Sie sich vorstellen, dass jene Unternehmen,
die von der Einstellung ausländischer Spezialisten profi-
tieren werden – diese haben ja in ihren Heimatländern
Ausbildungskosten verursacht –, in einen gemeinsamen
Topf einzahlen, aus dem Ausbildung hier weiter gefördert
werden kann? Es ist ja eine Entlastung der Unternehmen,
wenn in ihnen Spezialisten arbeiten, die auf Kosten an-
derer Länder ausgebildet wurden.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Konzept der Bundesregierung ist, beides zu
tun. Wir haben das JUMP-Programm ins Leben gerufen.
Wir haben im Rahmen der D-21-Initiative vereinbart, dass
60 000 Ausbildungsplätze im IT-Bereich zusätzlich ge-
schaffen werden. Man braucht beides: bessere Rahmen-
bedingungen für mehr Ausbildungsplätze – die haben wir
als Gesetzgeber schon geschaffen – und natürlich die Ver-
pflichtung der Wirtschaft, in den Betrieben selber mehr
auszubilden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit den
Vereinbarungen, die sowohl bezüglich der Green Card
als auch bezüglich der Ausbildungsplätze auf freiwilliger
Basis mit den Arbeitgebern getroffen wurden, im Jahre
2003 sehr gute Ergebnisse vorweisen können. Meines Er-
achtens ist die Vorgehensweise der Bundesregierung rich-
tig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion möchte natürlich, dass die Green Card
ein attraktives Angebot ist, die den Menschen auch eine
längerfristige Perspektive nicht verschließt, die nicht auf

einem Hochschulabschluss für die Arbeitserlaubnis
besteht


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann können Sie ja unseren Antrag annehmen!)


und die es erlaubt, dass sich diese Menschen selbstständig
machen können. So können wieder neue Arbeitsplätze ge-
schaffen werden. Dafür werden wir uns einsetzen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann stimmen Sie zu!)

Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie werden

sehen: Rot-Grün wird gemeinsam dafür sorgen, dass ein
guter Entwurf vorgelegt wird, mit dem alle zufrieden sein
werden und dem auch Sie zustimmen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Und, Herr Rüttgers, Sie sollten endlich begreifen, dass
der Einwand Lohndumping wirklich absurd ist. Es geht
um hoch qualifizierte Fachkräfte, die wir brauchen und um
die wir werben müssen. Sie sind nicht auf Deutschland an-
gewiesen, weil sie überall auf der Welt Arbeit finden. Dass
Sie trotzdem von Lohndumping reden, zeigt mir, dass Sie
nichts, aber auch gar nichts verstanden haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Von Frau Merkel und Herrn Merz hört man seit Tagen
ein schallendes Jein zur Green Card. Auf der einen Seite
wollen Sie die Green Card, auf der anderen Seite stehen
Sie zu Herrn Rüttgers. – Ich finde, nicht nur in diesem
Punkt, sondern auch insgesamt ist der Kurs der so ge-
nannten neuen CDU nach wie vor völlig unklar.

Vielleicht darf ich Ihnen zum Schluss einen Ratschlag
aus der Bibel empfehlen. Nach Matthäus, Kapitel 5 Vers
37 – das sollte Ihnen als CDU ja genehm sein –, heißt es:
„Euer Ja sei ein Ja, Euer Nein ein Nein, alles andere
stammt vom Bösen.“ Wenn Ihre Ankündigungen ernst ge-
meint sind, dann ziehen Sie nicht nur Ihren Antrag zurück,
dann ziehen Sie auch Herrn Rüttgers aus dem Verkehr. Da-
mit würden Sie nicht nur Ihrer Partei, sondern auch unse-
rem Land einen guten Dienst erweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409905800
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.


Dr. Heidi Knake-Werner (PDS):
Rede ID: ID1409905900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich bis jetzt in die-
ser Debatte gehört habe, weist auf eine politisch höchst
spannende, aber gleichzeitig auch eine sehr brisante Ge-
mengelage hin. Da werden auf der einen Seite Beschäfti-
gungs- und Qualifizierungsprobleme mit Fragen der Ein-
wanderung und des Asylrechts vermischt und dabei über-
triebene Hoffnungen geweckt und auf der anderen Seite
genauso massiv Ängste geschürt.

Die von Bundeskanzler Schröder auf der CeBIT
medienwirksam präsentierte deutsche Green Card ist
weder ein superschneller Megachip noch ein indischer




Kerstin Müller (Köln)

9244


(C)



(D)



(A)



(B)


Killervirus, wie der Kollege Rüttgers den Wählerinnen
und Wählern in NRWeinreden möchte. Was Sie heute hier
in dieser Frage geboten haben, war wiederum dumpfe
Demagogie und entsprach durchaus Ihrer rechtspopulisti-
schen Kampagne.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der notwendigen öffentlichen Aufklärung in dieser Frage
haben Sie damit einen Bärendienst erwiesen.

Worum geht es also? Es geht nicht um die „überstürz-
te“ Aufhebung des Anwerbestopps, wie der Unionsantrag
behauptet. Es geht darum, für einen befristeten Zeitraum
in aller Welt Spitzenkräfte für die IT-Branche anzuwer-
ben; von etwa 20 000 ist die Rede. Im Prinzip ein norma-
ler Vorgang, schon heute möglich und vielfach praktiziert.
Warum also die Aufregung?

Ich will Ihnen gerne erklären, was uns an Ihrem Vorstoß
Sorge macht. Die jetzt losgetretene Debatte ist doch eine
Ohrfeige für die einheimischen Arbeitslosen, die deut-
schen und die ausländischen. Ihnen wird gesagt: Ihr seid
fürs Erste raus aus dem Geschäft, ihr seid nicht mehr qua-
lifizierbar – so Arbeitgeberpräsident Hundt – und in der
Regel, das ist das Entscheidende – zu alt. Das motiviert
nicht, das grenzt aus.


(Beifall bei der PDS)

Wir alle wissen doch, dass auf den Arbeitsämtern zwi-

schen Rostock und Konstanz mehr arbeitslose EDV-Fach-
leute herumsitzen, als jetzt angeworben werden sollen.
Das sind eben nicht nur Lochkartensortierer, sondern vie-
le von ihnen lassen sich sehr kurzfristig für den aktuellen
Bedarf fit machen.

Wie ist das überhaupt mit dem Bedarf? Da hört man in
der Tat jeden Tag neue Zahlen; jetzt sollen es schon
150 000 sein. Ich finde die Datenlage höchst unsolide und
deshalb auch die ganze Diskussion leichtfertig, und sie
greift zu kurz. Sie schafft alles andere als Vertrauen und
Verständnis in der Bevölkerung und sie trägt wenig dazu
bei, dass diejenigen, die schließlich als Arbeitskräfte und
Menschen zu uns kommen sollen, ohne Ressentiments
aufgenommen werden.


(Beifall bei der PDS)

Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Das eigentli-

che Problem an der Debatte – das hat sich auch schon ge-
zeigt – sind nicht nur die heute fehlenden Computerspe-
zialisten, sondern ist auch die seit langem überfällige
Qualifizierungsoffensive.Daranhat derKollegeRüttgers
seinen gehörigen Anteil. Es ist doch völlig zutreffend,
wenn die Fachleute kritisieren, dass die Green Card im
Prinzip nichts anderes ist als die rote Karte für das deut-
sche Bildungswesen und eine erschreckende Konzepti-
onslosigkeit in der Hochschul- und der Wissen-
schaftspolitik offenkundig macht.


(Beifall bei der PDS)

Aber – das muss genauso deutlich gesagt werden –: Die

Branche, die heute die Spezialistenlücke beklagt, hat sie
weitgehend selbst verursacht.


(Beifall bei der PDS)


Es kann ja sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich
die IT-Branche explosionsartig entwickelt. Doch es ist ein
Armutszeugnis für die dort tätigen Manager, wenn sie erst
jetzt – sozusagen als Gegenleistung für die Green Card –
neue Ausbildungsplätze und betriebliche Weiterbildungs-
kapazitäten bereitstellen.

Deshalb denke ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
geht hier im Kern um etwas ganz anderes. Gerade in den
IT-Branchen dominiert doch das Konzept der olympia-
reifen Beschäftigten, die ohne Rücksicht auf Arbeitszeit,
auf Gesundheit oder gar den Tarifvertrag für eine kurze
Zeitspanne ihres Arbeitslebens Spitzenleistungen erbrin-
gen, um im Alter von 40 Jahren oder noch jünger ausge-
mustert zu werden. Es geht hier einfach darum, dass nicht
nur Höchstqualifikationen gefragt sind, sondern auch jun-
ge, ledige, rund um die Uhr verfügbare und vor allen Din-
gen billige Arbeitskräfte.


(Beifall bei der PDS)

Da kann man es sich nicht so einfach machen, wenn man
hört, wie ausländische Spezialisten in der Bundesrepublik
bezahlt werden. Wir glauben eben nicht, dass die Green-
Card-Regelung die Ausnahme im Standortwettbewerb
wird, sondern – das sage ich ganz deutlich – wir fürchten,
dass daraus ein Türöffner für die Deregulierung der Ar-
beitsmärkte wird, und zwar weltweit.

So ist es denn auch kein Zufall, dass gleich die gene-
relle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert
wird. Ich verweise hier nur auf Äußerungen des Präsiden-
ten des Deutschen Handwerks oder auf den F.D.P.-Antrag.
Folgerichtig meldet sich natürlich eine Fülle anderer Bran-
chen, die im Standortpoker auch einen Vorteil mit Men-
schen erhaschen wollen, für die bei uns weder ein Ausbil-
dungsplatz noch ein Studienplatz bereitgestellt werden
musste.

Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich finde es erschreck-
end, mit welcher Selbstverständlichkeit davon ausgegan-
gen wird, dass unsere Wirtschaft, insbesondere die großen
Unternehmen, beim Einkaufen von Menschen die glei-
chen Freiheiten beansprucht wie beim Import von Bana-
nen und Mikrochips.


(Beifall bei der PDS)

Insbesondere die großen Unternehmer sparen Qualifizie-
rungskosten, kaufen die Menschen dort, wo sie am billigs-
ten sind, und werden sie wieder los, wenn sie den Schei-
telpunkt ihrer Leistungsfähigkeit überschritten haben. Ich
finde das einen ziemlich erbärmlichen Vorgang. Ich frage:
Welche Gegenleistung erbringt eigentlich die Wirtschaft?
Meine Kollegin Luft hat ja schon einen diesbezüglichen
Vorschlag gemacht. Ich finde es schon befremdlich, dass
es Ihnen offenbar gar nichts ausmacht, dass den ärmsten
Ländern die Fachleute weggekauft werden. Das ist ein
schlechter Beitrag zu einer vernünftigen Entwicklungspo-
litik.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich abschließend einen letzten Gedanken

sagen: Mit der Green Card ist auch die Einwanderungs-
debatte neu in Gang gekommen – wenn auch gegen den
Willen der Bundesregierung. Sie findet ja, dass gar kein




Dr. Heidi Knake-Werner

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(D)



(A)



(B)


Zusammenhang besteht. Wir sagen jedoch: Wer Arbeits-
kräfte holt, muss den Menschen in unserem Land Arbeits-
und Lebensrechte garantieren.


(Beifall bei der PDS)

Es kann doch nicht sein, dass die Nützlichkeitskriterien für
Einwanderung allein von der Wirtschaft diktiert werden.
Die PDS hat bei der Einwanderung einen anderen Gestal-
tungsanspruch. Wir wollen, dass der Mensch im Mittel-
punkt der Einwanderungspolitik steht und nicht Standort-
fragen und Profitinteressen.


(Beifall bei der PDS)

Eines – lassen Sie mich das zum Abschluss sagen –

wollen wir ganz sicher nicht – das schimmert insbesonde-
re durch die Diskussionen der CDU/CSU-Fraktion –: Wir
wollen nicht, dass mit der Forderung nach einem Einwan-
derungsgesetz das Asylrecht ausgehebelt wird.


(Beifall bei der PDS)

Menschen in Not müssen Schutz und Aufnahme finden –
immer. Sie sind nicht quotierbar. Den Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen sage ich: Wenn der
Preis für ein Einwanderungsgesetz die endgültige Ab-
schaffung des Grundrechts auf Asyl ist, dann ist der PDS
dieser Preis zu hoch.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Machen Sie sich da mal keine Gedanken!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409906000
Für den Bundes-
rat erhält nun der bayerische Staatsminister des Innern,
Günther Beckstein, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409906100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordne-
te! Ich bedanke mich zunächst für die so freundliche Be-
grüßung eines anderen Organs der Bundesrepublik
Deutschland.


(Heiterkeit – Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sind Sie ein Organ? – Zuruf von der SPD: Sie haben ein Organ, noch dazu ein lautes!)


Ich möchte gleich in die Sache einsteigen: Wir diskutieren
zwei Probleme, die zwar eng miteinander verbunden sind,
die aber durchaus unterschiedliche Aspekte haben: einer-
seits die kurzfristigen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und
andererseits die generelle Politik von Zuwanderung. Ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass insbesondere von-
seiten der SPD Krokodilstränen vergossen werden und
dass diese beiden generellen Fragen in einer unangemes-
senen Weise miteinander vermischt werden. Dazu gehört
dann natürlich auch noch die Frage von Asyl und Mis-
sbrauch von Asyl.

Diese Vermischung ist schon allein dadurch begründet,
dass der Bundeskanzler, als er das eine Problem ange-
sprochen hat, Begriffe des anderen Problems verwendet
hat. Um ein Mittel zur Lösung kurzfristiger Arbeits-
marktprobleme zu nennen, hat er von Green Card

gesprochen. Jeder weiß, dass Green Card die Frage gene-
reller Einwanderung betrifft.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Lex Green Card!)


Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Uns hat das nicht
sonderlich überrascht. Herr Kollege Stiegler wird Ihnen
erzählen, wie man es in Bayern nennt, wenn ein Problem
allgemein, nebulös, unpräzise angesprochen wird. Bei uns
in Bayern heißt das: Der „schrödert herum“.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Wenn einer keine Verantwortung übernimmt, sagen wir: Der „stoibert“ herum!)


So war es auch im konkreten Fall.
Das aktuelle Problem lautet natürlich: Wie gehen wir

damit um, dass wir eine Internationalisierung im Be-
reich derWissenschaft haben und brauchen? Wie gehen
wir mit Mängeln und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt
um? Die Unionsinnenminister haben sich vor einigen Ta-
gen getroffen und bestätigt, dass das natürlich ein Problem
sei. Wir waren aber übereinstimmend der Meinung, dass
sowohl der Begriff „Green Card“ als auch das, was als
große Aktion dahinter steht, der falsche Weg ist.

Natürlich brauchen wir eine Lösung des Problems des
Engpasses auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben bereits eine
Arbeitsaufenthalteverordnung, die in bestimmten Berei-
chen funktioniert und in anderen Bereichen viel zu kom-
pliziert ist. Zunächst möchte ich Ihnen sagen, wie wir bei-
spielsweise in Bayern versucht haben, das Problem, das
auch wir in den vergangen Jahren hatten, zu lösen. Wir ha-
ben gesagt: Wir brauchen eine Internationalisierung der
Universitäten. Wir brauchen mehr ausländische Studenten
an unseren Universitäten. Wir brauchen mehr Wissen-
schaftler, die nach Deutschland kommen. Wir brauchen
aber auch das Umgekehrte: dass mehr Professoren und
Studenten deutscher Universitäten ins Ausland gehen.

Wir haben ohne den Begriff „Green Card“ eine Lösung
gefunden, und zwar aufgrund des geltenden Rechts: Wenn
uns die Universitäten sagen, sie bräuchten jemanden,
dann – jetzt horchen Sie gut zu; dazu braucht man keine
monatelangen Diskussionen mit völlig falschen Vorstel-
lungen, denn Folgendes kann bereits heute gemacht wer-
den – wendet sich die Universität an das Ausländeramt und
sagt, dass sie eine bestimmte Person brauche. Das
Ausländeramt hat dann eine Woche Zeit, etwaige Beden-
ken zu äußern. Wenn diese Möglichkeit nicht innerhalb der
genannten Frist wahrgenommen wird, gilt die Zusage der
Aufenthaltserlaubnis als erteilt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Übrigens war das eine Idee, die wir damals mit Herrn
Rüttgers durchgesetzt haben.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das muss ja einmal gesagt werden!)


Im Bereich der Arbeitsaufenthalteverordnung haben
wir eine Überbürokratisierung, die eine monatelange




Dr. Heidi Knake-Werner
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(C)



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(A)



(B)


Suche auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt und die
völlig untauglich ist.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wer hat die denn erlassen?)


Deswegen haben wir als Unionsinnenminister einheitlich
gesagt – Herr Kollege Bosbach war bei diesen Beratun-
gen dabei –: Im Hinblick auf kurzfristige Engpässe auf
dem Arbeitsmarkt brauchen wir eine praktikablere und
unbürokratischere Lösung als die der bestehenden Ar-
beitsaufenthalteverordnung. Dann können wir die anste-
henden Probleme lösen. Dazu müssen aber noch einige
Punkte, die von Herrn Rüttgers angesprochen worden
sind, geklärt werden, nämlich dass der Bedarf an Fach-
leuten ermittelt und vorgelegt werden muss, dass es sich
um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt und dass dieje-
nigen, die dann kommen, dieselben tariflichen Konditio-
nen bekommen und nicht als Billiglohnkräfte aus dem
Ausland betrachtet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist doch völlig blauäugig zu glauben, dass das allein aus
Menschenfreundlichkeit verlangt wird. Das Problem
Hochlohnland hat doch eine massive Bedeutung.

Nach unserer Überzeugung muss ferner überlegt wer-
den, wie eine Einwanderung über die Green Card mit der
Erweiterung der Europäischen Union vereinbar ist. Ich
halte es für völlig unverständlich, dass darüber nicht ernst-
haft diskutiert wird. Die Erweiterung der Europäischen
Union wird den europäischen Arbeitsmarkt von bisher
300Millionen auf 500Millionen Menschen ansteigen las-
sen. Die Osterweiterung wird nicht in 10, 20 oder 30 Jah-
ren erfolgen, sondern 2002, 2003 oder 2005. Man kommt
nicht auf die Idee, solche Fragen im Zusammenhang mit
der vor der Türe stehenden Osterweiterung zu lösen und
damit im Vorgriff auf die Osterweiterung Flexibilisierun-
gen zu ermöglichen, die wir brauchen, um die Übergangs-
probleme, die gerade auf dem Arbeitsmarkt der neu in die
EU kommenden Länder entstehen werden, abmildern zu
können. Das sind Dinge, die wir auf jeden Fall ansprechen
müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist mit der Diskussion über den irreführenden Be-

griff Green Card überhaupt nicht in vernünftiger Weise an-
gegangen worden, ganz abgesehen davon, dass wir im
Rahmen der bisherigen Verfahrensweise sehr viel besser
mit der Frage, ob ein Familiennachzug erfolgen soll oder
nicht, umgehen können.

Hier geht es um die kurzfristige Lösung eines Pro-
blems. Ich stelle dazu fest: Ich halte es für richtig, dass
Herr Rüttgers dieses Problem – natürlich in zugespitzter
Art und Weise – angesprochen hat, um damit deutlich zu
machen: Wir können die Scheinheiligkeit der „Herum-
schröderei“ nicht ertragen,


(Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Herr Stoiber dazu? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


die Einbürgerung über die Green Card als kurzfristige
Übergangslösung von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt
darzustellen.


(Zuruf von der SPD: Verleumdung!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409906200
Gestatten Sie ei-
ne Zwischenfrage? – Bitte schön.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409906300
Herr Beckstein, vielleicht können
Sie sich einmal festlegen: Wer hat denn nun Recht, Herr
Rüttgers oder Richard von Weizsäcker, der dessen Verhal-
ten und Aktion als „Haider-würdig“ bezeichnet hat? Legen
Sie sich bitte einmal fest!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409906400
Ich
halte es für völlig unsinnig, Herrn Rüttgers in die Nähe von
Herrn Haider zu stellen. Dazu kann ich nur sagen: Jeder
aus der SPD, der die Mitverantwortung dafür trägt, ein
ganzes Volk wie das der Österreicher unter Quarantäne zu
stellen, hat sich an dem Ziel der Europäischen Union ver-
sündigt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen und Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten einmal mit dem ehemaligen österreichischen
Innenminister Schlögl von der SPÖ sprechen, was er von
der Aktion, die von Herrn Schröder im Rahmen der EU an-
gerichtet worden ist, hält, angesichts dessen, dass in Öster-
reich nach dem Willen der damaligen Großen Koalition
die Erweiterung der EU durch Volksabstimmung geklärt
werden muss. Und da führen Sie eine solche Maßnahme
durch! Ich bin in Deutschland bekannt dafür, dass ich die
Auseinandersetzung mit den Republikanern härter ange-
gangen bin als jeder andere.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Herrn Rüttgers in die Nähe von Herrn Haider zu stellen
halte ich für unanständig und das sollten Sie sich in Ihr
Stammbuch schreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt komme ich zu dem generellen Problem, das Herr

Schröder – ob aus Unwissenheit, „Herumschröderei“ oder
auch ganz bewusst – mit dem Begriff Green Card aus-
gelöst hat. Dieses Problem beinhaltet die folgende Frage:
Wie gehen wir in einer Welt der Globalisierung der Wirt-
schaft und angesichts der demographischen Entwicklung
der nächsten Jahre generell mit der Frage der Einwande-
rung um?

Herr Westerwelle – das ist in der Tat richtig –, diese
Frage haben Sie bereits in der letzten Legislaturperiode im
Rahmen eines von Ihnen geforderten Einwanderungsge-
setzes angesprochen. Ich habe mich immer dagegen
gewendet. Ich teile zwar Ihr Anliegen – Sie haben das heu-
te wiederholt –, dass Sie nicht mehr Zuwanderung, son-
dern eine andere wollen. Aber Sie haben nicht angespro-
chen, dass dafür bestimmte Instrumente unabdingbar sind.
Denn man kann Einwanderung, die dem Umfang nach




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)


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(B)


gleich bleibt, nur dann verändern, wenn man das rechtli-
che Instrumentarium massiv verändert.

Da ist als Erstes zu nennen: Heute gibt es natürlich ei-
ne massive Armutszuwanderung. Ich spreche ganz be-
wusst nicht, wie andere, von Wirtschaftsflüchtlingen, son-
dern von Armutsflüchtlingen; denn diese Menschen sind
von anderen Kontinenten, aus anderen Ländern, wo sie in
bitterer Armut gelebt haben, nach Deutschland gekom-
men, weil sie dem Ruf des Asyls gefolgt sind – in der über-
wiegenden Zahl der Fälle allerdings unter Zuhilfenahme
von kriminellen Schleuserbanden –, und wollen sich hier
ein Stück des Wohlstandes sichern. Dies muss einge-
schränkt werden und das geht nicht nur durch schöne Wor-
te, sondern hier muss eine Veränderung des heute gelten-
den Grundrechts auf Asyl vorgenommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409906500
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wester-
welle?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409906600
Ja.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1409906700
Herr Minister, sind
wir uns darüber einig, dass, wenn ein Recht wie das Asyl-
recht missbraucht wird – wer wollte das bestreiten? –, dies
dafür spricht, den Missbrauch zu bekämpfen, und nicht
dafür, das Recht abzuschaffen?


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Stimmen wir auch darin überein, dass – wenn
man ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz machen will,
über das wir in der letzten Legislaturperiode mehrfach
verhandelt haben – nicht schon dadurch eine die Zuwande-
rung begrenzende Wirkung erzielt wird, dass sich das
Recht auf Zuwanderung und der Asylantrag gegenseitig
ausschließen? Ist es also nicht geradezu ein Anreiz für die-
jenigen, die den Weg über das Asyl gehen könnten, obwohl
er für sie gar nicht gedacht ist, diesen Weg nicht in An-
spruch zu nehmen, weil sie wissen, dass sie sich die Zu-
wanderungschance ein für alle Mal nehmen, wenn sie ei-
nen Asylantrag stellen?


(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409906800

Herr Kollege Westerwelle, der zweite Gedanke ist gut ge-
meint. Jeder weiß aber, dass, wenn man sagt, jemand ha-
be etwas gut gemeint, dies nicht immer ein Lob ist. Es ist
gut gemeint, aber grundfalsch, zu glauben, dass Millionen
von Menschen, die gerne nach Deutschland kämen – un-
ter Zuhilfenahme des Asyls und sonstiger Wege, zum Bei-
spiel durch Schleuserbanden –, diese Chance nicht nutzen
würden, weil andere, nämlich hochspezialisierte Wissen-
schaftler, die wir auf dem Arbeitsmarkt benötigen, die
Möglichkeit der Zuwanderung erhalten. Das ist doch eine
Illusion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der frühere türkische Innenminister Mentese hat mir
gesagt: Als die Anwerbelisten der Türkei bezüglich der
Einwanderung geschlossen worden sind, waren 6 Millio-
nen Menschen registriert. Ich bin nächste Woche beim tür-
kischen Innenminister und werde mir erlauben, ihn zu fra-
gen, wie seine Einschätzung ist. Der türkische Botschaf-
ter jedenfalls hat mir auf meine Frage gesagt: Das sind
soziologisch völlig unterschiedliche Gruppierungen.

Im Übrigen ist es nicht miteinander kompatibel, auf der
einen Seite hochspezialisierte Wissenschaftler aus eige-
nem Interesse ins Land zu holen und auf der anderen Sei-
te die Armutswanderung unterbinden zu wollen. Deshalb
darf dies meines Erachtens nicht geschehen.

Zu Ihrer zweiten Frage: Natürlich haben Sie Recht,
wenn Sie sagen, man dürfe nicht das Recht insgesamt ab-
schaffen. Ich hebe hervor, dass derjenige, der wie ich dafür
eintritt, unser Grundrecht auf Asyl, Art. 16 a des
Grundgesetzes, in eine institutionelle Garantie umzuwan-
deln, keine Ermessens-, Billigkeits- oder Gnadenregelun-
gen will. Ich halte es aber nicht für richtig, dass wir als ein-
ziges Land der Welt, als einziges Land der EU glauben, mit
Art. 16 a unseres Grundgesetzes allen Menschen dieser Er-
de ein Grundrecht zur Verfügung stellen zu müssen,
während alle anderen Länder sagen: Wir kommen dem
Schutz durch die Genfer Konvention in einer anderen Wei-
se nach.

Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich habe an den Ver-
handlungen, die 1993 zur Änderung des Grundrechts auf
Asyl geführt haben, teilgenommen. Eine vernünftige, we-
sentlich weiter gehende Reduzierung des Grundrechts auf
Asyl werden Sie nicht erreichen. Wir müssen auf ein an-
deres Verfahren übergehen, um den wirklich Verfolgten
möglichst in wenigen Wochen, spätestens aber in drei bis
vier Monaten Asyl zu gewähren. Wir dürfen denen, die
keinen Anspruch auf Asyl haben, nicht die Chance
geben, durch Inanspruchnahme eines weltweit einmaligen
Rechtswegs über drei oder vier Instanzen und unter Nut-
zung anderer Wege, zum Beispiel der Petitionsausschüsse
der Länder und des Bundes, ihren Aufenthalt
zulasten der Allgemeinheit auf drei, fünf oder acht Jahre
auszudehnen, um dann anschließend über Altfallregel-
ungen reden zu können. Das darf nicht gehen.
Darum brauchen wir eine Änderung. Eine solche ist schon
deswegen dringend erforderlich, damitwir in Europa nicht
nur eine einheitliche Mindestregelung bekommen, son-
dern in formeller und materieller Hinsicht zu einem ein-
heitlichen europäischen Asylrecht kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen uns auch einmal ansehen, wie es in Frank-

reich oder in den Niederlanden konstruiert ist, wo es den
formellen Rechtsweg über Verwaltungsgerichte nicht gibt,
sondern wo zum Beispiel Kommissionen, die parla-
mentarisch verantwortlich sind, über Entscheide befinden.
Herr Schily hat eine Idee öffentlich geäußert, die von den
Ideen, die ich für richtig halte, nicht so weit entfernt ist.
Man sollte durchaus überlegen, Menschenrechtsorganisa-
tionen wie Amnesty International oder auch die Bera-
tungsorganisationen der Kirchen in eine solche Kommis-
sion mit hineinzunehmen. Dann werden Sie feststellen,




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)

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(A)



(B)


dass das neue System auf mehr Akzeptanz stößt als das
heutige, das weltweit als ein System bekannt ist, das mis-
sbraucht werden kann.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409906900
Herr Minister,
gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409907000
Ja.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409907100
Bitte. – Da wir
schon sehr in Verzug sind – das wissen alle Kollegen –, bit-
te ich insgesamt darum, etwas kürzer zu fragen und auch
etwas kürzer zu antworten.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409907200
Herr Minister, Sie haben kritisch
angemerkt, dass wir in Deutschland mit dem entsprechen-
den Grundrecht auf Asyl und den hier maßgebenden
rechtsstaatlichen Verfahren – ich füge hinzu: im Übrigen
nachhaltig reduziert – ein erhebliches Problem durch eine
Vielzahl von Asylbewerbern hätten. Sind Sie denn bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass in zahlreichen anderen eu-
ropäischen Staaten bezogen auf die Anzahl der Einwohner
der Anteil der Erstasylantragsteller wesentlich höher ist?
In der Schweiz beispielsweise ist er mehr als dreimal so
hoch und in Belgien und den Niederlanden mehr als dop-
pelt so hoch. Wie bringen Sie das denn damit in Einklang,
dass Sie hier weiteren Einschränkungen beim Asylrecht
das Wort reden?


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Warum haben Sie Österreich aus gelassen?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409907300

Herr Kollege, ich würde Ihnen empfehlen, auch mit Herrn
Bundesminister Schily eine Diskussion zu führen, der sich
zu dieser Frage mehrfach öffentlich geäußert hat. Jemand,
der praktische Erfahrungen hat, wird eine solche Frage,
wie Sie sie gerade gestellt haben, nicht stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vielmehr weiß er, welche Probleme es bereitet, Zehntau-
sende von Asylbewerbern in Sammelunterkünften in ei-
nem Land unterzubringen. Er weiß auch, dass das Problem
bei uns schärfer ist als in jedem anderen europäischen
Land. Hinzu kommt, dass wir Bosnier und Kosovo-Alba-
ner in großer Zahl aufgenommen haben und dass die Zahl
der Asylbewerber im Jahre 1999 nur deshalb zu-
rückgegangen ist, weil für die Kosovo-Albaner zu nahe-
zu 100 Prozent ein völlig anderes Verfahren angewendet
worden ist, indem sie nämlich faktisch als Bürgerkriegs-
flüchtlinge aufgenommen worden sind, während das in der
Schweiz anders gehandhabt worden ist. In der Schweiz
zählen sie zu den Asylbewerbern.

Deswegen kann ich nur sagen: Reden Sie das Problem
nicht herunter, sondern nehmen Sie die Interessen unseres
Landes wahr und lösen Sie die Probleme!


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Sie weichen aus!)


Damit sind wir beim zweiten Bereich. Ich hätte erwar-
tet, dass Herr Riester etwas dazu sagt, da er vor zwei Mo-
naten auf die Frage des Kollegen Singhammer geantwor-
tet hat, die Bundesregierung sei der Auffassung, dass die
Erteilung von Arbeitsgenehmigungen an ausländische
EDV-Spezialisten nicht erleichtert werden sollte. Er hat
das dezidiert dargestellt, auch im Vergleich zu anderen
Branchen.

Natürlich erleben wir es, dass die Wirtschaft massive
Wünsche äußert, dass sie sagt, wir bräuchten in einer glo-
balisierten Weltwirtschaft auch einen globalen Arbeits-
markt. Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen – da stim-
me ich Herrn Rüttgers auch an dieser Stelle zu –


(Zuruf von der SPD: Endlich!)

im Interesse der Menschen in unserem Lande – das sind
nicht nur Deutsche; das sind erst recht auch türkische und
frühere jugoslawische Gastarbeiter, die vor 30 oder
40 Jahren hierher gekommen sind und die in höherem Maße
arbeitslos sind als die einheimische Bevölkerung – dafür
sorgen, dass Sozialstandards oder Arbeitslohnstandards
nicht auf Weltniveau reduziert werden. Wir haben die Auf-
gabe, einen Weg zu finden, wie wir die Situation im eige-
nen Bereich verbessern können.

Ich kann Ihnen sagen – das tue ich mit allem Selbstbe-
wusstsein –, dass Bayern diese Frage, gerade im IT-Be-
reich, früher und umfangreicher angefasst hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung hat heute dargestellt, dass in diesem
Bereich 1 Milliarde DM zur Verfügung gestellt wird. Der
Freistaat Bayern hat seit 1994 im Rahmen seiner High-
tech-Offensive für Forschung und qualifizierte Ausbil-
dung und für Qualifizierungsmaßnahmen im IT-Bereich
8Milliarden DM aus Privatisierungserlösen ausgegeben –
8 Milliarden DM in Bayern! Deswegen ist es kein Zufall,
dass München heute Weltstandard hat, während die Pro-
bleme in Nordrhein-Westfalen massiv sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ein anderer Bereich! Jetzt kommt die Angeberei!)


– Herr Kollege Stiegler, wenn Sie in Bayern reden, sagen
Sie das doch mit demselben Stolz, weil Sie wissen, dass
die Leute Sie wegjagen würden, wenn Sie Ihr eigenes
Land schlecht machen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Soll Bayern ausgenommen werden? Dann nehmen wir Bayern aus, wenn ihr so gut seid! Aber ihr wollt doch auch dabei sein! Das ist dumme Angeberei!)


Das zentrale Problem ist: Wie senken wir die Zuwan-
derung, die die Sozialkassen belastet, und steuern auf die-
se Weise die Zuwanderung, die uns nützt? Wenn man das
polemisch sagen will: Wir müssen weniger von denen ha-
ben, die uns ausnutzen, und mehr von denen, die uns nüt-
zen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist doch unglaublich!)





Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Das ist eine riesige Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409907400
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-
Schröter? – Ich möchte noch einmal alle Kolleginnen und
Kollegen auf das hinweisen, was ich schon eben gesagt ha-
be: Wir sind sehr in Zeitverzug. Der Minister bekommt
durch Ihre Zwischenfragen eine üppige Redezeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte eigentlich keine weiteren Fragen mehr zulas-
sen – aber bitte schön.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409907500
Ich werde meine Frage
auch ganz kurz fassen. – Herr Minister, Sie haben ausge-
führt, dass die Ausbildungssituation in Bayern sehr gut ist.
Meine Frage: Werden die Elektronikkonzerne in Bayern,
zum Beispiel Siemens, auf diesem Wege keine Kollegin-
nen und Kollegen aus der Computerbranche einstellen? Ist
es schon gesichert, dass die bayerischen Unternehmen die
Green Card nicht in Anspruch nehmen werden?


(Beifall bei der PDS – Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ha, ha, ha!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409907600

Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, Sie haben bei dem
ersten Teil meiner Rede nicht zugehört. Ich habe nämlich
dargelegt, dass wir – in der Vergangenheit wie in der Zu-
kunft – aktuelle Fragen regeln. Dafür ist das Vorhaben, das
jetzt diskutiert wird, nicht hilfreich und vor allen Dingen
der Begriff „Green Card“ völlig falsch. Wir nutzen die bis-
herige Rechtssituation aus, um aktuelle Fragen zu beant-
worten, und machen dabei deutlich, dass Ausbildung strik-
ten Vorrang hat vor Zuwanderung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt noch einmal zu der Frage: Wie gehen wir mit Zu-

wanderung unter den Aspekten der Globalisierung und
des demographischen Wandels um, wie können wir unse-
ren eigenen Nutzen stärker in den Mittelpunkt stellen und
anderweitige Inanspruchnahme reduzieren? Ich habe die
Problematik der Änderung des Asylrechts deswegen an-
gesprochen, weil von den circa 100 000 Asylbewerbern
pro Jahr nach den Angaben des zuständigen Mitglieds der
Bundesregierung mehr als 90 Prozent nicht asylberechtigt
sind, sondern unter das Motiv Armutswanderung fallen
und damit das Asylrecht missbrauchen. Nach unseren Er-
fahrungen sind drei Viertel von ihnen unter Inan-
spruchnahme von kriminellen Schleusergruppen herge-
kommen. Dieser Anteil muss reduziert werden.

Ein weiterer Bereich muss angesprochen werden, wenn
man das Problem insgesamt angehen will: die Frage des
Familiennachzugs. Natürlich wird eine Partei, die das
„C“ in ihrem Namen führt, den Aspekt der Familie immer
besonders berücksichtigen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Davon merkt man aber wenig!)


Es kann doch aber nicht richtig sein – was wir im Moment
feststellen –, dass ein zunehmender Anteil der bei uns
langfristig lebenden Türken ihre Kinder zur Erziehung in
dieTürkeischickt,entwederweildas–ähnlichwiebeiuns–
den Großeltern zufällt oder weil – dies wird jedermann be-
stätigen, der sich damit beschäftigt – viele Eltern die Sor-
ge haben, dass die Kinder bei uns „verwestlicht“ und ver-
dorben werden,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Reden wir über die ITKräfte oder haben wir eine Ausländerdebatte?)


dass diese Kinder dann aber im Alter von 15, 16 oder
17 Jahren zurückkommen, ohne ausreichende schulische
Ausbildung, ohne berufliche Ausbildung. Sie landen dann
zumeist in Zentren, wo wir bereits heute unter Gettobil-
dung leiden.

In diesem Zusammenhang habe ich den Gedanken des
Kollegen Cem Özdemir ganz interessant gefunden, der ge-
sagt hat: Wenn Familienangehörige zu einem relativ spä-
ten Zeitpunkt nachziehen, sollten Sprach- und Integra-
tionskurse zur Voraussetzung der Zuwanderung gemacht
werden. Das ist eine vernünftige Idee, über die man sich
unterhalten sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich spreche einen weiteren Bereich an, wohl wissend,
dass dies ein ganz sensibler Punkt ist: Wenn wir die Zu-
kunftsfragen ehrlich ansprechen wollen, dann müssen wir
uns bewusst sein, dass wir einen Missbrauch des Art. 116
des Grundgesetzes abzuwehren haben, und die sich da-
raus ergebenden Probleme offen ansprechen.

Wenn ich für Spätaussiedler gemäß Art. 116 des
Grundgesetzes eine Sprachprüfung verlange, wird das
auch in anderen Bereichen möglich sein. Wir sehen, dass
zwar der Träger des Rechts nach Art. 116 des Grund-
gesetzes die Sprachprüfung macht, aber mancher Famili-
enangehörige nicht. Auch dies sollten wir beachten.

Ich biete hier an, dass die Bundesländer, jedenfalls die-
jenigen, die sich damals als B-Länder-Vertreter mit uns ge-
troffen haben, in einen fairen und offenen Dialog über Ver-
änderungen des gesamten Rechts in diesem Bereich ein-
treten. Wir sollten mehr danach gehen, wer uns nützt, und
weniger danach, wer uns ausnutzt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine unanständige Gegenüberstellung! Das ist Schönhuberei und Haiderei! Das ist wirklich unglaublich! Das ist evangelische Kirchentagspolitik, mein Lieber!)


Das heißt, der Bezug von Sozialhilfe und auch Krimi-
nalität sollten schneller als Ausweisungsgründe gelten.
Herr Stiegler, es sollte einem nicht immer in den Rücken
gefallen werden, wenn man Intensivstraftäter ausweist.

Ein Draufsatteln von weiteren Bevölkerungsgruppen
als Zuwanderer, ohne die Armutswanderung entscheidend
zurückzuführen, ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Es
ist aber richtig, die generellen Fragen zu diskutieren. Das




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)

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(C)



(D)



(A)



(B)


ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten Monaten und
Jahren zu stellen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Thema verfehlt! Völlig am Thema vorbei!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409907700
Für die Bundes-
regierung erhält jetzt der Herr Minister Schily das Wort.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1409907800
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Man soll an
das Gute im Menschen glauben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber bei Beckstein fällt das schwer!)


Deshalb irre ich mich hoffentlich nicht, Herr Kollege Rütt-
gers, wenn ich meine, dass Ihnen Ihre Rede heute eigent-
lich selber peinlich war. Ich meine, dass man das Ihrer
Körperhaltung ein wenig entnehmen konnte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nein, da irren Sie sich!)


Sie waren früher als Minister gerade für die so genannten
Zukunftstechnologien zuständig. Sie haben den wunder-
schönen Titel des Zukunftsministers zu führen versucht.


(Jörg Tauss [SPD]: Rückwärts!)

Heute müssen wir feststellen: Sie sind der Vergangen-
heitsminister oder eher der Vergangenheitspolitiker.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir wissen alle: Die IT-Branche ist die Schlüsselbran-

che des beginnenden 21. Jahrhunderts. Hier entstehen
nach Aussagen der Wirtschaft weltweit circa 600 000 Ar-
beitsplätze. In Deutschland gibt es – das ist unbestreitbar
und ich glaube hier eher den Angaben der Wirtschaft und
anderer Institutionen als dem, was Sie, Herr Kollege
Rüttgers, hier vorgetragen haben – einen aktuellenMangel
an Spitzenkräften auf diesemGebiet.

Übrigens werden in der deutschen Wirtschaft Spitzen-
kräfte mit Spitzengehältern bedacht. Deshalb hat das
Ganze mit Lohndumping überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies nur nebenbei. Die Vorschläge des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie lauten so: Um eine unbürokrati-
sche Anwerbung sicherzustellen, müssen wir gar nicht
groß mit Qualifikationszeugnissen und Ähnlichem arbei-
ten, sondern können einfach an der Höhe der angebotenen
Vergütung ablesen, ob jemand eine Spitzenkraft ist oder
nicht. Also reden Sie doch kein dummes Zeug über Lohn-
dumping und Ähnliches.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


IT-Spitzenkräfte sind – das ist inzwischen eine Binsen-
weisheit geworden – von ausschlaggebender Bedeutung

für die Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmark-
tes. Ich bin dem Kollegen Westerwelle sehr dankbar für
das, was er hier – wie ich finde – völlig richtig dargestellt
hat. Aber auch uns ist klar: Ohne IT-Spitzenkräfte kann un-
sere Wirtschaft im globalen Wettbewerb nicht mithalten.
Sie steht im globalen Wettbewerb gut da. Wir dürfen un-
seren Standort nicht immer herunterreden. Aber auf die-
sem Gebiet gibt es einen aktuellen Bedarf, den wir decken
müssen.

Der Rückstand auf diesem Sektor ist auch nicht einzu-
grenzen. Die Defizite, die dort vorhanden sind, strahlen
auf andere Sektoren aus. Das muss man ebenfalls beden-
ken. Wer über Arbeitsmarkt und Ähnliches spricht, sollte
wissen – das ist die Einschätzung von Fachleuten – jede
IT-Spitzenkraft, die wir anwerben, wird drei bis fünf Ar-
beitsplätze schaffen. Sie belastet also nicht den Arbeits-
markt, sondern sie entlastet ihn.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Herr Kollege Rüttgers, deshalb stimmt auch Herr Jagoda,
der Ihrer Partei angehört, diesem Vorhaben zu, der im Ge-
gensatz zu Ihnen etwas vom Arbeitsmarkt versteht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, rasches Handeln ist not-
wendig. Wir könnten uns jetzt lange in Ausführungen, wo
Mangel in Bezug auf Ausbildung besteht und wer dafür
verantwortlich ist, ergehen. Das wäre eine interessante
Diskussion. Aber die Bundesregierung tut etwas. Herr
Catenhusen wird sicherlich einiges dazu sagen. Ich glau-
be, dass das, was wir auf diesem Gebiet geleistet haben –
ich finde, dass sich Herr Westerwelle in Anerkennung des-
sen, was meine Kollegin Bulmahn tut, fair verhalten hat –,
sehr beachtlich ist. Man muss wissen, dass das Programm,
das wir auflegen, zwei Seiten hat: auf der einen Seite eine
aktuelle Anwerbung von IT-Spitzenkräften und auf der
anderen Seite eine Aufstockung des Ausbildungspro-
gramms. Beides gehört zusammen. Man darf das eine
nicht verschweigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber wir sollten möglichst rasch und unbürokratisch han-
deln. Hier bin ich für jeden Vorschlag dankbar.

Herr Kollege Beckstein, Sie haben heute einen interes-
santen Vorschlag gemacht. Wir haben bei anderen Gele-
genheiten die Möglichkeit, darüber zu reden. Ich nehme
ein solches Gesprächsangebot immer gern an. Wir glei-
chen das, was wir tun, auf arbeitsrechtlichem und auf auf-
enthaltsrechtlichem Gebiet ganz sorgfältig mit dem, was
uns aus der Wirtschaft gesagt wird, ab. Wir sind in einem
engen Kontakt. Es wird demnächst in der Initiative D 21,
also im Bereich der IT-Technik, ein Gespräch der Kabi-
nettsmitglieder und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern geben. Hier wird geprüft, ob dies die beste und prak-
tischste Lösung ist, die sofort greift. Wir sollten eine prag-
matische Lösung finden die innerhalb des bestehenden
Rechts umgesetzt werden kann. Das ist möglich.




Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern)


9251


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir sollten in diesem Fall auf die deutsche Neigung
verzichten, alles zur Grundsatzfrage zu erklären.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann natürlich über Grundsatzfragen reden. Ich kom-
me am Schluss darauf zurück.

Jetzt geht es aber um eine schnelle, unbürokratische
und praktische Lösung. Ich betone noch einmal: Wir han-
deln im Interesse der deutschen Wirtschaft. Herr Rüttgers,
man kann es Ihnen nicht ersparen: Die härteste Kritik, die
an Ihnen geübt worden ist, stammt aus den Kreisen der
Wirtschaft. Das ist nun einmal so. Der Präsident des
Deutschen Industrie- und Handelstages, Herr Stihl, hat zu
den Äußerungen von Herrn Rüttgers gesagt:

Ich halte das für eine ziemlich starke verbale Ent-
gleisung. Es ist mir gleichgültig, welcher Nationalität
ein solcher Fachmann ist. Wenn er deutschen Firmen
helfen kann, sich im Weltkonzert der neuen Techno-
logien zu behaupten, dann ist er für mich höchst will-
kommen.

Recht hat Herr Stihl und Unrecht hat Herr Rüttgers. So ist
die Lage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Henkel hat gesagt: „Sprüche wie ,Kinder statt In-
der, sind einer Industrienation unwürdig.“


(Zuruf von der SPD: Einer Demokratie!)

Meine Damen und Herren, Herr Hundt hat gesagt:
Der ehemalige Zukunftsminister redet an den Erfor-
dernissen des Fachkräftemangels vorbei. Seine Äuße-
rungen sind erbärmlicher Populismus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Sie haben binnen kürzester

Zeit Ihre europapolitische Kompetenz eingebüßt. Dass Sie
sich inzwischen auch als wirtschaftsfeindliche Partei ge-
bärden, ist allerdings ein Ereignis, das es zu würdigen gilt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Westerwelle hat mit Recht einen Hinweis auf eine
Äußerung von Frau Merkel gegeben, die ich begrüße –
schade, dass sie heute nicht anwesend ist – und in der sie
Herrn Rüttgers zurechtgewiesen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Irgendwie müssen Sie sich – Herr Merz, dass muss ich an
Ihre Adresse sagen – entscheiden: Hat Frau Merkel Recht
oder hat Herr Rüttgers Recht? Das passt nicht zusammen.
Deshalb sollten Sie vor der Wahl für Ordnung sorgen.

Meine Damen und Herren, es ist interessant, was der
Kollege Beckstein heute vorgetragen hat, wenn es auch ein
bisschen verschlungen war. Manchmal konnte man sich in
den Wortgirlanden, die Sie vorgetragen haben, nicht zu-
rechtfinden. Aber das ist Ihre Art, in diesem Fall fränkische
Art, vielleicht ein bisschen altfränkisch.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nichts gegen fränkisch!)


Ich glaube, Herr Beckstein hat in einem Punkt Recht:
Wir können einer Grundsatzdiskussion über diese Fragen
nicht ausweichen und wir müssen diese Diskussion vor-
urteilsfrei führen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass in-
zwischen auch in der Opposition Lockerungsübungen
stattfinden.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Mittlerweile dämmert sogar Ihnen, dass Deutschland ein
Einwanderungsland geworden ist. Dieser Punkt kommt
ja auch schon in Ihren Überlegungen vor. Wir tun gut dar-
ran, diese Fragen frei von Tabus und Vorurteilen mitein-
ander zu erörtern. Ich führe zu diesem Thema eine ganze
Reihe von – übrigens fraktionsübergreifenden – Ge-
sprächen, deren Ergebnis ich nicht vorgreifen will.

Wir müssen auch bedenken, dass wir die Lösung sol-
cher Fragen in die europäische Politik einbetten müssen.
Es gibt keine isolierte deutsche Innenpolitik mehr. Das
wissen wir spätestens seit Tampere. Das war der erste Gip-
fel, der sich erfreulicherweise ausschließlich mit innen-
und justizpolitischen Themen beschäftigt hat. Deshalb be-
darf es einer Europäisierung der Politik über die Fragen
von Zuwanderung, Asyl und der vorübergehenden Auf-
nahme von Bürgerkriegsflüchtlingen. Es ist bekannt, dass
im Amsterdamer Vertrag dieses Themenfeld vergemein-
schaftet ist und in die so genannte „erste Säule“ gehört.

Es ist ein umfassendes europäisches Gesamtkonzept
notwendig. Wir sollten uns bemühen, dafür einen breiten
Konsens zu finden. Der entscheidende Punkt dabei wird
sein, ob es uns gelingt, von einer Zuwanderungssituation,
die sich der Steuerung weitgehend entzieht, zu einer Zu-
wanderungspolitik überzugehen, die aktiv und offensiv
gestaltet wird.


(Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.])


Wenn wir diese Politik gewissermaßen nur erleiden, wer-
den wir mit den Problemen nicht fertig werden. Wir müs-
sen vielmehr etwas tun, was wir in der Vergangenheit
schon an manchen Stellen auf einer breiten Konsens-
grundlage, und zwar unter humanitären Vorzeichen, getan
haben.

Ich will Ihnen zum Schluss ein Beispiel vortragen: Wir
haben uns in einer Krisensituation in Mazedonien, wo
Menschen in Not waren und die Lage aus den Fugen zu ge-
raten drohte, entschlossen – ebenso wie andere Länder –,
vorübergehend eine Reihe von Menschen als Bürger-
kriegsflüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wir haben damals
15 000 Menschen aufgenommen. Wir haben dabei nicht
auf mögliche Klageverfahren oder Rechtsansprüche ge-
achtet, sondern wir haben eine Situation aktiv gestaltet –
aus eigenem Entschluss, eigener Moral und eigenem Ge-
wissen


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nach geltendem Recht!)


und nach geltendem Recht. Wir haben eine gute Aktion ge-
macht.




Bundesminister Otto Schily
9252


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In diesem Sinne müssen wir Politik verstehen – und
zwar in verschiedenen Richtungen. Ich halte es für erfreu-
lich, dass Herr Beckstein in einer sehr sachten, aber muti-
gen Erklärung auch das Problem der Aussiedler ange-
sprochen hat. Obwohl er es sehr sachte und im Hinter-
grund getan hat, habe ich – so glaube ich zumindest –
verstanden, was er meint.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Da bin ich mir nicht so sicher! – Jörg Tauss [SPD]: Auch ihm ist Rüttgers ja peinlich!)


Insofern müssen wir – gerade 50 Jahre nach dem er-
freulichen Zusammenbruch des Naziregimes – alle Felder
vorurteilsfrei ansprechen, manche Fragen zu Beginn die-
ses Jahrhunderts neu stellen und nach passenden Antwor-
ten suchen. Wenn dieses Gespräch in einer positiven Wei-
se verläuft und wir zu einem breiten Konsens gelangen,
wäre ich dafür sehr dankbar. Von meiner Seite gibt es das
Angebot zu diesem fairen Dialog. Ich hoffe, dass auch das
Angebot von Herrn Beckstein ernst gemeint ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409907900
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.


Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409908000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was
heute zum Thema „Deutschland als Einwanderungsland“
und zum Einwanderungsgesetz gesagt wurde, stimmt
mich optimistisch, dass wir in dem Maße, in dem wir an-
erkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist,
vernünftige Gesetze machen, die dieser Tatsache auch
Rechnung tragen. Ich kann für meine Fraktion erklären,
dass wir bereit und offen sind, die Diskussion darüber zu
führen und einen Konsens zu erzielen. Wir brauchen eine
breite Mehrheit dafür. Aber eines ist mit uns nicht zu ma-
chen, nämlich ein Koppelgeschäft zwischen dem Grund-
recht auf Asyl und einem Einwanderungsgesetz. Wer das
versucht, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler;
denn er wirft zwei Dinge in einen Topf, die so nicht zu-
sammengehören.

Die anderen Themen, um die es heute geht, sind die
Green Card und die Diskussion, die Herr Rüttgers vom
Zaun gebrochen hat. Ich fange mit der Bezeichnung
„Green Card“ an: Herr Beckstein, Sie haben sehr deutlich
darauf hingewiesen, die Green Card sei gar keine Green
Card. Aber Herr Schröder wäre mit seiner Forderung auf
der CeBIT nicht durchgedrungen, wenn er gesagt hätte, er
möchte gerne ein EB-1-Visum für alle einführen. Er hat
den populäreren Namen „Green Card“ benutzt und damit
der Debatte nach meiner Ansicht eine vernünftige Rich-
tung gegeben. Aber wir sollten nicht über den Namen strei-
ten, sondern sachlich darüber reden, ob der Vorschlag ver-
nünftig ist oder nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schlechte Nachrichten für Herrn Rüttgers: Ich glaube
nicht, dass das Bundesland Bayern im Bundesrat einer sol-
chen Regelung im Weg steht. Was erklärte der Bayerische
Ministerpräsident nach einer Kabinettssitzung – bei dieser
dürften Sie, Herr Beckstein, anwesend gewesen sein – im
März dieses Jahres?

Die Bayerische Staatsregierung ist grundsätzlich mit
der von Bundeskanzler Gerhard Schröder angekün-
digten zeitlich befristeten Anwerbung von Compu-
terspezialisten einverstanden. Dies geht im Prinzip in
die richtige Richtung.

Das muss man unterstreichen. Außer Herrn Rüttgers redet
auch kein anderer CDU-Abgeordneter zu diesem Thema.
Er musste heute seine Position alleine darstellen, weil er
sich isoliert hat, weil er einen schweren Fehler gemacht hat
und weil er mit seinen Vorstellungen, die völlig an der
Realität vorbeigehen, versucht, Stimmung zu machen. Er
weiß, dass die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für
ihn in jedem Fall verloren ist, wenn er das Thema nicht in
dieser Weise aufgreift, wie er es bisher getan hat.

Tatsächlich stehen wir mitten in einem globalen Wett-
bewerb um die fähigsten Köpfe. Die Deutschen beteiligen
sich an diesem Wettbewerb. Das können Sie daran erken-
nen, dass junge Deutsche – selbstverständlich – in andere
Länder gehen,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Weil hier die Rahmenbedingungen so schlecht sind!)


und zwar nicht nur in die Vereinigten Staaten, sondern
auch in die skandinavischen Länder und nach Frankreich,
um dort im IT-Bereich zu arbeiten. Das, was dieses Land
unter der Regierung von Helmut Kohl und unter der Ägi-
de von Innenminister Kanther falsch gemacht hat, war,
sich nicht an diesem Wettbewerb zu beteiligen, unseren
Arbeitsmarkt abzuschotten und den Wettbewerb um die
fähigsten Köpfe anderswo stattfinden zu lassen. Wir haben
diesen klugen Menschen bislang keine Möglichkeit gege-
ben, ihren Traum in Deutschland zu verwirklichen. Das
will die rot-grüne Bundesregierung ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahlen sprechen für sich: In den Vereinigten Staa-
ten wurden im Jahr 1999 115 000 EB-1-Visa ausgestellt.
In diesem Jahr planen die Vereinigten Staaten sogar,
195 000 dieser Visa auszustellen, während wir in Deutsch-
land es mit der berühmten Anwerbe-Ausnahme-Verord-
nung immerhin auf die „stattliche“ Zahl von 899 gebracht
haben. Wenn wir so weitermachen, ist Deutschland eines
der Verliererländer beim Kampf um Marktanteile am
IT-Bereich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Deswegen brauchen wir eine zügige Regelung. Eine sol-
che Regelung wird die Koalition auf den Weg bringen, und
zwar mit Unterstützung der CDU-regierten Länder und der
SPD-regierten Länder und ohne Herrn Rüttgers.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Bundesminister Otto Schily

9253


(C)



(D)



(A)



(B)


Zu Herrn Rüttgers fällt mir Folgendes ein: Es wird im-
mer gesagt: Wem der Herr ein Amt gibt, dem gibt er Ver-
stand. Es ist zweifelhaft, ob das tatsächlich so ist. Aber bei
Herrn Rüttgers weiß man, dass der Umkehrschluss auf je-
den Fall richtig ist: Seit er das Amt des Zukunftsministers
niedergelegt hat, kommt von ihm kein vernünftiger Vor-
schlag mehr, sondern nur das nach meiner Meinung un-
sinnige Gerede zum Thema Green Card und Einwande-
rung.

Wir haben in der letzten Legislaturperiode über das
Thema Internet diskutiert. Wir haben auch erste Schritte
unternommen – daran war Herr Rüttgers beteiligt –,
Deutschland für das Informationszeitalter fit zu machen.
Nur, er hat aufgehört, als ein paar Schulen einen Compu-
ter bekommen haben. Ihm war es egal, dass die Schulen,
nachdem sie diesen einen Computer hatten, noch sehr viel
Geld in Form von Telekommunikationsgebühren und an-
derem zahlen mussten.

Wir wollen, dass jede Schule, möglichst jede Schul-
klasse kostenlos ins Internet kommen kann. Die rot-grüne
Bundesregierung hat es gemeinsam mit der Industrie ge-
schafft, durchzusetzen, dass nicht nur eine kleine Zahl,
sondern alle Schulen kostenlos ins Internet kommen. Da-
mit wird deutlich: Es gibt keinen Gegensatz zwischen
Green Card und Ausbildung. Das eine ist genauso wich-
tig wie das andere. Diejenigen Menschen, die nach
Deutschland kommen, werden zusätzliche Arbeitsplätze
schaffen. Es ist mehrfach gesagt worden: Wer nach
Deutschland kommt, der setzt Wachstumskräfte frei und
schafft im Schnitt drei bis fünf Arbeitsplätze.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Wenn Sie uns nicht glauben, liebe Kolleginnen und

Kollegen von der CDU/CSU – die meisten glauben uns ja;
Herr Rüttgers, der den Saal verlassen hat, ist aufs Sünder-
bänkchen zu setzen –, dann glauben Sie Herrn Zimmer-
mann, dem Chef vom DIW, der gesagt hat:

Die gezielte Einwanderungspolitik ist eine der we-
sentlichen Ursachen für den US-Wirtschaftsboom.
Amerika hat sich systematisch um die besten Leute in
der ganzen Welt gekümmert. Die Deutschen haben
das bisher nicht gemacht.

Das will diese Regierung ändern. Sie hat dabei die volle
Unterstützung meiner Fraktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409908100
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.

Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei
der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dass
diese Debatte durchaus ihr Gutes hat; denn nur Unbelehr-
bare wie der wahlkämpfende Jürgen Rüttgers leugnen
noch heute, dass Deutschland gut beraten ist, für die
nächsten Jahre hoch qualifizierte IT-Fachkräfte, die welt-

weit gesucht und umworben werden, für eine Arbeit in
Deutschland zu gewinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist ein Stück der neuen Wirklichkeit, die die Glo-

balisierung und die Wissensgesellschaft weltweit ge-
schaffen haben. Die Zahlen für Amerika besagen, dass al-
lein dort bis Januar nächsten Jahres 1,6 Millionen neue
Jobmöglichkeiten entstehen werden. 850 000 davon wer-
den nicht besetzt werden können.

Das Problem, über das wir reden und auf das wir eine
schnelle Antwort finden müssen, hat sich nicht erst gestern
ergeben. Die Wirtschaft in Deutschland hat – das ist keine
Frage – bis Mitte der 90er-Jahre die Dynamik von Inter-
net und Multimedia sträflich unterschätzt. Sie trägt durch-
aus Verantwortung für den geringen Anteil junger Men-
schen, die sich in diesen Jahren für ein Studium der Infor-
matik entschieden haben. Sie ist für die geringe Zahl von
Absolventen, also hoch qualifizierter junger Menschen, in
diesem Bereich mitverantwortlich.

Vergessen wir aber nicht, dass schon 1997, vor drei Jah-
ren, die Wirtschaft auf der CeBIT vor einem Fachkräfte-
mangel im IT-Bereich gewarnt hat. Herr Kohl und Herr
Rüttgers umgaben sich von 1994 an mit einem hochrangig
besetzten Technologierat. Dort wurde natürlich auch über
die Informationsgesellschaft gesprochen; aber der Fach-
kräftemangel, vor allem bei Spitzenkräften – dem heute
dringlichsten Engpass auf unserem Weg in die
Informations- und Wissensgesellschaft –, kam in dieser
illustren Runde bis 1998 nicht auf die Tagesordnung.

Es ist kein Wunder, dass auch die Kürzung des Bil-
dungs- und Forschungshaushaltes des Bundes um
700 Millionen DM von 1994 bis 1998 zu dieser Misere
beigetragen hat. Ich darf darauf hinweisen, dass in dersel-
ben Zeit, in der Herr Rüttgers seinen Haushalt um
11,2 Prozent gekürzt hat, Nordrhein-Westfalen seine Aus-
gaben für Bildung und Wissenschaft um über 27 Prozent,
von 22 Milliarden DM auf 28 Milliarden DM, gesteigert
hat.

Wäre Herr Beckstein noch da, sollte man ihm sagen,
dass die Zahl der Studierenden in Nordrhein-Westfalen
höherals inBayernundBaden-Württembergzusammenist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das zum Thema „Bildungsmarkt Deutschland“.
Die Bundesregierung hat nach der Wahl schnell gehan-

delt. Wir haben das Thema Fachkräfte vielfältig auf die Ta-
gesordnung gesetzt: im Bündnis für Arbeit, im Ingenieur-
dialog, in der Initiative „D 21“.

Man hat heute wieder gemerkt, wie Herr Rüttgers ar-
gumentiert: Er unterschlägt natürlich, dass die Wirtschaft
in der Vereinbarung über die Erteilung von Arbeitsgeneh-
migungen zugleich Verpflichtungen eingegangen ist. Ins-
gesamt 60 000 neue Ausbildungsplätze im IT-Bereich – im
dualen System – sind das Ergebnis unserer Politik für die
Kinder und für die jungen Menschen in unserem Lande.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Matthias Berninger
9254


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben im Herbst ein Aktionsprogramm zur Ent-
wicklung der Informationsgesellschaft aufgelegt, in dem
die Bundesregierung jährlich 1,1 Milliarden DM für die-
se Zwecke bereitstellt. Herr Rüttgers hat seinerzeit ein
symbolisch nettes Produkt in die Welt gesetzt, die Aktion
„Schule ans Netz“. Sie war sicherlich gut gemeint; aber im
Nachhinein muss man sagen: In drei Jahren insgesamt
60 Millionen DM für diesen Zweck zu mobilisieren war
der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.


(Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers-Tröpfchen!)

Was Rüttgers und die alte Regierung nicht zustande be-

kommen haben, ist vor allem das, was wir jetzt schaffen,
nämlich ein strategisches Bündnis der Bundesregierung
mit der gesamten informationstechnischen Wirtschaft, in-
dem wir miteinander vereinbaren, dass bis zum nächsten
Jahr jede Schule in der Bundesrepublik am Netz ist,


(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist gut! Das ist die richtige Politik!)


indem wir vereinbaren, dass bis 2004 40 Prozent der Be-
völkerung in unserem Land ans Netz kommen. Die Tarife
bewegen sich, „flat rates“ werden möglich. Das sind alles
Dinge, über die die alte Regierung natürlich auch deshalb
nicht nachdenken konnte, weil Ihr Zukunftsminister we-
der Kenntnisse vom Computer noch vom Internet hatte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Ja, wo war er denn?)


Das merkt man bis heute in seinen Diskussionsbeiträ-
gen zu diesem Thema. Als Frau Bulmahn und ich ins Mi-
nisterium einzogen und unsere erste Frage war, wo ei-
gentlich unser PC sei, wo unser Laptop für unsere Arbeit
sei, haben wir erstaunte Blicke der Mitarbeiter sehen müs-
sen. Das war doch interessant. Nun muss ich zugeben: Die
Rohrpost, die es im Bundeskanzleramt gab, gab es im For-
schungsministerium immerhin schon nicht mehr.


(Jörg Tauss [SPD]: Noch nicht einmal das! – Ludwig Stiegler [SPD]: Mit Brieftauben haben die kommuniziert!)


Meine Damen und Herren, ich denke, die Union hat in
den letzten Monaten und Wochen einen Lernprozess
durchgemacht. Am Anfang standen sehr kritische Fragen,
es gab auch fundamentale schroffe Ablehnung. Es gab
auch kritische Fragen aus den Gewerkschaften – keine
Frage.

Aber man kann doch feststellen: Am 28. Februar lehn-
te Edmund Stoiber – so dpa – die Green Card für auslän-
dische Computerexperten strikt ab. Herr Beckstein tönte
damals – nicht heute –: unverantwortlich. Überstürzt und
konzeptionslos war doch nicht unsere Politik, sondern Ih-
re Reaktion. Am 15. März – man höre und staune – be-
grüßte Edmund Stoiber in der „Süddeutschen Zeitung“
mittlerweile schon die Green Card als Schritt in die rich-
tige Richtung.

Diesen Lernprozess begrüßen wir sehr, wir begrüßen
auch den Sinneswandel von Frau Merkel, die am Montag
dieser Woche erklärt hat, die CDU habe keine grundsätz-
lichen Einwände gegen diese Aktion. Sicherlich ist Ihr

Schatzmeister Cartellieri, der nach eigenem Bekunden den
Bundeskanzler nachdrücklich zu diesem Schritt gedrängt
hat, ja aufgefordert hat, in dieser Frage ein hilfreicher Be-
rater gewesen.

Man stellt sich doch die Frage, für wen Herr Rüttgers
heute eigentlich geredet hat. Der Eindruck entsteht doch:
Die Spitze der Union ist längst eines Besseren belehrt
worden. Sie weiß, dass sie Herrn Rüttgers bis zum 14.Mai
aussitzen muss, und Sie von der Union, die Sie heute ge-
klatscht haben, sind doch selbst zum großen Teil der Über-
zeugung, dass es auch für Sie gut ist, dass diese elende Dis-
kussion und Kampagne mit der Wahlniederlage von Herrn
Rüttgers am 14. Mai ein Ende finden werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die letzte Ohrfeige hat Herr Kollege Rüttgers gestern
bekommen. Die Industrie- und Handelskammer in Köln –
aus seiner Gegend – hat nachdrücklich die Initiative der
Bundesregierung unterstützt. Eine für ihn peinlichere Re-
aktion kann Herr Rüttgers – so glaube ich – nicht erleben.


(Beifall bei der SPD)

Ich will noch zu einer weiteren Polemik von Herrn

Rüttgers Stellung nehmen. Es ist schon ein starkes Stück,
wenn im Wissenschaftsministerium in Düsseldorf am
6. April ein Antrag auf einen gemeinsamen Bildungsgang
von deutschen, niederländischen und belgischen Personen
eingeht und Herr Rüttgers hier in anmaßender Weise be-
klagt, dass diesem Antrag noch nicht entsprochen worden
ist. Soll man das wirklich ernst nehmen?


(Jörg Tauss [SPD]: Das kann man nicht mehr!)

Zum Thema Lohndumping.Es steht doch fest, dass für

50 Prozent der Arbeitsplätze im IT-Bereich im engeren
Sinne Leute mit Hochschulqualifikation erforderlich sind.
Wir brauchen hier viel stärker als in anderen Bereichen ei-
nen starken Anteil hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Unser
Problem ist, dass unter den über 30 000 IT-Fachkräften nur
sechs Prozent mit Hochschulabschluss sind. Im Kern ha-
ben wir in Deutschland 2 400 arbeitslose Informatiker.
Deshalb ist klar: Wir brauchen mehr Jugendliche, die hier
eine Berufsausbildung beginnen, wir können über jeden
froh sein, der in den nächsten Jahren einen Abschluss in
einem IT-Beruf macht. Jeder junge Student, der jetzt sei-
nen Abschluss macht, wird doch zum Teil schon vor Ende
des Studiums weggekauft und diejenigen, die jetzt mit
Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit umgeschult werden,
haben eine gute berufliche Perspektive. Aber das reicht in
den nächsten drei bis fünf Jahren nicht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409908200
Herr Kollege
Catenhusen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Dr. Luft?

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1409908300
Bitte.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1409908400
Herr Kollege Catenhusen, Sie
haben eben betont, dass es in der IT-Branche vor allem




Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen

9255


(C)



(D)



(A)



(B)


Menschen mit Hochschulabschluss geben müsse. Was sa-
gen Sie denn zu der Feststellung des SPD-Fraktionschefs,
die in der „FAZ“ vom 13. April wiedergegeben wird? Er
soll gesagt haben, die SPD-Fraktion lege auch keinen all-
zu großen Wert auf formale Hochschulabschlüsse, sondern
neben der Orientierung an formalen Hochschulabschlüs-
sen allein, wie sie im Entwurf von Arbeitsminister Riester
zunächst vorgesehen sei, werde daran gedacht, sich an den
gezahlten Gehältern für Fachleute aus dem Nicht-EU-
Raum zu orientieren. Diese liegen ja wohl nicht sehr hoch.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1409908500
Der
Teufel liegt immer im Detail, Frau Luft.

Übrigens ist meine Prognose ganz klar: Es werden nicht
hauptsächlich Inder sein, sondern zu uns werden vor allem
hoch qualifizierte Experten aus dem osteuropäischen
Raum kommen. Das weiß doch jeder.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Die „Inder-Debatte“ von Herrn Rüttgers ist auch in die-
ser Hinsicht völlig verlogen, weil er den Eindruck erweckt,
als ob wir die Inder deshalb holten, weil sie Hindus sind,
und wir uns neben den Problemen mit der islamischen
Minderheit noch ein weiteres Problem mit ei-
ner Hindu-Minderheit aufhalsen wollten. Diese Art von
Demagogie, die Herr Rüttgers hier vollzieht, kann ich nur
folgendermaßen charakterisieren: Er ist kein Haider, aber
er zündelt mit Haider-Methoden, weil er weiß, dass er auf
andere Weise keine Chance mehr hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Nun zur Antwort auf Ihre Frage, Frau Luft: Das Pro-
blem ist, wir müssen im Zusammenhang mit der Aner-
kennung von weltweit unterschiedlichen Bildungs-
abschlüssen prüfen, ob auf unbürokratischem Weg schnell
geklärt werden kann, was das Hochschuldiplom aus Bang-
ladesch oder woher auch sonst wert ist. Wenn wir da auf
bürokratische Hürden stoßen, haben wir eine andere Op-
tion zur Verfügung, nämlich über Einkommenshöhen auf
dem Arbeitsmarkt das Qualifikationsniveau festzulegen.
Das ist kein Gegensatz, sondern das sind Alternativen.
Hier besteht Klärungsbedarf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines deutlich

machen: Die Debatte um eine befristete Arbeitserlaubnis
für hoch spezialisierte Arbeitskräfte lenkt unseren Blick
darauf, dass wir für die Sicherung unserer wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Zukunft immer stärker auch auf
Fachkräfte aus anderen Ländern angewiesen sein werden.
Im Zeitalter der Globalisierung und der Wissensgesell-
schaft agieren nicht nur Konzerne global, sondern es ist
auch längst ein globaler Arbeitsmarkt von Experten
entstanden, um die sich im Wettbewerb vor allem die
Industriestaaten bemühen. Wenn in Indien ein Bildungs-
system existiert, das weit über den Bedarf hinaus hoch
qualifizierte Experten ausbildet und ein Teil dieser

Menschen aus guten Gründen, übrigens auch unterstützt
von der eigenen Regierung, auf diesen globalen Arbeits-
markt drängt, dann ist die klassische Diskussion, zum Bei-
spiel um Braindrain wie in den 70er-Jahren, hier völlig
fehl am Platze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Indien profitiert davon, dass es eine starke Gruppe von

Indern gibt, die die Computerindustrie in Silicon Valley
mit aufgebaut haben.


(Jörg Tauss [SPD]: Heute schon!)

Wir werden auf die Dauer davon profitieren, dass in unse-
ren Unternehmen hoch qualifizierte Spezialisten arbeiten,
die anschließend in ihren eigenen Ländern unsere Ge-
schäftspartner werden.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb mein letzter Satz. Wir wissen alle, dass wir hier
über eine sensible Frage reden. Wir brauchen in dieser Fra-
ge eine Koalition der Vernunft, um gemeinsam durch
Aufklärung das gesellschaftliche Klima weiterzuent-
wickeln, Ängsten zu begegnen und auch den jungen Men-
schen die Zukunftschancen, die sich für sie damit ergeben,
deutlich zu machen. Wir müssen behutsam Schritt für
Schritt gehen. Eines geht allerdings nicht: mutigere Schrit-
te auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik zu fordern
und zugleich bei passender Gelegenheit schamlos Ängste
zu schüren, parteipolitisch zu instrumentalisieren und aus-
zuschlachten.


(Beifall bei der SPD)

Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben es

jetzt selbst in der Hand, ob Sie Teil einer Koalition der Ver-
nunft


(Ludwig Stiegler [SPD]: Mit Vernunft haben die es nicht!)


zusammen mit Wirtschaft, Gewerkschaft und Kirchen und
den anderen Parteien in diesem Hause werden wollen und
können.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409908600
Herr Kollege
Catenhusen, der Satz ist wirklich reichlich lang.

W
Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID1409908700
Ich den-
ke, die Chancen werden nach der Wahlniederlage von
Herrn Rüttgers besser sein als vorher.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409908800
Letzte Rednerin in die-
ser Debatte ist die Kollegin Doris Barnett für die SPD-
Fraktion.




Dr. Christa Luft
9256


(C)



(D)



(A)



(B)



Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1409908900
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Eigentlich müsste ich die Kollegin-
nen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion fragen, ob sie
ganz sicher sind, dass ihr Antrag jetzt von allen bei ihnen
geteilt wird, oder ob er vielmehr nur eine Mehrheits- oder
Minderheitsmeinung beinhaltet; denn täglich lesen wir in
der Presse Stellungnahmen von nicht ganz unbedeutenden
CDU-Leuten, die mal für, mal halbherzig gegen das So-
fortprogramm der Bundesregierung sind, mal differenziert
und mal plump argumentieren. Was Sie da treiben, nennt
man einen Schlingerkurs. Dafür verliert ein Autofahrer
seinen Führerschein.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Aber nur wenn er einen schlechten Verteidiger hat! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann haben wir die Inder, damit sie uns verteidigen!)


Einen „politischen“ Führerschein werden Sie weder mit
Ihrem Kurs noch mit Ihrem Antrag machen können. Des-
halb meine gut gemeinte Anregung an Sie: Reden und
schreiben Sie nicht wider besseres Wissen dauernd so, als
ginge es bei der Frage bezüglich der IT-Spezialisten um ei-
nen Gegensatz! Das ist nämlich nicht der Fall; denn das
Sofortprogramm, das die Bundesregierung mit der Wirt-
schaft am 13. März vereinbart hat, enthält bereits deutli-
che Akzente für die Ausbildung unserer Jugendlichen und
für die Weiterbildung der Beschäftigten und der Arbeits-
losen in unserem Lande. Es geht also nicht um die Green
Card – ich sollte vielleicht im CDU-Jargon besser sagen:
um die Inder Card – anstelle von Ausbildung oder Be-
schäftigung von weitergebildeten Arbeitslosen, sondern
um eine sinnvolle Verknüpfung.


(Beifall bei der SPD)

Ihre Anträge zu den Punkten Ausbildung und Weiter-

bildung kommen zu einem reichlich späten Zeitpunkt.
Darüber hinaus richten sich diese Anträge an die falsche
Adresse. Sie dürfen nicht die jetzige Bundesregierung zum
Handeln auffordern, sondern Sie müssen sich selbst fra-
gen, was Sie alles versäumt haben. Ich muss die Mitglie-
der der abgewählten Regierung daran erinnern, dass wir in
der letzten Legislaturperiode in der Enquete-Kommission
„Informationsgesellschaft“ schon jede Menge Erkennt-
nisse gewonnen und Handlungsvorschläge entwickelt ha-
ben, die aber offenbar nicht in das Konzept des alten Zu-
kunftsministers passten.


(Jörg Tauss [SPD]: Da wollte der Zeitlmann noch Software verbieten! So war es!)


Die neue Bundesregierung, allen voran der Bundes-
kanzler, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Mit dem Bünd-
nis für Arbeit und mit unserem IT-Sofortprogramm haben
wir gehandelt. Wir führen jetzt endlich eine bildungspoli-
tische Debatte, wie wir in unserem Land junge Schulab-
gänger für die richtige Qualifikation gewinnen können


(Ludwig Stiegler [SPD]: Koalition der Tat!)

und wie wir die Einsicht in lebenslanges Lernen und Wei-
terbildung im Betrieb fördern, damit wir die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst über den

Umweg Arbeitslosigkeit in Weiterqualifizierungsmaß-
nahmen bringen müssen.


(Beifall bei der SPD)

In den vier IT-Berufen werden schon jetzt im dualen

System – ich sage es ganz langsam zum Mitschreiben –
insgesamt 26 500 junge Menschen ausgebildet.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

Alleine 1999wurden insgesamt 12 837 neueAusbildungs-
verträge abgeschlossen.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

Unser Ziel ist es, dass statt 40 000 im Jahre 2003
60 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen werden. Dazu
muss die Wirtschaft ihre gegebene Zusage halten, ent-
sprechende Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Wir werden die Unternehmen nicht aus der Pflicht zur be-
trieblichen Ausbildung entlassen. Gott sei Dank zeigen ja
die Tarifabschlüsse, dass der richtige Weg beschritten
wird.

Das Gleiche gilt für die Weiterbildung.Wenn schon in
einer Boombranche, in der die Halbwertszeit des Wissens
gerade einmal fünf Jahre beträgt, die Beschäftigungsaus-
sichten so gut sind, wie sie uns die Wirtschaft prognosti-
ziert, dann dürfen wir vonseiten der Politik auch erwarten,
dass hier eine Eigenanstrengung in Sachen Weiterbildung
erfolgt. In diesem Zusammenhang danke ich der F.D.P.,
dass sie uns mit ihrem Antrag in dieser Beziehung unter-
stützt.

Alle reden doch davon, dass unsere bundesrepublika-
nischen Schätze nicht im Boden liegen, sondern in den
Köpfen der Menschen schlummern. Also müssen wir die-
se Schätze auch heben und dürfen die Menschen nicht mit
40 Jahren in die Ecke stellen. Deshalb können wir auf die
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – ich muss
fragen, was denn überhaupt „älter“ bedeutet und ab wann
man älter ist; wir alle sind wahrscheinlich zu alt – und auch
auf die älteren Arbeitslosen im Zuge dieser rasanten Ent-
wicklung nicht verzichten.

Allerdings stehen und fallen die Beschäftigungschan-
cen mit der Bereitschaft der Unternehmen, deren Wissen
up to date zu halten. Auch das ist Inhalt des Sofortpro-
gramms, nämlich diese Menschen einzustellen und nicht
generell durch Jüngere oder durch Arbeitskräfte aus dem
Ausland zu ersetzen.

An dieser Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht
verkneifen: IT-Spezialisten, meine Herren, sind nicht aus-
schließlich männlichen Geschlechts.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil diese neuen Technologien gerade für Frauen Chan-
cen für eine Neuverteilung ihrer Arbeitszeit, zum Beispiel
durch Telearbeit und durch Teilzeitarbeit, und für eine bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten, muss der
Frauenanteil bei der Ausbildung und Beschäftigung deut-
lich erhöht werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Da haben wir auch ein Programm!)







(C)



(D)



(A)



(B)


Nicht umsonst unternehmen wir auch bei der Änderung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes Anstrengungen, Frau-
en – es dürfen auch Väter sein – während der ersten Le-
bensjahre der Kinder in großzügiger Weise Teilzeitarbeit
zu ermöglichen, damit sie, die Frauen, den Anschluss nicht
verlieren und die Unternehmen möglicherweise ihre be-
sten Mitarbeiter.


(Beifall bei der SPD)

Wir müssen jetzt alle dazu beitragen, dass unsere jun-

gen Menschen Interesse an diesen zukunftsträchtigen Be-
rufsfeldern haben. Deren Studienneigung können wir nur
dann erhöhen, wenn die jungen Menschen wissen, dass ih-
re Studienzeit gut angelegt ist und dass sie anschließend
auch Beschäftigung finden. Deshalb liegt es jetzt auch an
den nachfragenden Unternehmen, Signale zu geben: den
akuten Bedarf jetzt durch ausländische Spitzenkräfte zu
decken, aber bei der weiteren Planung auf heimische Kräf-
te zu setzen.


(Beifall bei der SPD)

Bis dahin – ein Studium dauert nun einmal, selbst bei ver-
kürzter Studienzeit, zwischen drei und fünf Jahren – soll-
ten wir alle an einem Strang ziehen und sämtliche Mög-
lichkeiten ausschöpfen: die Umqualifizierung von Ar-
beitslosen aus anderen, verwandten Fachrichtungen, die
Einstellung auch von älteren Arbeitslosen und die ver-
stärkte Weiterbildung von allen Arbeitnehmern. Dies ist
nicht nur eine Aufgabe der Bundesanstalt, sondern eben
auch der Betriebe.


(Beifall bei der SPD)

Zwar hat die Bundesanstalt hier gute Ergebnisse vorzu-
weisen – sie vermittelte je nach Region immerhin zwi-
schen 70 und 100 Prozent der Weitergebildeten –, aber
Aus- und Weiterbildung können wir, auch wenn es jetzt
nur um den IT-Bereich geht, nicht generell der Bundesan-
stalt für Arbeit aufs Auge drücken.

Trotzdem stellen wir uns der Verantwortung für die ar-
beitslos Gemeldeten. Die Bundesanstalt für Arbeit wird ih-
re Weiterbildungsanstrengungen noch einmal verstärken.
Der Minister sagte es heute Morgen schon. Statt 35 000
Teilnehmern werden wir 40 000 Teilnehmer ins Programm
bringen. Das kostet natürlich auch etwas mehr. Ich bin ge-
spannt, ob wir dafür Ihre Unterstützung bekommen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Die Zukunft gewinnen wir nicht mit Nörgeln und Post-

kartenaktionen,

(Beifall bei der SPD)


sondern mit Mut und dem Willen, Probleme jetzt schnell
und unbürokratisch zu lösen.


(Jörg Tauss [SPD], an die CDU/CSU gerichtet: Nörgler! Obernörgler!)


Die Bundesregierung handelt genau nach dieser Maxime,
während Sie von der Opposition – nicht alle – noch schlin-
gern und vor lauter Übersteuern und Überfrachten plötz-
lich mit der ganz eng eingegrenzten IT-Spezialisten-Nach-
frage in der Zuwanderungs- und Ausländerecke landen.

Das macht Sie nicht zukunftsfähig, sondern zu den Be-
denkenträgern des Jahres.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409909000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3012 und 14/3023 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie sollten die zurücknehmen! Das ist besser! Die Ausschüsse gar nicht damit belästigen!)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz)

– Drucksache 14/282 –

(Erste Beratung 16. Sitzung)

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Rainer Funke, Dr. Guido Westerwelle, Ulrich
Heinrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Geset-

(Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung)

– Drucksache 14/207 –

(Erste Beratung 16. Sitzung)

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Ker-
sten Naumann und der Fraktion der PDS einge-
brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände-

(Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel)

– Drucksache 14/279 –

(Erste Beratung 16. Sitzung)

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz)

– Drucksache 14/758 –

(Erste Beratung 39. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 14/3165 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Hans-Christian Ströbele
Rainer Funke
Sabine Jünger
Norbert Röttgen




Doris Barnett
9258


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich weise darauf hin, dass wir nachher über den Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des
Grundgesetzes namentlich abstimmen werden. Es liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-Frak-
tion hat der Kollege Hermann Bachmaier.


Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1409909100
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen und Herren! Drei Worte sollen nach dem Wil-
len der großen Mehrheit des Bundestages zum Schutz der
Tiere in die Verfassung aufgenommen werden. Darauf ha-
ben sich alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU
verständigt. Der Bundestag beschäftigt sich heute nicht
zum ersten Mal mit diesem Anliegen. Schon in den letz-
ten beiden Legislaturperioden haben sich Bundestag und
Bundesrat mit diesem wichtigen Gesetzgebungs- und Ver-
fassungsanliegen auseinander gesetzt.

Seit Anfang 1999 liegen uns wiederum Gesetzentwür-
fe der einzelnen Fraktionen und des Bundesrates vor. Wir
halten es, wie es die Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zum Ausdruck bringt, für sinnvoll, den
Schutz derTiere als Staatsziel dem bereits im Jahre 1994
in die Verfassung aufgenommenen Staatsziel Umwelt-
schutz anzufügen. Bei der abschließenden Entscheidung
des Bundestages nach den Beratungen der Verfassungs-
kommission im Jahre 1994 ist eine Verankerung des Tier-
schutzes als Staatsziel im Grundgesetz am hartnäckigen
Widerstand von CDU/CSU gescheitert. Lediglich eine
wortreiche, aber letztlich unverbindliche Entschließung
wurde damals verabschiedet.


(Ludwig Stiegler [SPD]: So sind sie halt!)

Deren Ziel war es, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu
streuen und zu verschleiern, dass zumindest die Führung
der Union einen verfassungsrechtlich legitimierten und
im Grundgesetz verankerten Tierschutz mit allen Mitteln
verhindern will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Heute droht diesem für einen wirksamen Tierschutz
zentralen Anliegen wieder das gleiche Schicksal.


(Zuruf von der F.D.P.: Nicht so schnell!)

Mit zum Teil höchst widersprüchlichen Erklärungen ha-
ben die Verantwortlichen der Unionsfraktion gestern mit-
geteilt, dass sich die größte Oppositionsfraktion auch heu-
te weigern will, dem Tierschutz endlich seinen ihm ange-
messenen Platz in unserer Verfassung zuzuweisen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Hört! Hört!)

Dabei wissen wir nicht zuletzt aus dem Brief, den Frau

Merkel noch am 4. Januar dieses Jahres an den Präsiden-
ten des Deutschen Tierschutzbundes geschrieben hat, dass
es innerhalb der Union – und uns ist nicht entgangen: auch
innerhalb der CDU/CSU-Fraktion – unterschiedliche Auf-
fassungen, wie es in dem Brief hieß, zur Aufnahme des

Tierschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz gibt. Wir
wissen, dass es Angehörige Ihrer Fraktion gibt, die gern
zugestimmt hätten. Ich komme noch einmal darauf zurück.

Wir fragen uns natürlich, was die Fraktions- und Par-
teispitze der Union bewegt, so nachhaltigen Druck auch
auf diejenigen Abgeordneten der Union auszuüben, die
gern dem von uns vertretenen Anliegen zu der notwendi-
gen Zweidrittelmehrheit im Bundestag verhelfen würden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist noch das System Kohl!)


Die 1994 genährte Illusion, der verfassungsrechtliche
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen umfasse
auch – wie es damals wörtlich hieß – „prinzipiell“ den
Tierschutz, ist mittlerweile längst widerlegt. Auf die drän-
genden Fragen, die sich bei unnötigen Tierversuchen,
quälenden Tiertransporten und im Bereich der Massen-
tierhaltung stellen, gibt der verfassungsrechtliche Schutz
der natürlichen Lebensgrundlagen alleine keine Antwort.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie wissen ganz genau, dass es darauf nicht ankommt!)


Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 18. Juni 1997 wissen wir expressis ver-
bis, dass der Tierschutz in den oft schwierigen Abwä-
gungsprozessen mit grundgesetzlich geschützten Belan-
gen unter den Tisch fallen muss. Wenn aber der Tierschutz
endlich seine ihm angemessene Stellung innerhalb der
Werteordnung des Grundgesetzes erhält, werden Gesetz-
gebung, Verwaltung und Gerichte dieses Anliegen schon
aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht außer Acht las-
sen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das scheint wohl auch der wahre Grund für den hart-
näckigen Widerstand zu sein, mit dem sich eine mächtige
Minderheit gegen die von einer breiten Mehrheit der Be-
völkerung gewünschte Verfassungsergänzung stemmt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sind Spenden geflossen?)


Dabei geht es nicht darum, den Tierschutz mit einem Vor-
rang vor anderen wichtigen Verfassungsgütern auszustat-
ten. Es geht lediglich darum, dass der Tierschutz endlich
einen ihm angemessenen Platz in unserer Verfassung er-
hält, damit er nicht gegenüber anderen Belangen schon
von vornherein unter die Räder kommt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da müssen Sie aber noch viel reinschreiben!)


Es reicht eben nicht aus, Herr Geis, in § 1 unseres
durchaus fortschrittlichen Tierschutzgesetzes festzulegen,
dass Tiere als Mitgeschöpfe geschützt sind und ihnen –
wie es so schön heißt – ohne vernünftigen Grund keine
Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden dür-
fen. Es reicht auch nicht aus, dass wir heute schon in acht
Landesverfassungen, unter anderem in Bayern und bald
auch in Baden-Württemberg, den Tierschutz als Staatsziel
verankert haben und dass wir schon vor zehn Jahren im
Bürgerlichen Gesetzbuch auf Anregung des damaligen




Vizepräsidentin Petra Bläss

9259


(C)



(D)



(A)



(B)


Justizministers Engelhard festgelegt haben, dass Tiere
nicht als Sache anzusehen sind.

Wenn wir es mit einem wirksamen Tierschutz ernst
meinen und ihm auch seine Daseinsberechtigung im Kon-
fliktfall nicht streitig machen wollen, muss er endlich als
Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein Fehlschluss!)


Denn in unserer Verfassung haben wir alle zentralen
Grundwerte und Grundüberzeugungen, die unsere Gesell-
schaft prägen, niedergelegt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nicht alle!)

Nehmen wir den Tierschutz nicht endlich in die Verfas-
sung auf, werden alle noch so schönen einfachgesetzlichen
Regelungen, Staatsziele in Landesverfassungen, Ent-
schließungen des Bundestages und alle sonstigen vielfäl-
tigen Bekenntnisse und Sonntagsreden zum Tierschutz
letztlich doch Makulatur bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Vor knapp 30 Jahren wurde dem Bund durch eine Ver-
fassungsänderung die Gesetzgebungskompetenz für den
Tierschutz übertragen, weil Bundestag und Bundesrat er-
kannt hatten, dass es sich um eine Aufgabe handelt, die ei-
ner bundesweiten Regelung bedarf.
Einerseits sind seitdem unser Wissen und unsere Erkennt-
nisse über die Leidens- und Empfindungsfähigkeit von
Tieren erheblich gewachsen. Andererseits werden wir aber
immer wieder Zeugen von geradezu barbarischen
Tiertransporten, unnötigen Tierversuchen oder anderen
Formen der Tierquälerei.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass das nichts mit der Verfassung zu tun hat!)


Wir Sozialdemokraten gehören nicht zu denjenigen, die
so tun, als ob wir diese ganzen Missstände durch die drei
Wörter beseitigen könnten, um die wir unsere Verfassung
in Art. 20 a gerne ergänzt hätten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hört sich ja positiv an!)


Wir wissen aber auch, dass es einen auf Dauer angelegten
und seine Wirkung stetig entfaltenden Tierschutz nicht ge-
ben wird, wenn sich unsere Verfassung bei diesem für ei-
ne humane Gesellschaft unverzichtbaren Anliegen in
Schweigen hüllt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist übertrieben, Herr Bachmaier!)


Sinn und Zweck von Staatszielen ist es nicht, die Welt
von heute auf morgen umzukrempeln. Ihr Ziel ist es,
Grundorientierungen zu geben und Wertmaßstäbe zu set-
zen, die bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und bei
den Entscheidungen der Gerichte zu berücksichtigen sind.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben doch schon ein hervorragendesTierschutzgesetz!)


– Dann können Sie doch zustimmen, wenn Sie dem Ver-
fassungsrang verleihen wollen, Herr Geis.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann brauchen wir es doch nicht mehr!)


Aber vor dem entscheidenden Akt einer Verankerung in
der Verfassung schrecken Sie zurück. Das haben Sie bei
der ersten Lesung in einem Zwischenruf auch wunder-
schön zum Ausdruck gebracht. Lesen Sie einmal nach!
Dieser Zwischenruf ist entlarvend.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich lehne das ab! Dabei bleibe ich!)


Es ergeben sich nicht selten Konflikte zwischen den
nicht immer leicht in Einklang zu bringenden Verfas-
sungszielen. Aufgabe von Gesetzgebung, Verwaltung und
Justiz ist es aber, die oft unterschiedlichen Wertmaßstäbe
miteinander so in Einklang zu bringen, dass die einzelnen
in der Verfassung verankerten Zielsetzungen ihre jeweils
angemessene Berücksichtigung finden.

An die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Frak-
tion appellieren wir deshalb, frei und unabhängig, wie es
bei Verfassungsfragen so grundsätzlicher Bedeutung ei-
gentlich selbstverständlich sein sollte, zu entscheiden. Ich
bin mir sicher und weiß es aus meiner langjährigen Be-
schäftigung mit diesem Vorhaben auch, dass es bei Ihnen
nicht wenige gibt, die einer Verankerung des Tierschutzes
als Staatsziel im Grundgesetz lieber heute als morgen zu-
stimmen würden. Auch wenn wir nicht verkennen, dass
die Geschlossenheit einer Fraktion im parlamentarischen
Alltag von großer Bedeutung ist, sollte es entsprechend
der Tradition des Bundestages wenigstens bei wichtigen
Verfassungsfragen zu Entscheidungen kommen, die vor-
rangig an dem jeweils zur Entscheidung anstehenden An-
liegen orientiert sind. Bei der Verankerung des Tierschut-
zes im Grundgesetz geht es nicht um Machtfragen zwi-
schen Regierung und Opposition. Diesem Ziel sollten wir
uns alle unabhängig von unserem jeweiligen politischen
Standort verpflichtet fühlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer einen auf Dauer angelegten wirksamen Tierschutz
wirklich will, muss dafür auch die verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen schaffen. Deshalb bitte ich um Ihre Zu-
stimmung. Diese Bitte richte ich besonders auch an die
Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409909200
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Röttgen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt kommen die wahren Gründe! – Werner Lensing [CDU/ CSU]: Ein Stern geht auf! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Da leuchtet das Firmament!)





Hermann Bachmaier
9260


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1409909300
Frau Präsidentin! Mei-
ne sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich zu der
sachlichen Auseinandersetzung in dieser Debatte komme,
liegt mir und liegt uns sehr daran zu betonen, worüber wir
heute nicht streiten. Wir streiten nicht über die Bedeutung
und den grundlegenden Stellenwert, den der Tierschutz in
unserer Gesellschaft hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von niemandem, der Herz und Verstand hat, wird der

grundlegende Konsens in unserer Gesellschaft in Zweifel
gezogen. Das ist der Konsens, dass der Schutz der Tiere
ein essenzieller Bestandteil jeder humanen Gesellschaft
ist, dass die Anerkennung der Würde der Tiere zu den zi-
vilisatorisch-kulturellen Elementen unserer Rechtsord-
nung zählt und dass wir Christen sagen, dass die Tiere Teil
der Schöpfung sind und daher eine eigene Würde haben,
der wir gerecht werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das ist die Wertschätzung, die wir als CDU/CSU dem
Tierschutz in der Gesellschaft einräumen, und zwar nicht
als Lippenbekenntnis. Dies ist für uns vielmehr die Grund-
lage einer aktiven konkreten Tierschutzpolitik, die die Vor-
gängerregierung, die im Ergebnis ein weltweit konkur-
renzlos hohes Niveau des Tierschutzes vorweisen kann,
gerade in den letzten Jahren betrieben hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Werner Lensing [CDU/CSU]: Ganz eindeutig!)


Ich betone das übrigens nicht deshalb, um hier recht-
haberisch zu sein oder um zu bestreiten, dass es noch De-
fizite gibt. Die gibt es und die müssen wir abbauen. Ich be-
tone dies, um klarzumachen, worüber wir heute streiten:
nicht über den Tierschutz, sondern darüber, welche Wege
geeignet sind, um in unserem Land den Tierschutz noch
weiter zu verbessern.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Das nehme ich Ihnen nicht ganz ab! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht reden, tun!)


Das ist die Streitfrage.
Wir alle wissen, dass dieses Thema nicht nur eine Fra-

ge des Verstandes ist. Tierschutz ist auch etwas, was unser
Gefühl anspricht. Das ist nicht nur verständlich, sondern
es ist auch gut so, dass das Leiden der Tiere, das es gibt,
auch unser Gefühl anspricht. Aber das befreit uns nicht
von der Pflicht, unseren Verstand ganz nüchtern zu ge-
brauchen angesichts der Frage: Was können wir denn kon-
kret und effektiv tun, damit es mehr Tierschutz gibt? Die-
se Frage müssen wir ganz nüchtern beantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach den sehr langen Beratungen, nach der Sachver-

ständigenanhörung im Rechtsausschuss und nach intensi-
ven Gesprächen sind es im Kern zwei Gründe, warum wir
sicher sein können, dass mit einer Staatszielbestimmung
kein Beitrag zu einem effektiven Tierschutz geleistet wird.
Der erste Grund ist: Wir müssen – auch nach der Sach-
verständigenanhörung – zur Kenntnis nehmen, dass eine
Staatszielbestimmung in ihrer Allgemeinheit, in der

Weite ihrer Formulierung ungeeignet ist, konkreten Tier-
schutz herbeizuführen. Tierschutz ist entweder konkret
oder er ist gar nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch ein im Grundgesetz verankertes Staatsziel Tier-

schutz wird die Käfigfläche einer Legehenne nicht um ei-
nen Quadratzentimeter größer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier könnten Sie handeln. Es gibt in diesem Bereich zwar
EU-Regelungen, aber die legen nur Mindeststandards
fest. Sie könnten hier mehr tun. Da wo die Bundesregie-
rung etwas verändern könnte, da handelt sie nicht. Sie tut
nichts Konkretes für den Tierschutz. Sie flüchtet sich
vielmehr in nebulöse Aktionen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werfen der Bundesregierung vor, dass sie sich ein

tierschutzpolitisches Alibi erarbeiten möchte. Die Bilanz
der Regierung im Tierschutz ist null. Sie hat noch nichts
geleistet. Machen Sie keine großen Worte, sondern han-
deln Sie konkret dort, wo Sie können! Ändern Sie zum
Beispiel die Hennenhaltungsverordnung. Das müssen Sie
tun, wenn Sie etwas erreichen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Da haben die noch nichts gemacht! – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Grund ist: Tierschutz ist heutzutage nicht
mehr national, sondern nur noch europäisch und interna-
tional machbar


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


– genau –, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens ist der
Tierschutz bereits heute Gegenstand der europäischen Ge-
setzgebung. Es ist nicht mehr so wichtig, was in dieser
Hinsicht in den nationalen Verfassungen steht. Vielmehr
ist entscheidend, was in der entsprechenden europäischen
Richtlinie dazu steht. Darum hat sich Ihre Vorgängerre-
gierung unter dem Bundeslandwirtschaftsminister Jochen
Borchert dafür eingesetzt, dass der Tierschutz im EG-
Recht verankert wird. Er hat dabei enorme Fortschritte er-
zielt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Werner Lensing [CDU/CSU]: Das waren noch Zeiten!)


Die frühere Bundesregierung war dafür, den Tierschutz
im EG-Vertrag zu verankern. Wir haben uns nicht durch-
setzen können, weil es in Europa kulturelle Unterschiede
gibt. Aber wir haben eine verbindliche Protokollerklärung
erreicht. Diese europarechtliche Anerkennung des Tier-
schutzes ist mehr, als Sie jemals für den Tierschutz getan
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir würden uns freuen, wenn die jetzige Bundesregie-

rung ähnliche Aktivitäten in Europa unternehmen würde,
wenn sie so wie wir auf europäischer Ebene für den






(C)



(D)



(A)



(B)


Tierschutz kämpfen und hier nicht nur billige Reden hal-
ten würde.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben doch noch gar nicht geredet! – Hermann Bachmaier [SPD]: Und was steht jetzt dem entgegen, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen?)


Da müssen Sie handeln. Da wo Sie handeln könnten, tun
Sie aber nichts.

Die Strategie der Durchsetzung unserer hohen nationa-
len Standards auf europäischer und internationaler Ebene
ist auch deshalb zur Herbeiführung eines effektiven Tier-
schutzes erforderlich,


(Hermann Bachmaier [SPD]: Aber auch innerstaatlich!)


weil die betroffenen Einrichtungen und Betriebe unser
Land verlassen werden, wenn wir nur national die Stan-
dards erhöhen. Diese Gefahr müssen wir sehen.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Eine sehr große Gefahr!)


Das ethische Dilemma höherer nationaler Standards im
Tierschutz ist, dass es im Ergebnis möglicherweise zu we-
niger Tierschutz kommt, weil die Tierversuche dann in an-
deren Ländern durchgeführt werden. Diesem Dilemma
muss sich jeder stellen. Darum müssen wir auf europä-
ischer Ebene handeln, da wird die entscheidende Schlacht
geschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Outsourcing der Tiere! – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles nur Verschiebepolitik!)


All das, was ich bisher gesagt habe, trifft auch auf die
Problematik der Tierversuche zu. Tierversuche sind weit-
gehend international geregelt. Wir haben europa- und
weltweit die schärfsten Bestimmungen.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Aber es steht nichts in der Verfassung!)


Danach sind Tierversuche nur zu bestimmten Zwecken er-
laubt. Neben der Grundlagenforschung geht es im Kern
um den Schutz der menschlichen Gesundheit.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Unter strengsten Auflagen!)


Zwei Drittel unserer Bevölkerung sagen: Unter den gel-
tenden engen Restriktionen, also nur zu den genannten
Zwecken und wenn der Tierversuch wissenschaftlich nicht
zu ersetzen und darüber hinaus ethisch vertretbar ist – das
sind die engen, weltweit einmaligen Voraussetzungen für
Tierversuche –, und in Abwägung der Sachverhalte sind
wir für Tierversuche.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Nur, die greifen nicht immer, Herr Röttgen!)


Meine Damen und Herren, wir werfen Ihnen nicht nur
vor, dass das Projekt, das Sie propagieren, wirkungslos ist,
weil es keinen konkreten Tierschutz beinhaltet. Besonders

ärgerlich ist vielmehr, dass Sie den Menschen etwas vor-
machen.


(Zuruf von der SPD: Das machen doch Sie!)

Mit diesem Vorhaben wird den Bürgern in unserem Lan-
de suggeriert: Wenn wir den Tierschutz in die Verfassung
aufnehmen, haben wir einen enormen Fortschritt gemacht.
Genau das aber ist nicht der Fall. Sie machen den Men-
schen etwas vor. Das ist kein verantwortlicher Umgang
mit den Bürgern in unserem Land, kein verantwortlicher
Umgang mit dem Anliegen des Tierschutzes – Sie erar-
beiten sich nur ein tierschutzpolitisches Alibi, nehmen den
Druck vom Thema Tierschutz – und auch kein verant-
wortlicher Umgang mit der Verfassung unseres Landes.

Dies ist der letzte Gesichtspunkt, den ich anführen
möchte: Unsere Verfassung lebt von ihrer konkreten Ver-
bindlichkeit. Es ist kein Zufall, dass die Mütter und Väter
des Grundgesetzes weitgehend keine Staatsziele vorgese-
hen haben, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.
Sie wollten eine konkrete Verfassung,


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das war gut so! Vorausschauend!)


keine Verfassung, die Programme beinhaltet, die viele
Worte macht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409909400
Herr Kollege Röttgen,
ich muss Sie an Ihren eigenen Satz erinnern. Ich bitte Sie,
zum Schluss zu kommen.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1409909500
Ich komme zum
Schluss.

Diese Verbindlichkeit, diese Wertschätzung unserer
Verfassung wollen wir erhalten. Wir wollen die Verfassung
nicht mit Programmsätzen beladen, von denen die Bürger
enttäuscht sein müssen. Wir treten weiter für die ethische
Dimension des Tierschutzes und für eine konkrete, aktive
Tierschutzpolitik ein.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das sind jetzt aber große Worte! Heiße Luft!)


Führen Sie die Politik Ihrer Vorgängerregierung weiter!
Dann machen Sie sich auch um den Tierschutz in unserem
Land verdient.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409909600
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulrike
Höfken.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409909700
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kol-
legen Röttgen ist tatsächlich kaum fassbar – verlogen und
widersprüchlich bis ins Letzte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)





Norbert Röttgen
9262


(C)



(D)



(A)



(B)


Hier wird – und das von einem Juristen – die Verbind-
lichkeit der Verfassung eingeklagt. Greifen wir einmal
einige Artikel heraus, zum Beispiel: „Die Würde des Men-
schen ist unantastbar“ und „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“. Sind das etwa rechtliche Grundlagen,
die eine Verbindlichkeit beinhalten? Kann die Würde des
Menschen im Einzelfall nicht verletzt werden? All dies hat
doch zum Ziel, eine bestimmte ethische Grundhaltung
auszudrücken und einfach gesetzliche Bestimmungen zur
Geltung zu bringen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bei den Grundrechten geht es glücklicherweise um mehr, Frau Kollegin!)


Genau das soll durch die Aufnahme des Tierschutzes in die
Verfassung erreicht werden. Sie wissen es doch ganz ge-
nau: Nur darum geht es. Es ist nicht von einer Erhöhung
der Standards die Rede.

Ich fand es im Übrigen interessant, dass Sie gesagt ha-
ben, höhere Standards könnten das ethische Gleichgewicht
der Bevölkerung möglicherweise durcheinander bringen.
Oder wie haben Sie es verstehen wollen?


(Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie haben es nicht verstanden!)


Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
An unseren Landwirtschaftsminister gerichtet fordern

Sie in einem Entschließungsantrag die höheren nationa-
len Standards. Gleichzeitig aber sagen Sie, dass dies die
europäische und die sonstige Rechtsprechung erheblich
durcheinander bringen könnte, und das noch eingedenk
der Tatsache, dass die Verfassungsänderung das überhaupt
nicht bewirkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Widersprüchlichkeit bezieht sich nicht nur auf Ih-
re Äußerungen zu dem Vorhaben, diese drei Worte in der
Verfassung zu ändern, sondern auch ganz konkret und di-
rekt auf die Aussagen von nicht unbedeutenden
Persönlichkeiten Ihrer eigenen Partei. Sie animieren mich
dazu, einen Brief von Dr. Jürgen Rüttgers an den Tier-
schutzbund vorzulesen.


(Zuruf von der SPD: Wo ist er?)

– Er hat sich versteckt. – Da heißt es:

Bei mir persönlich laufen Sie mit Ihrem Anliegen,
den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz
aufzunehmen, offene Türen ein. Ich habe mich schon
früh dafür eingesetzt, dass die CDU ihre bisherige
Haltung in dieser Frage revidiert;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

denn ich weiß, dass der Tierschutzgedanke bei vielen
Mitgliedern der CDU und Wählern hohe Wertschät-
zung genießt.
Der Landesvorstand der CDU-NRW hat 1999 einen
Beschluss gefasst, wonach das Staatsziel Tierschutz
in die Verfassung aufgenommen werden soll. Dieser

Beschluss sieht vor eine Ergänzung des Art. 20 a GG.
Der Artikel soll um den Passus „und die Tiere“ er-
weitert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist genau das, was wir Ihnen hier anbieten. Das heißt,
ein größeres Entgegenkommen bei all den Diskussionen
gibt es wahrhaftig nicht.

Übrigens kann man noch hinzufügen – Frau Wöhrl ist
auch da –: Am 24. März 2000 gab es im Bayerischen
Landtag einen Antrag der CSU zur Aufnahme des Tier-
schutzes in das Grundgesetz. In diesem sprach sie sich
ebenfalls für die Ergänzung des Art. 20 a des Grundgeset-
zes aus. – Das zu Ihrer Widersprüchlichkeit und Inkonse-
quenz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zur Sache! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zum Tierschutz!)


– Jawohl.
Wider besseres Wissen und in Kenntnis der anders lau-

tenden gerichtlichen Entscheidungen begründet die Uni-
on ihr Abstimmungsverhalten reichlich abstrus. Die alten
Begründungen zur Verfassungsdiskussion von 1994 haben
ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass CDU und CSU das
Anliegen, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen,
unterstützen. So hat es die CDU in ihrem Entschließungs-
antrag ausdrücklich festgehalten.

Genauso ist zu konstatieren, dass die gerichtlichen Ur-
teile in den letzten sechs Jahren belegt haben, dass dieses,
Ihr ursprüngliches Anliegen nicht erfüllt ist. Es hat nach
der Änderung der Verfassung 1994, als der Tierschutz
nicht aufgenommen wurde, ein eindeutiges Urteil gege-
ben, in dem die Verfassungsrichter explizit gesagt haben:
Da der Tierschutz nicht in das Grundgesetz aufgenommen
worden ist, gibt es eine entsprechende Rechtsgrundlage
für die einfachgesetzliche Regelung des Tierschutzgeset-
zes nicht. Das ist Ihnen alles bekannt. Diese Verfassungs-
entscheidungen sind übrigens im Laufe der Jahre wieder-
holt und verfestigt worden. Das heißt, Ihre ursprüngliche
Absicht, den Tierschutz aufzunehmen, haben Sie nicht er-
füllt. Das ist belegt.

Gleichzeitig begründen Sie einen Fraktionszwang da-
mit,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum sagen Sie nichts zum Tierschutz! Irgendein Argument! Sie müssen einmal ein Argument nennen!)


dass Sie sagen – das hat Klaus Lippold, stellvertretender
Fraktionsvorsitzender am 12.April 2000 getan –, in Bezug
auf den Tierschutz werde keine Gewissensentscheidung,
sondern eine Sachentscheidung getroffen. Dazu muss man
sagen: Genau das ist der Geist der CDU. Es hat sich nichts
geändert, noch nicht einmal nach der Entscheidung von
1990, wonach Tiere eben keine Sache sind.




Ulrike Höfken

9263


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Insofern ist der Entschließungsantrag der CDU/CSU-
Fraktion, der heute zur Abstimmung steht, geradezu
lächerlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben ihn gar nicht durchgelesen!)


Übrigens hat Ihr Kollege Christian Wulff im Hinblick
auf die europäische Dimension, die Sie einfordern und die
wir vollstens unterstützen und umsetzen, seine Auffas-
sung, dass der Tierschutz in die Verfassung aufgenommen
werden sollte, damit begründet, dass Deutschland damit
effektiver für europäische Tierschutznormen eintreten
könne. Das ist eine berechtigte Einlassung.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Unsere Normen sind besser als die in Europa!)


CDU und CSU bleiben bei ihrer Betonpolitik und de-
montieren sich gleichzeitig selbst. Die große Mehrheit der
Bevölkerung, der Deutsche Bauernverband, die Bundes-
tierärztekammer und viele unterschiedliche – prominente
und weniger prominente – Persönlichkeiten unterstützen
dagegen die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung
auch heute. Darunter sind so unterschiedlicheMenschen –
das können Sie alles in der „Berliner Zeitung“ von heute
nachlesen; etliche, wenn auch natürlich nicht alle, unter-
stützen im Allgemeinen die CDU – wie die Schauspieler
Uschi Glas und Will Quadflieg, wie Reinhold Messner, der
Autor Franz Alt, die „Zeit“-Herausgeberin Dr. Marion
Gräfin Dönhoff, die Bischöfin Maria Jepsen, der Altbun-
destrainer Berti Vogts. Das heißt, die CDU entscheidet
sich mit ihrem Nein zur Verfassungsänderung dafür, sich
gegen die große Mehrheit der Bevölkerung zu stellen.

Und sie untergräbt mit ihrem Nein – das will ich noch
einmal betonen – zur Aufnahme des Tierschutzes in die
Verfassung die rechtlichen Grundlagen des geltenden Tier-
schutzgesetzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Betriebe und die Forschungseinrichtungen, die sich
bereits heute an das geltende Tierschutzgesetz halten – das
ist die absolut überwiegende Mehrzahl –, werden im Wett-
bewerb weiter benachteiligt. Sie müssen sich doch einmal
überlegen, wen Sie eigentlich schützen: ein paar Verrück-
te, die sich jenseits des Gesetzes stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die schützen wir doch nicht!)


Genau das ist doch der Effekt Ihres Verhaltens.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ja völlig absurd, was Sie sagen!)

Wir appellieren an die Abgeordneten der CDU/CSU,

trotz des anders lautenden Fraktionsbeschlusses der Än-
derung des Grundgesetzes zuzustimmen


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nichts begriffen, sonst könnten Sie so etwas nicht sagen!)


und damit endlich dem zur Durchsetzung zu verhelfen,
was das Tierschutzgesetz schon immer fordert, nämlich
das Tier als Mitgeschöpf und als Lebewesen zu respektie-
ren und als solches zu behandeln.

In der Debatte eben, in der Herr Rüttgers geredet hat,
war von der roten Karte die Rede.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Bevölkerung wird uns dankbar sein!)


Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass die Bevölkerung der
CDU/CSU in diesem Punkt die rote Karte zeigt. Natürlich
werden wir im Übrigen die einfachgesetzlichen Möglich-
keiten ausschöpfen und überprüfen. Für die rechtlichen
Konsequenzen sind dann Sie verantwortlich.

Als Letztes: Sie haben die rechtliche Verbindlichkeit
unserer Verfassung angesprochen. Acht Bundesländer ha-
ben bislang den Tierschutz in ihre Verfassung aufgenom-
men. NRW wird nach einer gescheiterten Abstimmung
dazukommen – so steht es im Koalitionsvertrag und das
hat man dort auch zugesichert –, genauso wie Baden-
Württemberg. Das heißt, die Mehrheit der Länder hat ei-
ne Rechtsauffassung, die mit Ihrer Meinung auf Bundes-
ebene überhaupt nicht mehr zu vereinbaren ist. Darum ist
es nicht das letzte Mal, dass wir uns über dieses Thema
hier unterhalten.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409909800
Es spricht jetzt für die
F.D.P.-Fraktion der Kollege Rainer Funke.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1409909900
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Es wäre schon schön, wenn wir am En-
de dieser Debatte sagen könnten: Endlich, nach all den
Mühen, haben wir es geschafft, den Tierschutz im Grund-
gesetz zu verankern.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Denn kaum ein anderes verfassungsrechtliches Thema
berührt die Bevölkerung mehr als der Tierschutz. Das sieht
man an den zahlreichen Petitionen, wie ich aus persönli-
cher Erfahrung hinzufügen kann. Denn als ich in den 80er-
Jahren vier Jahre lang Obmann im Petitionsausschuss war,
habe ich gemeinsam mit Frau Berger für die Verbesserung
des Tierschutzes gekämpft. Damals ging es um die Tier-
transporte. Wir haben Erfolg gehabt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann man alles ohne Verfassungsänderung!)


– Das ist richtig, lieber Herr Geis. Aber auch an dieser Fra-
ge des allgemeinen Tierschutzes wird deutlich, dass eine
verfassungsrechtliche Absicherung erfolgen muss. Denn
die Bevölkerung erwartet, dass der Tierschutz einen höhe-
ren Rang bekommt, als er heute einnimmt.




Ulrike Höfken
9264


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen haben wir als F.D.P. – als erste Fraktion in
dieser Legislaturperiode – hier im Bundestag einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf zur Änderung des Grundge-
setzes eingebracht. In den Berichterstattergesprächen mit
den Koalitionsfraktionen haben wir einen gemeinsamen
und, wie ich finde, vernünftigen Weg gefunden, um den
Tierschutz in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern
und den Tierschutz mit unseren natürlichen Lebensgrund-
lagen gleichzustellen, was auch der Einstellung der Be-
völkerung entspricht.

Die Mehrzahl der Menschen in unserem Land will nicht
nur die natürlichen Lebensgrundlagen schützen, sondern
hat ein besonderes Verhältnis zu den Tieren, die sie des-
halb besonders geschützt sehen will. Wir sind als Juristen
und auch als Verfassungsrechtler aufgerufen, diesem Le-
bensgefühl der Menschen entsprechend zu handeln. Des-
wegen ist es richtig, den Schutz der Tiere als Staatsziel zu
postulieren,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann müssen Sie aber nochmehr in dieVerfassung schreiben!)


sodass der Gesetzgeber, Gerichte und die Verwaltung bei
der Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Zielen
das Staatsziel Tierschutz einzubeziehen haben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Diese Regelung des Art. 20 a des Grundgesetzes müste

auch mit den Zielen der CDU, einer christlichen
Partei, übereinstimmen. Deswegen werbe ich hier noch
einmal dafür, sich nicht länger gegen die Aufnahme des
Tierschutzes in die Verfassung zu sträuben.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD)

Geben Sie wenigstens die Abstimmung frei.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jeder ist nur seinem Gewissen verantwortlich, das wissen Sie doch!)


Denn viele in Ihrer Fraktion sind mit uns der Auffassung,
dass dieses Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben werden
soll.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen lediglich in unserem Grundgesetz etwas
dokumentieren, was für die allermeisten Menschen längst
tägliche Erfahrung ist: Tiere leben und bereichern unser
Leben, aber sie leiden auch. Beim Umgang mit Tieren ist
Menschlichkeit gefragt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir stimmen all dem zu!)


Die Art und Weise, wie man mit Tieren umgeht, sagt auch
etwas über die Lebenseinstellung einer Gesellschaft aus.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben nichts dagegen!)


Diese offene Formulierung, die wir im Konsens mit den
Koalitionsparteien gefunden haben, ermöglicht es, die Be-
lange und den Schutz der Tiere deutlich zu machen und so
einen Ausgleich zwischen berechtigten Interessen von
Menschen und Tieren zu erreichen. Diese Regelungen und
vorzunehmenden Abwägungen sind auch darauf gerichtet,
die berechtigten Interessen von Forschung und Lehre hin-
reichend zu berücksichtigen, wie das heute schon der Fall
ist.

Das Staatsziel Tierschutz wird insbesondere für den
einfachen Gesetzgeber ein Hinweis darauf sein, welchen
Rang der Tierschutz zukünftig einnehmen soll. Deshalb
kann ich überhaupt nicht verstehen, dass Kollegen unse-
res Hauses der vorgeschlagenen Kompromisslösung in
Art. 20 a des Grundgesetzes vielleicht nicht zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409910000
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409910100
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum
x-ten Male die Verankerung des Tierschutzes im Grund-
gesetz. Das ist ein Thema, das viele Gemüter bewegt und
von dem wir alle wissen, dass die Mehrheit der bundes-
deutschen Bevölkerung hinter dieser Forderung steht. Ich
hoffe, wir kommen doch noch zu einem guten Schluss.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kommt auf die Fragestellung an! – Weiterer Zuruf des Abg. Werner Lensing [CDU/CSU])


– Wenn Sie etwas fragen möchten, können Sie sich mel-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Sie sehen: Ich bin immer noch eine Optimistin, obwohl ich
Ihren Antrag sehr schlecht finde.

Auch in der letzten Legislaturperiode wurde die Veran-
kerung des Tierschutzes im Grundgesetz auf die Tages-
ordnung gesetzt. Die PDS hatte dazu einen eigenen Antrag
eingebracht. Doch die damalige Regierungskoalition ver-
hinderte eine Abstimmung, um ihren Bundestagswahl-
kampf nicht mit diesem Thema zu belasten. Denn für die
Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz gab es da-
mals keine Mehrheit in der Koalition. Seitens der
CDU/CSU gab es damals eine strikte Ablehnung. Man
wollte sichschließlichnichtdieWahlergebnissevermiesen.
Das hat nicht geklappt, meine Damen und Herren; natür-
lich auch aus anderen Gründen.
Ich wünsche Ihnen nach der heutigen Abstimmung, dass
auch die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen
Ihr Wahlverhalten gebührend würdigen werden.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Rainer Funke

9265


(C)



(D)



(A)



(B)


Wie sehr das Thema Tierschutz vielen Menschen am
Herzen liegt, zeigen die vielen Briefe, die wir gerade in
letzter Zeit wieder erhalten haben. Im Unterschied zu man-
chen anderen Protestaktionen waren es hier überwiegend
Bürgerinnen und Bürger und nicht nur Verbandsfunk-
tionäre und Unternehmer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilder von den
furchtbaren Tiertransporten, von Tierversuchen oder von
der Enge in den Legehennenbatterien erschüttern diese
Republik immer wieder.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die haben nichts mit der Grundgesetzänderung zu tun!)


Ich frage Sie: Was tun wir eigentlich dagegen, dass diese
Missstände endlich abgeschafft werden? Ein richtiger
Schritt wäre die Verankerung des Tierschutzes in Art.
20 a des Grundgesetzes.Die Freiheit von Forschung und
Wissenschaft muss endlich gegen den Tierschutz abge-
wogen werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Alle, die mit diesem Thema zu tun haben, wissen, dass die-
ser Schritt einen Schwanz von Konsequenzen für die
Rechtsprechung nach sich ziehen würde, einen juristi-
schen Schwanz, der den elenden Bedingungen bei Tier-
transporten ein Ende bereiten und die Pharmariesen mit
ihren massenhaften und oft unnötigen Tierversuchen in die
Schranken weisen könnte.


(Beifall bei der PDS – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Das hat doch nichts mit der Verfassungsänderung zu tun!)


Wenn ich mir den letzten Tierschutzbericht ansehe,
dann kann ich feststellen, dass Tierversuche wieder zu-
nehmen, gerade an Primaten. Das heißt doch im Klartext:
Wir brauchen endlich die Grundgesetzänderung, damit
Unternehmen eben stärker nach alternativen Methoden
suchen, damit an Tieren nicht mehr so viel geforscht wird,
nur um eine Promotion zu schreiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Bundestag lie-
gen heute eine Reihe von Anträgen vor. Auch die PDS hat
in dieser Legislaturperiode wieder einen Antrag einge-
bracht. Wir hoffen und wünschen, gemeinsam mit vielen
Tierschützern in der Bundesrepublik, dass sich die
CDU/CSU endlich an die Debatten der letzten fünf Jahre
erinnert und dem fraktionsübergreifenden Anliegen statt-
gibt.


(Beifall bei der PDS)

Mit welcher Scheinheiligkeit sie aber im Moment in

dieser Frage agiert, wurde mir bei einer Podiumsdiskussi-
on vorletzte Woche in Nordrhein-Westfalen klar. Der Ver-
treter der CDU-Landtagsfraktion führte aus, dass seine
Fraktion immer der Meinung war, es genüge, dass Art. 20a
Grundgesetz, also Schutz der Umwelt, den Tierschutz be-
inhalte. Das sei aber irgendwie falsch ausgelegt worden,
was nun auch irgendwie klar sei. Und die CDU müsse des-
halb noch weiter beraten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben bei dieser Podiumsdiskussion nicht richtig zugehört!)


Ich halte diese Argumentation für absolut lächerlich. Denn
die Diskussion über diese Grundgesetzänderung geht
schon sehr, sehr lange.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Das Argument, dass dann Forschungsinstitutionen ins
Ausland abwandern würden, ist ein Totschlagargument,
welches immer wieder gebraucht wird und das immer
dann bedient wird, wenn es um Entscheidungen geht, die
von irgendeiner Seite nicht gewollt sind.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Aber es ist ein berechtigtes Argument!)


Gerade eine Forschung mit alternativen Methoden
könnte für die Bundesrepublik ein Standortvorteil sein,
weil sie Impulse für neue, intelligente Nachweisverfahren
und Tests gibt.


(Beifall bei der PDS)

Sie würde auch den Druck von Studentinnen und Studen-
ten nehmen, die sich weigern, an unsinnigen Tierversu-
chen teilzunehmen. Der Nachweis für Alternativmetho-
den, den diese jungen Leute laut Tierschutzgesetz leider
erbringen müssen, wäre dann einfacher zu beschaffen.

Mit einer Änderung des Grundgesetzes könnte sich
außerdem – nach Einschätzung von Tierschutzverbän-
den – die Hennenhaltungsverordnung in eine positive
Richtung verändern.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat mit der Verfassungsänderung nichts zu tun!)


Denn die jetzt geplante Verordnung orientiert sich aus-
schließlich an EU-Normen. Das heißt, wichtige Aussagen
der Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur
Hennenhaltungsverordnung wie die, dass Hühner scharren
und picken und die Möglichkeit haben müssen, im Sand
zu baden, werden im Referentenentwurf der Hennenhal-
tungsverordnung nicht gerecht. Nach diesem Entwurf
würden Hühner nach wie vor auf eine sehr kleine Fläche
gepfercht, und zwar nicht mehr auf ein DIN-A4-Blatt, nun
käme noch die Fläche eines Geldscheins hinzu. Ich finde,
das ist ein Skandal.


(Beifall bei der PDS)

In der Anhörung wurde dazu übrigens klar und deutlich
von einigen Sachverständigen vorgebracht, dass der Ent-
wurf dem Bundesverfassungsgerichtsurteil so nicht ge-
recht wird.

Herr Röttgen, Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, ei-
ne bessere Hennenhaltungsverordnung zu machen.


(Beifall bei der PDS – Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann machen Sie es doch jetzt!)


Sie haben es nicht gemacht. Dann polemisieren Sie doch
nicht hier.

Und letztlich ist mir auch nicht verständlich, warum die
CDU/CSU in verschiedenen Ländern den Tierschutz in
der jeweiligen Landesverfassung verankert hat, aber
dann, wenn es um eine Gesamtetablierung des Tierschut-
zes im Grundgesetz auf bundesweiter Ebene geht,




Eva Bulling-Schröter
9266


(C)



(D)



(A)



(B)


blockiert. In Bayern wurde er sogar über eine Volksab-
stimmung in die Verfassung gebracht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Kennen Sie den Unterschied zwischen der Bundesverfassung und einer Landesverfassung?)


Wie ich meine Bayern kenne, werden sie die Logik der
CSU an dieser Stelle für heuchlerisch halten. Ich fordere
Sie auf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU:
Geben Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß und zeigen
Sie, dass der Begriff „Schutz der Schöpfung“ in Ihrer Par-
tei ein Zuhause hat.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das nicht tun, ist wieder einmal klar, welche
Lobbyinteressen Sie vertreten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Hören Sie doch damit auf! An das Argument glauben Sie selber nicht!)


Das muss einmal so klar gesagt werden.
Mich würde sehr interessieren, was diejenigen Ihrer

Abgeordneten, die Mitglieder von Tierschutzverbänden
sind, dazu sagen werden. In Ihrer Partei gibt es sogar Mit-
glieder, die Vorsitzende von Tierschutzverbänden sind,
wie zum Beispiel Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl, die aber
offensichtlich zu diesem Thema nicht reden darf.


(Beifall bei der PDS)

Noch ein paar Worte zu Ihrem Antrag, in dem Sie aus-

führen, dass zur weiteren Verbesserung des Tierschutzes
konkrete Initiativen ergriffen werden sollen. Es ist doch in
diesem Hause mittlerweile klar, dass wir dies tun werden.
Ich frage Sie: Warum können Sie dann der Verankerung
des Tierschutzes im Grundgesetz nicht zustimmen? Des
Weiteren sind wir uns auch darüber einig, WTO-Verhand-
lungen in dieser Sache zu führen. Es gibt also keinen
Grund, warum Sie der Grundgesetzänderung nicht zu-
stimmen könnten. Ich halte das für unsozial und unchrist-
lich.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist kein Grund, die Verfassung zu ändern!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409910200
Das Wort hat die Kol-
legin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.


Marianne Klappert (SPD):
Rede ID: ID1409910300
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Herr Röttgen, ich habe vorhin
gedacht, dies sei Ihre neue Politik, die Sie jetzt – gerade in
Nordrhein-Westfalen – vertreten wollen, nämlich fest auf
dem gleichen Standpunkt wie 1994 zu bleiben. An Ihrer
Argumentation hat sich nichts, aber auch überhaupt nichts
verändert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist unsere Zuverlässigkeit!)


Wenn Sie uns vorwerfen, die von uns gestellte Bundes-
regierung habe in den letzten anderthalb Jahren nicht ge-
nug für den Tierschutz getan, dann schauen Sie doch ein-
mal, was dieser Minister, der hier sitzt, in Europa erreicht
hat.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Wer denn?)

– Funke. Der Herr Minister Funke wird gleich zu diesem
Thema reden. Warten Sie ab. – Wenn Sie in Ihrer 16-jähri-
gen Regierungszeit nur etwas davon erreicht hätten, was
sich in Europa in diesem Bereich getan hat, könnten Sie
stolz sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Röttgen, wenn Sie behaupten, die SPD täusche die
Wähler, dann muss ich Ihnen sagen: Sie täuschen die
Wähler. Dies gilt insbesondere für Ihren Kollegen
Rüttgers. Ich habe in der Presse über einen Antrag von
Herrn Rüttgers gelesen, in dem er fordert, das Staatsziel
Tierschutz müsse kommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Bei diesem Antrag haben Sie nicht mitgemacht!)


– Wieso? Diesen Antrag haben Sie doch gar nicht in die
Beratungen eingebracht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber natürlich!)

Sie hätten ihn doch ganz offiziell einbringen können.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie wissen von nichts!)


Wir haben doch jahrelang gestritten.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie waren ja nicht dabei!)

– Herr Geis, Sie haben doch in der letzten Debatte als Zwi-
schenruf sehr deutlich gemacht, was Sie wirklich wollen.
Ich würde Ihnen einmal empfehlen, zu verhindern, dass
Herr Rüttgers zu Wahlkampfzeiten so etwas aus der Ta-
sche zieht. Frau Merkel verspricht dem Deutschen Tier-
schutzbund, Ihre Partei werde auf dem Parteitag darüber
reden. Herr Rüttgers erhebt die Forderung, er wolle das
Staatsziel Tierschutz. Er nannte in der Presse keine For-
mulierung, aber ich kannte die Formulierung.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat die Formulierung genannt! Das stand auch in der Presse!)


Darin liegt die Täuschung der Menschen in unserem Land,
die Sie betreiben.

Sie bringen heute einen Antrag ein, in welchem Sie
konkret eine Verbesserung des Tierschutzes fordern. Ich
habe heute gehört, wir brauchten das alles nicht. Wir ha-
ben – darüber sind wir uns alle einig – ein hervorragendes
Tierschutzgesetz. Aber, Herr Geis, es geht um die konkre-
te Abwägung, die Sie beispielsweise bei der Kunstfreiheit
oder der Forschungsfreiheit immer einfordern. Wenn ich
in der einen Waagschale eine einfachgesetzliche Rege-
lung in Form eines guten Tierschutzgesetzes habe und mit
der Forschungsfreiheit in der anderen Waagschale dies al-
les abwäge, wiegt die letztere immer schwerer und ge-
winnt daher immer.




Eva Bulling-Schröter

9267


(C)



(D)



(A)



(B)



(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch mit der Aufnahme in die Verfassung wird das so sein!)


– Ja, aber dann wird abgewogen. Dann kann man sagen:
Wir haben unseren Teil dazu beigetragen. Was Sie in den
letzten Jahren den Menschen vorgemacht haben, ist wirk-
lich ganz schlimm.

Wir reden immer über den Maßstab, an dem wir uns
selber messen wollen. Für mich ist die Frage – der Kolle-
ge Funke hat es eben angesprochen –, ob der Tierschutz in
der Verfassung verankert wird, eine Frage der Werte in un-
serer Gesellschaft.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da müssen Sie aber viele Werte in die Verfassung schreiben!)


– Stimmt, aber man sollte wenigstens anfangen, die Wer-
te in der Verfassung zu verankern, hinter denen eine brei-
te Mehrheit der Bevölkerung steht. Zwei Drittel stehen
hinter der Forderung, den Tierschutz im Grundgesetz zu
verankern. Es wäre gut, wenn auch Sie dabei wären.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da würde ich Ihnen ein paar andere Werte nennen, wo Sie nicht mitmachen!)


Ich bleibe bei meiner Meinung: Der Tierschutz ist ein
Maßstab für den moralischen Standard unserer Gesell-
schaft.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist wahr! Aber dafür brauchen Sie die Verfassung nicht!)


Der Schutz leidensfähiger Tiere ist für den Menschen ei-
ne Verpflichtung. Weil ich und die SPD-Bundestagsfrak-
tion diese Verpflichtung sehr ernst nehmen, bitten wir Sie
eindringlich, heute unserem Antrag und der Beschlus-
sempfehlung des Rechtsausschusses zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Karsten Schönfeld [SPD]: Geben Sie sich mal einen Ruck! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Machen Sie das konkret!)


– Ich möchte Ihnen an einem Gerichtsurteil deutlich ma-
chen, wie schwierig der Abwägungsprozess ist: Ein Künst-
ler macht ein Happening. Er taucht einen Wellensittich in
Mayonnaise, um zu sehen, welche Spuren dieses Tier auf
dem Papier hinterlässt. Es wird vor Gericht klar festge-
stellt: Das ist ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Aber
der Richter kann den Künstler nicht verurteilen, weil es
Kunst war und die künstlerische Freiheit vorgeht. Sagen
Sie mir doch einmal, wie in einem solchen Fall vernünftig
abgewogen werden soll! Ich finde das schwierig.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da kommt es ganz auf den Richter an, würde ich sagen!)


– Das sagen Sie immer. Aber wir müssen auch für die ent-
sprechende rechtliche Grundlage sorgen.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Marianne, wer führt denn solche Happenings durch? Das ist doch eher Rot-Grün!)


Ich möchte deutlich machen: In den letzten Jahren gab
es immer wieder Anhörungen, Podiumsdiskussionen und
Berichterstattergespräche über den Tierschutz. Die SPD-
Bundestagsfraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die F.D.P.
und auch die PDS haben sich bemüht, einen Konsens zu
finden, den Sie mitgehen können. Ich habe bislang immer
fest daran geglaubt, dass die Entscheidung über die Auf-
nahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung ei-
ne Gewissensentscheidung ist. Gestern musste ich leider
feststellen, dass Ihnen die Fraktionsspitze konkrete Vor-
gaben macht, wie Sie hier abzustimmen haben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Niemand gibt uns etwas vor!)


– Dann frage ich zurück: Hat die Fraktionsspitze vielleicht
Angst, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen nach ihrem
Gewissen entscheiden und sich damit „richtig“ entschei-
den könnten? Oder gilt das Gewissen bei Ihnen nichts
mehr?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt werfen Sie alles durcheinander!)


Ich bitte Sie sehr herzlich, den Kolleginnen und Kollegen
die Entscheidung freizustellen und ihnen den Rücken zu
stärken, damit wir endlich den Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz aufnehmen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich möchte noch ein Wort zur Glaubwürdigkeit sagen,
weil diese während der gesamten Debatte immer wieder
eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, dass Politik und Poli-
tiker bei der Entscheidung über die Frage, ob der Tier-
schutz als Staatsziel verankert werden soll, Glaubwürdig-
keit zurückgewinnen können. Immer dann, wenn Tier-
schützer Politiker vor den Wahlen auf das Thema
Tierschutz ansprechen, wird dieses Thema sehr hoch
gehängt. Aber immer dann, Herr Geis, wenn es konkret
wird und darüber abgestimmt werden soll, sind die frühe-
ren Versprechen nicht mehr wahr.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie erreichen mit Ihrer Verfassungsänderung nichts!)


Ich möchte die Kollegen daran erinnern, wie es vor
1998 war: Die SPD-Bundestagsfraktion hatte einen Ent-
wurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes eingebracht,
ebenso Bündnis 90/Die Grünen. Die F.D.P. hatte teilwei-
se eigene Vorstellungen. Auch als sie noch eine Regie-
rungskoalition mit der CDU bildete, konnten wir gut mit
den F.D.P.-Abgeordneten reden. Schließlich standen Sie
vor der Frage: Wie viel Tierschutz wollen Sie denn wirk-
lich? Wir mussten leider feststellen, dass erst auf Druck
der SPD-regierten Länder im Vermittlungsausschuss we-
nigstens teilweise mehr Tierschutz durchgesetzt werden
konnte, weil Ihre Fraktion blockiert hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Ihrem Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, täu-
schen und enttäuschen Sie die Menschen in unserem
Lande.




Marianne Klappert
9268


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409910400
Nächster Redner ist
der Kollege Werner Lensing für die CDU/CSU-Fraktion.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1409910500
Frau Präsidentin! Mei-
ne sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Zu der
heute anstehenden, außerordentlich bedeutenden und fol-
genreichen Grundsatzentscheidung, den Tierschutz als
Staatsziel in unserer Verfassung zu verankern, möchte ich
in vier Punkten präzise und klar Stellung beziehen.

Punkt eins. Die bis in die 12. Legislaturperiode hinein-
reichende, tiefgründige Diskussion über eine Verankerung
des Staatsziels Tierschutz und auch die Aussprache am
heutigen Tage haben zu folgenden Erkenntnissen geführt:
Ein Staatsziel Tierschutz ist erstens für die Lösung der ei-
gentlichen Probleme wirkungslos,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

zweitens für die Verfassung wenig hilfreich und drittens
für die deutsche tierexperimentelle Forschung geradezu
gefahrvoll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Über eines sollten wir uns über alle Fraktionsgrenzen

hinweg im Klaren sein: Die eigentlichen unerträglichen
Vergehen gegen Tiere werden mit einer verfassungsmäßi-
gen Verankerung des Tierschutzes nicht einmal im Ansatz
bekämpft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Punkt zwei. Die folgenreichste Wirkung einer Veran-

kerung des Staatsziels Tierschutz liegt jedoch in einer un-
verhältnismäßig großen Benachteiligung der Forschung
und dies gilt angesichts der Tatsache, dass in keinem Land
der Welt Tierversuche einer so engen und lückenlosen
Kontrolle wie bei uns unterliegen. Deshalb ist aus der be-
gründeten Sicht der Forschung eine Staatszielverankerung
geradezu kontraproduktiv. Warum? Wird doch von allen
großen Forschungsgesellschaften wiederholt und begrün-
det festgestellt, dass ein Staatsziel Tierschutz unmittelba-
re und handfeste Auswirkungen auf sämtliche
Genehmigungsverfahren für die tierexperimentelle For-
schung haben dürfte. Schließlich müsste die Rangfolge
zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und
dem Staatsziel Tierschutz stets im Einzelfall festgestellt
werden.

Selbst wenn die zahllosen Verfahren und die Flut von
Musterprozessen im Endeffekt für die Wissenschaft posi-
tiv ausgehen würden, so entstünde mit einem heutigen Ja
zur Verankerung eine erhebliche mehrjährige Rechts-
unsicherheit, die letztendlich zur Aufgabe von For-
schungsvorhaben oder gar zu deren Verlagerung ins Aus-
land führen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Bulling-Schröter, das sind Fakten, die Sie gar nicht
bestreiten können.

Die Konsequenzen lägen dann auf der Hand: Absen-
kung des Niveaus tierexperimenteller Forschung, Behin-
derung internationaler Zusammenarbeit, Fehlen von Pla-
nungssicherheit bei Forschungsprojekten, Qualifikati-
onsdefizite des wissenschaftlichen Nachwuchses und
schließlich auch Verschlechterung des Tierschutzes insge-
samt.

Es dürfte uns nicht wundern, wenn unter einer solchen
forschungsfeindlichen Stimmung die Auslagerung von
Forschungskapazitäten ins Ausland stattfindet. Der damit
verbundene Schwund an Arbeitsplätzen für hoch qualifi-
zierte Arbeitskräfte und die damit einhergehende Redu-
zierung von Berufschancen junger Wissenschaftler
führen – darüber müssen wir uns im Klaren sein – zu ei-
nem gefährlichen Teufelskreis.

Man kann nicht auf der einen Seite den Anschluss
Deutschlands an die Weltspitze bei den Biotechnologien
fordern, auf der anderen Seite aber immer wieder neue
Hemmnisse für die Forschung aufbauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karsten Schönfeld [SPD]: Das ist ja unglaublich!)


Punkt drei. Zugegeben: Die Anzahl der für den Bereich
der Forschung getöteten Tiere mutet auf den ersten Blick
wie eine gewaltige und mahnende Phalanx an. Ich verste-
he das sehr wohl. Doch entspricht die Zahl der für die tier-
medizinische Forschung benötigten Tiere lediglich einem
1 000stel aller getöteten Tiere. Das ist für die Menschheit
vermutlich das wichtigste 1 000stel schlechthin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die anderen 99,9 Prozent werden geschlachtet und

anschließend verspeist, bei der Jagd erlegt oder beim An-
geln geködert. Hierbei ist nicht einmal die riesige Zahl der
Tiere eingerechnet, die – dies geschieht viel zu häufig un-
ter lang andauernden und qualvollen Bedingungen – in der
Schädlingsbekämpfung getötet oder in Tierasylen einge-
schläfert werden. Wo bleibt denn hier der Aufschrei des
Entsetzens in all den Fraktionen, die heute für die Formu-
lierung eines Staatsziels Tierschutz plädieren?

Allein die Tatsache, dass die Anzahl der Tierversuche
zurückgegangen ist, spricht eindeutig für das verantwor-
tungsethisch geprägte Bemühen der Wissenschaft, wo im-
mer möglich auf Ersatzmethoden auszuweichen und Ver-
suchstiere nur noch dort zu verwenden, wo ihr Einsatz –
dies ist durch gesetzliche Vorgaben teilweise geregelt – un-
abänderlich ist.

Mein vierter Punkt. Bei aller Kritik gegenüber den Tier-
versuchen sollten wir auch diese Tatsache niemals über-
sehen – hier denke ich an Frau Höfken, Herrn Bachmaier
und auch an Herrn Funke –: Die meisten unserer
Mitbürgerinnen und Mitbürger verdanken häufig ihr Le-
ben, ihre Gesundheit und die Aussicht auf eine lange Le-
benszeit nicht zuletzt den modernen Verfahren einer na-
turwissenschaftlich fundierten Medizin.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das soll auch nicht geändert werden!)





Marianne Klappert

9269


(C)



(D)



(A)



(B)


Deren Geschichte wiederum lehrt uns, dass die Forschung
in der Gegenwart und in der Zukunft auf Tierversuche
nicht wird verzichten können.

Ich möchte noch ein Weiteres sagen, meine Damen und
Herren: Wenn wir die Tierversuche durch eine Staatsziel-
verankerung weiter gefährden oder zumindest verlangsa-
men, dann müssen wir auch Folgendes zur Kenntnis neh-
men. Wir verzichten dann zumindest weitgehend auf An-
tibiotika, auf Herz- und Kreislaufmittel, auf bestimmte
Narkoseverfahren, auf Operationstechniken.

Und auch dies sollten wir beachten: Die von Tierver-
suchsgegnern so vehement kritisierte Hirnforschung an
Primaten dient der Vermeidung der Lebensbedrohung von
Menschen, nicht der von Tieren; und sie dient erst recht
nicht der reinen und willkürlichen – wie man das hört –
Wissensbefriedigung des jeweiligen Forschers.

Wenn wir bei Versuchen – natürlich auf freiwilliger Ba-
sis – Menschen das zumuten, was wir wiederholt den Tie-
ren nicht zumuten mögen, dann – so muss ich sagen – fei-
ert der Wahnsinn einsame Triumphe.

Schließlich noch ein Gedanke, der mir besonders am
Herzen liegt: Wir haben zu beachten, dass wir uns in die-
ser Diskussion nicht von emotionalem Überschwang ver-
leiten lassen dürfen in der Absicht, etwas vermeintlich
Gutes für den Tierschutz tun zu wollen. Wir dürfen kein
Sonderopfer für die Forschung bringen, das vielleicht den
Tieren nützt, den Menschen aber nicht. Wir dürfen die Ver-
hältnismäßigkeit unserer Maßnahmen nicht aus den Augen
verlieren. Vielmehr sollte ein verantwortungsethisch mo-
tivierter, rationaler Diskurs im Mittelpunkt unserer Aus-
einandersetzung stehen.

Ich bitte Sie daher im Namen aller, die einen effektiven
Tierschutz – ich sage das sehr deutlich: einen effektiven
Tierschutz – fördern möchten, dem Entschließungsantrag
meiner Fraktion – gegebenenfalls mit innerem Jubel, weil
auf Sachverstand und Einsichtsfähigkeit basierend – zu-
zustimmen.


(Lachen bei der SPD)

In diesem Sinne danke ich Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409910600
Es ist zwar etwas un-
gewöhnlich, wenn die Präsidentin fragt, wer jetzt reden
möchte, aber da der Kollege Ströbele inzwischen einge-
troffen ist, frage ich – – Aha, der Kollege Heinz Schmitt
hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort.


Heinz Schmitt (SPD):
Rede ID: ID1409910700
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wurden heute nochmals
wichtige Gründe für eine Aufnahme des Tierschutzes ins
Grundgesetz genannt. Wir haben erneut auch die Argu-
mente gegen die vorgebrachten Bedenken miteinander
erörtert.

Ich möchte hier auf den Einwand eingehen, eine solche
Grundgesetzänderung würde die Forschung in Deutsch-
land beeinträchtigen. Niemand in diesem Hause beab-

sichtigt, Forschung zum Wohle des Menschen zu behin-
dern oder gar einzuschränken dort, wo sie notwendig ist.

Es geht nicht um eine Aushebelung des § 7 des Tier-
schutzgesetzes, in dem die Zulässigkeit von Tierversu-
chen geregelt ist. Es geht schon gar nicht darum, Forsche-
rinnen und Forscher aus dem Land zu treiben, wie Sie das,
Herr Röttgen und Herr Lensing, vorhin in Ihren rückwärts
gewandten Reden behauptet haben.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Jawohl, rückwärts gewandt! – Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie es doch nicht so polemisch!)


Das alles sind unzulässige und polemische Übertreibun-
gen.

Was den Forschungsbereich betrifft, so möchte ich in
Erinnerung rufen, dass auch heute noch in Deutschland
jährlich ungefähr 1,5Millionen Tiere zu Versuchszwecken
und bei der Entwicklung von Arzneimitteln und Kosmeti-
ka, bei der Grundlagenforschung, in der anatomischen
Ausbildung und auch für den Umweltschutz „verbraucht“
werden, wie es so makaber in den Berichten heißt.

Ich unterstelle keinem Wissenschaftler, dass er sich sei-
ner Verantwortung nicht bewusst ist, was die Durch-
führung von Tierversuchen betrifft. Aber es lassen sich
auch Beispiele anführen, bei denen zweifelhafte
Tierversuche durchgesetzt wurden und werden, obwohl
Experten deren Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit ver-
neint hatten. Mit der Aufnahme des Tierschutzes ins
Grundgesetz wollen wir erreichen, dass Tierschutz in ei-
nem solchen Fall der Abwägung von Rechtsgütern nicht
schon allein wegen seines fehlenden Verfassungsranges in
schöner Regelmäßigkeit hintenangestellt wird, etwa hin-
ter der Freiheit der Forschung. Hier muss in Zukunft eine
objektivere Abwägung möglich sein.

Meine Damen und Herren, ich denke, es ist der Mühe
wert, dass wir die Zahl derTierversuche auch in Zukunft
weiter senken; dies ist sicherlich auch möglich. Es ist uns
natürlich bewusst, dass in verschiedenen Forschungsberei-
chen, etwa der medizinischen Grundlagenforschung, noch
keine Alternativen zu Tierversuchen erkennbar sind. Es
gibt aber eine ganze Reihe von Beispielen für Ersatzme-
thoden, mit deren Hilfe zukünftig auf Tierversuche ver-
zichtet werden könnte.

Es gibt große Fortschritte bei der Entwicklung von
Tests an Zell- und Gewebekulturen, die bereits auf ihre
Funktionalität geprüft und die anerkannt sind und die Tier-
versuche zunehmend ersetzen können und überflüssig ma-
chen können. Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung unterstützt und fördert ja auch aktiv solche
Beiträge zur Streichung bzw. Reduktion der Zahl von
Tierversuchen. Heute können Sonnencremes oder haut-
reizende Chemikalien und die Wirkung von Medikamen-
ten auch ohne Tierversuche im Reagenzglas oder durch
Computersimulation getestet werden. Wir sollten bei den
heutigen Beratungen auch nicht vergessen, dass wir mit
einer Stärkung des Tierschutzes dazu beitragen, dass sol-
che Alternativmethoden schneller entwickelt und auch
schneller als Standards angenommen und eingerichtet
werden können.




Werner Lensing
9270


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn wir es also mit der Verantwortung für das Mitge-
schöpf Tier ernst meinen, müssen wir auch die Vorausset-
zungen dafür schaffen, dass Tierversuche in der Forschung
allmählich entbehrlich werden und dass es weniger Qua-
len in den Versuchslabors gibt. Der vorliegende Gesetz-
entwurf der Koalition bietet eine für Wissenschaft und
Forschung verträgliche Lösung, da er Forschung unter
Verwendung von Tierversuchen auch dort weiterhin zu-
lässt, wo sie notwendig ist.

Ich weiß, dass nicht nur die Bevölkerung und die Kol-
leginnen und Kollegen der Koalition dies so sehen, son-
dern dass die Notwendigkeit dieser Grundgesetzänderung
auch von einer Mehrheit dieses Hauses quer durch die
Fraktionen bejaht wird. Deshalb bitte ich Sie um eine Ent-
scheidung, die Ihrem Gewissen entspricht. Ich bitte Sie um
Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409910800
Das Wort für die Frak-
tion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Heinrich-
Wilhelm Ronsöhr.


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1409910900
Frau Prä-
sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohl
kein anderer Berufszweig ist so eng mit Tieren verbunden
wie die Landwirtschaft. Im Zuge der Spezialisierung in
unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch
und Tier nicht mehr wie in früheren Agrargesellschaften
Allgemeingut, sondern ist häufig vom Leben der Bevöl-
kerung abgekoppelt. Dies führt manchmal dazu, dass in
der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der landwirt-
schaftlichen Tierhaltung reflexartig Begriffe wie Massen-
tierhaltung, Hochleistungszüchtung und dergleichen mehr
auftauchen. Wer auch nur ein wenig Einblick in die land-
wirtschaftliche Praxis hat, weiß um die Unsachlichkeit
solcher Bezeichnungen.

Ich bin dem Landwirtschaftsminister, Herrn Funke,
sehr dankbar, dass er auf der Grünen Woche in Berlin den
Begriff „Massentierhaltung“ sehr stark relativiert hat. Wer
nämlich das erste Tier falsch hält, der hält auch ein zwei-
tes und drittes Tier falsch. Wer aber das erste Tier richtig
hält, hält auch das hundertste oder zweihundertste Tier
richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Funke [F.D.P.])


Wir müssen diese Debatte zum Anlass nehmen, um sol-
che Diskussionen zu versachlichen; denn wir müssen uns
auch in der Diskussion um den Tierschutz das Verständnis
für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung bewahren.
Es ist nicht nur die vermeintliche Schieflage des öffentli-
chen Bildes von der Landwirtschaft, dass ich heute diese
Debatte zum Anlass nehme, mich als Landwirt und Agrar-
politiker ausdrücklich für den Tierschutz auszusprechen.
Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, das Tier als
Mitgeschöpf zu achten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gudrun Kopp [F.D.P.])


Ich weiß als Landwirt, dass man von einem Tier die ge-
wünschte Leistung nur erwarten kann, wenn man das Tier
gut und mithin auch tierschutzgerecht behandelt.

Die Landwirtschaft ist in unserer Gesellschaft mit Blick
auf die Nutztierhaltung gleichsam zum Dienstleister für
unsere Bevölkerung geworden. Aber die meisten Bürger
bringen diese Nutztierhaltung nur mit Endprodukten der
Landwirtschaft in Verbindung. So wissen die
meisten Verbraucher heute nicht mehr, woher ihre Nah-
rung kommt und wie sie erzeugt wird. Die Bevölkerung
nahm und nimmt auch teilweise noch heute eine gewisse
Anonymität von Lebensmitteln in Kauf.

Inzwischen wollen aber viele – dankenswerterweise –
sicher sein, dass Lebensmittel tierschutzgerecht erzeugt
werden. Man muss nur an die Protestwelle angesichts der
Missstände bei den Tiertransporten oder an andere
Diskussionen denken.


(Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Zur Sache!)


Darin liegt eine Chance für die Landwirtschaft, wobei die-
se Chance manchmal viel zu groß dargestellt wird. Was in
theoretischen Diskussionen gesagt wird, ist nicht immer
eine reale Größe. Dennoch glaube ich, dass es für die
Agrarpolitik wichtig ist, dem Tierschutz eine hohe Prio-
rität einzuräumen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben dies

in unserer Regierungsverantwortung getan. Wir werden es
auch weiter tun. Wir haben eines der modernsten und
schärfsten Tierschutzgesetze der Welt geschaffen. Wir
diskutieren im Deutschen Bundestag über den Tierschutz-
bericht. Wir haben Verbesserungen im Tierschutz – ich
nehme da die jetzige Bundesregierung gar nicht aus – auf
europäischer Ebene erreicht. Ich glaube, dass diese Ver-
besserungen für uns alle ungemein wichtig sind. Viele
Tierschützer – ich sage das hier ausdrücklich – haben sich
dankenswerterweise für die Verbesserung des Tierschut-
zes konstruktiv eingesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, dass Norbert Röttgen Recht hat. Wir müs-

sen das Augenmerk auf die Weiterentwicklung des Tier-
schutzes auf europäischer Ebene richten. Wir brauchen
diese Weiterentwicklung auf der europäischen Ebene, da-
mit an der einen Stelle ein Mehr an Tierschutz nicht an der
anderen Stelle zu einem Mehr an nicht tierschutzgerech-
ter Haltung im Wettbewerb führt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Prozess, der in Amsterdam mit Regelungen über

Tiertransporte begonnen worden ist, muss fortgesetzt wer-
den. Ich fordere dieses Parlament auf, weiterhin Motor des
Tierschutzes über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu sein.
Ich glaube, dass wir das auch in Zukunft sein werden.




Heinz Schmitt (Berg)


9271


(C)



(D)



(A)



(B)



(Widerspruch bei der SPD – Heinz Schmitt [Berg] [SPD]: Dann stimmen Sie doch zu! – Zurufe von der SPD: Heuchelei!)


Nun komme ich zu der Forderung, den Tierschutz ins
Grundgesetz aufzunehmen. Nach den entsprechenden
Briefen verbinden viele mit der Aufnahme des Tier-
schutzes ins Grundgesetz die Vorstellung, dass es die tier-
quälerische Haltung im Ausland nicht mehr gäbe und kei-
ne Fernsehbilder mehr über nicht tiergerechte Pferde-
transporte in Polen und in Italien zu sehen wären. Aber das
kann eine Grundgesetzänderung nicht leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Viele haben es jedoch ständig in die Grundgesetzänderung
hineindiskutiert.

Eines sage ich hier einmal kritisch. Ich habe viele
Tierschutzdiskussionen mitgemacht und hier gesagt, wie
ich persönlich zum Tierschutz stehe. Ich habe erlebt, dass
man den Landwirten und den Wissenschaftlern gesagt hat,
es habe keine Auswirkungen, wenn der Tierschutz ins
Grundgesetz aufgenommen wird. Dann habe ich aber auch
erlebt, dass man vor Tierschützern gesagt hat, dass das un-
geheure Auswirkungen habe.

So plakativ dürfen wir mit Grundgesetzänderungen
nicht umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Grundgesetz ist die Grundlage unseres Staatswesens.


(Hermann Bachmaier [SPD]: So ist es!)

Wenn man für Änderungen des Grundgesetzes eintritt,
dann sollte man das auch wirklich begründen. Diese Be-
gründung habe ich hier leider nicht erfahren.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Weil Sie weggehört haben! Mit Absicht!)


Deswegen werde ich, wie viele in meiner Fraktion, dieser
Grundgesetzänderung auch nicht zustimmen, obwohl wir,
glaube ich, hier im Deutschen Bundestag gemeinsam für
den Tierschutz eintreten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hermann Bachmaier [SPD]: Eben nicht, wenn Sie nicht zustimmen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409911000
Das Wort hat der Kol-
lege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

gen! Ich danke zunächst für die Flexibilität bei der Ge-
staltung der Rednerliste. Die Haltung vieler, auch Abge-
ordneter, zu Tieren und zum Tierschutz ist nicht immer
offen und ehrlich. Wohl kaum einer der Abgeordneten
würde die eigene Katze, den eigenen Haushund oder den
Goldhamster der Familie zum Quälen ins Tierversuchsla-
bor geben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben einen Angoraschal um! Das haben Sie noch gar nicht gemerkt!)


Viele haben im Kino mitgelitten, wenn der Hund Beetho-
ven versucht hat, sich dem Tierlabor und den Tierfängern
zu entziehen. Warum eigentlich, wenn doch Tierversuche
so unvermeidbar notwendig sind?

Halb Berlin hat mit den Gorillababys Bokito und Mpen-
zi mitgefühlt, als in der letzten Woche in der „BZ“ die
Schlagzeile erschien: „Verhungert Baby-Gorilla im Berli-
ner Zoo?“ Was wäre wohl geschehen, wenn Forscher den
Jungtieren, mit denen ganz Berlin gelitten hat, die Augen
zugenäht hätten, nur für die Forschung? Die Kolleginnen
und Kollegen hätten dieses Tierexperiment wohl auch an
diesem Podium nicht zu verteidigen gewagt. Ein Sturm der
Entrüstung hätte solche Reden hinweggefegt.

Mit der heute zur Abstimmung stehenden Grundge-
setzänderung soll nicht der Mensch als Krone der Schöp-
fung entthront werden, beileibe nicht. Das eigentlich Not-
wendige ist inzwischen auf das Realisierbare zusammen-
geschrumpft. Es geht nur noch darum, eine faire Chance
für die Tiere vor den Gerichten zu wahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


1994 hatte ein Berliner Hochschullehrer beantragt, neu-
geborenen Affen – deshalb ist das, was ich vorhin gesagt
habe, gar nicht so fern hergeholt – für die Forschung die
Augenlider zunähen zu dürfen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wurde heute schon mal hier erwähnt, Herr Ströbele! Da waren Sie noch nicht da!)


Der Senat von Berlin verweigerte die Genehmigung. Der
Forscher hat den Gerichtsprozess wegen des Grundrechts
der Forschungsfreiheit gewonnen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hören wir heute schon zum zweiten Mal! Sie müssen rechtzeitig zur Debatte kommen!)


Er durfte seine Tierversuche durchführen und Affen nach
der Geburt die Augenlider zunähen.

Tausende von Affen leiden und sterben in den Ver-
suchslabors. 1996 waren es 1 500. Jährlich sollen allein
10 000 gezüchtet werden, um in den Versuchslabors in Eu-
ropa eingesetzt zu werden. Das ist nur eine Tierart; viele
andere sind genauso davon betroffen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das werden Sie aber in Europa nicht ändern!)


Der Verband der Arzneimittelhersteller fürchtet, dass
„allein der Umstand der Verankerung des Tierschutzes im
Grundgesetz zu einer verfassungsrechtlichen Neubewer-
tung der Grenzen der Forschungsfreiheit führen“ könne,
„mit all ihren Auswirkungen auf das verwaltungsrechtli-
che Genehmigungsverfahren und ihrer gerichtlichen
Überprüfung“.

Ich kann dazu nur sagen: Mit der Aufnahme der drei
Wörtchen „und die Tiere“ ins Grundgesetz wollen wir er-
reichen, dass Gerichtsverfahren gegen unmenschliche
Tierversuche in Zukunft nicht mehr so häufig an der For-
schungs- und Kunstfreiheit scheitern.




Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
9272


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich frage Herrn Rüttgers – den ich jetzt hier gar nicht
sehe –: Was ist eigentlich der Spitzenkandidat von Nord-
rhein-Westfalen noch wert, wenn er im Deutschen Bun-
destag nicht mehr das artikulieren darf, was die CDU
Nordrhein-Westfalens noch in ihren Antrag an den letzten
Parteitag geschrieben hat,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


dass nämlich die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel
in die Verfassung die Bedeutung des Tierschutzes in un-
serem Gemeinwesen


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben Sie ja nicht mitgemacht in dieser Formulierung!)


und den Verfassungsrang des Tierschutzes in Abwägung
mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgü-
tern deutlich machen würde?

Deshalb wollte auch die CDU von Nordrhein-Westfa-
len das. Hier dürfen sie das nicht einmal mehr artikulieren,
geschweige denn, dass sie nach ihrem Gewissen abstim-
men dürfen. Das will ihnen ihre Fraktion verbieten. Das ist
nicht fair und das ist nicht human und das ist schon gar
nicht im Interesse der Tiere.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Das müssen ausgerechnet Sie sagen! Sie haben überhaupt keinen Begriff von Humanität!)


Dahinter dürfen sich die Kollegen und Kolleginnen der
CDU von Nordrhein-Westfalen bitte nicht verstecken.


(Zuruf von der SPD: Wo ist der Rüttgers?)

Tierversuche wird es auch nach einer solchen Aufnah-

me des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz geben.
Ich sage: leider. Aber die Tierversuche werden einer stren-
geren Überprüfung unterworfen. Es muss dann eine Ab-
wägung stattfinden zwischen der Forschungsfreiheit, der
Kunstfreiheit auf der einen Seite – die kann da nicht maß-
los und grenzenlos gegenüber den Tieren gelten – und
dem Tierschutz auf der anderen Seite.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist reine Polemik! Ist ja jetzt schon!)


Diese Grundrechte müssen dann gegenüber dem Staatsziel
des Grundgesetzes, die Tiere zu schützen, abgewogen wer-
den. Damit wird den Tieren ein bisschen mehr die Chan-
ce für ein Leben ohne Qual und ohne Leiden eröffnet.


(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS])

Uns wird von coolen Forschern der Universität Mar-

burg vorgeworfen, das Thema Tierschutz und Rechte der
Tiere werde sehr emotional betrachtet. Ich sage: Das mag
sein. Was ist daran so schlimm?

Da halten wir es doch mit dem Philosophen Jean
Jacques Rousseau, immerhin ein Erfinder der Men-
schenrechte, der auch schon aus der bei Mensch und Tier

verwandten Empfindungs- und Leidensfähigkeit abgelei-
tet hatte, dass die Tiere vor unnötigen Schmerzen und Lei-
den wirksam bewahrt werden müssen.

Deshalb appellieren wir an die Abgeordneten der letz-
ten Fraktion, die sich noch nicht dazu bereit gefunden hat,
das mitzutragen: Seien Sie human. Seien Sie nicht un-
menschlich. Helfen Sie mit, den Schutz der Tiere in die
Verfassung aufzunehmen, wenigstens als Ziel des Han-
delns und des Engagements dieses Staates.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Kennen Sie die bestehenden Gesetze?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409911100
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion.


(Peter Dreßen [SPD]: Geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie dafür!)



Erika Reinhardt (CDU):
Rede ID: ID1409911200
Frau Präsidentin! Mei-
ne Kolleginnen und Kollegen! Dass der Tierschutz uns al-
len am Herzen liegt –


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)


ich gehe einmal davon aus, dass er allen uns hier Anwe-
senden am Herzen liegt –,


(Hermann Bachmaier [SPD]: Dann verhalten Sie sich entsprechend!)


glaube ich, ist unbestritten. Und doch, lieber Herr Kolle-
ge Bachmaier, hat mich sehr hart getroffen, dass Sie sich
hier hinstellen und sagen, wir wollten mit allen Mitteln
verhindern, dass der Tierschutz ins Grundgesetz aufge-
nommen wird – dass der Tierschutz passiert, so haben Sie
sich ausgedrückt. Das halte ich schon für schlimm.

Es ist ja nicht so, dass wir nicht schon seit langem Tier-
schutz betrieben haben. Wir haben viele Gesetze gemacht.
Ich bin dem Kollegen Ronsöhr sehr dankbar. Er hat das
sehr deutlich dargestellt, sodass ich das im Einzelnen gar
nicht mehr sagen muss. Der Tierschutz hat natürlich im-
mer etwas mit Gefühlen und auch mit Empfindungen zu
tun. Deshalb sage ich noch einmal: Ich habe Verständnis
dafür, dass es die Menschen sehr emotional empfinden.
Aber Tierschutz ist eben ein bisschen mehr.

Ich persönlich bin mit Tieren groß geworden. In unse-
rer Familie gab es immer und gibt es bis heute Tiere. Tier-
schutz ist mir also auch ein persönliches Anliegen.


(Peter Dreßen [SPD]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Ich habe kein Problem damit. Aber wird denn das Ziel,
Tiere durch die Einfügung eines Staatsziels in das Grund-
gesetz besser zu schützen, tatsächlich erreicht? Oder ist die
Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung nicht et-
was vordergründig? Wenn uns der Tierschutz wirklich
wichtig ist, brauchen wir Gesetze, die die Tiere konkret
schützen. Die notwendigen Verbesserungen kann man nur
über Einzelgesetze erreichen.




Hans-Christian Ströbele

9273


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Mit der Novellierung des Tierschutzgesetzes noch in

der letzten Wahlperiode wurde in diesem Sinne ein erster
und ein, wie ich glaube, sehr wichtiger und richtiger
Schritt getan. Weitere Verbesserungen – das ist für uns
auch keine Frage – müssen folgen. Noch mehr zu tun ist
unser Nahziel. Ein einfaches Gesetz würde für den Tier-
schutz viel mehr Wirkung erzielen als jegliche Veranke-
rung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen etwas gegen illegale Tierversuche und

nicht artgerechte Tiertransporte tun. All dies verlangt
konkrete Gesetze und nicht eine verbale Aussage im
Grundgesetz nach dem Motto: Wir nehmen es als Staats-
ziel auf und haben damit unsere Aufgabe erfüllt. Unser
Ziel muss sein – ich habe es vorhin gesagt: wir haben dafür
schon einiges getan –, dass die strengen deutschen Tier-
schutzbestimmungen stärker als bisher kontrolliert werden
und dass wir eine bessere Abstimmung auch im Rahmen
der Europäischen Union erreichen. Damit schützen wir
unsere Tiere besser als mit jeglicher Verankerung im
Grundgesetz. Wir wollen Tierschutz nicht verhindern, son-
dern durch Gesetze praktizieren.

Die eigentliche politische Aufgabe liegt doch in der eu-
ropaweiten Durchsetzung des hohen Standards des Tier-
schutzes bei uns. Dort müssen wir zu Verbesserungen und
Veränderungen kommen, die das Leid der Tiere lindern;
das wäre der eigentliche politische Durchbruch. Das muss
unser Ziel sein. Hierauf sollte die Bundesregierung ihre
Energie etwas stärker konzentrieren.

Wir wollen eine Tierschutzpolitik, die konkrete Fort-
schritte bringt und die Tiere tatsächlich schützt. Wir sind
für Tierschutz und nicht gegen Tierschutz. Wir sind für den
Schutz eines jeden einzelnen Tiers. Unser Ziel ist, die Tie-
re im Einzelnen und im Konkreten zu schützen. Dies er-
reichen wir aber eben nicht durch eine formale Aufnahme
im Grundgesetz, sondern nur durch konkrete Maßnahmen
und Gesetze zum Schutz der Tiere. Tierschutz, meine Da-
men und Herren, darf nicht an Grenzen enden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409911300
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409911400
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Der Tierschutz – das ist
ein Konsensthema – hat jetzt durch die Abstimmung im
Bundestag die Chance, noch einmal besonders hervorge-
hoben und berücksichtigt zu werden. Die Zeit dazu ist reif.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Während der Arbeit der Verfassungskommission Anfang
der 90er-Jahre waren es 170 000 Eingaben, die den Tier-

schutz so stark wie kaum ein anderes Vorhaben in diesem
Hohen Hause in den Vordergrund gestellt haben.

Wenn wir in der Geschichte zurückgehen, dann erken-
nen wir, dass es unter der alten Regierung – nicht mehr un-
ter der sozial-liberalen, sondern unter der christlich-libe-
ralen mit dem Justizminister Engelhard – gelungen ist, im
Bürgerlichen Gesetzbuch eine Änderung vorzunehmen,
sodass die Tiere nicht mehr als Sache behandelt werden:

Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besonde-
re Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen gel-
tenden Vorschriften entsprechend anzuwenden...

Die Zeit schreitet weiter. 1994 haben wir es in der
Verfassungskommission nicht geschafft, den Tierschutz
zusammen mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrund-
lage im Grundgesetz zu verankern.

Auch aus Umfragen wird deutlich, dass die Bevölke-
rung zu über 77 Prozent dafür ist, dass das Staatsziel Tier-
schutz im Grundgesetz verankert wird.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ich nehme nicht an, dass Sie sich mit den rest-
lichen 23 Prozent zufrieden geben wollen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen ja mit dabei sein. Auch Sie wollen sicherlich
dem Auftrag der Bevölkerung an uns, das Staatsziel Tier-
schutz im Grundgesetz zu verankern, zustimmen.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Bei einer anderen Fragestellung gibt es andere Umfrageergebnisse!)


Wir haben mittels einer schlanken Formulierung, die
den Tierschutz dann stärkt, wenn es einen Abwägungs-
prozess zwischen einem Grundrecht und einer einfachge-
setzlichen Regelung gibt, eine klare Positionierung vorge-
nommen. Das wissen die Damen und Herren Juristinnen
und Juristen ganz genau. Dieser Abwägungsprozess findet
natürlich laufend statt. Dabei verliert der Tierschutz re-
gelmäßig. Der Tierschutz bleibt in diesem Abwägungs-
prozess auf der Strecke.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit das in Zukunft nicht mehr so ist, möchten wir, dass
in Zukunft im Rahmen der Rechtsprechung, also bei rich-
terlichen Entscheidungen, der Tierschutz als Staatsziel –
nicht als Grundrecht – eine stärkere Beachtung bekommt.


(Beifall der Abg. Gudrun Kopp [F.D.P.])

Ich habe hier gehört, das sei ein symbolischer Akt.

Diese Aussage kann man vertreten; ich vertrete sie nicht.
Die Gründe dafür habe ich soeben genannt. Gleichzeitig
ist zu hören, es sei zu befürchten, es komme zu einer Wett-
bewerbsverzerrung bzw. Wettbewerbsverschlechterung
der deutschen Landwirte. Ja, was ist nun? Ist dies ein




Erika Reinhardt
9274


(C)



(D)



(A)



(B)


symbolischer Akt oder eine Wettbewerbsverzerrung? Dies
ist ein Widerspruch in sich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man sollte wissen, was und wohin man will. Wenn man
den Tierschutz in den Landesverfassungen verankert,
dann sollte man wissen, welche Konsequenzen hier im
Bundestag zu ziehen sind. Wenn man den Tierschutz auf
Europaebene stärken will und ihm in den Kommunen, in
den Bundesländern und spätestens seit dem Treffen in
Seattle auch auf WTO-Ebene einen ganz wichtigen Rang
einräumen will – dafür wir alle sind –, dann verstehe ich
nicht die Logik, dass ausgerechnet der Souverän, der Deut-
sche Bundestag, dann, wenn er dazu aufgerufen ist, den
Tierschutz konsequenterweise auch in der Verfassung als
Staatsziel vorzusehen, in dieser Frage widersprüchlich
handelt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir doch im Tierschutzgesetz!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409911500
Herr Kollege, ich muss
Sie jetzt einmal bremsen. Es gibt nämlich eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ronsöhr.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409911600
Ja, bitte.


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1409911700
Sehr ver-
ehrter Herr Heinrich, Sie haben eben ausgeführt, dass ei-
nerseits festgestellt worden ist, die Verankerung des Tier-
schutzes in der Verfassung sei ein symbolischer Akt, und
andererseits, dies führe zu einer Wettbewerbsverzerrung.
Sie haben gesagt, das eine schließe das andere aus. Sagen
Sie doch bitte einmal, was Sie ausschließen: den symboli-
schen Akt oder die Wettbewerbsverzerrung?


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409911800
Ich sage Ihnen – das habe ich
bereits unterstrichen –, dass es keine Symbolik ist, den
Tierschutz in dieser Form als Staatsziel zu formulieren und
in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern. Diese Ver-
ankerung wollen wir, weil wir eine in einem Abwägungs-
prozess zu treffende Entscheidung vorzeichnen wollen.
Wir können das Ergebnis dieser Entscheidung nicht be-
stimmen, aber vorzeichnen. Auch wir müssen uns in Zu-
kunft bei weitergehenden Gesetzesvorhaben an diesem
Staatsziel orientieren. Wir können dann nicht mehr so tun,
als gebe es dieses Staatsziel nicht.

Nun zum Widerspruch zur Wettbewerbsfähigkeit, den
Sie angesprochen haben, Herr Kollege Ronsöhr: Wir set-
zen uns nicht nur in den Ländern, sondern auch national,
auf europäischer Ebene und auf der Ebene der WTO für
einen entsprechenden Standard beim Tierschutz ein – auch
im Sinne der Wettbewerbsgleichheit.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dafür brauchen wir die Verfassungsänderung nicht!)


Das ist der politische Auftrag, den wir zu erfüllen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, mit der Aufnahme des Tier-
schutzes als Staatsziel in die Verfassung ist Schluss mit
künstlerischen Darbietungen, mit Happenings und Insze-
nierungen, bei denen Tiere zur Schau gestellt und gequält
werden, bei denen Tiere zu Tode kommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wäre schon jetzt nicht mehr möglich!)


Das wird aufgrund dieses Abwägungsprozesses in Zu-
kunft nicht mehr stattfinden können.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn wenn sich der Deutsche Bundestag auf die Seite der
Tiere stellt,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das tut er ja!)

und zwar mit mehr als nur einfachgesetzlichen Regelun-
gen, dann werden wir ihre Lage verbessern können.

Lassen Sie mich eines zum Schluss sagen: Die Millio-
nen von Menschen, denen es ein großes Anliegen ist, dass
der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufge-
nommen wird, können sich nicht irren; denn sie alle haben
Erfahrungen mit Tieren und leider Gottes auch Tierquäle-
reien gesehen. Darum geht es und deshalb müssen wir als
Parlament uns eindeutig auf die Seite der Tiere stellen.

Ich werbe – Sie merken es, meine Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU – nachhaltig um Ihre Stim-
me. Es wäre in Ihrem Sinne, im Sinne des Tierschutzes und
auch im Sinne des Ansehens des deutschen Parlaments,
wenn wir dieses Zeichen gemeinsam setzten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409911900
Es spricht jetzt der
Kollege Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1409912000
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte ein
Wort von Herrn Kollegen Heinrich aufgreifen. Er hat sei-
nen Beitrag mit dem Satz begonnen, Tierschutz sei ein
Konsensthema. Dieser Satz ist richtig. Ich nehme ein an-
deres Wort meines Kollegen Norbert Röttgen auf, der sehr
zutreffend gesagt hat: Wir streiten nicht über das Ja oder
das Nein zum Tierschutz, wir streiten über die Wege. Was
sind die richtigen Wege, auch vonseiten der Gesetzge-
bung, also des Parlaments, um für den Tierschutz mög-
lichst viel und möglichst Gutes zu tun?

In dieser Frage, Herr Heinrich, hat sich seit der Zeit der
Gemeinsamen Verfassungskommission, die Sie angespro-
chen haben, nichts verändert. Auch die Hearings in der
letzten Legislaturperiode haben dies deutlich gemacht. Es
hat sich jedenfalls nichts geändert, was dafür sprechen
könnte, heute – im Gegensatz zu der damaligen Entschei-
dung – eine solche Staatszielbestimmung in das Grundge-
setz aufzunehmen.




Ulrich Heinrich

9275


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine Staatszielbestimmung wird ganz offenkundig
wieder – diese Debatte belegt es – völlig überschätzt.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht es auch nichts, wenn man zustimmt!)


Die Geschichte unseres Grundgesetzes zeigt es: Das
Grundgesetz ist bekanntlich mit Staatszielbestimmungen
immer sehr, sehr zurückhaltend und vorsichtig gewesen,
weil diese in aller Regel Verfassungspolitik, aber nicht
stringentes Verfassungsrecht darstellen. Den Tieren hilft
aber nur stringentes Recht und nicht – ich drücke es ein-
mal so aus – weitgehend zur Kosmetik, zur Lyrik einla-
dende Verfassungspolitik.

Das war der entscheidende Grund dafür, warum wir
damals gesagt haben – und wir haben uns richtig ent-
schieden –: Es hilft den Tieren und auch dem Tierschutz
nicht, wenn man eine Staatszielbestimmung der jetzt wie-
der in die Diskussion gebrachten Art formuliert und ins
Grundgesetz aufnimmt. Die Argumente, die in dieser De-
batte vorgetragen worden sind, belegen das nur allzu deut-
lich. Hier ist von verschiedenen Rednern der Eindruck er-
weckt worden, als gäbe es in unserem Land gar keinen
Tierschutz, sondern nur Tierquälerei, schreckliche Tier-
versuche.

Einige haben darauf hingewiesen, dass es gerichtliche
Urteile gibt. Das sind in der Tat wichtige Urteile. Herr
Ströbele spricht davon, man müsse endlich dahin kom-
men, dass das Tier vor das Verwaltungsgericht kommt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass es eine Chance hat!)


Meine Damen und Herren, das ist doch nicht der richtige
Weg. Es geht um die materiellrechtlich richtigen Rege-
lungen. Der Weg dorthin ist das Tierschutzgesetz, das ein-
fache Gesetzesrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer es mit den Tieren wirklich gut meint – ich gehe da-

von aus, Herr Heinrich, dass in dieser Frage wirklich Kon-
sens in diesem Hause besteht –, der geht die richtigen We-
ge, indem er gegebenenfalls das Tierschutzge-
setz weiter verbessert. Er geht vor allem – wie Norbert
Röttgen deutlich gemacht hat – den schweren Weg nach
Europa, den wir in der vergangenen Legislaturperiode mit
Nachdruck gegangen sind, auf dem wir aber leider noch
nicht zu Ende gekommen sind. Wir müssen die unter-
schiedlichen Kulturen sehen. Wir müssen, was den Tier-
schutz angeht, für unsere Auffassungen werben. Wir müs-
sen dort die rechtlichen Erfolge erzielen. Aber wir dürfen
uns nicht in der Illusion verlieren, dass uns eine nationale
Staatszielbestimmung, die wirklich nur einen sehr, sehr
begrenzten normativen Effekt haben kann, weiterhilft. Ich
fürchte, das wird zum Alibi und nicht zu dem, was hier im
Konsens und zu Recht eingefordert wird.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Deshalb: Gehen wir den schweren Weg. Es ist nämlich
viel schwerer, in der einfachen Gesetzgebung und auch in

Europa Schritt für Schritt das zu erkämpfen, was wir un-
seren Tieren schulden.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch lächerlich!)

Lassen Sie mich noch ein Wort zur Forschung sagen.

Hüten wir uns davor, falsche Konflikte aufzubauen! Der
Forscher ist heute in manchen Beiträgen gleichsam als der
Feind des Tieres dargestellt worden. Meine Damen und
Herren, das ist doch nicht wahr. Die Forschung ist not-
wendig; das weiß jeder. Aber wo gibt es denn ein so aus-
geprägtes, rechtlich gebundenes, dem Tierschutz ver-
pflichtetes Ethos in der Forschung wie in Deutschland?
Das gibt es in keinem anderen Land dieser Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wehre mich dagegen, dass die Forscher hier verun-

glimpft werden. Sie haben genau die gleichen ethischen
Prinzipien, mitunter sogar viel mehr als mancher, der
leichthin von diesem oder jenem in dieser Szenerie spricht.
Es ist nämlich leicht, in diesem Feld zu reden, Bekennt-
nisse abzugeben. Aber es ist schwer, Verantwortung zu
tragen, verantwortlich zu handeln. Dafür werbe ich, dafür
werben wir: Verantwortung ist das gefragte Thema, Ver-
antwortung da, wo es unbequem ist, Verantwortung da, wo
es um konkrete, wirksame, stringente normative Erfolge
geht. Gehen wir diesen Weg gemeinsam! Dazu lädt unse-
re Resolution ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912100
Es spricht jetzt
der Herr Bundesminister Karl-Heinz Funke.

Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte einige Stich-
worte aufgreifen, die in dieser Debatte gefallen sind. Ich
persönlich bin sehr dankbar dafür, dass die Koalitions-
fraktionen und die F.D.P.-Fraktion den Tierschutz als
Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen wollen. In der
Tat, Herr Heinrich, wird es Zeit, das zu tun. Ich sage das
mit großem Nachdruck.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)

Ich füge hinzu, dass ich in weiten Teilen das unter-

schreiben kann – lediglich die Schlussfolgerung ist für
mich eine andere –, was der Kollege Ronsöhr hier zum
Tierschutz, insbesondere zur Nutztierhaltung in der
Landwirtschaft, gesagt hat. Das ist unstrittig. Ich hätte ei-
gentlich erwartet, dass er in der Logik seiner Rede gesagt
hätte: Gerade deshalb muss der Tierschutz als Staatsziel in
das Grundgesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein! Gerade deshalb brauchen wir es nicht!)


– Dazu komme ich gleich noch!
Es ist hier überhaupt nicht die Rede davon gewesen,

dass dann, wenn man den Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz hätte, keine spezialgesetzlichen Regelungen
mehr erforderlich wären.




Dr. Rupert Scholz
9276


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)

Es hat niemand gesagt, dass das jetzt schon das Ende wä-
re. Das wäre es natürlich nicht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das fürchte ich aber!)


– Das hat wirklich niemand gesagt. Ich habe aufmerksam
zugehört. Der Kollege Ronsöhr hat das nicht gesagt und
die anderen Redner auch nicht.

Herr Professor Scholz, es hat auch niemand gesagt,
dass der Forscher gleichsam der Feind des Tieres sei. Das
ist in dieser Debatte wirklich nicht gesagt worden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist natürlich gesagt worden!)


– Nein, auch Herr Ströbele hat nicht gesagt, dass der For-
scher der Feind des Tieres sei.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Man muss zwischen den Zeilen hören!)


Im Übrigen darf man auch nicht unterstellen, dass der
Standort Bundesrepublik Deutschland für die Biotechno-
logie gefährdet ist, wenn der Tierschutz als Staatsziel in
das Grundgesetz aufgenommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich führe schon seit einigen Jahren Diskussionen, auch mit
Wissenschaftlern, über dieses Thema. Gerade der tierver-
suchsfreien Biotechnologie, so habe ich selbst kritische
Beobachter im Ohr, gehört die Zukunft. Das sagen die
ganz eindeutig und das ist von der Sache her gesehen auch
so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ulrike Flach [F.D.P.])


Mit einer etwaigen Gefährdung des Forschungsstandortes
hat diese Diskussion nun wirklich überhaupt nichts zu tun.

Über den Beitrag von Herrn Röttgen habe ich mich –
ich will es sehr vorsichtig sagen – gewundert. Bei einer art-
gerechten Ablage von Reden wäre dafür der Papierkorb
geeignet.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

– Ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit. Es ist schon selt-
sam – Herr Ronsöhr hat ihm ja Gott sei Dank indirekt auch
widersprochen –, sich hier hinzustellen und zu sagen: Ma-
chen Sie doch eine Hennenhaltungsverordnung, Sie haben
es ja in der Hand, im Wege der Spezialgesetzgebung etwas
für den Tierschutz zu tun. – Ich wäre gespannt, was aus-
gerechnet Sie dazu sagten, wenn wir eine Verordnung auf
den Tisch legten, die weit über das hinausginge, was wir
dazu in der Richtlinie auf europäischer Ebene vereinbart
haben.


(Zuruf des Abg. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU])


– Er hat ja uns aufgefordert, eine entsprechende Verord-
nung zu machen, also sozusagen nationales Handeln an-
gemahnt.


(Zuruf des Abg. Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU])


– Ach, hat er nicht? Dann habe ich ihn auch an der Stelle
falsch verstanden. Ich nehme das so zur Kenntnis.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Nachdenken!)


Ich unterstreiche nämlich das, was der Kollege Ronsöhr
gesagt hat, dass man beides, nationale Regelungen und
Wettbewerbsfähigkeit, gegeneinander abwägen muss.

Herr Professor Scholz, Sie haben ein Argument ge-
nannt, das in meinen Augen gerade dazu führen muss, den
Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen.
Sie haben wörtlich gesagt – ich finde das richtig –, dass
Staatszielbestimmungen nur einen begrenzten normativen
Effekt haben. Also haben sie auch einen normativen Ef-
fekt, wenn auch einen begrenzten. Angesichts der Dis-
kussion über den Tierschutz wäre es, so glaube ich, schon
sehr gut, wenn diese Staatszielbestimmung im Grundge-
setz einen normativen Effekt zur Folge hätte, und sei er
auch noch so begrenzt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das ist für mich ein weiteres Argument dafür, es aufzu-
nehmen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber wir haben doch schon ein Tierschutzgesetz!)


– Ich komme noch zu dem Argument, dass wir ja das Tier-
schutzgesetz haben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)

In der Tat haben wir es, und ich will ausdrücklich aner-

kennen, dass frühere Bundesregierungen, viele Landesre-
gierungen und der Bundesrat mit seinen Initiativen hier
sehr viel Gutes bewirkt haben. Das ist alles unstrittig. Aber
jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich der Auffassung bin,
dass der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz soll-
te: zum einen wegen dieses normativen Effektes, zum an-
deren aber auch, weil eine solche Staatszielbestimmung im
Grundgesetz meiner Auffassung nach bewusstseinsstif-
tend ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch aber beim Tierschutzgesetz auch so!)


Das ist vielleicht sogar ein zentraleres Argument und
wichtiger als die formaljuristische Argumentation. Denn
im Sinne des Tierschutzes ist es notwendig, ständig und
neu das Bewusstsein für das Mitgeschöpf Tier zu stiften.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Ich will Ihnen das – mein Namensvetter Funke wies
schon darauf hin – ein bisschen historisch begründen:
Wenn man sich einmal mit alten Gesetzestexten, etwa der
deutschen Länder, zum Schutz von Tieren – auch bei




Bundesminister Karl-Heinz Funke

9277


(C)



(D)



(A)



(B)


Transporten beschäftigt, dann stellt man fest, dass viele
gesetzliche Regelungen des 19. Jahrhunderts weiter wa-
ren, als wir heute sind. Ich könnte das Stück für Stück be-
legen. Das heißt, das Bewusstsein, wie man mit Tieren um-
geht, war aus verschiedenen Gründen vor mehr als
100 Jahren offenkundig weiter entwickelt als heute.

Fragen Sie einmal junge Leute – ich mache das sehr
gerne –, ob sie denn noch den Satz „Quäle nie ein Tier zum
Scherz, ...“, den wir zu Hause lernten, fortsetzen können.
Viele junge Menschen scheitern bei der Aufgabe, diesen
Satz fortzusetzen. Insofern geht es nicht darum, dass wir
formales Recht zu schaffen haben, sondern darum, die Be-
wusstseinsbildung in Gang zu bringen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


damit Tiere so behandelt werden, wie sie in einer zivili-
sierten Gesellschaft behandelt werden müssen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hängt doch nicht vom Grundgesetz ab!)


– Nein, es hängt nicht nur vom Grundgesetz ab.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein, überhaupt nicht!)

Das ist völlig klar. Aber es hängt auch vom Grundgesetz
ab, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Widerspruch bei der [CDU/CSU])


Wenn Ihnen das alles nicht reicht, sage ich Ihnen, was
ich konkret möchte: Ich möchte, dass dann, wenn in der
Schule im Fach Gemeinschaftskunde oder im politischen
Unterricht über Grundgesetzartikel geredet wird, auch
über das Staatsziel Tierschutz anhand grundgesetzlicher
Texte geredet, Unterricht gemacht, diskutiert wird. Dann
erreichen wir eine Bewusstseinsänderung auf diesem Ge-
biet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Norbert Geis [CDU/CSU]: Darüber kann auch jetzt schon geredet werden! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Wenn Sie das alles überhaupt nicht beeindruckt, ist es
wohl so, dass Sie das schlicht und einfach nicht wollen.
Das nehme ich zur Kenntnis. Diesen Eindruck hatte ich
auch bei manchem Beitrag. Sie wollen dies einfach nicht
und schieben die formaljuristischen Aspekte der Staats-
zielbestimmung im Grundgesetz vor.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Ich bedaure das sehr. Ich möchte wirklich auch vor dem
Hintergrund des pädagogischen Aspekts dafür werben,
dies ins Grundgesetz aufzunehmen.

Es ist in unserer Gesellschaft nun einmal so, dass viele
Menschen nicht mehr auf natürliche Art und Weise mit
Tieren aufwachsen, wie es früher in jedem Haus, auf je-

dem Hof, in jedem Dorf, sogar in der Stadt selbstver-
ständlich war. Das haben wir nicht mehr. Darum fehlt es
vielen an dem entsprechenden Bewusstsein, an der Ein-
stellung. Man verhält sich auf der einen Seite sehr abstrakt,
theoretisch, vielleicht auch kuschelnd, verklärend, gera-
dezu idyllisch – genauso falsch –, auf der anderen Seite
aber so, dass Tiere leiden und gequält werden. Dies ge-
schieht nicht deshalb, weil man es will und mit Absicht
herbeiführt, sondern weil das Bewusstsein dafür zu unter-
entwickelt ist. Das ist der Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich bitte, noch einmal zu

überlegen, vielleicht noch einmal selber abzuwägen. Ich
glaube, einer Gesellschaft wie der unseren stünde es gut
an, wenn wir hier im Bundestag das machten, was die
große Mehrheit der Menschen und was auch die Tiere,
könnten sie sich denn artikulieren, von uns erwarten. Die-
se herzliche Bitte habe ich.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912200
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache. Bevor wir zu den Ab-
stimmungen kommen, möchte ich darauf hinweisen, dass
wir nach der namentlichen Abstimmung erfahren, wie es
dann genau weitergeht. Ich bitte die Kollegen also, hier im
Raum zu bleiben.

Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Grundgesetzes, Staatsziel Tierschutz.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der
Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 446
Stimmen, erfordert. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist noch jemand anwesend, der seine Stimme nicht ab-
gegeben hat? Ich bitte die Schriftführer, mir zu sagen,
wann ich die Abstimmung schließen kann. – Ich schließe
damit die Abstimmung.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit




Bundesminister Karl-Heinz Funke
9278


(C)



(D)



(A)



(B)


der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Er-
gebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich
die Sitzung für wenige Minuten.


(Unterbrechung von 15.17 bis 15.24 Uhr)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912300
Die unterbro-
chene Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des

Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Grundge-
setzes, Staatsziel Tierschutz, bekannt. Abgegebene Stim-
men 603. Mit Ja haben gestimmt 392, mit Nein haben ge-
stimmt 205.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unbelehrbar!)

Es gab sechs Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit
abgelehnt, weil die notwendige Zweidrittelmehrheit von
446 Stimmen nicht erreicht wurde.




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9279


(C)



(D)



(A)



(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 602
davon

ja: 391
nein: 205
enthalten: 6

Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel (Berlin)

Klaus Barthel (Starnberg)

Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding (Heidelberg)

Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann (Detmold)

Bernhard Brinkmann

(Hildesheim)


Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner (Ingolstadt)

Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki

Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Annette Faße
Lothar Fischer (Homburg)

Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich (Mettmann)

Harald Friese
Anke Fuchs (Köln)

Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller (Lübeck)

Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann (Chemnitz)

Walter Hoffmann

(Darmstadt)


Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Ingrid Holzhüter
Eike Maria Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Volker Jung (Düsseldorf)

Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange (Backnang)

Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann

(Neubrandenburg)


Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß (Herne)


Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller (Düsseldorf)

Jutta Müller (Völklingen)

Christian Müller (Zittau)

Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann (Bramsche)

Gerhard Neumann (Gotha)

Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Birgit Roth (Speyer)

Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer

Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer

(Nürnberg)


Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Dagmar Schmidt (Meschede)

Wilhelm Schmidt (Salzgitter)

Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt (Berg)

Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann

(Delitzsch)


Brigitte Schulte (Hameln)

Reinhard Schultz

(Everswinkel)


Volkmar Schultz (Köln)

Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz (Oldenburg)

Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast

Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Gerald Thalheim
Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt (Pforzheim)

Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis (Stendal)

Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber

Gert Weisskirchen

(Wiesloch)


Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker

Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek (Böhlen)

Helmut Wieczorek

(Duisburg)


Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese (Hannover)

Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer (Karlsruhe)

Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf (München)

Waltraud Wolff (Zielitz)

Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)


Elmar Müller (Kirchheim)

Hans-Otto Wilhelm (Mainz)

Dagmar Wöhrl
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gila Altmann (Aurich)

Volker Beck (Köln)

Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer (Berlin)

Katrin Dagmar Göring-
Eckardt

Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Claudia Roth (Augsburg)


Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt (Hitzhofen)

Werner Schulz (Leipzig)

Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm (Amberg)

F.D.P.
Hildebrecht Braun

(Augsburg)


Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger

Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto

(Frankfurt)


Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner

Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf

Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner

(Schönebeck)


Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens (Emstek)

Peter H. Carstensen

(Nordstrand)


Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Axel E. Fischer

(Karlsruhe-Land)


Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich

(Erlangen)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
9280


(C)



(D)



(A)



(B)


Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther (Duisburg)

Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein

Gottfried Haschke

(Großhennersdorf )


Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser (Bonn)

Hansgeorg Hauser

(Rednitzhembach)


Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen

Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link (Diepholz)

Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold

(Offenbach)


Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann

(Lüdenscheid)


Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski

(Recklinghausen)


Dr. Martin Mayer

(Siegertsbrunn)


Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller (Jena)

Bernd Neumann (Bremen)

Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto (Erfurt)

Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen

Christa Reichard (Dresden)

Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch

(Wiesbaden)


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth (Gießen)

Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Dr.-Ing. Joachim Schmidt

(Halsbrücke)


Andreas Schmidt (Mülheim)

Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer

Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze (Berlin)

Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-
Schilling

Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte

Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten

Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer (Neuss)

Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller

Enthalten
CDU/CSU
Ilse Aigner
Jochen Borchert
Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)


Siegfried Helias
Elke Wülfing
F.D.P.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9281


(C)



(D)



(A)



(B)


Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-
sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete

Bierling, Hans Dirk Bühler (Bruchsal), Klaus Haack (Extertal), Karl-Hermann Irmer, Ulrich
CDU/CSU CDU/CSU SPD F.D.P.
Kossendey, Thomas Raidel, Hans Rauber, Helmut
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu den Gesetzentwürfen der Fraktio-
nen der F.D.P. und der PDS sowie des Bundesrates zur Än-
derung des Grundgesetzes. Der Ausschuss hatte empfoh-
len, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207,
14/279 und 14/758 für erledigt zu erklären. Dazu wird aber
vorrangig das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht. Ich
gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409912400
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen!


(Unruhe)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912500
Ich bitte, die
Plätze einzunehmen, weil nach der Geschäftsordnungser-
klärung wieder abgestimmt werden muss. Dafür benötige
ich Übersicht.

Herr Kollege Heinrich, Sie haben das Wort.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409912600
Nachdem der gemeinsame
Gesetzentwurf leider Gottes keine Zweidrittelmehrheit ge-
funden hat, wollen wir, dass die ursprünglichen Anträge,
die schon im Ausschuss behandelt wurden und die zu-
rückgezogen wurden, weil man sich auf einen gemeinsa-
men Antrag geeinigt hatte, an den Ausschuss zurücküber-
wiesen werden und dort weiterberaten werden. Wir halten
dies für dringend notwendig, um den Prozess in der Sache
weiterführen zu können. Ich beantrage das im Namen der
Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen, der PDS-Frak-
tion und selbstverständlich auch im Namen der F.D.P.-
Fraktion.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912700
Es wird bean-
tragt, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207,
14/279 und 14/758 an die bisher schon damit befassten
Ausschüsse zurückzuüberweisen. Wer stimmt für den An-
trag auf Zurücküberweisung an die Ausschüsse? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der PDS, der F.D.P. und mit einigen
Stimmen aus der CDU/CSU gegen mehrere Stimmen aus
der CDU/CSU


(Zuruf von der SPD: Völlig verwirrt!)

ist beschlossen worden, dass die Gesetzentwürfe an die
Ausschüsse zurücküberwiesen werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Die neue CDU!)

Es ist somit klar, dass heute über die Gesetzentwürfe in der
Sache nicht abgestimmt wird.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/3197. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU abgelehnt worden.

Sind Sie damit einverstanden, dass eine persönliche
schriftliche Erklärung des Abgeordneten Stöckel gemäß
§31 der Geschäftsordnung zu Protokoll genommenwird?)
–Das ist derFall.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f – es han-
delt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren
ohne Debatte – auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die asso-
ziierte Mitgliedschaft der Republik Polen, der
Tschechischen Republik und der Republik
Ungarn in der Westeuropäischen Union
– Drucksache 14/3076 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Königreich
derNiederlande über die gegenseitige Amtshilfe
bei der Beitreibung von Steueransprüchen und
der Bekanntgabe von Schriftstücken
– Drucksache 14/3077 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 10. März 1998 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Südafrika über die
Seeschifffahrt
– Drucksache 14/3091 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung gemäß Artikel 13
Abs. 6 Satz 1 GG
– Drucksache 14/2452 –
Überweisungsvorschlag:
Gremium gemäß Artikel 13 Abs. 6 Grundgesetz

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit
und über das Unfall- und Berufskrankheitenge-
schehen in der Bundesrepublik Deutschland im
Jahre 1998
– Drucksache 14/2471 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
9282


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 2

Technikfolgenabschätzung
hier: „Umwelt und Gesundheit“
– Drucksache 14/2848 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 m auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de-
nen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Norbert Geis,
Erwin Marschewski, Ronald Pofalla, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen zur akustischen Wohnraumüber-
wachung – Unterrichtungspflicht der Bundes-
regierung nach Artikel 13 Abs. 6 GG und
§ 100 e Abs. 2 StPO
– Drucksachen 14/1146, 14/2383 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Norbert Geis
Jörg van Essen

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.

Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bun-
desregierung
Aufhebbare Neunundvierzigste Verordnung
zur Änderung der Außenwirtschaftsverord-
nung
– Drucksachen 14/2486, 14/2555 Nr. 2.1,
14/3131 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-
nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? ,– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-

men des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenom-
men worden.

Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bun-
desregierung
Aufhebbare Einhundertvierzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum
Außenwirtschaftsgesetz –
–Drucksachen14/2487,14/2555Nr.2.2, 14/3132–
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-
nung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht
2 BvE 6/99
– Drucksache 14/3116 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

Der Ausschuss empfiehlt, eine Stellungnahme abzugeben
und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtig-
ten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
– Drucksache 14/3117 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz

Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder ei-
nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist ein-
stimmig angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 145 zu Petitionen
– Drucksache 14/3108 –




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9283


(C)



(D)



(A)



(B)


Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 146 zu Petitionen
– Drucksache 14/3109 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 146 ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 147 zu Petitionen
– Drucksache 14/3110 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposi-
tion angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 148 zu Petitionen
– Drucksache 14/3111 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 149 zu Petitionen
– Drucksache 14/3112 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 150 zu Petitionen
– Drucksache 14/3113 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 150 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der
PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 151 zu Petitionen
– Drucksache 14/3114 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 151 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 152 zu Petitionen
– Drucksache 14/3115 –

Wer stimmt zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 152 ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen von
PDS und F.D.P. ist angenommen worden.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Zuwanderungsbegren-
zungsgesetzes (ZuwBegrG)

– Drucksache 14/48 –

(Erste Beratung 11. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/2019 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Wolfgang Bosbach
Cem Özdemir
Dr. Guido Westerwelle
Ulla Jelpke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Kollege van Essen.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1409912800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Diskussion über eine gesetzliche
Steuerung der Einwanderung nach Deutschland wird seit
langem geführt und die F.D.P. ist der Meinung, dass nach
allen diesen Diskussionen nun die Zeit des Handelns ge-
kommen ist. Wir müssen der unübersichtlichen Einwan-
derungspolitik, die das politische Klima in Deutschland
seit Jahren belastet, eine klare und transparente Linie
entgegensetzen.


(Beifall bei der F.D.P.)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
9284


(C)



(D)



(A)



(B)


Gerade hier ist Perspektive statt Pannenhilfe, Verläss-
lichkeit statt Flickschusterei gefragt.


(Beifall des Abg. Dr. Klaus Kinkel [F.D.P.])

Deshalb ist die Zeit reif für ein Zuwanderungsbegren-
zungsgesetz,


(Beifall bei der F.D.P.)

für ein Gesetz, mit dem die Zuwanderung nach Deutsch-
land gesteuert, begrenzt und stärker an den legitimen In-
teressen unseres Landes und seiner Bürger ausgerichtet
wird.

Dies ist im Übrigen in vielen anderen Ländern längst
Selbstverständlichkeit.

Nur so wird der Zuzug von Ausländern berechenbar
und sozial verträglich. Deshalb sieht unser Gesetzentwurf,
bei dem wir uns vor allem am australischen Modell orien-
tiert haben, das sich seit vielen Jahren bewährt hat, Fol-
gendes vor:

Unter Einbeziehung aller relevanten Zuwanderungs-
gruppen sollen in Zweijahresabständen jährliche Ge-
samthöchstzahlen festgesetzt und innerhalb dieses Rah-
mens Teilquoten für verschiedene Gruppen – auch für Ar-
beitszuwanderer, je nach Bedarf auf dem Arbeitsmarkt –
festgelegt werden. Unser Gesetzentwurf beinhaltet also
die Möglichkeit, an unserem Bedarf orientiert zur Aus-
übung einer Erwerbstätigkeit zuzuwandern.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dass es diesen Bedarf gibt, hat die Diskussion über die
Computerfachleute, aber auch die Reaktion insbesondere
in der mittelständischen Wirtschaft gezeigt.

Die Bestimmung von Bedarf und Kriterien ist eine po-
litische Entscheidung, die von einer unabhängigen Kom-
mission, in der alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen
vertreten sind, vorbereitet wird. Damit wollen wir unseren
wohlverstandenen nationalen Interessen mehr Raum ge-
ben; denn bei der Entscheidung über die Aufnahme eines
so genannten Arbeitszuwanderers sind Alter, Qualifikati-
on und berufliche Erfahrung, Integrationsfähigkeit und
finanzielle Absicherung des Antragsstellers besonders zu
berücksichtigen. Daneben wollen wir aber an den huma-
nitären Verpflichtungen festhalten.

Die Asylbewerberzahlen werden mit der Gesamt-
höchstzahl der Zuwanderer verrechnet, sodass diese in je-
dem Fall eingehalten wird. Asyl und Zuwanderung – das
ist mir ein ganz wichtiger Punkt – sollen sich aber gegen-
seitig ausschließen. Wer einen Asylantrag stellt, muss wis-
sen, dass er dann keinen Antrag mehr auf Zuwanderung
stellen kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Für Zuwanderungswillige macht es daher keinen Sinn
mehr, einen aussichtslosen Asylantrag zu stellen und da-
mit das Asylrecht zu missbrauchen. Dadurch können die
ohnehin schon stark zurückgegangenen Asylbewerber-
zahlen noch einmal reduziert werden. Unter diesen Um-
ständen – das darf ich hinzufügen – gibt es keinen Grund,
von unserem individuellen Asylrecht in Art. 16 des
Grundgesetzes abzurücken.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn der Vorschlag Gerhard Schröders zur so genann-
ten Green Card etwas Gutes bewirkt hat, dann ist es die
Tatsache, dass Bewegung in die bisher starren Fronten ge-
kommen ist. Die Union hat die Scheindiskussion darüber
aufgegeben, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei,
und fängt endlich an, sich an der Realität zu orientieren.
Zahlreiche Äußerungen aus der jüngsten Zeit belegen das.
Stellvertretend nenne ich nur den saarländischen Minis-
terpräsidenten Peter Müller, der am Wochenende gesagt
hat: Die Frage lautet längst nicht mehr „Zuwanderung – ja
oder nein?“, sondern die Frage lautet „Zuwanderung – ge-
regelt oder ungeregelt?“. Genauso sehen wir das auch.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es gibt aber noch zu viele Bremser. Die Postkartenak-

tion von Herrn Rüttgers zeigt, dass die Union in weiten
Teilen noch immer rückwärts gewandt, defensiv und noch
dazu wirtschaftsfeindlich agiert.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)


Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Rei-
hen zu leisten.

Ausgerechnet die SPD zögert neuerdings, sich zu einer
transparenten Einwanderung zu bekennen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das stimmt so nicht!)


In ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl
heißt es noch unter der Überschrift „Zuwanderung sozial
verträglich steuern“:

Integration kann nur gelingen, wenn die Grenzen der
Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft der
Gesellschaft beachtet werden. Deshalb wollen wir ei-
ne wirksame gesetzliche Steuerung und Begrenzung
der Zuwanderung. Sie muss die Arbeitsmarktbelas-
tung, die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungs-
systeme und humanitäre Gesichtspunkte berücksich-
tigen.

(Zuruf von der SPD: Das haben wir heute doch schon einmal gehört!)

Nichts anderes schlagen wir vor.


(Beifall bei der F.D.P.)

Jetzt heißt es bei der SPD: In dieser Legislaturperiode soll
es keine gesetzliche Zuwanderungsregelung geben. Das
nenne ich eine merkwürdige Umsetzung von Wahlver-
sprechen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Grünen, um damit auf die zweite Koalitionspartei

zu sprechen zu kommen, tun sich übrigens mit dem The-
ma ähnlich schwer. Neuerdings hört man vorsichtige
Äußerungen, man sei für eine gesetzliche Zuwanderungs-
regelung, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. Wie
fast immer gibt man eigene Überlegungen bei Widerstand
des Koalitionspartners sofort auf.




Jörg van Essen

9285


(C)



(D)



(A)



(B)



(Sebastian Edathy [SPD]: Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?)


Die Ausländerbeauftragte hält sich wie in vielen ande-
ren Fragen auch auffallend zurück. Eine liberale Auslän-
derbeauftragte wie Cornelia Schmalz-Jacobsen hat in
ihrem Amt deutlich mehr Mut bewiesen. Das war für sie
selbstverständlich.


(Beifall bei der F.D.P. – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat alles durchgesetzt?)


Sie hat im Übrigen – ich bin sehr stolz darauf – den Ge-
setzentwurf der F.D.P. maßgeblich mit erarbeitet.

Die Grünen scheuen zudem vor der Selbstverständ-
lichkeit zurück, dass es völlig legitim ist – und in anderen
Ländern als absolut normal angesehen wird –, wohlver-
standene nationale Interessen bei der Zuwanderung zu
berücksichtigen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sie wollen das Tor für Zuwanderer noch immer möglichst
weit aufmachen, statt die notwendige Steuerung und Be-
grenzung vorzunehmen.

Nun wird gerne gesagt, man müsse die Einwanderung
europäisch regeln. Selbstverständlich gehört für eine Eu-
ropäische Union, in der es keine Binnengrenzen mehr gibt,
die Frage der Zuwanderung, der Ausländer- und Asylpo-
litik schon aus sachlichen Gründen zwingend zu den auf
europäischer Ebene zu regelnden Fragen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Im Vertrag von Amsterdam sind die rechtlichen Voraus-
setzungen für die schrittweise Umsetzung einer europäi-
schen Regelung geschaffen worden. Die F.D.P. als Euro-
papartei setzt sich sehr für eine europäische Migrations-
politik ein.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das schließt jedoch keineswegs aus, dass wir auf nationa-
ler Ebene das tun, was wir tun können und was wir für
richtig halten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir sollten uns also nicht hinter Europa verstecken.

Ich stelle fest: Als einzige Partei in Deutschland be-
kennt sich die F.D.P. zu einer geregelten, durchschaubaren
und an den Interessen unseres Landes orientierten Zu-
wanderung. Wir wollen mehr Zugangsmöglichkeiten für
diejenigen Ausländer, die wir – aus welchen Gründen auch
immer – benötigen, und gleichzeitig die Zuwanderung
derjenigen begrenzen, bei denen das nicht der Fall ist, oh-
ne unsere humanitären Verpflichtungen aufzugeben.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409912900
Herr Kollege van
Essen, Ihre Redezeit.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1409913000
Im Übrigen stelle ich fest –
das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin –: Wir stehen mit

unserer Forderung nicht alleine. Wir wissen, dass eine
große Mehrheit in der Bevölkerung die Situation genauso
sieht. Deshalb sind wir sicher, auf dem richtigen Weg zu
sein. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unserer
vernünftigen Regelung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913100
Für die Bundes-
regierung erhält jetzt die Staatssekretärin Frau Sonntag-
Wolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatsse-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409913200
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es klingt zwar nach
Aufbruch, was der Kollege van Essen gesagt hat. Aber ei-
gentlich handelt es sich fast schon um ein Stück Geset-
zesgeschichte, weil wir diesen Gesetzentwurf heute end-
gültig zu den Akten legen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Leider!)

Dieser Gesetzentwurf, Herr van Essen, hat schon eine
ziemliche Staubschicht angesetzt, und zwar so sichtbar,
dass die F.D.P.-Fraktion ihn zu einem Antrag umgemodelt
hat, über den wir heute Morgen beraten haben.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist ein anderer Antrag!)


Diese Anträge sind inhaltlich weitgehend identisch.
Aber es hilft nichts: Die Vorherrschaft in der Diskussion
um die Frage, die uns im Moment bewegt, nämlich wa-
rum und unter welchen Bedingungen Zuwanderung bei
uns gesteuert werden soll und kann, erreichen Sie damit
nicht. Denn längst bestimmt die Bundesregierung mit ei-
nem ganz anderen Schwerpunkt die Debatte. Das haben
Sie, Herr van Essen, immerhin eingeräumt. Es geht ja hier
und heute um die Deckung eines akuten Bedarfs in einem
begrenzten Umfang, indem ausländische Computerspe-
zialisten ins Land geholt werden,


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Mit Ihrem Ansatz springen Sie viel zu kurz!)


und gleichzeitig – ich betone: gleichzeitig – um die Aus-
und Weiterbildung von einheimischen Kräften.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit einem Einwanderungsgesetz hat das aber nichts zu
tun. Das braucht Zeit, sorgfältige Argumentation und die
Abstimmung mit den europäischen Partnerstaaten. Kurz
gesagt: Dieses wäre eine langfristige – ich betone: lang-
fristige – Perspektive.

Aber immerhin zeigt uns der Gesetzentwurf der Freien
Demokraten, wie man es besser nicht machen sollte.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Deswegen haben die Australier so gute Erfahrungen damit gemacht! – Weitere Zurufe von der F.D.P.)

Mit Ihrem Vorschlag hätten Sie ein Preisausschreiben für
besondere Umständlichkeit gewinnen können. Da Sie
ja keine zusätzliche Einwanderung nach Deutschland




Jörg van Essen
9286


(C)



(D)



(A)



(B)


auslösen wollen, errichten Sie ein kompliziertes Regel-
werk mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen und sonstigen
Höchstzahlen. Sie wollen vor- und nachsteuern. Zu allem
Überfluss soll darüber ein Bundesamt für die Regulierung
der Zuwanderung thronen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was wollten Sie denn eigentlich alles in der letzten Legislaturperiode?)


Das ist keine Einwanderungspolitik, sondern Einwande-
rungsbürokratie.


(Widerspruch des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

Eine solche wollen wir nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mindestens ebenso bedenklich, Herr Kollege Niebel,
ist Ihr Umgang mit dem Familiennachzug. Sie wollen
zwar das geltende Recht nicht grundsätzlich zur Disposi-
tion stellen, aber Sie wollen diesen Zuzug mit den sonsti-
gen Aufnahmequoten verrechnen. Das kann nur darauf
hinauslaufen, dass sich die Einreise von Angehörigen um
Jahre verzögert. Das würde nicht nur eine besondere Här-
te bedeuten, sondern wohl auch den grundgesetzlich ga-
rantierten Schutz von Ehe und Familie betreffen. Auch das
kann unsere Billigung nicht finden. Wir haben es schließ-
lich mit Menschen zu tun und nicht mit Spielfiguren, die
man wie beim Malefiz-Spiel – je nach Kalkül – vor und
zurückschieben kann.

Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gerhardt, in die-
sen Tagen fordert, in Deutschland müsse man bei Ein-
wanderungsfragen mehr Weitsicht walten lassen, dann
muss ich Sie ganz herzlich bitten, Ihr eher engstirniges
Zuwanderungsbegrenzungsgesetz


(Widerspruch bei der F.D.P.)

ganz schnell zu vergessen und auszumustern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Viel bemerkenswerter finde ich allerdings, was sich bei

der CDU abspielt. Wenn man sich alte Debattenbeiträge
anschaut, dann kann man erkennen, dass noch vor ein paar
Monaten Ihre Redner jeder gesetzlichen Zuwande-
rungsregelung ein Nein entgegendonnerten. Inzwischen
sind Sie ganz schön durcheinander gewirbelt worden. Auf
das markige Nein von damals folgt nun Frau Merkels vor-
sichtiger Schwenk zum Ja. Das würde ja nichts machen,
wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, sich entschließen würden, über diese gesamte
schwierige Thematik in der kommenden Zeit einen ruhi-
gen und sachbezogenen Disput zu führen.

Wir sollten uns zum Ziel machen, einerseits den poli-
tisch Verfolgten und den Bürgerkriegsflüchtlingen wie bis-
her Schutz zu gewähren – dazu gehört auch der Zuzug und
Familiennachzug der Spätaussiedler –, andererseits aber
den Spielraum auszuloten, in dem wir die Zuwanderung
aktiver als bisher steuern und gestalten können. Aus die-
sem sorgfältigen Abwägen des Für und Wider kann durch-
aus ein geeignetes und schlüssiges Handlungskonzept
werden – wir wünschen uns dazu einen möglichst breiten

gesellschaftlichen Konsens –, allerdings unter zwei Vor-
aussetzungen:

Erstens. Es gibt schon jetzt auf EU-Ebene absehbare
Regelungen – ich nenne als Stichwort die Familienzu-
sammenführung –, deren Folgen wir ebenso abwägen
müssen wie die mögliche Arbeitskräftewanderung, die mit
der geplanten Osterweiterung der Europäischen Union
einhergehen kann. Also muss man sich doch in aller Ruhe
mit dieser Sache befassen.

Zweitens. Diese Sachdiskussion kann nur gelingen –
das ist mein letzter Satz, mein Appell –, wenn führende
Politiker der Union sich auch in Wahlkampfzeiten von
Demagogie und Desinformation durch Slogans wie „Mehr
Ausbildung statt Einwanderung“ endlich unverzüglich
lossagen. Bitte tun Sie das!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Erwin Marschewski.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Marschewski, bleiben Sie bitte gelassen)



Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409913400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zunächst ein paar Feststellungen. Erstens. Die Zu-
wanderung nach Deutschland ist weiterhin hoch. Sie ist zu
hoch. Sie ist vor allem ungeregelt. Ja, wir wollen politisch
Verfolgte und Hilfe Suchende aufnehmen; das ist klar.
Aber es kommen zu viele Menschen, die keine Beschäfti-
gung bei uns finden, und es kommen zu wenige, die unser
Land dringend bräuchte.

Zweite Bemerkung. Der Bundesminister des Innern hat
dies offensichtlich erkannt. Er handelt jedoch nicht.

Dritte Bemerkung. Der Gesetzentwurf der F.D.P., das
so genannte Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, ist leider
untauglich. Ich werde das gleich belegen. Er löst die Zu-
wanderungsprobleme nicht einmal im Ansatz. Dieser Ge-
setzentwurf geht ins Leere; er ist undurchführbar und des-
wegen erfolglos.


(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Der Gesetzentwurf ist erfolglos – ich habe dies schon sehr
oft bei Beratungen im Fachausschuss gesagt, Herr van
Essen –, weil ohne Änderung des Grundgesetzes keine
Höchstzahl für Zuwanderer festgelegt werden kann. Denn
niemand kann doch die Zahl derer begrenzen, die unter
Berufung auf Art. 16 a des Grundgesetzes nach Deutsch-
land kommen, es sei denn, der Bundesinnenminister macht
seine Ankündigung endlich wahr, das subjektive Asyl-
grundrecht durch eine institutionelle Garantie zu ersetzen.
Wir jedenfalls, Herr Bundesinnenminister, sind bereit, dies
zu tun; hier und heute, Herr Schily.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihr Gesetzentwurf ist deswegen erfolglos, Herr van

Essen, weil nach derzeitiger Grundgesetzlage eine Be-
grenzung des Familienzuzuges nicht realisierbar ist und




Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast

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(C)



(D)



(A)



(B)


weil eine weitere Einschränkung des Aussiedlerzuzuges
wegen Art. 116 des Grundgesetzes zu Recht nicht statthaft
ist.

Ihr Gesetzentwurf ist weiterhin schon deswegen un-
durchführbar, weil er die Zahl der abgelehnten Asylbe-
werber, die nicht abgeschoben werden, unberücksichtigt
lässt. Das sind doch Hunderttausende, weil die Länder,
insbesondere von Grünen und SPD regierte, diese nicht
abschieben, obwohl sie das Asylrecht missbraucht haben
und es somit aushöhlen.

Deswegen wiederhole ich: Ja, wir wollen politisch ver-
folgte und hilfebedürftige Menschen aufnehmen, das ist
wahr. Aber es kommen mehr Menschen nach Deutschland,
als wir ins Wirtschaftsleben integrieren können. Das wür-
de doch bedeuten, Herr van Essen, dass die von Ihnen ge-
forderte Zuwanderungshöchstzahl auf Jahre hinweg null
wäre. Das wissen Sie doch, Herr Kollege. Sie wissen, dass
dieser Gesetzentwurf untauglich ist, und trotzdem ver-
bleiben Sie bei diesem untauglichen Gesetzentwurf,


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Er ist nicht untauglich! Er bewährt sich tagtäglich!)


wie auch die Bundesregierung in Fragen der Begrenzung
der Zuwanderung nichts Taugliches, sondern nur Untaug-
liches angeboten hat.

Richtig ist die Erkenntnis des Bundesinnenministers:
Die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung ist
überschritten. Das ist richtig, Herr Schily, denn unseren In-
tegrationsmöglichkeiten bei fast 1 Million ausländischer
Sozialhilfeempfänger in Deutschland sind Grenzen ge-
setzt. Deswegen sagen wir, Herr Bundesinnenminister:
nicht reden, endlich handeln; der Worte sind genug ge-
wechselt!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer den Willen hat, Herr Schily, Zuwanderung zu steu-

ern und zu beschränken, nicht populistisch, sondern ernst-
haft, nicht mit untauglichen Mitteln, nicht zaghaft, son-
dern wirkungsvoll, der sagt Ja zu unseren Vorschlägen.
Diese Vorschläge sind: Die Zuwanderung nach Deutsch-
land muss gesteuert werden. Nur so ist eine Zuwanderung
möglich, die auch im Interesse unseres Landes liegt. Das
geht nicht auf dem bloßen Verordnungswege. Das geht
nicht durch überstürzte und konzeptionslose Durchbre-
chung des Anwerbestopps. Das geht nur durch eine ge-
setzliche Regelung zur Steuerung der Zuwanderung.
Da ist auf Dauer ein Gesetz notwendig,


(Sebastian Edathy [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf, Herr Kollege?)


weil es sich um eine für Deutschland wesentliche
Entscheidung handelt, Herr Kollege.


(Sebastian Edathy [SPD]: Legen Sie doch den Entwurf vor!)


Wahr ist natürlich, dass Bedarf an Fachkräften vor-
handen ist. Wahr ist aber auch, dass die jungen Menschen
in Deutschland oft mangelhaft ausgebildet worden sind.
Dafür sind die Bundesländer verantwortlich. Auch das ist
wahr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wahr ist, dass der Bedarf an Fachkräften vorhanden ist,

nicht nur im IT-Bereich, sondern auch in anderen Wirt-
schaftszweigen, angefangen vom Krankenpfleger über
den Biotechnologen bis hin zum Dachdecker. Deswegen
ist es einfach nötig, die Ausbildung zu verbessern.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir!)


Es ist aber auch nötig – Herr van Essen, da sind wir ei-
gentlich einer Meinung –, den Bedarf zu ermitteln und
Zuwanderungszahlen festzulegen. Umgekehrt ist eine Be-
grenzung derZuwanderung nötig, also eine Begrenzung
der illegalen Zuwanderung und eine Begrenzung der le-
galen Zuwanderung. Es ist also vonnöten, die bisher unbe-
schränkte Zuwanderung zu begrenzen. Da kann nichts
ausgenommen werden. Da hat der Bundesinnenminister
Recht. Dies gilt für Asyl, dies gilt für den Familiennachzug
und dies gilt auch für die Spätaussiedler. Wenn wir es nicht
tun, Herr Bundesinnenminister, aber vor allen Dingen
meine Damen und Herren der Koalition, dann werden wir
durch Europa früher oder später, spätestens in zwei, drei
Jahren, dazu gezwungen werden. Denn wenn wir das nicht
machen, bleiben die Haupttore für illegale Zuwanderung
offen. Die Folge ist ganz eindeutig: Wir haben kaum Spiel-
raum für Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen Grün-
den oder aus anderen Gründen des öffentlichen Interesses.

Zuwanderungsbegrenzungen bedeuten aber weiterhin
eine konsequente Anwendung des Ausländerrechts.
Dies hat für die Einreise wie für die Abschiebung zu gel-
ten. Dabei werden weitere Einschränkungen vonnöten
sein. Wir werden das Nachzugsalter einschränken müssen.
Das gilt auch für die Wiederkehroption und das gilt vor al-
len Dingen für die Asylfolgeanträge.

In diesem Zusammenhang ist völlig kontraproduktiv,
wenn jetzt eine europäische Familienzusammen-
führungs-Richtlinie vorliegt, die den Familienbegriff er-
neut auf homosexuelle Paare und vor allen Dingen auf
Leute erweitert, die in Deutschland nur ein Jahr Aufent-
haltsrecht haben. Herr Bundesinnenminister, ich freue
mich, dass Sie im Innenausschuss gesagt haben, Sie
kämpften gegen diese Richtlinie. Sie haben uns an Ihrer
Seite, wenn Sie Ihre Fraktion davon überzeugen – was Sie
in der Vergangenheit mit Ihren Vorschlägen zu Asyl-
rechtsänderungen, mit Ihren Feststellungen nicht geschafft
haben. Die Kluft zwischen Ihnen und der SPD-Fraktion ist
riesengroß, das haben die Beratungen im Innenausschuss
ergeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Grünen. Herr
Özdemir, Sie werden gleich versuchen, das zu verkleis-
tern. Aber es stimmt: Die Kluft zwischen Ihnen und dem
Innenminister ist riesengroß.

Nötig ist auch eine Einschränkung bei der Altfallrege-
lung. Wir wollen nicht ständig neue Altfallregelungen,
weil Tausende hier bleiben dürfen – als Prämie für Asyl-
missbrauch und illegale Einwanderung.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das haben Sie doch mitbeschlossen! Sie haben doch zugestimmt!)





Erwin Marschewski (Recklinghausen)

9288


(C)



(D)



(A)



(B)


– Herr Kollege, generelle Altfallregelungen erhöhen den
Asylmissbrauch und sie fördern illegale Zuwanderung.
Das ist doch unbestritten. Fragen Sie den Kollegen Penner,
der noch bis zum morgigen Tag beratend unter uns weilt.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er bleibt uns erhalten, er ist nicht aus der Welt, Herr Marschewski!)


Gerade deswegen müssen wir auch die legale Zuwande-
rung einschränken.

Meine Damen und Herren, wer illegale Zuwanderung
stoppen will, der muss, bevor es eine einheitliche eu-
ropäische Regelung gibt, das Asylbewerberleistungs-
geld einschränken. Sie kennen doch das Nord-Süd-
Gefälle. Es kann doch nicht sein, dass wir, wenn in Ita-
lien 100, 200 DM pro Monat für Asylbewerber gezahlt
werden – ich sage nicht, dass das der richtige Betrag ist –,
hier ein Mehrfaches zahlen. Solange wir das tun und nicht
ändern, wird der Zuwanderungsstrom nach Deutschland
nicht abreißen und Schlepper werden zulasten Deutsch-
lands und zulasten der Ausländer kassieren.

IndiesemZusammenhangistmir–ichwiederholedies –
völlig unverständlich, dass Sie zu einer Begrenzung des
Schleppertums Nein gesagt haben, dass Sie zu der Ein-
führung von Warndatei und Ausländerzentralregister-
Erweiterungsgesetz Nein gesagt haben.

Der Bundesinnenminister hat eine vorurteilsfreie Dis-
kussion angeboten. Diese hat aber nicht stattgefunden; er
konnte gar nicht im Ausschuss sein. Die unbegrenzte Zahl
von Gutmenschen auf Ihrer Seite, Herr Kollege, hat wie-
der obsiegt. Es wäre nötig gewesen, den Schleppern, die
die Menschen im Ausland ausbeuten, das Handwerk zu le-
gen und sie, wenn sie nach Deutschland kommen, ihrer
Straftaten zu überführen. Zu diesem wichtigen Vorhaben
haben Sie Nein bzw. die Gutwilligen bei Ihnen haben im
Ausschuss immerhin erwähnt, sie wollten einen eigenen
Gesetzentwurf einbringen, weil sie die Glanztat der Uni-
on irgendwie verhindern wollten.


(Dr.WillfriedPenner [SPD]:HerrMarschewski, ich halte Sie für einen Gutmenschen!)


Zuwanderungsbegrenzungs- oder Zuwanderungssteue-
rungspolitik bedeutet Folgendes: Erstens. Wir wollen die
illegale Zuwanderung und den illegalen Zuzug, aber auch
den legalen Zuzug begrenzen. Zweitens. Wir müssen ne-
ben einer besseren Ausbildung der jungen Deutschen für
bestimmte Wirtschaftszweige Angebote an ausländische
Fachkräfte machen.

Frau Staatssekretärin, das ist kein neuer Vorschlag der
Union. Ich habe diesen Vorschlag schon immer unterbrei-
tet. Unser Problem ist nur, dass alles auf den Tisch muss.
Ich ziehe heute – das ist wahr – einen Nutzen aus der nun
gegebenen politischen Lage. Ich sage allen Fraktionen –
wir können gerne mit der F.D.P. reden –: Wir brauchen Ge-
spräche über die Steuerung der Zuwanderung, über Ge-
samthöchstzahlen und -quoten, über Zuwanderungsbe-
grenzung, über das Ob und Wie der Zuwanderung, aber
auch über Gesetzesänderungen – von der Änderung des
Ausländerrechtes über die Änderung arbeitsrechtlicher
Vorschriften bis hin zur Änderung des Grundgesetzes.


(Zuruf von der SPD: Sie lassen aber auch nichts aus! – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch, was Sie wollen, nämlich Ausländer raus!)


Denn das ist für unser Land dringend notwendig.
Der Herr Bundesinnenminister hat völlig Recht: Es darf

keine Denkverbote geben und es kann auch keine Denk-
verbote geben. Aber – und da unterscheiden wir uns von
Ihnen, Herr Schily – am Ende müssen Taten stehen. Nach-
denken und Sprüche allein reichen nicht aus. Sie müssen
Ihre Fraktion überzeugen. Wir stünden an Ihrer Seite,
wenn Sie versuchten, diese Gesetze zu realisieren, wenn
Sie versuchten, die Zuwanderung zu stoppen, und wenn
Sie versuchten, eine Einwanderungsregelung zu schaffen.
Dabei ist zu berücksichtigen: Politisch Verfolgte und Men-
schen, die unserer Hilfe bedürfen, sollen, ja, müssen in un-
ser Land kommen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913500
Jetzt spricht der
Abgeordnete Cem Özdemir.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913600
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in
einer Zeit, in der sich vieles in sehr rascher Folge ändert.
Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sind hoch-
gradig verunsichert über das Tempo der Veränderungen.
Wenn ich die Debatte von gerade eben betrachte, dann
muss ich sagen, dass sie auch etwas sehr Beruhigendes hat:
Die Union bleibt, wie sie ist; Herr Marschewski bleibt, wie
er ist. Da können die Asylbewerberzahlen runtergehen, da
kann die Zahl der Aussiedler runtergehen, da kann sich der
Wanderungssaldo als die Zahl derer, die zuwandern, ge-
messen an denen, die abwandern, umkehren – trotzdem
bleibt die Union dabei: Es ist zu viel Zuwanderung; es sind
zu viele Asylbewerber. Der Art. 16 des Grundgesetzes ist
geändert. Die Union würde wahrscheinlich selbst dann,
wenn nur noch ein Flüchtling an Deutschlands Türen
anklopfen sollte, immer noch eine Debatte dazu organi-
sieren und sagen, es gebe zu viel Zuwanderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Quatsch!)


Ich glaube, der Beitrag von Herrn Marschewski hat ge-
zeigt: Die Union fällt als Gesprächspartner in der Debatte
über Zuwanderung leider – ich sage das wirklich mit Be-
dauern – noch auf nicht absehbare Zeit aus. Es wäre dem-
gegenüber wünschenswert, dass wir in dieser Debatte end-
lich über Parteigrenzen hinweg zu vernünftigen Konzep-
ten und Lösungen kämen. Für meine Fraktion – und ich
nehme an, für die Mehrheit des Hauses – sage ich ganz ein-
deutig: Die Zuwanderung in Deutschland muss geregelt
werden. Wir brauchen neue gesetzliche Instrumente.

Herr van Essen, wir haben aus der Debatte um das
Staatsangehörigkeitsrecht eines gelernt: Eine Debatte,
die nicht genügend vorbereitet ist, würde uns in der
gegenwärtigen Situation – Sie haben ja die Rede gerade




Erwin Marschewski (Recklinghausen)


9289


(C)



(D)



(A)



(B)


verfolgen dürfen – nicht weiterhelfen. Lassen Sie uns ge-
meinsam die Diskussion um das neue Einwanderungs-
recht führen! Ich bin froh, dass Sie einen Gesetzentwurf
gemacht haben. Auch wenn wir uns hinsichtlich mancher
Fragen unterscheiden, glaube ich, dass manches von dem,
was Sie gesagt haben, es wert ist, weiterdiskutiert zu wer-
den.

Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben selber
Eckpunkte vorgelegt. Wir werden mit unserem Koaliti-
onspartner das Gespräch über diese Punkte suchen. Ich bin
mir ziemlich sicher: In der nächsten Legislaturperiode
werden wir in der Koalitionsvereinbarung einer wieder
aufgelegten rot-grünen Koalition das Ziel der Einbringung
eines Einwanderungsgesetzes festlegen. Es wird sich in
einem Punkt zentral von dem unterscheiden, was Sie vor-
gelegt haben: Es wird nämlich nicht „Zuwanderungsbe-
grenzungsgesetz“ heißen. Das scheint mir ein sprachlicher
Missgriff zu sein. Denn wer „Zuwanderungsbegrenzungs-
gesetz“ formuliert, der drückt damit aus, dass es sich um
etwas Negatives handelt, um etwas, wovor man Angst ha-
ben könnte.

Sie haben in Ihrer Rede genau das Gegenteil dessen ge-
sagt, was Sie hier eingebracht haben. Sie haben nämlich
zu Recht darauf hingewiesen, dass Zuwanderung auch et-
was mit eigenen Interessen zu tun hat.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Richtig!)

Zuwanderung hat etwas damit zu tun, dass wir dort, wo wir
Bedarf haben, diesen Bedarf befriedigen. Ich möchte aber
hinzufügen, dass wir auch daran denken müssen, dass wir
humanitäre und soziale Verpflichtungen haben. Die Mi-
schung aus all dem, das ist für uns ein Zuwanderungs-
bzw. Einwanderungsgesetz. In diesem Sinne lade ich alle
diejenigen, die guten Willens sind, dazu ein, jetzt eine
sachliche Debatte darüber zu führen, damit wir das Er-
gebnis dieser Debatte spätestens in der nächsten Legisla-
turperiode in ein Gesetz gießen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ganz kurz möchte ich noch auf die Debatte von heute
Morgen eingehen. Herr Marschewski, eines Ihrer Lieb-
lingswörter in anderen Debatten ist das Wort „Ganoven“.
In dieser Debatte war es das Wort „begrenzen“. Ich habe
während Ihrer Rede eine Strichliste geführt: Sie haben 17-
mal das Wort „begrenzen“ verwendet; ich erhebe dabei
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manches ist in die-
ser Debatte begrenzt; das stimmt mit Sicherheit. Begrenzt
sind insbesondere die Beiträge eines Spitzenkandidaten
Ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich mir das an-
höre, was da im Einzelnen zum Thema Zuwanderung und
Integration gesagt wird, dann habe ich das Gefühl: Da
spricht einer über ein Thema, von dem er nicht viel weiß,
oder er spricht wider besseres Wissen. Zudem habe ich das
Gefühl: Wenn Herr Rüttgers vom Surfen im Internet
spricht, dann stellt er sich wahrscheinlich vor, dass man
einen Eimer Wasser über den Computer ausleert.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben schon bessere Witze gemacht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Wenn er von „Code eingeben“ spricht, dann denkt er wahr-
scheinlich eher an irgendetwas Unappetitliches. Man soll-
te also von dem Thema, über das man spricht, ein
bisschen Ahnung haben. Das erleichtert manchmal die
Kommunikation, vor allem die mit den Wählerinnen und
Wählern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913700
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Leutheusser-Schnarrenberger?


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409913800
Ger-
ne. Ich habe Sie nicht gesehen, Entschuldigung.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1409913900
Ich
teile ja voll Ihre Einschätzung, dass man hier wirklich
zum Thema sprechen sollte. Deshalb frage ich Sie: War-
um wollen Sie sich den gesamten Rest der Legislaturperi-
ode mit den Argumenten, die wir schon in der letzten Le-
gislaturperiode ausgetauscht haben, auseinander setzen?
Warum nutzen Sie nicht die Vorgabe seitens der Bundes-
regierung in Bezug auf die Green Card zu einer ganz
grundsätzlichen Debatte über die Einwanderung nach
Deutschland auf der Basis der Argumente und Regelun-
gen, die wir dazu, wie Sie eben ausgeführt haben, brau-
chen?


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir sind dabei!)



Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914000
Frau
Kollegin, Sie haben völlig Recht. Sie werden sich wun-
dern: Ich stimme Ihnen und auch Herrn van Essen zu. Die
Initiative des Kanzlers auf der CeBIT wird uns – ob wir
das wollen oder nicht – mitten in die Debatte über das The-
ma Zuwanderung führen. Das ist auch gut so. Nur, ich
möchte diese Debatte vorbereitet und gut organisiert wis-
sen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie die Mehrheits-
verhältnisse im Bundesrat sind. Sie wissen genauso gut
wie ich – Sie waren ja einmal Ministerin und haben sich
in diesen Themen engagiert; das weiß ich –: In der gegen-
wärtigen Situation ein Einwanderungsgesetz einzubrin-
gen, wäre schlecht. Es wäre ein Gesetz, das seinen Namen
nicht verdient.

Ich möchte ein gutes Gesetz, ein Gesetz, das dazu führt,
dass die Besten der Besten zu uns kommen. Ich möchte ein
Gesetz, das transparent ist. Ich möchte ein Gesetz, in dem
beispielsweise die Frage der Integrationsleistungen gelöst
wird,


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Also wollen Sie gar kein Gesetz!)


indem wir, so wie das die Holländer getan haben, Sprach-
und Integrationskurse in Angriff nehmen. Ein solches
Gesetz werden wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
hinbekommen.

Aber wir werden diese Debatte ab heute führen. Wir
werden bereits in dieser Legislaturperiode Vorstufen fest-
legen. Das, was wir im IT-Bereich tun, ist ja, wenn Sie so
wollen, eine Vorstufe dazu. Das Thema Arbeitserlaubnis-




Cem Özdemir
9290


(C)



(D)



(A)



(B)


pflicht – diese Frage spielt auch in Ihrer Fraktion eine
wichtige Rolle – muss ebenso wie der Bereich Sprach- und
Integrationskurse in diesem Zusammenhang dringend an-
gesprochen und einer Lösung zugeführt werden.

Hier würde ich mir wünschen, dass wir die bestehenden
ideologischen Gräben, dass wir Aussiedler, Flüchtlinge
und Familienzusammenführungsfälle unterschiedlich be-
handeln, überwinden. Wenn wir Sprach- und Integrations-
kurse anbieten, dann kann es nur ein Kriterium geben: Ist
der- oder diejenige, der oder die das machen möchte, ein
Analphabet bzw. eine Analphabetin oder ein Akademiker
bzw. eine Akademikerin? Nur das kann ein Kriterium sein,
wie man die betroffenen Menschen einteilt. Ob jemand aus
Kasachstan, aus Russland, aus der Türkei oder aus Bosni-
en kommt, das kann nicht das trennende Kriterium für die
Gewährung von Sprach- und Integrationskursen sein.

Auch hier besteht die Einladung, solche Kurse anzu-
bieten. Dafür brauchen wir die Länder. Dies wäre gut.
Denn eines der größten Probleme in der Gesellschaft im
Hinblick auf Integration ist, dass die Menschen sagen,
dass die Sprachkenntnisse nicht so sind, wie sie sein soll-
ten. Wir haben einen konkreten Vorschlag. Lassen Sie uns
darüber reden, wie wir dies finanzieren und rechtlich um-
setzen können. Aber lassen Sie uns die Diskussion über
dieses Thema nicht so führen, wie wir es bisher gemacht
haben: Der Bund schiebt es auf die Länder, die Länder
schieben es auf den Bund und gemeinsam schieben wir es
zu den Kommunen. – Das hilft in der Sache nicht weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zurück zum Thema. Ich möchte Ihnen widersprechen,
Herr van Essen: Es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, dass
die Zuwanderung bisher völlig ungesteuert sei. Sie wissen,
dass wir ein hochkompliziertes Gesetzesgerüst haben. Ich
denke an das Ausländerrecht, das Asylrecht, das EU-
Aufenthaltsrecht, das Kontingentflüchtlingsrecht etc. Da-
zu gehört auch der Arbeitskräftezuzug. Man kann sich da-
rüber unterhalten, ob die Instrumente ausreichen oder ob
wir andere Instrumente brauchen. Es ist aber nicht so –
nur, damit in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck
entsteht –, dass es bislang eine unkontrollierte Zuwande-
rung in die Bundesrepublik Deutschland gibt. Im Gegen-
teil: Viele Gesetze haben Sie mit verfasst. Insofern kann
ich mich nur darüber wundern, dass die Union mit dem,
was sie 16 Jahre lang selber zu verantworten hatte, heute
offensichtlich gar nichts mehr zu tun haben möchte.

Da meine Redezeit gleich abläuft, noch eine Bitte: Ich
habe vorhin gesagt, dass wir eine Debatte um die Zuwan-
derung bekommen werden. Das ist auch gut so. Wir wol-
len diese Debatte offensiv führen. Eines aber, werden Sie
mit uns nicht machen können: Wir werden nicht zulassen,
dass die Debatte missbraucht wird, um auf dem Rücken
der Betroffenen das, was von Art. 16 des Grundgesetzes,
dem Recht auf Asyl, noch übrig ist, zu schleifen. Wir be-
stehen darauf, dass Art. 16 als Individualanspruch weiter
besteht. Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregie-
rung mit Unterstützung beider Koalitionsfraktionen auf
dem Regierungsgipfel in Tampere dafür eingesetzt hat, die
Asyl- und Flüchtlingspolitik europäisch zu harmonisieren.
Das, was Sie immer gesagt haben, setzen wir jetzt um.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914100
Es bestand der
Wunsch nach einer Zwischenfrage. Machen wir nun eine
Nachfrage daraus, die Sie noch beantworten können.


Sylvia Bonitz (CDU):
Rede ID: ID1409914200
Herr Kollege Özdemir,
kann es sein, dass Sie sich bei dieser Debatte eigentlich nur
um die Beantwortung einer Kernfrage drücken, nämlich
davor, welche Zuwanderer gut für unser Land sind und
welche nicht?


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914300
Das
tue ich nicht, Frau Kollegin. Es tut mir Leid, wenn bei Ih-
nen dieser Eindruck entstanden ist. Ich habe dies ganz klar
gesagt. Ich schicke Ihnen gerne unseren alten Gesetzent-
wurf, um den Eindruck zu korrigieren, dass wir die wirt-
schaftlichen Gesichtspunkte bisher nicht berücksichtigt
hätten.

Ich sage es ganz offen: Es geht um soziale, humanitäre
und selbstverständlich auch wirtschaftliche Aspekte.
Natürlich hat unsere Industrie ein Recht darauf, ihre Be-
dürfnisse zu formulieren und zu sagen, wo Arbeitskräfte-
bedarf besteht. Wir werden darüber eine sehr spannende
Diskussion zwischen den Entwicklungspolitikern auf der
einen Seite und den Wirtschaftspolitikern auf der anderen
Seite führen. Wir wollen auch keinen Braindrain. Wir wol-
len nicht Ausbildungskosten sparen, wir wollen nicht die
Besten der Besten zu uns holen und die Länder der Drit-
ten Welt weiter destabilisieren. Deshalb ist es so, wie wir
es machen, richtig: Wir holen Leute ins Land, aber unter
Berücksichtigung des Bedarfs. Gleichzeitig nehmen wir
nicht den Druck weg, hier auszubilden. Das ist genau das
richtige Konzept. Genauso muss ein Einwanderungsge-
setz formuliert sein.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914400
Der Kollege
Marschewski gibt Ihnen Gelegenheit, noch eine Antwort
zu geben.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914500
Ich
bin unschuldig.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409914600

Herr Kollege Özdemir, Sie haben zu meiner Freude ge-
sagt, wir hätten eine Zuwanderungsbegrenzung beispiels-
weise im Ausländerrecht und im Asylrecht. Bestätigen Sie,
dass Sie diese Gesetze, die wir gemeinsam mit der F.D.P.
gemacht haben, jahrelang bekämpft und einhellig abge-
lehnt haben?


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914700
Ich
kann es Ihnen offen und frei sagen: Ich bin nicht mit allem
zufrieden, was Sie gemacht haben. ZumBeispiel imAsyl-
recht gibt es einen massiven Änderungsbedarf. Ich könnte
IhnenLeitz-Ordner-weiseBriefe vonBürgermeistern Ihrer
Partei und auch der CSU zeigen, in denen steht, welcher




Cem Özdemir

9291


(C)



(D)



(A)



(B)


Asylfall ganz besonders schlimm sei und warum gerade
diese Person nicht abgeschoben werden dürfe.

Ich will Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten:
Sind nicht auch Sie wie ich und meine Fraktion der Mei-
nung, dass es nicht sein kann, dass Frauen, die verfolgt
werden, nur weil sie Frauen sind – im Iran zum Beispiel
wurde Frauen Säure ins Gesicht geschüttet –, bei uns kein
Asyl bekommen. Das sind die Fälle, die nachher in der
Statistik als nicht akzeptierte Asylbewerber aufgeführt
werden. Sind Sie nicht der Meinung – es handelt sich nicht
um viele Fälle –, dass wir für diese Frauen eine bessere Lö-
sung brauchen als die bisherige? Es geht hier nicht um
grundsätzlich neue Instrumente, sondern darum, dass wir
im praktischen Bereich nachbessern müssen.

Ich möchte ein zweites Beispiel nennen – da weiß ich
viele Ihrer Kollegen mit mir einig –: die nichtstaatliche
Verfolgung. Dies ist ebenfalls ein wichtiges Thema, das
Sie nicht in Angriff genommen haben. Auch hier sehe ich
Änderungsbedarf. Ist es denn sinnvoll, dass ein Islamist in
Algerien, der vom Staat verfolgt wird, bei uns Asyl be-
kommt, dass die Personen aber, die vor den Islamisten flie-
hen, die sich gegen religiöse Fundamentalisten wehren,
kein Asyl bekommen, weil es sich um eine nichtstaatliche
Verfolgung handelt? Sind nicht auch Sie der Meinung wie
wir und übrigens auch die Kirchen, die Wohlfahrtsver-
bände und viele andere, dass hier Änderungsbedarf be-
steht?

Alle diese Punkte werden wir ansprechen. Wir sind uns
nicht immer mit unserem Koalitionspartner einig. Trotz-
dem bin ich der Meinung, dass dies auf die Tagesordnung
gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Abg. Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409914800
Ich bitte um Ver-
ständnis, Herr Kollege Marschewski. Ich habe Sie noch
nach der Nachzeit als Fragesteller zugelassen. Ich glaube,
wir versuchen jetzt, zum nächsten Redner zu kommen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Kluge Entscheidung, Frau Präsidentin!)


Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409914900
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte eine Vorbemerkung zur Debatte von heute Morgen
und zu der Frage „Einwanderungsgesetz – ja oder nein?“
machen. Es geht nicht an, dass die CDU diese Frage so re-
pressiv diskutiert, wie Herr Marschewski es heute getan
hat, dass sie die Diskussion mit dem Ziel führt, das Asyl-
recht restlos aufzuheben, und dass Herr Beckstein und
Herr Rüttgers fremdenfeindliche und populistische Politik
auf Kosten von Menschen betreiben, die sich hier nicht
wehren können und die auch im Lande selbst große
Schwierigkeiten haben, sich zu wehren. Ich bin der Mei-
nung, dass so etwas nicht stattfinden darf. Ich kann nur
hoffen – das sage ich auch als gewählte Abgeordnete aus

Nordrhein-Westfalen –, dass die Wählerinnen und Wähler
Ihrer Politik eine Absage erteilen.


(Beifall bei der PDS)

Doch jetzt zum Thema. Bei der Diskussion um Zuwan-

derung geht es meiner Meinung nach in der Tat um viele
Ziele. Erstens. Die rechtliche Situation der Menschen, die
zu uns kommen, muss verbessert werden. Dazu gehört die
Wiederherstellung des Asylrechts.Herr Özdemir, es darf
nicht nur davon geredet werden, sondern es muss auch ge-
handelt werden, wenn es um die Anerkennung von frau-
enspezifischen Fluchtgründen geht.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir!)


Ebenso muss gehandelt werden, was die nichtstaatliche
Verfolgung angeht, die übrigens in anderen EU-Ländern
Normalität ist. Warum wird hier nicht endlich angepasst?

Zweitens. Die Menschen, die zu uns kommen, brau-
chen so etwas wie ein Niederlassungsrecht. Auch die
Grünen haben es einmal gefordert. Ich halte es für sehr
wichtig, das wieder aufzugreifen. Ebenso wird man prü-
fen müssen, ob das Staatsbürgerschaftsrecht, das refor-
miert worden ist, tatsächlich die Einbürgerung erleichtern
wird.

Drittens. Die soziale Situation der Menschen, die zu
uns kommen, ist unbedingt verbesserungswürdig. Ich
denke an das Asylbewerberleistungsgesetz, das abge-
schafft werden muss. Ich denke vor allen Dingen an das
Arbeitsverbot für Flüchtlinge, die hier beispielsweise Asyl
beantragen oder aber als Migrantinnen und Migranten le-
ben, sowie an die Benachteiligung insbesondere der Nicht-
EU-Bürger auf dem Arbeitsmarkt.


(Beifall bei der PDS)

Das ist aus unserer Sicht unsozial und inhuman und muss
im Zuge einer Einwanderungspolitik ebenfalls geregelt
werden.

Viertens. Wir brauchen größere Anstrengungen, was
die Integration der Millionen Menschen angeht, die hier
ihren Lebensmittelpunkt haben. Ich sage noch einmal, was
wir schon oft gesagt haben: Wir werden Rassismus und
Ausländerfeindlichkeit nur bekämpfen können, wenn wir
diesen Menschen wirklich die gleichen Rechte geben, wie
Deutsche sie haben, und nicht auf ihren Pass schauen.


(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren von der F.D.P., wir haben

über Ihren Gesetzentwurf schon oft diskutiert. Er hat mit
Einwanderung nicht viel zu tun. Der Name sagt es bereits:
Es heißt „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“. Ich frage
Sie: Wie können Sie eigentlich von Zuwanderungsbe-
grenzung sprechen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass
Zuwanderung nötig ist? Ich teile nicht die Ansicht von
Herrn Marschewski, dass wir zu viel Zuwanderung haben.
Nicht nur UN-Experten sagen nämlich, dass – aus ver-
schiedenen Gründen unter anderem aus wirtschaftlichen
Gründen – jährlich mindestens 500 000 Menschen ein-
wandern müssen, während die Nettozuwanderung tatsäch-
lich gegenwärtig im Grunde genommen bei Null liegt. Sie




Cem Özdemir
9292


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(A)



(B)


wissen ganz genau, dass es in Ihrem Gesetzentwurf keinen
Spielraum gibt, um Zuwanderung zuzulassen.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das stimmt gar nicht!)


Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Es gibt seit
1990 eine Konvention über die Wanderarbeiter. Diese
Konvention ist seit 1990 weder von der damaligen
CDU/CSU-F.D.P.-geführten Bundesregierung noch von
der neuen rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet wor-
den. Diese Konvention schreibt ganz klar Gleichberechti-
gung auch dann vor, wenn Menschen aus wirtschaftlichen
Gründen in anderen Ländern gebraucht werden. Diese
Konvention stellt klar, dass sie die gleichen Löhne erhal-
ten, also Dumpinglöhne vermieden werden müssen. Ich
kann die weiteren Bestimmungen aus Zeitgründen gar
nicht alle aufzeigen. Aber ich meine, das wären die Schrit-
te, die wir als Erstes gemeinsam gehen sollten, anstatt, wie
die Bundesregierung, das zu versuchen, was hier in den
60er-Jahren bereits stattgefunden hat.

Sie wissen ganz genau, dass Ihre Politik gegenwärtig
wieder durch den Spruch gekennzeichnet werden kann: Es
wurden Arbeitskräfte gefordert, aber es kamen Men-
schen. – Ich fordere Sie auf, für diese Menschen, wenn Sie
sie als Arbeitskräfte herholen, Gleichstellung zu garantie-
ren; das bedeutet, dass sie sozial und rechtlich gleich-
gestellt werden.

An die Adresse der F.D.P. möchte ich in diesem Zu-
sammenhang ganz deutlich sagen:–


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409915000
Frau Kollegin
Jelpke, es wird Zeit.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409915100
Ich komme gleich zum Schluss.
Eine Zuwanderungsbegrenzungspolitik darf nicht zula-

sten der Menschenrechte gehen. Das aber machen Sie,
wenn Sie – wie es Ihr Gesetzentwurf vorsieht – die im
Wege des Familiennachzuges Eingereisten auf eine
Gesamthöchstzahl anrechnen, wenn die Menschen die Ko-
sten der Integrationsfördermaßnahmen selbst tragen sollen
und wenn der Zuzug auf Kosten von anderen Ausländern
oder von Aussiedlern geht. Das tragen wir auf gar keinen
Fall mit. Das ist auch kein ernsthafter Beitrag zur Ein-
wanderungspolitik.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409915200
Das Wort hat
jetzt der Kollege Sebastian Edathy.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409915300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Marschewski, nicht erst
seit Ihrer sehr beeindruckenden Rede hier habe ich sehr in-
tensiv an Sie denken müssen, sondern auch schon letzte
Woche, als ich ein Umfrageergebnis gelesen habe, das
vom Institut für Demoskopie in Allensbach veröffentlich
worden ist. Bei dieser Umfrage sind Bürgerinnen und Bür-
ger in Deutschland gefragt worden, wie es sich denn so mit

dem Erdball und der Sonne verhalte, welcher Himmels-
körper sich um welchen drehe. Und siehe da, 10 Prozent
der Befragten sind der Meinung gewesen, die Sonne dre-
he sich um die Erde. Da habe ich mich gefragt, ob denn
wohl auch der Herr Marschewski zu dieser Gruppe
gehören mag.

Herr Marschewski, wenn man sich Ihre Reden – nicht
nur die heutige, sondern auch die der Vergangenheit –
näher anschaut, so muss man zu der Auffassung kommen:
Wahrscheinlich halten Sie die Erde nicht einmal für eine
Kugel, sondern immer noch für eine Scheibe.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja reines Mobbing, was Sie hier machen!)


– Nein, das ist kein Mobbing, keine Sorge.

(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Ich bin überzeugt, Sie sollten nach dieser Begründung lieber in den Hörsaal als in den Plenarsaal! Rücküberweisung!)


– Da können eher Sie noch etwas lernen, Herr
Marschewski.

Herr Marschewski, Sie haben – deswegen habe ich das
gesagt – Probleme mit der Realität in diesem Lande, und
zwar nicht etwa nur bezüglich des Umgangs mit Zuwan-
derung; Sie haben – das verschärft die Sache – schon Pro-
bleme, die Realität insgesamt sachgerecht wahrzunehmen.
Es hätte nicht der Debatte heute Vormittag bedurft, um das
feststellen zu können. Sie sollten darüber nachdenken, ob
man den Slogan der CDU „Mitten im Leben“ nicht in
„Völlig daneben“ ändern sollte. Ich kann Ihnen nur emp-
fehlen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Unser Motto heißt: „Zur Sache“!)


das im Landtagswahlkampf in NRW auf Ihre Plakate
schreiben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was die Diskussion über den Umgang mit Zuwande-
rung angeht, die in unserem Land bedauerlicherweise
stark emotionalisiert geführt wird, sind Sie nicht gut bera-
ten, sich in der Weise dazu zu äußern, wie Sie das getan
haben. Erst haben Sie jahrelang in Deutschland dafür Sor-
ge getragen, dass der Zug in die falsche Richtung fährt,
und dann haben Sie sich – das hat die Debatte über die
dringend notwendige Reform des Staatsbürgerschafts-
rechts im letzten Jahr deutlich gemacht – bei der Kurskor-
rektur auf die Bremse gestellt.

Ich kann Ihnen von der CDU/CSU nur empfehlen, sich
von Denkweisen zu lösen, die Zuwanderung in erster Li-
nie als Bedrohung sehen, anstatt die Chancen zu begreifen –
Chancen, die wir aufgreifen und gestalten müssen, wenn
wir mit dieser Frage vernünftig umgehen wollen. Daher ist
es nicht besonders hilfreich, dass wir in einem Bundesland
wie Nordrhein-Westfalen einen „Ex-Zukunftsminister“ er-
leben, der Äußerungen von vorgestern macht. Was wir
derzeitig in Sachen Debattenkultur erleben, ist eine echte
„Rolle Rüttgers“.




Ulla Jelpke

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Sache hin-
weisen, die mich wirklich sehr beschäftigt und bei der ich
mich darüber wundere, dass Sie da nicht ein wenig ver-
nünftiger sind: Die Aussagen von Herrn Rüttgers in Bezug
auf indische Staatsbürger bzw. Anhänger der größten Re-
ligionsgemeinschaft Indiens, des Hinduismus – er hat ge-
sagt, man müsse nicht auch noch Hindus nach Deutsch-
land holen, haben in der indischen Presse zu großer Auf-
merksamkeit und auch zu großer Verärgerung in der
Öffentlichkeit geführt. Wer schon dem Argument nicht
zugänglich ist, dass es immer verkehrt ist, auf dem Rücken
von Ausländerinnen und Ausländern Wahlkampf zu ma-
chen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


der sollte wenigstens dem Argument zugänglich sein, dass
Herr Rüttgers ganz elementare deutsche Interessen ver-
letzt, wenn er sich so äußert.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er will Arbeitsplätze in Kanada! Wir wollen sie in Nordrhein-Westfalen!)


Es ist nicht nur so, dass wir die hier kurzfristig zu be-
schäftigenden Computerexperten dringend brauchen,
damit die Wirtschaft in Deutschland den Anschluss nicht
verpasst und eine Weiterentwicklung vornehmen kann.
Wir exportieren zudem Jahr für Jahr Güter in einem Wert
von etwa 4Milliarden DM nach Indien. Unser Land ist ein
Exportland. Wir sind darauf angewiesen, dass es in ande-
ren Ländern Partner gibt, die mit uns Handel treiben. Das,
was Herr Rüttgers gemacht hat, schädigt nicht zuletzt die
auswärtigen Beziehungen unseres Landes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, was Sie machen, ist nicht nur innenpolitisch misslich,
sondern hat auch außenpolitische Konsequenzen. Wir von
der Koalition müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass da-
durch die Wahrnehmung unserer Interessen, die wir in Be-
zug auf Indien haben, nicht gefährdet wird. Ich will nur ei-
ne Zahl nennen: In den letzten Jahren hat es 2 000 Joint
Ventures zwischen deutschen und indischen Unter-
nehmern gegeben. Das sind Kooperationen, die wir aus-
bauen wollen, weil gerade der indische Markt ein rasant
wachsender Markt ist. Wie leichtfertig hier mit den Chan-
cen umgegangen wird, die wir dort haben, ist schon aben-
teuerlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will die Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, ins-
besondere noch für eines nutzen, nämlich um deutlich zu
machen, dass wir die verschiedenen Aspekte der Zuwan-
derung und auch die verschiedenen Gruppen von Men-
schen, die zu uns kommen, sehr genau auseinander halten
müssen. Herr Marschewski, Sie haben versucht, alles in ei-
nen Topf zu werfen und daraus eine eher unappetitliche
Suppe zu fabrizieren. Das macht – wenn wir uns die Zah-
len ansehen – keinen Sinn. Herr Marschewski, es wäre
nicht verkehrt, wenn Sie sich auf einem falschen Weg ge-
legentlich ein Stück weit von der Realität einholen ließen.

Wenn wir uns die Zahlen ansehen, können wir feststel-
len: Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Nicht-EU-
Bürgerinnen und -Bürgern, die seit dem Anwerbestopp
von 1973 nach Deutschland gekommen sind, um hier Ar-
beit aufzunehmen. Deswegen werden wir seitens der SPD
den F.D.P.-Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungs-
gesetzes nicht mittragen können. Ich glaube, dass dies –
abgesehen von Ausnahmen – generell so lange so bleiben
muss, wie wir eine derart hohe Arbeitslosigkeit in
Deutschland haben.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie rücken schnell von Ihrem Wahlprogramm ab!)


Wir haben 4 Millionen Arbeitslose. Das ist ein schweres
Erbe. Wir haben positive Daten hinsichtlich der wirt-
schaftlichen Entwicklung. Wir sind zuversichtlich, dass
wir am Ende der Wahlperiode eine deutlich niedrigere
Arbeitslosenquote haben werden, übrigens – wie es sich
abzeichnet – nicht dank der Opposition.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eines aber ist völlig klar: Eine generelle gesetzliche
Änderung zum Zwecke der Ermöglichung der Arbeitsauf-
nahme von Ausländerinnen und Ausländern aus Ländern
außerhalb der EU in Deutschland ist in Verantwortung für
die Lage auf dem Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit über-
haupt nicht zu realisieren.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das heißt, in zwei Jahren sehen wir uns wieder!)


– Natürlich sehen wir uns wieder, Herr Hirche. Wenn ich
Sie nicht wiedersehen würde, würde ich Sie auch sehr ver-
missen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Rechtzeitig machen, was notwendig ist, und nicht alles auf die lange Bank schieben!)


Wenn wir den Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,
beschließen würden, hätte das insbesondere zwei Auswir-
kungen, die schlecht wären.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wenn Sie heute in der Opposition wären, würden Sie genau diesen Gesetzentwurf vorlegen!)


Zum einen würden bei den Menschen, die interessiert sind,
nach Deutschland zu kommen, Erwartungen geweckt, die
wir angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt, die nach
wie vor bedrückend ist, gar nicht einlösen könnten. Zum
anderen wecken Sie Ängste in der Bevölkerung – obwohl
es keinen Grund gibt, diese Ängste zu wecken –,


(Walter Hirche [F.D.P.]: Abenteuerlich!)

weil die Leute glauben, durch Ihr Gesetz würde sich wirk-
lich etwas an dem Zuwanderungsgeschehen ändern.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist die Propaganda von Herrn Rüttgers, was Sie hier betreiben!)


Ich verkenne überhaupt nicht und weise sehr gern dar-
rauf hin, dass wir mittel- und langfristig sicherlich ein Zu-
wanderungsgesetz benötigen. Das hat etwas mit einer sich
verbessernden wirtschaftlichen Entwicklung, aber insbe-






(C)



(D)



(A)



(B)


sondere damit zu tun, dass die Geburtenraten sinken, dass
eine zunehmend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern
in Deutschland aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben
ausscheidet. Es ist völlig klar – dazu bedarf es keiner Stu-
die der UNO oder der Bertelsmann-Stiftung, das wissen
wir auch so; man kann es aber als hilfreiches Material hin-
zuziehen –, dass wir uns mittel- und langfristig darüber
Gedanken machen müssen, wie wir neben der Zuwande-
rung, die aus humanitären, grundgesetzlich gebotenen
Gründen erfolgt, Zuwanderung aus staatlichem Interesse
mit Blick auf den Arbeitsmarkt möglich machen können.
Was Sie hier machen, ist Augenwischerei, weil Sie glau-
ben machen wollen, dies wäre kurzfristig ein Thema. Das
ist es nicht.

Ich will auf eines hinweisen. Ich habe mich über das ge-
wundert, was Herr Westerwelle heute Morgen gesagt hat.
Er hat gesagt, dass es Leute gebe, die kommen und die wir
brauchen. Dann gebe es Leute, die wir nicht brauchen. Das
war auch das Thema einer Zwischenfrage der Kollegin
Bonitz. Ich glaube, dass wir sehr gut beraten sind, zwi-
schen humanitär und grundgesetzlich gebotener Zuwan-
derung, etwa aufgrund des Asylrechtes, und der Gruppe
der Zuwanderer, die mit dem Ziel, Arbeit aufzunehmen,
nach Deutschland kommen, zu differenzieren. Hier will
ich Ihnen, Herr Hirche, ganz konkret sagen: Das, was in
Ihrem Gesetzentwurf steht, ist meines Erachtens gegen
den Sinn und gegen den Wortlaut des Grundgesetzes,


(Walter Hirche [F.D.P.]: Überhaupt nicht!)

weil Sie dort unter anderem fordern: Der Familiennachzug
zu Ausländerinnen und Ausländern, die einen gesicherten
Aufenthaltsstatus haben, sollte quotiert werden.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Sie suchen Argumente! Kommen Sie zur Sache, dann können wir über Details diskutieren!)


In Art. 6 des Grundgesetzes – ich bin kein Jurist, kann aber
sehr gut lesen – steht:

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutze der staatlichen Ordnung.

Herr Hirche, wenn Sie mir sagen wollen, dass das nur für
deutsche Familien und für deutsche Ehepaare gilt, dann sa-
gen Sie das bitte. Wenn das aber für Ausländerinnen und
Ausländer gilt, können Sie so etwas nicht quotieren. Dann
können Sie den Leuten nicht sagen: Die Familie ist für uns
ein grundgesetzlich geschützter Wert, aber ihr könnt mit
der Zusammenführung noch zwei Jahre warten, weil die
Quote erfüllt ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Marschewski würde am liebsten noch eine Quote
für Asylbewerber einführen. Man müsste sich dann wohl
letztlich dafür einsetzen, die Bibel zu ändern. Dann wür-
de der barmherzige Samariter nicht mehr Halt machen
und dem Schwerverwundeten helfen, vielmehr würde er
sagen: Vielleicht komme ich im nächsten Jahr zur selben
Zeit vorbei. Wenn du immer noch dort liegst, helfe ich dir
möglicherweise. – Das ist zynisch, christlich ist es nicht.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das ist nicht vernünftig. Diese Haltung ist vor allen
Dingen überhaupt nicht von den Zahlen gedeckt. Ich will
sie noch einmal nennen. Vor einigen Wochen hatte ich die
Gelegenheit, darauf hinzuweisen; ich mache es jetzt aber
noch einmal, weil immer so getan wird, als gäbe es einen
Änderungsbedarf beim Asylrecht. 1992 hatten wir 400 000
Asylbewerber. 1993 hatten wir 300 000 Asylbewerber.
Dann hat eine große Koalition in Bonn beschlossen, das
Asylrecht zu ändern. Seitdem haben wir jährlich etwa
100 000 Asylbewerber. Wenn man die Zahlen, die uns aus
diesem Jahr vorliegen, hochrechnet, dann werden wir ver-
mutlich auf 80 000 Asylbewerber am Ende des Jahres
kommen. Wer angesichts solcher Zahlen – Herr Kollege
Özdemir hat vollkommen Recht – darauf hinweist, dass sie
zu hoch sind, der unterschätzt die Integrationsmöglich-
keiten eines Landes mit 80 Millionen Einwohnern, der
verkennt auch, dass wir als Demokraten die Zuwanderung
aus humanitären Gründen weiterhin ermöglichen müssen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Asyl ist etwas anderes als Zuwanderung!)


– Das muss man unterscheiden. Das ist wohl wahr.
Ich muss zum Schluss kommen, meine Damen und

Herren. Ich denke, dass wir über diese Legislaturperiode
hinaus eine Koalition der Vernünftigen brauchen, die an
diesem Thema ein echtes Interesse haben und darüber
nicht nur im Vorfeld von Wahlen diskutieren. Wir sollten
hier keine Schaumschlägereien machen. Das Thema ist
viel zu wichtig.

Wir brauchen mittelfristig ein Zuwanderungsgesetz,
das nicht nur quantitativ der Zuwanderung Rechnung
trägt. Wir brauchen insgesamt ein Integrationskonzept.
Die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind,
dürfen nicht wiederholt werden. Vor kurzem habe ich mit
einer türkischen Staatsbürgerin aus meinem Wahlkreis ge-
sprochen, die sehr schlecht Deutsch spricht. Sie sagte mir
in ihrem gebrochenen Deutsch: Als ich in den 60er-Jahren
gekommen bin, habe ich meinem Chef gesagt: Ich möch-
te Deutsch lernen. Er hat mir gesagt: Du bist nicht hier, um
Deutsch zu lernen, sondern du bist hier, um zu arbeiten. –
Solche Fehler müssen wir künftig vermeiden. Wir wissen,
die Mehrheit derer, die zu uns kommt, wird auf Dauer blei-
ben. Dann müssen wir auch die Integrationsmöglichkei-
ten, die wir anbieten, deutlich verbessern.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409915400
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich dem Kollegen Marschewski das
Wort.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er hat doch so viele Zwischenfragen gestellt! Die waren doch auch schon überflüssig!)





Sebastian Edathy

9295


(C)



(D)



(A)



(B)



Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409915500

Meine Damen und Herren! Herr Hirche hat Recht. Es wä-
re schön, wenn wir zu einer gemeinsamen Lösung kämen.
Dazu wäre natürlich Sachlichkeit geboten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir schlagen ein Zuwanderungssteuerungsgesetz vor. Die
F.D.P. schlägt ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz vor.
Die Regierungskoalition sagt zu beidem gar nichts. Sie
bleibt untätig, wie im gesamten Bereich der Ausländerpo-
litik, wie in vielen anderen Bereichen des Bundesminis-
ters des Innern. Das ist wahr.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Unsinn!)


Ich hätte es gern gesehen, wenn der Bundesinnen-
minister sich an die Spitze der Bewegung gestellt und ge-
sagt hätte, was er im Innenausschuss ausgeführt hat. Wir
waren gar nicht verschiedener Meinung, Herr Bundes-
innenminister.

Wenn wir die Frage der Zuwanderungssteuerung be-
handeln, dann muss natürlich alles auf den Tisch – mehr
sage ich doch nicht –: Es muss das Asylrecht auf den
Tisch, es muss die Grundgesetz-Frage auf den Tisch, es
müssen arbeitsrechtliche Vorschriften auf den Tisch, es
muss das Ausländerrecht auf den Tisch. Das ist doch keine
Frage, meine Damen und Herren.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch keine Kurzintervention! Das ist doch Unsinn!)


– Ich bin mehrfach angesprochen worden, Herr Kollege
Schmidt, und musste mich daraufhin zu Wort melden, zu-
mal ich auch Recht habe.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, Sie missbrauchen hier das Instrument der Kurzintervention!)


Diese Dinge gehören auf den Tisch und ich erwarte,
dass die Bundesregierung mit einem Vorschlag kommt.
Ich sage Ihnen heute schon: Wir werden Sie in nächster
Zeit per Antrag auffordern, uns ein Zuwanderung-
steuerungsgesetz vorzulegen, und zwar mit allem, was auf
den Tisch muss, natürlich auch mit Höchstquoten und
Gesamtquoten, weil es nötig ist, die Zuwanderung nach
Deutschland zu regeln.

Ich bleibe dabei:
Erstens. Wir wollen politisch Verfolgten und

Bedrängten helfen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch immer noch keine Kurzintervention!)


Zweitens. Es kommen zu viele Menschen zu uns, die
hier keine Beschäftigung finden.

Drittens. Es kommen zu wenige zu uns, die wir
brauchen.


(Zuruf von der PDS: Was erzählen Sie denn da?)


– Schreien Sie doch nicht andauernd dazwischen.

Des Weiteren hat mich der Kollege Özdemir ausdrück-
lich darauf angesprochen, dass ich mich zu dem Problem
der iranischen Frauen äußern solle. Herr Kollege Özdemir,
wenn Sie sagen, die Frauen bekämen kein Asyl, so ist
auch das nur die halbe Wahrheit; denn Sie wissen, dass
diese Frauen ebenso wie diejenigen, die etwa in Algerien
von nicht staatlichen Einrichtungen, die Staatsgewalt
ausüben, verfolgt werden, natürlich nicht abgeschoben
werden. Unsere Gesetzesleistung war ja gerade, sicher-
zustellen, dass sie nicht abgeschoben werden.

Legen Sie als Regierung doch einen Antrag vor. Wir
diskutieren darüber. Ich bin in diesen zwei Punkten
durchaus Ihrer Meinung.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409915600
Herr Kollege
Marschewski, jetzt ist Ihre Redezeit abgelaufen.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409915700

Wir diskutieren darüber. Aber dazu gehört auf der anderen
Seite auch eine generelle Regelung der Zuwanderungsbe-
grenzung. Das müssen wir gemeinsam machen, weil der
Integrationskraft des deutschen Volkes Grenzen gesetzt
sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch auch nichts vorgelegt!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409915800
Man kann Kurz-
interventionen zu konkreten Redebeiträgen – dann kann
der angesprochene Redner antworten – und auch zur
ganzen Debatte machen. Aber wie auch immer, Herr Kol-
lege Marschewski: nie länger als drei Minuten.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Ja, aber die haben mich ja siebenmal unterbrochen!)


Das nur noch einmal zur Festigung der Regeln.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim-

mung über den von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes,
Drucksache 14/48. Der Innenausschuss empfiehlt auf
Drucksache 14/2019, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen
der F.D.P. abgelehnt worden. Daher entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:

5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN






(C)



(D)



(A)



(B)


Überprüfungskonferenz zum Nichtverbrei-
tungsvertrag zum Erfolg führen
– Drucksachen 14/2908, 14/3163 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Karl Lamers
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann und der Fraktion der PDS
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbrei-
tungsvertrag
– Drucksache 14/3190 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1409915900
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute hat die
Duma hinter verschlossenen Türen darüber beraten, ob sie
endlich den START-II-Vertrag ratifizieren wird. Morgen
wird sie im Plenum beraten. Es ist ein ermutigendes
Zeichen, dass die Duma bereit ist, der Abrüstung neue,
wesentliche Elemente hinzuzufügen. Wir können der
Duma dazu gratulieren, wenn sie morgen diesen Schritt
geht. Dieser Schritt läge in der Tradition der Abrüstungs-
prozesse. Deswegen sagen wir den Kolleginnen und Kol-
legen der Duma: Es ist gut, dass ihr morgen so beschließt,
damit der START-II-Prozess endlich weiter vorankommt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Das würde auch genau dem Tenor dessen entsprechen, was
wir, die Koalition, Ihnen vorgeschlagen haben.

Es würde übrigens – Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der PDS, haben eben geklatscht – einen Punkt
entkräften, den Ihr Antrag enthält: Sie unterstellen, dass
die Duma bzw. dass Russland nicht in der Lage wären, den
Nichtverbreitungsvertrag so voranzutreiben, wie wir
von der Koalition es uns wünschen. Ich bitte Sie, zu über-
denken, ob Ihr Antrag nicht zumindest in diesem von Ih-
nen formulierten Punkt falsch ist.

Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und besonders Sie, lieber Kollege Lamers – Sie
werden wohl nachher für Ihre Fraktion sprechen –: Halten
Sie an dem Grundkonsens fest, den wir in den 60er-Jahren
gefunden haben, nämlich an dem Nichtverbreitungsver-
trag, der 1969 abgeschlossen wurde. Sie erinnern sich
sicherlich noch: Es war die große Leistung von John F.
Kennedy, die Abrüstung zum gemeinsamen interna-
tionalen Thema gemacht zu haben. Wir haben im
Deutschen Bundestag über 30 Jahre hinweg an dem
gemeinsamen Grundkonsens festgehalten. Auch als wir in
der Opposition waren, haben wir immer der Auffassung

zugestimmt, dass der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt,
unterstützt und vorangetrieben werden muss.

Nach meiner Meinung wäre es gut, wenn der Bundestag
durch eine gemeinsame Entschließung die Bun-
desregierung dazu bringen könnte, die Position des
Deutschen Bundestages bei den jetzigen Verhandlungen in
New York zu vertreten. Ich bitte Sie herzlich, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der PDS und von der
CDU/CSU: Bleiben Sie bei diesem Grundkonsens! Un-
terstützen Sie die Bundesregierung, damit sie in New York
das Richtige tut, nämlich den Prozess der Abrüstung vo-
ranzutreiben!


(Beifall der Abg. Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Warum bitte ich Sie um Ihre Unterstützung? Ich bitte
Sie darum, weil der Nichtverbreitungsvertrag der einzige
international anerkannte Vertrag ist, der die vollständige
nukleare Abrüstung zum Ziel hat. Ich wiederhole: die
vollständige nukleare Abrüstung. Wir haben diesem Ver-
trag nicht nur zugestimmt, sondern die Bundesrepublik
Deutschland hat auch selbst entschieden, dass wir niemals
Nuklearwaffen besitzen wollen. Das ist Grundkonsens.
Diesen können wir bei den Verhandlungen in New York
am besten stärken, wenn wir im Anschluss an diese De-
batte eine gemeinsame Entschließung des Deutschen Bun-
destages verabschieden könnten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An diesem Konsens sollten wir wirklich festhalten. Ich
hoffe, dass dies auch für uns alle so bleiben wird.

Der Vertrag wurde zum entscheidenden Instrument des
internationalen kooperativen Widerstands gegen die Ver-
breitung von Atomwaffen. Dieses Instrument war im
Grunde genommen doch erfolgreich, und dass das so kam,
war überraschend; denn das konnte man in den 60er-
Jahren noch gar nicht erkennen. Sie erinnern sich: John F.
Kennedy fürchtete zu Beginn der 60er-Jahre, dass es in
wenigen Jahrzehnten, also gegen Ende des Jahrhunderts,
30 oder sogar 40Atomwaffenstaaten geben könnte. Das ist
nicht eingetreten. Es ist deswegen nicht eingetreten, weil
der Nichtverbreitungsvertrag so erfolgreich gewesen ist.
Er ist deswegen so erfolgreich gewesen, weil sich die
Atommächte gemeinsam verpflichtet haben, den
Nichtverbreitungsvertrag zu stärken, zu unterstützen und
auch in den schwierigsten Zeiten, in den 80er-Jahren, am
Grundkonsens des Nichtverbreitens festgehalten haben.
Das war der große Erfolg dieses Vertrages.

Das hat auch dazu geführt, dass der Grund für das gelegt
werden konnte, was notwendig gewesen ist, nämlich für
ein kooperatives Zusammenspiel zuerst der unter-
schiedlichen Atomstaaten. Der Grundgedanke der Ko-
operation hat dazu geführt, dass es – nicht zu vergessen:
nach Vorbereitung der damaligen sozialliberalen Koali-
tion – schließlich 1975 in Helsinki gelungen ist, den
Prozess der KSZE in Gang zu setzen, der darauf gerichtet
war, das, was in den drei entscheidenden und zentralen
Körben festgelegt war, voranzubringen, nämlich Abrüs-
tung und ökonomische Zusammenarbeit voranzutreiben




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

9297


(C)



(D)



(A)



(B)


und schließlich auch das Thema der Menschenrechte in
den Mittelpunkt der Weltgemeinschaft zu stellen.

Dies war die Grundlage dafür, dass seither die
Kooperationsbeziehungen zwischen den Staaten auf der
Erde vorangetrieben worden sind. Wir sollten auch nicht
vergessen: Der Beginn dieser Kooperation war der
Nichtverbreitungsvertrag. Ich bitte – gerade jene, die an-
gesichts zweifellos berechtigter Kritik andere Voten
anstreben – herzlich darum, einen gemeinsamen
Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu brin-
gen.

Ich will noch einen Punkt hinzufügen und erklären, was
an den bisherigen Maßnahmen erfolgreich gewesen ist.
Die Atommächte haben sich bisher an den Vertrag gehal-
ten. Neben den fünf offiziellen Atommächten sind in der
letzten Zeit noch drei weitere inoffizielle hinzugekom-
men, nämlich Israel, Indien, Pakistan und – nicht zu
vergessen – Südafrika. Nehmen wir den Fall Südafrika:
Dieses Land hat politisch entschieden, seine sechs
Sprengkörper zu demontieren, dem Vertrag beizutreten
und sich für die Inspektionen der Wiener Internationalen
Atomenergie-Agentur zu öffnen. Man muss einmal – an
die Adresse der Union gerichtet – klar sagen: Südafrika hat
sich äußerst kooperativ verhalten, indem es dem Vertrag
beigetreten ist und dafür gesorgt hat, dass der gesamte
Kontinent Afrika zu einer atomwaffenfreien Zone werden
konnte.

Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, herzlich darum: Nehmen Sie die Debatte um atom-
waffenfreie Zonen ernst. Es gibt nicht nur Lateinamerika,
es gibt auch Afrika, es gibt die Antarktis, es gibt andere
Teile der Erde, die bereit sind, sich dem Nichtverbrei-
tungsvertrag, dessen elementarer Bestandteil die atom-
waffenfreien Zonen sind, kooperativ zu öffnen und
sicherzustellen, selbst keine Atomwaffen zu erlangen.
Nehmen Sie doch diese kritische Bemerkung gegenüber
dem im Vertrag selbst festgelegten Grundsatz zurück. In-
sofern noch einmal der Appell: Eine gemeinsame Abstim-
mung wäre sicherlich sehr sinnvoll, weil es die Position
der Bundesregierung insgesamt stärkt.

Die anderen Staaten, die im Zusammenhang mit Nuk-
learwaffen erwähnt werden, haben Waffenprogramme
oder haben Raketenentwicklung betrieben – oder beides –
ohne bisher die Schwelle einer Nuklearexplosion über-
schritten zu haben. Zu diesen Staaten gehört zum Beispiel
das Land, das gegenwärtig berechtigterweise am stärksten
in die Kritik geraten ist, nämlich Nordkorea. Bis zum
Ende des Golfkrieges gehörten auch der Irak sowie – so
vermuten zumindest die USA – der Iran dazu. Diese drei
Länder haben jedoch den Nichtverbreitungsvertrag unter-
schrieben – im Unterschied zu Israel, Indien und Pakistan.

Die bevorstehende Konferenz in New York – das wäre
ein weiteres Argument, sie zu stärken – will das beste-
hende und immer weiter verfeinerte Regime der
Nichtverbreitung überwachungstechnisch prüfen, wei-
terentwickeln und insbesondere politisch stärken. Die
Atomwaffentests von Indien und Pakistan waren die Aus-
löser bzw. Verstärker für diese Konferenz. Beide Staaten
gehören – ebenso wie Israel und Kuba – zu den vier Nicht-
unterzeichnern des NVV. Gegenwärtig gelingt es wohl

nicht, beide Staaten dazu zu bewegen, dem Vertrag
beizutreten. Wir sollten dabei jedoch nicht das Ziel aus
dem Auge verlieren.

Deshalb halten wir – dies bekräftigt unser Antrag – an
den notwendig voranzutreibenden Zwischenschritten fest:
Testmoratorium, CTBT, Exportkontrollen für sensitives
Nuklearmaterial und – nicht zuletzt – die Beteiligung von
Indien und Pakistan an Verhandlungen mit dem Ziel, die
Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke zu been-
den. Durch diese formulierten Zwischenziele soll also
nicht das Endziel, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen,
aus den Augen verloren werden. Die Zwischenschritte
sollen dazu dienen, das Ziel genauer zu präzisieren und
jetzt konkrete Schritte dafür einzuleiten, dem Endziel
näher zu kommen.

Der NVVverbindet – das ist nach meiner Meinung eine
für die damalige Zeit unglaublich wichtige Verknüpfung –
die Nichtverbreitung, die Zusammenarbeit bei der
friedlichen Nutzung der Kernenergie, für die die Wiener
Behörde mit zuständig ist, und die nukleare Abrüstung
miteinander.

Vor allem die Leistungen der Atommächte in der Abrüs-
tung werden allerdings von vielen Nichtkernwaffenstaa-
ten als unzureichend empfunden. Wenn man sich in die
Position Indiens begibt und mit den Augen Indiens andere
Mächte betrachtet, dann ist das Argument ja nicht ganz
von der Hand zu weisen.

Die späten 80er-Jahre und die frühen 90er-Jahre haben
Hoffnungen geweckt, dass der Abrüstungsprozess stärk-
er vorankommt. Das ist so leider nicht realisiert worden.
Heute sind viele ernüchtert und schauen doch etwas skep-
tisch auf diesen Abrüstungsprozess. Der gute Wille der
Atommächte wird häufig bezweifelt. Das genau ist der
Grund, warum New York so wichtig ist.

Der Vertrag droht politisch zerrieben zu werden. Höchst
bedeutend wäre es also, wenn START II durch die beiden
Großmächte ratifiziert würde – die Duma macht jetzt den
richtigen Schritt – und START-III-Verhandlungen aufge-
nommen würden. Darüber hinaus sollte auch der Test-
stoppvertrag besonders durch Russland und die USA rati-
fiziert werden, die damit den weiteren Staaten mit ent-
wickelter nuklearer Industrie ein Beispiel geben, sich dem
auch anzuschließen.

Des Weiteren wünschen wir, dass in New York
beschlossen wird, dass endlich über ein rechtsverbindlich-
es Ende der Produktion von Spaltmaterial für Waffen-
zwecke verhandelt wird.

Diese unterschiedlichen Punkte sind konkrete Schritte,
um den Nichtverbreitungsvertrag durch Materialisierung
jener Schritte auch voranzutreiben.

Wir erwarten deshalb von der Bundesregierung, dass
sie alles unternimmt, um bilateral und innerhalb der NATO
mit den USA darüber zu reden, wie es verhindert wer-
den kann – das ist sicherlich ein Punkt, der uns alle bewegt
und auch sicherlich noch Schwierigkeiten bereiten könnte
–, dass das geplante nationale Raketenabwehrsystem Na-
tional Missile Defense in Russland, in China und auch in
den Schwellenländern eine neue nukleare Aufrüstung




Gert Weisskirchen (Wiesloch)

9298


(C)



(D)



(A)



(B)


auslöst. Wir stehen also in diesem Jahr vermutlich vor einem
schwierigen Prozess. Ich hoffe, dass die Bundesregierung
Stärke zeigt und versucht zu überzeugen, damit der
amerikanische Präsident an diesem Punkt noch einmal
überdenkt, ob das gegenwärtig der richtige Schritt ist. Wir
sollten ihm deutlich machen, soweit wir es können: Bitte,
denken Sie darüber noch einmal neu nach, mindestens
aber denken Sie darüber nach, ob nicht der neue Präsident
der USAdarüber entscheiden sollte. Dann hätten wir noch
einmal Zeit gewonnen, um mit der neuen Administration
darüber zu reden.

Unser Interesse jedenfalls ist es, kooperative Beziehun-
gen zu stärken und voranzutreiben. Wir fürchten, dass
ebenjene Kooperationsbeziehungen wenigstens zeitweise
durch die Durchsetzung von National Missile Defense
gestört werden könnten. Wir bitten unsere Kollegen im
Kongress in den USA, darüber noch einmal neu nachzu-
denken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Aber falls – das sollten wir auch einmal mit berück-
sichtigen – der amerikanische Präsident den Aufbau eines
solchen Systems beschließt, sollte sichergestellt werden,
dass das kooperative Geflecht – das jahrzehntelang getra-
gen hat, das gehalten hat, das auch schwierige Phasen gut
überstanden hat – der militärischen Sicherheit der Nu-
klearmächte untereinander nicht gefährdet wird. Ich hoffe
sehr, dass eine Lösung gefunden wird – manchmal hört
man es; ich weiß nicht, ob es nur eine Rede ist; vielleicht
steckt ja mehr dahinter; vom Verteidigungsministerium ist
niemand hier –, wonach auch Russland mit beteiligt wer-
den kann, wenn es denn realisiert werden sollte.
Ich glaube, dass wir darüber zumindest noch einmal neu
diskutieren müssen, und ich wünsche mir, dass die
amerikanische Präsidentschaft auch darüber noch einmal
mit sich selbst zu Rate ginge.

Deutschland hat jedenfalls ein überragendes Interesse
daran, dass die Großmächte ihre Kooperationsbeziehun-
gen untereinander ausbauen. Nur so können künftig auch
die atomaren Kurzstreckenwaffen in Europa wegver-
handelt werden. Denn wenn ein neuer Aufrüstungsprozess
in Gang gesetzt würde – zum Beispiel durch National Mis-
sile Defense –, dann könnte und müsste man fürchten, dass
auch die Kurzstreckensysteme bei uns in Europa leider
eben nicht wegverhandelt würden, sondern dass alle an-
deren möglichen Waffensysteme in einen neuen Aufrüs-
tungsprozess mit hineingezogen werden könnten.

Unser Antrag zielt also darauf ab, dass die erste Über-
prüfungskonferenz seit der Entscheidung, diesen Vertrag
unbefristet zu verlängern – das haben wir übrigens im
Deutschen Bundestag in Bonn noch gemeinsam beschlos-
sen –, jetzt in New York dafür sorgt, dass der Nichtver-
breitungsvertrag gestärkt wird. Damals haben wir das
Richtige getan – wir aus der Opposition heraus und Sie als
Regierungskoalition. Das war auch gut so. Fünf Jahre
später wird nun in New York überprüft, ob die damaligen
Beschlüsse bezüglich der Prinzipien und Ziele der nuk-
learen Abrüstung und Nichtverbreitung und der Stärkung

des Überprüfungsprozesses umgesetzt wurden. Alle
Bundesregierungen haben sich zu dem Ziel der Nichtver-
breitung bekannt. Will die Union das – ich hoffe nicht –
infrage stellen? Das kann ich mir eigentlich nicht denken.
Diese Debatte wird die Opposition wieder an diesen
langjährigen Grundkonsens erinnern und ihn erneut be-
festigen.

Gewiss trifft es zu, dass eine kernwaffenfreie Welt nur
dann Wirklichkeit werden kann, wenn die Sicherheits-
bedürfnisse der Kernwaffenstaaten überzeugend auch
ohne Kernwaffen befriedigt werden können. Das ist natür-
lich ihr allererstes Interesse. Dieses Ziel, eine kernwaf-
fenfreie Welt zu schaffen, kann nur dann realisiert werden,
wenn es wirklich konkrete Wege gibt, die zur nuklearen
Abrüstung führen, und wenn der Wille dazu international
gewachsen ist. Richtig ist aber auch: Es gibt viele realis-
tische Schritte, die man gehen kann, ohne bereits über die
vollständige nukleare Abrüstung entschieden zu haben.
Unser Antrag zielt darauf ab.

Bei all diesen konkreten Schritten und schon gar nicht
in New York dürfen wir aus dem Auge verlieren, worum
es wirklich geht und was das überragende Ziel der
Nichtverbreitung ist, nämlich die Welt von allen Atom-
waffen freizumachen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409916000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Karl Lamers.


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1409916100
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen aus dem
Jahre 1968 ist ein Eckpfeiler der internationalen Sicher-
heitspolitik in unserer Zeit. Längst ist die Welt aus dem
Stadium herausgewachsen, in dem einzelne Staaten allein
für ihre nationale Sicherheit sorgen konnten. Deshalb
bleibt nach wie vor das Ziel richtig, mit einem Kontroll-
regime erstens die Verbreitung von Nuklearwaffen und
Nukleartechnologie zu verhindern, zweitens die Zahl der
Kernwaffenstaaten so klein wie möglich zu halten und
drittens den Abrüstungsprozess auch bei diesen Waffen
zügig fortzusetzen. Dies war auch Ziel der von CDU/CSU
und F.D.P. getragenen Bundesregierung. Wir haben hart
daran gearbeitet und viel dafür getan. Wir stehen nach wie
vor zu dieser Politik und zu den Zielen, die der Nichtver-
breitungsvertrag verfolgt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre allerdings unrealistisch, zu glauben, dass diese

Einstellung in aller Welt vorherrschend ist. Pakistan und
Indien sind die Staaten, die in der letzten Zeit nukleare
Sprengsätze gezündet und so ihren Anspruch angemeldet
haben, als Atommächte behandelt zu werden. Nordkorea
konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sein
Streben nach Nuklearwaffentechnologie fortzusetzen. Wir
würden uns auch wünschen, dass verschiedene Länder,
vor allem Indien, Pakistan, Kuba und Israel, den Nichtver-




Gert Weisskirchen (Wiesloch)


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(C)



(D)



(A)



(B)


breitungsvertrag ratifizieren und so einen Beitrag zur
Sicherheit in der Welt leisten.

Meine Damen und Herren, alle Inhalte des Vertrages
tragen wesentlich zur Sicherheit in der Welt bei und sind
deshalb auch in diesem Hause nicht umstritten. Die
6. Überprüfungskonferenz am Sitz der Vereinten Nationen
in New York von Ende April bis Mitte Mai ist auch aus un-
serer Sicht, Herr Professor Weisskirchen, ein wichtiger
Schritt im Hinblick auf mehr Sicherheit in der Welt und auf
die Fortsetzung der Abrüstung der Nuklearpotenziale.

Dass es heute nicht zu einem Konsens zwischen uns
kommt, liegt nicht daran, dass wir dieser Überprü-
fungskonferenz nicht allen Erfolg wünschen, sondern
daran, dass Sie einen Antrag vorgelegt haben, der in vie-
len Punkten nicht konsensfähig ist. Darum geht es; das
möchte ich an einzelnen Beispielen darlegen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wir stimmen der Zielsetzung zu, die Überprü-
fungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg
zu führen. Wir stimmen allerdings zum Beispiel Punkt 7
Ihres Antrages in dieser undifferenzierten Form nicht zu,
in dem die Schaffung von kernwaffenfreien Zonen,
verknüpft mit einem Nichtverbreitungsvertrag, gefordert
wird. Aus unserer Sicht führt die Deklarierung von
atomwaffenfreien Zonen – man erinnert sich an die
Sprache der Vergangenheit –


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: So ist es!)


nicht automatisch zu mehr Sicherheit vor Nuklearwaffen.
Eine freiwillig verkündete oder gar eine von außen

aufgezwungene atomwaffenfreie Zone kann mehr Sicher-
heit schaffen. Sie kann aber auch die Abhängigkeit des
jeweiligen Landes oder einer Region von dem Wohlwollen
eines Nuklearstaates erhöhen. Eine atomwaffenfreie Zone
bedeutet nicht generell eine Perspektive für mehr Sicher-
heit, wenn andere ihre Nuklearwaffen behalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Beer, ich glaube, Sie können noch viel aus dieser
Debatte lernen, wenn Sie genau zuhören.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist überheblich!)


Natürlich wissen wir, dass es auch in unserem Interesse
liegt, Staaten und Kontinente wie etwa Südamerika, von
denen Herr Weisskirchen gesprochen hat und in denen es
keine Nuklearwaffen gibt, in diesem Status zu belassen.
Das ist auch Ziel unserer Politik. Wir wenden uns aber
dagegen, dass der Begriff atomwaffenfreie Zone – man
muss sich diesen Begriff einmal auf der Zunge zergehen
lassen; er wurde während des Kalten Krieges von der
Sowjetunion arg strapaziert; so lange liegt es noch gar
nicht zurück –


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: So ist es! – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wo ist denn die Sowjetunion?)


ein Jahrzehnt nach dem Ende dieses Konfliktes wieder in
der Politik auftaucht. Auch mit Sprache kann man Politik
machen und Bewusstsein prägen. Darauf wollen wir hin-
weisen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie reden wirklich mit den Argumenten von vorgestern! Alte Ideologie!)


Ich weiß, dass Sie jetzt mit dem Begriff Sicherheits-
garantie gegenüber Nichtkernwaffenstaaten kontern –
auch das ist in Ihrem Antrag enthalten –, mit dem Staaten
und Menschen in atomwaffenfreien Zonen suggeriert
wird, allein ein Stück Papier, ein Vertrag, sei im Laufe der
Geschichte ein Garant für Sicherheit vor Nuklearwaf-
feneinsatz und für territoriale Unverletzlichkeit.

Dieser Begriff der Sicherheitsgarantie war schon
vor 1990 Gegenstand der Politik. Wäre es der Sowjet-
union damals mit diesen verlockenden Angeboten
gelungen, einzelne NATO-Staaten aus dem Bündnis
herauszubrechen, dann wäre es in diesem Bereich nicht zu
mehr, sondern zu weniger Sicherheit der betroffenen Staat-
en gekommen. Dem wirkte einzig und allein die Nuklear-
garantie der NATO entgegen. Über mehr als 50 Jahre war
und ist dies der eigentliche Garant für die Sicherheit und
für die Stabilität in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich möchte jetzt

die ansprechen, Herr Weisskirchen, die diesen Antrag for-
muliert haben. Haben diejenigen, die diesen Antrag for-
muliert haben und die hier um Zustimmung werben, Frau
Beer, überlegt, welche Sicherheitsgarantien ein Staat
gegenüber einem Nichtkernwaffenstaat übernimmt, wenn
er eine so unpräzise Formulierung, wie sie in diesem
Vorschlag enthalten ist, unterschreibt? Muss der Sicher-
heitsgeber dann, so frage ich Sie, in jedem Fall als Garant
eintreten, wenn ein Angriff auf einen Nichtkernwaffen-
staat erfolgt? Wie weit gehen die vertraglichen Bindewir-
kungen und die Sicherheitsgarantien? Wird hier ein Au-
tomatismus vereinbart? – Sehen Sie, das ist es, was uns an
diesem Antrag stört: unklare, unpräzise Formulierungen
und ihre vielleicht fatalen Folgewirkungen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten ja einen eigenen Antrag einbringen können! Das fällt Ihnen ziemlich spät ein!)


– Wenn Sie Ihren Zuruf beendet haben, setze ich meine
Rede fort.

Die funktionierende Nuklearstrategie der NATO ist seit
vielen Jahren der Garant für unsere Sicherheit. Die rot-
grüne Koalition fordert in diesem Antrag die Offenlegung
aller Nukleardoktrinen, also auch die der NATO. Auch
das ist ein undifferenziert vorgetragenes Argument, dem
wir in dieser sehr auslegungsfähigen und damit missver-
ständlichen Form nicht zustimmen können.

Gewiss ist es die Politik der NATO, seit dem Ende des
Kalten Krieges mit Offenheit und Transparenz zum Abbau






(C)



(D)



(A)



(B)


von Spannungen beizutragen und so das jahrzehntelang
vorhandene Misstrauen zwischen den Militärbündnissen
abzubauen. Aber die Frage ist doch: Was heißt Offenle-
gung? Kann sie so weit gehen wie zum Beispiel im Koso-
vo-Konflikt, dass nämlich sämtliche Schritte und Maß-
nahmen der Allianz gegen den Aggressor Milosevic groß
und breit in allen Medien diskutiert wurden, bevor über-
haupt eine militärische Aktion erfolgte? General Naumann
hat dazu sehr beeindruckend Stellung genommen und dar-
auf hingewiesen, dass Milosevic aufgrund der öffentli-
chen Diskussion bereits abends wusste, was am nächsten
Tag militärisch geschehen sollte.

Wenn die rot-grüne Koalition – ich muss sagen: mehr
oder weniger geschickt und undifferenziert – die Offenle-
gung der Nuklearstrategie der NATO in den Zusammen-
hang des Nichtverbreitungsvertrages hineinmogelt, dann
kann das nur stutzig machen und vielleicht auch den
Grund haben, dass man letztlich die Abschaffung dieser
Strategie erreichen will.

HerrStaatsminister, ichwilldanichtnachtarocken,nicht
nachsetzen, aber icherinneredochandenVorstoß IhresMi-
nisters im letzten Jahr bei der Jubiläumstagung der NATO,
als er versucht hat, dieErstschlagoption der NATO abzu-
schaffen und aus der Bündnisstrategie herauszukippen.
Ein Jahr später, heute, ist Russland dabei, sich aus dieser
jahrzehntelangen Tradition zu verabschieden, nämlich den
Verzicht auf den nuklearen Erstschlag aufzugeben und ab-
zuschaffen. Das muss Sie doch nachdenklich stimmen,
nachdem Sie gerade im letzten Jahr noch versucht haben,
Herr Staatsminister Volmer, genau dies zu erreichen und
das Bündnis in diesem Punkt zu schwächen.

Das nur als Ergänzung dazu, dass im vergangenen Jahr
über die Initiativen des grünen Außenministers im Bünd-
nis Irritationen und große Differenzen entstanden sind.

Wir wollen die NATO als Garant unserer Sicherheit in
vollem Umfang erhalten und fortentwickeln. Wir wenden
uns, Frau Beer, Herr Weisskirchen, auch gegen den
Schlussabsatz des zweiten Abschnitts Ihres Antrags, in
dem von einem „Prüfprozess“ die Rede ist. Der in der
NATO eingeleitete Prüfprozess in Bezug auf die Nuklear-
strategie kann und darf nach unserer Überzeugung nicht
dazu führen, dass die NATO-Strategie Stück um Stück de-
montiert wird.

Rot-Grün rufe ich zu: Sie dürfen nicht einmal imAnsatz
den Eindruck erwecken, dass NATO und nukleare Abrüs-
tung einen Gegensatz darstellen. Denn die NATO hat mit
den unterschiedlichenAbrüstungsabkommen gezeigt, dass
sie bereit und fähig ist, ihr Nuklearpotenzial wesentlich zu
verkleinern. Seit Ende der 80er-Jahre wurden die nuklea-
ren Mittelstreckenraketen und die nuklearen Gefechts-
feldwaffen vollständig aus dem europäischen NATO-Ge-
biet abgezogen. Auch die Zahl der noch verbliebenen Nu-
klearwaffen ist wesentlich reduziert worden.

Der Antrag der rot-grünen Koalition ist von unserer
Seite nicht zustimmungsfähig. Ich sage noch einmal:
Dafür tragen Sie die politische Verantwortung, weil Sie im
Vorfeld nicht den Versuch gemacht haben, hier zu einem
Konsens zu kommen. Entfernen Sie alles, was unsere So-
lidarität mit unseren NATO-Partnern infrage stellt! Mi-
schen Sie nicht Äpfel mit Birnen, indem Sie den Eindruck

erwecken, die NATO sei eher ein Hindernis auf demWeg
zu weniger Nuklearwaffen in derWelt! Genau diesen Ein-
druck erweckt dieser Antrag. Sagen Sie doch, dass die
NATO Tausende von Nuklearwaffen abgezogen und ver-
schrottet hat und dies beispielhaft für wirkliche Abrüstung
weltweit ist!

Seien Sie ehrlich und geben Sie zu, dass Sie sich mit
diesem Antrag mit politischen Gegnern anlegen wollen,
indem Sie zwei eigentlich nicht miteinander zu vereinba-
rende Dinge mischen und so den Zwang erzeugen, dass
wir zustimmen, wenn wir von Ihnen nicht anschließend als
Gegner des Nichtverbreitungsvertrages bezeichnet wer-
den wollen. Wir sind keine Gegner, denn wir wollen den
Erfolg dieser Konferenz – um das noch einmal zu sagen.

Ich möchte deswegen abschließend für meine Fraktion
festhalten: uneingeschränktes Ja zu dem Nichtverbrei-
tungsvertrag und zum Teststoppvertrag; das ist völlig klar.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Gut!)

Nein aber zu Ihrer Absicht, in einer ganz undifferenzier-
ten und nicht hinnehmbaren Weise Politikinhalte wie die
atomwaffenfreien Zonen und die Nuklearstrategie der
NATO mit dem Nichtverbreitungsvertrag in Zusammen-
hang zu bringen, die besser auch in Zukunft differenziert
und mit Augenmaß betrachtet werden sollten.

Meine Damen und Herren, das sind die Gründe, aus de-
nen wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir fordern Sie
auf, wenn Sie dies wollen und politisch für richtig halten,
den Antrag zurückzuziehen und mit uns zusammen einen
neuen Antrag zu formulieren,


(Lachen der Abg. Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


der alle Zweifel beseitigt, vollständige Klarheit schafft
über Absichten und Wirkungen, zu denen wir uns beken-
nen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Hohn auf diese Problematik!)


Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409916200
Als näch-
ste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409916300
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Lamers, nur so viel: Ich finde es schwierig, dass Sie in ei-
ner aktuellen Situation, die überaus problematisch ist – ich
werde gleich etwas dazu sagen –, versuchen, übrigens zum
ersten Mal seit Jahren im Deutschen Bundestag, aus der
Frage der Nichtweiterverbreitung und der nuklearen Ab-
rüstung parteipolitisches Kalkül zu ziehen.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: So ein Krampf!)


Das ist ein Rückschritt im nationalen Verständnis




Dr. Karl-A. Lamers (Heidelberg)


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(B)



(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Na, na, na!)


über die Notwendigkeit der Reduzierung der Atomwaffen.
Dann zu dem, was Sie hier gegen atomwaffenfreie Zo-

nen angeführt haben: Nennen Sie mir doch einmal die
Nachteile für eine Region, die zum Glück noch atomwaf-
fenfrei ist. Diese Ideologie, die Sie heute angeführt haben,
ist ein Abschied von der Rüstungsbegrenzung und der Rü-
stungskontrolle. Das sind Alarmzeichen. – So weit dazu.

Die Situation ist ernst; ich will nur auf die Eckpunkte
eingehen: Ich erinnere an unsere Debatte vor fünf Jahren,
vor der letzten Überprüfungskonferenz, in der wir ge-
meinsam die Gefahren und Risiken, aber auch die großen
Chancen formuliert haben. Ich glaube, dass man konsta-
tieren muss, dass die Rüstungskontrolle in diesem Bereich
heute in einer Krise steckt, die sich möglicherweise auch
auf der bevorstehenden NVV-Konferenz deutlich zeigen
wird.

Ich stelle fest, dass die Lage der atomaren Abrüstung
und Rüstungskontrolle Besorgnis erregend ist. Ich möch-
te gerne die wenigen Punkte, die dafür entscheidend sind,
nennen.

Nun kann nicht allein das Verhalten der Kernwaffenbe-
sitzer als Grund für diese destabile Situation genannt wer-
den, obwohl wir natürlich nach wie vor fordern, dass sich
die so genannten Havens endlich an der Verpflichtung aus
dem Art. VI orientieren und weiter nuklear abrüsten.

Es ist natürlich eine Tatsache, dass Staaten wie der Irak,
Nordkorea oder Libyen versuchen, in den Besitz von
Kernwaffen zu kommen, bzw. durch die Vergrößerung von
Reichweiten tatsächlich eine Bedrohung in den Bereichen
Proliferation und Angriff darstellen. Diese Probleme darf
man nicht negieren. Man muss sich mit ihnen auseinander
setzen. Sie sind eine sicherheitspolitische Destabilisierung
für die jeweiligen Regionen der Länder.

Wir haben die indischen und pakistanischen Atomtests
erleben müssen, die wider alle Vernunft die nukleare Kar-
te regionalpolitisch missbraucht haben und dadurch das
Nichtverbreitungsregime gefährden. Wir raten aber zum
rationalen, vernünftigen Umgang mit diesen Entwicklun-
gen. Das heißt aus unserer Sicht zunächst der Verzicht auf
die Dämonisierung der so genannten Schurkenstaaten und
die Stärkung der rüstungskontrollpolitischen Elemente.

Herr Lamers, das hätte ich heute von Ihnen erwartet.
Ein Regime, das vom Scheitern bedroht ist, kann man
doch nicht in der Form, wie Sie es gemacht haben, partei-
politisch an die Wand reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen aber auch sehen, dass der republikanisch
dominierte US-Kongress den Abschluss eines Vertrages
über einen Atomteststopp verweigert hat, dass er ihn
blockiert und dass die Vereinigten Staaten möglicherwei-
se durch die National Missile Defense Initiative den
ABM-Vertrag gefährden. Den ABM-Vertrag zu gefähr-
den heißt, die gesamte nukleare Rüstungskontroll- und
Abrüstungspolitik möglicherweise zum Scheitern zu brin-

gen. Überlegen Sie doch einmal, welche Folgen das hat!
Herr Kollege Lamers, Sie können sich freuen, wenn Sie in
Zukunft überhaupt noch irgendwo eine atomwaffenfreie
Zone finden.

Doch auch die russische Position – das will ich hier
noch ansprechen – ist nicht frei von Ambivalenzen. Kol-
lege Weisskirchen hat die Duma angesprochen. Sie hat bis-
her den START-Prozess blockiert. Wir hoffen inständig,
dass morgen tatsächlich eine Wende dieser Blockade er-
folgt und die Ratifizierung gelingt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit wäre der Weg für START III frei. Doch wir müs-
sen auch nach den Motiven dafür fragen.

In Russland wie in den USAwird über eine neue Rolle
von Atomwaffen nachgedacht. Solange Atomwaffen noch
einen hohen Prestige- und Statuscharakter haben, fällt es
dem wirtschaftlich angeschlagenen Russland, dessen
Rüstungsindustrie noch zu den intakten Bereichen gehört,
schwer, auf diese Waffen zu verzichten. Russland über-
nimmt im Moment spiegelbildlich die Strategie des We-
stens aus dem Ost-West-Konflikt – nicht zuletzt als Reak-
tion auf die Erweiterung der NATO.

Wir müssen uns konfliktreich, aber im Dialog, mit dem
Hochschaukeln von Rüstungspotenzialen aus den Zeiten
des Kalten Krieges auseinander setzen. Wir müssen uns
sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Russen ins
Benehmen setzen. Kollege Lamers, gerade uns als einem
Land, das ganz bewusst für immer auf den Besitz eigener
Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, steht es doch
an, bei diesen gefährlichen Entwicklungen den Zeigefin-
ger mahnend, wenn auch in Kooperation, zu erheben.

Vor demHintergrund dieser Problembeschreibung soll-
tenwiruns indemgenanntenBereich insbesondereumFol-
gendes bemühen – ich appelliere an Sie mitzumachen –:
Die Atomwaffen besitzenden Staaten müssen ihre Verant-
wortung wahrnehmen und das Gebot aus dem NVV end-
lich umsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir müssen uns für die Universalisierung der beste-
henden nuklearen Rüstungskontrollverträge, insbesonde-
re bei Indien und Pakistan, einsetzen, um neue Eskalatio-
nen zu verhindern. Der NATO-Prüfprozess zur Nuklear-
strategie, den der Kollege Lamers – ich will nicht
„verpennt“ sagen – verschlafen hat,


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Ich bin hellwach!)


muss sich an den Zielen des NVV orientieren. Es sind kri-
tische Töne auch innerhalb der NATO gehört worden. Sie
haben dazu geführt, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt
worden ist. Auch die NATO hat ein Interesse daran, von
einer neuen Nuklearpolitik, die nicht mehr zu bändigen ist,
Abstand zu nehmen. Deswegen ist sie gehalten, sich an
den Abrüstungsprozess zu halten. Dort gibt es einen Kon-
sens, den Sie heute gebrochen haben. Das ist schade.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Angelika Beer
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(A)



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Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409916400
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1409916500
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gert
Weisskirchen hat natürlich Recht, dass wir bei Grundfra-
gen der Außen- und Sicherheitspolitik die Gemeinsam-
keiten betonen sollen. Deswegen will ich zu Beginn deut-
lich machen, was uns verbindet. Allerdings werde ich am
Schluss auch deutlich machen müssen, weswegen wir dem
vorgelegten Antrag nicht zustimmen können.

Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen war
das erste grundlegende Abkommen zur Abrüstung in der
Welt überhaupt. Im Jahr 1968 fürchteten viele – übrigens
zu Recht –, dass statt der damals fünf Atommächte wohl
bald bis zu 30 Staaten im Besitz von Atomwaffen sein wür-
den, wenn sich nicht nahezu die ganze Welt darauf ver-
ständigte, keinen weiteren Staaten den Zugang zu Atom-
waffen zu ermöglichen.

Der Vertrag wurde in der Tat zur Erfolgsstory. 187 Staa-
ten sind ihm beigetreten – darunter auch Länder wie Ar-
gentinien, Brasilien und Südafrika, aber auch die Ukraine,
Kasachstan und Weißrussland. Das sind Staaten, die ent-
weder schon Atomwaffen hatten oder doch sehr nahe da-
ran waren. Nur Indien, Israel, Pakistan und Kuba haben
sich bisher noch nicht angeschlossen.

Die Unterschrift unter den Vertrag gibt allerdings noch
keine hundertprozentige Gewissheit über das Verhalten
des unterschreibenden Staates, wie Entwicklungen im Irak
oder in Nordkorea deutlich machen. Dennoch sind seit
dem Abschluss dieses Vertrages die Nukleargefahren für
die Welt ohne Zweifel geringer geworden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Dass die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie Ja-
pan – zwei wirtschaftlich starke Nationen mit großem wis-
senschaftlichen Know-how – auf den Besitz von Atom-
waffen verzichtet hat, hat viele kleinere Staaten ermutigt,
ihrem Beispiel zu folgen. Dies war gut für den Weltfrie-
den, denn noch immer verbinden manche Staaten mit dem
Besitz von Atomwaffen die Vorstellung, sie würden damit
wichtiger, mächtiger oder gar sicherer.

Das geistige Umweltgift des Nationalismus ist wohl
die zentrale Triebfeder, die Staaten wie Indien und Pakis-
tan mit ihrem Dauerzankapfel Kaschmir trotz immenser
Kosten in die Entwicklung von Atombomben getrieben
hat.

Nicht unerwartet hatte Präsident Clinton bei seinem
Besuch in Indien vor wenigen Wochen keinen Erfolg, als
er die Inder aufforderte, von ihrem Atomrüstungspro-
gramm abzulassen. Konnte doch Indien darauf verweisen,
dass es viermal so viele Einwohner wie die USA hat, die
ihrerseits nach wie vor ein riesiges Atomwaffenarsenal
unterhalten und den Atomtestverbotsvertrag nicht ratifi-
ziert haben.

Dieses Beispiel zeigt, dass die nach dem Vertrag in
Kauf genommene Aufteilung der Welt in Waffenbesitzer
und Habenichtse durchaus problematisch ist. Dieses Kon-
zept ist aber wohl noch auf lange Sicht ohne Alternative.

Die USA erschweren durch ihre nationale Politik des
letzten Jahres die Bemühungen, den Nichtverbreitungs-
vertrag endgültig zum Erfolg zu führen. So haben die Wei-
gerung des Senats, den Atomtestverbotsvertrag zu ratifi-
zieren, und die Erklärung der führenden Politiker der
USA, in Abweichung vom ABM-Vertrag ein Antirake-
tensystem auf amerikanischem Boden zu installieren, ge-
nau die falschen Signale gegeben. Wenn sich schon die Su-
permacht USA trotz ihrer weltweit konkurrenzlosen Res-
sourcen und trotz ihres Arsenals an Atomwaffen und
Trägerraketen bedroht fühlt, so stärkt die Beobachtung
dieses Umstands die Bedenken anderer Nationen, ob man
auf scheinbare zusätzliche Sicherheit durch eigene Rake-
tenprogramme oder gar Atombomben verzichten kann.

In dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen
werden all diese Gefahren erkannt und es wird insoweit
der Wille ausgedrückt, die Abrüstungspolitik der Vorgän-
gerregierung fortzusetzen.

Die F.D.P. kann diesem Antrag dennoch aus folgenden
Gründen nicht zustimmen: Erstens. In diesem Antrag wer-
den kernwaffenfreie Zonen als ein geeignetes Mittel zur
Festigung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet. Ich
frage die SPD: Was hat Sie geritten, dass Sie diesen Pro-
blembegriff, der, da er aus der Zeit des Kalten Krieges
stammt, sehr negativ besetzt ist, wieder aufgenommen ha-
ben?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wo sollen denn welche kernwaffenfreien Zonen er-

richtet werden? In Afrika, Südamerika oder vielleicht
nicht doch auch in Westeuropa?


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Nichts dazugelernt!)


Damit würden wir die Flexibilität der NATO-Strategie
aufgeben, die uns während des Kalten Krieges den Frie-
den bewahrt hat.

Warum denn überhaupt diese geographische Einengung
auf Zonen? Wir halten an der Vision des Vertrages im Hin-
blick auf eine kernwaffenfreie Welt fest und wir wollen auf
dem Weg dorthin dafür sorgen, dass außer in den jetzigen
fünf Kernwaffenstaaten und auf dem NATO-Gebiet nir-
gends Kernwaffen stationiert werden. Wozu dann noch die
Festlegung von Zonen? Das ist nicht hilfreich.

Wir wollen auch nicht, dass nach dem unglückseligen
Versuch des Außenministers Fischer, den NATO-Partnern
sein völlig untaugliches Konzept des Verzichts auf die Op-
tion eines atomaren Ersteinsatzes und damit eine grund-
legende Änderung des strategischen Konzeptes aufs Auge
zu drücken, neuerlich Irritationen von Deutschland aus in
die NATO gebracht werden.


(Beifall bei der F.D.P.)







(C)



(D)



(A)



(B)


Wir wollen es Bundesminister Scharping gerne erspa-
ren, erneut Wogen im transatlantischen Verhältnis glätten
und die vom deutschen Außenminister angefachten Koh-
len aus dem Feuer holen zu müssen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die NATO-Strategie ist vor einem Jahr neu gefasst, ak-

tualisiert und einmütig beschlossen worden. Die Sicher-
heitspolitiker der SPD haben bisher keinen Zweifel daran
gelassen, dass sie zu diesem strategischen Konzept stehen.
Sie sollten jetzt nicht einen Antrag einbringen, der ernst-
hafte Zweifel daran erkennen lässt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist längst nicht

mehr nur ein Thema der Vereinbarung von Staaten, die
früher die absolute Kontrolle über diese Waffen hatten.
Kein Mensch weiß, wo exakt jeder Einzelne der circa
20 000 Gefechtsköpfe herumliegt, die die Sowjetunion
ihren Nachfolgestaaten hinterlassen hat. Internationaler
Terrorismus und eine fehlende berufliche Perspektive von
Menschen, die Zugang zu spaltbarem Material und zu
Atomwaffen hatten, stellen mittlerweile wohl das größte
Gefahrenpotenzial im Bereich der Kernwaffen dar.

Hierzu wird in dem vorliegenden Antrag nichts gesagt.
Das gemeinsame Vorgehen aller Vertragsstaaten bei der
Verhinderung von quasi privater Verbreitung von Atom-
waffen ist aber das Gebot der Stunde. Die Konferenz in
NewYork muss sich auch hiermit beschäftigen – und dies
mit allem Nachdruck.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409916600
Als nächs-
te Rednerin hat das Wort die Kollegin Heidi Lippmann
von der PDS-Fraktion.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1409916700
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Vorab: Wir werden den Regie-
rungsantrag unterstützen, da in Abschnitt I unter den Punk-
ten 1 bis 7 viele richtige und auch wichtige Aspekte auf-
geführt sind. Zusätzlich aber haben wir einen eigenen
Entschließungsantrag eingebracht,


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Den lehnen wir auch ab!)


weil wir einige Dinge klarer ansprechen wollen und uns
ein konsequenteres Verhalten der Bundesregierung wün-
schen.

Unter I. 6. des Regierungsantrags steht, dass der ABM-
Vertrag „eine Grundvoraussetzung für Fortschritte nu-
klearer Abrüstung“ sei. Dies ist vollkommen richtig, das
unterstützen wir. Da aber die USAgegenwärtig dabei sind,
diesen Vertrag durch den geplanten Aufbau einer nationa-
len Raketenabwehr auszuhebeln – das wurde schon von
den Kollegen angesprochen –, bedeutet dies das Ende die-
ses Eckpfeilers der Rüstungskontrolle; und das zieht

unweigerlich eine neue Aufrüstungsspirale im Bereich der
Kernwaffen nach sich.

Auch wir hoffen, dass die Duma den START-II-Ver-
trag ratifizieren wird, doch die Gefährdung des ABM-Ver-
trages durch das National-Missiles-Defense-Program
bleibt natürlich bestehen.

Herr Kollege Lamers, auf Ihre Rede hin möchte ich Ih-
nen doch einmal empfehlen, sich mit der neuen Nuklear-
doktrin der Russen auseinander zu setzen,


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Das habe ich gemacht!)


die Putin am 4. Januar dieses Jahres verabschiedet hat.
Dann werden Sie sehen, dass Ihre Interpretation nicht ganz
zutreffend ist. – Wir wollen, dass dies unmissverständlich
ausgedrückt und nicht herumgeeiert wird.

Dieselbe Kritik betrifft Punkt II des Regierungsantra-
ges. Darin wird die „Fortentwicklung der Sicherheitsga-
rantien gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten zu einem
vertraglich abgesicherten Instrument“ gefordert. Das ist
gut und schön, wir unterstützen dies auch. Aber alle Fach-
leute wissen, dass die neue Nukleardoktrin der USA den
Einsatz von Kernwaffen gegen Staaten, die sich B- oder
C-Waffen zulegen wollen oder im Verdacht stehen, solche
Waffen herzustellen, zumindest nicht ausschließt. Das
aber verstößt gegen die Sicherheitsgarantien, die lauten,
dass Kernwaffen unter keinen Umständen gegen Nicht-
kernwaffenbesitzer eingesetzt werden dürfen.

Man müsste sich also auch in diesem Punkt mit den
USAanlegen. Genau dies ist im Regierungsantrag nicht so
deutlich enthalten. Deswegen wünschen wir uns hier eine
Verstärkung. Herr Staatsminister, sollten Sie an der Kon-
ferenz in New York teilnehmen, so hoffe ich, dass Sie dies
mit auf Ihren Weg nehmen.

Dasselbe Spiel haben wir auch beim dritten Spiegel-
strich, bei der Überprüfung der Nukleardoktrinen „auf ih-
re Vereinbarkeit mit dem Ziel der Abrüstung und Nicht-
verbreitung“. Man kann sich vorstellen, dass hier gerade
an die Infragestellung der Ersteinsatzoption der NATO
gedacht ist. Aber nachdem man in der NATO mit einem
ersten Vorstoß schmählich gescheitert ist, wird, statt Klar-
text zu sprechen, auch an dieser Stelle verwässert. Wir
wollen, dass die Regierung in dieser Sache beharrlich
dranbleibt. Wer den Ersteinsatz von Atomwaffen ins Kal-
kül zieht, kann nicht glaubhaft an der nuklearen Abrüstung
und Rüstungskontrolle arbeiten.


(Beifall bei der PDS)

Im Unterschied zur Regierung wollen wir ein prakti-

sches Bemühen um nukleare Abrüstung sehen. Alle in
Deutschland stationierten Sprengköpfe müssen abgezo-
gen bzw. verschrottet werden, und das schnellstmöglich.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Es genügt nicht, kernwaffenfreie Zonen zu einem pro-
baten Mittel zu erklären – so steht es im Regierungs-
antrag –; man muss dies vielmehr in konkrete Schritte um-
setzen. Ich denke, dass wir uns bei dieser Forderung einig
sind.




Hildebrecht Braun (Augsburg)

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(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließlich sollte die
Bundesregierung unseres Erachtens das Bemühen um die
vollständige nukleare Abrüstung dadurch unterstreichen,
dass alle Formen der so genannten nuklearen Teilhabe im
Rahmen der NATO aufgekündigt werden. Das würde die
Glaubwürdigkeit des Engagements gegen den atomaren
Rüstungswahnsinn erheblich erhöhen.

Wir werden Ihrem Antrag zustimmen. Wenn Sie unse-
ren Antrag als Verstärkung und Ergänzung unseres ge-
meinsamen Bemühens verstehen – damit spreche ich die
linke Seite des Hauses an –, dann dürfte es Ihnen nicht all-
zu schwer fallen, unserem Antrag zuzustimmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409916800
Als letz-
tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich
dem Herrn Staatsminister Ludger Volmer das Wort.

D
Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409916900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit En-
de des Kalten Krieges hat sich für uns in Europa das Ge-
fühl der unmittelbaren Bedrohung durch Kernwaffen dras-
tisch verringert. Damit ist für viele die Bedeutung des
30 Jahre alten nuklearen Nichtverbreitungsvertrags in den
Hintergrund getreten. Leider gilt dies nicht für andere Re-
gionen der Welt. Die indischen und pakistanischen Nu-
kleartests vom Mai 1998 waren ein herber Rückschlag, mit
dem sich die Staatengemeinschaft nicht abfinden wird.
Die nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung sind heute
ebenso wichtig wie zu Zeiten des Kalten Krieges.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahre 1995
wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Allerdings stehen
vier Länder, nämlich Kuba, Indien, Israel und Pakistan,
dem Vertrag immer noch fern. Die Bekämpfung der nu-
klearen Proliferation und die Fortführung der nuklearen
Abrüstung werden nur zu erreichen sein, wenn auch die-
se Staaten dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beitre-
ten. Die Universalität des Vertrages bleibt das vorrangige
Ziel. Auf der bevorstehenden Überprüfungskonferenz
werden wir uns nachdrücklich darum bemühen, dieses
Ziel zu erreichen.

Das nukleare Nichtverbreitungsregime ist aber auch
durch andere Entwicklungen erheblich belastet worden.
Dazu gehören vor allem die im Irak aufgedeckten Pro-
gramme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen
sowie die Entwicklung weitreichender militärischer Ra-
ketentechnologie in verschiedenen Ländern. Sie wirkt po-
litisch sehr destabilisierend, weil sie dem Verdacht auf die
mögliche Existenz geheimer Programme zur Entwicklung
von Massenvernichtungswaffen neuen Auftrieb geben
könnte.

Im Gegensatz zur konventionellen Rüstungskontrolle,
bei der unsere Abrüstungsbemühungen zu Erfolgen wie
der Anpassung des KSE-Vertrages führten, sieht es im nu-
klearen Bereich leider weniger gut aus. Die Genfer Abrüs-

tungskonferenz stagniert. Der Atomtestverbotsvertrag
konnte bisher nicht in Kraft treten, weil wichtige Staaten
den Vertrag noch nicht ratifiziert haben. Ebenso kritisch
steht es um die Aufnahme von Verhandlungen über das
Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen
oder anderen Kernsprengkörpern, die so genannten Cut-
off-Verhandlungen. Die Bundesregierung verstärkt daher
ihren Appell an alle beteiligten Staaten, diesen Stillstand
jetzt zu überwinden.

In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die
zwar nicht proliferationsrechtliche, aber proliferationspo-
litische Problematik von Forschungsreaktoren, in denen
hoch angereichertes Uran verwendet wird.

Die rasche Fortsetzung der nuklearen Abrüstung ist von
überragender Bedeutung. Zwar haben die USA und Russ-
land ihre nuklearen Arsenale nach dem Ende des Kalten
Krieges mehr als halbiert und Frankreich sowie Großbri-
tannien einseitige Abrüstungsschritte unternommen. Aber
seit der letzten Überprüfungskonferenz stockt der Prozess.
Dies liegt vor allem daran, dass die russische Duma dem
START-II-Vertrag bisher ihre Zustimmung versagt hat.
Wir freuen uns daher über aktuelle, hoffnungsvolle Zei-
chen, dass die Duma den START-II-Vertrag am morgigen
Freitag endlich ratifizieren will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Heidi Lippmann [PDS])


Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang ausdrück-
lich, dass sich zentralasiatische Staaten, die früher der Sow-
jetunion angehörten, nun zu atomwaffenfreien Zonen
erklärt haben.

Mit der Duma-Entscheidung wäre der Weg für weitere
substanzielle Abrüstungsschritte im Rahmen eines
zukünftigen START-III-Vertrages frei, der unmittelbar
anschließend in Angriff genommen werden sollte. Dies
wäre ein positives Signal für die Überprüfungskonferenz
von New York.

Neben einer umfangreichen Bestandsaufnahme wird
man dort hauptsächlich Wege aufzeigen müssen, wie den
wachsenden Gefahren der Verbreitung von Massenver-
nichtungswaffen und ihrer Trägermittel, vor allem der nu-
klearen Waffen, zukünftig wirksamer begegnet werden
kann. Die Bundesregierung setzt dabei weiterhin in erster
Linie auf politische und diplomatische Mittel, das heißt die
Stärkung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollver-
träge sowie der darauf aufbauenden Exportkontrollsyste-
me.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Die Verträge müssen universelle Geltung erhalten sowie
umfassend implementiert und zuverlässig verifiziert wer-
den.

Militärische Mittel dagegen können erst dann Bedeu-
tung erlangen, wenn alle anderen Instrumente versagt ha-
ben. Ihre Einführung darf jedoch vorhandene Abrüstungs-
und Rüstungskontrollverträge nicht in ihrer Substanz ge-
fährden. Sie darf nicht dazu führen, dass neue nukleare
Rüstungsspiralen in Gang gesetzt werden.




Heidi Lippmann

9305


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Heidi Lippmann [PDS])


Dies gilt auch konkret für den ABM-Vertrag, über des-
sen Zukunft zwischen Russland und den USA gegenwär-
tig gesprochen wird.
Wir meinen, dass dies einvernehmlich geschehen und ei-
ne Vertragsanpassung nur gemeinsam mit weiteren sub-
stanziellen Abrüstungsschritten im Rahmen eines zukünf-
tigen START-III-Vertrags realisiert werden sollte.

Auf der Überprüfungskonferenz sollten daher konkre-
te Maßnahmen zur Stärkung der nuklearen Nichtverbrei-
tung und Abrüstung im Vordergrund stehen. Ziel ist ein
realitätsadäquater Katalog praktischer Schritte in einem
einvernehmlich beschlossenen Abschlussdokument. Be-
sonders wichtig wird dabei die enge Zusammenarbeit mit
unseren EU-Partnern sein. Auf unsere Initiative hin gelang
es zum ersten Mal, zu einer gemeinsamen Position der EU
zu Fragen der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung
zu kommen, die voraussichtlich heute Nachmittag formell
beschlossen wird.

Dies gibt der EU neuen Handlungsspielraum und setzt
ein wichtiges Beispiel für die Vertragsstaatengemein-
schaft. Die EU selber wird so auf der Überprüfungskon-
ferenz wesentlich besser dazu beitragen können, zu kon-
kreten Ergebnissen zu kommen. Die Bundesregierung
wird sich – hoffentlich mit Unterstützung des gesamten
Hauses – auch weiterhin für das Ziel der vollständigen Ab-
schaffung aller Atomwaffen einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409917000
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungs-
vertrag zum Erfolg führen“, Drucksache 14/3163. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2908
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3190 mit dem Titel
„Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der
F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ab-
gelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-

gierung

Waldzustandsbericht der Bundesregierung
1999 – Ergebnis des forstlichen Umweltmonito-
ring –
– Drucksache 14/3090 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten (10. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Hilfsprogramm für die Beseitigung von Sturm-
schäden im Wald durch den Orkan „Lothar“
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Rasche und wirksame Hilfe fürWaldbesitzer
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie
Wright, Iris Follak, Renate Gradistanac, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken,
Winfried Hermann und der Fraktion BÜNDNIS90/
DIE GRÜNEN
Waldschäden durch die Orkane im Dezember
1999
– Drucksachen 14/2570, 14/2583, 14/2685,
14/3045 –
Berichterstattung:
Abgordneter Heinrich-Wilhelm Ronsöhr

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.


Heidemarie Wright (SPD):
Rede ID: ID1409917100
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der diesjähri-
gen Walddebatte, die heute am späteren Abend noch durch
die Debatte zum Tropenwaldbericht ergänzt wird, beglei-
tet uns die Erkenntnis, dass trotz Anstrengungen zwar ge-
ringfügige Verbesserungen beim Waldzustand erreicht
werden konnten, weitere Anstrengungen jedoch kontinu-
ierlich nötig sind und keinesfalls Entwarnung gegeben
werden kann.

Um es vorweg und unumwunden zu sagen: Der Wald-
zustandsbericht des Jahres 1999 zeigt weiterhin einen kri-
tischen Waldzustand. Dennoch meine ich – das will ich
gerne detailliert ausführen –: Die Bundesregierung ist auf
einem guten Wege, durch Ansätze in verschiedenen Poli-
tikbereichen den Waldzustand bzw. auf diesen einwir-
kende Kriterien zu verbessern.




Staatsminister Dr. Ludger Volmer
9306


(C)



(D)



(A)



(B)


Natürlich freuen wir uns über jeden einzelnen Licht-
blick, über jede Verbesserung, so zum Beispiel darüber
dass der Anteil der deutlichen Schäden in keiner Baumart
mehr den höchsten Stand hat. Hingegen will ich aber auch
nicht negieren, dass der Anteil der Bestände ohne Schäden
bei der Buche bei lediglich 21 Prozent und bei der Eiche
bei nur 20 Prozent liegt, also erschreckend hoch ist.

Jeden, der glaubt, sich an den kritischen Waldzustand
gewöhnen zu können, oder sich diesen besser redet als er
ist, jeden, der glaubt, Umweltverbesserungsmaßnahmen
seien nicht mehr oben auf die Tagesordnung zu setzen,
kann ich nur warnen:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Waldzustand hat sich zwar nicht verschlechtert,
aber von einer Verbesserung zu reden wäre bereits über-
trieben. Insbesondere die anhaltend negativen Ergebnisse
der Bodenzustandserhebung im Wald müssen aufschre-
cken. Hier ist nicht weniger festzustellen als eine flächen-
deckende Versauerung, eine Disharmonie im Verhältnis
von Kohlenstoff zu Stickstoff


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Der Wald ist schon auf die Regierung sauer!)


und eine kritische Konzentration von Schwermetallen.
Dies gefährdet nicht nur die Stabilität des Waldes maß-
geblich, sondern kann auch zu einer Gefährdung von
Quell- und Grundwasser führen.

Somit ist nachdrücklich festzuhalten, dass Wald natür-
lich weit mehr als die Summe der Bäume ist. Gerade die
Multifunktionalität des Waldes ist nicht hoch genug zu
schätzen und die Anstrengungen zum Schutz des Waldes
dürfen uns nicht hoch genug sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist, verehrte Kollegen der Opposition, absolut schäd-
lich, die Ökosteuer zu diffamieren, anstatt sie als kreativen
Anstoß


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Für was?)

zur Reduzierung des Treibstoffverbrauchs im individuel-
len Kfz-Verkehr zu begreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es genügt auch nicht, sich immer wieder vorzubeten,
unsere deutschen Umweltschutzauflagen und -maßnah-
men seien ausreichend oder gar überzogen, die Dünge-
mittelverordnung zur Minderung von Stickstoffeinträgen
sei jetzt absolut ausgereizt. Es genügt nicht, sich vorzube-
ten, die deutsche Forstpolitik, die sehr föderal gestaltet ist,
also die bayerische und die niedersächsische Waldbaupo-
litik, sei eh so gut, dass sie gar nicht verbessert werden
könnte.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die niedersächsische ist nicht gut!)


Das ist alles nicht so gut. Gut sein heißt nicht, nicht noch
besser werden zu können.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Bravo für Niedersachsen!)


Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieber Herr
Minister Funke, müssen wir: noch besser werden.

Besser kann man nur werden, wenn man sich selbst in
die Pflicht nimmt, sich aber auch von außen reinschauen
und kontrollieren lässt. Ich spreche die Zertifizierung an.
Erst hat sie keiner gewollt. Es hieß: Brauchen wir nicht,
weil wir eh die Besseren sind, wollen wir nicht, weil es uns
nichts bringt und uns nur Mühe macht, bekommen wir
nicht, weil wir eh die Mehrheit haben. Das war einmal. Wir
brauchen die Zertifizierung, wir wollen sie und wir be-
kommen sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aha! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wir haben sie!)


Hier danke ich dem Ministerium, das sich eingesetzt
und verdient gemacht sowie moderierend die Zertifizie-
rungsdiskussion positiv begleitet und vorangebracht hat.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Davon weiß der Minister gar nichts!)


Zeit, sehr verehrter Herr Kollege Ronsöhr, Freiherr von
Schorlemer, wurde allemal vertan. Denn bis zum Regie-
rungswechsel waren die Abwehrmechanismen festgezurrt.

Für mich ist das Thema Zertifizierung keineswegs ab-
gehakt. Wir bekommen die Zertifizierung, weil der Markt
sie nachfragt. Aber das darf es nicht gewesen sein. Zerti-
fizierung ist keinesfalls Selbstzweck, sondern Ziel und
Hintergrund müssen die Fortentwicklung der Nachhaltig-
keit und die angemessene Verbesserung der ökonomisch,
ökologisch und sozial relevanten Qualitäten des Waldes
sein. Neben der Erfüllung glaubwürdiger Zertifizierungs-
kriterien sind die Politik der Luftreinhaltung sowie die
Maßnahmen der Überwachung des Zustandes unseres
Waldes dringend fortzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Siegfried Hornung [CDU/ CSU]: Was machen Sie denn mit der Ökosteuer?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
und lieber Kollege Hornung, auch wenn es schmerzt: Ein
Weg zur Luftreinhaltung ist auch die ökologische Steuer-
reform, die zu einer Reduzierung des Treibstoffverbrauchs
und zu einem Innovations- und Entwicklungsschub bei-
getragen hat und weiter beitragen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Abschaffung der Kernkraftwerke ist euer Beitrag!)


Das EEG, das Erneuerbaren-Energie-Gesetz, die För-
derprogramme für erneuerbare Energien und das 100 000-
Dächer-Solar-Programm sind ein nicht unwesentlicher
Beitrag zur Energiewende und zur Klimaschutzpolitik, die
wir insbesondere auf europäischer Ebene forcieren müs-
sen.




Heidemarie Wright

9307


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schwefelfreiheit im Dieselkraftstoff, vermehrter Gü-
tertransport auf der Schiene, weitere Minderung der Am-
moniakemissionen aus der Landwirtschaft müssen folgen.

Klimaschutz ist eine ständige Aufgabe und ich weiß,
dass wir diesen Klimaschutz nicht allein national bewerk-
stelligen können. Wohl sehe ich, dass im europäischen
Vergleich des Waldzustandes in weiten Teilen Deutsch-
lands signifikante Verbesserungen, hingegen in fast allen
europäischen Regionen signifikante Verschlechterungen
zu verzeichnen sind. Das zeigt der Waldzustandsbericht
auf Seite 37.

Dies will ich jedoch nicht zum Ausruhen nutzen, son-
dern als europäische Aufgabe Ihnen, sehr verehrter Herr
Minister, auch in den Europäischen Rat mitgeben. Und
hier ist auch die EU-weite Harmonisierung der Energie-
besteuerung voranzubringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kollegen, es ist viel liegen geblieben. Es gibt viel
zu tun. Wir packen es an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch einiges zu den Sturmschäden aufgrund des Or-
kans „Lothar“, weil wir diese Anträge auch behandeln:
Frankreich, Baden-Württemberg und Bayern wurden
enorm geschädigt. Die heutige Walddebatte möglicher-
weise nochmals zu einer Südschienen-Wahlkreis-Betrof-
fenheits-Debatte auszuweiten


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und diese zu instrumentalisieren, nützt nichts. Lassen Sie
es einfach, liebe Kollegen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was heißt das: Nützt nichts? Wer betroffen ist, der spürt es!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409917200
Frau Kol-
legin Wright, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Ronsöhr?


Heidemarie Wright (SPD):
Rede ID: ID1409917300
Er kommt nicht aus einem
der betroffenen Gebiete. Deshalb möchte ich dem Kolle-
gen Ronsöhr einmal vortragen, was wir bereits gemacht
haben. Vielleicht erübrigt sich dann seine Frage. Danke,
Herr Präsident.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409917400
Also kei-
ne Zwischenfrage?


Heidemarie Wright (SPD):
Rede ID: ID1409917500
Nein.
Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier bereits die

Debatte geführt, und sind uns nicht einig geworden. Dass
bei einer solchen Naturkatastrophe jede Hilfe als zu wenig

erscheint, ist das eine, dass aber jede Hilfe doch auch will-
kommen sein muss, ist das andere. Es ist geholfen worden,
und es wird weiter geholfen. Der Minister ist nicht nur
unmittelbar danach in das Sturmgebiet gereist. Die Bun-
desregierung hat auch ein ganzes Bündel von Sofortmaß-
nahmen angeschoben und darüber hinaus ein Sonder-
hilfsprogramm von 30 Millionen DM aufgelegt. Liebe
Kollegen, ich hoffe, es hat sich jetzt auch bis zu Ihnen her-
umgesprochen: Diese 30 Millionen DM sind vermehrbar.
Die Kreativität der betroffenen Länder durch Ko-Finan-
zierung und, wie geschehen, durch eigene Sonderhilfs-
programme ist gefordert. Hier hinkt der Vergleich mit dem
vom Oder-Hochwasser betroffenen Land Brandenburg.
Dieser Vergleich ist einfach schmählich und kleinlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wirklich wahr! Das Oder-Hochwasser ist in seiner Auswirkung heute nicht mehr erkennbar!)


Noch etwas zum Praktischen aus den Sturmgebieten:
Erkundigungen haben ergeben, dass die Räumungsar-
beiten unter schwierigsten Bedingungen dennoch zügig
vorangehen. Hier gilt meine Anerkennung den Einsatz-
kräften, den Waldbauern, den Facharbeitern vor Ort. Pro-
bleme bestehen jedoch beim zügigen Abtransport aus den
Sturmschadensgebieten.

Damit die bundesweite Einschlagsbeschränkungsver-
ordnung ihre marktstabilisierende Wirkung entfalten kann,
sind größere Sturmholzmengen auch in weiter entfernte
Holzverbrauchszentren zu liefern. Dabei kann eine zeitlich
befristete Ausnahmegenehmigung für höchst zulässige
Gesamtgewichte bei Holztransporten angewandt werden.

Ich baue darauf, dass sich im Ländle und in Bayern die
Bürokraten den Praktikern nicht in den Weg stellen und
der zügige Fortgang gewährleistet ist. Denn – und das ist
auch eine erfreuliche Nachricht – 70 Prozent des
Sturmholzes sind vermarktungsfähig, und der Holzmarkt
hat sich bislang glücklicherweise als aufnahmefähig er-
wiesen.

Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409917600
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Reinhard von Schorlemer von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Freiherr Reinhard von Schorlemer (CDU):
Rede ID: ID1409917700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Wright, Sie haben in der Zusammenfassung der Be-
urteilung des Waldzustandsberichtes praktisch das her-
vorgehoben, was auf Seite 5 zusammenfassend beschrie-
ben worden ist:

Die Politik der Luftreinhaltung sowie die Maßnah-
men der Überwachung des Gesundheitszustandes un-
seres Waldes müssen deshalb fortgesetzt werden.

Ich habe mir gerade vorgestellt, was gewesen wäre, wenn
wir vor zwei Jahren diesen Satz vorgelesen hätten: Welch




Heidemarie Wright
9308


(C)



(D)



(A)



(B)


eine Empörung, welch eine Entrüstung, welch eine Dra-
maturgie wären dann vonseiten der jetztigen Koalition
hier vorgeführt worden!


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ändern sich die Zeiten!)


Wenn man in der Regierung ist, sieht manches anders aus.
Das ist nun einmal so. Sie erleben es jetzt entsprechend.


(Heidemarie Wright [SPD]: Ich habe gar nichts gelobt!)


Drei ganz entscheidende Sätze im Waldzustandsbericht
sind für mich die folgenden:

Auf dieser Erkenntnis aufbauend konnte sich in
Deutschland seit mehr als 200 Jahren eine Forstwirt-
schaft entwickeln, die die Nachhaltigkeit der Holz-
produktion und deren periodische Planung und Kon-
trolle verfolgte. Es entstand der „Wirtschaftswald“.
Heute versteht man unter Nachhaltigkeit die dauer-
hafte Bereitstellung der ökonomischen, ökologischen
und sozialen Wirkungen und Leistungen des Waldes.

Herr Minister, ich empfehle Ihnen, dass Sie gerade die-
se drei Sätze auch dann sehr ernst nehmen, wenn wir das
Thema Zertifizierung behandeln. Ich bin froh, Frau Kol-
legin Wright, dass Sie das angesprochen haben. Natürlich
wird es eine Zertifizierung geben. Der Prozess war lang-
wierig, weil wir ihn zusammen mit den Betroffenen durch-
laufen wollten. Wir wollten nichts aufstülpen, wir wollten
es nicht durch Fremdkontrolle erreichen, sondern wir
wollten es mit den Betroffenen gemeinsam machen.


(Beifall des Abg. Siegfried Hornung [CDU/CSU])


Wir wollten es nicht nur national, sondern international
machen. Das heißt, wir wollten es praktisch von Finnland
bis nach Griechenland erreichen, um zum Beispiel im
PEFC zu europäischen Standards zu kommen. Ich bin
dankbar, dass beispielsweise mein Heimatland Nieder-
sachsen oder das Land Rheinland-Pfalz durch ihre Land-
wirtschaftsminister erklärt haben, dies sei der richtige
Weg, wie wir zu einer Zertifizierung mit den Betroffenen
kommen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht es

aber mit dem politischen Rahmen für die Forstwirschaft
aus? Ich rufe bei solchen Debatten immer wieder ins Ge-
dächtnis, wie sich das Waldeigentum zusammensetzt:
dass der Privatwald 46 Prozent ausmacht, der Staatswald
34 Prozent und der Kommunalwald 20 Prozent. Die
1,3Millionen Waldbesitzer haben eben nicht alle 500 oder
1 000 Hektar, sondern das sind im Durchschnitt Betriebe
mit rund 5 Hektar.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Fast so viel habe ich auch!)


– Herr Kollege Heinrich gehört auch zu den 1,3 Millionen
Waldbesitzern.

In der Frage der Waldpolitik hören wir dann allerdings
konkret, dass eine Neubewertung der Einheitswerte vor-
genommen werden soll. Dies bedeutet höhere Grundsteu-

er, dort, wo vorhanden, höhere Kammerbeiträge oder an-
dere höhere Abgaben, die nach dem Einheitswert berech-
net werden. Auch gibt es höhere Berufsgenossenschafts-
beiträge. Kleinwaldbesitzer werden zum Beispiel durch
Anhebung der Grenze von 150 auf 450 DM überpropor-
tional belastet. Wir wissen auch, dass die von Ihnen so ge-
priesene und von Frau Wright gerade angeführte Öko-
steuer dem Ökosystem Wald zusätzliche Kosten aufbür-
det, was angesichts seiner großen Leistungen in der Luft-
und Wasserreinigung widersinnig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auf unsere Kritik wird von der Bundesregierung sehr

schnell auf die Haushaltssituation hingewiesen. Das könn-
te man ja akzeptieren. Aber dazu steht natürlich total in
Widerspruch, dass wir auf der anderen Seite von Herrn
Trittin hören, dass er gleichsam zum Nulltarif Wald an
Umweltverbände verschenken, verscherbeln und ver-
schleudern will.


(Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was da geschehen ist, ist unmöglich!)


Wir müssen auch den Schwarzwaldbauern und anderen
Geschädigten sagen, dass durch die Änderung des § 34 b
des Einkommensteuergesetzes durch die Koalition ein
schlechterer Steuersatz zu mehr Belastungen führt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Holzvermarktung kann und muss der Holzab-

satzfonds eine fördernde Rolle spielen. Nur dafür zahlen
die Betriebe der Forst- und Holzwirtschaft Beiträge ein.
Sie sind übrigens die einzigen Einzahler. So wird in Zu-
sammenarbeit zwischen Holz- und Forstwirtschaft durch
Verbreiterung der Absatzmärkte die Ertragssituation ver-
bessert.
Auch hier sollte der alte Satz gelten: Mehr selbstent-
wickeltes Handeln und weniger staatlicher Einfluss tut al-
len gut.

Die fürchterlichen Folgen des Orkans „Lothar“ in
Süddeutschland sind für die Waldbesitzer eine riesige Be-
lastung. Ich sage ganz offen: Als der im Frühjahr an-
gekündigte Besuch des Bundeskanzlers im Schwarzwald
aus Termingründen abgesagt wurde, war mir klar: Mehr
Hilfen gibt es nicht. Hier läuft kein Drehbuch à la Holz-
mann ab.


(Beifall des Abg. Siegfried Hornung [CDU/CSU])


Sie, Herr Minister, mussten dann die für die Betroffenen
schlechteren Nachrichten verkünden und verteidigen.

Ich weiß aus eigener Kenntnis, wie das anders gemacht
werden kann. Wir haben es im Sturmwinter 1990 besser
gemacht. Als ein Orkan 1972/73 Millionen Festmeter Holz
in Niedersachsen niedergemacht hat, ist damals einver-
nehmlich von Bundestag und Bundesregierung – damals
gab es dort eine sozial-liberale Mehrheit – ein großes
Hilfsprogramm aufgelegt worden. Damit konnte den
Waldbauern sichtbar geholfen werden. Das scheint jetzt im
Schwarzwald nicht in ähnlicher Weise zu gelingen.




Reinhard Freiherr von Schorlemer

9309


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Leider wahr!)


Herr Minister, ich verkenne überhaupt nicht: Sie haben
sich bemüht und Sie bemühen sich weiterhin. Ich möchte
Ihr Wollen und Ihr Engagement bezüglich der Hilfe über-
haupt nicht infrage stellen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber es hätte ein bisschen mehr sein können!)


Aber wenn man auf der Regierungsbank sitzt, dann – das
ist das Schicksal, wenn man dort sitzt – entscheiden nicht
wohlfeile Worte, sondern einzig und allein Taten, die un-
ten ankommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister, Sie werden sich auch mit den Fragen

auseinander setzen müssen: Was habe ich erreicht? Habe
ich den Finanzminister überzeugt? Sie werden sich trotz
Ihrer guten Ansätze zum Beispiel bei der Novellierung des
Bundesnaturschutzgesetzes fragen müssen: Was habe ich
angekündigt? Was ist unten angekommen? Was habe ich
in der Regierung, insbesondere gegenüber Herrn
Trittin, durchgesetzt?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Diesen Fragen haben Sie sich, Herr Minister, zu stellen. An
diesen Fragen wird Ihre ganz persönliche forstpolitische
Arbeit bewertet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gute Rede!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409917800
Als nächs-
te Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke vom
Bündnis 90/Die Grünen.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409917900
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute mit zwei Beratungsgegen-
ständen, nämlich mit dem Waldzustandsbericht 1999 und
mit mehreren Anträgen zur Sturmkatastrophe „Lothar“ in
Baden-Württemberg, die auf den ersten Blick nichts mit-
einander zu tun zu haben scheinen, außer dass es sich bei
beiden Beratungsgegenständen um den Wald handelt.
Aber wenn man Ursachenanalyse in den beiden Themen-
bereichen betreibt, dann wird man vielleicht feststellen,
dass sie enger beieinander liegen, als es uns allen lieb ist.

Der Waldzustandsbericht 1999mahnt uns, den Blick
erneut auf die Schäden im Ökosystem zu richten, die di-
rekt durch den von Menschen verursachten Schadstof-
fausstoß entstehen. Alle Interpretationsspielräume hin-
sichtlich einer leichten Verbesserung des Waldzustandes in
einzelnen Regionen oder des Zustandes einzelner Baum-
arten, die es in der Tat gibt, dürfen nicht über die deutli-
che Sprache des Berichts hinwegtäuschen: Wir muten un-
serem Ökosystem nach wie vor zu viel zu. Ich weigere
mich, die Tatsache, dass alles nicht noch viel schlimmer

ist, als man vor Jahren befürchtet hat, als Erfolg zu verbu-
chen, so wie es die CDU/CSU immer wieder versucht.

Der Zustand des Waldes hat sich bei einigen Baum-
arten seit Mitte der 90er-Jahre auf einem schlechten Niveau
eingependelt. Allerdings hat sich beispielsweise der Zu-
stand der Eichen weiter verschlechtert: Fast die Hälfte die-
ser Baumart weist starke Schäden auf. An diesem Beispiel
zeigt sich, dass man mit einer monokausalen linearen Be-
trachtung bei der Lösung des Problems nicht voran-
kommt. Das Zusammenspiel der verschiedenen Fak-
toren wie Schadstoffe, Trockenheit und Klimaverände-
rungen, mit denen wir auch in Mitteleuropa verstärkt zu
tun haben, muss mehr Beachtung finden.

Dieser notwendigen Weiterentwicklung der Waldzu-
standsbetrachtung trägt der vorliegende Bericht Rech-
nung. Er stellt erstmals die Untersuchungen zu den Ursa-
che-Wirkung-Beziehungen breit dar. Das wird bei der
Entwicklung von Maßnahmen in der Zukunft eine große
Rolle spielen müssen.

Hinzu kommt, dass wir über den eigenen Tellerrand
schauen und international angewandte Methoden der Öko-
systembetrachtung in den Waldzustandsbericht 1999 ein-
fließen lassen.


(Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] Das so genannte Critical-Loads-Konzept wird inzwischen auch im Waldzustandsbericht genutzt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dieses System bereits 1996 gefordert, das dazu dient, festzustellen, wie sich die Schadstoffentwicklung im Ökosystem Wald darstellt. Eine weitere Forderungwar, entsprechendeGegenstrategien zu entwickeln. Dies wird hoffentlich die Diskussion – weg von der ideologischen Auseinandersetzung über leichte Verbesserungen oder Verschlechterungen von Jahr zu Jahr – dahin gehend konzentrieren, dass wir verstärkt über Maßnahmen zum Klimaschutz beraten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dazu in den
vergangenen Jahren immer wieder verschiedene Strate-
gien vorgelegt. Ich erinnere an die Ozonminderungsstra-
tegie. Ozon ist, was die Waldschadensproblematik anbe-
trifft, erst in den letzten Jahren verstärkt in das Bewusst-
sein gerückt. Man hatte ursprünglich gar nicht
angenommen, dass die steigenden Ozonwerte in den Som-
mermonaten auf den Waldzustand so deutliche Aus-
wirkungen haben könnten. Darüber wird inzwischen dis-
kutiert und Ozonminderungsstrategien werden in diesem
Haus in den nächsten Wochen und Monaten noch eine Rol-
le spielen. Dann wird die Unterstützung von all denjeni-
gen, die sich heute positiv für den Waldschutz ausspre-
chen, gefragt sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stichwort Klimaschutz: Ich möchte darauf hinweisen,
dass die Bundesregierung und die sie tragenden Koaliti-
onsfraktionen sehr wohl Erfolge vorzuweisen haben.
Maßnahmen sind eingeleitet worden, die sich nicht kurz-




Reinhard Freiherr von Schorlemer
9310


(C)



(D)



(A)



(B)


fristig, aber hoffentlich mittelfristig auf den Zustand der
Wälder niederschlagen werden. Das Ökosystem ist so
komplex, dass dafür niemand eine Garantie abgeben kann.
Aber durch die Ökosteuer, durch die Förderung der rege-
nerativen Energien und durch Bestrebungen, den Verkehr
umweltfreundlicher zu gestalten, insbesondere durch die
Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, werden
wir bei der CO2-Minderung und auch bei der NOX-Redu-zierung vorankommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Sprüche dazu nützen nichts! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Junge Frau, das weiß hier jeder! Aber es muss gehandelt werden! Konsequenzen!)


Wenigstens darüber, dass all dies nur gemeinsam mit
denjenigen, die die Wälder pflegen und damit ihr Ein-
kommen erzielen, zu erreichen ist, können wir in diesem
Hause einen Konsens finden. Die Debatte über die
Unternehmensteuerreform werden wir im Ausschuss noch
intensiv führen. Heute haben wir andere Beratungsgegen-
stände.

Ich möchte auf einen Punkt, der angesprochen worden
ist, Bezug nehmen, und zwar auf die Zertifizierung. Die
Zertifizierung verfolgt das Ziel, ein Label, also eine Kenn-
zeichnung, zu entwickeln, um Holz besser zu vermarkten,
um Holz am Bau – dort ist es sinnvoll; es ist ein ökologi-
scher Baustoff – stärker einzusetzen. Mit diesem Ziel dis-
kutieren wir seit mehreren Jahren eine Zertifizierung. Es
haben sich bedauerlicherweise verschiedene Zertifi-
zierungssysteme entwickelt. Ich hätte es lieber gesehen,
wenn man sich ideologiefrei auf eines hätte verständigen
können. Das war aber in Deutschland leider nicht möglich.

An dieser Debatte stört mich massiv, dass man ver-
sucht, die beiden Siegel gegeneinander auszuspielen, um
seine parteitaktischen Spielchen auf dem Rücken der
Forstwirtschaft auszutragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man kann über das eine oder andere Zertifizierungs-
system dieser oder jener Meinung sein. Was aber aus mei-
ner Sicht nicht geht, ist das, was Landwirtschaftsminister
von CDU und CSU in den vergangenen Wochen unter-
nommen haben, indem sie sich an eine Baumarktkette, die
beabsichtigt, das FSC-Siegel einzuführen, gewandt haben
und unter Androhung von „moralischer Keule“ dieses Un-
ternehmen aufgefordert haben, bestimmte Siegel dort
nicht so einzusetzen, wie die Unternehmen es planen.

Ich komme ja aus einem anderen Land als die meisten
Kollegen von CDU und CSU, aber einen solchen Eingriff
in freie marktwirtschaftliche Entscheidungen von Unter-
nehmen hätte ich Ihnen – ehrlich gesagt – nicht zugetraut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeodneten der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Oje, und das sagt eine Grüne!)


Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Ich hoffe, dass
sich die Unternehmen von solchen populistischen Briefen

von Ministern, von Regierungen der CDU/CSU nicht be-
eindrucken lassen und ihre unternehmerischen Entschei-
dungen weiterhin so treffen, wie sie erforderlich sind.
Denn die Zertifizierungssysteme sollen sich am Markt
durchsetzen und nicht in den Landesregierungen in Baden-
Württemberg oder in Bayern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damit möchte ich überleiten zu der Debatte, die wir
hier bereits geführt haben über die Schäden durch den
Sturm „Lothar“ in Baden-Württemberg im Dezember
des letzten Jahres. Ich denke, dass hier deutlich geworden
ist, dass die Bundesregierung und die Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen die betroffenen Waldbesitzer
intensiv unterstützen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mit tröstenden Worten!)


Diese haben wirtschaftliche Verluste erlitten, zum Teil
sind auch menschliche Verluste zu beklagen gewesen.
Aber wir versuchen, die wirtschaftlichen Schäden für die-
se Waldbesitzer aufzufangen. Hier hat auch die Landesre-
gierung von Baden-Württemberg durchaus positive An-
sätze entwickelt und Hilfen für die Waldbesitzer gegeben.
Ich fände es positiv, wenn dies gemeinsam von Bun-
desregierung und Landesregierung weiterentwickelt
würde; denn es reicht nicht aus, laut den Rachen aufzu-
sperren – wie Sie das getan haben – und zu schreien: Es
muss mehr sein, es muss mehr sein! 30 Millionen DM an
Hilfen für die Waldbesitzer sind viel zu wenig! Das ist ei-
gentlich gar nichts!

Das ist eine Debatte, die den Waldbesitzern in keinster
Weise hilft. Es sind jetzt Gelder bereitgestellt worden –
über das hinaus, was die Bundesregierung insbesondere
bei der Begrenzung des jetzt auf den Markt kommenden
Holzes sehr schnell und unbürokratisch getan hat.

Des Weiteren ist es jetzt notwendig, die 30 Millio-
nenDM zum einen kozufinanzieren, um die Summe zu er-
höhen, die den Waldbesitzern dann tatsächlich zur Verfü-
gung steht,


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie kreißen und der Berg wird immer kleiner!)


das heißt, seitens des Landes und seitens der EU-Ebene
kozufinanzieren – das ist eine Bestrebung, die von uns in-
tensiv weiter verfolgt werden wird –, und zum anderen
dafür zu sorgen – statt hier einfach nur in platter Polemik
nach mehr Geld zu rufen –, dass das Geld bei den Betrof-
fenen ankommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sprüche, Sprüche, Sprüche! – Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU] Erzählen Sie das dem Schwarzwaldbauern, der 80 Prozent verloren hat!)


Es hilft nichts, diese Gelder irgendwo auf dem Papier
stehen zu haben, wenn es nicht in gemeinsamen Anstren-
gungen gelingt, sie auch zielgenau bei den Waldbauern –
das ist aus meiner Sicht das, worauf wir uns im Moment




Steffi Lemke

9311


(C)



(D)



(A)



(B)


konzentrieren sollten –, bei den Kleinwaldbesitzern in Ba-
den-Württemberg und in Bayern ankommen zu lassen, da-
mit die in ihren Betrieben dann auch tatsächlich entspre-
chende Maßnahmen für die wirtschaftliche Sicherung er-
greifen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist das, was aus meiner Sicht den Betroffenen, der

Holzwirtschaft und dem Wald am meisten nützt. Daran
werden die Bundesregierung und die Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD weiter arbeiten und die
Maßnahmen, die im Bereich der CO2-Reduktion zur Ver-
hinderung einer deutlichen Zunahme von Stürmen in der
Zukunft notwendig sind, konsequent fortführen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Oh, die halten Sie dann auf! Wie arrogant!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409918000
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409918100
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! „Lothar“ hält in Baden-Würt-
temberg noch rund hundert Tage nach dem schrecklichen
Ereignis die in den Wäldern arbeitenden Menschen in
Atem. Bei 1 829 Unfällen sind bisher dreizehn Tote zu ver-
zeichnen. Man kann sich kaum einen schwierigeren Job
als den der Aufarbeitung dieses Sturmholzes vorstellen.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir auch
an die Familien denken und mit den Familien fühlen, die
neben der Existenzbedrohung auch noch das Schicksal
Toter und Verletzter in ihren Familien zu beklagen haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Rund 5 000 Menschen sind derzeit in Baden-Württem-
berg in Aktion, die zum Beispiel auch aus vielen Revieren
in anderen Bundesländern kommen. Auch hier sei mir ein
herzlicher Dank an die Länder gestattet. Die überregiona-
le Zusammenarbeit ist beispielhaft. Hier heißt es Solida-
rität zu üben. Diese Solidarität können wir derzeit in Ba-
den-Württemberg erfahren. Dafür sind wir sehr dankbar.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insgesamt sind 25Millionen Festmeter gefallen. Das ist
eine gewaltige Menge. Die Aufarbeitung stellt einen Wett-
lauf mit der Zeit dar, denn neben dem Problem des Aufar-
beitens selber droht jetzt ganz aktuell der Käferbefall; die
Prognosen dazu sehen nicht gut aus. Man probiert im
Rahmen von Forschungsvorhaben aus, ob man durch
Brandrodungen damit fertig werden kann. Die enorme
Menge an Schwachholz, Reisig und all dem, was ohnehin
zurückbleibt, bietet natürlich Käfern allerbeste Möglich-
keiten zum Nisten. Man versucht ganz gezielt, neue
schlagkräftige Methoden auf den Weg zu bringen. Ich hof-
fe, dass wir bei diesen forstwirtschaftlichen Einsätzen
neue Erkenntnisse sammeln können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider Gottes
muss man auch über Geld reden. Es ist nun einmal so, dass
Existenzen nicht mit guten Worten wieder auf eine solide
Basis gestellt werden können, sondern Existenzen, die in
Gefahr sind oder gar vernichtet wurden, kann man nur mit
Geld einigermaßen wieder auf die Füße stellen. Dabei hel-
fen die von Baden-Württemberg bereitgestellten
100 Millionen DM und das sehr ausgeklügeltes
Programm, das über Beifuhr-, Polterungs-, Nasslager- und
Entrindungshilfe sowie Flächenräumungspauschalen
läuft, außerdem Investitionen für Holzkonservie-
rungsanlagen, Grundinstandsetzung forstwirtschaftlicher
Wirtschaftswege, Naturverjüngung, Vorbau und Wieder-
aufforstung fördert. Diese ganze Latte von Maßnahmen
wird finanziell entsprechend unterstützt. Dazu kommt
noch die Möglichkeit, ein zinsverbilligtes Darlehen über
drei Jahre zu 4,5 Prozent mit einer Mindestdarlehenssum-
me von 10 000 DM und maximal 60 DM je Festmeter
Sturmholz zu erhalten.

Ich spreche davon so ausführlich, weil mir sehr viel da-
ran liegt, dass hier keine Polemik betrieben wird, sondern
sachliche Argumente beigebracht werden. Vor diesem
Hintergrund kann man darum bitten, dass die zusätzliche
finanzielle Last von staatlicher Seite wenigstens mit aus-
geglichen wird. Es sind ja Schäden mit einer Gesamthöhe
von über 2 Milliarden DM zu beklagen.

Das Kreditprogramm des Bundes – wir kennen es –
bietet gegenüber den 4,5 Prozent Zinsen beim Kreditpro-
gramm von Baden-Württemberg nochmals um einen wei-
teren Prozentpunkt verbilligte Kredite an. Auch die Bun-
deshilfe in Höhe von 30Millionen DM ist schon zur Spra-
che gekommen; diese Hilfen werden mit 30 Millionen
DM europäischer Mittel und mit 20 Millionen DM ba-
den-württembergischer Mittel auf insgesamt 80Millionen
DM aufgestockt werden. Dieses ist im Vergleich zur
Schweiz gering. Bei uns werden etwa 5 DM pro Festme-
ter Sturmholz ausgegeben, in der Schweiz sind es etwa
100 DM. Man redet immer sprichwörtlich von der reichen
Schweiz. Offensichtlich haben die auch ein etwas besse-
res Gespür dafür, was ihre Waldbauern leisten, und zwar
für uns alle und nicht nur für ihren eigenen Geldbeutel.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit möchte ich zum Waldzustandsbericht überlei-

ten und mich ausdrücklich bei der Bundesregierung für
den ausgezeichneten Bericht bedanken. Wenn man sich
ein paar Stunden Zeit nimmt und ihn studiert, erhält man
in der Tat Informationen, die eine gute Basis und Grund-
lage bilden, um die Dinge herauszufinden, die in Zukunft
verändert werden müssen, damit all die positiven Funk-
tionen des Waldes, Erholungs- und Schutzfunktionen, er-
halten bleiben, die wir benötigen. Insbesondere die Stick-
stoffeinträge machen mir ein bisschen Sorge.

Häufig stellen wir voller Staunen fest, dass unsere
Quellen in Bereichen landwirtschaftlicher Nutzflächen
weniger Nitratbelastung haben als ausgerechnet Quellen
in den Wäldern. Man fragt sich dann, woher das kommt.


(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Ja, richtig! Es kommt von oben herein!)





Steffi Lemke
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(C)



(D)



(A)



(B)


Da düngt doch niemand. Es wird dennoch gedüngt: Vom
Himmel kommen zwischen 9 und 50 Kilogramm Rein-
stickstoff, Nitrat und Ammoniak sowie alle möglichen an-
deren Stickstoffe pro Hektar und Jahr.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so viel Auto fahren!)


Man könnte jetzt meinen, der Wald nehme diese Stoffe
auf, das Wachstum werde entsprechend stärker und damit
sei alles neutralisiert. Nein, das ist nicht so. Ich habe in vie-
len Diskussionen immer wieder versucht, folgenden Sach-
verhalt zu erklären: Wir düngen in der Landwirtschaft der
Pflanze sozusagen so viel ins Maul, wie sie aufnehmen
kann. Damit wird das Grundwasser geschont. Beim Wald
haben wir diese Möglichkeit aber nicht; denn das Düngen
erfolgt direkt und ohne unser Zutun.

Der Wald kann maximal 8 bis 15 Kilogramm Stickstoff
pro Hektar und Jahr aufnehmen. Das heißt: Wir haben im
Durchschnitt pro Hektar einen Überschuss von mehr als
10 Kilogramm Stickstoff jährlich. Wenn also die Aufnah-
mefähigkeit des Bodens erschöpft ist, werden diese Stof-
fe ins Grundwasser ausgewaschen. Wir haben dann das
Phänomen, dass selbst in Regionen, in denen kein Stick-
stoff ausgebracht wird, eine Grundwasserbelastung vor-
handen ist, die unseren europäischen Normen nicht ent-
spricht und weit über den Grenzwert der entsprechenden
Richtlinie hinausgeht.

Diese Tatsachen müssen uns zu denken geben. Deshalb
müssen wir in diesem Punkt besonders ansetzen. Den
Schaden nachher mit Waldkalkungen zu beheben ist eine
Notmaßnahme, die sicherlich sehr teuer ist. Ich meine, es
wäre wichtiger, die Ursache – sprichwörtlich – an der
Wurzel zu bekämpfen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass wir den Am-
moniakausstoß reduzieren.

Herr Präsident, wenn Sie erlauben, möchte ich noch ei-
ne Bemerkung machen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409918200
Bitte
schön, gerne.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1409918300
Der Schwefel, ein weiterer
entscheidender Schadstoff, hat seine Ursache im Bereich
des Kraftfahrzeugverkehrs.Die Versäuerung der Böden
geht immer noch weiter; wir haben sie immer noch nicht
im Griff. Als agrarpolitischer Sprecher sage ich, dass wir
uns auch im Stickstoff- und Ammoniakbereich anstrengen
müssen. Wir können zwar der Kuh die Verdauung nicht
verbieten – das würde zu weit gehen –, aber wir können
vielleicht das, was wir zum Schluss in den Behältern sam-
meln, ein bisschen sinnvoller verwenden. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich die Initiative der Koalition loben.
Dass die Förderung der Biogasanlagen verbessert wird,
ist ein positiver Aspekt, der zur Entgiftung der Gülle
beiträgt.

Da der Herr Präsident schon ganz kritisch schaut,
möchte ich mich zum Schluss für Ihre Aufmerksamkeit
bedanken


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und möchte uns wünschen, dass wir den Zustand des Wal-
des, der eine wichtige Funktion hat, in Zukunft verbessern
können, damit unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409918400
Da alle
Seiten des Hauses so aufmerksam zugehört haben, war ich
mit Blick auf die Redezeit etwas großzügiger.

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege – Ent-
schuldigung: die Kollegin – Kersten Naumann von der
PDS-Fraktion. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich das
zweite Mal darüber gestolpert bin.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409918500
Ich könnte jetzt eigentlich
„Frau Präsidentin“ sagen. Aber ich verkneife mir das.


(Heiterkeit – Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409918600
Das wür-
de meine Chance auf Wiederwahl erhöhen.


(Heiterkeit – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das sollten wir einmal vertiefen!)



Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409918700
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die PDS-Fraktion hat ihre Position zu
den Hilfsprogrammen für die Sturmschäden durch den Or-
kan „Lothar“ schon in der ersten Lesung dargelegt. Wir
betonen nochmals, dass wir den vorgesehenen Maßnah-
men zustimmen werden. Wir halten sie allerdings nicht für
weitgehend genug. Auch das haben wir schon begründet.

Die von uns kritisierte Inkonsequenz der Regierung
zeigt sich auch beim Waldzustandsbericht. Die Waldkata-
strophe, die beim Auftreten der ersten Waldschäden be-
fürchtet wurde, ist zwar nicht eingetreten. Dennoch zeigt
sich insgesamt eine schleichende, wenn auch abgemilder-
te Verschlechterung des Waldzustandes.

Die Anstrengungen zur Luftreinhaltung haben nur
sehr begrenzt zu positiven Ergebnissen geführt. Das gilt
besonders für die Schwefeleinträge. Bei den Säu-
reeinträgen ist der Rückgang unzureichend. Beim Stick-
stoff verharren die Einträge weiterhin auf einem hohen Ni-
veau. Der Schadensdruck übersteigt wesentlich das Maß
dessen, was die Wälder langfristig verkraften können.

Ein Risiko für eine Schädigung besteht bei Säuren auf
90 Prozent und bei Stickstoff auf 99 Prozent der Wald-
fläche. Wie die Forschung gezeigt hat, ist mit dieser




Ulrich Heinrich

9313


(C)



(D)



(A)



(B)


Feststellung nicht die Vielzahl der Einflussfaktoren der
neuartigen Waldschäden erfasst. Sie sind aber Hauptfak-
toren, die zur Veränderung der biologischen Vielfalt, zur
Verschiebung der Artenzusammensetzung, zu Nährstof-
fungleichgewichten, zu Nährstoffverlusten und zur Ver-
minderung der Baumvitalität führen. Da als Hauptquellen
der Stickstoffeinträge der Kraftfahrzeugverkehr und die
landwirtschaftliche Tierhaltung ausgemacht wurden, müs-
sen vor allem hier politische Maßnahmen angesetzt wer-
den.

Dringend notwendig ist die Verlagerung des Verkehrs
von der Straße auf die Schiene.


(Beifall bei der PDS)

Das betrifft sowohl den Ausbau des öffentlichen Perso-
nennah- und -fernverkehrs als auch den Wirtschaftsver-
kehr. Dazu ist eine entsprechende Verlagerung der Mittel
im Bundeshaushalt, ergänzt durch steuerliche Begünsti-
gungen, erforderlich. Die Landwirtschaft muss durch
Veränderung der Tierhaltungsformen und die Reduzierung
des Tierbesatzes auf unter zwei Tiereinheiten je Hektar den
Stickstoffausstoß mindern. Ein möglicher Schritt wäre die
Überwindung der starken Spezialisierung der Betriebe. Es
sind jedoch weitaus mehr Schritte notwendig, die allge-
mein bekannt sind.

Doch auch für die Regierung Schröder gilt: Wirt-
schaftswachstum, Konkurrenzfähigkeit und Verschlan-
kung des Staates haben Vorrang vor dem Schutz der Wäl-
der und der Umwelt. Die Bauern würden gern umweltge-
rechter produzieren, doch die Bundesregierung fordert von
ihnen, sich für den Weltmarkt fit zu machen und weiter zu
intensivieren. Ihre Politik lässt kein Geld für den Aus-
gleich ökologischer Vorhaben übrig. Selbst Naturschutz-
gebiete will sie privatisieren.

Als ein zunehmendes Problem, besonders in den neuen
Bundesländern, erweist sich die nachhaltige Waldnut-
zung. Über 98 Prozent der privaten Waldbesitzer in
Deutschland haben unter 50 Hektar Wald; es sind durch-
schnittlich 4,3 Hektar. Die Nutzung der in den deutschen
Wäldern vorhandenen Biomasse könnte wesentlich zur
Verbesserung der Rohstoff- und Energiebilanz sowie zur
Reduzierung des CO2-Ausstoßes beitragen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS und der SPD)


Im Forstamt Minden gibt es positive Erfahrungen, wie
durch Waldwirtschaftsgenossenschaften und Holzabsatz-
fonds die Rohholzbereitstellung verbessert,


(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU]: Es gibt nun einen einzigen Holzabsatzfonds!)


die Einnahmen aus dem Wald erhöht und ein Umbau der
Waldbestände erreicht werden können. Ermöglicht wurde
das durch eine Rundumdienstleistung für Kleinstwaldbe-
sitzer durch das Forstamt. Eine zielgerichtete Förderung
von Waldgemeinschaften ist nicht nur für die Waldbesit-
zer von Vorteil, sondern auch ein wirksamer Beitrag zum
Natur- und Umweltschutz. Besonders in den neuen Bun-
desländern muss dieser Prozess gefördert werden, bevor

über die Verschlankung der Forstverwaltungen nachge-
dacht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es ist dringend notwendig, das durch das BML ange-

regte Thüringer Modell zur Erweiterung der Dienstleis-
tungen und der Zusammenschlüsse der Waldbesitzer
gründlich auszuwerten und breit zu fördern. Die Initiative
der PDS Brandenburg zur Unterstützung der kleinen pri-
vaten Waldbesitzer, die im Landtag von allen Parteien un-
terstützt wird, sollte deshalb beispielgebend sein.


(Beifall bei der PDS)

Der notwendige Waldumbau ist untrennbar mit der

Durchsetzung eines europäischen Nachhaltigkeitszerti-
fikats und der Erarbeitung eines nationalen Forstpro-
gramms zu verbinden. Minister Funke hat diese Themen
zwar schon einmal in einem Interview aufgegriffen; im
parlamentarischen Raum haben sie jedoch noch keine Rol-
le gespielt. Vielleicht liegt es daran, dass die EU die Aus-
reichung von Mitteln für die forstliche Förderung noch
nicht an ein nationales Forstprogramm gebunden hat.

Die PDS fordert deshalb Minister Funke auf, die Erar-
beitung eines solchen Programms auf die Agenda zu set-
zen und damit im neuen Jahrtausend eine neue Qualität in
einer nachhaltigen Forstpolitik einzuleiten.

Ich komme zurück auf eine Aussage des Waldzu-
standsberichtes: “Der Wald erfüllt unverzichtbare Funk-tionen für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft.“ Diese
Funktionen dürfen nicht den Marktkräften überlassen wer-
den. Nachhaltige Forstpolitik ist gefragt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie bitte?)


Minister Funke, in diesem Zusammenhang wünsche
ich Ihnen einen erholsamen Waldspaziergang in gesunden
Wäldern. Ich hoffe, dass Sie dort neue Ideen und vor al-
lem Tatendrang für eine nachhaltige Forstpolitik ent-
wickeln werden.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Heino Wiese [Hannover] [SPD] – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Osterspaziergang!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409918800
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christel Deichmann
von der SPD-Fraktion das Wort.


Christel Deichmann (SPD):
Rede ID: ID1409918900
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr von Schorlemer,
wenn Sie angesichts unserer Bemühungen, besonders
schützenswerte Flächen auch zukünftig für diese Zwecke
vorzuhalten und zu bewahren, von Verschleuderung von
Wald sprechen, finde ich das ziemlich heftig.


(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU]: Das sollte es auch sein! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist trotzdem eine Verschleuderung!)


Ich erinnere Sie nur an die Worte des ehemaligen Um-
weltministers Töpfer, der in diesem Zusammenhang vom




Kersten Naumann
9314


(C)



(D)



(A)



(B)


Tafelsilber der deutschen Einheit sprach. Aber ich denke,
darüber werden wir an anderer Stelle noch intensiv zu
reden haben.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Auf den Punkt kommen wir zurück! – HeinrichWilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wer verschleudert denn?)


– Wald ist mehr als die Summe von Bäumen.

(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: In der Tat!)

Ich wiederhole das gerne und bewusst und möchte auf die
vielfältigen Funktionen des Waldes aus der Sicht des Na-
turschutzes eingehen. Der Wald ist eines der wertvollsten
großflächigen Landökosysteme in Mitteleuropa. Ein funk-
tionierendes Waldökosystem filtert bis zu vierfach höhe-
re Schadstoffmengen aus der Luft, als Offenlandschaften
dies vermögen. Die Schadstoffe werden zwar aus der Luft
herausgefiltert, doch je höher die Konzentration ist, umso
größer sind die Einwirkungen auf den Wald.

Die Schäden an den einzelnen Bäumen sind selbst für
Laien erkennbar. Stellen Sie sich unter einen Baum und se-
hen Sie hoch in die Krone. Oftmals ist es beängstigend,
wie lichtdurchlässig das ursprünglich dichte Blätterdach
schon geworden ist.

Viel verheerender als die offensichtlichen Schäden sind
für uns die zunächst unsichtbaren Wirkungen. Die Schad-
stoffe reichern sich im Boden an, führen zu Versauerung,
beeinträchtigen und verschieben die Nährstoffversorgung
und tragen zu tiefgreifenden Veränderungen der Waldöko-
systeme bei. Trotz vieler Verbesserungen ist das Scha-
densniveau auch 1999 insgesamt immer noch zu hoch ge-
wesen; Entwarnung kann also lange nicht gegeben wer-
den.

Der Waldzustandsbericht weist unter anderem auch
Auswirkungen der Waldschäden auf die biologische Viel-
falt aus.
Mit den Stickstoffeinträgen und der Bodenversauerung
verändern sich Standortbedingungen. Arten, die mit stick-
stoffarmen und basischen Bedingungen sehr gut zurecht-
kommen, werden durch Stickstoff liebende und konkur-
renzkräftigere Arten schlichtweg verdrängt.

Wir sind dabei, die genetische Vielfalt unserer Wälder
stark zu reduzieren und setzen die vorhandenen Öko-
systeme vielfach aufs Spiel. Noch sind unsere Wälder ein
wahrer Fundus an Vielfalt. Wir müssen alles daran setzen,
diesen Fundus zu erhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele Auswirkungen unseres Tuns werden erst nach
Jahren sichtbar. Ein Baum stirbt langsam. Handeln ist drin-
gend geboten, um die Auswirkungen unterlassener Maß-
nahmen der Vergangenheit – insbesondere der alten Bun-
desregierung – zum Schutz der Wälder zu beheben. Mit
der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe, der Unter-
zeichnung des UNECE-Protokolls zur Bekämpfung von
Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon, der

Einführung der Ökosteuer sowie der Klimaschutzziele
usw. hat die Koalition erste Maßnahmen eingeleitet, die
auch zur Verbesserung des Waldzustandes beitragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Wirkungen des Ökosystems Wald sind – wie gesagt –
vielseitig und lang anhaltend, wenn denn der Wald gesund
ist.

Um Naturschutzaspekte stärker in die forstwirtschaftli-
che Nutzung einzubinden, ist es erforderlich, die Na-
turnähe der Wirtschaftswälder weiter auszubauen und
annähernd flächendeckend zu erfüllen. Naturschutzfach-
lich fundierte Konzepte zum Erhalt der biologischen Viel-
falt sind dabei noch stärker in die forstwirtschaftliche Pra-
xis zu integrieren.

In Anerkennung der forstlichen Leistungen für die Ge-
sellschaft wurde durch die Europäische Union und die
Bundesregierung die Fortsetzung der forstlichen Förde-
rung beschlossen. Nicht nur Wiederaufforstung ist bedeu-
tend, auch Erstaufforstungen bieten gute Chancen für die
Verbesserung unserer Umweltsituation. Mit der Neuanla-
ge von Wald kann aktiv Landschaftsplanung betrieben
werden. Schutz, Pflege und Entwicklung der Leistungs-
fähigkeit des Naturhaushalts und der Nutzbarkeit der
Naturgüter als Beitrag zur Sicherung unserer Existenz-
grundlagen sowie Bewahrung der Vielfalt, Eigenart und
Schönheit von Natur und Landschaft sind Chancen für
zukünftige Generationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wald und Forstwirt-
schaft und Naturschutz gehören zusammen und bilden ge-
genseitig eine gute Ergänzung. Lassen Sie uns die Chan-
ce nutzen, die in nachhaltiger, naturnaher Waldbewirt-
schaftung liegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919000
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Albert Deß von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1409919100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig – das ist heu-
te auch schon öfter angesprochen worden –: Der Wald er-
füllt in Deutschland und weltweit wichtige Funktionen.
Werden Wälder vernichtet, verschwindet damit auch ein
Stück lebenswerter Zukunft. Die Zerstörung von Wäldern
kann unterschiedliche Ursachen haben. Riesige Wald-
flächen werden gerodet oder durch Brandrodung vernich-
tet, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu schaffen. Die-
ses Thema werden wir heute Abend beim Tropenwaldbe-
richt noch ansprechen.

Durch Schadstoffe werden Waldbestände mehr oder
weniger geschädigt. Auch durch Naturgewalten wie den
Orkan „Lothar“ können Waldbestände flächendeckend




Christel Deichmann

9315


(C)



(D)



(A)



(B)


zerstört werden. Der Waldzustandsbericht der Bundes-
regierung ist eine gute Gelegenheit, vor aller Öffentlich-
keit über den Zustand und die Ursachen der Schädigung
unserer Wälder zu diskutieren.

Die Ergebnisse des Berichts geben keinen Anlass, in
Euphorie auszubrechen. Es besteht aber auch kein Grund,
in Weltuntergangsstimmung zu verfallen, wie es die Grü-
nen und auch manche Umweltverbände immer wieder ge-
tan haben, vor allem als wir an der Regierung waren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

„Der Wald stirbt“ – das war eine der unverantwortlichen
grünen Parolen der Vergangenheit. Dazu zitiere ich Bun-
deskanzler aD. Helmut Schmidt, der in der „Bild“-Zeitung
im September 1996 schrieb:

Vieles, was die Grünen auf ihre Fahnen geschrieben
haben, ist abwegig, war aber nicht von vornherein als
abwegig erkennbar. Da haben sie beispielsweise jah-
relang über das Waldsterben lamentiert – aber der
Wald ist nicht gestorben. Im Gegenteil: Er ist vital. In
Deutschland gibt es derzeit genauso viele Baumarten
wie zur Zeit von Jesus Christus.

Eines ist klar: Unseren Wald erhalten nicht diejenigen,
die über ihn viel reden und lamentieren, sondern diejeni-
gen, die ihn hegen und pflegen. Am allerwenigsten sind
das die selbst ernannten Umweltschützer und Aktivisten
von Ökoparteien.


(Zuruf von der SPD: Na, na!)

Es sind unsere Waldbauern und Forstbesitzer, unsere Förs-
ter und Waldarbeiter, die unsere Wälder erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ihnen gilt unser Dank für ihre oft nicht leichte Arbeit; das
möchte ich hier im Bundestag einmal erwähnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Davon redet RotGrün nicht!)


Die Aussage „Der Wald stirbt“ halte ich für verantwor-
tungslos. Warum soll ein Waldbesitzer denn in den Wald
investieren, wenn ihm jahrelang erzählt wird, dass der
Wald stirbt? Tatsache ist, dass der Wald durch
Schadstoffeinwirkungen zum Teil krank ist. Einem
Kranken kann man in vielen Fällen helfen. Der Waldzu-
standsbericht 1999 zeigt, dass sich unsere Wälder auf dem
Weg der Besserung befinden. Bayern hat bereits in den
70er-Jahren damit begonnen, die Kraftwerke mit moder-
ner Umwelttechnik auszustatten, um die Schadstoffemis-
sionen zu senken. Hätten SPD-regierte Bundesländer ge-
nauso früh wie die CSU reagiert, hätten wir heute einen
noch besseren Waldzustandsbericht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ich will ja gar nicht von Nordrhein-Westfalen reden!)


Es gibt dazu ganz genaue Fakten. Die Schwefeldioxid-
emissionen in Bayern wurden von 1976 bis 1997 von
729 000 Tonnen auf 95 200 Tonnen pro Jahr gesenkt. Das
sind 1997 87,8 Prozent weniger Schwefeldioxidemissio-
nen als 1976.


(HartmutSchauerte [CDU/CSU]:Beispielhaft!– Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist halt eine ordentliche Politik!)


Was hat das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen in die-
ser Zeit zustande gebracht?


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ein sehr wichtiger Vergleich!)


Außer schlauen Reden sehr wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Im Freistaat Bayern und in Baden-Württemberg wur-

den die meisten Kraftwerke bereits mit moderner Um-
welttechnik ausgestattet, als es die Grünen noch gar nicht
gab. Deshalb ist es auch falsch, wenn behauptet wird, dass
erst mit dem Entstehen der Grünen der Umweltschutz er-
funden wurde. Wer hat in Deutschland und Europa dem
Umweltschutz im Fahrzeugbereich zum Durchbruch ver-
holfen?


(Zuruf von der SPD: BMW!)

Es war die von der CDU/CSU und F.D.P. getragene

Bundesregierung, die der Markteinführung des Katalysa-
tors zum Durchbruch verholfen hat. Zuständig war damals
der Minister Zimmermann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war aktiver Waldschutz!)


Die für den Wald schädlichen Emissionen konnten da-
durch nachhaltig gesenkt werden.

Zur Absenkung der Stickoxidemissionen hat Bayern
1995 ein Stickstoffprogramm aufgelegt. Von 1996 bis
1998 wurden über 76MillionenDM Fördermittel und über
12 Millionen DM an zinsverbilligten Darlehen für die
Anschaffung moderner Ausbringungstechnik für land-
wirtschaftliche Wirtschaftsdünger ausgegeben. Durch die-
ses im CSU-regierten Bayern aufgelegte Stickstoffpro-
gramm 2000 werden bereits jetzt jährlich 40 000 Tonnen
Ammoniakemissionen vermieden.

Welches SPD-geführte Bundesland hat ein solches um-
weltnützliches Programm finanziert? Fehlanzeige in ganz
Deutschland!


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Auf der ganzen Linie!)


SPD-geführte Bundesländer haben natürlich eine andere
Haushaltssituation. So hat beispielsweise Nordrhein-
Westfalen eine doppelt so hohe Pro-Kopf-Verschuldung
wie Bayern. In Nordrhein-Westfalen ist deshalb trotz einer
Umweltministerin von den Grünen für solche Umwelt-
programme kein Geld vorhanden.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die können eben nicht mit Geld umgehen!)


Bei Rot-Grün wird Umweltschutz nicht durch finanzi-
elle Förderung vorangebracht, sondern ausschließlich
durch Auflagen, Gebote und Verbote. Das ist nicht der
richtige Weg, um die Schadstoffe zu reduzieren und damit
den Wald in Deutschland weiter gesunden zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Albert Deß
9316


(C)



(D)



(A)



(B)


Entscheidend für die Pflege und Gesunderhaltung des
Waldes ist eine auf Dauer existenzfähige Forstwirtschaft.
Die rot-grüne Bundesregierung betreibt eine soziale und
steuerliche Kahlschlagpolitik, die nicht nur die Existenz
landwirtschaftlicher Betriebe, sondern auch die forstwirt-
schaftlicher Betriebe gefährdet. Die Absenkung der Vor-
steuerpauschale betrifft auch die Waldbauern. Die Öko-
steuer belastet auch unsere Forstbetriebe einseitig, und die
sozialen Einschnitte betreffen vor allem die einkommens-
schwächsten Waldbesitzer.

Es darf nicht sein, dass sturmgeschädigte Waldbauern
von der rot-grünen Bundesregierung steuerlich abkassiert
werden. Der Bund hat sich zwar bereit erklärt, Bundes-
mittel für die sturmgeschädigten Waldbesitzer bereitzu-
stellen. Mit 1 DM je Festmeter Sturmholz ist diese Hilfe
aber mehr als bescheiden. Die rot-grüne Bundesregierung
ist aufgefordert, den Waldbesitzern, die zum Teil in ihrer
Existenz gefährdet sind, die gleiche Hilfe zu geben, die die
französische Regierung ihren sturmgeschädigten Bauern
gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Hilfe der rot-grünen Bundesregierung ist nur ein

Fünftel dessen, mit dem die CDU/CSU-geführte Bundes-
regierung den Waldbesitzern damals bei den durch die Or-
kane „Wiebke“ und „Vivian“ entstandenen Schäden ge-
holfen hat. Daran, Herr Minister Funke, muss sich die rot-
grüne Regierung messen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Fall wäre eine Nachbesserung der Hilfe durch
die rot-grüne „Nachbesserungsregierung“ dringend erfor-
derlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919200
Als nächs-
ter Redner hat der Bundesminister Karl-Heinz Funke das
Wort.

Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich glaube, ich brauche hier keine Zah-
len mehr aus dem Waldzustandsbericht zu nennen. Die
sind schon dargestellt worden. Im Übrigen sind sie in die-
sem Bericht sehr detailliert – Herr Heinrich, ich bedanke
mich in diesem Zusammenhang für Ihren Hinweis –
schriftlich aufgeführt. In diesem Zusammenhang muss
festgestellt werden – Herr von Schorlemer, dies gehört in
der Tat dazu –, dass sich der Zustand unserer Wälder seit
1991 allmählich verbessert hat. Ich meine, man darf ruhig
sagen, dass der Anteil der Flächen mit deutlichen Schäden
1999 bei 22 Prozent statt wie im Jahre 1991 bei 30 Prozent
lag.

Klar ist aber auch, dass das überhaupt kein Grund ist für
eine Entwarnung. Denn es ist so, dass die Entwicklung im
Mittel aller Baumarten und auch der Regionen – Herr Kol-
lege Deß, da bildet Bayern im Übrigen keine Ausnahme –
in gewisser Weise stagniert.

Ich nehme an dieser Stelle gerne die Gelegenheit wahr,
all die Zahlen, die hier genannt worden sind, einmal mit

denen in anderen Ländern zu vergleichen. Sie haben – si-
cherlich aus bestimmten Gründen; vielleicht auch nicht –
ausschließlich auf Nordrhein-Westfalen abgestellt und an-
dere Länder nicht in diesen Vergleich einbezogen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ich hatte ihn darum gebeten!)


– Ich wollte schon sagen, dass das sicherlich abgestimmt
gewesen ist. Insoweit verstehe ich das ja auch.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Ich wollte Sie schonen bei Niedersachsen!)


– Ich bin dankbar. Ich hätte mich außerstande gesehen,
dann, wenn Sie Zahlen aus Niedersachsen genannt hätten,
zu sagen: In Niedersachsen ist es besser als in Bayern.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er hätte sich außerstande gesehen!)


– Ja, ich hätte mich außerstande gesehen, es zu widerlegen,
wenn Sie für Niedersachsen schlechtere Zahlen genannt
hätten. Ich vermute allerdings, dass Sie die Zahlen von
Niedersachsen deshalb nicht genannt haben, weil sie bes-
ser sind als die von Bayern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das muss ich als Niedersachse ausdrücklich bekräftigen!)


Es ist aber immer so: Man sucht so lange, bis man das
Land gefunden hat, das im Vergleich schlechter abschnei-
det als das eigene.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vor allem mit Flächen, wo kein Wald steht!)


– Da ist etwas dran, Herr Hornung; das gebe ich als Nie-
dersachse gerne zu. Was die Besiedlung mit Baumarten
anbelangt, liegen wir natürlich entschieden hinter Bayern
und Baden-Württemberg zurück.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie können noch etwas tun bei der Aufforstung!)


Meine Damen und Herren, das, was der Kollege von
Schorlemer hier vorgetragen hat, nehme ich durchaus
ernst.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das müssen Sie auch!)


– Dem widerspreche ich doch gar nicht, ganz im Gegen-
teil. – Ich will aber darauf hinweisen – das gehört zum Ge-
samtkontext Klimaschutz –, dass zum Beispiel das Multi-
komponentenprotokoll, das die Bundesregierung Ende
vergangenen Jahres in Göteborg unterzeichnet hat, ein
wichtiger Beitrag zur Luftreinhaltungspolitik ist. Dies
führe ich an, weil gesagt wurde – und zwar zu Recht –,
dass auf diesem Sektor so weiter zu verfahren sei. Ich bin
auch dankbar für die Hinweise zum Programm für erneu-
erbare Energien, zum 200-Millionen-DM-Programm.
All das sind Schritte, um die Situation des Waldes insge-
samt zu verbessern, und das hat diese Bundesregierung ge-
tan, niemand sonst.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Albert Deß

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich füge hinzu, dass wir in den Debatten über den Wald-
zustands- oder die Waldschadensberichte in den Länder-
parlamenten, aber auch im Bundestag Gott sei Dank in
weiten Bereichen Konsens feststellen konnten. Ich sage
„Gott sei Dank“, weil ich es für richtig halte, dass wir al-
le gemeinsam dem Wald eine aktive Rolle beim Klima-
schutz zukommen lassen.

Ich will hervorheben, dass wir heute über ein entspre-
chendes Monitoring in der Lage sind – gleichzeitig will
ich all jenen besonders danken, die von der technischen
Seite her dabei geholfen haben –, den Waldzustandsbericht
in dieser Art zu fertigen und Vergleiche anzustellen. Mitt-
lerweile haben wir, übrigens europaweit, Dauerbeobach-
tungsflächen, die es ermöglichen, Analysen zu erstellen
und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Ich denke, dass das Geld, das seitens des Bundes, der Eu-
ropäischen Union und der Länder hierfür zur Verfügung
gestellt worden ist, sinnvoll investiert ist.

Herr Heinrich, ich möchte mich dafür bedanken, dass
Sie die Hilfen für Baden-Württemberg umfassend dar-
gestellt haben. Es ist völlig klar – alles andere wäre eine
Sensation gewesen –, dass die Opposition beklagt, dies sei
zu wenig. Es ist nun einmal so – da schließe ich mich
Herrn von Schorlemer an, der dies zu Beginn seiner Rede
in anderer Weise so ausgedrückt hat –, dass für diejenigen,
die in der Regierung Verantwortung tragen, vieles anders
aussieht und von ihnen anschließend auch anders formu-
liert werden muss, als wenn man sich in der Opposition be-
findet. Man will ja auch in die Bundesregierung, um die-
se Seite einmal kennen zu lernen, Herr Kollege von
Schorlemer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann ergeben sich plötzlich völlig neue Situationen,
man sieht sich mit neuen Argumenten konfrontiert oder
muss das, was man bisher total kritisiert hat, verteidigen.
Das sind eben unterschiedliche Rollen.

Ich gebe Ihnen aber durchaus Recht, dass bei der Dis-
kussion über den Wald schon einmal die eine oder andere
Schieflage herbeigeredet worden ist, nicht immer, aber
teilweise durchaus, auch was die Dramatik anbelangt.

Ich will mich jetzt nicht mit der Zertifizierung befassen
– dieses Stichwort ist gefallen –; dazu ist schon einiges ge-
sagt worden. Ich gebe gerne zu, dass ich in Nuancen die
eine oder andere Position nicht teile bzw. dass ich eine Po-
sition einnehme, die sich unterscheidet –


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Geben Sie es zu: Sie sind nahe bei der Opposition in dieser Frage!)


– Ich weiß nicht, ob ich nahe bei der Opposition bin, Herr
Kollege Heinrich. Es sind mehrere Gruppen in der Oppo-
sition. Insoweit wüsste ich nicht, wo ich mich zuordnen
sollte. Man müsste einmal abwarten, wohin Sie mich so-
zusagen tragen. Ich gebe aber zu, dass ich, was die Frage
der Zertifizierung anbelangt, ganz entschieden auf der Sei-
te bin, die sachlich richtig liegt.


(Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Letztlich soll ja auch der Markt mitentscheiden. Ich glau-
be, dies ist vernünftig. Ich halte es nicht für gut, wenn wir
in diese Diskussion, auch im Hinblick auf die Frage der
Zertifizierung, zu viel Politik bzw. Ideologie hineintragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919300
Herr Mi-
nister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Deß?

Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, natürlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919400
Herr Deß,
bitte schön.


Albert Deß (CSU):
Rede ID: ID1409919500
Herr Minister Funke, sind
Sie, da Sie kritisiert haben, dass ich Niedersachsen nicht
erwähnt habe, bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es in
Ihrem Waldzustandsbericht in Bezug auf Bayern heißt: „In
den letzten vier Jahren hat sich der Kronenzustand der
Waldbäume in Bayern erkennbar stabilisiert“, während es
in Bezug auf Niedersachsen heißt: „Das Gesamtergebnis
der Erhebung zeigt keine Veränderungen zum Vorjahr.“?
Dies heißt doch, dass sich der Zustand in Bayern verbes-
sert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Der war vorher schon gut!)


Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Deß, mit einer
solchen Bemerkung habe ich gerechnet. Darum habe ich
den zuständigen Abteilungsleiter gebeten, mir den gesam-
ten Bericht zu geben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Den vom letzten Jahr!)


– Nein, den von diesem Jahr.
Ich habe nachgeschlagen, was in Bezug auf die Länder

Niedersachsen und Bayern dort geschrieben steht, und ha-
be die von Ihnen zitierten Sätze auch gelesen. Dies führte
bei mir zu der Konsequenz, das, was dort im Hinblick auf
Niedersachsen erwähnt wurde, nicht zu zitieren.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich bitte Sie allerdings, nicht nur den Satz, den Sie mit
Bezug auf Bayern zitiert haben, sondern auch die An-
schlusssätze zu lesen, in denen die Aussage des von Ihnen
zitierten Satzes nämlich stark relativiert wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!)

Dies müssen Sie zugeben. Insoweit räume ich ein: Sie ha-
ben exakt das zitiert, was Ihnen hilft, und die Relativie-
rungen weggelassen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Bundesminister Karl-Heinz Funke
9318


(C)



(D)



(A)



(B)


Dass Sie so vorgegangen sind, gestehe ich Ihnen zu. Aber
ich muss Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Vorgehensweise be-
merkt habe. Ich hatte diesen Teil des Berichts vorsorglich
gelesen, weil ich mit einer derartigen Bemerkung gerech-
net habe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte zu den Orkan-
schäden Folgendes sagen: Es ist klar, dass beklagt wird,
dass der Umfang der in diesem Zusammenhang aufge-
brachten Leistungen zu gering sei. Die dort geleisteten Ar-
beiten werden aber auch anerkannt. Dafür möchte ich
mich bedanken und mich ausdrücklich den Dankesworten
von Herrn Heinrich anschließen. Im Übrigen habe ich
gehört, dass die Koordination dort manchmal nicht so ab-
lief, wie sie eigentlich hätte ablaufen können und müssen.
Deshalb haben wir uns mündlich und schriftlich an die
Landesregierung gewandt. Ich hoffe, hier ist mittlerweile
Besserung eingetreten.

Von allen ist anerkannt worden, dass wir im Rahmen
der Möglichkeiten, die wir hatten, sehr schnell und um-
fassend sowie in ständigem Kontakt und ständiger Ab-
sprache zwischen Landes- und Bundesregierung, zwi-
schen den Fachleuten und auf der Arbeitsebene geholfen
haben. Dies sollte man nicht gering schätzen. Wir haben
sehr schnell und zügig reagiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich unterstreiche das, was die Kollegin Lemke dazu gesagt
hat: Wir können froh sein, dass das, was wir im Bereich
des Holzmarktes befürchtet haben, in dieser Schärfe und
Dramatik – ich sage dies in aller Vorsicht: bis jetzt – nicht
eingetreten ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch keine nationale Solidarität, mein Lieber!)


Vielleicht haben die umfassenden Maßnahmen und Ab-
sprachen, auch die mit den anderen Bundesländern, sich
beim Holzeinschlag zurückzuhalten, mit dazu beigetra-
gen, dass die gegenwärtige Situation auf dem Markt bis
jetzt noch besteht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919600
Als nächs-
ter Redner hat der Kollege Siegfried Hornung von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Siegfried Hornung (CDU):
Rede ID: ID1409919700
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesmi-
nister hat soeben eingestanden, dass die Bundesregierung
noch einiges zu leisten hat. Daher werde ich ihm jetzt viel-
leicht etwas gnädiger angehen, als ich es sonst getan hät-
te.

Der Orkan „Lothar“ hat am 26. Dezember 1999 mit
Spitzengeschwindigkeiten von über 200 km/h im Südwes-

ten über unser Land hinweg schwere Verwüstungen an
Waldbeständen angerichtet. Die gesamte Forstwirtschaft
hat katastrophale Schäden zu verkraften.

In der Bundesrepublik Deutschland sind insgesamt
30 Millionen Festmeter Holz angefallen. Von diesen ins-
gesamt 30 Millionen Festmetern Schadholz liegen circa
25 Millionen Festmeter in Baden-Württemberg und circa
4,3 Millionen Festmeter in Bayern. Das heißt, der Orkan
hat allein in Baden-Württemberg mit dem Niederwurf von
mindestens dem dreifachen Jahreshiebsatz einen Schaden
von 1,5 Milliarden DM angerichtet.

Nach einem solchen Schadensereignis stellt sich natür-
lich die Frage nach dessen Bewältigung. Für viele bäuer-
liche Waldbesitzer ist das Lebenswerk mehrerer Ge-
nerationen vernichtet worden. Wir dürfen diese Menschen
mit diesen außergewöhnlichen Belastungen jetzt nicht al-
lein lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Außerdem hat es bei der Holzaufarbeitung in Baden-

Württemberg – ich habe mir die Zahlen von der Berufs-
genossenschaft jetzt noch einmal geben lassen – acht To-
desfälle von bäuerlichen Unternehmern gegeben. Ich weiß
von einem Fall: Ein 22-jähriger Bauernsohn ist unter den
Toten. Die Zahl, die Sie, Herr Heinrich, genannt haben,
mag stimmen; denn hier kommen die Gemeinden und der
Staatswald noch hinzu.

Die Waldbauern sollten jetzt zumindest bei der Scha-
densbegrenzung und Wiederaufforstung die Solidarität
des Deutschen Bundestages erfahren. Der Wald und seine
Besitzer brauchen gerade wegen der für die Allgemeinheit
umsonst und nachhaltig erbrachten Wohlfahrtswirkungen
jetzt die Unterstützung der Allgemeinheit. Der Wald erfüllt
Sozialfunktionen und gehört damit zu den Eigentumsar-
ten, die am stärksten sozial belastet sind. Das darf keine
Einbahnstraße sein.

Hier kommt die Unglaubwürdigkeit besonders der
Grünen zum Ausdruck. Im Fordern sind sie groß, im Hel-
fen sind sie klein, besonders seit sie in der Regierungs-
verantwortung sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die grüne These „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der
Mensch“ gilt auf dem Regierungssessel wohl nicht mehr.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch alte Kamellen!)


Im Gegenteil:

(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Griff in die Mottenkiste!)

Einige „Naturschützer“ sehen in der Sturmkatastrophe
schon ein natürliches Ereignis, das der Wald verkraftet. Si-
cher, in 120 Jahren. Das können aber nur solche sagen, die
nicht betroffen sind. Wenn nun schon ein Streit auch vor
Ort entsteht, ob die Forstverwaltung „Nasslager“ in diesen
Regionen einrichten darf, um Sturmholz zu lagern und den
Markt zu entlasten, zeigt sich, dass es diesen so genannten
Schützern überhaupt nicht um den Wald und schon gar
nicht um die Waldbauern geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Bundesminister Karl-Heinz Funke

9319


(C)



(D)



(A)



(B)


Erst Anfang März hat der Bundeslandwirtschaftsmini-
ster nach starkem politischen Druck von uns 30 Milli-
onen DM als Sonderprogramm für Orkanschäden im
Forst zugesagt, während Baden-Württemberg und Bayern
den Waldbesitzern insgesamt 115 Millionen DM an Hilfe
gewähren. Was sind 30 Millionen DM gegenüber einem
entstandenen Schaden von 1,5MilliardenDM allein in Ba-
den-Württemberg? Was können die betroffenen Waldbau-
ern im Süden dazu, dass sie auf der rechten Seite des
Rheins leben, während die Sozialisten auf der anderen
Seite des Rheins wirklich mit Eigenmitteln und auch über
EU-Mittel ihren Bauern helfen? An der rot-grünen Regie-
rung Frankreichs könnte sich unsere Bundesregierung ein
Beispiel nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit ein bisschen Kanzlerschau, vor Ort geplant, ist da

nicht geholfen. Der Bundeslandwirtschaftsminister muss
sich schon fragen lassen, wie groß sein Einfluss auf Bun-
deskanzler Schröder überhaupt ist. Den Bauern werden
einerseits auf allen Ebenen mit einer rot-grünen Schred-
derpolitik und einer Brutalität Fördermittel gekürzt, die
ihresgleichen sucht. Andererseits gibt sich der Bun-
deskanzler bei einer anderen Klientel – das ist heute schon
gesagt worden – gerne als Retter der kleinen Leute. Wie
bei Holzmann wird dafür das Millionenfüllhorn ausge-
schüttet.

Wie sich doch die Zeiten ändern! Die frühere unions-
geführte Bundesregierung hatte bei den Stürmen „Vivian“
und „Wiebke“ 1990 tatsächlich geholfen, indem sie bei
weniger Schaden allein den Waldbesitzern in Baden-Würt-
temberg etwa 60MillionenDM zur Verfügung gestellt hat-
te. Demgegenüber sind die jetzt vom Bund zugesagten
30 Millionen DM für mehrere Bundesländer ein Tropfen
auf dem heißen Stein. Es bleibt ein Missverhältnis zwi-
schen damals und heute.

Es ist deshalb längst überfällig und notwendig, dass ei-
ne wirkliche Hilfe und Unterstützung für die betroffenen
Waldbesitzer auch seitens des Bundes und der EU gestar-
tet wird. Ich appelliere an Sie, Herr Minister Funke, set-
zen Sie sich doch mit etwas mehr Akribie dafür ein, dass
die Maßnahmen der Länder rasch bewilligt werden, damit
neben den Bundesmitteln auch EU-Mittel ihren Einsatz
finden.

Die CDU fordert in ihrem Antrag „Hilfsprogramm für
die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den
Orkan „Lothar“, die Auflegung eines mehrjährigen Son-
derprogramms für die Beseitung von Orkanschäden mit
60-prozentiger Finanzierung durch den Bund. Diese Mit-
tel sind zusätzlich zur Verfügung zu stellen.
Die Union hat sich dafür eingesetzt, dass die Mittel für die-
se Hilfen nicht aus dem Topf des Agraretats genommen
werden, der heute ohnehin schon wie eine Zitrone ausge-
quetscht ist. Außerdem müssen angesichts des überhöhten
Holzangebotes alle Maßnahmen ergriffen werden, um den
Holzmarkt zu stabilisieren.

Nun ist es mittlerweile April geworden und eine weite-
re Gefahr droht durch die Borkenkäfer. Um solche Nach-
folgeschäden zu verhindern, müssen jetzt verstärkt die
Sturmwürfe aufgearbeitet werden. Die CDU hat als einzi-

ge Fraktion Maßnahmen zur Verhinderung des Borkenkä-
ferbefalls in ihren Antrag aufgenommen. So sehen wir
praxisnahe Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Union setzt sich in diesem Sonderfall ebenfalls für
zinslose Kredite für in ihrer Existenz bedrohte Betriebe der
Privatwaldbesitzer ein, damit diese wenigstens die Liqui-
dität haben, um die Aufarbeitung der riesigen Holzmengen
überhaupt bewältigen zu können. Wir fordern deshalb zur
steuerlichen Erleichterung den Ein-Achtel-Steuersatz für
Kalamitätsnutzungen.

Die Schadensbewältigung wird uns noch mehrere Jah-
re beschäftigen. Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ brau-
chen wir einen separaten Block für die Unterstützung bei
der Bewältigung der Sturmschäden, während die übrigen
Mittel normal auf die Länder zu verteilen sind.

Bei solchen Sturmschäden, die weder versichert sind
noch von den Waldbesitzern beeinflusst werden können,
bedarf die Forstwirtschaft unserer Hilfe und unserer Soli-
darität. Das sind wir ihr schuldig. Diese Unterstützung zu
geben, ist eine politische Herausforderung, die wir aufge-
nommen und in unserem Antrag umgesetzt haben. Wir bit-
ten Sie, unserem Antrag zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein ganz schlechter Antrag!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1409919800
Ich
schließe die Aussprache.

Zunächst zu Tagesordnungspunkt 6 a: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3090 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/3095 soll zur federführenden Bera-
tung an denAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Fi-
nanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Nun zu Tagesordnungspunkt 6 b: Wir kommen zu den
Abstimmungen, und zwar zunächst zur Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zu den Waldschäden durch Orka-
ne im Dezember 1999 auf Drucksache 14/3045 unter
Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2685 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die




Siegfried Hornung
9320


(C)



(D)



(A)



(B)


Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zu einem Hilfsprogramm für Sturmschäden
im Wald durch den Orkan „Lothar“ auf Drucksache
14/3045 unter Buchstabe b: Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/2570 abzulehnen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was?)

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschluss-
empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. zu einer raschen und wirksamen Hilfe für Wald-
besitzer auf Drucksache 14/3045 unter Buchstabe c: Der
Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/2583
abzulehnen.WerstimmtfürdieseBeschlussempfehlung?–
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der
F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicher-
stellung der Rentenauszahlung im Vormonat

(Rentenauszahlungsgesetz)

– Drucksache 14/3159 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Sozialordnung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-
minister Walter Riester.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf festigt
die Bundesregierung das Vertrauen der Rentnerinnen und
Rentner in den Eingang der Rentenzahlung am letzten
Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten. Dieses Vertrau-
en in das System der gesetzlichen Rentenversicherung
darf nicht beschädigt werden. Es ist durch die Wertstel-
lungspraxis der Banken in den vergangenen Jahren ge-
wachsen. Hier darf es keine Enttäuschung, keine Verunsi-
cherung der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger geben.

Der Gesetzentwurf stellt sicher: Die Rentnerinnen und
Rentner können ihre zum Monatsersten fälligen Zah-
lungsverpflichtungen aus ihrer Rente für den jeweiligen
Monat erfüllen. Sie werden deswegen von ihrem Geldins-
titut nicht mit Sollzinsen belastet werden. Mir kommt es
darauf an, hier Klarheit herzustellen. Der Gesetzentwurf

verpflichtet die Träger der Rentenversicherung, durch ge-
eignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Rent-
nerinnen und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des
jeweiligen Zahlungsverfahrens schon am letzten Bankge-
schäftstag vor dem regulären Fälligkeitstermin über ihre
Rente verfügen können.

Lassen Sie mich kurz die Gründe skizzieren, die die
Bundesregierung bewogen haben, gesetzgeberisch initia-
tiv zu werden. Die Rentnerinnen und Rentner haben schon
jetzt einen gesetzlichen Anspruch darauf, ihre Monats-
renten im Voraus zu erhalten, und zwar zum Ersten eines
jeden Monats.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Die Rentenversicherungsträger haben dementsprechend
schon heute dafür Sorge zu tragen, dass die Rentnerinnen
und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des Verfah-
rens am Ersten jedes Monats über ihre Rente verfügen
können. Um eine solche fristgerechte Auszahlung der
Renten sicherzustellen, sind die Rentengelder den Banken
in der Vergangenheit stets einen Tag vor ihrer eigentlichen
Fälligkeit zugeleitet worden.

Dieses Verfahren hatte nach Erlass des Wertstellungs-
urteils des Bundesgerichtshofs im Jahre 1997 zur Folge,
dass die Banken aufgrund einer unterschiedlichen Ausle-
gung des Urteils unterschiedlich verfuhren: Ein Teil der
Banken schrieb den Rentnerinnen und Rentnern ihre Ren-
te weiterhin am Ersten des jeweiligen Monats gut, ein an-
derer Teil jedoch schon am Letzten des Vormonats. Da-
durch verbuchte ein Teil der Banken einen Zinsgewinn für
sich, der eigentlich den Rentenversicherungsträgern zu-
stand, während die Rentnerinnen und Rentner selbst un-
terschiedlich behandelt wurden.

Die Situation widersprach aus Sicht der Rentenver-
sicherungsträger der – unter anderem auch vom Bundes-
rechnungshof geforderten – wirtschaftlichen Optimierung
des Rentenzahlverfahrens. In Verhandlungen zwischen
dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, dem
Rentenservice der Deutschen Post und den Banken wurde
daher im zweiten Halbjahr 1999 ein Verfahren vereinbart,
wonach der sich aus dem Wertstellungsurteil des Bundes-
gerichtshofs ergebende Zinsgewinn generell den Renten-
versicherungsträgern zugute kommen sollte. FürdieRent-
nerinnen und Rentner sollte dadurch gleichzeitig der
Zustand wieder hergestellt werden, der vor dem Wert-
stellungsurteil des Bundesgerichtshofes bestand.

Für den Teil der Rentnerinnen und Rentner, der seine
Rente in den letzten Jahren schon vor dem Letzten des Vor-
monats gutgeschrieben bekam und sich darauf einstellen
konnte, dass laufende Überweisungen bereits am Letzten
des Vormonats ausgeführt wurden, bedeutete dies jedoch
eine gravierende Änderung, eine Verschlechterung, die
wir so nicht hinnehmen konnten. Angesichts der
Gesetzesinitiative, die wir nun ergriffen haben, haben sich
die Rentenversicherer darauf eingestellt, das alte Verfah-
ren wieder einzuführen.

Nun möchte ich noch kurz auf die Frage des vermeint-
lichen Zinsgewinns eingehen. Die Rentenversicherer sa-
gen zunächst einmal nicht zu Unrecht, durch das




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

9321


(C)



(D)



(A)



(B)


Wertstellungsgutachten hätten sie bei diesem Verfahren ei-
nen Zinsgewinn von 16 Millionen DM realisiert. Auf der
anderen Seite muss man sehen, meine Damen und Herren,
dass es um 22Millionen Rentenzahlungen geht. Der Zins-
gewinn macht also pro Rentenzahlung im Jahr etwa
75 Pfennige oder pro Rentenzahlung rund 7 Pfennige aus.
Dafür möchte ich keine Verunsicherung von 17 Millionen
Rentnerinnen und Rentnern in Kauf nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr für ein wirtschaftlich effizientes Verfahren.
Ich bin auch sehr dafür, ein bestehendes Gesetz mit den je-
weiligen technischen Möglichkeiten einzuhalten. Aber so,
wie dort verfahren worden ist – auch noch mit der Un-
zulänglichkeit, dass die Rentnerinnen und Rentner nicht
informiert worden sind; unser Haus ist auch nicht befasst
worden, aber das lasse ich einmal beiseite –, geht es nicht.
Deswegen haben wir schnell gehandelt und sind der Mei-
nung, dass die Sicherheit bei 22 Millionen Rentenzahlun-
gen beziehungsweise die Sicherheit von 17 Millionen
Rentnern mehr wert ist als der Zinsgewinn, der in dieser
Frage unterstellt worden ist. Daher bitte ich Sie, dem Ge-
setz zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409919900
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Heinz Schemken.


Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1409920000
Herr Präsident! Mei-
ne liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage für die
CDU/CSU-Fraktion, dass der Gesetzentwurf den richtigen
Weg darstellt. Sicherlich ist auch richtig, dass das ge-
wachsene Vertrauen nicht erschüttert werden darf, weil es
sich hier um eine Praxis handelt, die sich im Laufe der letz-
ten Jahrzehnte entwickelt hat. Es geht um die Rentenzah-
lung am letzten Geschäftstag der Banken – vor dem Mo-
natsersten. Das gilt für die Renten sowohl der Rentenver-
sicherungsträger als auch der Unfallversicherungsträger.
Dieses Gesetz verpflichtet sie, die Regelung, die bisher üb-
lich war, in Zukunft beizubehalten, sodass der Rentner
rechtzeitig über die ihm zustehende Rente verfügen kann.

Die Rentenversicherungen haben nun – interessanter-
weise in dieser Zeit – versucht, die Rentenzahlung etwas
zu strecken. Das bringt natürlich Geld. Der Minister hat
schon auf die Summe hingewiesen; es können sicherlich
einige 10 Millionen DM sein. Aber darum geht es nicht.
Es geht insbesondere darum, dass der Rentner im Hinblick
auf seine Zahlungsverpflichtungen am Monatsersten dis-
ponieren kann, damit er nicht Sollzinsen bezahlen muss.
Was die Habenzinsen angeht, so erfolgt dieWertstellung –
hier hat sich die Praxis schon wohltuend geändert – auch
noch am Freitagnachmittag. Auch dies ist für den einzel-
nen Rentner sicherlich wichtig: Er muss rechtzeitig über
die Rente verfügen können und darf nicht mit Kontokor-
rentzinsen belastet werden. Die Rentner, die bisher darauf
bauen durften, erhalten durch diese Gesetzesinitiative Si-
cherheit.

In Zukunft wird also die frühere Überweisungspraxis
beibehalten werden können. Dabei geht es im Übrigen um

Sonntage, um Feiertage und auch um verlängerte Wo-
chenenden, an denen Banken nicht tätig sind. Das ist die
eine Seite des Vertrauensschutzes, den der Minister hier
völlig zu Recht herausgestellt hat.

Aber es gibt auch einen anderen Teil des Vertrauens-
schutzes.


(Peter Dreßen [SPD]: Sag doch einfach „Danke schön, Herr Minister“!)


– Ja, ich habe schon gesagt, dass es der richtige Weg ist.
In einer Fragestunde habe ich bereits nachgefragt, wie
weit hier überhaupt noch die Post AG eingeschaltet wird.
Aber darüber müssen wir sicherlich in den Ausschussbe-
sprechungen noch reden.

Nun komme ich aber zu einem anderen Teil des Ver-
trauensschutzes. Es gab nämlich einen enormen Vertrau-
ensverlust:Noch vor drei Monaten wurde eine Rentener-
höhung angekündigt, die den Rentnern die volle Kaufkraft
erhalten sollte.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Großmundig angekündigt!)


Aber dies ist nicht eingetreten. Wie sich nun herausstellt,
werden die Renten noch nicht einmal in Höhe der Inflati-
onsrate angepasst. Die Rentenerhöhung fällt um 1 Prozent
niedriger aus als vom Bundesarbeitsminister versprochen.
Sie ist also weit geringer als angekündigt. Sie bringt dem
Rentner präterpropter noch nicht einmal einen 10-DM-
Schein. Hier ist das Vertrauen erschüttert. Das ist der
Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die jetzige Rentenerhöhung ist die drittniedrigste seit

1957 und die geringste seit der Wiedervereinigung. Wäre
es bei der nettolohnbezogenen und damit leistungsbezo-
genen Anpassung der Renten geblieben, dann wäre die
Rentenerhöhung doppelt so hoch gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies ist also ein eklatanter Vertrauensbruch. Das Renten-
auszahlungsgesetz ist dagegen vertrauensbildend. Da ge-
be ich Ihnen Recht, Herr Minister. Aber in Ihrer kurzen Re-
gierungszeit gab es schon vier solcher Fehlmeldungen.
Das kann das Vertrauen der Rentner natürlich nicht stär-
ken. Ich denke an das Wort des Kanzlers und auch an das
des Arbeitsministers.

Ich möchte abschließend feststellen: Die heutigen
Rentner, die weitgehend der Aufbaugeneration zuzuord-
nen sind, haben mit harter Arbeit in schwieriger Zeit ihre
Rente verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin der Meinung, dass diese Renten nicht gekürzt wer-
den dürfen. Bei aller Anerkennung des vorgelegten Ge-
setzes muss auch dies zu dieser Stunde gesagt werden. Wir
sollten in nächster Zeit miteinander im Ausschuss versu-
chen, dies neu zu regeln. Das ist mein Angebot.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Rentenbetrug!)





BundesministerWalter Riester
9322


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409920100
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Schemken, das, was Sie hier gerade gemacht haben,
ist genau das, was wir im Moment nicht brauchen.

Das Rentenauszahlungsgesetz ist notwendig, um
Rechtssicherheit zu schaffen. Es muss gewährleistet wer-
den – der Minister hat das ausgeführt –, dass alle Rentne-
rinnen und Rentner gleich behandelt werden. Eine ein-
heitliche Regelung stellt sicher, dass alle Rentnerinnen
und Rentner zum gleichen Termin ihre Rente erhalten und
dass nicht die einen zufällig besser und die anderen zufäl-
lig schlechter gestellt werden. Das ist gerade für diejeni-
gen wichtig, die wenig Rente beziehen. Auch sie haben
Zahlungsverpflichtungen, denen sie nachkommen müs-
sen, möglichst ohne Sollzinsen zu zahlen.

Die große Verunsicherung, die im Februar dieses Jah-
res durch die Forderung der Rentenversicherungsträger
nach einem anderen Auszahlungstermin ausgelöst wurde,
hat mit unterschiedlichen Dingen zu tun. Sie hat zum Bei-
spiel mit der Art und Weise zu tun, in der die Debatten über
die Rente im Deutschen Bundestag geführt werden und die
nicht einer vernünftigen und konstruktiven Atmosphäre
entspricht, um die wir uns bei den Rentenkonsensge-
sprächen bemühen. Das verunsichert die Rentnerinnen
und Rentner zusätzlich. Nach meiner Meinung sollten wir
die Debatte nicht in der bisherigen Weise fortführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Renten- und Unfallversicherungsträger werden
verpflichtet, am letzten Werktag vor dem Monatsersten die
Rente auszuzahlen. Aufgrund der Beschleunigung im mo-
dernen Zahlungsverkehr der Banken hat sich die Dauer
verkürzt, bis eine Gutschrift auf dem Konto erscheint. Wir
wollen natürlich auch verhindern, dass die Banken – kos-
tenlos – zulasten der Rentnerinnen und Rentner und zula-
sten des Vertrauens spekulieren, das wir brauchen.

Ich hoffe, dass wir das Vertrauen und die Verlässlich-
keit gemeinsam wieder herstellen wollen. Wir machen
mit dem jetzt vorgelegten Gesetz einen ersten Schritt in
diese Richtung. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber
dieser Schritt ist angesichts der großen Reform notwendig,
die wir noch vor uns haben. Sie sollten diesen Schritt nicht
diffamieren, indem Sie im Bundestag eine alte Debatte im-
mer wieder neu aufrollen und alte Argumente immer wie-
der neu vorbringen.

Aus meiner Sicht sind wir in unseren Konsensge-
sprächen schon sehr viel weiter. Deswegen schlage ich Ih-
nen vor: Geben Sie zu, dass dies ein richtiger und guter
Schritt ist. Alles andere sollten wir dort verhandeln, wo wir
es gemeinsam verhandeln wollen. Mit der Art und Weise,
in der Sie an dieser Stelle agieren, diffamieren Sie sich
selbst. Ich bitte Sie herzlich: Seien Sie an dieser Stelle ehr-
lich und konstruktiv zugleich und geben Sie zu, dass die-
ser Schritt richtig ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409920200
Für die F.D.P.-Frakti-
on spricht die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1409920300
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riester, „dumm
gelaufen“, so sagt man landläufig zu solchen Fehlent-
scheidungen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das kann man wohl sagen!)


Klammheimlich sollten die Mitarbeiter der Rentenversi-
cherungsträger die Renten einen Tag später auszahlen, als
dies bisher bei den meisten Rentnern der Fall gewesen ist.
Sie sollten es hinter dem Rücken des Ministers und des
Parlaments tun.

Wie es in dieser Republik nun einmal ist: Der „Bild“-
Zeitung bleibt fast nichts verborgen und schon ist ein
handfester Skandal produziert. Dies, Herr Riester, hat Sie
nun zum Handeln gezwungen. Es wäre besser gewesen,
Sie hätten diesen Fehler ohne diese Art von öffentlicher
Aufregung und Verunsicherung der Rentner vernünftig
korrigiert.

Die Rentenversicherungsträger hatten natürlich – Sie
haben das eben ausgeführt – das Gesetz auf ihrer Seite. Im
Gesetz steht, dass am Ersten eines jeden Monats für den
laufenden Monat ausgezahlt werde. Richtig ist aber auch,
dass die Banken bisher nicht in der Lage gewesen sind, die
Anweisung auf das Konto taggenau vorzunehmen. Aus
diesem Grund wurde die Rente in den meisten Fällen be-
reits einen Tag früher ausgezahlt. Nun sollen die Rentner
ihr Geld einen Tag früher erhalten. Die F.D.P. begrüßt das.
Die Umsetzung des Plans erfordert eine Änderung des
Gesetzes. Wir können dem uns vorliegenden Entwurf in
der Fassung, in der er in die Ausschüsse geht und – wenn
das Ministerium richtig gearbeitet hat – aus diesen wieder
herauskommt, zustimmen.

Wichtig ist, dass die Verunsicherung der Rentner auf-
hört. Wichtig ist mir aber auch, dass wir nicht jede Klei-
nigkeit zum Anlass nehmen, zusätzliche Aufregungen zu
produzieren. Herr Kollege Schemken, wir schätzen Sie
sehr, aber vieles von dem, was Sie hier gesagt haben, hat
mit dem Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung behan-
delt wird, nichts zu tun.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] und der Abg. Erika Lotz [SPD])


Rentenkürzungen stehen heute nicht auf dem Pro-
gramm. Auf dem Programm steht vielmehr, dass die Rent-
ner ihr Geld mit Sicherheit jeweils einen Tag vor dem Be-
ginn des neuen Monats bekommen.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]:Das habe ich auch gesagt! Lesen Sie nach,was ich gesagt habe!)


Deswegen sollten wir dies auch so akzeptieren. Wir ver-
suchen auf jeden Fall, durch eine sachbezogene Diskussi-
on die Aufregung aus diesem Thema herauszunehmen.
Lassen Sie uns deshalb dieses Gesetz im Ausschuss für Ar-
beit und Sozialordnung so reibungslos behandeln, wie dies
in unserem Ausschuss in anderen Bereichen sehr häufig






(C)



(D)



(A)



(B)


der Fall ist. Wir jedenfalls sind dazu bereit. Ich hoffe, auch
die CDU/CSU macht mit.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409920400
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Peter Dreßen, SPD-Fraktion.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1409920500
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich hätte mich nicht zuWort gemeldet, wenn
nicht der zweite Redeteil von Ihnen, Herr Kollege
Schemken, inakzeptabel gewesen wäre. Ihr Beitrag war
nun wirklich ein bisschen dreist. Ihre Ausführungen muss
man einfach zurückweisen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen genauso wie ich, dass in all den Jahren, in
denen es die Rentenversicherung gibt, als Bezugsgröße
für die Erhöhung das vorangegangene Jahr herangezo-
gen wurde. Das geht auch nicht anders. Wir wissen doch
heute überhaupt nicht, wie hoch die Inflationsrate am En-
de des Jahres sein wird. Es kann durchaus passieren, dass
im nächsten Jahr die Inflationsrate wesentlich niedriger
sein wird, obwohl als Bezugsgröße die höhere Inflations-
rate des laufenden Jahres genommen wird. Ihre Behaup-
tungen waren insofern ein starkes Stück.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen noch etwas entgegenhalten: Wir werden
nie das tun, was Ihnen passiert ist. 1996 haben unter Ihrer
Regierung Rentner – vor allem Frauen – Rentenbescheide
bekommen, die beispielsweise eine Rente von 700 DM
auswiesen. Ein Jahr später, als sie dann die Rente tatsäch-
lich bekommen haben, haben sie einen Abschlag bis zu
300 DM gehabt. Herr Kollege Schemken, so etwas wer-
den Sie bei uns nie erleben,


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig! – Lachen bei der CDU/CSU)


dass gerade die Renten, die ohnehin schon niedrig sind,
noch um 200 bis 300 DM nach unten gehen. Das war nun
wirklich ein starkes Stück. Sie haben sicherlich auch in
Ihrem Wahlkreis diese Frauen im Büro gehabt und mus-
sten sie betreuen. Ich hätte nur gern gewusst, was Sie ih-
nen gesagt haben. Ich habe gesagt: Das, was sich die
Regierung da leistet, ist eine Unverfrorenheit.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Und was haben Sie im Bundestagswahlkampf alles gesagt?)


Aber leider hatten wir damals keine Mehrheit, um das zu
verhindern, was Sie sich geleistet haben.

Dann will ich Ihnen noch eines sagen: In den letzten
Jahren Ihrer Regierungszeit, von 1994 bis 1998, machten
die Erhöhungen – ich sage das, weil Sie das erwähnt ha-
ben – Pfennigbeträge aus; sie lagen unter der Inflationsra-
te. Wir können das Jahr für Jahr genau nachweisen. Ihre
Erhöhungen lagen unter der Inflationsrate. Wir erhöhen
jetzt die Renten entsprechend der Inflationsrate – zwei

Jahre lang. Wir haben versprochen, dass wir danach wie-
der zur Nettolohnanpassung zurückkehren. Sie wissen:
Das, was die SPD verspricht, hält sie auch –


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


gerade in der Rentenversicherung. In der Rentenversiche-
rung haben wir noch immer alles gehalten.

Kollege Laumann, wir haben im Wahlkampf verspro-
chen, dass wir die Fremdleistungen aus der Rentenversi-
cherung herausnehmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die waren zu dem Zeitpunkt schon heraus!)


Das ist passiert. Wir finanzieren die Fremdleistungen heu-
te aus Steuermitteln; sie werden heute aus der Ökosteuer
finanziert. Und wir haben die Renten in Ordnung gebracht,


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Die Fremdleistungen waren schon heraus! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


wie wir es den Leuten gesagt haben.
Wir haben bei der Rentenversicherung natürlich auch

im Vorfeld Ordnung geschaffen. Wir haben gesagt, dass je-
der, der arbeitet, seinen Beitrag in die Rentenversicherung
einbringen muss. Unter heftigem Widerstand und Protest
von Ihnen haben wir die 630-DM-Regelung in der
Rentenversicherung eingeführt – zum Guten.


(Widerspruch bei der F.D.P.-Fraktion)

Und Sie sehen, welche Erfolge wir nebenbei auch noch in
der Krankenversicherung haben.


(Beifall bei der SPD)

Ich meine also, dass Sie sich wirklich ein Stück davon

abschneiden können, wie man eine solide Rentenpolitik
ohne Verunsicherung der Rentner macht – etwas, was man
Ihnen leider immer wieder vorwerfen musste.


(Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Herr Dreßen, das Ruhrgebiet hört nicht mehr zu! Erzählen Sie doch noch etwas von der Scheinselbstständigkeit!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409920600
Für die Fraktion der
PDS gebe ich nun der Kollegin Monika Balt das Wort.


Monika Balt (PDS):
Rede ID: ID1409920700
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Es war ein schlechter Scherz auf Kos-
ten der Rentnerinnen und Rentner und Herr Minister
Riester sprach von einem „Testversuch“, der Gott sei Dank
wieder abgebrochen werden musste: Erst beschließt die
Regierungskoalition im Haushaltssanierungsgesetz die
Abkopplung der Rentenentwicklung von der Nettolohn-
entwicklung


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber der Riester zahlt die Renten immer noch in WestMark aus!)


bei gleichzeitiger Mehrbelastung der Rentnerinnen und
Rentner durch die Ökosteuer, was ja real einer Ren-




Dr. Irmgard Schwaetzer
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(C)



(D)



(A)



(B)


tenkürzung gleichkommt – aber darüber werden wir ja
morgen debattieren –, und dann zahlen die Rentenversi-
cherungsträger die Renten zum Ersten des laufenden Mo-
nats mit dem Ziel aus, rund 16 Millionen DM an Zinsein-
künften zulasten der Rentnerinnen und Rentner zu erwirt-
schaften.

Mir kann hier niemand erzählen, dass das Bundesar-
beitsministerium über dieses Vorgehen nicht wenigstens
informiert war.


(Zuruf von der F.D.P.: Das glaube ich auch! Die haben das gewusst!)


Aber: Hier wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Aufgrund der massiven Proteste der Betroffenen und der
medialen Öffentlichkeit erfolgte im darauf folgenden Mo-
nat die Rückkehr zur ursprünglichen Regelung und die-
se soll nunmehr gesetzlich verankert werden. Das macht
auch Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn viele
der Seniorinnen und Senioren sind Mieterinnen und Mie-
ter und begleichen ihre Miete im Bankeinzugsverfahren.
Viele der Seniorinnen und Senioren kommen mit ihrer
monatlichen Rente gerade so über die Runden. Sie staun-
ten nicht schlecht und waren ziemlich empört, als ihr Kon-
toauszug ohne ihr eigenes Verschulden einen Nega-
tivsaldo aufwies mit der Folge, dass sie auch noch Über-
ziehungszinsen zu zahlen hatten.

Wenn man den Botschaften der Rentenkonsensge-
spräche, von denen wir ja immer noch bewusst ausge-
grenzt werden, glauben kann, dann bastelt man dort nur an
der Leistungsseite der gesetzlichen Rente herum – und das
nicht zum Vorteil der Rentnerinnen und Rentner.

Nun machen ausgerechnet die Rentenversicherungsträ-
ger einen kühnen Vorstoß in die Richtung, die mehr Geld
in die Rentenkasse bringen soll. Löblich, aber so nicht!

Die PDS unterbreitete kürzlich in der Öffentlichkeit
Überlegungen und realisierbare Vorschläge, wie mehr
Geld in die Rentenkasse, in die gesetzliche Rentenversi-
cherung gelangen könnte. Unserer Meinung nach müssen
bisher nicht versicherte Personenkreise schrittweise in die
gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden.


(Beifall bei der PDS)

Die Krise der Rentenfinanzen ist heute vor allem eine

Krise der Bemessungsgrundlage, der Bruttolöhne und
der Bruttogehälter. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme
wächst seit rund 20 Jahren im Durchschnitt deutlich
langsamer als die Wertschöpfung der Unternehmen. Die
Berechnungsgrundlage wird relativ schmaler, weil der
Faktor Arbeit für die betriebliche Wertschöpfung im ge-
sellschaftlichen Durchschnitt an Bedeutung verliert. Die
Lohnsumme allein ist daher kein ausreichender Maßstab
mehr für die wirtschaftliche Leistungskraft eines Unter-
nehmens und damit für seine Beteiligung am gesell-
schaftlichen Solidarausgleich. Auch hierzu hat die PDS
Vorschläge gemacht.

Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum
Abschluss eines sagen: Rentenreform ist Gesellschaftspo-
litik. Beziehen Sie die PDS mit ein!

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409920800
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich das Wort dem Kollegen Heinz
Schemken.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Si tacuisses! – Weitere Zurufe von der SPD)



Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1409920900
Nein, ich bin nicht der
Meinung, dass ich hätte schweigen sollen. Hier ist die ver-
trauensbildende Maßnahme sehr hoch angesiedelt wor-
den. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, dass ich jetzt noch
einmal auf die Gesamtproblematik eingehe. Ich habe es
nicht so gesagt, wie es Herr Dreßen dargestellt hat.


(Zuruf von der SPD: Wir haben Sie sehr gut verstanden!)


Herr Dreßen, da beißt keine Maus ‘nen Faden ab: Durch
zweimalige Rentenanpassung in Höhe der Inflations-
rate sinkt das Rentenniveau von 70 auf 67 Prozent. Das
ist Fakt. Fakt ist auch, dass der Rentner dieses Ergebnis
aufgrund wiederholter Klarstellungen und Antworten in
den letzten anderthalb Jahren von Ihrer Seite – das beginnt
beim Kanzler und hört beim Minister auf – so nicht er-
warten konnte. Darin liegt ein Vertrauensbruch. Das ist
meine Meinung. Dabei bleibe ich. Ich habe es in Mark und
Pfennig dargelegt. Diese Aufstellung ist auch nicht wider-
legt worden.

Darüber hinaus darf ich noch einmal feststellen: Durch
zweimalige Anpassung gemäß der Inflationsrate durch-
brechen wir das System, ohne dass wir einen übergreifen-
den Konsens über eine Rentenreform hergestellt hätten.
Dies bedauern wir nach wie vor. Natürlich wirken wir mit.
Das habe auch ich zuletzt gesagt. Ich sehe dieses Thema
aber in einem größeren Zusammenhang. Diese Haltung
lasse ich mir nicht nehmen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921000
Zu einer Erwiderung
der Kollege Dreßen.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1409921100
Kollege Schemken, wir sollten
gemeinsam festhalten – da gebe ich Ihnen Recht –, dass die
Rente auf ein Niveau von 67 Prozent sinken kann. Haben
Sie aber einmal überlegt, wo wir gelandet wären, wenn Ihr
demographischer Faktor gezogen hätte, der ja auch nur
willkürlich gegriffen war, weil er nur halb so groß war wie
nötig? Sie wären damit bei einem Rentenniveau von
64 Prozent gelandet.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Jeder willkürlich gegriffene Ansatz kann natürlich immer
verändert werden. Wenn Sie den demographischen Wan-
del komplett berücksichtigt hätten, wären Sie sogar unter
60 Prozent gelandet. Das hätten wir nicht mitgemacht.
Aber mit dem offiziell von Ihnen festgesetzten Faktor, der
einen Teil des demographischen Wandels berücksichtigte,
wäre man bei 64 Prozent gelandet. Ich bin heilfroh, dass
das vom Tisch ist.




Monika Balt

9325


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich hoffe, dass wir uns in den Rentenkonsensge-
sprächen so weit einig werden, dass die Rente auf einem
Niveau liegen muss, von dem jeder Mensch leben kann.
Man kann heute natürlich einem 50-Jährigen nicht zumu-
ten, dass er Eigenvorsorge betreibt. Auch Sie wissen, dass
solche Änderungen nur langfristig möglich sind. Ich bin
eigentlich guten Mutes, dass wir, wenn wir in der Kom-
mission nüchtern und sachlich miteinander diskutieren,
auch zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 14/3159 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Hierzu gibt es kei-
ne anderweitigen Vorschläge. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter

Nooke, Markus Meckel, Werner Schulz (Leipzig)

sowie weiterer Abgeordneter
Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenk-
mals auf der Berliner Schlossfreiheit
– Drucksache 14/3126 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenk-
mal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öf-
fentlichkeit zugänglich machen
– Drucksache 14/3120 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kol-
legen Günter Nooke das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1409921300
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Gruppenantrag
fordern wir die Bundesregierung auf, auf der Berliner
Schloßfreiheit ein Einheits- und Freiheitsdenkmal zu er-
richten. Es ist die Forderung nach einem positiven Natio-
naldenkmal, das davon erzählen und zeugen soll, wie die
Deutschen 1989/90 zur Freiheit und zur Einheit fanden. Ja,
wir betreten damit politisches Neuland. Wir fordern ein
positives nationales Symbol.

Die Initiative dazu kam im Mai 1998 aus der Mitte der
Gesellschaft, aus Ost und West: von Florian Mausbach,
dem Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und
Raumordnung, von dem Journalisten Jürgen Engert,
Lothar de Maizière und mir. Aber es zeigte sich, dass wir
anders als erwartet breite Zustimmung bei den Repräsen-
tanten unserer höchsten Verfassungsorgane und bei zahl-
reichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fanden.

Was für uns damals ein besonders ermutigendes Zei-
chen war: Die positiven Reaktionen kamen sowohl von
Parteilosen als auch von bekannten, ehemals oder noch ak-
tiven Parteipolitikern verschiedenster Couleur. Als sich
damals beispielsweise Richard Schröder, Klaus von
Dohnanyi, Ignatz Bubis, Josef P. Kleihues, Hans-Olaf
Henkel oder Lothar Späth – um nur sechs Namen zu nen-
nen – unserer Idee angeschlossen haben, war klar, dass
dieser Vorschlag so ernst genommen wurde, wie er ge-
meint war.

Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 war im
Grunde die einzige erfolgreiche Freiheitsrevolution in der
deutschen Geschichte. Die erste inhaltliche Forderung die-
ser Revolution war die nach der deutschen Einheit. Beides
war, ja, ist von historischer Bedeutung. Wir sollten daran
auch in der Mitte der Bundeshauptstadt erinnern und da-
mit auch eine Herausforderung für die Zukunft formulie-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Wir schlagen vor, für die Errichtung dieses Einheits-
und Freiheitsdenkmals einen internationalen Wettbe-
werb auszuschreiben, der unter der Losung „Freiheit und
Einheit“ stehen sollte, wie sie in jenen Tagen formuliert
wurde: „Wir sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk!“

Die Kulturnation Deutschland braucht für ihre Erinne-
rungskultur nicht nur das Gedenken an die Zeit der natio-
nalsozialistischen Gewaltherrschaft und den Massenmord
an den Juden. Sie braucht auch die Erinnerung an die zwei-
te deutsche Diktatur des SED-Regimes. Aber erst recht
braucht sie dann auch – neben Gedenkstätten und Mahn-
malen – Freudenmale, die den Freiheitswillen der Men-
schen symbolisieren und an die Überwindung der Dikta-
tur erinnern.

Es geht uns also nicht um eine neue Debatte über Denk-
mäler und eine Diskussion darüber, ob Denkmäler noch
zeitgemäß sind. Die öffentliche Debatte hat die Kritiker
schon lange widerlegt. Uns liegt an einer Debatte und an
der Herausforderung, wie wir, die Bürger und ihr Staat, un-
sere Nation, damit umgehen, der Erinnerung der Freiheit
in Einheit zu gedenken.

In der alten Bundesrepublik hatte diese Forderung noch
Verfassungsrang. Die Ostdeutschen haben mit der friedli-
chen Revolution das Defizit an demokratischen Revolu-
tionen in der deutschen Geschichte behoben. Das ist
Grund genug, dass hier und heute 177 Abgeordnetenkol-
legen des Deutschen Bundestages die Bundesregierung in
die Pflicht nehmen wollen, für ein solches Denkmal die
Verantwortung zu übernehmen.




Peter Dreßen
9326


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Ich garantiere Ihnen: Die Bürgerinnen und Bürger wer-
den Sie weiter dazu drängen. Was den Ort anbelangt, so
kann man und wird man sicherlich darüber diskutieren.
Eine kurze Begründung unserer Vorschlages sei hier
gleichwohl gestattet. Der verlassen erscheinende Schloss-
platz bildet wieder die natürliche Mitte des wieder verei-
nigten Berlins und damit auch die politische institutionelle
Mitte der Bundesrepublik. Hier ließe sich aus topographi-
scher und historischer Sicht Einiges dazu sagen. Man den-
ke nur an die Ereignisse eines Vorläufers der 1989er
Herbstrevolution, nämlich die 1848er Revolution zur Er-
langung von Demokratie. Diese spielte sich auch und vor
allen Dingen um diesen Platz herum ab.

Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 in der
DDR hatte viele Zentren, von denen manche – denken Sie
nur an Plauen, Leipzig oder Dresden – den Berlinern so-
gar weit voraus waren. Aber für uns Zeitgenossen ist hof-
fentlich noch gegenwärtig, dass der große Demonstrati-
onszug von über 750 000 Menschen am 4. November 1989
auf dem Weg Unter den Linden gen Westen über diesen
Platz, also quasi vor dem Sockel der Schlossfreiheit, ab-
bog. Von da aus ging es wieder zurück zur Kundgebung
auf den Alexanderplatz.

Der Einheitsbeschluss der frei gewählten Volkskam-
mer fand nicht einmal einen Steinwurf weit von diesem
jetzt noch kahlen Sockel im damaligen Palast der Republik
statt. Unweit davon, im Kronprinzenpalais, wurde wenig
später der Einigungsvertrag unterzeichnet. So, wie die
deutsche Einheit im Anschluss an die friedliche Revoluti-
on von 1989 ein knappes Jahr später erfolgte, könnte ein
solches Denkmal den bereits im 19. Jahrhundert vorhan-
denen Einheitswillen in anderer Weise symbolisieren.

Mit der Errichtung eines Denkmals auf dem für den
Zweck eines Reiterstandbildes für Wilhelm I. gebauten
Sockel wird jener Ort des Einheitswillens gleichsam de-
mokratisch vollendet. Sie können es auch so formulieren:
Wir sollten den Mut haben, diesen Sockel im hegelschen
Sinne demokratisch aufzuheben und mit neuem Leben zu
erfüllen.

Dieser Ort ist viel zu wichtig, als dass er vielleicht nur
Abstellplatz für Baucontainer oder Anlegeplatz für
Kaffeefahrten mit den Spreedampfern sein sollte.


(Beifall des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] sowie der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


Es ist der Logenplatz deutscher Geschichte. Ob das Ge-
wölbe darunter auch geöffnet werden sollte, ist dabei völ-
lig zweitrangig. Manchmal provoziert allerdings eine all-
zu prinzipielle Kritik an der Initiative für ein Freiheits- und
Einheitsdenkmal die Frage, ob sich dahinter nicht eine
prinzipielle Ablehnung der friedlichen Revolution ver-
birgt.

Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Antrag zur Er-
richtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der
Berliner Schlossfreiheit gerade in dem Jahr, in dem wir
den zehnten Jahrestag der deutschen Einheit begehen wer-
den, ausgesprochen zeitgemäß ist. Denn bei aller Diskus-

sion und zuweilen gerade hier in diesem Hause scharfen
Auseinandersetzungen über die richtige Politik, die seit
zehn Jahren im wiedervereinigten Deutschland gemacht
wurde: Ich zweifle nicht daran, dass die Tatsache der 1990
erfolgten Wiedervereinigung, dass die politische Willens-
bekundung zum Ende der staatlichen Teilung auch heute
von der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem
Land positiv gesehen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Darüber können weder Analysen über noch bestehende
Unterschiede zwischen Ost und West, weder mehr oder
weniger kunstvolle Essays über die mentalen Schwierig-
keiten des Zusammenwachsens der beiden ehemaligen
deutschen Teilstaaten noch diverse Prognosen, nach denen
der Prozess der inneren Einheit sich noch über Generatio-
nen hinziehen würde, hinwegtäuschen.

Auch wenn die Deutschen, wie zu vermuten ist, noch
lange Zeit über die Wege des Zusammenwachsens disku-
tieren werden, so steht doch deren berechtigter positiver
Bezug auf eines der wichtigsten Ereignisse des soeben ver-
gangenen Jahrhunderts bereits heute fest: Wir haben nicht
nur ein Recht, sondern sogar eine Verpflichtung, auf die
freiheitlichen und demokratischen Bewegungen in unse-
rer Geschichte hinzuweisen und diese im öffentlichen Be-
wusstsein zu halten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Vielleicht gibt es vor dem Hintergrund mancher Dis-
kussionen über die Härten und Schwierigkeiten der mit der
deutschen Einheit verbundenen tagespolitischen Erfor-
dernisse sogar eine Notwendigkeit. Diese besteht darin,
mit einem solchen Denkmal diese großartige Freiheitsbe-
wegung, die ohne die Freiheitsbewegungen in Mittel- und
Osteuropa nicht denkbar gewesen wäre, für manche erst
wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Sehr geehrte Damen und Herren, der Gründungsmy-
thos des vereinten Deutschlands ist nicht ein vermeintli-
cher oder ehrlicher Antifaschismus. Und schon gar nicht
beinhaltet ein solcher Gründungsmythos den Sieg des
Westens über den Osten. Der Gründungsmythos, der in
dem zu errichtenden Denkmal auf der Berliner Schloßfrei-
heit symbolisiert werden und für alle sichtbar und erkenn-
bar gemacht werden soll, beinhaltet den – schließlich er-
folgreichen – Kampf für Freiheit und Demokratie.

Deshalb kann ein solches Denkmal weder zur Pilger-
stätte für Rechte oder für Linke werden, sondern – ähnlich
wie die Kuppel dieses Hohen Hauses – nur zu einem Mek-
ka der Demokraten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Als Berliner füge ich hinzu: Vielleicht wird es auch so et-
was wie die Spanischen Treppen in Rom, wo sich Men-
schen einfach gern treffen.

So gesehen ist dieses Denkmal auch nie in Opposition
zu irgendwelchen anderen Symbolen der demokratisch
verfassten Bundesrepublik zu verstehen. Wir wollen kein




Günter Nooke

9327


(C)



(D)



(A)



(B)


Antidenkmal zum Holocaust-Mahnmal errichten. Aber
wir lassen uns als Nation nicht auf die zwölf schrecklichen
Jahre Nazidiktatur festlegen. Die Hülle des Begriffs „Frei-
heits- und Einheitsdenkmal“ ist mit Inhalt und – ich scheue
mich nicht vor dieser Formulierung – mit Bedeutung zu
füllen. Ich bin überzeugt davon, dass es in dieser Frage ei-
nen vielleicht sonst nicht üblichen großen Konsens unter
sonst demokratischen Konkurrenten gibt.

Ich bitte Sie stellvertretend für die 177 Abgeordneten-
kollegen aus vier Fraktionen, die diesen Antrag einbringen
und bei denen ich mich noch einmal ausdrücklich bedan-
ken möchte, diesem demokratischen Konsens durch ihre
Unterstützung und aktive Teilnahme bei der Umsetzung
Ausdruck zu verleihen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921400
Für die SPD-Frakti-
on spricht der Kollege Markus Meckel.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1409921500
Herr Präsident! Meine Kolle-
ginnen und Kollegen! Wir schlagen heute ein Freiheits-
und Einheitsdenkmal vor, um der Ereignisse vor zehn Jah-
ren zu gedenken und uns darüber zu freuen und für dieses
Freudenereignis einen entsprechenden Ort zu schaffen.

Wir haben in den letzten Monaten bei verschiedenen
Ereignissen gemerkt, dass wir Deutsche wahrhaft Schwie-
rigkeiten haben, angemessene Formen der Erinnerung und
des Gedenkens zu finden, sowohl beim Erinnern und beim
Gedenken an eigenes Unrecht, an Schuld als auch bei so
erfreulichen Ereignissen, wie es nun einmal Mauerfall, ei-
ne friedliche Revolution und deutsche Einheit sind. Noch
im Jahre 1948 zum Gedenken an den Jahrestag 1848 hat
Carlo Schmidt erklärt, dass wir Deutsche eben keine ge-
lungene Revolution haben. Jetzt haben wir eine. Dies ist
ein wesentlicher Teil unserer Identität, unseres Gemein-
und unseres Selbstverständnisses.

Gerade nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts ist
dies nun wahrhaftig ein Geschenk – ein Geschenk, zu dem
der eine oder andere und dann doch sehr viele ihren Teil
beigetragen haben, aber das keiner von uns aus eigener
Kraft erreichen konnte. Dies war eine Konstellation, die
die große Mehrheit des deutschen Volkes glücklich ge-
macht hat.

Wenn ich sage, dass wir Schwierigkeiten haben, so
zeigt sich dies an einer Kleinigkeit: indem wir etwa dieses
Denkmal gemeinsam vorschlagen, die Reihenfolge der
Begriffe aber unterschiedlich setzen – manchmal ein und
dieselbe Person. Der Antrag selbst ist überschrieben mit
„Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals“, und
im Text selber schreiben wir von einem „Freiheits- und
Einheitsdenkmal“.

Der Zusammenhang von Freiheit und Einheit ist ei-
ne ganz wesentliche Sache, über die wir miteinander
nachdenken sollten, vielleicht sogar miteinander streiten
sollten, die von ganz zentraler Bedeutung ist und für die
Gestaltung dieses Denkmals sein wird.

Ich habe vor einigen Jahren in Bonn im Plenum schon
einmal sagen hören, dass man sich freue, dass wir, die
16 Millionen Ostdeutschen, durch die Einheit die Freiheit
erhalten hätten. Ich muss einfach sagen: Das war falsch.
Denn erst war die Freiheit und dann war die Einheit. Weil
wir im Osten Selbstbestimmung errungen haben, war und
wurde die Einheit möglich, und zwar durch einen selbst-
bestimmten Weg der Ostdeutschen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Diese Zusammenhänge sind Teil unserer Identität ge-
worden, Teil unseres Erbes. Wir merken, dass wir noch
viel miteinander reden müssen, um festzustellen, dass wir
auch zu gemeinsamen Selbstverständnissen kommen, dass
wir diese Zusammenhänge gemeinsam und wirklich zu-
sammen beschreiben können.
Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir über diese Zu-
sammenhänge bei der Gestaltung dieses Denkmals und bei
der Diskussion über dieses Denkmal – wir werden noch
viele Diskussionen haben – laut nachdenken.

Es soll ein Denkmal sein, das für uns alle, für unser Ge-
meinwesen, eine Bedeutung hat. Es soll kein Heldenmal
sein. Mein Freund Gunter Weißgerber hat uns ein wichti-
ges Argument gegen den vorliegenden Vorschlag genannt.
Er sagte: Es ist gut, dass gerade ihr, die ihr damals betei-
ligt wart, ein solches Denkmal vorschlagt. Es wird später
bestimmt kommen. Aber sollt ihr selber euch ein Denkmal
errichten? Seine Frage hat mich durchaus nachdenklich
gemacht. Ich denke aber, es geht eben nicht darum, dass
wir ein Heldendenkmal für den einen oder den anderen er-
richten. Es geht darum, dass wir dieses nationalen Ereig-
nisses, an dem Tausende, an dem die Bevölkerung in Ost
und in gewisser Weise auch in West beteiligt waren, mit-
einander gedenken und diesem Freudenereignis einen Ort
geben.

Wenn von Einheit und Freiheit gesprochen wird, so hat
dies eine lange Tradition. 1848 habe ich als Stichwort
schon genannt. Auch damals ging es um Einheit und um
Freiheit. Die Diskussion in Deutschland war während des
ganzen 19. Jahrhunderts von diesen beiden Begriffen ge-
prägt. Das erste Nationaldenkmal war ein Einheitsdenk-
mal, jedoch kein Freiheitsdenkmal. Es kam durch ganz
andere Zusammenhänge zustande. Deshalb ist es wichtig,
das Streben nach Einheit und Freiheit anhand der Ereig-
nisse von vor zehn Jahren heute neu zu beschreiben.

Wenn bei dem geplanten Denkmal vielleicht auch von
einem Nationaldenkmal geredet werden kann – ich
scheue mich nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen –,
dann macht dies gleichzeitig deutlich, dass die Ereignisse
der 14 Monate vom Sommer 1989 bis zum Oktober 1990
keine nationalen, gegen die anderen Völker gerichteten Er-
eignisse waren; denn die friedliche Revolution im Herbst
war Teil der ost- und mittelosteuropäischen Revolution,
die den Ostblock zersprengt hat. Bei dieser Revolution hat
nicht der Westen im Sinne eines Blockes gesiegt. Vielmehr
haben sich Freiheit und Demokratie durch den Willen der
Menschen durchgesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)





Günter Nooke
9328


(C)



(D)



(A)



(B)


Auf der anderen Seite ist es ein Einheitsdenkmal, weil
die deutsche Einheit eben durch Mitwirkung der Nachbarn
zustande gekommen ist. Durch den Zwei-plus-Vier-Pro-
zess eingebunden in Europa, wollte die deutsche Einigung
ein Impetus für das Zusammenwachsen in Europa sein und
ist es dann auch gewesen. Der Fall derMauer ist nicht nur
für uns, er ist weltweit das Symbol für das Ende der Tei-
lung Europas und für den Beginn des Zusammenwach-
sens, für das Ende des Kalten Krieges geworden. Ich den-
ke, dass dies eine ganz wesentliche Dimension ist. Es lohnt
sich und es ist wichtig, sie in dieser Weise in Form zu
gießen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Über den Ort ist nachzudenken. Wir haben den Vor-

schlag gemacht, das Denkmal am Schloßplatz zu errich-
ten. Ich denke, das ist ein guter Ort, weil er in gewisser
Weise die Tradition von Einheit und Freiheit neu be-
stimmt. Natürlich braucht es Zeit, bis wir ein Konzept ha-
ben, wie der Schloßplatz insgesamt gestaltet werden wird.
Was wird mit dem Schloss? Ich selber bin sehr dafür, dass
es wieder aufgebaut wird, zumindest was die äußere Form,
den stadtarchitektonischen Rahmen anbelangt. Ich denke
dabei auch an die Bauakademie oder eben die Gewölbe,
über die hier noch zu reden sein wird. All dies braucht
natürlich ein Gesamtkonzept. Jedenfalls denke ich, dass
der Schloßplatz ein guter Ort wäre.

Wir werden im Prozess des Nachdenkens möglicher-
weise dazu kommen müssen, zu sagen: Entweder wir war-
ten noch eine Weile, bis alles zusammen gemacht werden
kann, oder wir müssen einen anderen Ort suchen. Ich muss
gestehen, ich halte auch das nicht für ausgeschlossen.
Auch andere Orte bieten sich durchaus an. Ich will kurz
nennen, was mir so einfällt. Hinter uns, im Osten des
Reichstages, verlief zwischen Reichstag und dem alten
Reichstagspräsidentengebäude die Mauer. Warum nicht
an diesem Ort, an einer entsprechend guten Stelle ein sol-
ches Denkmal aufstellen? Auch das halte ich für möglich.
Ein anderer möglicher Ort wäre auf der anderen Seite des
Schlosses – heute noch des Palastes der Republik, der nun
etwas fahl und verlassen dasteht –, in dem Park, in dem
heute noch Marx und Engels stehen.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Hände weg von Marx und Engels, Kollege Meckel! Auch das ist Geschichte!)


Es ist die Frage, ob nicht auch das ein Ort im Zentrum Ber-
lins ist, der durch ein solches Denkmal neu gestaltet wer-
den kann und dann auch eine neue Bestimmung erhält.

Ich glaube, dass diese verschiedenen Vorschläge be-
dacht und debattiert werden müssen. Ich hoffe sehr, dass
uns dies in der Weise gelingt, dass dieses Projekt nicht ein-
fach nur auf die lange Bank geschoben wird, sondern dass
wir konzentriert und sachlich miteinander darüber disku-
tieren und dann – hoffentlich noch in diesem Jahr – zu ei-
ner Klärung kommen, wie und in welchen Schritten wir
diese Vorschläge umsetzen können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921600
Für die F.D.P.-Frakti-
on spricht die Kollegin Cornelia Pieper.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1409921700
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wenn mir vor zehn Jahren jemand
erzählt hätte, dass ich hier im Deutschen Bundestag vor
fast leeren Reihen gemeinsam mit meinen Kollegen aus
den Fraktionen der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der SPD einen Antrag zur Errichtung eines
Einheits- und Freiheitsdenkmals einbringe, hätte ich das
nicht geglaubt. Deswegen bedauere ich es ein bisschen,
dass wir es nicht geschafft haben, dieses Thema zum Ju-
biläum zehnten Jahrestages des Falls der Mauer oder
der freien Volkskammerwahlen einzubringen. Denn ich
glaube, dass die historische Bedeutung dieser Ereignisse
vollkommen unbestritten ist.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Wir brauchen uns dafür auch nicht zu schämen. Ganz
im Gegenteil: Dies ist für uns ein freudiges Ereignis. Ich
erinnere an die Worte von Professor Richard Schröder an-
lässlich des Jubiläums „Zehn Jahre freie Volkskammer-
wahlen“. Da hat er hier im Deutschen Bundestag gesagt,
uns als Deutsche fehle manchmal – auch im Zusammen-
hang mit der deutschen Einheit – die Fähigkeit zur Freu-
de.

Was ist das denn für ein Ereignis, das gerade wir als
Ostdeutsche erlebt haben? Wir sprechen über ein Ereignis,
was seinesgleichen nicht nur in der deutschen, sondern
auch in der europäischen Geschichte und weltweit sucht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Nicht nur in Europa, sondern auch weltweit ist es mit An-
erkennung aufgenommen worden, was die Ostdeutschen
damals im Rahmen der friedlichen Revolution geleistet
haben. Denn noch nie ist es durch eine Revolution auf
friedlichem Wege, sozusagen durch den Druck auf der
Straße, gelungen, eine Diktatur zu stürzen und den Weg in
einen freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zu eb-
nen.

Die Franzosen haben Ende des vergangenen Jahres, al-
so kurz vor der Jahrhundertwende, in einer Umfrage er-
klärt, dass für sie nach dem Flug des Menschen zum Mond
das herausragendste Jahrhundertereignis der Fall der
Mauer und die friedliche Revolution bzw. die deutsche
Einheit gewesen ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich finde es bemerkenswert, wie unsere europäischen
Nachbarn dieses Ereignis sehen. Wir haben allen Grund,
uns darüber zu freuen und anzuerkennen, was die Völker
Mittel- und Osteuropas vor zehn Jahren mit ihren
Freiheitsbewegungen – sei es die Solidarnosc, sei es Glas-
nost – geleistet haben. Sie haben uns als Ostdeutsche da-
mit die Kraft gegeben, diese friedliche Revolution auf den
Weg zu bringen.




Markus Meckel

9329


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Ereignisse vom Herbst 1989 und die deutsche
Einheit sind ein Glücksfall für uns Deutsche und für un-
sere Geschichte – zum einen natürlich deswegen, weil mit
der Einheit Deutschlands ein Jahrhundert der Kriege und
der totalitären Systeme beendet wurde, zum anderen des-
wegen, weil die Worte „deutsches Volk“ und „deutsche
Nation“ nicht mehr mit Schande, sondern von uns Deut-
schen wieder mit einem gewissen patriotischen Stolz ver-
wendet werden können.

Hinzu kommt, dass damit die Worte der Präambel in der
Verfassung der alten Bundesrepublik Wirklichkeit gewor-
den sind. So mancher hat damals nicht mehr daran ge-
glaubt; auch daran will ich erinnern. Liberale haben immer
für das Bekenntnis zur deutschen Einheit gestanden. In
diesem Zusammenhang haben in der Vergangenheit unter
anderem liberale Außenminister mit ihrer Entspannungs-
politik Pflöcke eingeschlagen.

Deswegen meinen wir zu Recht: Wenn es denn ein Ver-
fassungsauftrag der Bundesrepublik Deutschland war,
dass die deutsche Einheit wieder hergestellt wird, hat die
Bundesregierung die Verpflichtung, über ein Symbol, wie
es ein Denkmal ist, deutlich zu machen, dass dieses Ziel
erreicht wurde und dass uns das noch immer wichtig und
eine Herzenssache ist.

Dies ist ein Denkmal, das nicht nur den Weg der Deut-
schen in die Freiheit und Einheit dokumentiert. Es ist ein
Denkmal der lebendigen Demokratie. Es ist ein Denkmal
für die Zivilcourage von Menschen in diesem Land. Es
enthält die Botschaft, dass nur durch eine starke Demo-
kratie, durch die Beteiligung der Bürger, die Grundlagen
für einen liberalen Rechtsstaat gesichert werden können.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist mir wichtig, das hier herauszustellen, weil dieses
Thema meines Erachtens noch immer eine hohe Aktualität
genießt.

Die Debatten über Denkmäler waren immer emotiona-
lisiert – das haben wir erst vor kurzem im Deutschen Bun-
destag erlebt –, aber fanden stets in der Öffentlichkeit statt.
Genau das kann die Debatte über dieses Denkmal im zehn-
ten Jahr der deutschen Einheit leisten. Sie soll nämlich
nicht nur hier im Parlament, sondern auch im Volk geführt
werden. Auch darüber, wie wir mit der Vollendung der in-
neren Einheit vorangekommen sind, ist eine Debatte des
gesamten Volkes wichtig. Die Bereitschaft zur Freude über
das Ereignis selbst sollte uns über die Grenzen hinaus ge-
lingen. Das ist aus meiner Sicht auch das Ziel dieses An-
trages.

In diesem Sinne wünsche ich mir eine lebendige De-
batte über ein Denkmal, welches der Freiheitsmetropole
Berlin mit der Identität stiftenden Erinnerung an die Jahre
1989 und 1990 gut zuGesicht steht. Ich bedankemich noch
einmal bei den Mitinitiatoren, insbesondere bei Günter
Nooke und Markus Meckel, die für diesen Antrag schon
in der letzten Legislaturperiode gekämpft haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921800
Der Kollege Werner
Schulz spricht nunmehr für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolle-
gin Pieper, möglicherweise fehlt uns die patriotische Em-
phase für dieses Ereignis. Es ist aber vielleicht auch ganz
gut, dass wir darüber so nüchtern und sachlich diskutieren,
als ginge es um einen technischen Vorgang. Früher sind in
diesem Haus wesentlich markigere Sprüche geklopft wor-
den, wenn es darum ging, ein Nationaldenkmal zu errich-
ten.

Ich glaube auch nicht, dass uns die Fähigkeit zur Freu-
de fehlt; das wird uns immer leicht unterstellt. Möglicher-
weise fehlt uns die Fähigkeit, diese Freude dauerhaft auf-
rechtzuerhalten, sie dauerhaft im Bewusstsein zu halten.
Denn die Freude über die Vereinigung, die Freude über
den Mauerdurchbruch hat es doch gegeben; wir haben es
erlebt, und zwar überall. Es gab Freudenfeste. Die Leute
haben getanzt, auf der Mauer und vor dem Brandenburger
Tor. Viele fragen sich: Warum ist das weg? Warum ist das
heute nicht mehr im Bewusstsein? Warum reden wir über
das Kleinkarierte, über das Klein-Klein der deutschen Ein-
heit? Warum können wir uns an diesem großen, an diesem
epochalen Ereignis nicht mehr erfreuen? Ich glaube, auch
das kann ein Denkmal in gewisser Weise wieder ins Be-
wusstsein rücken, wach halten.

Ich habe diesen Antrag mit initiiert, weil ich glaube,
dass es wichtig ist, dass wir den gesamten, komplizierten
und wechselvollen Werdegang unserer Nationalge-
schichte bei der Um- bzw. Neugestaltung von Berlin zum
Ausdruck bringen, dass wir uns Mühe geben, nicht nur die
schrecklichen, sondern auch die glücklichen Kapitel un-
serer Nationalgeschichte festzuhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Markus Meckel [SPD] und Cornelia Pieper [F.D.P.])


Das verlangt hohe Sensibilität.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Da kann man auch mal lächeln!)

– Wenn Sie mich freudig wünschen, dann tue ich das – kei-
ne Frage. Aber Sie merken, dass ich versuche, die Sätze
nicht abzulesen, sondern aus meinem Kopf zu holen. Und
das ist meist mit Stirnrunzeln verbunden.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dafür gibt es einen Extraapplaus! – Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409921900
Dafür gibt es sogar ei-
ne Verlängerung der Redezeit.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)





Cornelia Pieper
9330


(C)



(D)



(A)



(B)


Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das ist ja richtig lieb.

Es geht um eine sensible Darstellung der schrecklichen
Kapitel. Wir haben in letzter Zeit viel darüber diskutiert;
ich erinnere beispielsweise an das Holocaust-Denkmal.
Eines der sensibelsten Denkmäler in Berlin ist übrigens
das Denkmal zur Bücherverbrennung auf dem Bebel-
platz. Durch das Glasfenster im Boden sieht man auf die
verschwundene Bibliothek.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Ich wünsche mir, dass uns dies hier genauso gelingt,
dass wir die Epoche machenden Gedanken von Freiheit
und Einheit zum Ausdruck bringen. Ich betone das, was
Markus Meckel gesagt hat, weil es mir sehr nahe und sym-
pathisch ist: Wir müssen bei diesem Denkmal auf die
Rangfolge der Begriffsbestimmung achten. Für mich
kommt zuerst die Freiheit und dann die Einheit; denn wir
haben zuerst die Freiheit errungen und dann die Einheit er-
reicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Diese Reihenfolge sollten wir einhalten; daran müssen wir
erinnern. Im Sinne eines Imperativs, wenn auch nicht ei-
nes kategorischen, sollten wir uns in Erinnerung rufen,
dass wir die Freiheit verloren haben, warum dies gesche-
hen ist und wie mühsam es war, sie wieder zu erringen. Ich
glaube, es lohnt sich, dieses „Denk mal darüber nach“, wie
das geschehen ist, wach zu halten. Dies ist der Sinn eines
Denkmals.

Ich tue mich mit Denkmälern wirklich schwer. Lange
habe ich überlegt, ob ich diesen Antrag unterzeichnen soll.
Denn wir Ostdeutschen sind in dieser Hinsicht etwas ge-
schädigt. Wir sind mit Denkmälern überreichlich bedacht
worden. Es gab eine Epoche, in der wir mit Denkmälern
vollgeschüttet wurden. In Ostdeutschland stehen noch die
in Bronze gegossenen und in Stein gemeißelten Irrtümer
einer ganzen Epoche. In Deutschland gibt es außerdem
reichlich Denkmäler, die ihre Bedeutung und ihren Sinn
verloren haben oder die vom Stolz vergangener Epochen
künden und heute nicht mehr nachvollziehbar sind.

Aber es gibt kaum ein Denkmal, das diese beiden
Triebkräfte bzw. Motivationen, die Freiheit und die Ein-
heit, symbolisiert. Wenn wir diesen Wettbewerb aus-
schreiben, stellt dies für die Künstler eine wirklich schwie-
rige Herausforderung dar. Ich bin mir nicht sicher, ob wir
Entwürfe bekommen werden, die diese Aspekte abdecken.
Ich halte aber nichts davon, in der Diskussion zu sagen:
Dafür ist es zu früh. Das kann man nicht machen. Die Hel-
den setzen sich hier einen eigenen Sockel.

Es gibt keine Helden der Freiheit und der Einheit, und
falls doch, dann gäbe es von 1848 bis 1990 sehr viele. Es
handelt sich um einen sehr langen Kampf, den diese Nati-
on geführt hat, um ihre Freiheit und Einheit zu erreichen.
In unserer Nationalhymne taucht im Übrigen das Wort
„Einigkeit“ auf. Diese Einigkeit haben wir noch nicht er-
reicht. Vielleicht fehlt in diesem Zusammenhang noch et-
was an dem Denkmal.


(Markus Meckel [SPD]: Aber Recht!)

– Recht haben wir. Ganz recht.

Die Einigkeit, die innere Einheit stehen noch aus. Aber
ich glaube, es lohnt sich, diese beiden Gedanken umzu-
setzen. Das ist eine große Herausforderung für den Künst-
ler. Es ist auch eine neue Art in der Denkmalkultur, dass
wir keine Personen mehr auf Sockel stellen. Die Zeit der
tonnenschweren Bronzeskulpturen ist möglicherweise
vorbei.

Dies ist eine europäische Herausforderung und hat ei-
ne europäische Dimension. Es könnte ein Symbol der Ber-
liner Republik und des gewachsenen staatsbürgerlichen
Selbstverständnisses sein. Das würde ich mir sehr wün-
schen.

Ich hoffe, dass wir eine belebtere Diskussion führen
und ein volleres Haus bekommen, wenn es um die Ent-
scheidungen geht. Vielleicht lässt sich die gegenwärtige
Situation auch so deuten, dass die Diskussion um dieses
Denkmal nicht mit einer solchen Spannung geführt wird
wie die, die wir im Zusammenhang mit dem Kunstwerk,
das wir im Innenhof des Reichstages aufstellen wollen, ge-
führt haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist da die Kunst?)


Möglicherweise ist der Konsens heute viel größer, sodass
sich einige Kollegen die Entscheidung leicht gemacht ha-
ben, an dieser Diskussion nicht teilzunehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409922000
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Petra Pau.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409922100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Um jeglichen Irrtum auszuschließen,
möchte ich zu Beginn und sehr grundsätzlich betonen: Die
Demokratiebewegung von 1989 und 1990 in der DDR
war und bleibt ein herausragender Bestand deutscher, ja
europäischer Geschichte. Denn sie war eine osteuropa-
weite Volksbewegung. Vielleicht stimmen Sie mir zu,
wenn ich sage: Der Geist dieser demokratischen Volksbe-
wegung ist am besten und am konsequentesten im tägli-
chen demokratischen Engagement der Bürgerinnen und
Bürger in der so entstandenen neuen Bundesrepublik
aufgehoben.


(Beifall bei der PDS)

Denn die Courage und das verändern wollende Enga-

gement im letzten Jahr der DDR gehören zur bewahrens-
und übertragsenswerten Mitgift der neuen Bundesländer
und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Errichtung eines
Nationaldenkmals der friedlichen Revolution, wie sie be-
antragt ist, käme nicht nur, wie der Kollege Weißgerber in
die Debatte einbrachte, zur falschen Zeit, sondern wider-
spräche auch dem, was das Denkmal zu bedenken vorgibt.






(C)



(D)



(A)



(B)


Der Aufbruch, der im Herbst 1989 stattfand, war weder
ein zentrales noch ein nationales Ereignis. Er hatte oben-
drein relativ wenig mit dem vorgeschlagenen Denkmalort
zu tun. Wenn es denn besondere Orte gibt, deren Be-
deutung hervorhebenswert wäre, dann wären dies doch
wohl eher der Alexanderplatz oder der Leipziger Ring.
Warum sollte man nicht dort und mit dem authentischen
„Wir sind das Volk“ an diese Zeit und an das, was hiermit
in die neue Bundesrepublik eingebracht wurde, erinnern?


(Beifall bei der PDS)

Ich teile aber auch die Meinung und achte die Beschei-

denheit von Jens Reich, der vor Monaten im Kontext ei-
ner Debatte hier im Bundestag für sich beanspruchte, nicht
er habe am meisten bewegt und bewirkt, denn seine Be-
kanntheit und Prominenz habe ihm manches erleichtert.
Seine Achtung, so Jens Reich, gelte vor allem den vielen
Frauen und Männern zwischen Sonneberg und Rügen, die
ihre Belange mutig in die eigenen Hände genommen ha-
ben. Wenn Sie dann die grundlegenden Papiere, die Auf-
rufe aus jener Zeit nachlesen, vom Neuen Forum oder von
Demokratie Jetzt, sei es auch von der SDP


(Markus Meckel [SPD]: „Sei es auch“?)

– sie hieß doch so – oder auch von oppositionellen Platt-
formen der auseinander brechenden SED, wer sich das al-
les in Erinnerung ruft, wird sich schwerlich vorstellen kön-
nen, wie deren Anliegen und wie die Akteure selbst mit
einem Nationaldenkmal auf dem Schloßplatz in Über-
einstimmung zu bringen sind.


(Beifall bei der PDS – Günter Nooke [CDU/CSU]: In Demokratie Jetzt stand was von der Einheit Deutschlands drin! Sie müssen es einmal lesen! Wir haben es gemacht!)


– Kollege Nooke, natürlich. Ich weiß, dass einige zur Ein-
heit Deutschlands aufgebrochen sind. Trotz alledem hat
sich der Ruf „Wir sind das Volk“ erst im Verlaufe dieser
Bewegung zum Ruf „Wir sind ein Volk“ gewandelt.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Man sollte nicht künstlich differenzieren!)


Nun noch ein letzter Gedanke. Ich meine den Platz, auf
den sich beide Anträge beziehen. Wir werden noch viel
Gelegenheit haben, zum Thema zu debattieren. Ich teile
den Ansatz von Rita Süssmuth – der heute nachzulesen
war – dass der Platz, wo einst Kaiser Wilhelm I. hoch zu
Ross thronte, eine neue Bestimmung braucht, und zwar
nicht nur der leer stehenden Sockel, sondern die gesamte
Spreeinsel.

Wir haben vor Wochen einen Vorschlag für die Be-
stimmung und Belebung des Schlossplatzes eingebracht.
Wir denken, ein Bürgerforum gehört dorthin. Der vorlie-
gende Antrag der PDS ist ein Mosaiksteinchen zur Schaf-
fung dieses Bürgerforums.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409922200
Für die SPD-Frakti-
on spricht der Kollege Eckhardt Barthel.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1409922300
Meine Damen und
Herren. Ich habe jetzt die Schwierigkeit, von den Höhen
einer Denkmalsdiskussion in die Tiefen eines verschütte-
ten Gewölbes zurückzuführen, weil das der Antrag ver-
langt. Das ist nicht einfach, aber gestatten Sie mir zu der
anderen Sache einen Satz.

Ich habe diesen Gruppenantrag mit unterschrieben. Al-
le, die bisher gesprochen haben, waren direkt Betroffene.
Ich war es nicht. Ich war auf der anderen Seite der Mauer.
Ich bin für dieses Denkmal, weil ich meine: Im Stadtbild
muss dieses Ereignis zu sehen und sinnlich zu erfahren
sein. Deswegen halte ich es für nötig. Wo das ist und wie
es gemacht wird, darüber müssen wir noch eine Diskussi-
on führen. Es gibt einiges, bei dem ich durchaus andere
Positionen habe. Aber ich glaube, das wird sich aus der
Diskussion ergeben.

Nun zu dem Gewölbe. Meine Damen und Herren An-
tragsteller, es geht eben nicht um diesen Kontext, den Sie,
Frau Pau, in Ihrem Antrag genannt haben. Sie beziehen das
auf das gesamte Schloßareal und die Spreeinsel. Sie be-
antragen, dass kurzfristig ein Gewölbe eröffnet werden
soll, von dem – das möchte ich wetten – höchstens zwei
oder drei Leute im Saal wissen, wo das ist und wie das aus-
sieht.


(Zuruf von der PDS)

– Jetzt sind wir drei. Das finde ich in Ordnung. Das ist
schön.

Ich finde es den anderen gegenüber unfair, dass sie über
etwas entscheiden sollen, was sie gar nicht kennen.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Herrschaftswissen!)


– Herrschaftswissen.
Auch ich war dort früher nicht drin. Aber ich kann nur

jedem empfehlen, dort einmal hinzugehen. Es ist beein-
druckend, wenn man sich einmal dort hinunterquält.

Dieses Gewölbe könnte durchaus einmal so etwas wie
in Leipzig die Sachsenbastei werden, wenn man das Geld
hat. Aber Ihre Idee, wie Sie sie in Ihrem Antrag formulie-
ren, losgelöst von der Konzeption des Schloßplatzes und
allem drumherum, diesen Gedanken, es kurzfristig eröff-
nen zu wollen, halte ich für eine schlichte Illusion. Das ist
nicht machbar.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Es klingt bei Ihnen so, als bräuchte man dort nur ein paar
Tapeten zu kleben und den Fußboden zu kehren, vielleicht
einen Lichtschalter anzubringen. Wenn man es sieht, er-
kennt man, dass man erst einen Meter Erde herausbringen
muss, damit man gerade so durch einige Gänge gehen
kann. Das ist eine gewaltige Arbeit.

Der Eindruck ist: Dies muss in der Gesamtkonstellati-
on des Schloßplatzes genutzt werden. Dafür trete ich mit
Leidenschaft ein. Aber es soll jetzt kein singuläres Objekt
werden, von allem losgelöst. Sie haben auch kein Nut-
zungs- und Finanzierungskonzept. Ich weiß nicht, wie Sie
das machen wollen.




Petra Pau
9332


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409922400
Herr Kollege Barthel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1409922500
Ja gern, natürlich.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409922600
Herr Kollege Barthel, können
Sie sich nicht vorstellen, dass die Berlinerinnen und Ber-
liner sowie natürlich auch andere Leute genau an diesem
Ort, dann, wenn sie ihn nutzen können, eine ganz eigene
Kreativität an den Tag legen werden, ganz eigene Ideen
entfalten werden, wie sie diesen Ort nutzen können, und
zwar genau im Sinne dessen, was hier die ganze Zeit be-
schworen wird, nämlich im Sinne der Kreativität des
Volkes der damaligen DDR bei ihrer Befreiung? Sie wür-
den diesen Ort ganz frei in Besitz nehmen und nutzen und
dann in die zukünftige Nutzung des Platzes einbeziehen.
Können Sie sich das nicht vorstellen?


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1409922700
Das ist sehr allge-
mein. Es gibt viele Orte, an denen solche Gefühle ent-
wickelt werden können.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das würde ich nicht auf diesen Ort beziehen, vor allen
Dingen nicht, wenn ich nicht weiß, was damit geschehen
soll.

Ich betone noch einmal: Ich halte es für wichtig, dass
man diesen Ort nutzt, aber im Rahmen einer Gesamtpla-
nung für die Spreeinsel. Dann kann das eine tolle Sache
werden. Aber um das beurteilen zu können, muss ich das
Finanzierungs- und das Nutzungskonzept kennen.

Ihr Antrag ist sicher wichtig, aber eigentlich gehört er
in die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Wenn die entscheiden darf!)


Vielleicht hätte man erst einmal dort darüber reden sol-
len. Der Gedanke ist gut und ich glaube, er sollte auch von
der Schlosskommission diskutiert werden. Das werden
wir auch tun. Aber für sich halte ich ihn für falsch und un-
angebracht. Wir werden ihn deshalb in den Ausschüssen
ablehnen.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409922800
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409922900
Herr Kollege Barthel, Sie stimmen
sicherlich mit mir darin überein – das habe ich Ihrer Rede
entnommen –, dass dieser wichtige, vielleicht sogar wich-
tigste noch zu gestaltende Platz in der Hauptstadt mög-
lichst schnell eine Perspektive bekommen muss, die es den
Bürgerinnen und Bürgern der Stadt sowie ihren
Gästen ermöglicht, endlich auch hier in der Stadtgestal-
tung nicht nur die Mitte zu sehen, sondern auch die Ver-

bindung beider Stadthälften herzustellen. Dieser unsägli-
che Zustand muss ein Ende haben, dass auf der Brücke im-
mer noch die einen stehen bleiben, sich gruseln und den
Blick nach Osten nach dem Motto „Der Palast ist aber
hässlich, weiter gehen wir nicht“ richten, und die anderen
dort oftmals stehen bleiben – was ich auch kritisiere – und
sagen: Lasst uns unseren Palast bewahren. Ich denke, die
Gestaltung dieses Platzes muss dem Anspruch der Verbin-
dung, des Zusammenkommens von Ost und West, natür-
lich manchmal auch der Konfrontation im besten Sinne,
nämlich der mit neuen Ideen, genügen.

In diesem Zusammenhang mache ich Sie darauf auf-
merksam: Eigentümer dieses Platzes und auch der hier be-
sprochenen Gewölbe ist nun einmal nicht die Bezirksver-
ordnetenversammlung Berlin-Mitte, auch nicht das Land
Berlin, sondern der Bund. Deshalb ist dieser Antrag hier
am richtigen Ort.

Ich gebe zu: Wenn all unseren Anträgen zur Zukunft
des Palastes der Republik bzw. des Rohbaues, der
nach der Asbestsanierung übrig bleibt, und unseren
Anträgen zur Gestaltung dieses Platzes etwas mehr
Aufmerksamkeit gewidmet würde, wenn daraus nun end-
lich wirklich eine gesellschaftliche Debatte würde, hätten
wir es nicht nötig gehabt, diesen Antrag zu den Gewölben
hier extra einzubringen. Sehen Sie ihn also als Anstoß zur
Debatte.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409923000
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/3126 und 14/3120 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das
Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Fortentwicklung derAltersteilzeit
– Drucksache 14/3158 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Die Kolleginnen und Kollegen Renate Rennebach,
Dr. Susanne Tiemann, Dr. Thea Dückert, Dr. Heinrich Kolb,
Dr. Heidi Knake-Werner, Wolfgang Meckelburg und der
Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres geben ihre
Reden zu Protokoll. Ich bedanke mich.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3158 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge
liegen nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 sowie
Zusatzpunkt 3 auf:






(C)



(D)



(A)



(B)


Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Fraktion SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer
Menschenrechtsschutz
– Drucksache 14/1568, 14/2209 (neu)
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Behrendt
Klaus Bühler (Bruchsal)

Christian Sterzing
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke-Reymann

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-
Reymann, weitererAbgeordneter und der Fraktion
derPDS
Gegen die Todesstrafe in den USA – Keine Hin-
richtung von Mumia Abu-Jamal
– Drucksache 14/3196 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kol-
legen Wolfgang Behrendt für die Fraktion der SPD das
Wort.


Wolfgang Behrendt (SPD):
Rede ID: ID1409923100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute erneut über
den Europarat diskutieren, dann tun wir das vor einem ak-
tuellen Hintergrund. Der Europarat hat in der letzten
Woche in seiner Vollversammlung in Straßburg die be-
deutsame Entscheidung getroffen, indem er erstmals
Sanktionen gegen ein Mitgliedsland ergriffen hat. Der
russischen Delegation wurde ihr Stimmrecht entzogen.
Gleichzeitig wurde das Ministerkomitee aufgefordert, den
Ausschluss Russlands vorzusehen, falls die Forderungen
des Europarates im Hinblick auf Menschenrechtsverlet-
zungen in Tschetschenien nicht erfüllt würden.

Lassen Sie mich kurz auf die letzten zehn Jahre zurück-
kommen, um diesen Hintergrund auszuleuchten. Der Eu-
roparat hat nach dem Ende des Kalten Krieges eine sehr
lebhafte und intensive Debatte darüber geführt, ob es rich-
tig sei, Staaten des ehemaligen Ostblocks aufzunehmen,
auch wenn sie nicht die hohen Kriterien des Europarates
erfüllen, oder ob man erst abwarten solle, bis sie so weit
sind. Wir haben uns dann nach heftigen Diskussionen
dafür entschlossen, zu sagen: Auch wenn noch nicht alle
Kriterien erfüllt sind, wollen wir eine Aufnahme mit ganz
konkreten Verpflichtungen vornehmen. Wir werden die
Erfüllung dieser Verpflichtungen sehr sorgfältig beobach-
ten. Das war auch im Januar 1996 so, als Russland nach
heftigen Debatten aufgenommen wurde.

Nun haben wir erleben müssen, dass sich Russland als
Mitgliedsland des Europarates in Tschetschenien gravie-
render Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht
hat. Der Europarat hat deshalb in der letzten Woche nach
zehnstündiger Debatte beschlossen, wegen dieses Vorge-
hens Sanktionen zu verhängen. Wir haben bewusst davon
abgesehen, die russische Delegation völlig aus der Parla-
mentarischen Versammlung auszuschließen. Wir haben

uns auf eine Aussetzung des Stimmrechtes konzentriert, in
dem Wunsche, weiterhin im Dialog zu bleiben, um auf die
Entwicklung in Russland Einfluss zu nehmen. Die russi-
schen Kollegen haben das allerdings zum Anlass
genommen, auszuziehen und sich zunächst einmal zurück-
zuziehen. Die Duma hat an der Entscheidung des Europa-
rates Kritik geübt, hat aber gleichzeitig eine Beschluss-
empfehlung korrigiert, in der ein Rückzug aus dem Eu-
roparat ausdrücklich vorgesehen war, sodass weiterhin die
Hoffnung besteht, dass wir in enger Verbindung mit unse-
ren russischen Kollegen mithelfen können, die Entwick-
lung gerade im Nordkaukasus positiv zu beeinflussen.

Ich glaube, die Entscheidung des Europarates war
außerordentlich wichtig, ist er doch eine Organisation, in
deren Statuten der Menschenrechtsschutz ausdrücklich
verankert ist und die den Menschenrechtsschutz und die
Menschenrechte über alle anderen Interessen stellt. Inso-
weit war es das internationale Gremium, das ein Signal
setzen musste.

Wir haben für diesen Beschluss inzwischen Unterstüt-
zung aus den Reihen der Europäischen Union bekommen.
Das Ministerkomitee wird, wenn nicht sehr eindeutige po-
sitive Signale aus Moskau kommen, ein Verfahren zum
Ausschluss durchführen. Darüber hinaus haben wir
gleichzeitig die Mitgliedstaaten des Europarats aufgefor-
dert, eine Staatenklage vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte gegen Russland zu erheben.

Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt eingehen, der
in der letzten Woche eine Rolle gespielt hat. Wir haben
über die Ukraine diskutiert. In diesem Zusammenhang
will ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Beitritt
zum Europarat eine eindeutige Abkehr von der Todesstra-
fe bedeutet. Mit dem Protokoll 6 zur Europäischen Men-
schenrechtskonvention, die alle neuen Mitgliedstaaten
unterzeichnen müssen, ist die Verpflichtung
verbunden, die Todesstrafe abzuschaffen. Wir haben
einen bedeutsamen Erfolg erringen können. Die Ukra-
ine wird zum 1. Mai 2000 das Protokoll 6 der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention zur Abschaffung der
Todesstrafe beschließen.

Ein weiterer Punkt, der zur Hoffnung Anlass gibt, ist die
Tatsache, dass wir das Überwachungsverfahren für die
ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien beenden
konnten. Sie wissen, dass im Zusammenhang mit der Auf-
nahme solche Überwachungsverfahren durchgeführt wur-
den, die einmal dazu dienen sollten, diesen Staaten auf
dem Wege zur Rechtsstaatlichkeit und zur Demokratie be-
sondere Unterstützung zuteil kommen zu lassen, zum an-
deren aber auch dem Ziel dienen sollten, zu überprüfen, ob
die eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden.
Wir konnten mit Genugtuung feststellen, dass die ehema-
lige jugoslawische Republik Mazedonien dies getan hat.
Insofern konnte der Überwachungsprozess einge-
stellt werden. Man muss besonders hervorheben, dass
dieses Land den schwierigen Prozess hin zu Rechts-
staatlichkeit und Demokratie unter außerordentlich pro-
blematischen äußeren Umständen hat vollziehen müssen.
Während der Kosovo-Krise hat es eine Vielzahl von
Flüchtlingen gegeben, die die Einwohnerzahl Mazedoni-
ens überschritten hat. Ich nenne die positive Entwicklung
Mazedoniens beispielhaft; es wären auch andere Beispie-
le hervorzuheben.




Vizepräsident Rudolf Seiters
9334


(C)



(D)



(A)



(B)


Als Letztes möchte ich noch das ansprechen, was jetzt
in der Europäischen Union im Zusammenhang mit der
Grundrechtscharta diskutiert wird. Hier scheint sich ein
gewisser Interessenskonflikt zwischen der Menschen-
rechtskonvention und der Grundrechtscharta anzubahnen.
Dazu möchte ich nur darauf hinweisen, dass wir immer
den Standpunkt vertreten haben, dass die EG der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention beitreten sollte. Diesen
Standpunkt halten wir aufrecht, weil wir glauben, dass
auch eine Grundrechtscharta einen solchen Schritt nicht
überflüssig macht. Es geht vor allem darum, Bürger der
EU etwa vor Menschenrechtsverletzungen von Organen
der EU zu bewahren. Wir meinen, dass die Europäische
Menschenrechtskonvention und der Menschenrechtsge-
richtshof in Straßburg geeignete Mittel dafür wären. Dies
ist weiterhin unsere Forderung.

Darüber hinaus glauben wir, dass die Grundrechtschar-
ta auf den wesentlichen Elementen der Europäischen
Menschenrechtskonvention, aber auch etwa der erweiter-
ten Sozialcharta des Europarates aufbauen sollte. Ich wün-
sche mir in diesem Zusammenhang, dass die Bundesre-
gierung diese erweiterte Sozialcharta möglichst bald un-
terzeichnet und wir zu einer Ratifizierung kommen. Im
Übrigen schreibt auch der Vertrag von Amsterdam aus-
drücklich vor, dass die Europäische Menschenrechtskon-
vention die Grundlage für die Achtung der Grundrechte in
der Europäischen Union abgeben soll.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europarat hat sich
seit seiner Gründung vor allem den Menschenrechten ver-
schrieben, aber auch vielen anderen Bereichen, etwa dem
Minderheitenschutz und allen Formen von Diskriminie-
rung, seine Aufmerksamkeit gewidmet. Die Europäische
Menschenrechtskonvention ist das erste Rechtsinstrument
in diesem Bereich, das auf eine parlamentarische Initiati-
ve hin zustande gekommen ist. Sie ist, wenn man so will,
ein Meilenstein in der europäischen Rechtsgeschichte.
Man muss einfach noch einmal hervorheben, dass mit ihr
rund 770Millionen Bürgerinnen und Bürger in Europa die
Möglichkeit haben, gegen individuelle Menschenrechts-
verletzungen vor dem Gerichtshof in Straßburg zu klagen.
Das ist ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt.

Damit hat der Europarat insbesondere für die Länder
Mittel- und Osteuropas eine überragende Bedeutung er-
langt. Er wird diese Bedeutung auch weiterhin haben, ins-
besondere für die Staaten, die in Zukunft nicht der Eu-
ropäischen Union angehören werden. Ich wünschte mir,
dass der Europarat in Deutschland und auch in diesem
Hause ein wenig mehr Beachtung finden würde.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409923200
Der Kollege Klaus
Bühler spricht für die CDU/CSU-Fraktion.


Klaus Bühler (CDU):
Rede ID: ID1409923300
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann diese
Rede genauso wie die am 30. September des letzten Jahres
beginnen, als ich eingangs sagte: Diese Debatte unter-
scheidet sich wohltuend von vielen anderen Debatten, weil

es hier parteien- und fraktionsübergreifend einen großen
Konsens in der Sache gibt. – Das können wir auch heute
feststellen und das erfüllt uns mit Genugtuung.

Ich begrüße ferner, dass wir zum zweiten Mal in rela-
tiv kurzer Zeit eine Debatte über den Europarat haben. In
der parlamentarischen Geschichte der letzten 50 Jahre gab
es zwei solcher Debatten, nämlich im Jahre 1999 und jetzt
im Jahre 2000. Ich hoffe und wünsche, dass wir damit ei-
nen Neubeginn haben: dass die Befassung mit dem Euro-
parat – das hat auch der Kollege Behrendt angesprochen –
hier zu einer Tradition wird und dass gleichzeitig – hier
wende ich mich an den Staatsminister – das Instrument Eu-
roparat ein bisschen mehr als politisches Instrumentarium
von der Bundesregierung genutzt wird, so wie es andere
Länder in Europa seit langem und auch erfolgreich tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Geschichte des Europarats wurde schon von mei-

nem Vorredner angedeutet. Ich muss das nicht wiederho-
len. Aber ich möchte zwei oder drei Schwerpunkte in die
Debatte einbringen: Die Gründung des Europarates 1949
war auch der Beginn einer Politik in West- und Mitteleu-
ropa, die – das wird viel zu wenig zur Kenntnis genommen
– im positiven Sinne mit dafür verantwortlich ist, dass wir
in West- und Mitteleuropa die längste Friedenszeit gehabt
haben und noch immer haben, die es je auf diesem Konti-
nent gegeben hat. Das muss man erwähnen. Es hat mit der
deutsch-französischen Versöhnung begonnen. Das wurde
dann ausgeweitet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Eintrittskarte für die Mitgliedschaft im Europarat
ist die Unterzeichnung der europäischen Menschen-
rechtskonvention, die nach wie vor das Kernstück dieses
Gremiums ist und deren Bestimmungen – darauf wurde
bereits hingewiesen – für viele Millionen Einwohner in
Europa einklagbar sind, und zwar im Gegensatz zur Men-
schenrechtserklärung der Vereinten Nationen, deren Be-
stimmungen nicht einklagbar sind. Das bedeutet einen
Wert an sich, der vielen Bürgerinnen und Bürgern bei uns
und vielen Mitgliedern dieses Hauses – das möchte ich in
aller Deutlichkeit sagen – noch gar nicht so bewusst ist,
wie das normalerweise der Fall sein sollte.

Des Weiteren ist ein Monitoringverfahren eingeführt
worden, in dessen Rahmen alle 41Mitgliedstaaten des Eu-
roparats regelmäßig überprüft werden, ob sie die von ih-
nen eingegangenen Verpflichtungen auch einhalten. Um
ein kleines Missverständnis gleich auszuräumen: Das Mo-
nitoringverfahren ist nicht wegen der neuen Mitgliedstaa-
ten aus Ost- und Mittelosteuropa eingeführt worden; viel-
mehr gilt dieses Verfahren für alle 41 Mitgliedstaaten. Es
gilt genauso für die Bundesrepublik Deutschland, für
Frankreich, für England und für andere Staaten, die schon
lange dabei sind.

Der Kollege Behrendt hat das Thema „Tschetschenien
und Russland“ angesprochen. Lassen Sie mich dazu ein
sehr offenes Wort sagen: Bereits in der Januarsitzung des
Europarates ist über dieses Thema debattiert worden.
Schon damals wurden von meiner Fraktion Maßnahmen
gegen Russland gefordert.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hätte man tun sollen!)





Wolfgang Behrendt

9335


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will Folgendes sagen: Der Europarat hat damals ver-
sagt; denn im Januar wurde kein Beschluss gefasst. Es
wurde mehr oder weniger in der Diskussion lediglich zum
Ausdruck gebracht: Wir geben den Russen bis zum Beginn
der nächsten Sitzung am 3. April noch einmal eine Chan-
ce. Das hatte zur Folge – das mag jetzt hart klingen –, dass
der jetzige russische Präsident Putin – damals war er ge-
schäftsführender Präsident – seinen Wahlkampf ungestört
führen konnte. Welchen Wahlkampf er bis zum Wahltag
am 26. März geführt hat, muss ich diesem Hohen
Hause, glaube ich, nicht mehr in Erinnerung rufen. Es wä-
re also viel besser gewesen, lieber Herr Kollege
Behrendt, wenn wir bereits damals die harte Haltung ge-
genüber den Russen eingenommen hätten, die meine Frak-
tion gefordert hatte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Behrendt [SPD]: Dafür habe ich plädiert, Herr Kollege!)


– Ich weiß es. Aber der Europarat als Ganzes konnte sich
zu einer solchen Haltung nicht durchringen.

Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, um auch nur den An-
schein zu vermeiden, wir würden Unterschiede zwischen
großen und kleinen Staaten machen. Ich möchte jetzt kei-
ne Namen von Mitgliedstaaten des Europarates nennen.
Aber wir, die Delegationsmitglieder des Europarates, kön-
nen uns sehr gut vorstellen, dass man gegen gewisse Staa-
ten sehr schnell Sanktionen verhängt hätte, während man
– das ist auch weltweit ein Problem – gegenüber Staaten
wie Russland oder China aus Gründen, die ich jetzt gar
nicht näher nennen möchte, sehr leicht einknickt, wenn es
um die Frage der Menschenrechte geht. Deswegen muss
es unser Ziel sein, alle Staaten, ob groß oder klein, ob Welt-
macht oder nicht, an dem gleichen Maßstab zu messen und
für sie die gleichen Sanktionen vorzusehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Reaktion Russlands auf die Maßnahme des Euro-
parates war zunächst so, wie sie der Kollege Behrendt be-
schrieben hat. Aber es gibt ein interessantes Zitat, mit dem
sich eine andere Sichtweise belegen lässt.
Eine russische Zeitung schreibt, dass sich der Europarat
unglaubwürdig gemacht hätte, wenn er diese Maßnahmen
gegenüber Russland jetzt nicht ergriffen hätte.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Wer war denn das?)


– Dieses Zitat stammt aus der Zeitung „Sewodnja“. Es lau-
tet wörtlich:

Die Härte der europäischen Abgeordneten hat ihre
Ursache: Eine weitere Verschiebung des Beschlusses
zu Tschetschenien würde faktisch die Existenz des
Europarates sinnlos machen. Er würde sein Gesicht
verlieren, wenn er ein weiteres Mal zur Verletzung
der Menschenrechte schweigen würde.

Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen. Wir haben
innerhalb des Europarates alle Fragen, die die Menschen-
rechte angehen, diskutiert. Durch die Einsetzung des Men-

schenrechtsgerichtshofes haben wir gerade in den letzten
Jahren eine Reihe von großen Fortschritten erzielt.

Ich möchte hier die Gelegenheit wahrnehmen, Ihre
Aufmerksamkeit auf ein anderes europäisches Interessen-
gebiet zu lenken, das zwar weniger mit dem Europarat zu
tun hat, uns aber im Augenblick hautnah betrifft.

Die Mitglieder der Delegation, die den Deutschen Bun-
destag im Europarat vertritt, sind gleichzeitig Mitglieder
der Delegation unseres Hauses in der Westeuropäischen
Union. Die Westeuropäische Union hat die Absicht
geäußert, den von der EU gefassten Beschluss, nämlich ei-
ne eigene europäische Sicherheitspolitik entsprechend den
Petersberger Beschlüssen aufzubauen, zu begleiten. Wenn
man die Dramen der Jahre seit 1989/90 auf dem Balkan
betrachtet, dann muss man mit einer gewissen Scham zur
Kenntnis nehmen, dass die Europäer nicht in der Lage wa-
ren, ihr eigenes Haus in Ordnung zu halten.

Ich möchte es einmal etwas überspitzt formulieren – Sie
verstehen, wie ich das meine –: Der europäische Verteidi-
gungsminister saß in all dieser Zeit nicht in Europa, son-
dern in Washington. Um in der Zukunft zu gewährleisten,
dass schon im Vorfeld durch neue Maßnahmen einer ge-
meinsamen europäischen Sicherheitspolitik solche Tragö-
dien, wie wir sie auf dem Balkan erlebt haben, gar nicht
mehr möglich werden, sollten wir prophylaktisch an die-
se Angelegenheit herangehen. Herr Staatsminister, das
Parlament und die deutsche Regierung sollten der eu-
ropäischen Politik, die wir auf den Gipfeln von Helsinki
und Köln beschlossen haben, ihr Augenmerk etwas mehr
als bisher zuwenden.

Es gibt Bestrebungen der Europäischen Union, eine ei-
gene Menschenrechtscharta zu konzipieren und einen ei-
genen Menschenrechtsgerichtshof aufzubauen. Ich erin-
nere daran, dass alle 15 EU-Staaten gleichzeitig auch Mit-
glied im Europarat sind und dass das Kernstück des
Europarats – das wurde bereits erwähnt – der Menschen-
rechtsgerichtshof und gleichzeitig die Menschenrechts-
konvention sind.

Herr Staatsminister, deswegen möchte ich das wieder-
holen, was ich auch am 30. September gesagt habe: Wir
fordern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken,
dass die Europäische Union dieser Menschenrechtscharta
beitritt. Das ist ein alter Wunsch und ich bin der Auffas-
sung – ich bin mir darin mit vielen Kolleginnen und Kol-
legen aus unserer Delegation einig –, dass uns eine Zwei-
gleisigkeit der Menschenrechtspolitik und eine Zweiglei-
sigkeit der Europäischen Gerichtshöfe für die Zukunft
nichts bringen.

Wir haben heute die zweite Debatte zu diesem Thema
geführt. Ich bin darüber wirklich sehr erfreut und möchte
auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir es
vielleicht zu einer Tradition machen, einmal im Jahr über
die wichtigen Fragen des Europarates und anderer eu-
ropäischer Gremien zu sprechen. Wir haben einen Anfang
gemacht und wenn damit eine gute Tradition begonnen
werden könnte, dann hätte diese Debatte einen noch viel
besseren Sinn, nämlich eine Perspektive für die Zukunft.

Vielen Dank.




Klaus Bühler (Bruchsal)

9336


(C)



(D)



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(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409923400
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Dr. Helmut
Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409923500
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Vorhin kam die
Nachricht, dass Putin die OSZE-Delegation aufgefordert
habe, nach Tschetschenien zurückzukehren.


(Zuruf von der SPD: Aufgefordert? Erlaubt!)

– Na ja, das sind schwierige Sicherheitsfragen, die dahin-
ter stehen. Das ist nicht so einfach „Es ist erlaubt und dann
gehen wir einmal.“
Ich möchte eine Bemerkung zu der Vielfalt europäischer
Institutionen machen. Es ist ganz klar, dass der Europarat
eine vorzügliche Rolle spielen konnte, als die OSZE in
Moskau saß und als gewissermaßen innerhalb der OSZE
Polarisierungen einsetzten, weil Russland da ja ein größe-
res Lager haben kann.

Wenn wir vom Europarat sprechen, dann müssen wir
auch darüber sprechen, dass sich in unseren Köpfen drei
verschiedene Europabilder festgesetzt haben: einmal EU-
Europa, das sich nun nach Osten erweitert, das aber ge-
wisse Probleme mit sich bringt, weil die Frage, wo die
Grenzen Europas sind, auch Ausgrenzungen mit sich brin-
gen kann, wenn sie nicht richtig behandelt wird.

Das Problem der Europacharta ist hier angesprochen.
Ich mache nur noch eine kurze Bemerkung dazu: In
Russland gibt es zurzeit mehrere Tausend Kriegsdienst-
verweigerer. Es gibt eine Verfassungsgarantie für Kriegs-
dienstverweigerung in der russischen Verfassung, es gibt
aber kein Ausführungsgesetz für Ersatzdienst. Das bedeu-
tet, die ersten Verweigerer sitzen schon im Gefängnis und
weitere werden folgen.

Für Russland, also für den Teil Europas, der außerhalb
der EU und außerhalb der EU-Grundrechtscharta bleiben
wird, wird der Europäische Gerichtshof fürMenschen-
rechte immer wichtiger werden. Das ist eine sehr drin-
gende Berufungsinstanz, mit der man aus den nationalen
Grenzen herauskommt.

Auf der anderen Seite gilt: Wenn er hier für westlichen
Grundrechtsschutz gewissermaßen nur die dritte Instanz
wird, die man nicht mehr unbedingt braucht, weil man
schon zwei zur Verfügung hat, dann tritt in der Tat in die-
sem Rechtsraum eine Ungleichheit ein. Das ist etwas sehr
Bedauerliches. Deshalb unterstütze ich auch sehr den Weg,
die EU nun endlich als Rechtspersönlichkeit zu konstitu-
ieren und dann der Menschenrechtskonvention beizutre-
ten. – Das ist die erste Bemerkung gewesen.

Die zweite Bemerkung: Wenn jetzt die OSZE wieder
aktiv sein kann, weil der Europarat einen Beschluss
gefasst hat, der wehtut – vorher war es eher umgekehrt –,
dann halte ich dieses Spiel verschiedener Institutionen für
ein gutes Zeichen für die Vielfalt Europas.

Im Augenblick erleben wir eine gewisse Polemik in den
Zeitungen, in der einerseits darauf hingewiesen wird,
welch hervorragenden Beschluss der Europarat gefasst
hat, der ihn ja an den Ministerrat weitergibt. Andererseits
gibt es aber offensichtlich ein sehr dubioses Verhalten in-
nerhalb der Kommission für Menschenrechte der UN. Es
heißt, dort habe man an einer „toughen“ Resolution nur
halbherzig mitgearbeitet, da man eine mildere Fassung im
Auge gehabt habe.

Ich glaube, wer solche Kritik, die man ja in den Zei-
tungen immer wieder lesen kann, äußert, versteht den Un-
terschied zwischen Resolution und Chairman-Statement
wirklich nicht. Das Chairman-Statement ist etwas, worauf
man hinarbeiten kann, weil es der Betroffene
ja mitträgt. Chairman-Statement bedeutet letztlich – so
glaube ich –, Russland auf den Weg zur politischen
Lösung zu ziehen. Es bedeutet also eine Tat. Natürlich ber-
gen sehr wichtige Beschlüsse und Resolutionen immer die
Gefahr in sich, den anderen in die Selbstisolierung zu trei-
ben. Insofern denke ich, dass ein zum jetzigen Zeitpunkt
gefasster Beschluss – es liegt vielleicht auch an der Jah-
reszeit – eine stärkere Wirkung haben könnte, als wenn er
im Januar gefasst worden wäre.

Natürlich hat Russland Probleme; wir hoffen aber, dass
der Ministerrat den Beschluss sehr klug umsetzt und wir
das erreichen, was wir eigentlich wollen. Wir wollen näm-
lich Russland nicht nur massiv anprangern, sondern es vor
allem endlich dazu bewegen, den ersten Schritt auf dem
Weg zu einer politischen Lösung zu gehen und damit zu
Verhandlungen, um diesen Krieg beizulegen. Je eher
Russland begreift, dass es sich dazu auch europäischer
Hilfe bedienen darf und kann, umso besser ist es für ein ge-
meinsames Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Klaus Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409923600
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1409923700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Eu-
roparat verdient als Hüter von Menschenrechten, Rechts-
staatlichkeit und Demokratie zu Recht das Lob und die
Unterstützung aller im Bundestag vertretenen Fraktionen.

Es ist auch gut, dass die Instrumente des Europarates in
den letzten Jahren immer weiter verbessert worden sind.
Gerade heute war ja zu hören, dass das Antifolterkomitee
des Europarates im Rahmen einer nicht angekündigten
Kontrolle schwere Verstöße eines Mitgliedstaates der Eu-
ropäischen Union und des Europarates festgestellt hat,
nämlich Verstöße bei der Behandlung von Strafgefange-
nen in Spanien. Ich glaube, dass gerade durch diese Kon-
trollinstrumente des Europarates die Öffentlichkeit und
damit das Bewusstsein in Europa und auch in der Eu-
ropäischen Union für die Achtung und Einhaltung der ein-
gegangenen Verpflichtungen sensibilisiert wird. Damit
kommt es zu dem unangenehmen Druck, sich öffentlich
rechtfertigen zu müssen und vor allen Dingen – was viel




Klaus Bühler (Bruchsal)


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(C)



(D)



(A)



(B)


wichtiger ist –, diese Menschenrechtsverletzungen auch
abzustellen.

Ich teile nicht die Bedenken, die bei meinen Vorrednern
hinsichtlich der Ausarbeitung der europäischen Grund-
rechtecharta aufgrund des Spannungsfeldes mit der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention und einer mögli-
chen Bedeutungsminderung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte in Straßburg angeklungen sind.
Zum einen kommt der Europäischen Menschen-
rechtskonvention wieder eine Motorfunktion zu, da die
Europäische Union sich ja in der bizarren Situation befin-
det, dass sie jetzt eine Grundrechtscharta erarbeitet, die
auch die europäischen Organe bindet. Das hatten wir in der
Form bisher nicht. Art. 6 des Vertrages von Amsterdam
enthält nur eine sehr allgemeine Formulierung, wonach
diese Rechte geachtet werden sollen, das alles aber doch
sehr der nationalen Rechtsprechung zuordnet. Von daher
sehe ich in der Erarbeitung der europäischen Grundrechte-
charta eine Riesenchance für die Europäische Union.
Ich sehe überhaupt kein Chaos von Institutionen ent-

stehen. Vielmehr wird es unterschiedliche Wirkungskrei-
se mit entsprechenden Rechtsschutzverfahren geben.
Das ist wirklich gut und wichtig. Mangels einer
Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union und auf-
grund der juristischen Streitigkeiten, die seit Jahren darü-
ber bestehen, sehe ich auch nicht, dass in absehbarer Zeit
ein Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen
Menschenrechtskonvention erfolgt. Von daher brauchen
wir dringend die EU-Grundrechtecharta. Es ist ja auch ge-
rade von Ihnen, Herr Lippelt und Herr Bühler, gesagt wor-
den, wie wichtig für viele Staaten, die nicht Mitglied der
Europäischen Union sind, die Möglichkeit ist, Straßburg
anzurufen.

Natürlich muss auch die Rolle Russlands in Tsche-
tschenien, wo völkerrechtliche Konventionen und wohl
auch die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt
werden, heute, wo wir das Jubiläum 50 Jahre Europarat
und europäischen Menschenrechtsschutz begehen, er-
wähnt werden.

Auch wenn es mit Verzögerung erfolgte, finde ich es
gut, dass es gerade der Europarat war, der nicht nur un-
missverständlich die Menschenrechtsverletzungen festge-
stellt hat – spät, aber doch in einer sehr klaren Form –, der
auch klare Konsequenzen aufgezeigt hat, die vielleicht
jetzt schon zu ersten Reaktionen vonseiten der russischen
Regierung führen. Es wird hoffentlich auf der Sitzung der
Menschenrechtskommission in Genf nicht von dem abge-
wichen, was gerade vom Europarat in Bewegung gesetzt
worden ist.

Ich sage zum Schluss ganz offen und ehrlich – dreiein-
halb Minuten Redezeit sind halt ein bisschen wenig für
50 Jahre Europarat und europäischen Menschenrechts-
schutz –: Ich hätte mir schon gewünscht, dass schon sehr
viel früher die Verstöße gegen die internationalen Kon-
ventionen auch in Deutschland von der Bundesregierung
gerügt worden wären und entsprechende Reaktionen nicht
schon von vornherein zu Beginn des Jahres ausgeschlos-
sen worden wären. Diese Reaktion ist überhaupt keine
Form von Sanktion, auch nicht die, die im Europarat un-
ter aller Abwägung in Betracht gezogen worden ist.

Ich bedanke mich für Ihre dreieinhalbminütige Auf-
merksamkeit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409923800
Es war sogar eine
viereinhalbminütige Aufmerksamkeit, Frau Kollegin.


(Heiterkeit)

Nun gebe ich das Wort für die Fraktion der PDS dem

Kollegen Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409923900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da ich noch eine halbe Minu-
te weniger Redezeit als meine Kollegin habe, bitte ich um
Nachsicht.

Ich will zunächst einmal sagen – ich will mich ange-
sichts der Kürze der Zeit nicht allzu lange an diesem Punkt
aufhalten –, dass die Würdigung des Europarates, die
Wertschätzung der Menschenrechtskonvention und die
Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an einer Grundrechte-
charta fraktionsübergreifend geschehen soll.


(Beifall bei der PDS)

Aber was die aktuelle Politik angeht, bin ich mit Blick auf
Russland zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen.
Das will ich Ihnen vortragen.

Ich halte sowohl den Entzug des Stimmrechtes für die
russischen Delegierten in der Parlamentarischen Ver-
sammlung als auch erst recht den Antrag auf Ausschluss
Russlands, über den ja das Ministerkomitee entscheiden
muss, für kontraproduktiv. Ich habe mehrmals im Parla-
ment zum Tschetschenienkrieg gesprochen. Meine Frak-
tion hat nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öf-
fentlichkeit immer Position gegen diesen Krieg bezogen.
Wir haben auf die Völkerrechtsverletzungen aufmerksam
gemacht. Aber ich glaube, dass dieser Schritt in Russland
die Debatte über einen Ausstieg aus dem Krieg nicht
befördert, sondern – ganz im Gegenteil – zu einer Verhär-
tung der Position beitragen wird.

Ich sehe keinen anderen Weg als den, im Europarat wie
auch außerhalb des Europarates den zähen Dialog des Un-
ter-Druck-Setzens und der Kontroverse von Angesicht zu
Angesicht fortzusetzen, weil ein Ausschluss und damit ein
Abbruch des Dialoges die Situation nicht verbessert, son-
dern verschlechtert. Deswegen richte ich die Bitte an den
Herrn Staatsminister, dass Deutschland im Ministerkomi-
tee den Ausschluss Russlands nicht mitträgt, auch wenn
der Außenminister in der Presse eine solche Entscheidung
als angemessen bezeichnet hat.

Ich will Sie auf ein zweites Problem aufmerksam ma-
chen und bitte Sie diesen Punkt mit zu erwägen. In einer
solchen Situation wie dem Tschetschenienkrieg darf man
keine doppeldeutigen Signale geben: auf der einen Seite
Ausschluss aus dem Europarat mit Zustimmung des
Außenministers und auf der anderen Seite eine Reise des
Verteidigungsministers nach Russland zu einem Zeit-
punkt, zu dem Grosny verwüstet worden ist, um eine wei-




Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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(C)



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(A)



(B)


tere und engere militärische Zusammenarbeit zu verein-
baren. Jetzt liest man, dass der BND-Präsident in Tschet-
schenien war. Das passt nicht zusammen; das ist dop-
peldeutig und kann in Russland nur falsch verstanden
werden.


(Beifall bei der PDS)

Ich finde, wir brauchen eine geradlinige und eindeuti-

ge Politik: Ablehnung des Krieges, weitere Bereitschaft
zum Dialog und Einbindung Russlands in Europa. Das ist
zumindest die Politik meiner Fraktion.


(Beifall bei der PDS)

Gestatten Sie mir noch zum Schluss, mich mit einer Bit-

te an die Kolleginnen und Kollegen des Hauses zu wen-
den. Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in dem wir
uns dafür einsetzen, die Todesstrafe gegen einen farbigen
amerikanischen Bürgerrechtler, Mumia Abu-Jamal, nicht
zu vollstrecken. Wir bitten das Haus aus Gründen der
Menschenrechte und der Humanität, auch gegenüber den
USA deutlich zu machen, dass wir Gegner der Todesstra-
fe sind und dass wir eine Vollstreckung der Todesstrafe
nicht wollen.


(Beifall bei der PDS)

Ich bitte Sie wirklich aus ganzem Herzen: Lassen Sie

uns bei dieser Entscheidung, bei diesem Entschließungs-
antrag über die fraktionellen Grenzen springen. Vielleicht
stimmen Sie diesem Antrag zu. Ich bitte Sie darum. Ich
glaube, das hat einen Sinn.

Haben Sie herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409924000
Das Wort hat nun der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Christoph Zöpel.

D
Dr. Christoph Zöpel (SPD):
Rede ID: ID1409924100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Gründungsstunde des Europarats war
die Konsequenz des bisher grausamsten Scheiterns Euro-
pas bei der Verwirklichung seiner Werte, der Werte der
Aufklärung. Bevor wir andere kritisieren, macht es durch-
aus Sinn, festzuhalten, wo sie gescheitert sind: bis 1945 in
ganz Deutschland durch die grausamste Form der Ab-
wendung von der Aufklärung, die seit Kant festzustellen
war, und bis 1989 in einem Teil Deutschlands, bis wenige
hundert Meter hinter diesem Gebäude, ebenfalls durch
eklatante Verletzung der Werte der Aufklärung. Das in
Deutschland festzuhalten, halte ich auch in dieser Stunde
für notwendig.

Seitdem ist der Europarat ein hocheffizientes Instru-
ment zur Realisierung der Werte der Aufklärung, der All-
gemeinheit der Menschenrechte und der Idee von Kant,
Krieg nach und nach durch einen Bund von Staaten welt-
weit zu verhindern.

Bei dem ersten Ziel sind wir weitergekommen. In West-
europa gelten die Menschenrechte. Seitdem – darauf soll-
ten wir alle verpflichtet sein – ist der Europarat in der Tat
am besten geeignet, einen Teil von Europäizität zu prüfen,

und zwar die erste Voraussetzung dafür, zur europäischen
Staatengemeinschaft gehören zu können, nämlich die Rea-
lisierung der europäischen Menschenrechtskonvention.

Diese Prüfung nimmt der Europarat gegenüber Russ-
land vor, und diese Prüfung nimmt er gegenüber der Tür-
kei vor. Es macht sehr viel Sinn, bei der positiven Beant-
wortung der Frage die gleichen Konsequenzen zu ziehen
wie bei der negativen. Im Augenblick kann man weder bei
Russland noch bei der Türkei feststellen, dass sie den Kri-
terien des Europarats entsprechen. Deshalb sind derzeit
beide keine Europäer im Sinne unserer Wertegemein-
schaft.

Damit bin ich bei der Russland-Resolution. Die Ent-
scheidung der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parats hat – das ist wesentlich für die politische Diskussi-
onskultur – deutlich gemacht, wo Europa handeln kann
und – das muss man davon abgrenzen – wo nicht. Der Be-
schluss hat deutlich gemacht, dass wir Russland sagen
können und müssen: Bei den Menschenrechten handelt ihr
nicht als Europäer.

Andererseits wird man in dem Zusammenhang aber
auch festhalten müssen – ich habe das hier schon einmal
gesagt –, dass der Tschetschenienkrieg seitens Deutsch-
land nicht mit militärischen Mitteln beendet werden kann
– das muss man sich klarmachen, wenn man gefragt wird,
was man tut – und dass es dabei bleibt, dass es bei einem
Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, das über Atomwaffen
verfügt, wie zu Zeiten Breschnews keine Alternative zum
Ringen um Abrüstung gibt, um Gefahren von Westeuropa
abzuwenden. Das ist keine Inkonsequenz hinsichtlich des
anderen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte die Diskussion über Blindheit für falsch. In-
tellektuelle Beobachter, die Europa Blindheit gegenüber
Russland vorgeworfen haben, können dies nach dem Be-
schluss der Parlamentarischen Versammlung nicht mehr
tun.

Eine zweite Bemerkung. Der Europarat zeigt in seiner
Arbeit, dass internationale Politik mehr ist als Diplomatie.
Das verdanken wir den Mitgliedern der Parlamentarischen
Versammlung. Mit diesem Beschluss ist auch recht deut-
lich gemacht worden, wo Unterschiede im außenpoliti-
schen Handeln liegen und dass die Parlamentarische Ver-
sammlung am klarsten formulieren konnte, wo die Gren-
zen und die Anforderungen an Europäizität liegen.

Dass damit für die nächste Sitzung des Ministerrats ei-
ne deutliche Aufforderung gegeben ist, ist klar. Ich will
hinzufügen: Ich will alles dafür tun, dass sehr gründlich
beobachtet wird, was Russland jetzt auf diesem Gebiet tut,
und dass gegebenenfalls Konsequenzen auch auf der Ebe-
ne der Minister zu treffen sind, wenn sie im Mai zusam-
menkommen. Das ist eine nach dieser Vorgabe klare Not-
wendigkeit.

Ich will auch nicht hintanstellen, dass die auswärtige
Politik der Bundesrepublik Deutschland in ihrer auch po-
sitiven Kontinuität den Europarat in der Vergangenheit




Wolfgang Gehrcke

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(A)



(B)


und in der Gegenwart nicht als Schwerpunkt der Agenda
behandelt. Es macht Sinn, das zu ändern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Die entsprechende Aufforderung nehme ich persönlich
sehr ernst.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich hoffe, das wird Wirkungen haben.
Ich stimme auch zu, dass es sehr viel Sinn macht, bei

der Frage der Neuformierung der europäischen Sicher-
heitspolitik sehr klar zu prüfen, wo deren parlamentarische
Kontrolle effektiv liegen kann, wenn sie sozusagen nicht
ganz eindeutig zugeordnet wird. Ich hoffe, dass die Eu-
ropäische Union, wenn sie sich eine eigene Verfassung mit
Grundrechten gibt, keine Konkurrenz zum Europarat wird.
Aber solange nicht alle Mitglieder der Europäischen Uni-
on sind oder es werden wollen, macht es auch Sinn, zu fra-
gen, ob sich diese nicht in Form eines Beitritts zu den
Menschenrechten am Europarat beteiligt. Da die Regie-
rungskonferenz inhaltlich noch aufgewertet werden wird,
macht es Sinn, darüber zu diskutieren.

An dieser Stelle deshalb diese Bemerkungen: Der Re-
spekt der Regierung vor dem Europarat ist in ganz hohem
Maße der Respekt der Regierung vor den Parlamentariern
des Europarats, die Maßnahmen internationaler Politik für
Europa und auch Deutschland ergreifen, die gerade in Be-
zug auf die Entscheidung zu Russland unverzichtbar ge-
worden sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409924200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zu der Abstimmung über die Beschlus-
sempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. mit dem Titel „50 Jah-
re Europarat: 50 Jahre europäischer Menschen
rechtsschutz“, Drucksache 14/2209 (neu). Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1568 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.

Die Vorlage auf Drucksache 14/3196 soll zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrech-
te und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu an-
dere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten

Fred Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke-
Reymann weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den

Tag des Gedenkens an die Befreiung vom National-
sozialismus

– Drucksache 14/1002 –

(Erste Beratung 69. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/2901 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Martin Hohmann
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Die Kolleginnen und Kollegen Gisela Schröter, Martin
Hohmann, Volker Beck und Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
geben ihre Reden zu Protokoll.*)

Die antragstellende Fraktion, PDS, erbittet einen Re-
debeitrag für Professor Dr. Heinrich Fink. Ich gebe ihm
das Wort.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1409924300
Verehrter Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Die Gedenktage eines Volkes
spiegeln das Verhältnis zur eigenen Geschichte wider.
Das für Deutschland und Europa rettende Datum, der
8. Mai 1945, an dem die bedingungslose Kapitulation der
faschistischen Machthaber Deutschlands gegenüber den
Armeen der Anti-Hitler-Koalition besiegelt wurde, ist im-
mer noch kein nationaler Erinnerungstag im wiederverei-
nigten Kalender.

In Frankreich, den Niederlanden, Polen, Griechenland
und in anderen Ländern Europas, die im Namen der deut-
schen Herrenrasse im Zweiten Weltkrieg okkupiert und
geplündert worden waren, begehen die Menschen seit
Jahrzehnten in festlichem Gedenken das Datum ihrer Be-
freiung vom deutschen Besatzungsjoch. Die europaweit in
ihre Heimatländer zurückgekehrten Zwangsarbeiter
brachten den 8. Mai als persönlichen Rettungstag mit, der
aber nicht zum gesamtdeutschen Bußtag wurde.

Millionen von ihnen haben es nicht mehr erlebt, dass
nun endlich in Deutschland eine kleine finanzielle Ent-
schädigung für die Zwangsarbeit aufgebracht worden
ist. Es wird höchste Zeit, dass das wiedervereinigte
Deutschland den 8. Mai 1945 als Datum seiner Befreiung
von der selbst gewählten Barbarei im öffentlichen Be-
wusstsein auch kommender Generationen verankert.

Es ist zwar wichtig, dass am 27. Januar all der Opfer des
Naziregimes gedacht wird, die in den unmenschlichen Va-
rianten von politischer Verfolgung, Rassenmord,
Euthanasie, Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrati-
onslagern und Ermordung von Deserteuren und Geiseler-
schießungen ums Leben gebracht wurden.
Der 8. Mai dagegen ist der Tag der Überlebenden, der Tag
der Erschütterung. Von vielen zwar als Schande und
Demütigung jahrelang nicht verkraftet, war es für
Deutschland aber der Tag derBefreiung von Krieg, Bom-
bennächten und Naziterror.


(Beifall bei der PDS)





Dr. Christoph Zöpel
9340


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(A)



(B)


Besitzergreifende Lieder der Hitlerjugend und des deut-
schen Militärs wie „Heute gehört uns Deutschland und
morgen die ganze Welt“ mussten mühsam verlernt wer-
den. Der 8. Mai 1945 steht für den großen widersprüchli-
chen Umlernprozess der Deutschen auf dem Weg zurück
in die europäische Völkergemeinschaft. Das Opfergeden-
ken am Tag der Stilllegung der Menschenvernich-
tungsfabrik Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Ja-
nuar und der 8. Mai 1945 als Erinnerung an das sehr un-
terschiedlich bewertete Ende von Faschismus und Krieg
als für viele unfassbarer Zusammenbruch, unerwartete
Niederlage oder so lange erhoffte Befreiung müssen im-
mer wieder neu durchdacht werden. Nur aus lebendigem
Erinnern erwachsen die Kräfte, mit denen neu erstehenden
Naziumtrieben widerstanden werden kann.


(Beifall bei der PDS)

Eine demokratische Regierung sollte es als historische

Pflicht ansehen, den Gedenktag 8. Mai bewusst als parla-
mentarisches Engagement zu begehen und als Datum der
Wiedergeburt der Demokratie zu schützen – auch ange-
sichts blutiger neonazistischer Attacken gegen In- und
Ausländer. Den neuen Naziopfern kann der 8. Mai wohl
eher als der 27. Januar als Tag der Totenehrung dienen;
denn er wäre ein selbstkritisch verpflichtendes Datum, da-
mit demokratische Mitmenschlichkeit nicht aufs Neue vor
Menschen kapituliert, die sich als Herrenrasse berufen
fühlen und in bedenklicher Umdeutung der jüngsten Ge-
schichte sowohl von „Auschwitzlüge“ als auch von der
„Ehre der deutschen Helden des Zweiten Weltkrieges“ zu
reden wissen.

Gedenktage sind unentbehrliche Lernzeichen nach in-
nen. Angesichts der gemeinsam zu gestaltenden Zukunft
Europas sollten wir als Deutsche endlich europaöffentlich
zum 8. Mai als Tag der Befreiung stehen.


(Beifall bei der PDS)

Damit folgen wir dem Vermächtnis der Anti-Hitler-Koali-
tion und aller noch unter uns lebenden Widerstandskämp-
fer.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409924400
Herr Kollege Fink,
Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1409924500
Deshalb bitte ich Sie um Ih-
rer Kinder und Enkelkinder willen, die Erinnerung wach
zu halten, damit sich an ihr Verantwortung für die Zukunft
entwickeln kann. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der
PDS zuzustimmen und den 8. Mai als Tag des Gedenkens
an die Befreiung vom Nationalsozialismus in Deutschland
einzuführen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409924600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zu einem Tag des Gedenkens an die
Befreiung vom Nationalsozialismus auf Drucksache

14/1002. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/2901, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über
den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/1002 ab-
stimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Fernabsatzverträge und andere Fragen
des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung
von Vorschriften auf Euro
– Drucksachen 14/2658, 14/2920 –

(Erste Beratung 87. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses

(6. Ausschuss)

– Drucksache 14/3195 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Alfred Hartenbach
Dirk Manzewski
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke

Die Kolleginnen und Kollegen Dirk Manzewski, Prof.
Dr. Susanne Tiemann, Volker Beck, Rainer Funke, Rolf
Kutzmutz und Prof. Dr. Eckhart Pick geben ihre Reden zu
Protokoll.*)

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu einem
Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des
Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften
auf Euro, Drucksachen 14/2658 und 14/3195. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-




Dr. Heinrich Fink

9341


(C)



(D)



(A)



(B)


*) Anlage 5

schaft und Forsten (10. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Schutz derBewirtschaftung derTropenwälder –
6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung
– Drucksachen 14/1340, 14/2703 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Deß

Die Kolleginnen und Kollegen Christel Deichmann,
Cajus Caesar, Dr. Angelika Köster-Loßack, Ulrich
Heinrich, Carsten Hübner und der Parlamentarische Staatsse-
kretär Gerald Thalheim geben ihre Reden zu Protokoll.1)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zum 6. Tropenwaldbericht der Bundesregie-
rung, Drucksache 14/2703. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Bericht
auf Drucksache 14/1340 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS
angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Ent-
schließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der PDS angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Horst Seehofer, Max Straubinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Neue Belastungen für ehrenamtlich Tätige
zurücknehmen
– Drucksache 14/2989 –

Die Kolleginnen und Kollegen Peter Dreßen, Johannes
Singhammer, Max Straubinger2), Dr. Thea Dückert,
Gerhard Schüßler und Dr. Klaus Grehn geben ihre Reden
zu Protokoll3).

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2989 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 14. April 2000, 9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.