Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000
Vizepräsident Rudolf Seiters
9342
(C)
(D)
(A)
(B) 2) Der Redebeitrag wird aus technischen Gründen als Anlage zum
Stenographischen Bericht der 100. Sitzung abgedruckt
3) Anlage 7
1) Anlage 6
Berichtigung
97. Sitzung, Seite 9072 D, der letzte Absatz ist wie folgt zu lesen: „Auf die Ratifizierung und praktische
Umsetzung der von Peking bereits unterzeichneten UN-Menschenrechtspakte ist deshalb seitens der Bun-
desregierung und der EU mit Nachdruck hinzuwirken.“
97. Sitzung, Seite 9073 D, die Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Volker Kröning (SPD) ist wie
folgt zu lesen: „Ich lehne den Antrag nach einer Abwägung zwischen ästhetischem Urteil und Spielregeln
des Parlaments ab: Auch wenn ich das Projekt weder dem Titel, noch der Ausführung, noch der Begrün-
dung nach für gelungen halte, bin ich dafür, dass kein (weiteres) Präjudiz für eine Zensur von Kunst durch
den Deutschen Bundestag geschaffen wird. Dies braucht nicht die Absicht zu sein, wäre indessen die
Wirkung.“
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9343
(C)
(D)
(A)
(B)
Adam, Ulrich CDU/CSU 13.04.2000
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 13.04.2000
Marieluise DIE GRÜNEN
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13.04.2000**
Bohl, Friedrich CDU/CSU 13.04.2000
Brinkmann (Detmold), SPD 13.04.2000
Rainer
Dr. Eckardt, Peter SPD 13.04.2000
Eichhorn, Maria CDU/CSU 13.04.2000
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 13.04.2000
Frick, Gisela F.D.P. 13.04.2000
Friedrich (Altenburg), SPD 13.04.2000
Peter
Gebhardt, Fred PDS 13.04.2000
Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 13.04.2000
Haack (Extertal), SPD 13.04.2000*
Karl-Hermann
Hinsken, Ernst CDU/CSU 13.04.2000
Ibrügger, Lothar SPD 13.04.2000
Imhof, Barbara SPD 13.04.2000
Irmer, Ulrich F.D.P. 13.04.2000**
Jünger, Sabine PDS 13.04.2000
Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 13.04.2000
Koppelin, Jürgen F.D.P. 13.04.2000
Kors, Eva-Maria CDU/CSU 13.04.2000
Kossendey, Thomas CDU/CSU 13.04.2000**
Leidinger, Robert SPD 13.04.2000
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13.04.2000
Erich
Dr. Meyer (Ulm), SPD 13.04.2000
Jürgen
Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 13.04.2000
Müller (Berlin), PDS 13.04.2000
Manfred
Ohl, Eckhard SPD 13.04.2000
Dr. Pfaff, Martin SPD 13.04.2000
Pflug, Johannes SPD 13.04.2000
Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 13.04.2000
DIE GRÜNEN
Raidel, Hans CDU/CSU 13.04.2000**
Rauber, Helmut CDU/CSU 13.04.2000**
Dr. Rexrodt, Günter F.D.P. 13.04.2000
Scharping, Rudolf SPD 13.04.2000
Schmidt (Fürth), CDU/CSU 13.04.2000
Christian
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 13.04.2000
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 13.04.2000
Simm, Erika SPD 13.04.2000
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 13.04.2000
Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 13.04.2000
Zapf, Uta SPD 13.04.2000
* für die Teilnahme an Sitzung der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates
** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlungder OSZE
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Rolf Stöckel (SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Staatsziel Tierschutz) (Tagesordnungspunkt 16)
Ich stimme dem Gesetzentwurf der SPD und Bündnis 90/
Die Grünen zu, obwohl ich
1. die Verankerung von subjektiven Rechten minder-
jähriger Kinder in der Verfassung für vorrangig halte und
ich
2. den Begriff „Mitgeschöpf“ nur als umgangssprach-
lichen Ausdruck akzeptiere und für mich damit keine
Anerkennung der christlich-religiösen Schöpfungsge-
schichte und Ablehnung der wissenschaftlichen Evoluti-
onstheorie verbunden ist.
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Ta-
gesordnungspunkt 9)
Renate Rennebach (SPD): Die Diskussion um die
Altersteilzeit in den letzten Monaten zeigt, dass es sich um
ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit handelt. Aus diesem Grunde haben wir Ende letz-
ten Jahres die Regelung von 1996 den Bedingungen des
Arbeitsmarktes angepasst, indem wir Zugangsmöglich-
keiten für Teilzeitbeschäftigte ermöglicht und das Verfah-
ren vereinfacht haben.
Es ist heute zweifellos noch zu früh, die Beschäfti-
gungseffekte verlässlich zu benennen. Eines bleibt jedoch
festzuhalten: Die Altersteilzeit gewinnt zunehmend an
Akzeptanz. Das ist auch Sinn der Übung, denn nur da-
durch können wir eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt
erreichen. Die Tatsache, dass Altersteilzeit in 350 Tarif-
verträgen festgeschrieben ist, belegt, dass wir auf einem
guten Weg sind: Altersteilzeit hat sich als grundlegendes
Element moderner Arbeitsmarktpolitik etabliert. Alters-
teilzeit wird von Arbeitgebern und Gewerkschaften als
Mittel zum Generationswechsel in den Betrieben aner-
kannt. Altersteilzeit ist ein wichtiges Instrument der Per-
sonalplanung und macht sich für die Unternehmen letzt-
lich bezahlt. Altersteilzeit ist – zusammen genommen –
eine Chance für mehr Beschäftigung.
Die jüngsten Tarifabschlüsse bestätigen dies. In der
Metall- und Elektroindustrie können die Beschäftigten
nun bereits mit 57 Jahren in Altersteilzeit gehen. Das be-
deutet für diese Branche, dass in den nächsten Jahren rund
370 000 Arbeitnehmer vom gleitenden Ruhestand profi-
tieren können. Gleichzeitig wurden maßvolle Regelungen
getroffen, die sicherstellen, dass die Betriebe nicht zu viel
Fachkräfte verlieren. In der Chemieindustrie zeigen die
jüngst veröffentlichten Umfragen des Bundesarbeitgeber-
verbandes Chemie, dass mehr als 26 000 Arbeitnehmer
tarifvertraglich geregelte Altersteilzeit in Anspruch neh-
men. Danach haben sich 4,2 Prozent der insgesamt
610 000 Beschäftigten der Branche für den gleitenden
Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand entschie-
den. Es setzt sich zudem die Erkenntnis durch, dass ge-
rade mittelständische Unternehmen in der Altersteilzeit
ein modernes Mittel der Personalpolitik sehen, um den
strukturellen Wandel in der Wirtschaft und Arbeitswelt zu
bewältigen.
Fazit: Es weht ein neuer Wind in unserem Land. Die
Koalition hat mit der Fortentwicklung der Altersteilzeit
ein neues Denken in Gang gebracht und dem Grundge-
danken, eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und
Alt zu schaffen, neuen Schwung verliehen. Und das, ob-
wohl das Modell der Altersteilzeit vor ein paar Jahren noch
in der Versenkung zu versinken drohte, weil es von Blüm
und Co nicht energisch, nicht mutig und nicht konsequent
genug vertreten wurde. Heute dagegen können wir auf
eine Vielfalt von Altersteilzeitregelungen und betriebli-
cher Altersvorsorge blicken, die mir Anlass zu Hoffnung
und Optimismus gibt.
Heute hat die Koalition ein zweites Gesetz zur Fortent-
wicklung der Altersteilzeit vorgelegt. Warum? Im Bünd-
nis für Arbeit sind wir gemeinsam mit Arbeitgebern und
Gewerkschaften zu dem Ergebnis gekommen, dass wir die
Altersteilzeit stärker fördern können, wenn wir erstens die
Geltungsdauer weiter ausdehnen, zweitens die Förder-
höchstdauer erhöhen, parallel die Mindestdauer für die
Wiederbesetzung verlängern und drittens das Verfahren
zur Berechnung der Nettobeträge des Altersteilzeitentgel-
tes vereinfachen. Wir kommen damit dem Bündnis der Ta-
rifpartner nach und schaffen mehr Planungssicherheit.
Die Koalition beweist damit einmal mehr ihre Fähig-
keit, flexibel auf die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
zu reagieren. Wir erheben nicht den Anspruch, das Patent-
rezept zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme zu besitzen.
Aber: Wir wissen sehr genau, dass es nötig ist, ein fraglos
sinnvolles Konzept zu überprüfen und praxisnah anzu-
passen.
Das unterscheidet uns von der heutigen Opposition, die
offensichtlich nicht in der Lage ist, ein Konzept vorzule-
gen, geschweige denn konstruktive Vorschläge zu ma-
chen. Dass aus der CDU-Fraktionsführung mal wieder die
Rente mit 70 gefordert wird, unterstreicht, dass es mit der
selbsternannten „Rückkehr zur Sachpolitik“ in der CDU
noch nicht so weit her sein kann. Während wir mit den So-
zialpartnern über moderne und flexible Arbeitszeitmo-
delle diskutieren, reden Sie mit Ihren Vorschlägen mal
wieder an der Sache und an der Realität vorbei.
Bleiben wir bei der Sache. Ich darf noch einmal daran
erinnern, dass wir es bei der Altersteilzeit mit einem Mo-
dell zu tun haben, das auf beiderseitiger Freiwilligkeit be-
ruht. Was wir qua Gesetz verbessern können, ist die At-
traktivität des Angebots, um die Bereitschaft zum gleiten-
den Übergang in den Ruhestand anzuregen.
Wie sieht unser Angebot aus? Wir wollen die Gel-
tungsdauer bis zum 31. Dezember 2009 ausdehnen und
die Höchstdauer der Förderung von Altersteilzeit um ein
Jahr auf sechs Jahre erhöhen. Damit wird die Altersteilzeit
in den Betrieben zukünftig besser zu planen sein. Die Ver-
längerung der Förderungsdauer ermöglicht einen größe-
ren Spielraum – sowohl für die individuellen Bedürfnisse
der Arbeitnehmer als auch für die wirtschaftlichen Erfor-
dernisse in den Betrieben. Die längere Laufzeit wird da-
mit die Entscheidung für Altersteilzeitverträge in den Un-
ternehmen befördern. Der arbeitsmarktpolitische Effekt:
Gehen ältere Arbeitnehmer ein Jahr früher in Altersteil-
zeit, werden auch die Beschäftigungseffekte früher ein-
setzen. Voraussetzung für die Verlängerung der Förder-
dauer ist, dass die frei gewordenen Arbeitsplätze für min-
destens vier Jahre wieder besetzt werden. Damit bleibt das
zeitliche Verhältnis von Förderung und Wiederbesetzung
auch zukünftig stabil.
Neben der verbesserten Planungssicherheit wollen wir
dazu beitragen, das Verfahren zu vereinfachen. Durch die
Einführung einer Verordnung über pauschalisierte Netto-
beträge des Altersteilzeitentgelts können die individuellen
Aufstockungsbeträge leichter ermittelt werden. Damit
wird ein für die Betriebe teilweise schwieriger Prozess
überflüssig, was die Akzeptanz der Altersteilzeit weiter
erhöhen dürfte.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009344
(C)
(D)
(A)
(B)
Noch ein Wort zu den Kosten, weil in der Diskussion
fälschlicherweise noch immer die Zahl von 50 Millionen
DM genannt wird. Nach dem vorliegenden Entwurf
führen die Gesetzesänderungen zu Mehrausgaben von
20 Millionen DM. Den Mehrausgaben der Bundesanstalt
für Arbeit durch die Verlängerung der Förderhöchstdauer
müssen aber die Einsparungen gegenübergestellt werden,
die wir durch die Wiederbesetzung der durch Altersteil-
zeit frei gewordenen Stellen erreichen. Natürlich sollten
wir aus all den vorgenannten Gründen für die Altersteil-
zeit werben; denn vor allem ist sie eben auch ein mögli-
ches Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Seit Monaten
hat die Bundesregierung kein sozialpolitisches Gesetzge-
bungsvorhaben mehr auf den Weg gebracht. Der letzte
Gesetzentwurf der Regierungskoalition datiert auf den
Oktober des letzten Jahres und ist dabei noch nicht einmal
auf die eigene Initiative der Regierung, sondern auf den
Druck der Partner im Bündnis für Arbeit zurückzuführen!
Zusätzlicher Beleg für die sozialpolitische Untätigkeit der
Bundesregierung ist, dass in der letzten Woche – erstmals
seit vielen Jahren – die regelmäßige Sitzung des Aus-
schusses für Arbeit und Sozialordnung ausgefallen ist.
Die Bundesregierung verharrt im sozialpolitischen Win-
terschlaf – und seitdem herrscht Frühjahrsmüdigkeit.
Der letzte Donnerschlag war das erste Gesetz zur Fort-
entwicklung der Altersteilzeit. Nun wartet die Koalition
mit dem zweiten Gesetz zur Fortentwicklung der Alters-
teilzeit auf das – ebenfalls auf Betreiben der Partner im
Bündnis für Arbeit erfolgt.
Damit entwickelt Rot-Grün zum zweiten Mal ein Ge-
setz fort, dessen Fundament noch von Norbert Blüm ent-
wickelt worden ist. Wir stehen den Beratungen über die
neuen Vorschläge im Ausschuss offen und aufgeschlossen
gegenüber.
Mit der Altersteilzeit befinden wir uns im Bereich zwi-
schen dem Arbeitsmarkt und der Frage des vorzeitigen
Übergangs in den Ruhestand. Es ist nicht die klassische
Variante der Frühverrentung, die zu viel Geld gekostet hat
und die wir gestoppt haben. Es ist nicht die viel diskutierte
Variante der Rente mit 60, die mit Kosten von 60 bis
70 Milliarden DM nicht finanzierbar ist. Es ist vielmehr
eine Variante, die kostengünstiger ist, attraktiver bei Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern, eine Variante, die tarif-
vertraglich verwertbar ist. Dennoch muss sich der vorge-
legte Gesetzentwurf eine kritische Durchleuchtung gefal-
len lassen.
Welchen Beitrag leistet die Altersteilzeit zur Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit? Eines ist klar: Altersteilzeit ent-
lastet den Arbeitsmarkt dadurch, dass sie ältere Arbeit-
nehmer früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden lässt
und damit Arbeitsplätze frei macht für jüngere Menschen
an der Schwelle zum Berufsleben. Dadurch – und das
muss hier auch festgehalten werden – entstehen aber
keine neuen Arbeitsplätze. Die Regierung ist damit noch
nicht aus dem Schneider, für Beschäftigung zu sorgen.
Unter diesem Vorzeichen ist sie angetreten und daran will
sie sich messen lassen. Das soll auch heute geschehen.
Wir sehen allerdings beim Blick in die aktuelle Statistik,
dass hier keine Fortschritte erzielt wurden. Bei nach wie
vor mehr als 4 Millionen Arbeitslosen gibt es keinen
Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Vielmehr ist bei ge-
nauem Hinsehen festzustellen, dass es einen Rückgang
des Erwerbspersonenpotenzials von 500000 Personen
gibt. Das weisen die Gutachten der Wirtschaftsinstitute
aus. Die sind in diesem Fall sicher ausreichend unver-
dächtig zu nennen. Man kommt bei einem Blick in die
Statistik zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen um
136000 – deutlich geringer als in den letzten beiden Jah-
ren. Saisonbereinigt ist die Zahl der Arbeitslosen sogar
um 8000 Personen gestiegen! Seit dem Regierungswech-
sel hat damit die Zahl der Arbeitslosen – und so geht die
Rechnung auf – um mehr als 175000 Personen zugenom-
men. Mir sei noch der Hinweis auf die von der „Wirt-
schaftswoche“ vorgenommene Zählung mit der „Schrö-
der-Uhr“ erlaubt, die ein trauriges Minus von 1052000 Er-
werbstätigen aufweist. Herr Schröder, die Uhr steht im-
mer noch auf fünf vor zwölf!
Vor diesem Problemberg steht die Regierung immer
noch; die Altersteilzeit ist nur ein kleiner Schritt. Gesetz-
lich geförderte Altersteilzeit ist noch die günstigste Vari-
ante für den Arbeitsmarkt, weil sie über die öffentliche
Förderung der Bundesanstalt für Arbeit sicherstellt, dass
für jeden ausscheidenden älteren Arbeitnehmer eine Neu-
einstellung erfolgt. Bei rein tarifvertraglicher Regelung,
die auf öffentliche Förderung verzichtet, ist Altersteilzeit
zunehmend ein Instrument für die Arbeitgeber, um Ar-
beitsplätze nicht wieder zu besetzen und lediglich das
Ausscheiden aus dem Betrieb sozial verträglich zu be-
gleiten. Das muss in den Beratungen zur Sprache kom-
men.
Welches Signal gibt die Regelung eigentlich? Für die
Rentendiskussion könnte es ein mutiges Signal sein, wenn
die Bundesregierung eindeutig sagen würde: Die Rente
mit 60, so wie sie nach wie vor in der Diskussion ist, geht
nicht. Das wäre zumindest eine Klarstellung in dieser
Frage. Vom Instrument der Altersteilzeit sollte aber nicht
das Signal ausgehen, dass man immer früher in die Rente
gehen kann. Für die gesamte Rentendiskussion wäre das
ein falsches Zeichen!
Für ältere Arbeitnehmer darf durch das Instrument der
Altersteilzeit nicht der Eindruck entstehen, sie würden
nicht mehr gebraucht und bloß in den Ruhestand abge-
schoben. Für ältere Arbeitslose wäre es noch weniger,
weil sie noch eher den Eindruck bekommen müssen,
keine Chance mehr zu haben, am Erwerbsleben teilneh-
men zu können.
Ein Beispiel aus der aktuellen Diskussion um die so
genannte Green Card belegt das: Bei etwa 30000 Ar-
beitslosen, die für IT-Arbeitsplätze infrage kämen, ist –
nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit – ein Hinde-
rungsgrund für die Einstellung, dass sie über 45 Jahre
sind. Ältere Arbeitnehmer und ihre Berufserfahrung wer-
den immer mehr benötigt. In der IT-Branche belegt das
nicht nur das Jahr-2000-Problem. Wir werden uns immer
weniger leisten können, Menschen frühzeitig in Rente zu
schicken oder in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Das ist
der Logik der demographischen Entwicklung geschuldet.
Wer hier die Augen verschließt, reagiert nicht angemessen
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9345
(C)
(D)
(A)
(B)
zum Ersten darauf, dass ältere Arbeitnehmer über uner-
setzliche Erfahrung verfügen, und zum Zweiten darauf,
dass wir alle – glücklicherweise – immer älter werden.
In der Ausschussberatung sollten auch noch die Punkte
vertieft diskutiert werden, die ich hier nennen möchte:
Erstens. Wir müssen uns die Verteilung der Maßnahme
der Altersteilzeit auf Unternehmen unterschiedlicher
Größenordnungen anschauen. Es gibt berechtigterweise
aus Reihen des Handwerks die Kritik, dass Altersteilzeit
zu einem übergroßen Teil vor allem in Großunternehmen
angewandt wird, aber von den Beitragszahlungen aller
Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert wird.
Zweitens. Wir müssen über die Kostenentwicklung der
Altersteilzeit reden. Zwar sind die Altersteilzeitmodelle
nicht mit der teuren Frühverrentung und der Rente mit 60
vergleichbar, aber dennoch steigen die Ausgaben der Bun-
desanstalt für Arbeit an. Ich nenne hier die Zahlen: 1997
waren es 20 Millionen DM, 1998 fast 100 Millionen, 1999
sind sie auf das Doppelte gestiegen.
Drittens. Wir müssen uns der Frage zuwenden, ob die
vorgesehene Neuregelung des zeitlichen Geltungsrah-
mens des Alterszeitgesetzes zum gegenwärtigen Zeit-
punkt sachlich gerechtfertigt ist. Die Bayerische Landes-
regierung hat auf diesen Punkt im Bundesrat hingewiesen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Philosophie der Altersteilzeit ist ausgesprochen sozial
und zukunftsgewandt. Sie umfasst die Möglichkeit für äl-
tere Arbeitnehmer, sich Arbeitserleichterung in den letz-
ten Arbeitsjahren vor ihrem Ruhestand durch Arbeitszeit-
verkürzung zu verschaffen, ohne dabei gleichzeitig un-
vertretbar hohe Einkommenseinbußen hinnehmen zu
müssen.
Es ist deshalb sehr sinnvoll, die Voraussetzung für die
Anwendung der Altersteilzeit hier noch einmal in einer
zweiten Gesetzesänderung zu erleichtern. Das Bündnis
für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat viel
zur Verbreitung der Altersteilzeit beigetragen. Es hat auch
dazu beigetragen, dass sich nicht die Rente mit 60, son-
dern die Möglichkeit zur Altersteilzeit mittlerweile
flächendeckend verbreitet.
Mit der 2. Novellierung wird wiederum eine Vereinba-
rung im Bündnis für Arbeit umgesetzt. Mit der Änderung
soll das Altersteilzeitgesetz beschäftigungswirksamer
werden. Außerdem wurde die Geltungsdauer bis zum
31. Dezember 2009 verlängert.
Die Förderhöchstdauer wird um ein Jahr auf sechs
Jahre erhöht. Dies trägt zur stärkeren Akzeptanz der Al-
tersteilzeit bei Arbeitgebern und Arbeitsnehmern bei. Bei
einer längeren Förderdauer werden Arbeitgeber eher be-
reit sein, mit ihren Arbeitnehmern längere Laufzeiten der
Altersteilzeitverträge zu vereinbaren als bisher.
Mit Änderungen bleibt das bisherige Verhältnis des
Zeitraums der Wiederbesetzung zum Zeitraum der Förde-
rung im Wesentlichen unverändert.
Die Altersteilzeit ist aber nicht nur beschäftigungspoli-
tisch, sondern auch kulturell interessant. Sie ist ein Schritt
hin zu einer Kultur der Altersarbeit – und die werden wir
in Zukunft, auch in der Bundesrepublik Deutschland,
mehr brauchen. Es geht darum, Menschen nicht aus dem
Erwerbsleben auszumustern, sondern ihnen die Arbeit zu
erleichtern und sie zu integrieren. Dafür ist die Altersteil-
zeit ein besonderes Instrument. Darüber hinaus aber sind
die weitere Verbreitung vom Lebensarbeitszeitkonten,
aber auch die Verbesserung der betrieblichen Qualifika-
tion gerade für ältere Arbeitnehmer wichtige Instrumente.
Die Altersteilzeit boomt, und das ist auch ein Erfolg
des Bündnisses für Arbeit. Bei den jüngsten Tarifab-
schlüssen in der chemischen Industrie, im westdeutschen
Baugewerbe, bei der Metallindustrie ist die Altersteilzeit
ein wesentliches Instrument auch zur beschäftigungsori-
entierten Tarifpolitik. Es wird in Zukunft kaum noch Ta-
rifverträge ohne die Einführung oder die Verbesserung der
Altersteilzeit geben. Die Potenziale für die Altersteilzeit
sind sehr hoch. Bisher betreffen tarifvertragliche Rege-
lungen schon knapp 14 Millionen Beschäftigte. In kon-
kreten Einzelfällen wird sie zurzeit von 1,4 Millionen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern genutzt. Dieses
kann also noch weit ausgebaut werden.
In den Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist die Beschäfti-
gungswirkung und der Beschäftigungseffekt natürlich
von hoher Bedeutung. Nur bei Wiederbesetzung ist eine
öffentliche Förderung der Altersteilzeit möglich. Die
tatsächliche Anzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern in Altersteilzeit ist bis zu viermal höher als die
Zahl der Arbeitnehmer in geförderter Altersteilzeit. Das
bedeutet, dass es insgesamt gesehen bei Altersteilzeit ei-
nen Wiederbesetzungseffekt von 1 : 4 gibt. Bei der geför-
derten Altersteilzeit liegt der Beschäftigungseffekt natür-
lich bei 100 Prozent. Die Förderung von Altersteilzeit ist
eine Arbeitsmarktpolitik mit hoher Effizienz und einem
sehr hohen Refinanzierungsgrad.
Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten ist die
Altersteilzeit daher eine sehr vernünftige Regelung. Denn
die frei gewordenen Arbeitsplätze werden zurzeit zur
Hälfte von Arbeitslosen und zur anderen Hälfte von Be-
rufsanfängern besetzt. Die Wiedereingliederung nutzt
also der Integration von Erwerbslosen, aber auch der In-
tegration von Berufsanfängern ins Berufsleben.
Wenn nur durch die Erleichterung, durch eine weitere
Änderung des Altersteilzeitgesetzes die Anwendung der
Altersteilzeit insgesamt ansteigt, ist davon auszugehen,
dass die Wiederbesetzungsquote noch verbessert werden
kann.
Kritisch allerdings beobachten wir weiterhin die aus-
gedehnte Nutzung der Altersteilzeit durch Blockbildung.
Hier wird die Altersteilzeit, die Blockbildung dazu ge-
nutzt, den Weg in die Frühverrentung exzessiv zu nutzen.
Aber die Frühverrentung ist langfristig der falsche Weg
für die Beschäftigungspolitik.
Für die Zukunft ist zu diskutieren, ob die Streichung
der bestehenden Altersgrenze von 55 Jahren aus beschäf-
tigungspolitischer Perspektive einen sinnvollen Weg
eröffnen könnte. Die Altersteilzeit könnte für Beschäftigte
mit ausreichender Vorbeschäftigungszeit in eine bis zu
5-jährige Lebensphasenteilzeit weiterentwickelt werden. Die
Ausgleichszahlungen sollten dann durch die Bundesanstalt
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009346
(C)
(D)
(A)
(B)
für Arbeit den Arbeitgebern erstattet werden, wenn für die
Dauer der Teilzeit eine Wiederbesetzung durch einen Ar-
beitslosen oder Auszubildenden nachgewiesen werden
kann.
Wir stellen dies für eine zukünftige Debatte, auch im
Bündnis für Arbeit, zur Diskussion, denn mit der Begüns-
tigung von Lebensphasenteilzeit kann auch die Teilzeit-
barriere gerade in kleinen und mittleren Unternehmen
durchbrochen werden.
Eine Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln ist
durch die obligatorische Wiederbesetzung mit einem ho-
hen Refinanzierungsgrad verbunden. Zugleich wird der
Gedanke einer solidarischen Arbeitsumverteilung ge-
stärkt.
Auch für Männer und Frauen, zum Beispiel in der Er-
ziehungsphase oder beim Erwerb von Zusatzqualifikatio-
nen, ist es sinnvoll, hilfreich, die Möglichkeit der Teilzeit
zu nutzen, jedenfalls für einen befristeten Zeitraum, ohne
dabei Einbußen in der Altersversorgung hinnehmen zu
müssen.
Was wir brauchen, sind weitere Möglichkeiten und In-
strumente, die Lebensarbeitszeit flexibel und selbstbe-
stimmt zu gestalten. Was wir auch brauchen, sind intelli-
gente Instrumente der Arbeitszeitverkürzung. Die Alters-
teilzeit ist eine davon.
Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Der französische
Schriftsteller André Maurois hat einmal gesagt: „Altern
ist eine schlechte Gewohnheit, die ein beschäftigter Mann
gar nicht erst aufkommen lässt.“ Damit ist zum vorlie-
genden Gesetzentwurf eigentlich alles gesagt.
Die Altersteilzeit wird entgegen den hochtrabenden
Prognosen der Koalition in der Praxis schon bisher und
wird auch zukünftig von den Unternehmen dazu genutzt
werden, ältere Mitarbeiter auf Kosten der Bundesanstalt
für Arbeit loszuwerden. 300 Millionen DM muss diese
nach einer Presseinformation vom 28. Januar 2000 für die
Förderung der Altersteilzeit allein in diesem Jahr aufwen-
den. Die Belastungen der Rentenversicherung und der
Krankenversicherung – über die Ihr Gesetzentwurf Aus-
sagen vermeidet – dürften ebenfalls nicht unerheblich
sein. Zudem werden es ganz überwiegend Großunterneh-
men sein, wie ich bereits im letzten Jahr in der Debatte zur
ersten Fortentwicklung des Altersteilzeitgesetzes in die-
sem Hause sagte, die von dieser Möglichkeit zulasten al-
ler Beitragszahler profitieren.
Und es gilt auch weiterhin unser grundlegender Ein-
wand, dass dieses Gesetz für kleine und mittlere Unter-
nehmen schlicht nicht handhabbar ist. Es ist zu bürokra-
tisch und umständlich. Es bleibt damit ein Machwerk, das
auf die Bedürfnisse der großen Unternehmen – ich will sie
einmal „Kanzlerunternehmen“ nennen – zugeschnitten
ist. Es macht daher keinen Sinn, dessen Laufzeit – und das
gleich bis 2009 – zu verlängern.
Dass Sie eine große Zustimmung für die so genannte
Fortentwicklung der Altersteilzeit im Bündnis für Arbeit
erhalten, kann vor dem beschriebenen Hintergrund nie-
manden ernsthaft verwundern. Der Mittelstand ist dort
nicht angemessen repräsentiert.
Nur das Handwerk war immer dagegen. Und die BDA
hat nun auch Bauchschmerzen, wenn, wie es in einer Be-
wertung vom März 2000 heißt, auf die Sozialversicherung
insgesamt höhere Kosten zukommen. Und das wird der
Fall sein. Denn die Annahme, eine vermehrte Inan-
spruchnahme der Altersteilzeit, von der Sie ja ausgehen,
lasse sich kostenneutral bewerkstelligen, kann nur rot-
grünen Köpfen entspringen. Das funktioniert hier so we-
nig wie bei der Ökosteuer. Dort setzen Sie die Einnahmen
aus dem Lenkungsinstrument Steuer für die Senkung der
Lohnnebenkosten ein. Nur: Wenn die Lenkungswirkung
einsetzt – was Sie ja wollen – und die Menschen weniger
Energie verbrauchen, haben Sie ein Problem bei der Sen-
kung der Lohnnebenkosten. Eine vernünftige Steuerre-
form würde hier mehr helfen und auch mehr Beschäfti-
gungswirkung zeitigen, mehr als die Altersteilzeit je zei-
tigen wird.
Der ZDH, der bei Wirtschaftsminister Müller wegen
Majestätskritik in Ungnade gefallen ist, hat in der Frage
der Altersteilzeit den Durchblick und lehnt den vorliegen-
den Gesetzentwurf ab. Er hat Recht. Hier sollen die
„Kanzlerunternehmen“ auf Kosten der kleinen und mitt-
leren Betriebe subventioniert werden.
Wir haben unsere Bedenken schon bei der Verabschie-
dung des ersten Gesetzes zur Fortentwicklung der Alters-
teilzeit deutlich gemacht und gegen das Gesetz gestimmt.
Wir werden daher den Teufel tun, dieses mittelstandsun-
taugliche Machwerk in seiner Laufzeit auch noch zu ver-
längern. Im Handwerk – und da kenne ich mich als Un-
ternehmer ein bisschen aus – gilt eher noch das Zitat von
Jeanne Moreau: „Alternde Menschen sind wie Museen:
Nicht auf die Fassade kommt es an, sondern auf die
Schätze im Innern.“ Oder wie Handwerkspräsident
Philipp gesagt hat: „Machen wir unseren älteren Arbeit-
nehmern Mut, statt durch immer neue Ausstiegsbrücken
den Druck auf ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Ar-
beitsleben zu erhöhen.“ Darüber sollten wir alle einmal
nachdenken.
Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Der Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit
wird von der Bundesregierung eingebracht mit der Ziel-
setzung, die Beschäftigungswirksamkeit des Altersteil-
zeitgesetzes zu erhöhen.
Die wesentlichen Änderungen sind dabei:
– Verlängerung der Geltungsdauer des Altersteilzeit-
gesetzes um fünf Jahre bis 2009 (§ 1): Damit soll
die voraussichtliche Entwicklung des Arbeits-
marktes mit einem weiterhin hohen Bestand an Ar-
beitslosen berücksichtigt werden. Die Altersteil-
zeit kann noch länger, nicht nur bis 2004 in An-
spruch genommen werden. Es kann über den
jetzigen Zeitraum hinaus eine weitere Entlastung
des Arbeitsmarktes stattfinden.
– Verlängerung der Förderdauer Altersteilzeit (Leis-
tungen der Bundesanstalt für Arbeit) um ein Jahr
auf sechs Jahre (§ 4): Arbeitnehmer können da-
durch bereits ein Jahr früher verkürzt arbeiten
oder im Blockmodell ein halbes Jahr eher von der
Freistellung profitieren. Das führt dazu, dass auch
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9347
(C)
(D)
(A)
(B)
entsprechend früher ein Wiederbesetzer nach-
rückt. Ob diese Änderung allerdings auch zu einer
stärkeren Akzeptanz der Altersteilzeit bei Arbeit-
gebern führt, sei dahingestellt.
– Die für die Förderung maßgebliche Mindestbe-
schäftigungsdauer des Wiederbesetzers wird um
ein Jahr auf vier Jahre erhöht (§ 5): Der frei wer-
dende Arbeitsplatz wird dadurch statt für drei für
mindestens vier Jahre durch einen Wiederbesetzer
besetzt. Das schafft eine höhere Arbeitsplatzsi-
cherheit.
– Das BMA wird ermächtigt, durch Rechtsverord-
nung jeweils für ein Kalenderjahr neben den Min-
destnettobeträgen auch pauschalierte Nettobeträge
zu bestimmen (§ 15): Dies soll die Errechnung des
altersteilzeitspezifischen Nettoentgelts für Unter-
nehmen und für die Bundesanstalt für Arbeit ver-
einfachen und einen Beitrag zur höheren Akzep-
tanz der Altersteilzeit darstellen.
Diesen Änderungen und damit dem 2. AtG-Ände-
rungsgesetz kann zugestimmt werden.
Ob damit aber die Inanspruchnahme des Altersteilzeit-
gesetzes wesentlich gesteigert und der Arbeitsmarkt deut-
lich entlastet werden kann, ist fraglich. Dies sind auch
nicht die wesentlichsten Änderungen des AtG, die jetzt
notwendig sind, um seine Beschäftigungswirksamkeit
wesentlich zu erhöhen. Dazu bedarf es anderer, konse-
quenterer Reformmaßnahmen.
Zwar gibt es eine leicht steigende Tendenz; das Alters-
teilzeitgesetz wird aber bisher zu wenig in Anspruch ge-
nommen. So wurden 1999 22 450 Anträge bei der Bun-
desanstalt für Arbeit gestellt, wobei die BA von einer
Größenordnung von circa 1,5 Millionen potenziell inte-
ressierter Personen ab 55 Jahre ausgeht.
Was sind die Gründe für die geringe Inanspruchnahme
des Altersteilzeitgesetzes?
Das Altersteilzeitgesetz wie auch die erste Altersteil-
zeitgesetznovelle (Gesetz zur Novellierung der Altersteil-
zeit) kranken vor allem an den unzulänglichen finanziel-
len Bedingungen für den in Frage kommenden Personen-
kreis sowie an weiteren unzureichenden sozialen und
strukturellen Regelungen.
Die erste Altersteilzeitgesetznovelle der Bundesregie-
rung sieht die Möglichkeit der Halbierung der bisherigen
Teilzeitarbeit vor. Das ginge bis zu einer Versicherungs-
pflichtgrenze von mindestens 15 Wochenstunden Be-
schäftigung. Das daraus resultierende Nettoarbeitsentgelt
ist bei einem durchschnittlichen Monatsbrutto von
4 180 DM sehr gering, deshalb sollte die Altersteilzeit da-
bei mindestens die Hälfte der regelmäßigen tariflichen
Arbeitszeit betragen.
Die Bundesregierung sollte bei einer Novellierung des
Altersteilzeitgesetzes besser Überlegungen aus den Rei-
hen der Gewerkschaften folgen, andere Elemente einzu-
beziehen. Dies wären: Das Blockmodell, also die auch
schon nach der gegenwärtigen Gesetzeslage vorhandene
Möglichkeit, Altersteilzeitarbeit zusammenzufassen und
entsprechend früher aus dem Arbeitsleben auszuscheiden,
muss stärker gefördert werden, da fast 100 Prozent der Ar-
beitnehmer dies favorisieren. Es sollte so ausgestaltet
werden, dass es ohne Einbußen beim Nettoeinkommen
und der späteren Rentenhöhe auskommt, zum Beispiel in-
dem der Lohn bzw. das Gehalt als Bezugsgröße künftige
Lohnerhöhungen berücksichtigt und indem die Wahl des
Blockmodells finanziell honoriert wird, etwa durch einen
1 bis 2 Prozent höheren Zuschuss bei Altersteilzeitentgelt
durch die Bundesanstalt für Arbeit.
Das Mindestnetto nach dem AtG ist zu niedrig: Es be-
trägt nach der geltenden Regelung 70 Prozent des Voll-
zeitnettos. Viele Tarifverträge sehen 85 Prozent vor, so der
Tarifvertrag in der Chemieindustrie, der in der Metallin-
dustrie immerhin mindestens 82 Prozent. Mit einer sol-
chen Regelung wären der Anreiz und damit der arbeits-
marktpolitische Effekt größer.
Die soziale Sicherung in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit
bei Altersteilzeit ist unzureichend geregelt: Das Gesetz
sieht eine soziale Sicherung nur für den Fall vor, dass der
Arbeitsplatz vom Arbeitgeber wiederbesetzt wird. Gerade
im Fall einer Arbeitsunfähigkeit können angesichts des
geringen Krankengeldes vielfach die monatlichen Fixkos-
ten nicht abgedeckt werden. Bei Arbeitsunfähigkeit muss
in diesem Fall die Fortzahlung des aufgestockten Arbeits-
zeitentgelts und der Rentenversicherungsbeiträge durch
den Arbeitsgeber gesetzlich verbindlich vorgesehen wer-
den.
Im AtG fehlt eine Regelung zur Insolvenzsicherung,
um insbesondere die im Blockmodell in der Arbeitsphase
erworbenen Ansprüche der Arbeitnehmerinnen gesetzlich
abzusichern.
Die Harmonisierung von AtG und Steuerrecht ist ge-
boten: Das zu versteuernde Einkommen für die Teilzeit-
arbeit wird nach § 32 EstG einem besonderen Steuersatz
unterworfen (Progressionsvorbehalt). Dadurch steigt die
Steuerbelastung, und das gesetzliche bzw. tarifliche Min-
destnetto sinkt unter den Garantiebetrag. Das löst einen
neuen Anspruch auf Aufstockung aus, weil das Mindest-
netto nicht erreicht ist.
Der Aufstockungsbetrag für Teilzeitarbeitsentgelt
muss deshalb vom „Progressionsvorbehalt“ des § 32 b
Einkommensteuergesetz ausgenommen werden.
Darüber hinaus muss bei einer Novellierung des AtG
Folgendes einbezogen werden: Für Auszubildende, die ei-
nen durch Altersteilzeit freiwerdenden Arbeitsplatz beset-
zen, muss es nach einer Ausbildung eine mindestens ein-
jährige Weiterbeschäftigungsgarantie geben.
Die gesetzlichen Regelungen der Altersteilzeit können
von Arbeitsnehmern nur in Anspruch genommen werden,
wenn ein Tarifvertrag vorliegt, aufgrund einer Regelung
der Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, einer Be-
triebsvereinbarung oder einer individuellen Regelung mit
dem Arbeitgeber. Ein Anspruch, der allein auf das Begeh-
ren des Arbeitnehmers zurückgeht, besteht nicht. Das Al-
tersteilzeitbegehren muss daher als individueller Rechts-
anspruch gesetzlich geregelt werden, der eingefordert
werden kann, auch wenn kein entsprechender Tarifvertrag
oder keine Betriebsvereinbarung usw. vorliegt.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009348
(C)
(D)
(A)
(B)
Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen: Die
Bundesregierung sollte gerade bei arbeitsmarktpoliti-
schen Vorhaben ihr Ohr eher den Gewerkschaften als den
Arbeitgeberverbänden leihen, das wäre für die Betroffe-
nen nicht nur in diesem Falle wohl allemal günstiger.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-
ter für Arbeit und Sozialordnung: Der flexible Übergang
aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand ist ein zentrales
sozialpolitisches Vorhaben der Bundesregierung. Dabei
ist unverrückbare Position, die Rentenkasse nicht zu be-
lasten, gleichwohl durch das Gesetz den Tarifvertragspar-
teien und damit Betrieben wie Arbeitnehmern Spielraum
für neue und kreative Lösungen zu geben.
Die Bundesregierung erledigt ihre Hausaufgaben rasch
und überlegt. Sie sieht sich bestätigt durch Tarifvertrags-
partner und durch den Willen vieler älterer Beschäftigter,
für sich einen humanen und finanziell attraktiven gleiten-
den Übergang aus dem Erwerbsleben in die Rente zu fin-
den.
Am 9. Januar 2000 haben sich die Teilnehmer des
Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbs-
fähigkeit darauf verständigt, dass die Geltungsdauer des
Altersteilzeitgesetzes verlängert und das Gesetz mit dem
Ziel geändert werden soll, die Beschäftigungswirksam-
keit weiter zu erhöhen. Mit dem Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit wird diese
gemeinsame Erklärung der Teilnehmer des Bündnisses
für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit zügig
umgesetzt. Weitere Hemmnisse, die bei der Altersteilzeit
noch bestehen, sollen nun abgebaut werden, damit noch
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als bisher Al-
tersteilzeit nutzen.
Erster Eckpunkt des Gesetzentwurfs ist die Verlänge-
rung der Geltungsdauer der Altersteilzeitförderung. Die
jetzige Altersteilzeitregelung läuft am 31. Juli 2004 aus.
Folglich dürfte die Bundesanstalt für Arbeit nach gelten-
der Rechtslage die Altersteilzeit ab 1. August 2004 nur
noch dann fördern, wenn der Arbeitnehmer spätestens am
31. Juli 2004 in die Altersteilzeit eingetreten ist. Die Pra-
xis hat nun gefordert, die Geltungsdauer zu verlängern,
weil die Personalplanung vielfach deutlich über Mitte
2004 hinausgeht. Viele Arbeitnehmer, die erst nach dem
31. Juli 2004 die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen,
wollen wissen, ob dann noch von der Bundesanstalt für
Arbeit geförderte Altersteilzeitverträge abgeschlossen
werden können. Und dies ist verständlich.
Mit dem neuen Gesetz dehnen wir nun die Geltungs-
dauer bis Ende 2009 aus. Damit geben wir der Praxis für
einen langen Zeitraum Planungssicherheit an die Hand.
Ein solch langer Zeitraum ist meines Erachtens auch aus
arbeitsmarktpolitischer Sicht gerechtfertigt. Denn mit ei-
ner signifikanten Verringerung des Erwerbspersonenpo-
tenzials, das das frühzeitige Überwechseln älterer Arbeit-
nehmer in die Altersteilzeit nicht mehr rechtfertigen
würde, ist erst ab den Jahren 2014/2015 zu rechnen.
Wie Sie wissen – die Medien haben ja ausführlich da-
rüber berichtet –, sind bereits die ersten Tarifverträge zur
Altersteilzeit praktisch im Vorgriff auf die gesetzliche Re-
gelung mit einer Laufdauer bis Ende 2009 abgeschlossen
worden. Den Tarifvertragspartnern ist es natürlich unbe-
nommen, Altersteilzeittarifverträge auch für kürzere
Zeiträume als fünf Jahre abzuschließen bzw. zu verlän-
gern, wenn sie der Auffassung sind, dies sei in ihrer Bran-
che aus tariflichen oder anderen Gründen angebracht. Als
zweiter Eckpunkt unseres Gesetzentwurfs soll deshalb
ebenfalls die Förderhöchstdauer von fünf auf sechs Jahre
erweitert werden. Die Verlängerung der Förderung um ein
Jahr wird nach unserer Einschätzung zur stärkeren Ak-
zeptanz der Altersteilzeit sowohl bei Arbeitgebern als
auch Arbeitnehmern beitragen. Bei einer längeren För-
derdauer werden Arbeitgeber eher bereit sein, mit ihren
Arbeitnehmern längere Laufzeiten der Altersteilzeitver-
träge zu vereinbaren als bisher. Auf Arbeitnehmerseite ist
die Verlängerung der Förderung für die Beschäftigten von
Interesse, die die Altersteilzeit für einen längeren Zeit-
raum nutzen wollen. Plant der Arbeitnehmer heute die Al-
tersteilzeit so, dass er am Ende der Altersteilzeit keine
oder nur geringfügige Rentenabschläge in Kauf nehmen
muss, wird er wahrscheinlich die Verlängerung der För-
derdauer auf sechs Jahre nutzen. Dadurch kann er bereits
ein Jahr eher mit der Altersteilzeit beginnen, um zum sel-
ben Zeitpunkt wie heute in Rente zu gehen. Hat der Ar-
beitnehmer das so genannte Blockmodell vereinbart, bei
dem er zunächst in der ersten Hälfte der Zeit voll weiter-
arbeitet und dann in der zweiten Hälfte freigestellt wird,
kann er dann ein halbes Jahr länger von der Freistellung
profitieren als heute.
Der frühere Beginn der Altersteilzeit führt dazu, dass
auch entsprechend früher ein Wiederbesetzer auf den –
teilweise – frei gewordenen Arbeitsplatz nachrückt und
dementsprechend früher die Entlastung des Arbeitsmark-
tes eintritt. Damit können in den nächsten Jahren junge
Menschen Ausbildungs- und Arbeitsplätze besetzen, die
sonst arbeitslos wären – ein echter Beitrag für das Bünd-
nis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, ein
echter Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssitua-
tion in unserem Land.
Ich freue mich in diesem Zusammenhang ganz beson-
ders über die in den letzten Wochen erzielten Tarifab-
schlüsse zur Altersteilzeit etwa in der chemischen Indus-
trie und der Metall- und Elektroindustrie. Die Tarifpar-
teien haben schnell und entschlossen die Chance genutzt,
die ihnen die Vereinbarung im Bündnis und deren rasche
Umsetzung durch die Bundesregierung bietet. Und – be-
sonders wichtig – diese Tarifverträge sehen auch Abfin-
dungen zum Ausgleich für die Rentenabschläge vor, die
die Arbeitnehmer in Kauf nehmen müssen, wenn sie
früher in Rente gehen. Auch diese Regelungen werden
dazu beitragen, dass viele Arbeitnehmer früher mit der Al-
tersteilzeit beginnen werden als bisher, da Einbußen durch
die Rentenabschläge erheblich abgemildert werden.
Nun noch ein Wort zu einer Folgeänderung der Verlän-
gerung der Förderungshöchstdauer. Es geht dabei um die
so genannte Mindestnachbesetzungsdauer. Diese wollen
wir von bisher drei auf vier Jahr verlängern und damit si-
cherstellen, dass Förderleistungen nur dann gezahlt wer-
den, wenn eine längere Zeit der Wiederbesetzung gesi-
chert ist.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9349
(C)
(D)
(A)
(B)
Entsprechend den Wünschen aus den Betrieben, der
Bundesanstalt für Arbeit und von Länderseite wollen
wir – als drittes Element der Neuregelung – die Errech-
nung des altersteilzeitspezifischen Nettoentgelts erheb-
lich vereinfachen. Der Entwurf sieht vor, dass es dem
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ermög-
licht wird, jährlich neben der Mindestnettobetrags-Ver-
ordnung eine Verordnung über die pauschalierten Netto-
beträge des Altersteilzeitentgelts zu erlassen. Damit könn-
ten die Aufstockungsleistungen der Betriebe und
dementsprechend auch die Erstattungsleistungen der
Bundesanstalt losgelöst von individuellen Besonderhei-
ten pauschaliert werden. Ein Verfahren, das ja auch bei
Entgeltersatzleistungen der Bundesanstalt praktiziert
wird und dort bereits spürbar zur vielbeschworenen Ver-
waltungsvereinfachung beiträgt.
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir der Entwick-
lung der Altersteilzeit einen weiteren Impuls geben.
Schon jetzt ist die Altersteilzeit ein fester Baustein der
Personalpolitik in den Unternehmen. Das beweisen nicht
zuletzt die bereits existierenden über 375 Tarifverträge
zur Altersteilzeit – und das in fast sämtlichen Bereichen
von Wirtschaft und Verwaltung. Im Geltungsbereich die-
ser Tarifverträge sind rund 13 Millionen Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer beschäftigt. Noch lassen sich keine
seriösen Prognosen abgeben, inwieweit Beschäftigte
künftig Altersteilzeit als attraktive Alternative des vorzei-
tigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben empfinden.
Aber es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Linie von
Bundesregierung und Bündnis als Erfolg erweist. Es sind
nicht zuletzt die Tarifpartner gefordert, den Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitsnehmern Angebote zu machen. Die in
den vergangenen Wochen getätigten Tarifverträge, die
zum Teil schon im Vorgriff die Änderungen dieses Ent-
wurfs umsetzen, sind hierfür eine hervorragende Aus-
gangsbasis, die mich zuversichtlich macht, dass das ver-
besserte Gesetz in der Praxis eine starke Resonanz finden
wird.
Deshalb hoffe ich auch, dass unser Gesetzentwurf in
diesem Haus eine breite Zustimmung erfährt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Na-
tionalsozialismus (Tagesordnungspunkt 11)
Gisela Schröter (SPD): Am 8. Mai erfolgte die be-
dingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches. Damit
wurde dem nationalsozialistischen Wüten und Morden
ein Ende gesetzt. Das deutsche Volk bekam die Chance
für einen demokratischen Neuanfang. Dieser Tag markiert
eine tiefe Zäsur in der jüngeren deutschen Geschichte.
Unmissverständlich möchte ich feststellen, dass dieser
Tag für mich ein Tag der Befreiung ist, kein Tag der mi-
litärischen Niederlage, wie er von mancher Seite immer
noch umgedeutet wird. Der 8. Mai ist ein Tag der Befrei-
ung. Erstmals klar ausgesprochen hat das 1985 der dama-
lige Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Und in-
zwischen hat sich diese Sichtweise auch bei der breiten
Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt.
Neben dem 8. Mai haben wir eine ganze Reihe wichti-
ger Daten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialis-
mus. Seit 1996 steht für uns der 27. Januar im Zentrum,
der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz
von der Roten Armee befreit wurde. Den 27. Januar be-
gehen wir als großen nationalen Gedenktag. Dann geden-
ken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Der Tag steht
aber ebenso für die Befreiung vom Nazi-Terror. Daneben
gibt es den Volkstrauertag, als Tag des Gedenkens an die
Opfer der beiden Weltkriege. Am 9. November erinnern
wir uns an die Reichspogromnacht von 1938 als einen ers-
ten Höhepunkt der antisemitischen Barbarei. Am 20. Juli
gedenken wir des Widerstands gegen Hitler. Auch unser
nationaler Feiertag am 3. Oktober, der Tag der Deutschen
Einheit, ist in seinem historischen Zusammenhang mit
dem Nationalsozialismus zu begreifen: Die deutsche
Spaltung war das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und
der Zweite Weltkrieg wurde von den Nazis angezettelt.
Ebenso gemahnt uns der 23. Mai, der Tag der Verkündung
des Grundgesetzes, an die Überwindung des Nationalso-
zialismus.
Wir haben also einen ganzen Komplex von Feiertagen,
die Anlass geben, sich mit der jüngeren deutschen Ver-
gangenheit auseinander zu setzen. Entscheidend ist aber
nicht, dass wir diese Tage formal zu nationalen Gedenk-
tagen erheben und Gedenkveranstaltungen im Deutschen
Bundestag zelebrieren. Entscheidend ist doch, dass wir
eine lebendige Gedenkkultur schaffen, lebendiges Geden-
ken statt leerer Rituale. Der Bundestag selber hat mit sei-
ner Debatte um das Denkmal für die ermordeten Juden
Europas einen – wie ich meine – herausragenden Beitrag
zu einer solchen lebendigen Erinnerungskultur geleistet.
Dazu gehört nach meiner Auffassung auch die Tatsache,
dass wir – wenn auch reichlich spät – die Regelung der
Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter angepackt haben.
Die Entschädigung anderer Opfergruppen steht noch aus
ebenso wie das angemessene Gedenken an die nichtjüdi-
schen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtung. Das
alles sind Anlässe zu einer möglichst breiten gesellschaft-
lichen Debatte um die Auseinandersetzung mit dem Na-
tionalsozialismus.
Andere Beispiele für eine intensive Kultur des Geden-
kens sind für mich die regional begangenen Gedenktage
und -veranstaltungen. So gab es Anfang dieser Woche
eine Gedenkveranstaltung in Buchenwald. Im April 1945
gedachten die KZ-Häftlinge ihrer ermordeten Mitgefan-
genen und leisteten den „Schwur von Buchenwald“, woll-
ten für das „Nie wieder!“ kämpfen. Daran erinnert man
sich alljährlich, wie am vergangenen Montag, in der Ge-
denkstätte Buchenwald. Das nenne ich gelebtes Erinnern.
Hier nehmen die Menschen Anteil. Hier, vor Ort, wird für
sie die Geschichte nachvollziehbar, greifbar, erfahrbar.
Dazu gehört es auch, zu bedenken, was in Buchenwald
ebenso wie in mehreren anderen ehemaligen Konzentra-
tionslagern nach 1945 geschah.
Hier bedarf es eines großen Maßes an historischer
Präzision. Denn während die Geschichte in den Lagern
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009350
(C)
(D)
(A)
(B)
fortgeschrieben wurde, begann schon bald die Legenden-
bildung. Doch einfache Geschichtsbilder helfen nicht
weiter. Wir müssen die Geschichte der Lager sorgfältig
und differenziert aufarbeiten. Das müssen wir insbeson-
dere denjenigen gegenüber leisten, die wir vor allem er-
reichen wollen: die jungen Menschen. Am Montag fanden
sich in der Gedenkstätte Buchenwald erfreulicherweise
übrigens besonders viele Jugendliche ein. Und einige ar-
beiten sogar aktiv im Häftlingskomitee mit.
Und wie sähe das aus an einem 8. Mai, den wir als of-
fiziellen Gedenktag im Bundestag mit einer Gedenkver-
anstaltung begehen würden? Aus meinen eigenen Ge-
sprächen mit jungen Menschen weiß ich: Die fühlen sich
von solchen Veranstaltungen nicht angesprochen. Seit
vielen Jahren bemüht sich die PDS, den 8. Mai zum offi-
ziellen Gedenktag zu machen. Vor drei Jahren schon ha-
ben wir an dieser Stelle die Argumente für und wider aus-
getauscht und das Ansinnen mit großer Mehrheit abge-
lehnt. Mit ihrem Entwurf will die PDS folgende Ziele
umsetzen: Wachhalten der historischen Lehre „Von deut-
schem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“, Wachhal-
ten der mahnenden Erinnerung an den Nationalsozialis-
mus. Neonazistische Tendenzen sollen ebenso bekämpft
werden wie Bestrebungen, die das ungeheure Ausmaß des
Nazismus relativieren wollen. Das sind Ziele, denen wir
wohl alle zustimmen können. Nur, diese Ziele erreichen
wir nicht dadurch, dass wir einen weiteren offiziellen Ge-
denktag beschließen. Ich fürchte, das wäre eher kontra-
produktiv. Ein Mehr an Gedenktagen schafft nicht ein
Mehr an historischem Bewusstsein.
Abgesehen von der eingangs herausgestellten zentra-
len Bedeutung des 8. Mai für uns Deutsche, kann aber
auch nicht verschwiegen werden, dass dieser Tag durch
ungute DDR-Traditionen so vorbelastet ist, dass er für ei-
nen nationalen Gedenktag einfach ungeeignet ist. In der
DDR war der 8. Mai ein Tag des verordneten Antifaschis-
mus. Gedacht wurde der „Opfer von Faschismus und Mi-
litarismus“.
Mit einer wirklichen Auseinandersetzung mit den his-
torischen Tatsachen hatte das wenig zu tun, eher mit der
Legitimierung der eigenen Herrschaft. Zunächst war der
8. Mai ein Feiertag – ich erinnere mich gut, wie wir uns
als Kinder über einen schulfreien Tag freuten. Schon bald
wurde dieser Tag wieder zu einem Arbeitstag. Das Plan-
soll musste schließlich erfüllt werden. Übrigens auch der
Ostermontag wurde 1967 aus demselben Grund als Feier-
tag abgeschafft.
Was war denn ursprünglich der 8. Mai nach DDR-Les-
art? Das war in erster Linie der Tag der Befreiung durch
die Rote Armee. Schon bald bekam der Wahlspruch „Von
der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ Schieflage.
Vollends seit der Ära Gorbatschow gerieten die alten Leit-
bilder ins Wanken. Der 8. Mai verkam mehr und mehr zur
leeren Hülle. Da halte ich es nicht für vertretbar, diesen
Tag nun wieder in seiner tatsächlichen historischen Be-
deutung wiederbeleben zu wollen.
Ich fasse zusammen: Für das Wachhalten der Erinne-
rung an das, was nie wieder geschehen soll, brauchen wir
keine weiteren Gedenktage, erst recht keine, die aufgrund
gewisser Traditionen vorbelastet sind. Stattdessen brau-
chen wir eine lebendige, breite gesellschaftliche Ausei-
nandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Der
Bundestag selber kann dazu immer wieder den Anstoß
geben. Das hat er bewiesen anlässlich der Entscheidung
zum Holocaust-Mahnmal; das wird er – so hoffe ich –
fortsetzen bei der Debatte zur Einrichtung einer Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, ebenso wie
bei den anstehenden Entscheidungen zur Entschädigung
anderer Opfergruppen.
Erinnerungsarbeit leisten wir am besten dadurch, dass
wir die bestehenden Gedenktage mit dezentralen regiona-
len Veranstaltungen begehen. Große zentrale Gedenktage
sollten – gerade damit sie ihre Wirkung entfalten können –
die Ausnahme sein. Der 27. Januar erfüllt diesen An-
spruch. Gefragt sind Ideen für Aktionen und Projekte, die
vor allem die jungen Menschen ansprechen. Das ist auch
eine Kernaufgabe der politischen Bildungsarbeit, die wir
durchaus ernster nehmen sollten.
Die notwendige Mahnung hat Elie Wiesel in seiner An-
sprache zum diesjährigen 27. Januar hier an dieser Stelle
so formuliert: „Vergesst nicht, dass ihr wahnsinnig wart,
vergesst nicht, dass die Geschichte den Wahnsinn beher-
bergte.“ Um diese Erinnerung wach zu halten, sind noch
mehr gesetzlich verordnete und alljährlich wiederkeh-
rende Gedenktage wenig hilfreich.
Martin Hohmann (CDU/CSU):Der PDS-Antrag zum
8. Mai hat im Laufe der Jahre seinen provozierenden Cha-
rakter verloren. Bei der Ersteinbringung im Jahr 1990 hat
Chuzpe dazu gehört. Damals hat es den Demokraten der
anderen Parteien sicher den Puls hoch getrieben. Heute ist
die Provokation dem Ritual gewichen, heute fehlt dem
Antrag jeglicher Neuigkeitswert, heute belegt der Antrag
lediglich eine funktionierende Wiedervorlage in der PDS-
Fraktionsbürokratie. So müssen Sie in Kauf nehmen, dass
Ihr Antrag heute eine gewisse Langweile verbreitet.
Hierin könnte Berechnung liegen. Warum? Der normale
Mensch, ebenso das demokratische Gemeinwesen, erliegt
der Gefahr, quengelnd wiederholten Forderungen nach-
zugeben. Steter Tropfen höhlt den Stein. Damit man seine
Ruhe hat, sagt man schließlich Ja, auch wenn das Ergeb-
nis falsch ist.
Die PDS wird uns aber nicht auf die falsche Fährte lei-
ten:
Erstens. Am 27. Januar gedenken wir der Befreiung
von Auschwitz. Auschwitz ist das Synonym für absolute
Gottesferne, für brutalen Terror, für Menschenverach-
tung, für Menschenausbeutung, für Menschenvernich-
tung. Schlimmeres ist kaum vorstellbar. Auschwitz – kein
anderes Wort steht so exemplarisch für das Verbrecheri-
sche des Nationalsozialismus. Der 8. Mai hätte neben dem
Gedenktag 27. Januar viel inhaltliche Überschneidung.
Gerade für junge Menschen im Schulalter wäre das
schlechte Pädagogik. Wiederholung und Überschneidung
könnten zu Abstumpfung, zum Weghören führen. Das
können wir nicht wollen.
Zweitens. Die Antragsbegründung der PDS ist eine
Beleidigung für das Gemeinwesen Bundesrepublik
Deutschland. Es stimmt einfach nicht, dass „es in allen Be-
reichen der Gesellschaft seit Jahren Bestrebungen gibt ...,
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9351
(C)
(D)
(A)
(B)
die Verbrechen des ... Nationalsozialismus und Militaris-
mus ... zu relativieren“. Im Gegenteil: In einer weltweit
einzigartigen, dauerhaften Anstrengung stellt sich unser
heutiger Staat dem Versagen und den Verbrechen während
der NS-Diktatur. Wir tragen schwer an unserer Ge-
schichte. Wir bekennen uns zu ihr. Wir übernehmen Ver-
antwortung. Die Wiedergutmachungspolitik seit Konrad
Adenauer belegt dies eindringlich. Es ist unverantwort-
lich und grundfalsch, den Staatsterrorismus der NS-Zeit
mit unserem heutigen Deutschland und seiner Gesell-
schaft auch nur ansatzweise zu vergleichen.
Drittens. Der PDS-Antrag käme nicht von der PDS,
wenn er nicht seinen ideologischen Sinn hätte. Camou-
flage, Bemäntelung der, nein besser Herausstehlen aus der
eigenen geschichtlichen Rolle, das steht hinter dem PDS-
Antrag. Indem die Linksextremen den Rechtsextremen
zurufen: „Haltet den Dieb“, wollen sie sich auf die Seite
der Rechtschaffenen stellen. Bevor Sie dort ankommen,
haben Sie noch einen weiten Weg vor sich. Die Erkennt-
nis, der geschichtlichen Kraft zu entspringen, die für
100 Millionen Tote Verantwortung trägt, verlangt von ih-
nen noch viel Arbeit. Lesen Sie das Schwarzbuch des
Kommunismus. Lesen Sie es mehrfach. Leisten Sie die
gleiche Aufarbeitung Ihrer Geschichte, die die Bundesre-
publik Deutschland bereits geleistet hat. Das wird Sie
lange beschäftigen. Eines werden die Demokraten dieser
Republik nicht zulassen: dass Sie sich, ähnlich wie die
DDR, mit verbalen Tricks ideologisch selbst freisprechen.
Weil das alles so ist, brauchen wir von Ihnen keine
Lehren in Sachen Gedenkkultur. Deswegen brauchen wir
von Ihnen keine Lehren in Sachen Gedenkkultur. Deswe-
gen brauchen wir von Ihnen keine Hinweise für demo-
kratische Traditionsbildung.
Die PDS greift auf Vokabular des real existierenden
Sozialismus zurück, wenn sie uns den 8. Mai als „Tag der
Befreiung“ anbietet. Durch Volkskammerbeschluss vom
21. April 1950 wurde der 8. Mai „Staatsfeiertag“. Bis
1967 behielt der 8. Mai diesen Charakter. Da wurde die
Freundschaft mit der Sowjetunion und die Kampfbereit-
schaft der DDR demonstriert. Stechschritt, Blauhemden,
ein Meer von roten Fahnen, große Militärparade in
Ostberlin. Fackelzüge uniformierter FDJ, öffentliche
Schwüre auf die ewige Treue zur Sowjetunion. Soll das
im Jahr 2000 unser Vorbild sein? Abgesehen davon, dass
es die Sowjetunion nicht mehr gibt, was mancher aus der
PDS bedauern mag: Dieser 8. Mai ist in Deutschland be-
setzt. Er ist vorbelastet. Wer sich ein Rest geschichtlichen
Gespürs bewahrt hat, kommt zu dem Schluss: Dieser
8. Mai taugt einfach nicht als Vorbild für das demokrati-
sche Deutschland.
Herzlich bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von
der PDS, uns mit ähnlichen Vorschlägen aus dem Arsenal
der DDR-Gedenktage zu verschonen. Im Angebot wäre
etwa der 1. März als „Tag der Volksarmee“ oder der „Tag
der Republik“ am 7. Oktober. Der „Weltfriedenstag“ hätte
auch seinen Reiz. 1968, nach der bewaffneten „Bruder-
hilfe“ für die Tschechoslowakei, konnte man ihn beson-
ders freudig feiern.
8. Mai 1945 – Tag der Befreiung? Befreiung für alle?
Glück hatte und Freiheit gewann, wer im Westen war. Für
KZ-Häftlinge öffneten sich die Tore. Andere wurden
auch befreit: befreit im Sinne von etwas loswerden. Be-
freit von Eigentum, von Gesundheit, von Freiheit, von
Geschlechtsehre, vom Leben. Die Millionen von Kriegs-
gefangenen, die neuen Zwangsarbeiter und Verschlepp-
ten, die Millionen Vertriebenen, die Millionen Vergewal-
tigungsopfer, die neuen Volksfeinde, die neuen Insassen
von Buchenwald: Wie können sie den 8. Mai als „Tag der
Befreiung“ sehen?
Die Kontroverse „besiegt oder befreit“ ist im Grunde
müßig. Da gibt es die Alliierten, da gibt es die Deutschen.
Nach ihrer Selbsteinschätzung und ihren überdeutlich be-
kundeten Selbstbewusstsein sahen sich die Alliierten als
Sieger, einzig und ausschließlich als Sieger. „Deutschland
wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern
als besiegter Feindstaat“ so das alliierte Oberkommando.
Diese Worte sind kristallklar. Da wirken Ihre Versuche ab-
surd, sozusagen nachträglich aufs Siegertreppchen zu
schleichen.
Eine allgemein verbindliche Selbsteinschätzung für
uns Deutsche ist nicht möglich. Das entscheidet sich am
je konkreten Einzelschicksal. Auf die Gesamtheit unseres
Volkes gesehen, folge ich lieber einem verlässlichen Zeit-
zeugen als nachgeborenen Heißspornen. Theodor Heuss,
der erste Bundespräsident, nannte den 8. Mai 1945 „die
tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte
für jeden von uns ... Weil wir erlöst und vernichtet in ei-
nem gewesen sind“. Erlöst und vernichtet in einem ...
Schließlich: Wenn man das Wort „Befreiung“ erst
nimmt, dann waren die Deutschen zuvor unfrei. Der Un-
freie handelt unter Zwang, er kann sich nicht widersetzen.
Wer sich nicht widersetzen kann, den trifft keine Verant-
wortung für sein Handeln, weder rechtlich noch mora-
lisch. Wo wäre denn dann die Begründung für Wiedergut-
machungsleistungen? Wo wäre die Begründung für die
Zwangsarbeiterentschädigung?
Für die CDU/CSU-Fraktion kündige ich eine Ableh-
nung des PDS-Antrages an. Die PDS bitte ich, uns mit ei-
ner Reprise ihres Ladenhüters zu verschonen.
Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will
Ihnen kurz in vier Punkten unsere Position zu dem vorlie-
genden Gesetzentwurf der PDS schildern.
Erstens. Der 8. Mai 1945 war und ist für uns der Tag
der Befreiung vom Nationalsozialismus. Dass dies zum
Konsens unserer Gesellschaft wird, daran wollen wir ge-
meinsam arbeiten. Ich finde es völlig inakzeptabel, wenn
manche in diesem Datum noch immer den Tag der Nie-
derlage der Deutschen sehen. Die Niederlage der deut-
schen Demokratie war der 30. Januar 1933. Hiernach wa-
ren Humanität und Kultur nur noch in Opposition zum
Regime der Nationalsozialisten zu bewahren. Die bedin-
gungslose Kapitulation des Deutschen Reiches setzte dem
Völkermord an Juden, Sinti und Roma und den Völkern
Osteuropas sowie dem millionenfachen Töten in diesem
Krieg endlich ein Ende. Die verbrecherische Diktatur des
Nationalsozialismus war damit beendet.
Zweitens. Der Bundespräsident hat den 27. Januar zum
Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009352
(C)
(D)
(A)
(B)
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
sollte gerade im Land der Täter einen besonderen Stellen-
wert einnehmen. Es sollte im Zentrum stehen. Dieses Ge-
denken ist Mahnung, uns mit Rassismus, Antisemitismus
und Minderheitenfeindlichkeit, mit religiöser und politi-
scher Intoleranz auseinanderzusetzen. Dies erfordert, dass
der Benachteiligung und Diskriminierung von Minder-
heiten durch Staat und Gesellschaft mit rechtlichen
Schritten und pädagogischen Maßnahmen konsequent
entgegengetreten wird.
Drittens. Gedenken muss sich vor allem am Umgang
mit den Opfern messen lassen. Hier haben wir mit dem
27. Januar einen Prüfstein gesetzt, dessen wir uns erst
noch würdig erweisen müssen: bei der Einbeziehung der
osteuropäischen Juden in den Artikel-2-Fonds, bei der
Anerkennung des Schicksals der vergessenen Opfer, der
Deserteure, Homosexuellen, Zwangssterilisierten, Behin-
derten und der so genannten Asozialen. Für mich haben
die Rehabilitierung aller Opfer und die Sorge für die
Überlebenden eindeutig Vorrang vor weiteren offiziellen
Gedenkveranstaltungen.
Viertens. Der vorliegende Entwurf überzeugt mich
auch in der Form nicht. Die jährliche Durchführung einer
Gedenkveranstaltung des Bundestages gesetzlich festzu-
schreiben erscheint mir nicht seriös. Ich finde es sogar al-
bern.
Vorschläge zum Gedenken sollten angemessen ange-
gangen werden und gründlich durchdacht sein. Der Streit
um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und
die Forderung nach Denkmälern für die anderen Opfer zei-
gen, wie schwierig es ist, eine angemessene Form für die
notwendige Auseinandersetzung mit unserer Geschichte
zu finden. Wir müssen uns auch vor so leeren Ritualen wie
unendlich vielen Gedenkveranstaltungen hüten.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (F.D.P.): Der 8. Mai
1945, der Tag der militärischen Niederlage des national-
sozialistischen Deutschlands, ist ohne jeden Zweifel ein
markantes, höchst wichtiges Datum in der Geschichte des
20. Jahrhunderts.
Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker
hat in seiner wohl berühmtesten Rede die historische Be-
deutung dieses Ereignisses gewürdigt und dabei die Be-
freiung Deutschlands und Europas von der Diktatur des
Nationalsozialismus als epochale Leistung der Alliierten
herausgestellt.
Spätestens seit dieser Rede Richard von Weizsäckers
wird alljährlich am 8. Mai durch Politik und Publizistik,
in den Schulen, in vielen gesellschaftlichen Institutionen
gerade auch an den Aspekt der Befreiung vom National-
sozialismus erinnert.
Dies geschieht aus freien Stücken, ohne staatliche Vor-
gabe. Gerade deswegen ist dieser Vorgang so wertvoll.
Nicht die Frage ist entscheidend, ob an ein Ereignis Kraft
staatlicher Anordnung gedacht wird, sondern entschei-
dend ist, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen
jüngsten Geschichte stattfindet.
Umso besser, wenn die Gesellschaft selbst dafür sorgt,
dass die Auseinandersetzung über Ursachen und Folgen
des Nationalsozialismus wach bleibt. Ein Vergessen darf
es nicht geben. Nicht zuletzt eine leider festzustellende
gewisse Anfälligkeit eines Teils der Jugendlichen für
rechtsextremes Gedankengut beweist, welch große politi-
sche Bildungsaufgabe immer wieder erfüllt werden muss.
Offizielle Gedenktage können dabei ein geeignetes
Hilfsmittel sein. Sie sind dann nicht nötig, wenn die Erin-
nerung an das entsprechende Ereignis ohnehin lebendig
ist. Genau dies ist am 8. Mai zu beobachten.
Die F.D.P. lehnt daher den vorliegenden Gesetzentwurf
der PDS ab. Wir lehnen damit nicht das Gedenken an die
Befreiung vom Nationalsozialismus ab. Wir meinen viel-
mehr, das in unserer lebendigen Demokratie dieses Ge-
denken nicht vom Staat vorgeschrieben werden muss. Da-
her ist das von der PDS angestrebte Gesetz überflüssig.
Anlage 5
Zu Protokoll gegene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
Fernabsatzverträge und andere Fragen des Ver-
braucherrechtes sowie zur Umstellung von Vor-
schriften auf Euro
Dirk Manzewski (SPD):Am heutigen Tag debattieren
wir hier im Deutschen Bundestag über den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Fernabsatzgesetz.
Nach dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlun-
gen sowie dem Gesetz zur vergleichenden Werbung und
zur Änderung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften befas-
sen wir uns damit im Rahmen der Rechtspolitik in kürzes-
ter Zeit erneut mit einem wirtschaftspolitischen Thema.
Der Gesetzentwurf dient dabei in erster Linie der Um-
setzung der entsprechenden Richtlinie des Europäischen
Parlaments über den Verbraucherschutz bei Vertragsab-
schlüssen im Fernabsatz.
Vorrangiges Ziel ist es in diesem Zusammenhang, den
Verbraucher vor irreführenden und aggressiven Verkaufs-
methoden im Fernvertrieb zu schützen und das Recht der
Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vollendung des Bin-
nenmarktes zu hamonisieren.
Dem Gesetzentwurf kommt dabei rechtspolitisch be-
sondere Bedeutung zu. Er bildet quasi den rechtlichen
Grundpfeiler auf dem Weg Deutschlands in die Informa-
tionsgesellschaft.
Das Gesetz wird zukünftig die Vertriebsarten regeln,
bei denen sich Verkäufer und Käufer nicht mehr, wie bis-
her in der Regel üblich, physisch begegnen und Verbrau-
cher die Ware oder Dienstleistung in der Regel nicht vor
Vertragsschluss in Augenschein nehmen können.
Dies betrifft neben dem klassischen Versandhandel ins-
besondere die Geschäfte, die unter Einsatz der neuen
Kommunikationstechnologien getätigt werden.
Zukünftig werden Produkte oder Dienstleistungen im-
mer verstärkter über Internet, Fernsehen, aber auch
Presse und Telefon angeboten und Auftragserteilungen
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9353
(C)
(D)
(A)
(B)
dementsprechend immer häufiger über Computer, Telefax
und Telefon erfolgen.
Den größten Nutzen wird der Fernabsatz dabei aus der
Öffnung der Grenzen im europäischen Binnenmarkt zie-
hen. Die Möglichkeit, unter Einsatz der neuen Kommuni-
kationstechnologien auch grenzüberschreitend elektro-
nisch geschützte Käufe zu tätigen, wird ein Übriges tun.
Für viele ist dies der Markt der Zukunft, insbesondere
weil hier den neuen Informationstechnologien ein immer
höherer Stellenwert zukommt. Optimistische Studien se-
hen in diesem Zusammenhang allein für die Bundesrepu-
blik ein Wachstumspotenzial von bis zu 60 Milliarden DM
in den Bereichen Online- und Teleshopping voraus.
Der Umstand, dass immer mehr Firmen ihre Erzeug-
nisse oder Dienstleistungen mithilfe der neuen Technolo-
gien vertreiben, kann vor allem für Verbraucher jedoch
nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile bieten. Insbe-
sondere aufgrund der fehlenden physischen Präsenz der
Vertragsparteien entstehen besondere Probleme, denen
mit speziellen Regelungen begegnet werden muss.
Die hieraus resultierenden Gefahren und relative Unsi-
cherheiten, die diese in juristischer Hinsicht mit sich brin-
gen, sind erkannt und ausgeräumt worden. Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung erfüllt die insoweit an ihn
gestellten Anforderungen. Er wird für Verbraucher und
Anbieter in einem veränderten Marktumfeld Rechtssi-
cherheit gewährleisten. Das Recht auf die Wahlfreiheit
des Verbrauchers wird gesichert sein.
Dieses beddeutet nicht nur, dass der Verbraucher in sei-
ner Privatsphäre vor belästigenden Bestellaufforderun-
gen- oder -angeboten geschützt wird; ihm steht auch ein
hoher Informationsanspruch vor der Bestellung und
während der Auftragsausführung zu. Die neue Technolo-
gienutzung wird keinesfalls zu einer Einschränkung der
dem Verbraucher zu liefernden Informationen führen.
Daneben steht dem Verbraucher ein wirkungsvolles
Widerrufsrecht als klassisches Schutzinstrument zur
Seite. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt wird im
Übrigen die in diesem Zusammenhang vorgenommene
Vereinheitlichung nahezu aller Widerrufsfristen sein.
Zudem ist die Verbandsklagemöglichkeit konkretisiert
und der Verbraucher vor den Risiken einer betrügerischen
Verwendung seiner Zahlungskarten stärker geschützt
worden.
Das Gesetz wird auch konsequent gegen diejenigen
vorgehen, die meinen, den Verbrauchern durch Mitteilun-
gen über angebliche Gewinne Warenangebote aufdrängen
zu können. Die frohen Botschaften über angebliche Ge-
winne von Geld, Schmuck, Reisen oder Autos, an deren
Ende dann bis auf die Erkenntnis „außer Spesen nichts ge-
wesen“ nichts bleibt, werden damit hoffentlich der Ver-
gangenheit angehören. Zukünftig wird der Unternehmer
beim Wort genommen werden können und den Gewinn
auszukehren haben.
Nun können einige meinen, dass der Gesetzentwurf
tendenziell doch sehr verbraucherfreundlich sei. Ich
selbst halte ihn für ausgewogen, da ich davon ausgehe –
auch wenn dies zunächst widersprüchlich klingen mag –,
dass hier Verbraucher und Unternehmer ein gemeinsames
berechtigtes Interesse am Verbraucherschutz haben müs-
sen.
Die Erwartungen der Unternehmer in den Fernabsatz
werden sich meiner Auffassung nach nämlich nur erfül-
len, wenn dem Verbraucher die Angst vor diesem expan-
dierenden Vertriebsweg genmmen wird. Die Interessen
von Verbrauchern und Unternehmen decken sich inso-
weit. Die Unternehmer haben ein berechtigtes Interesse
daran, dass potenzielle Kunden nicht wegen schlechter
Erfahrungen von dem neuen Markt abgeschreckt werden.
Wer Probleme mit dieser neuen Vertriebsart gehabt hat,
sei es aufgrund von Unzufriedenheit mit dem Produkt
selbst oder mit der Abwicklung, bei dem wird sich anson-
ten eine Hemmschwelle aufbauen. Ohne ausreichenden
Verbraucherschutz wird sich der Kunde scheuen, hierauf
noch einmal zurückzugreifen.
Mir ist durchaus bewusst, dass zum Beispiel gerade die
größeren Firmen im klassischen Versandhandel dem in
der Vergangenheit vielfach bereits freiwillig nachgekom-
men sind und ihren Kunden auch selbstständig beispiels-
weise ein großzügiges Widerrufsrecht oder Rücktritts-
recht eingeräumt haben. Es hat sich aber auch gezeigt,
dass sich gerade diese Firmen auf dem Markt durchge-
setzt haben.
Da zum Beispiel das Medium Internet aufgrund der re-
lativ geringen Kostenbelastung einerseits und der hohen
Frequentierungsmöglichkeit andererseits auch vielen
kleineren unbekannten Firmen eine Chance bietet, muss
aufgepasst werden, dass dieses nicht von „schwarzen
Schafen“ missbraucht wird. Klare Regelungen sind des-
halb insoweit erforderlich und auch getroffen worden.
Die Sachverständigen in der Anhörung haben den Ge-
setzentwurf deshalb auch durchweg gelobt.
Der Sachverständige Berendt vom Bundesverband des
Deutschen Versandhandels sprach von „... einem insge-
samt ausgewogenen Entwurf ...“ Er habe in seiner lang-
jährigen Praxis noch kein Gesetzgebungsverfahren erlebt,
das so gut von der Regierung vorbereitet worden sei.
Professor Dr. Heinrichs, der Kommentator des BGB
schlechthin, hat den Entwurf als sehr gelungen bezeichnet
und gegenüber dem Bundesministerium der Justiz sein
Kompliment ausgedrückt.
Professor Dr. Micklitz brachte es letztendlich auf den
Punkt, indem er meinte, dass er sich das Lob sozusagen
schenken müsse, da es ansonsten bei so viel Zustimmung
langsam peinlich werde.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Es zeigt, dass hier ein ge-
lungenes Gesetzeswerk vorliegt.
Auch mir bleibt deshalb nichts anderes übrig – und ich
mache das natürlich gern –, als der Bundesjustizministe-
rin und ihrem Haus mein Lob und meinen Dank für die-
ses hervorragende Gesetz auszusprechen.
Ich kann deshalb auch nicht verstehen, wie man dieses
Gesetz nur wegen eines einzigen strittigen Punktes – der
Kostentragungspflicht bei der Rücksendung der Ware –
ablehnen kann. Hier geht es um reine Fundamentaloppo-
sition, mehr nicht.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009354
(C)
(D)
(A)
(B)
Fachlich ist diese Einstellung jedenfalls nicht zu ver-
stehen, zumal die größeren Firmen im klassichen Ver-
sandhandel dies ohnehin schon seit langem so praktizie-
ren.
Hierzu kommt Folgendes: Die Informationen ein-
schließlich der Rückabwicklung und deren Kosten sind
dem Kunden auf einem dauerhaften Datenträger zur Ver-
fügung zu stellen, spätestens mit Lieferung der Ware. Es
kann doch aber nicht sein, dass dem Verbraucher die
Rücksendekosten auferlegt werden, wenn er erstmalig bei
Lieferung der Ware hiervon erfährt. Dies ist nicht sachge-
recht.
Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU):Der vorliegende
Gesetzesentwurf erfolgt auf Grundlage der Richtlinie
97/7/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates
vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Ver-
tragsabschlüssen im Fernabsatz und ist bis zum Ablauf
des 4. Juni 2000 in deutsches Recht umzusetzen.
Der Gesetzentwurf befasst sich mit Verträgen, die un-
ter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikati-
onsmitteln abgeschlossen wurden. In diesem Zusammen-
hang wird zunächst geregelt, welche Vertragsarten nicht
unter den Gesetzeswortlaut fallen (§ 1 Abs. 3 Nrn. 1–7
FernAG). Kernstück der Richtlinie und damit auch eines
zukünftigen Gesetzes sind aber folgende Punkte: die Auf-
klärungspflicht des Unternehmers gegenüber dem Ver-
braucher über den geschäftlichen Zweck und die Identität
des Unternehmers (§ 2 FernAG) sowie die Regelung ei-
nes Widerrufsrechts bzw. Rückgaberechts des Verbrau-
chers (§ 3 FernAG). Damit gehen Änderungen im Bereich
des BGB und AGBG einher. Insbesondere sollen die
neuen §§ 361 a und 361 b des BGB Widerrufsrecht und
Rückgaberecht regeln. § 661 a BGB soll die zivilrechtli-
che Verpflichtung des Unternehmers enthalten, bei Ge-
winn- oder Preiszusagen gegenüber dem Verbraucher die-
sen Preis auch tatsächlich zu leisten. Schließlich sollen im
AGBG die Möglichkeiten der Verbandsklage erweitert
werden, wie es die Richtlinie vorgibt.
Die Richtlinie strebt mehr Rechtssicherheit aufseiten
des Verbrauchers an. Wir können feststellen: Allein für
den Bereich des traditionellen „Katalog-Versandhandels“
wäre ein solches Gesetz nicht notwendig. Bestünde in die-
sem Bereich des Versandhandels tatsächlich eine nicht
hinzunehmende Rechtsunsicherheit zulasten des Verbrau-
chers, so hätten sich große Versandhäuser, wie sie in meh-
reren Städten Deutschlands angesiedelt sind, nicht eta-
blieren und nicht mit diesem Erfolg halten können. Durch
die neuen Medien, wie das Internet und den E-Commerce,
ist jedoch ein neuer Typ von Versandhandel und dement-
sprechend Fernabsatzverträgen entstanden. Allein ange-
sichts der so genannten Online-Auktionen bedarf es eines
erhöhten Verbraucherschutzes, da dem Verbraucher nun-
mehr zum Beispiel nicht ohne weiteres erkennbar ist, mit
wem er in Vertragsverhandlungen steht.
Unter dem Einfluss der europäischen Richtlinienge-
bung einerseits, der technologischen Entwicklung ande-
rerseits bringt dieses Gesetz einen grundlegenden Para-
digmenwechsel in unserem bürgerlichen Recht: Verträge
werden europaweit, weltweit, seit Hunderten von Jahren
prinzipiell formfrei durch schlichten Konsens geschlos-
sen. Dies ist ein Prinzip, welches seit dem Dreißigjähri-
gen Krieg naturrechtlich vermittelt praktiziert wird.
Durch das FernAG, welches durch die Formulierung in
§ 1 Abs. 2 FernAG auf fast alle Verträge anwendbar ist,
die per Brief, Katalog, Telefon, Telefax, E-Mails ge-
schlossen werden, entfernt man sich von diesem Prinzip.
In die Stellen des freien Konsens werden nun starke
Formvorschriften, Bindungen, Informationspflichten und
Widerrufsrechte gesetzt. Weiterhin soll nach der Formu-
lierung des § 361 a BGB-E der Verbraucher im Falle des
Widerrufs an seine auf den Vertragsabschluss gerichtete
Willenserklärung nicht mehr gebunden sein. Bei der Be-
gründung wird von einer „schwebenden Wirksamkeit“
gesprochen. Hingegen wird bisher bei den meisten Fällen
des Widerrufsrechts von einer schwebenden Unwirksam-
keit ausgegangen. Der Begriff der „schwebenden Wirk-
samkeit“ ist neu. Für bestimmte Sondergesetze, wie zum
Beispiel das Fernunterrichtsgesetz, mag eine solche Kon-
struktion hinnehmbar sein. Sie passt aber nicht in das
BGB.
Das europäische Recht ist als Entscheidungsvorgabe
diesbezüglich nicht zu ändern. Seine Umsetzung in natio-
nales Recht ist als Entscheidungsvorgabe diesbezüglich
nicht zu ändern. Seine Umsetzung in nationales Recht
muss dieser grundsätzlichen Problematik jedoch Rech-
nung tragen. Denn in der Tat führt dieses Gesetz nun auch
im nationalen Bereich zu einem neuen Verbraucherrecht,
und wir müssen sehr darauf achten, dass der rechtssyste-
matische Paradigmenwechsel in Verbindung mit der
Durchnormierung des Vertragsverhältnisses des Fern-
absatzes, also die Einschränkung der im Zivilrecht
grundsätzlich bestehenden Vertragsautonomie, uns nicht
wegführt vom Bild des mündigen Verbrauchers, den wir
uns wünschen.
Gegen die Umsetzung der Richtlinie selbst ist in wei-
ten Bereichen wenig einzuwenden. Jedoch sind folgende
Punkte herauszustellen: Wir halten es für gut, dass ent-
sprechend dem Gestaltungsrahmen der Richtlinie neben
dem Widerrufsrecht des Verbrauchers auch ein Rückga-
berecht vorgesehen wird, wie es ja auch der Praxis ent-
spricht. Ein Punkt fordert jedoch unseren Widerspruch
heraus: Aus dem ursprünglichen Gesetzentwurf wurde in
§ 3 FernAG die Formulierung gestrichen, dass der Ver-
braucher im Falle eines Widerrufs die Kosten der Rück-
sendung zu tragen hat, wenn der Vertrag dies vorgesehen
hat. Dabei würde die Richtlinie eine derartige Vereinba-
rung zwischen den Vertragsparteien gestatten. Der Ge-
setzentwurf nimmt hier also nicht eine Umsetzung der
Richtlinie im Verhältnis 1:1 vor, sondern engt den ver-
traglichen Spielraum der Parteien über die Vorgaben der
Richtlinie hinaus ein. Dabei erfordert gerade der von mir
beschriebene zivilrechtliche Paradigmenwechsel äußerste
Sensibilität bei der Umsetzung.
Ziel der Regelung sollte der angemessene Schutz des
Verbrauchers sein, und nicht, Vertragstypen und Absatz-
systeme, bei denen ein Widerrufsrecht besteht, insge-
samt zu erschweren. Durch das Widerrufsrecht wird dem
Verbraucher ein Vorteil zulasten eines Unternehmers
eingeräumt, obwohl diesem als Vertragspartner kein
missbilligendes Verhalten vorgeworfen werden kann. Es
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9355
(C)
(D)
(A)
(B)
ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb dem Verbraucher,
der sich von einem aus freier Willenserklärung abge-
schlossenen Vertrag löst, nicht wenigstens die Kosten und
die Gefahr der Rücksendung auferlegt werden können.
Stattdessen soll nun in §§ 361 a Abs. 2 BGB obligatorisch
vorgesehen werden, dass der Verbraucher im Falle des
Widerrufs zur Rücksendung der Ware auf Kosten und Ge-
fahr des Unternehmens verpflichtet ist. Als Begründung
für diese Kehrtwendung bezüglich der Kostentragung
wurde ausgeführt, dass der Verbraucher durch die mögli-
che Kostenlast der Rücksendung an seiner freien Aus-
übung des Widerrufsrechts sich gehindert sieht und es so-
mit zu einer Aushöhlung des Verbraucherschutzes in die-
sem Bereich kommen könnte.
Diese Argumentation überzeugt in keinster Weise.
Zum einen wird durch Richtlinie und zukünftiges Gesetz
die Vertragsfreiheit ohnehin in erheblicher Weise be-
schnitten. Auch und gerade im Interesse eines wirksamen
Verbraucherschutzes muss Vertragsfreiheit aber zumin-
dest in Ansätzen noch bestehen bleiben. Dabei kann es ge-
rade auch im Interesse eines funktionierenden Marktes
liegen, wenn die Tragung der Rücksendekosten durch den
Verbraucher vom einzelnen Unternehmer verlangt und
vom Verbraucher gegenüber der Qualität von Ware bzw.
dem Service dieses Unternehmens gegenüber anderen
Unternehmen abgewogen werden kann. Gerade kleine
und mittlere Unternehmen würden durch eine grundsätz-
liche gesetzliche Verpflichtung, die Kosten der Rücksen-
dung zu übernehmen, betroffen. Die großen Versandhäu-
ser übernehmen schon heute als besonderen Kunden-
dienst freiwillig die Rücksendekosten des Verbrauchers.
Wenn nun alle Versandunternehmen verpflichtet werden,
diese Rücksendekosten zu tragen, besteht die Gefahr, dass
gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen
dies finanziell nicht verkraften können, bzw. wenn sie die
Kosten der Rücksendung durch eine Preisanhebung zu
kompensieren versuchen, nicht konkurrenzfähig bleiben.
Die möglichen Folgen dieser Entwicklung sind ein-
deutig vorherzusehen: Die Anzahl der kleinen und mittle-
ren Unternehmen, die sich teilweise auf bestimmte Pro-
dukte spezialisiert haben, geht zurück, die Arbeitslosen-
zahlen werden sich erhöhen, und es folgt eine
Einschränkung des Wettbewerbs hin zu oligopolartigen
Strukturen zwischen einigen wenigen großen Versand-
häusern. Außerdem: Gerade im Bereich des E-Commerce
und Internethandels wird der Markt der Zukunft gesehen,
der auch erhebliche Wachstumschancen für den deut-
schen Versandhandel im europäischen Raum beinhalten
kann. Durch die Regelung, dass der Unternehmer obliga-
torisch die Kosten und die Gefahr der Rücksendung zu
tragen hat, wird aber die Möglichkeit der Erschließung
neuer Märkte im Keim erstickt, da es nicht möglich ist,
unfreie Pakete durch die Deutsche Post aus dem europäi-
schen Ausland befördern zu lassen. Dies hätte zur Folge,
dass entweder deutsche Versandhäuser nicht außerhalb
Deutschlands Kunden beliefern könnten oder aber Zweig-
stellen im europäischen Ausland zur Annahme von Rück-
sendungen eröffnet werden müssten. Dies hätte wiederum
zur Folge, dass mögliche neue Arbeitsplätze, die durch die
Ausweitung des Versandhandels auf dem europäischen
Raum geschaffen werden könnten, nicht in Deutschland,
sondern im europäischen Ausland im Zusammenhang mit
der Eröffnung der Zweigstellen geschaffen werden.
Weiterhin wird durch die Regelung, dass der Unter-
nehmer die Kosten der Rücksendung zu tragen hat, dem
Missbrauch der Überstellung Tür und Tor geöffnet, und
diese kann ja nicht Sinn des Verbraucherschutzes sein.
Der Verbraucher benötigt im Einzelfall eigentlich nur ein
Hemd, bestellt aber gleich fünf bis zehn Hemden, um
dann eine Auswahl zu treffen. Eines der Hemden behält
er, die anderen werden im Rahmen des Widerrufs auf
Kosten des Unternehmens an dieses zurückgesendet.
Dadurch, dass durch die Neuregelung das Unternehmen
die Kosten der Rücksendung nicht vertraglich auf den
Kunden übertragen kann, wird dieses Problem verstärkt
auftreten.
Nochmals: Waren bislang nur die großen Versandhäu-
ser, die die Kosten der Rücksendung freiwillig übernom-
men haben, davon betroffen, so werden in Zukunft auch
kleinere Versandhäuser von diesem Problem betroffen
sein. Es ist daher fraglich, ob gerade kleinere Unterneh-
men dies finanziell verkraften können, bzw. wenn sie die
Kosten der Rücksendung durch eine Preisanhebung zu
kompensieren versuchen, noch konkurrenzfähig bleiben.
Hier sollte über alle Feiertagsreden über die Bedeutung
des Mittelstandes für unsere Volkswirtschaft hinaus auch
einmal ganz konkret an die Teilhabechancen kleiner und
mittlerer Unternehmen an diesem Fernabsatzmarkt ge-
dacht werden.
Übrigens: Es leuchtet auch nicht ein, warum der Ver-
braucher, der ein Produkt im Versandhandel bestellt, in-
soweit obligatorisch besser zu stellen ist als der Verbrau-
cher, der ein Produkt herkömmlich im Laden erwirbt. Bei
Verträgen im Versandhandel hätte das Unternehmen nach
dem Gesetzesentwurf die Kosten der Rücksendung zu tra-
gen. Falls aber der Verbraucher, der das Produkt her-
kömmlich im Laden erworben hat, dieses zurückgeben
bzw. umtauschen will, so hat er sich selbstverständlich auf
seine Kosten zu dem Geschäft zu begeben und dort die
Rückabwicklung des Kaufvertrages zu vollziehen.
Sinnvoll wäre es, die ursprüngliche Version des Ge-
setzentwurfes wieder aufleben zu lassen. Danach könnte
das Unternehmen die Kosten der Rücksendung vertrag-
lich auf den Verbraucher übertragen. Das heißt, es wäre
dem Unternehmen freigestellt, ob es die Kosten der Rück-
sendung übernehmen will oder ob der Kunde sie zu tragen
hat. Dies würde dazu führen, dass wie bisher die großen
Versandhäuser die Kosten für ihre Kunden übernähmen,
die kleineren dagegen die Kosten auf den Kunden ver-
traglich übertragen würden. Eine Gefahr der Aushöhlung
des Verbraucherschutzes durch eine Hemmung des Ver-
brauchers in der Ausübung seines Widerrufsrechts besteht
auch in diesem Fall nicht. Entweder der Verbraucher in-
formiert sich, wobei der Unternehmer gemäß § 2 FernAG
zur umfassenden Unterrichtung des Verbrauchers ver-
pflichtet ist, vor der Bestellung, ob das Unternehmen die
Kosten der Rücksendung im Falle des Widerrufs trägt und
bestellt von vornherein nur bei Unternehmen, die dies tun,
oder er ist von dem Produkt so wenig überzeugt, dass er
auch dann, wenn der die Kosten der Rücksendung zu tra-
gen hat, von seinem Widerrufsrecht Gebrauch macht.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009356
(C)
(D)
(A)
(B)
In diesem Punkt schießt also der Gesetzentwurf über
das Ziel, das heißt: die Richtlinie und den Verbraucher-
schutz, hinaus. Wegen der grundsätzlichen rechtssyste-
matischen Bedeutung dieses Punktes für die Vertragsfrei-
heit in unserem Zivilrecht können wir dem Gesetz aus
diesem Grunde nicht zustimmen.
Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der
Rechtsausschussanhörung hat der renommierte Sachver-
ständige Prof. Schwintowski uns kürzlich Tiefstapelei
beim Titel dieses Gesetzes vorgeworfen. Die Bezeich-
nung „Fernabsatz“ sei nicht angemessen. Das Gesetz
sollte viel besser „Verbrauchervertragsgesetz“ heißen.
In der Sache hat er ja Recht. Aber unabhängig von die-
sen kosmetischen Fragen, die im Übrigen etwas mit der
möglichst wortgetreuen Übersetzung der englischsprachi-
gen Richtlinie zu tun haben, gilt: Mit diesem Gesetz
schafft die Koalition Rechtssicherheit beim E-Commerce.
Durch Verbesserungen beim Verbraucherschutz stär-
ken wir den Handel übers Internet und andere Telekom-
munikationsmittel. Wir schaffen Vertrauen in die Nutzung
der neuen Medien. Wem bislang der Kauf von Waren in
der virtuellen Welt des Internet unheimlich war – zum
Beispiel, weil er befürchtete, rechtlich nicht ausreichend
geschützt zu sein – der braucht sich künftig keine Sorgen
mehr zu machen.
Das 14-tägige Widerrufsrecht schützt den Verbraucher
vor bösen Überraschungen. Es ist ja ein Unterschied, ob
ich mir die Ware im Laden in Ruhe anschauen kann oder
ob ich ein kleines und vielleicht unscharfes Bild auf dem
Bildschirm sehe. Macht der Verbraucher von seinem
Recht auf Widerruf Gebrauch, muss er selbstverständlich
die Ware zurückschicken.
Aber, meine Damen und Herren von Union und F.D.P.:
Warum sollen wir diesen Verbraucherschutz an anderer
Stelle des Gesetzes wieder aushebeln? Wenn es nach Ih-
nen ginge, sollte der Bürger die Kosten für die Rücksen-
dung der Ware tragen. Typisch für Sie: Da lässt uns die
Richtlinie an einer Stelle etwas Gestaltungsspielraum und
Sie entscheiden sich sogleich gegen die Verbraucher. Eine
solche Aushöhlung der Verbraucherrechte wollen wir
nicht, und der Bundesrat auch nicht.
Im Übrigen: Schon heute bietet der Versandhandel die-
sen Gratis-Service seinen Kunden an. Wissen Sie warum,
Herr Funke? Nicht aus Selbstschädigungsabsicht, son-
dern weil man so das Vertrauen zu den Verbrauchern erst
herstellt. Vertrauen in die neuen elektronischen Handels-
formen werden außerdem auch die zahlreichen Unter-
richtungspflichten schaffen. Das anbietende Unterneh-
men muss künftig den Verbraucher über sämtliche Moda-
litäten und Bedingungen des Vertrages informieren. Das
ist fair. Nur wer weiß, was auf ihn zukommt, sollte ein Ge-
schäft eingehen.
Unseriöse Lockangebote, verkappte Gewinnzusagen:
Bürgerinnen und Bürger werden von unseriösen Geschäfte-
machern an der Nase herumgeführt. Wer kennt diese Art von
Postwurfsendungen nicht: Es wird eine Reise oder ein PKW
versprochen, aber am Ende kommen nur Kosten dabei he-
raus und kein Gewinn. Damit soll künftig Schluss sein. Den
Bürgerinnen und Bürgern wird deshalb ein einklagbarer An-
spruch auf den angeblichen Auto-Gewinn eingeräumt. Ich
bin mir sicher, dass demnächst die Zahl der leeren Verspre-
chungen in den Briefkästen rapide abnehmen wird.
Eine klare Rechtslage schafft das Gesetz auch bei un-
aufgefordert zugesandten Waren. Hier sollen den Ver-
braucher keinerlei Pflichten treffen – weder zur Rücksen-
dung noch zur Aufbewahrung. Warum auch? Wer einem
anderen etwas in der Hoffnung aufdrängt, vielleicht ein
Geschäft zu machen, soll darin vom Gesetzgeber nicht
auch noch bestärkt werden.
Die Fernabsatzrichtlinie verpflichtet uns auch dazu,
das haftungsrechtliche Problem beim Geldkartenmiss-
brauch klar und unmissverständlich zu regeln. Auch das
haben wir gemacht: Werden Geldkarten – sei es EC- der
Kreditkarten – von Dritten missbräuchlich verwendet,
darf dies keine negativen Folgen für den Karteninhaber
haben. Hier muss die Bank haften. Das steht künftig so
ausdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch.
Das Fernabsatzgeschäft wird im Wesentlichen zum
1. Juni in Kraft treten. Die Fernabsatzrichtlinie wird also
pünktlich umgesetzt. Und nicht nur das: Es ist gelungen,
die Verbraucherschutzgesetze in Deutschland weitgehend
zu vereinheitlichen. Für diese wirklich beeindruckende
Leistung möchte ich mich abschließend bei den Mitarbei-
tern des Justizministeriums noch einmal ausdrücklich be-
danken.
Rainer Funke (F.D.P): Wir stimmen dem Gesetzent-
wurf über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Ver-
braucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften
auf Euro nicht zu.
Wir hätten unsere grundsätzlichen Bedenken zurück-
gestellt, wenn die Koalitionsfraktionen bei der ursprüng-
lichen Fassung der Bundesregierung verblieben wären,
wonach der Verbraucher die Kosten der Rücksendung zu
tragen hat, wenn dies im Vertrag vorgesehen war. Diese
Klausel hätte den kleinen und mittleren Unternehmen des
Versandhandels die Möglichkeit eröffnet, über AGBs spe-
zifische Regelungen zu finden. Diese Klausel ist über die
AGV und damit über die grüne Fraktion aus ideologi-
schen Gründen kaputtgemacht worden. Eine solche ideo-
logische Grundhaltung können wir nicht teilen.
Mit Sorge beobachten wir, dass über die europäischen
Verbraucherschutzbestimmungen und deren Richtlinien
immer mehr Regelungen unseres deutschen Schuldrechts
verändert werden. Nun muss eine Veränderung nicht not-
wendigerweise negativ sein, aber die einseitige Verbrau-
cherschutzbetrachtungsweise führt zu einer Systemände-
rung unseres bürgerlichen Rechts. Deswegen sind wir
stets dafür eingetreten, einzelne verbraucherspezifische
Gesetze nicht im BGB zu regeln, sondern in gesonderten
Gesetzen, wie zum Beispiel im AGB-Gesetz oder Ver-
braucherkreditgesetz. Das wäre der richtige Weg gewesen
und hätte nicht zu einem Flickenteppich in unserem BGB
geführt, das grundsätzlich vom Recht der Vertragsfreiheit
ausgeht. In dieses Recht der Vertragsfreiheit wird dann
durch das Gesetz über Fernabsatzverträge erneut einge-
griffen, und zwar mehr als notwendig. Die Fernabsatz-
richtlinie hätte uns hierfür durchaus Freiräume gegeben.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9357
(C)
(D)
(A)
(B)
Zusätzliche Bedenken habe ich hinsichtlich der Erwei-
terung des Fernabsatzgesetzes durch weitere Vorschriften
bei der Umstellung auf Euro. Inhaltlich ist gegen die Be-
stimmung nichts zu sagen, aber warum muss die Umstel-
lung auf Euro auf ein Verbraucherrechtgesetz draufgesat-
telt werden? Warum können nicht systematisch passende
Gesetze benutzt werden, um einheitliche und geschlos-
sene Gesetze zu verabschieden? Omnibusgesetze führen
langfristig zu unklaren Gesetzen und einer undurchsichti-
gen Gesetzgebung,
Lassen Sie uns doch in einer Zeit, in der wir ruhig und
gelassen Gesetze verabschieden können, bei unserem her-
kömmlichen System verbleiben.
Rolf Kutzmutz (PDS):Wie verhält man sich zu einem
gelungenen Gesetz mit einem misslungenen Titel, weil
missdeutig, und einer misslichen Sprache, weil paragra-
phenweise bürokratisch-technokratisch? Man befürwor-
tet es, obwohl Inhalt und Form nicht die Einheit bilden,
die wünschenswert wäre. Warum kann ein Verbraucher-
schutzgesetz nicht auch so benannt und verbraucher-
freundlicher abgefasst werden? Ich sage das vor allem
deshalb, weil die Vertreter des Bundesjustizministeriums
in Sachen Justizreform keine Gelegenheit auslassen, auf
Bürgerfreundlichkeit hinzuweisen.
Die rechtssystematischen Probleme, die das Gesetz an
der einen oder anderen Stelle aufwirft, dürften dagegen
eher die Juristen bewegen, aber sie nicht wirklich in ihrer
Tätigkeit behindern.
Der Schutz der Verbraucher, die auf dem Weg des
elektronischen Geschäftsverkehrs – wie dem Tele-Shop-
ping oder bei Online-Geschäften im Internet – Waren be-
stellen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen wol-
len, ist vor allem angesichts der rasanten Entwicklungen
auf dem internationalen Marktplatz Internet dringend er-
forderlich. Eine jüngste Studie von Verbraucherverbän-
den, an der sich 11 Organisationen in vier Kontinenten
beteiligten, belegte noch einmal deutlich auf der Grund-
lage eines internationalen Einkaufstests in 17 Ländern,
wie wichtig Rechtssicherheit zum Schutz der Internet-
Konsumenten ist. Klare Regelungen schaffen aber auch
Vertrauen im so genannten E-Commerce, was letztlich
natürlich ebenso den Anbietern zugute kommt. Der Be-
sonderheit des Fernabsatzes, der im Kern dadurch ge-
kennzeichnet ist, dass zum einen Anbieter und Verbrau-
cher sich nicht physisch begegnen und zum anderen der
Verbraucher die Ware oder Dienstleistung in der Regel
nicht vor Vertragsabschluss in Augenschein bzw. in die
Hand nehmen kann, musste also dringend durch spezielle
rechtliche Regelungen Rechnung getragen werden. Dass
der Regierungsentwurf über die Mindestanforderungen
der EU-Fernabsatzrichtlinie hinausgeht, kann nur be-
grüßt werden.
Begrüßenswert ist vor allem die Erweiterung der In-
formationspflichten – eingeschlossen die wichtige Pflicht
zur Information des Verbrauchers, wann der Vertrag zu-
stande kommt – und der Vorschlag zur Verpflichtung des
Unternehmers, in jedem Fall nach Vertragsabschluss alle
Informationen auf einem dauerhaften Datenträger dem
Verbraucher zur Verfügung zu stellen.
Ausgesprochen verbraucherfreundlich ist auch, dass in
dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der Unternehmer
die Gefahr und die Kosten einer möglichen Rücksendung
tragen soll, dieses Problem also nicht der Vertragsfreiheit
überlassen wird. Diese bis zuletzt umstrittene Regelung
scheint mir im Interesse einer eindeutigen, weil aus-
nahmslosen Regelung als überaus vernünftig. Einen ech-
ten Gewinn für alle Glückssucher dürfte im Übrigen auch
die nunmehr klare Bestimmung darstellen, dass Gewinn-
zusagen eingehalten werden müssen.
Positiv hervorhebenswert ist schließlich, dass die in
vielen Sondergesetzen vorgesehenen Widerrufs- und
Rückgaberechte des Verbrauchers vereinheitlicht und im
BGB geregelt werden. Alles in allem wird mit diesem
Gesetz ein erster Schritt zur Vereinfachung des unüber-
sichtlichen Verbraucherrechts getan. Ich erwarte, dass das
Fernabsatzgesetz den Verbraucherschutz hierzulande
tatsächlich stärken und eine wichtige Schutzlücke
schließen wird. Das verbesserte Verbandsklagerecht
dürfte schließlich ein Übriges dazu beitragen.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz: Mit dem Gesetz über Fernabsatzver-
träge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur
Umstellung von Vorschriften auf Euro beginnen wir, un-
sere Rechtsordnung für den elektronischen Handel vorzu-
bereiten. Gleichzeitig nutzen wir die Gelegenheit, das
verstreute Verbraucherrecht übersichtlicher zu gestalten
und zugleich auch effektiver zu machen.
Wer heutzutage Einkäufe erledigen muss, ist nicht
mehr nur von den Ladenöffnungszeiten abhängig. Er kann
auch bequem vom heimischen Sofa aus bestellen. Damit
meine ich nicht nur den guten alten Versandhandel. Für
Unternehmen gehört es heute zunehmend zum guten Ton,
dass sie eine Website haben, auf der man Online-Kataloge
durchstöbern und Bestellungen aufgeben kann.
Die neuen Möglichkeiten werfen aber auch neue Fra-
gen auf: Wer in einem Laden kauft, hat die Ware vor Au-
gen. Man weiß, an wen man sich wenden soll, wenn der
Fernseher oder der Fotoapparat nicht funktionieren. An-
ders ist die Ausgangslage beim Kauf über das Internet:
Hier ist es sehr verlockend zu bestellen, wenn man nur per
Mausklick tätig werden muss. Was aber ist, wenn sich die
auf der Homepage schön präsentierte Ware als minder-
wertig erweist? Was ist zu unternehmen, wenn die Ware
mangelhaft ist und die Homepage keine Angaben über
den Vertragspartner enthält? Auf diese und andere Fragen
müssen wir Antworten finden, die den Verbraucher schüt-
zen, aber den Unternehmen trotzdem die effektive Nut-
zung der neuen Techniken erlauben. Antworten darauf
enthält das neue Fernabsatzgesetz.
Der Verbraucher muss über den Anbieter, seine Pro-
dukte und Bedingungen informiert werden. Die Informa-
tionen müssen so dargeboten werden, wie es das jeweils
eingesetzte Medium – Fax, Telefon, Internet usw. – er-
laubt. Solche Informationen müssen dem Verbraucher
spätestens mit der Lieferung der Ware gegeben werden,
damit er seine Rechte kennt. Im Wesentlichen handelt es
sich dabei um ein Widerrufsrecht. Es besagt, dass der
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009358
(C)
(D)
(A)
(B)
Verbraucher sich innerhalb von 14 Kalendertagen wieder
von dem Vertrag lösen kann.
Manche haben anfangs gefragt: Wie passt denn das zu
unseren traditionellen Grundsätzen? Ist dass denn nicht
eine unzumutbare Belastung für den Unternehmer?
Natürlich zwingt uns die Fernabsatzrichtlinie zu diesem
Schritt. Aber hinzu kommt: Das Widerrufsrecht stärkt das
Vertrauen der Kunden in die Seriosität eines Unterneh-
mers. Sie wissen, dass sie nicht übervorteilt werden, weil
sie sich die Sache anders überlegen können. Und die Kun-
den geben dem Unternehmer das Vertrauen zurück. Er-
fahrungen zeigen, dass die Kunden zu ihren Verträgen ste-
hen. Man könnte etwas überspitzt sagen: Sie machen von
ihrem gesetzlichen Widerrufsrecht keinen Gebrauch, ge-
rade weil es besteht, weil sie sich sicher fühlen. Genau
darum räumen viele Unternehmen ihren Kunden schon
jetzt – ganz ohne Gesetz – ein Widerrufsrecht ein.
Bei der technischen Gestaltung des Widerrufsrechts
haben wir sehr darauf geachtet, dass der Verbraucher-
schutz nicht zum Hindernis für die modernen Techniken
wird. Die Information muss nicht mehr wie früher auf Pa-
pier erfolgen. Zugelassen ist die Information auf dauer-
haftem Datenträger. Der Kunde kann zudem mit qualifi-
zierten elektronischen Signaturen signieren.
Im Grundgesetz ist uns solch ein Widerrufsrecht nicht
unbekannt. Im Haustürwiderrufsgesetz, Verbraucherkre-
ditgesetz, Teilzeit-Wohnrechtegesetz und Fernunterrich-
tungsschutzgesetz finden sich solche Rechte. Hierbei han-
delt es sich allerdings um unterschiedliche Regelungen.
Dies trägt nicht zur Übersichtlichkeit bei und hat nicht zu-
letzt die Wirtschaft selbst veranlasst, eine Vereinheitli-
chung zu fordern. Einen ersten Schritt unternehmen wir
mit diesem Gesetz. Das Fernabsatzgesetz enthält diese
Vereinheitlichung im Hinblick auf die Frist für die Ausü-
bung des Widerrufsrechts, ihre Modalitäten und die Fol-
gen des Widerrufs. Gleichzeitig schaffen wir einheitliche
Definitionen für die Schlüsselbegriffe „Verbraucher“ und
„Unternehmer“. Diese integrative Lösung ist von den
Sachverständigen begrüßt worden. Sie trägt ganz ent-
scheidend zur Übersichtlichkeit unseres Rechts bei.
Die Umsetzung von EU-Richtlinien ist eine Chance
zur Modernisierung unserer Rechtsordnung. Das Fernab-
satzgesetz ist ein gutes Beispiel dafür.
Das Fernabsatzgesetz macht das Verbraucherrecht
schließlich auch effektiver: Die Zusendung unbestellter
Ware wird jetzt unterbunden. Der Unternehmer, der so et-
was macht, riskiert nicht mehr nur einen Wettbewerbs-
verstoß, sondern er verliert künftig alle Rechte.
Entsprechendes gilt für nicht ernst gemeinte Gewinn-
zusagen, die nur Kunden anlocken sollen. Künftig ist der
Unternehmer verpflichtet, solche Gewinne auch tatsäch-
lich auszuschütten.
Durch eine entsprechende Klausel wird sichergestellt,
dass niemand Nachteile hat, wenn ihm seine Kredit- oder
andere Zahlungskarte entwendet wird.
Alles in allem ist das heute zu beschließende Fernab-
satzgesetz ein gelungener Schritt zur Vorbereitung unse-
rer Rechtsordnung auf den elektronischen Handel und zur
Modernisierung des Verbraucherrechts.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung: Schutz der Bewirtschaftung der
Tropenwälder – 6. Tropenwaldbericht der Bun-
desregierung (Tagesordnungspunkt 13)
Christel Deichmann (SPD): Wälder sind das größte
und wichtigste terrestrische Ökosystem auf unserer Erde.
Über die Hälfte der Wälder befindet sich in den tropischen
Regionen. Mit ihrem hohen Biomassevorrat spielen die
tropischen Wälder für das globale und regionale Klima
eine wichtige Rolle. Wir können davon ausgehen, dass
70 bis 80 Prozent der Pflanzen- und Tierarten der Welt in den
Tropen beheimatet sind, davon allein 25 bis 40 Prozent in
den tropischen Feuchtwäldern. Setzt sich die Tropen-
waldzerstörung weiter in dem bislang zu verzeichnenden
Ausmaß fort, werden in den nächsten 30 Jahren 25 Pro-
zent von ihnen verschwinden.
Der Erhalt der Tropenwälder ist nicht nur für die Er-
haltung der Artenvielfalt, sondern in ganz besonderem
Maße auch für die Stabilität des Klimas der Erde von ent-
scheidender Bedeutung. Auch für die Landwirtschaft der
jeweiligen Regionen ist der Tropenwald in allergrößtem
Maße bedeutend. Er bietet Schutz vor Erosion und Über-
schwemmungen, stabilisiert den Wasserhaushalt, bietet
Nahrungs- und Rohstoffquelle und trägt somit zur Ar-
beits- und Einkommenssicherheit bei.
Trotz aller internationaler Bemühungen zum Schutz
der Tropenwälder schreitet die Zerstörung dieser wertvol-
len Ökosysteme scheinbar unaufhaltsam fort. Zwei Drit-
tel aller Wälder der Erde wurden bereits durch den Men-
schen vernichtet. Den Angaben der FAO zufolge wird
jährlich eine Tropenwaldfläche von der Größe der gesam-
ten Waldfläche Deutschlands zerstört.
Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam ma-
chen, dass damit zu rechnen ist, dass der Umfang der
tatsächlichen Verluste an wertvollen Tropenwaldflächen
noch größer ist als das durch FAO-Angaben verdeutlichte
Ausmaß. Dies ist nicht nur die Aussage von Umweltver-
bänden. Auch die von der Weltbank seit circa vier Jahren
zusammengestellten Daten über den Rückgang von Tro-
penwäldern führen zu diesem Schluss. Allerdings ist die
gesamte Datenlage noch nicht hinreichend gesichert.
Selbst Auswertungen von Satellitenaufnahmen brachten
bisher keine ausreichend genaue Datengrundlage, da man
Bananenplantagen nicht von Primärwäldern unterschei-
den konnte. Ich sehe hier noch erheblichen Forschungs-
bedarf, um gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Si-
tuation effektiv zu starten.
Lassen sie mich nun zu den Ursachen der Tropenwald-
zerstörung Stellung beziehen.
Als Hauptverursacher der Waldzerstörung in den
Tropen wird mit rund 90 Prozent die landwirtschaftli-
che Nutzung genannt. Das heißt, es ist nicht die direkte
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9359
(C)
(D)
(A)
(B)
landwirtschaftliche Nutzung an sich, sondern nach wie
vor die Rodung von Wäldern zur Schaffung von Agrar-
plantagen. Dazu zählen auch die Landnutzungsfeuer, aber
auch in enormem Ausmaß unkontrollierte Brände. Die
großflächigen Waldbrände, die 1997 in Indonesien, La-
teinamerika und Afrika loderten, hatten und haben noch
immer dramatische Auswirkungen auf Ökologie, Wild-
tiere, menschliche Gesundheit, Feldfrüchte, Eigentum,
Luftreinheit, Weltklima und wirtschaftliche Entwicklung.
Die Risiken der Brandenstehung werden teilweise durch
menschliche Aktivitäten erhöht, zum Beispiel durch se-
lektiven Holzeinschlag, Entwässerung und auch durch
den Klimawandel.
Bis zu 80 Prozent der Brände gingen von Plantagenbe-
sitzern aus. Aufgrund starker Dürre gingen im Herbst
1997 zahlreiche einzelne Feuer zu einem bis dahin nicht
gekannten Flächenbrand ineinander über. Nicht nur Tro-
penwälder, auch Plantagen wurden großflächig geschä-
digt und zerstört.
Die Kosten der Zerstörung sind gewaltig: Allein den
durch Rauch und Luftverschmutzung entstandenen Scha-
den in Indonesien beziffern Experten auf gut 1 Milliarde
US-Dollar. Addiert man dem die direkt durch Feuer ver-
ursachten Schäden hinzu, beträgt die Gesamtschaden-
summe alleine für Indonesien im Jahre 1997 308 Milliar-
den US-Dollar. Die durch diese Feuer an der Umwelt ver-
ursachten Schäden wie verstärkte Erosion, erhöhter Was-
serabfluss, klimawirksame Belastungen der Atmosphäre
und Verlust an Biodiversität lassen sich hingegen nicht
bzw. nur sehr, sehr schwer quantifizieren.
Ab 1998 hat die Bundesregierung, unter anderem auch
mit Mitteln des Auswärtigen Amts, den Aufbau des Glo-
bal Fire Monitoring Center, GFMC, unterstützt. Das
GFMC hat die vorrangige Aufgabe, über ein weltweites
„Realtime Monitoring“ von Feuer ein objektives Situati-
onsbild für pragmatische und damit auch operative Ent-
scheidungen in Anwendung und Politik zu liefern; also
mittels der zeitnahen Interpretation von Satellitenbildern
und anderen Informationsquellen frühzeitig zielgerichtete
Gegenmaßnahmen bezüglich einer effektiven Brand-
bekämpfungsstrategie zu ermöglich.
Eine weitere wichtige Ursache, die zur Zerstörung der
letzten Urwälder der Erde führt, ist auch heute noch der il-
legale Holzeinschlag. So wird zum Beispiel in Kamerun –
das Land ist Afrikas größter Tropenholzproduzent – über
die Hälfte des exportierten Holzes unkontrolliert und
ohne Lizenz gefällt. In Indonesien stammen bis zu 70 Pro-
zent des Urwaldholzes aus illegalem Einschlag, im brasi-
lianischen Amazonas-Gebiet sind es offiziellen Angaben
zufolge sogar 80 Prozent. Alle diese Länder liefern den
Großteil ihres Holzexports in die G-8-Staaten.
1997 und 1998 haben sich die größten Industrienatio-
nen der Welt in den Erklärungen von Denver und Bir-
mingham verpflichtet, ein „Aktionsprogramm gegen ille-
galen Holzeinschlag“ zu starten und sich weltweit für
nachhaltige Waldnutzung einzusetzen. Dies war ein sehr
wesentlicher Schritt, um der unheilvollen Entwicklung
Einhalt zu gebieten und auch gezielt Gegenstrategien zu
entwickeln. Doch Aktionsprogramme alleine ändern die
Situation noch nicht.
Die genannten sektoralen Ursachen der Tropenwald-
zerstörung sind begründet mit den jeweiligen Gesell-
schaftsstrukturen wie Armut, Unterernährung, Bevölke-
rungswachstum, ungeklärten Landschutzungsrechten, in-
stitutionellen Defiziten, Rechtsunsicherheit und geringer
Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungspro-
zessen (mangelnde Demokratisierung).
Auch die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
spielen eine wichtige Rolle. Hier sind insbesondere Ver-
schuldung, Strukturanpassung, Zwang zu Exportorientie-
rung und Devisenbewirtschaftung sowie steigende inter-
nationale Holznachfrage zu nennen.
Allein durch Inangriffnahme dieser strukturellen Pro-
bleme kann die nachhaltige Waldbewirtschaftung zu einer
attraktiven Landnutzungsform werden, die konkurrenz-
fähig gegenüber andern Landnutzungssystemen, insbe-
sondere auch der Landwirtschaft, ist. Nur somit kann ver-
hindert werden, dass Wälder als Landreserven für kon-
kurrierende Wirtschaftsweisen betrachtet werden und
weiterhin der Zerstörung unterliegen. Notwendig sind
deshalb ganzheitliche Ansätze, die sektorübergreifender
Art sein müssen.
Als dringlichstes Ziel zu Erhalt und Schutz der Tropen-
wälder sehe ich es an, so bald wie möglich eine natur-
gemäße, nachhaltige Produktion von Holz durch markt-
wirtschaftliche Anreize weltweit durchsetzen. Einen wich-
tigen Beitrag dazu kann die Holzzertifizierung leisten, wie
sie zum Beispiel mit dem 1993 in Kanada gegründeten Gü-
tesiegel des Forest Stewardship Council (FSC) erfolgt. Das
Ziel, weltweit den Schutz der Primärwälder und eine nach-
haltige, naturnahe und sozio-ökonomisch verträgliche Be-
wirtschaftung der Sekundärwälder voranzutreiben, wird
von der Bundesregierung begleitet und unterstützt. Das
FSC-Siegel ist zurzeit das einzige Zertifikat mit nachvoll-
ziehbaren, international verbindlichen Prinzipien und Kri-
terien, das unter anderem auch die in den Regionen leben-
den Menschen und ihre Rechte mit einbezieht.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ha-
ben es in der Vergangenheit versäumt, hier ein eindeutiges
Signal zu setzen. In der Tropenwaldpolitik der alten Bun-
desregierung zeigte sich eine starke Tendenz zur Förde-
rung von Vorhaben der industriellen Holzproduktion. Da-
bei war die Holzproduktion in den Tropen nur in wenigen
Ausnahmefällen auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.
Ich denke, es ist der richtige Weg, wenn Handelsunter-
nehmen sich verpflichten, künftig nur noch dann Tropen-
holz einzukaufen, wenn dass Holz aus einer umweltge-
rechten und sozial akzeptablen Forstwirtschaft mit einem
anerkannten Gütesiegel stammt.
Das Engagement der Bundesregierung zur Unterstüt-
zung der Entwicklung des Waldsektors im nationalen
Kontext der Partnerländer wurde ergänzt durch die ak-
tive Beteiligung am internationalen Diskussionsprozess
im Rahmen des Zwischenstaatlichen Waldforums (IPF
und IFF). In diesem Zusammenhang begrüße ich die Ini-
tiative der Bundesregierung bei der Formulierung und
Ausgestaltung „Nationaler Waldprogramme“ für die
Partnerländer. Grundlage der Waldprogramme sind: na-
tionale Souveränität, die Prinzipen der Nachhaltigkeit,
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009360
(C)
(D)
(A)
(B)
sektorübergreifende Ansätze und der politische Wille, ei-
nen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Nutzung
der Güter und Dienstleistungen des Waldes zu initiieren.
Zu den letzten gehören, neben den klassischen Waldpro-
dukten wie Holz, auch Dienstleistungen wie der Erhalt
der Biodiversität, Klimaschutz, Stabilisierung des Was-
serhaushaltes und Erosionsschutz.
Um das Naturerbe nachhaltig erhalten zu können, ist
weiterhin eine Ausweitung der Schutzgebiete auch im Be-
reich der Tropenwälder unbedingt erforderlich. Letzte
Forschungsergebnisse zeigen, dass lediglich 6 Prozent der
existierenden Wälder weltweit unter Naturschutz stehen.
Dieser Anteil wird der Bedeutung der Wälder – insbeson-
dere der Tropenwälder – für das gesamte Ökosystem un-
serer Erde in keiner Weise gerecht. Prognosen von Um-
weltverbänden zufolge wird binnen 50 Jahren außerhalb
geschützter Gebiete kein natürlicher Wald mehr vorhan-
den sein. Mag sein, dass dies ein wenig dramatisch skiz-
ziert ist; auf alle Fälle ist die Richtung der Waldentwick-
lung leider so. In diesem Zusammenhang möchte ich da-
rauf aufmerksam machen, dass 1999 30 Prozent der
159 Millionen DM für das Tropenwaldschutzprogramm zur
Verfügung stehenden Gelder für die Förderung von reinen
Naturschutzvorhaben bereitgestellt wurden. Diesen Pro-
zess gilt es weiter zu forcieren.
Im Vordergrund bei den von der Bundesregierung er-
griffenen Maßnahmen steht die Verknüpfung von Maß-
nahmen des Waldschutzes mit Maßnahmen der nachhalti-
gen Waldbewirtschaftung. Hierbei ist es unabdingbar, die
heimische Bevölkerung in die Maßnahmenkonzepte mit
einzubeziehen. Eine Verknüpfung von Naturschutz und
ländlicher Entwicklung durch die Berücksichtigung der
Ansprüche indigener Bevölkerungsschichten und ihrer
traditionellen Rechte verspricht eine höhere Akzeptanz
und langfristige Erfolgsaussichten für einen dauerhaften
Schutz der Tropenwälder.
Ein Öko-Diktat des Nordens gegenüber dem Süden
wird nicht akzeptiert werden – mit vollem Recht! Diese
harte Erfahrung der Rio-Konferenz darf nicht in Verges-
senheit geraten. Wenn wir die Tropenwälder schützen, ha-
ben alle etwas davon.
Cajus Caesar (CDU/CSU): Wir beschäftigen uns
heute mit dem 6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung
und dem Antrag der Koalitionsfraktion, die beiden bishe-
rigen Berichte – Waldbericht und Tropenwaldbericht –
zusammenzuführen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten
diesen Antrag nicht für sinnvoll. Bevor ich mich jedoch
damit auseinander setze, möchte ich Ihnen zuerst einmal
die Wichtigkeit der tropischen Wälder erläutern.
Die tropischen Wälder sind aus meiner Sicht – und da
geben mir viele Experten Recht – als eine der größten
Schatzkammern der Artenvielfalt unserer Welt zu be-
zeichnen.
Es ist deshalb das Ziel der CDU/CSU-Fraktion, sich
für den Erhalt, Schutz und die nachhaltige Bewirtschaf-
tung der Wälder einzusetzen. Die Bedeutung der Tropen-
wälder wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen
halten, dass rund 5 Millionen höhere Tier- und Pflanzen-
arten in diesen Regionen leben.
Damit beherbergen die Regenwälder circa 50 Prozent
aller bisher bekannten Arten der Welt.
Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Auf ei-
nem Hektar Regenwald des Amazonas leben etwa
400 verschiedene Baumarten. In Deutschland dagegen sind
insgesamt nur rund 60 Baumarten beheimatet. Über 7 Pro-
zent aller bekannten Baumarten – es gibt rund 120 000 –
sind weltweit in ihrer Existenz bedroht. Diese Zahlen be-
legen, welche ungeheure biologische Vielfalt in den tro-
pischen Wäldern vorzufinden ist.
Jeder Hektar Tropenwald und jede dort lebende Art
sind für uns wichtig. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
kämpfen!
Die tropischen Wälder haben jedoch nicht nur eine im-
mense Bedeutung für die dort lebenden Tier- und Pflan-
zenarten, wir wollen auch nicht die dort lebenden Men-
schen vergessen. Diese Wälder sind auch Lebensraum für
etwa eine halbe Milliarde Menschen, die entweder direkt
in den Wäldern oder in den benachbarten Gebieten leben.
Viele leben dort in waldgepasster Weise und nutzen die
sich ihnen bietenden Gegebenheiten, um sich zu ernähren
und kleinere Wirtschaftsformen wie zum Beispiel Gum-
mizapfen zu betreiben. Deren Lebensgrundlage wird
durch die fortschreitende Waldzerstörung zunehmend
vernichtet. Sie sind dann gezwungen, aus ihrer ange-
stammten Umgebung in die Städte umzusiedeln, so lan-
den sie oft verelendet in Slums. Dieser Prozess muss aus
humanitären und sozioökonomischen Gründen dringend
gestoppt werden. Wir alle sind gefordert, uns für die Men-
schen in den Slums und die Umwelt stark zu machen.
Wesentlich ist aber auch die globale Bedeutung unter
anderem für unsere Wasservorkommen. So versorgen die
Tropenwälder rund 1 Milliarde Menschen mit Süßwasser
und stellen einen gigantischen Filter für Luft und Wasser
auf unserer Erde dar. Jeder Hektar Wald, der zerstört wird,
trägt somit auch zum globalen Rückgang an Trinkwasser
bei. Auf die Folgen des globalen Wasserrückgangs brau-
che ich hier nicht näher einzugehen. Diese kann sich jeder
ausmalen, wenn er sich die Bilder der hungernden Men-
schen in Afrika vor Augen hält.
Leider ist es so, dass die Zerstörung der tropischen
Wälder in den letzten Jahren kaum reduziert oder gar ge-
stoppt werden konnte. Noch immer werden jedes Jahr
rund 12,5 Millionen Hektar Fläche tropischer Wald zer-
stört. Das ist mehr als die gesamte bewaldete Fläche der
Bundesrepublik Deutschland. Berechnungen des brasilia-
nischen Umweltschutzministeriums haben ergeben, dass
im Jahre 2050 kein Baum mehr am Amazonas stehen
wird, wenn die Zerstörung nicht schnellstens gestoppt
wird. Bei einer solchen Prognose muss uns Angst und
Bange werden. Hier ist die jetzige Regierung gefordert,
ihre Versprechungen auch einmal in Taten umzusetzen.
Der tropische Regenwald ist etwa 100 Millionen Jahre
alt und wir Menschen sind dabei, ihn in wenigen Jahr-
zehnten vollständig zu zerstören. Dieser Prozess muss
jetzt gestoppt werden. Die Hauptursachen für die Zer-
störung des Waldes liegen in der rasanten Zunahme der
Weltbevölkerung. Rund 90 Prozent der Waldzerstörung in
den Tropen ist auf die Landwirtschaft zurückzuführen.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9361
(C)
(D)
(A)
(B)
Fast die Hälfte der durch die Landwirtschaft in Anspruch
genommenen Wälder sind durch Brandrodung für immer
vernichtet worden. Die durch Brandrodung gewonnenen
Flächen werden von den dort lebenden Menschen genutzt,
um Getreide und andere Produkte anzubauen. Aus Sicht
dieser Menschen ist es nachvollziehbar, dass sie den Wald
roden, um zu überleben.
So hat zum Beispiel Indonesien in jüngster Zeit wieder
bis zu 100 000 Hektar Naturwald als Rodungsflächen frei-
gegeben, um dem wachsenden Hunger in Lande wenigs-
tens teilweise stillen zu können. Dies gilt natürlich auf für
andere Länder, die ähnliche Versorgungsprobleme haben.
Wir können daher selbstverständlich nicht leicht aus un-
serer sicheren Position den Entwicklungsländern zurufen
„Rettet den Tropenwald!“, ohne selbst an der Versorgung
der Menschen mitzuarbeiten.
Die Zerstörung der tropischen Wälder hat nicht nur
Auswirkungen auf die betroffenen Regionen oder Länder,
sondern insbesondere auch auf das globale Klima. Unter-
suchungen haben ergeben, dass durch die Zerstörung des
Tropenwaldes die Temperaturen dort in den betroffenen
Regionen um zwei bis drei Grad Celsius ansteigen. Dies
bedeutet, dass die Niederschläge zurückgehen, die Ver-
dunstung auf den Böden zunimmt und die Bodenfeuchte
zurückgeht. Die Folge ist eine sich ausbreitende Erosion
und vielfach auch Zerstörung der ehemals fruchtbaren
Böden.
Nicht zu unterschätzen ist die CO2-Problematik. Auchdas globale Klima wird durch die Regenwälder beein-
flusst, da sie als riesige Biomasse für die Umwandlung
von Kohlendioxid in Sauerstoff zuständig sind, bei nach-
haltiger Forstwirtschaft CO2-Neutralität darstellen.Nimmt der Wald ab, so steigt gleichzeitig der CO2-Gehaltder Luft und trägt somit zum Treibhauseffekt bei. Wie
wollen wir die Klimaproblematik ernsthaft in den Griff
bekommen, wenn wir bei uns in Deutschland aus der
Kernenergie aussteigen, ohne regenerative Alternativen
globalen Umfangs zur Verfügung zu stellen und auch hier
eine Negativentwicklung zu verzeichnen ist? Darauf kann
Rot-Grün keine ausreichende Antwort geben. Die Folgen
bekommen wir auch in Europa langsam zu spüren, wie die
verheerenden Stürme des letzten Winter gezeigt haben, –
ein Grund mehr, gemeinsam zu handeln. Aber ich meine
auch: Handeln statt nur reden!
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat die Not-
wendigkeit des Schutzes der tropischen Wälder schon vor
Jahren erkannt und Maßnahmen ergriffen. So hat sich die
alte Bundesregierung seit Mitte der 80er-Jahre für den
Schutz der Erdatmosphäre eingesetzt und 1991 den ersten
Tropenwaldbericht vorgelegt. Bereits 1988 hat die Bun-
desregierung entschieden, die Mittel für die Waldschutz-
maßnahmen auf bis zu 300 Millionen DM anzuheben.
Schon darin ist erkennbar, dass der Schutz der Wälder ein
herausragendes Ziel unserer Umweltpolitik war und ist.
Immer wieder haben sich CDU und CSU dafür einge-
setzt, dass die vorliegenden Erkenntnisse über die Zer-
störung der Tropenwälder und deren Auswirkungen auch
in die weltweiten Umweltschutzabkommen mit aufge-
nommen wurden. Zu nennen ist dabei unter anderem das
Umweltabkommen zu Klima und Biodiversität auf der
Konferenz von Rio 1992, auf der sich die Vertreter der
Bundesregierung für den Schutz der Wälder stark ge-
macht haben. Für die Wiederaufforstung zerstörter Wäl-
der wurden in Zusammenarbeit mit anderen Industrie-
und Entwicklungsländern mehrer Milliarden Dollar zur
Verfügung gestellt. In den vergangenen Regierungsjahren
unter CDU/CSU und FDP wurden jährlich zwischen
250 und 300 Millionen DM für die Entwicklungszusammen-
arbeit im Bereich des Waldschutzes zur Verfügung ge-
stellt. Damit hatte die alte Bundesregierung gezeigt, dass
ihr der Schutz der Tropenwälder am Herzen lag und sie
sich intensiv um Vereinbarungen und deren Umsetzung
bemühte.
Wenn ich nun den jetzt vorliegenden Bericht der rot-
grünen Bundesregierung vor mir sehe, dann bin ich ent-
setzt, und zwar nicht allein darüber, dass die Waldzer-
störung weiter fortschreitet. Dies ist ein Zustand, den auch
rot-grüne Umweltpolitik offensichtlich nicht bremsen
kann. Nein, verheerend aus der Sicht der CDU/CSU-
Fraktion ist, dass Sie die Mittel für die technische und fi-
nanzielle Zusammenarbeit mit anderen Ländern drastisch
gekürzt haben. Stellte die alte Bundesregierung 1997
noch rund 296 Millionen DM für die Zusammenarbeit zur
Verfügung, so sind in diesem Jahr nur noch 243,2 Millio-
nen DM dafür vorgesehen.
Wie wollen sie aktiv zur CO2-Reduzierung beitragen,wenn Sie einen der wichtigsten Klimafaktoren, nämlich
den tropischen Wald, so sträflich vernachlässigen? Wir,
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordern die Bundes-
regierung daher nachdrücklich auf, die Kürzungen in die-
sem Bereich rückgängig zu machen.
Die vagen Andeutungen der Parlamentarischen Staats-
sekretärin Gila Altmann im Umweltausschuss, man werde
sich bei der finanziellen und technischen Zusammenar-
beit wegen der Mittelverknappung auf Schwerpunkte
konzentrieren müssen und effizienter sein, sind doch nur
Ausreden. Konzepte für eine materielle Umweltpolitik
sind ganz offensichtlich bei der jetzigen Regierung
ebenso wenig vorhanden wie der Wille, international die
Dinge voranzubringen. Sie verspielen ganz offensichtlich
das Erbe von Klaus Töpfer und Angela Merkel!
Wir fordern die Bundesregierung auf, mehr Mittel im
Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung
zu stellen, um einen effizienten Schutz der Waldressour-
cen zu ermöglichen. Nur wenn es uns gelingt, die Wald-
zerstörung in Zusammenarbeit mit der ansässigen Bevöl-
kerung zu bekämpfen, können wir das Tropenwaldpro-
blem dauerhaft lösen. Wir müssen den Menschen vor Ort
Mittel und Wege aufzeigen, mit denen sie in der Lage sein
werden, einerseits ihren Lebensunterhalt durch Landwirt-
schaft zu erarbeiten. Andererseits müssen wir ihnen deut-
lich machen, dass eine nachhaltige Forstwirtschaft, die
eben nicht den Wald zerstört, sondern sinnvoll bewirt-
schaftet, der einzig gangbare Weg zur Erhaltung ihres Le-
bensraums ist.
Die Bundesrepublik muss den Ländern helfen, die be-
reit sind, Armutsbekämpfung und Ressourcenschonung
miteinander zu vereinen. Wir müssen uns dafür einsetzen,
mehr Menschen aus den betroffenen Regionen fachlich
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009362
(C)
(D)
(A)
(B)
auszubilden. Dies kann entweder vor Ort geschehen oder
an den entsprechenden Ausbildungsstellen in der Bundes-
republik.
Ein Beispiel aus unserer Regierungszeit: an der Forst-
lichen Fakultät der Universität Göttingen werden ständig
20 bis 30 junge Indonesier in einem englischsprachigen
Master-Kurs ausgebildet. Diese können in ihrem Heimat-
land wichtige Multiplikatoren für die Verhinderung der
Waldzerstörung sein. Gerade in Indonesien sind zuletzt
rund 1 bis 1,5 Millionen Hektar Tropenwald zerstört wor-
den. Ausbildung und Schaffung eines Problembewusst-
seins bei der Bevölkerung sind die gangbaren Wege für
eine erfolgreiche Tropenwaldpolitik.
Ein weiteres Mittel zur Bekämpfung der Waldzer-
störung ist nach unserer Meinung – und da stimmen mit
uns die Vertreter der Umweltschutzverbände überein – die
Zertifizierung des Holzes aus nachhaltiger Bewirtschaf-
tung.
Wir brauchen internationale Instrumente, die die kon-
trollierte Nutzung von Tropenholz ermöglichen. Zukünf-
tig sollte nur noch zertifiziertes Tropenholz aus nachhal-
tiger Forstwirtschaft aus den betroffenen Ländern expor-
tiert werden. Ich erinnere mich noch gut, als SPD und
Grüne landauf, landab den Tropenholzboykott propagiert
haben. Daraus wurde dann nichts. Wir brauchen Umwelt-
schutz anstatt Ideologien. Was wir brauchen ist ein ge-
meinsames Miteinander mit den betroffenen tropischen
Ländern, um deren Probleme vor Ort zu lösen.
Noch mehr als bisher sollten Nationalparks und Wald-
schutzgebiete eingerichtet werden. Nach Ansicht vieler
Wissenschaftler würde die Ausweisung großer Wald-
flächen als Schutzgebiete wesentlich dazu beitragen, die
tropischen Wälder langfristig zu schützen. Nur wenn sol-
che Gebiete generell nicht land- und forstwirtschaftlich
genutzt werden dürfen, kann sich die Natur wieder erho-
len oder wird vor der Vernichtung bewahrt.
Dass eine erfolgreiche Wiederaufforstung in den be-
troffenen Gebieten möglich ist, wurde auf der Insel Java
bewiesen. Hier konnten großflächige Rodungen zumin-
dest teilweise rückgängig gemacht werden, ohne dass die
dort lebende Bevölkerung leiden musste. Sie sehen also,
dass solche Projekte Erfolg haben, wenn man sie finanzi-
ell technisch und inhaltlich unterstützt.
Nun haben Sie heute auch einen Antrag eingebracht,
der aus dem Tropenwaldbericht und dem nationalen
Waldbericht einen Bericht machen will. Diesen Bericht
wollen sie nur noch alle vier Jahre vorlegen, mit einem
Zwischenbericht nach zwei Jahren. Aus unserer Sicht ist
dies mehr als enttäuschend, wenn Ihnen nicht mehr ein-
fällt, als die Zusammenfassung von Berichten, dann ist
das substanzlos und weit von einer Umweltpolitik mit
Perspektive entfernt. Einen solchen Weg können wir nicht
mitgehen.
Der Schutz und die Bewirtschaftung des Waldes in
Deutschland ist auf einer ganz anderen Grundlage zu dis-
kutieren als das Anliegen, die fortschreitende Waldzer-
störung und der Artenrückgang, insbesondere in der Tro-
penwaldregion.
Als Regierung hätte es Ihnen gut angestanden, zum
Ausdruck zu bringen, welches Handlungskonzept Sie ha-
ben. Aber da ist auch in diesem Bereich Fehlanzeige. Ein-
mal pro Periode oder alle vier Jahre bedeutet: nicht mehr
zu Ihrer Regierungszeit. Wollen Sie ein so wichtiges
Thema wirklich in dieser Art und Weise behandeln? Wo
bleiben die Vorschläge, den Energiebedarf vor Ort durch
einen Anbau schnell wachsender Hölzer zu decken? Denn
90 Prozent des im Tropenwald genutzten Holzes wird als
Brennholz verwendet. Es müssen Vorschläge auch zur
Verbesserung der landwirtschaftlichen Nutzung und da-
mit zur Verhinderung zur von Brandrodung und Auslau-
gung der Flächen auf den Tisch. Nur so werden wir erfolg-
reich sein.
Unser Appell richtet sich an die deutsche Regierung
und die Regierungsparteien von SPD und Grünen, Vor-
schläge zu unterbreiten, die darauf abzielen, die vor Ort
lebenden Menschen einzubeziehen, die oft sehr arm sind
und hungern, und gemeinsam mit den Regierungen dort
Maßnahmen zu ergreifen, die darauf ausgerichtet sind,
Versteppung und Verwüstung aufzuhalten, wieder an-
zupflanzen im Sinne von Mensch und Umwelt, um welt-
weit etwas für den Klimaschutz zu erreichen.
Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die Situation der tropischen Regenwälder ist
nach wie vor Besorgnis erregend. Der 6. Tropenwaldbe-
richt der Bundesregierung beschreibt, dass zwischen 1990
und 1995 jährlich etwa 12,5 Millionen Hektar Tropen-
wald vernichtet wurden. Das ist mehr als die gesamte
Fläche Deutschlands. Dies geschieht durch Brandrodung,
Erschließungsprojekte und illegalen Holzeinschlag.
Die Ursachen für die Zerstörung dieses unersetzlichen
Ökosystems sind vielfältig und hinlänglich bekannt: Ar-
mut, keinen Zugang zu Land für die ärmeren Bevölke-
rungsschichten, institutionelle Defizite in den Tropen-
waldländern selbst. Aber auch eine ungerechte Weltwirt-
schaftsordnung, eine hohe Verschuldung oder Einfluss
ausländischer Holzfirmen sind entscheidend. Dabei ist
klar, dass nur die Veränderung aller Faktoren nachhalti-
gen Erfolg verspricht. Das gegeneinander Ausspielen
von inneren und äußeren Ursachen und damit Verant-
wortlichkeit ist eine Haltung, die wir uns angesichts der
dramatischen Situation nichts leisten können. Deshalb
begrüße ich hier zum wiederholten Male nachdrücklich
die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung. Da-
durch wird den betroffenen Ländern wieder Luft zum At-
men gegeben. Und das ist für den Umgang dieser Länder
mit ihren natürlichen Ressourcen von entscheidender
Bedeutung.
Es ist auch gut und wichtig, dass das Thema „Tropen-
waldzerstörung“ Schwerpunkt der deutschen Entwick-
lungspolitik bleibt. Deutschland ist der größte bilaterale
Geber für den Tropenwaldschutz. Herausragendes Bei-
spiel ist nach wie vor das Pilotprogramm zur Rettung der
tropischen Regenwälder in Brasilien. Hier in Deutschland
mit 45 Prozent an der Gesamtfinanzierung beteiligt. Trotz
aller Schwierigkeiten, die sich vor allem auch auf brasi-
lianischer Seite ergeben, ist das Pilotprogramm ein un-
verzichtbarer Bestandteil des Tropenwaldschutzes.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9363
(C)
(D)
(A)
(B)
An diesem Beispiel erkennt man, dass die von man-
chen aufgestellte Forderung, die Entwicklungszusam-
menarbeit mit Schwellenländern herunterzufahren, Un-
sinn ist. Gerade im Umweltbereich ist es nötig, Unterstüt-
zung zu leisten, um zentrale Probleme der globalen
Ökologie in den Griff zu bekommen. Die rot-grüne Bun-
desregierung legt einen besonderen Schwerpunkt auf die
internationale Umweltpolitik. Deshalb ist es richtig, mit
Ländern zu kooperieren, die in diesem Zusammenhang
von zentraler strategischer Bedeutung sind.
Ein Tropenholzboykott reicht nicht aus. Hier ist gut ge-
meint oft das Gegenteil von gut. Scheidet der tropische
Wald für Mensch als Wirtschaftsgut aus, wird noch sorg-
loser mit ihm umgegangen. Deshalb müssen Wege der
nachhaltigen Waldnutzung aufgezeigt und die dort ge-
wonnenen Produkte besser vermarktet werden. Ein wirk-
sames Mittel hierzu ist die Zertifizierung. Dabei muss da-
rauf geachtet werden, ob bei den einzelnen Zertifi-
zierungsmodellen tatsächlich nachhaltige Kriterien ange-
wendet werden. Entscheidend sind auch transparente
Überprüfungsmechanismen. Wie wird tatsächlich sicher-
gestellt, dass nur Holz aus nachhaltiger Bewirtschaftung
mit einem Siegel auf den Markt kommt? Das FSC-Siegel
ist aus meiner Sicht bisher das einzige Erfolg verspre-
chende Modell, weil dort neben ökologischen auch so-
ziale und wirtschaftliche Kriterien zugrundegelegt wer-
den. Dafür sollte noch weitaus mehr Werbung gemacht
werden. Ohne die in Europa zertifizierten Flächen hat
FSC weltweit etwa 4,6 Millionen Hektar Waldfläche zer-
tifiziert. Das ist weitaus weniger als die Hälfte der jährlich
zerstörten Tropenwaldfläche.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
dass Untersuchungen der brasilianischen Regierung da-
von ausgehen, dass 80 Prozent des Holzeinschlages in
Amazonien illegal sind. Deshalb ist es notwendig, dass
die G-8-Staaten beim nächsten Gipfel in Japan ihr 1998
beschlossenes „Forest Action Programme“ überprüfen
und weiterentwickeln. Illegal geschlagenes Holz muss
von unseren Märkten ferngehalten werden.
Der zuständige Ausschuss hat empfohlen, zukünftig
den Tropenwaldbericht zusammen mit dem nationalen
Waldbericht zu erstellen und zu diskutieren. Ich halte das
für eine gute Lösung, nicht nur aus arbeitsökonomischen
Gründen und deswegen, weil man dann vielleicht auch
mehr Aufmerksamkeit für eine Debatte im Deutschen
Bundestag bekommt. Ich denke, der Schutz des Tropen-
waldes sollte einen genauso hohen Stellenwert bekom-
men wie der Schutz des deutschen Waldes. Der entschei-
dende Grund für eine Zusammenfassung der nationalen
und internationalen Walddiskussion ist für mich jedoch:
In allen politischen Handlungsfeldern, wo wir Verände-
rungen im Süden anmahnen oder Hilfe dafür anbieten,
muss unsere erste Handlung sein, bei uns selbst mit Ver-
änderungen zu beginnen. Deshalb eine gemeinsame Dis-
kussion sinnvoll.
Ulrich Heinrich (F.D.P.): Bereits vor mehreren Jahr-
zehnten haben wir in der Schule gelernt, dass die Zer-
störung des Tropenwaldes ein globales Problem ist. Der
Raubbau schreitet leider auch heute weiter fort. Daran ha-
ben die verschiedenen Umwelt- und Klimagipfel von Rio
bis Bonn wenig geändert.
Insbesondere die mit der Tropenwaldvernichtung ver-
bundenen möglichen Klimaverschlechterungen berühren
auch die Menschen in Europa und Nordamerika. Daher ist
es richtig und wichtig, dass wir der fortschreitenden Zer-
störung des Tropenwaldes und der Diskussion um drin-
gend notwendigen Lösungssätze im Deutschen Bundes-
tag eine noch größere Bedeutung beimessen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die von den Koaliti-
onsfraktionen vorgeschlagene Verflechtung der nationa-
len und internationalen Forst- und Umweltpolitik zu be-
grüßen. Allerdings darf die Zusammenfassung von Tro-
penwald- und Waldbericht zu einem Gesamtwaldbericht
der Bundesregierung – einmalig in jeder Legislaturperi-
ode – nicht dazu führen, dass die positiven Funktionen des
deutschen Waldes in den Hintergrund rücken. Zudem ist
für die F.D.P. klar, dass eine weitere Zusammenfassung
unter Einschluss des jährlich zu erstellenden Waldzu-
standsberichtes nicht sinnvoll ist.
Im Gegensatz zu den tropischen Wäldern, mit deren
Abholzung Jahr für Jahr auch viele Tier- und Pflanzen-
arten unwiederbringlich verschwinden, hat die Wald-
fläche in Deutschland seit 1960 um rund 500000 Hektar
zugenommen. Außerdem werden unsere Wälder von den
privaten Waldbesitzern seit Jahrhunderten nachhaltig
bewirtschaftet. Die Waldbauern in Deutschland arbeiten
ökologisch und nachhaltig.
Das ist auch der entscheidende Grund dafür, weshalb
das von SPD und Grünen vertretene Ökosiegel FSC sehr
wohl in Ländern Sinn macht, deren Tropenwald von der
Zerstörung bedroht ist, nicht zuletzt deshalb, weil dort
weder eine ökologische noch eine nachhaltige Waldbe-
wirtschaftung stattfindet. In Deutschland und in weiten
Teilen Europas ist die Situation aber völlig anders. Das
wird von dem PEFC-Siegel, wiederum entsprechend den
hiesigen Standortbedingungen, sehr viel besser erfasst.
Daher ist die F.D.P. klar für das PEFC-System.
Die Menschen rund um den Globus müssen sich Sor-
gen machen, wenn die FAO den jährlichen Waldflächen-
verlust in den Tropen von 1990 bis 1995 auf rund
12,5 Millionen Hektar beziffert. Hauptursachen für die Zer-
störung der tropischen Feuchtwälder sind die landwirt-
schaftliche Nutzung und hier insbesondere die Brandro-
dung. Im Tropenwaldbericht wird richtigerweise darauf
hingewiesen, dass zudem strukturelle Einflussgrößen wir
Armut, Unterernährung, Landlosigkeit, Bevölkerungs-
wachstum, weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen und
institutionelle Defizite diese Entwicklung ermöglichen
und beschleunigen.
Wichtig ist auch, dass es sich hier um ein sozialpoliti-
sches und ökonomisches Problem handelt, sodass es
keine allgemein gültige Lösung und wirksame Patentlö-
sung gibt. Deutschland und Europa müssen die betroffe-
nen Tropenwaldländer flankierend unterstützen. Diese
Hilfe zur Selbsthilfe müssen wir aus vielerlei Gründen leis-
ten. Allerdings werden alle auch noch so gut gemeinten
Maßnahmen ins Leere laufen, solange die herrschenden
Politiker die ohnehin spärlich zur Verfügung stehenden
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009364
(C)
(D)
(A)
(B)
Finanzmittel für den Kauf von Waffen verwenden. Be-
sonders schlimm ist das zurzeit in Äthiopien, wo diese
Mittel aus Verkäufen von Lebensmitteln stammen, sodass
Millionen von Menschen im Land vom Hungertod be-
droht sind.
Für die F.D.P. bleibt es dabei, dass freier Handel fairen
Handel bedeutet, von dem gerade Entwicklungsländer
profitieren, die darauf angewiesen sind, Nahrungsmittel
zu exportieren. Die Gelder müssen dann aber für Projekte
eingesetzt werden, von denen die Menschen profitieren.
Carsten Hübner (PDS): Mehr als für alle anderen
Nutzwälder gilt für die Tropenwälder die Einsicht, dass
sie mehr als nur ein Holzacker sind und mehr als Han-
delsware. Sie sind als Sauerstoffproduzent und Klimasta-
bilisator Lebensquelle für uns und unsere nachfolgenden
Generationen, für Flora und Fauna weltweit. Das und nur
das kann die oberste Prämisse unseres Umgangs mit den
Tropenwäldern und dem dringenden Schutz vor Raubbau
und Kahlschlag sein.
Die Beschlussempfehlung des Landwirtschaftsaus-
schusses zum 6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung
sendet aber diesbezüglich ein falsches Signal: Mit der be-
absichtigten Zusammenlegung der beiden Berichte, Tro-
penwaldbericht und Waldbericht zu einem Gesamtwald-
bericht, besteht die Gefahr, dass die Tropenproblematik
weiter marginalisiert wird und nicht in der erforderlichen
Breite und Tiefe und mit den notwendigen weitreichen-
den, nicht nur entwicklungspolitischen Konsequenzen be-
handelt wird.
Die Anhänge zum Tropenwaldbericht sprechen eine
deutliche Sprache: Alle noch so gut gemeinten Maßnah-
men, auch der Mitteleinsatz des BMZ oder auch der in-
ternational tätigen Gremien und Organisationen haben
nicht bewirken können, dass der Kahlschlag, dass der
Raubbau, ja auch der Export von Tropenhölzern zurück-
geht. Im Gegenteil: Die Tendenz der weiteren Tropen-
waldvernichtung konnte nicht umgekehrt werden. Die
Empfehlung der Klima-Enquete-Kommission des deut-
schen Bundestages von 1990, die Vernichtungsrate bis
2000 unter die Vernichtungsrate von 1980 zu drücken,
blieb lediglich eine Empfehlung, zur Praxis wurde sie
nicht. Denn letztendlich hat sich nur ein Ressort, die Ent-
wicklungszusammenarbeit, zu dieser Zielsetzung be-
kannt. Auch wenn die Bemühungen, jährlich 200 bis
300 Millionen DM an Entwicklungshilfegeldern dafür einzu-
setzen, sich mächtig ausnehmen, ermöglichen sie doch
nur punktuelle Hilfsprogramme und sind ein Tropfen auf
den heißen Stein. Sie sind eben nicht ganzheitlich im An-
satz.
Schutz von Tropenwäldern heißt Armutsbekämpfung,
muss heißen: Diversifizierung von Wirtschaft, Regionali-
sierung von Wirtschaftskreisläufen und keine weitere Li-
beralisierung und Deregulierung, die entsprechend ihrer
inneren Logik, der Marktlogik, den Ausverkauf und
Raubbau an Ressourcen nur weiter forcieren.
Wenn der 6. Tropenwaldbericht insgesamt sehr wohl
die Dringlichkeit der Aufgabenstellung nachhaltiger Nut-
zung vor Augen führt, gleichzeitig aber zur Feststellung
kommt, dass daran gemessen weltweit nur in Ausnahme-
fällen nach den Grundsätzen nachhaltiger Ressourcenbe-
wirtschaftung die Nutzung tropischer Naturwälder er-
folgt, ist schlicht zu fragen, wieso man sich vehement
gegen Verwendungs- und Importbeschränkungen aus-
spricht, nicht bereit ist, eine ganzheitliche Unterschutz-
stellung zuzulassen, und ob nicht doch, selbst ein Boykott
im Einzelfall erwogen werden muss. Zertifizierung,
Kennzeichnungs- und Selbstverpflichtung sind hilfreiche,
aber bisher ungenügende Maßnahmen.
Der Ansatz, der auch hinter der Beschlussempfehlung
steht, dass eine nachhaltige Forstwirtschaft schon der
Schlüssel zum Beenden der Waldverluste sei, ignoriert
eben wichtige Ursachen und Rahmenbedingungen der
Waldzerstörung. Dazu gehört der Überkonsum von Holz
und anderen Rohstoffen – da ist die Verringerung des Ver-
brauchs der Schlüssel! Denn infolge der ungleichen Ver-
teilung bestimmt die Verbrauchsrate in den Industrielän-
dern die Nachfragerate und damit die Naturressourcener-
schöpfung auf globaler Ebene.
Kriterien der Nachhaltigkeit und der Entwicklungsver-
träglichkeit müssen als oberste Priorität durchgesetzt wer-
den. Das heißt in der Konsequenz, den in Armut lebenden
Menschen andere Möglichkeiten für ihre wirtschaftliche
Entwicklung zu geben, eine Entwicklung, die sich nicht
nach den Konsumbedürfnissen und den Interessen der Ex-
port- wie Importwirtschaft hier im Norden ausrichtet, son-
dern regionale Wirtschaftskreisläufe und ursprüngliche
Lebensweisen der indigenen Bevölkerung erhält. Gerade
am Beispiel Brasilien – ein Schwerpunktland deutscher
Entwicklungszusammenarbeit im Bereich Tropenwald-
schutzmaßnahmen – zeigt sich, wie wenig Entwicklungs-
zusammenarbeit leisten kann, wie unzureichend der bis-
herige entwicklungspolitische Ansatz ist, wenn die Ge-
mengelage aus gewaltigen Wirtschaftsinteressen und
einer stagnierenden und rückschrittlichen Politik gegen-
über der indigenen Bevölkerung dem entgegenstehen.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten:
Der Tropenwaldbericht wird im Zweijahresturnus erstellt.
Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über das aktuelle
Ausmaß der Tropenwaldzerstörung und über den deut-
schen Beitrag zur Erhaltung der Tropenwälder.
Die Welternährungsorganisation FAO hat 1999 Zahlen
vorgelegt, die jedoch auf Schätzungen beruhen. Danach
ist in den außertropischen Waldregionen eine leichte Zu-
nahme der Waldfläche zu verzeichnen, während in den
Tropen allein 12,5 Millionen Hektar Naturwald jährlich
verloren gehen. Zum Vergleich: Das ist mehr als die ge-
samte Waldfläche in Deutschland. Dies sind wohlgemerkt
Schätzungen, die jedoch die Tendenz andeuten. Verlässli-
che Zahlen sind erst wieder durch die weltweite Waldres-
sourcenerfassung der FAO zu erwarten, die im Laufe die-
ses Jahres veröffentlicht wird.
Die Ursachen der Tropenwaldzerstörung sind äußerst
vielschichtig. Es bestehen große Unterschiede zwischen ver-
schiedenen Ländern und Regionen. Zusätzlich verändern
sich die Triebkräfte der Zerstörung. Sie sind zudem abhän-
gig von international und national wirksamen wirtschaftli-
chen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9365
(C)
(D)
(A)
(B)
Die Tropenwaldzerstörung wirkt sich verheerend auf
die forst- und holzwirtschaftliche Bewirtschaftung aus.
Infolge der rasch eintretenden Bodendegradation und
-erosion wird das Nutzungspotenzial stark geschädigt.
Zudem lassen sich Klimaänderungen und ihre mutmaßli-
chen Auswirkungen heute kaum abschätzen.
Die vorliegende Veröffentlichung geht von der Be-
sorgnis erregenden Situation aus, informiert über Lö-
sungsstrategien, die auf internationaler Ebene zur Erhal-
tung der Wälder angewendet werden und stellt den deut-
schen Beitrag zur Verbesserung der Tropenwaldsituation
dar. Anhand zahlreicher Projektbeispiele wird der Beitrag
der Bundesregierung in der forstlichen Entwicklungszu-
sammenarbeit veranschaulicht.
Als Schwerpunkte des diesjährigen Tropenwaldberich-
tes möchte ich hervorheben:
Erstens. Entwicklungsmaßnahmen: Im Jahr 1997 wur-
den 298,5 Millionen DM und im Jahr 1998 268,6 Millio-
nen DM für bilaterale Maßnahmen, vorwiegend im Haus-
halt des BMZ, aufgewendet. Das entspricht etwa 20 Pro-
zent der international für die Tropenwalderhaltung auf
bilateraler Ebene bereitgestellten Mittel. Deutschland ist
damit eines der wichtigsten bilateralen Geberländer.
Hierzu kamen umfangreiche Beiträge im Rahmen der eu-
ropäischen und multilateralen Entwicklungszusammenar-
beit.
Zweitens. Die Tropenwaldforschung: Hier laufen um-
fangreiche Projekte und Programme auf nationaler, su-
pranationaler und internationaler Ebene mit dem Schwer-
punkt nachhaltiger Bewirtschaftungs- und Entwicklungs-
konzepte. Neben der nationalen Forschung, zum Beispiel
an der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirt-
schaft in Hamburg, nehmen vor allem die Programme der
von BMBF und BMZ geförderten Forschungsprogramme
breiten Raum ein.
Im Bereich Waldbewirtschaftung hat das internationale
Forschungszentrum CIFOR in Indonesien – unter ande-
rem mit deutscher wissenschaftlicher und finanzieller Un-
terstützung – Vorschläge für weltweit anwendbare Krite-
rien der Nachhaltigkeit vorgelegt.
Drittens. Der Nachfolgeprozess zur VN-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung; UNCED, 1992: Hier wurden
in den letzten zwei Jahren besonders intensive Verhand-
lungen zum Thema Wälder geführt. Das zwischenstaatli-
che Waldpanel, IPF – ein Ad-hoc-Ausschuss der VN-
Kommission für nachhaltige Entwicklung, CSD – hat
nach zweijähriger Arbeit 1997 eine umfangreiche Liste
von Empfehlungen zur Verbesserung der weltweiten
Walderhaltung erarbeitet, die von der Sondergeneralver-
sammlung der VN im Juni 1997 angenommen wurden.
Besonders hervorzuheben ist der erreichte internatio-
nale Konsens über die Bedeutung nationaler Forstpro-
gramme. Auch in Deutschland haben wir begonnen, ein
entsprechendes Forstprogramm zu erarbeiten. Damit
kommen wir den internationalen Verpflichtungen nach.
Zugleich hatte die Sondergeneralversammlung die Fort-
führung des globalen Dialogs zur Waldthematik und die
Einrichtung eines zwischenstaatlichen Waldforums, IFF,
beschlossen. Über die erzielten Ergebnisse hat der IFF im
Februar 2000 einen Bericht für die VN-Kommission für
nachhaltige Entwicklung verabschiedet, in dem auch Vor-
schläge für den internationalen forstpolitischen Dialog
enthalten sind. Durch den Beschluss zur Einsetzung eines
„Waldforums der Vereinten Nationen“ – kurz UNFF ge-
nannt – ist der Weg frei für ein dauerhaftes Gremium im
VN-Bereich zur internationalen Koordinierung waldbe-
zogener Aktivitäten.
Zusammenfassend ist festzustellen: Allein werden wir
das Problem der Tropenwaldzerstörung nicht lösen. Die
Bundesregierung wird daher ihre intensiven Bemühungen
zur Erhaltung und nachhaltigen Entwicklung der Tropen-
wälder unvermindert und in internationaler Zusammenar-
beit fortsetzen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Neue Belastungen für
ehrenamtlich Tätige zurücknehmen (Tagesord-
nungspunkt 14)
Peter Dreßen (SPD): 16 Jahre Regierung Kohl mit
dem Anspruch der geistig-moralischen Wende haben dazu
geführt, dass sich vieles in unserer Gesellschaft verändert
hat. Diese Politik hat dazu geführt, dass sich immer mehr
Menschen aus dem unbezahlten Ehrenamt zurückziehen,
dass es nicht mehr verständlich ist, sich solidarisch für an-
dere zu engagieren, dass betriebliche Freistellungen zur
Wahrnehmung von freiwilligen ehrenamtlichen Tätigkei-
ten immer wieder neu erkämpft werden müssen, und die
politischen Dimensionen, dass die unentgeltlichen frei-
willigen Leistungen, die Bürgerinnen und Bürger für
diese Gesellschaft erbringen und die Demokratie lebendig
halten, wieder neu definiert werden müssen.
Obwohl Deutschland das Land mit den meisten Verei-
nen und vielen Menschen ist, die sich im sozialen, karita-
tiven und kulturellen Bereichen bewegen, gibt es immer
mehr Menschen, die fragen: „Was bringt mir das?“ „Wel-
che Vorteile habe ich?“ Genau aus diesem Grund sehen
wir auch, dass es Probleme bei den ehrenamtlich Tätigen
gibt.
Genau deshalb haben wir die Enquete-Kommission
„Bürgerschaftliches Engagement“ eingesetzt. Enquete-
Kommissionen werden zur Vorbereitung von Entschei-
dungen und zur Aufklärung von Sachkomplexen einge-
setzt. Sie sind auf Bundesebene eine der wichtigsten
Schnittstellen zwischen Politik, Wissenschaft und den Be-
troffenen. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass
in ihnen Sachverständige, die nicht dem Bundestag an-
gehören, gemeinsam und gleichberechtigt mit Bundes-
tagsabgeordneten ein Thema bearbeiten. Hinzu kommen
Anhörungen, bei denen die Betroffenen ihre Ansicht zu
den Problemen äußern. Ziel ist also, mit den Betroffenen
und Sachverständigen gemeinsam nach besseren Lösun-
gen zu suchen und Entscheidungen für dieses Hohe Haus
vorzubereiten.
Ich denke, hier ist auch der richtige Ort, um zum Bei-
spiel die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung des
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009366
(C)
(D)
(A)
(B)
Ehrenamtes zu erörtern. Es kann doch wohl nicht wahr
sein, dass in Baden-Württemberg ehrenamtliche Ortsvor-
steher für ihren Salär, den sie erhalten, bis auf eine steu-
erfreie Aufwandsentschädigung von 350 Mark Steuer-
und Sozialabgaben leisten und in Bayern regt man sich
darüber auf, was in anderen Bundesländern gang und gäbe
ist.
Insofern hat ihr Antrag für mich den Anschein, hier Er-
gebnisse der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches
Engagement“ vorwegnehmen zu wollen. Solche Schnell-
schüsse der CDU sind nicht hilfreich und dienen meines
Erachtens einzig und allein der populistischen Darstel-
lung ihrer Partei. Ziel der Enquete-Kommission muss es
auch sein, dass wir für alle ehrenamtlichen Helfer gleiche
Voraussetzungen schaffen, und zwar von Flensburg bis
Lörrach und von Saarbrücken bis Passau. Mit diesem An-
trag versuchen Sie, bei den Beteiligten Pluspunkte zu
sammeln, ohne zu fragen, was dies für die anderen Län-
der bedeutet.
Warum eigentlich solch ein schwammiger Antrag? Sie
fordern – ich zitiere –:
„Die pauschale Aufwandsentschädigung für ehren-
amtliche Tätigkeit ist von Sozialversicherungs-
beiträgen auch insofern freizustellen, als nach allge-
meiner Lebenserfahrung üblicherweise von einem
Anerkennungsobolus ausgegangen werden kann“.
Gehen Sie dabei von der Lebenserfahrung eines ar-
beitslosen Menschen aus oder von den Erfahrungen eines
Bankmanagers? Das würde mich dann schon interessie-
ren. Denn der Anerkennungsobolus eines Arbeitslosen-
hilfebeziehers liegt meist unter 1 900 DM, die er übrigens
versteuern muss, während es für den Bankmanager ein
Nasenwasser ist.
Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, würden wir
wiederum ein Chaos auf dem Arbeitsmarkt produzieren,
das wir gerade gegen Ihren Widerstand beseitigt haben.
Ergänzend möchte ich noch darauf hinweisen, dass
viele Beschäftigte, die im karitativen oder gemeinnützi-
gen Bereich tätig werden, auf den sozialversicherungs-
rechtlichen Schutz, den sie aufgrund ihrer Tätigkeit erhal-
ten, dringend angewiesen sind und die Forderung nach ei-
ner generellen Freistellung des Ehrenamtes auch aus
sozialpolitischer Sicht zumindest problematisch er-
scheint.
Weiter wollen Sie die Bundesregierung auffordern,
hierzu geeignete Abgrenzungskriterien zu definieren.
Nun habe ich ja Verständnis dafür, dass eine Opposition
nicht zu allem einen Gesetzentwurf machen kann, da je-
doch diese Forderung aus dem Sozialministerium in Bay-
ern kommt, hätte ich schon etwas mehr an Substanz er-
wartet, zumal die Finanzministerkonferenz am 22. Januar
1998 zu diesem Thema folgendes Beratungsergebnis
hatte:
Die Finanzminister(innen) der Länder nehmen die von
der Innenministerkonferenz übermittelten aufgeschlüs-
selten Ergebnisse der Länderumfrage bei den Komman-
danten der Gemeindefeuerwehren zur Kenntnis. Sie stim-
men aufgrund der Stellungnahme der Steuerabteilungslei-
ter darin überein, dass die vorgelegten Ergebnisse der
Länderumfrage keine Änderung der derzeitigen typisie-
renden steuerlichen Behandlung der Aufwandsentschädi-
gungen der ehrenamtlichen Funktionsträger bei den Ge-
meindefeuerwehren zu rechtfertigen vermögen. Sie wei-
sen darauf hin, dass im Einzelfall entstandene höhere
steuerlich berücksichtigungsfähige Aufwendungen jeder-
zeit dem Finanzamt gegenüber nachgewiesen oder glaub-
haft gemacht werden können, sodass den Betroffenen
auch bei weiterer Anwendung der Drittelregelung kein
steuerlicher Nachteil entsteht.
Erwähnen möchte ich, dass die Abstimmung 16:0 war,
also auch mit dem Finanzminister Erwin Hafer aus
Bayern und Finanzminister Mayer-Vorfelder aus Baden-
Württemberg.
Im Duden Band 10 steht unter ehrenamtlich „ohne Be-
zahlung ausgeübt, eine ehrenamtliche Tätigkeit, freiwil-
lig, unentgeltlich“.
Dem stimme ich voll zu. Wir müssen anerkennen, dass
es nun so genannte, zum Teil nicht schlecht bezahlte Eh-
renämter gibt. Und wenn zum Beispiel ehrenamtliche
Führungskräfte bei der Feuerwehr über 1 900 Mark erhal-
ten und dafür Sozialabgaben leisten, kann man da noch
von einem Ehrenamt im klassischen Sinn sprechen?
Natürlich sehen wir Handlungsbedarf wie zum Beispiel
im Falle eines Feuerwehrmannes, der für Einsätze auf der
Autobahn bis zu 300 DM erhält und dafür Steuern und So-
zialversicherung zahlt, und Feuerwehrleute für Übungs-
leitertätigkeiten denselben Betrag steuer- und sozialversi-
cherungsfrei erhalten.
Ich darf daran erinnern, dass die so genannte Übungs-
leiterpauschale von 2 400 auf 3 600 DM im Jahr angeho-
ben und auch auf Betreuer ausgeweitet wurde; insofern
haben wir eine Regelung getroffen, das Ehrenamt zu stär-
ken.
Wieso soll ein Fußballtrainer eines Kreis- oder Be-
zirksligavereins, der 1000 DM und mehr erhält, eigent-
lich keine Steuer und Sozialabgaben bezahlen? Ist dies
noch ein Ehrenamt?
Welche Folgen hätte eine Freistellung ehrenamtlicher
Tätigkeit von der Sozialversicherungspflicht?
Erstens. Der Sozialversicherung entfielen Beiträge in
noch nicht zu beziffernder Höhe.
Zweitens. Für einen Teil der Betroffenen würden ent-
gegen ihrem Willen zukünftig keine Beiträge zur Sozial-
versicherung entrichtet. Rente und Krankengeld fielen im
Bedarfsfall entsprechend geringer aus.
Drittens. Probleme gäbe es ferner bei der Freistellung
von der Beitragspflicht des im Wege der Aufwandsent-
schädigung geleisteten Ersatzes eines Verdienstausfalls.
Viertens. Eine Öffnung der Regelungen zur geringfü-
gigen Beschäftigung im Sinne § 7 Abs. 1 SGB IV lässt er-
warten, dass eine entsprechende Ergänzung des § 8 SGB IV
die Diskussion um die Neuregelung zur geringfügigen
Beschäftigung neu entflammen wird und Forderungen zur
Öffnung oder der Abschaffung der Regelung aus anderen
Bereichen gestellt werden.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9367
(C)
(D)
(A)
(B)
Ich glaube, hier liegt auch die wahre Intension des An-
trags der CDU/CSU. Aber dann seien Sie bitte so ehrlich
und sagen Sie das. Spannen Sie deshalb die Ehrenamtli-
chen nicht vor Ihren Karren. Das haben diese Menschen
nicht verdient. Leisten Sie aktiv einen Beitrag in der En-
quete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“.
Die ersten Ansätze sind ja nicht schlecht. Ich empfehle Ih-
nen, aus all den genannten Gründen Ihren Antrag zurück-
zuziehen, bis wir, vielleicht sogar gemeinsam, in der En-
quete-Kommission zu realistischen und vor allen Dingen
machbaren Verbesserungen für die vielen Menschen kom-
men, die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren.
Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir debattie-
ren heute im Deutschen Bundestag einen Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der das Ehrenamt stärkt
und ehrenamtlich Tätigen hilft. Mit diesem Antrag wollen
wir eine der schreiendsten Ungerechtigkeiten des
630-DM-Gesetzes beseitigen. Die Auswirkungen dieses
unsäglichen Gesetzes hat Rot-Grün trotz unserer heftigs-
ten Warnungen bis heute nicht zur Kenntnis genommen.
Die rot-grüne Bundesregierung ist vor der Bundestags-
wahl 1998 mit dem Motto angetreten, vieles nicht anders,
aber dafür vieles besser zu machen. Aber nach der Wahl
war das schnell vergessen. Jetzt sieht es so aus, als ob sich
Rot-Grün zum Ziel gesetzt hat, die kleinen Leute auszu-
nehmen. Von Ökosteuer bis zum 630-DM-Gesetz hat Rot-
Grün eine Abkassierwelle in die Wege geleitet, die den
Menschen und Deutschland insgesamt schadet. Ausgelöst
durch das neue 630-DM-Gesetz der Bundesregierung
sind die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger
im November letzten Jahres zu dem Ergebnis gekommen,
dass zum Beispiel Führungskräfte der freiwilligen Feuer-
wehren in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis
stehen und deshalb Sozialversicherungsbeiträge gezahlt
werden müssen. Damit ist der Weg bereitet, jegliche eh-
renamtliche Tätigkeit als eine auf Einkommenserzielung
ausgerichtete Tätigkeit anzusehen. Dies widerspricht al-
lerdings Sinn und Zweck ehrenamtlicher Tätigkeiten.
Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist nämlich die Auf-
wandsentschädigung für das Ehrenamt ein Ersatz für ent-
standenen Aufwand und Anerkennung für die geopferte
Freizeit sowie für die eingebrachte Sachkunde und das
Engagement.
Mit unserem Antrag – und ich lade die Regierungspar-
teien ein, sich unserem Antrag anzuschließen – wird klar-
gestellt, dass ehrenamtliche Tätigkeiten keine Erwerbs-
tätigkeiten darstellen. Im Ergebnis wollen wir, dass Auf-
wandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten
nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen. Es ist
den Menschen schwer zu erklären, dass sie für ihr ehren-
amtliches Engagement Sozialversicherungsabgaben leis-
ten müssen. Ich weiß, dass die rot-grüne Bundesregierung
bei diesem Thema uneinsichtig ist, und zwar deswegen,
weil das Geld in den Sozialkassen natürlich gerne gese-
hen wird. Den Schaden den Rot-Grün dadurch anrichtet,
halte ich allerdings für unermesslich. Einerseits wird vom
bürgerlichen Engagement, von der Förderung ehrenamtli-
cher Tätigkeiten gesprochen, andererseits belastet diese
Bundesregierung ehrenamtlich Tätige, ohne mit der Wim-
per zu zucken. Seit der Neuregelung des 630-DM-Geset-
zes im April 1999 ist, wenn der Ehrenamtliche noch einem
Hauptberuf nachgeht, der steuerpflichtige Anteil von
Aufwandsentschädigungen für das Ehrenamt auch dann
sozialversicherungspflichtig, wenn er unter 630 DM im
Monat liegt. Durch das neue 630-DM-Gesetz ist das Eh-
renamt in aller Regel durch Steuern und Sozialversiche-
rungsabgaben doppelt belastet. Der gesetzgeberische
Murks dieses Gesetzes muss wenigstens in seinen
schlimmsten Auswirkungen wieder zurückgenommen
werden.
Ich will Ihnen einen Beispielsfall aus der Praxis nen-
nen – dabei beziehe ich mich auf ehrenamtliche Feuer-
wehrleute –: Allein in Bayern gibt es 7 793 freiwillige
Feuerwehren, die nicht existieren könnten ohne das eh-
renamtliche Engagement der Feuerwehrleute. Nehmen
wir an, ein ehrenamtlicher Feuerwehrkommandant, der
hauptberuflich in einer sozialversicherungspflichtigen
Tätigkeit beschäftigt ist, erhält monatlich eine Auf-
wandsentschädigung von zum Beispiel 510 DM. Nach
der neuesten Gesetzeslage muss er von den 510 DM als
Arbeitnehmeranteil 68 DM in die Sozialversicherung
zahlen. Weitere 68 DM muss die Gemeinde als Träger der
Feuerwehr als Arbeitgeberanteil überweisen. Nehmen
wir des Weiteren einmal an, dass dieser Feuerwehrkom-
mandant 50 Prozent seiner Tätigkeit für eine Ausbil-
dungstätigkeit bei der feiwilligen Feuerwehr aufwendet,
er also junge Feuerwehrleute ausbildet. Selbst dann
würde er wegen der so genannten Übungsleiterpauschale
nur zur Hälfte entlastet. Es sind immer noch 34 DM Ar-
beitnehmerbeiträge abzuführen und die Gemeinde muss
den Arbeitgeberanteil übernehmen. Der bürokratische
Aufwand, mit dem diejenigen, die ehrenamtliche Tätig-
keiten vergeben, belastet werden, ist enorm. Sie werden
als Arbeitgeber behandelt, mit allen damit anfallenden
Pflichten.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nicht nur
eine unhaltbarer Zustand, dass Aufwandsentschädigun-
gen für ehrenamtlich Tätige mit Sozialversicherungsab-
gaben belegt werden, sondern noch viel unerträglicher ist,
dass damit einer Denkweise Vorschub geleistet wird, die
nicht richtig sein kann. Ehrenamtliche Tätigkeiten sind
nicht auf Einkommenserzielung ausgerichtet. Das Ehren-
amt ist kein Beschäftigungsverhältnis. Sozialrechtliche
Leistungen wie etwa das Arbeitslosengeld bei Arbeitslo-
sigkeit, Rentenversicherung für das Alter, Kündigungs-
schutz, bezahlter Urlaub oder Mutterschutz sind der eh-
renamtlichen Tätigkeit grundsätzlich fremd. Ziel des eh-
renamtlichen Engagements von 100 000 Mitbürgern ist
nicht ein Entgelt wie in einem Arbeitsverhältnis, sondern
das Engagement für die Allgemeinheit. Wenn Rot-Grün
dies nicht bald klarstellt, wird das Ehrenamt in der Be-
völkerung diskreditiert und werden immer weniger Men-
schen bereit sein, ehrenamtliches Engagement zu leisten.
Deswegen fordere ich Sie auf, stimmen Sie unserem An-
trag zu. Setzen Sie mit uns dem Beitragsrausch der Sozial-
versicherungsträger Grenzen. Das unsägliche 630-DM-
Gesetz zeitigt im Bereich des Ehrenamtes Konsequenzen,
die Rot-Grün gar nicht überschaute. Wir bieten Ihnen die
Gelegenheit, Ihre eigenen Fehler zu korrigieren. Im Nach-
bessern ist Rot-Grün ja geübt.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009368
(C)
(D)
(A)
(B)
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der CDU/CSU-Antrag hat einen populistischen Aufhän-
ger, das 630-DM-Gesetz. Der politische Auslöser dieser
Debatte, vor allem in Bayern, ist die Frage, ob zum Bei-
spiel die Aufwandsentschädigungen der Freiwilligen Feu-
erwehr der Sozialversicherungspflicht unterliegen sollen.
Es handelt sich um Aufwandsentschädigungen in einer
Größenordnung von bis zu 2000 DM monatlich.
Damit liegt doch auf der Hand, dass es sich hier nicht
um die Frage des 630-DM-Gesetzes handeln kann. Es
handelt sich vielmehr um die Frage, ob ehrenamtliche
Tätigkeiten mit Entgelt in jeder Höhe von der Sozialver-
sicherungspflicht freigestellt werden.
Genau hier ist der Lösungsvorschlag im CDU/CSU-
Antrag unzureichend, zu pauschal und problematisch.
Vorgeschlagen wird, dass jede ehrenamtliche Tätigkeit
bei jeder beliebigen Höhe der Aufwandsentschädigung
sozialversicherungsfrei gestellt werden soll.
Der Antrag hat allerdings einen sachlichen Kern, über
den es sich zu diskutieren lohnt. Es ist die Frage nach der
Definition und der Abgrenzung der ehrenamtlichen Tätig-
keit. Die Unterscheidung von ehrenamtlicher Tätigkeit
und abhängiger Beschäftigung ist in der Tat schwierig.
Und es hat einen Bedeutungswandel der ehrenamtlichen
Tätigkeit eingesetzt. Dennoch muss klar sein, dass allein
das subjektive Empfinden und der psychologische Effekt
für die sozialrechtliche Behandlung nicht ausschlagge-
bend sein können.
Die Definition eines modernen Ehrenamtes und neue
Ansatzpunkte zur Belebung und zum Ausbau des ehren-
amtlichen und bürgerschaftlichen Engagements der Men-
schen sind zentrale Fragen, um die sich die rot-grüne Ko-
alition kümmern will. Auch aus diesem Grunde wurde die
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen
Engagements“ eingerichtet. Der hier von der CDU/CSU
vorgelegte Lösungsvorschlag wird dem Thema nicht ge-
recht.
Ist eine Tätigkeit ehrenamtlich, wenn sie subjektiv so
empfunden wird? Ist sie dann noch ehrenamtlich, wenn
die Aufwandsentschädigung den sachlichen Aufwand
weit überschreitet? Das sind nur einige wenige Fragen
zum Komplex des Ehrenamtes. Aber es stellt sich auch die
Frage, ob eine generelle Freistellung von der Sozialabga-
benpflicht die richtige oder gar die einzige Möglichkeit zu
einer gesellschaftlichen Aufwertung der Bürgerarbeit ist.
Umgekehrt könnte doch gerade die Einbeziehung in die
soziale Sicherung ein Anreiz sein, die Bürgerarbeit aufzu-
werten und attraktiver zu machen. Dies gilt aber vermut-
lich für eine andere Personengruppe als die Feuerwehr-
kommandanten. Diese Fragen müssen geklärt werden.
Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaft-
lichen Engagements“ wird an diesen schwierigen Fragen
arbeiten.
Die Diskussion um das 630-DM-Gesetz hilft uns bei
den Fragen des Ehrenamtes nicht weiter. Trotzdem haben
wir in diesem Zusammenhang bereits einen Schritt getan,
zu dem die CDU/CSU in der Vergangenheit nicht fähig
war. Durch die Anhebung der Übungsleiterpauschale auf
3600 DM im Jahr wird der freiwillige Einsatz in mehre-
ren 100000 gemeinnützigen Vereinen, Verbänden, Orga-
nisationen des Sports, der Kinder- und Jugendarbeit, der
Sozialarbeit, des Katastrophenschutzes, im Umwelt- und
Tierschutz, für Senioren und Frauen, in den Kirchen und
für Behinderte sowie für andere gesellschaftliche Zwecke
erheblich verbessert.
Ich teile die Einschätzung im CDU/CSU-Antrag, dass
für die Abgrenzung einer ehrenamtlichen Tätigkeit von ei-
nem Beschäftigungsverhältnis das Kriterium der Wei-
sungsgebundenheit alleine unzureichend ist. Wenn man
aber gleichzeitig, wie es im CDU/CSU-Antrag beschrie-
ben ist, davon ausgeht, dass ein Ehrenamt unentgeltlich
ausgeübt wird, dann wird bei der Höhe der hier zur De-
batte stehenden Aufwandsentschädigungen der Sachauf-
wand des Ehrenamtes ganz offensichtlich überschritten.
Diese Differenz begründet nicht nur die Steuerpflicht,
sondern auch die Sozialabgabenpflicht. Bei einer Auf-
wandsentschädigung von 2000 DM monatlich von einem
Anerkennungsobolus zu sprechen, scheint mir bei aller
gebotenen Vorsicht doch nicht sachgerecht zu sein.
Ich wünschte, die bayerische Landesregierung würde
für sachgerechte Lösungen Luft schaffen, indem sie die
jetzt hochgekochten Fragen der Feuerwehr oder der stell-
vertretenden Bürgermeister zunächst pragmatisch auf
Landesebene löst.
Es ist eine wichtige Aufgabe, Abgrenzungskriterien
zwischen Ehrenamt und sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung neu zu definieren. Dazu aber bietet der
vorliegende Antrag der CDU/CSU nur wenig Material.
Die Enquete-Kommission ist der richtige Ort dafür. Das
gilt auch für unsere gemeinsame Aufgabe, das bürger-
schaftliche Engagement zu fördern.
Gerhard Schüßler (F.D.P): Aus Sicht der F.D.P.-
Bundestagsfraktion ist der Antrag der Union berechtigt.
Wie hieß es noch so emphatisch in dem Koalitionsvertrag
von Rot-Grün? Wir werden das Ehrenamt stärken und
neue Perspektiven für die künftige Bürgergesellschaft
schaffen.
Was haben sie daraus gemacht? Ich will es sagen: Eh-
renamtlich Tätige trauten ihren Augen und Ohren nicht
mehr. Da wurden einerseits die 630-Mark-Jobs neu gere-
gelt, mit der Folge, dass mittlerweile 1,25 Millionen die-
ser Arbeitsverhältnisse weniger bestehen. Andererseits
wurde die Übungsleiterpauschale im Einkommensteuer-
recht eingeschränkt, was zu einer zusätzlichen finanziel-
len Belastung für Ehrenamtsinhaber führte. Keine einzige
Neuregelung der letzten Jahre hat dem Ehrenamt in
Deutschland mehr geschadet als diese beiden Maßnah-
men der neuen Regierung. Und schließlich die mit Pauken
und Trompeten angekündigte Reform des Stiftungsrechts:
Aus dieser großen Reform des Stiftungszivil- und Stif-
tungsteuerrechts wurde lediglich ein Stiftungsteuer-
rechtsreförmchen. Die notwendige Reform der §§ 80 ff.
BGB mit einer Vereinfachung der Errichtungsvorschrif-
ten und der Schaffung von Transparenz hat Rot-Grün erst
gar nicht in Angriff genommen. Alles in allem fällt eine
erste Zwischenbilanz rot-grüner Ehrenamtspolitik mehr
als dürftig aus. Von ehrenamtsfreundlicher Politik der
neuen Bundesregierung kann keine Rede sein.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 2000 9369
(C)
(D)
(A)
(B)
Mit ebenfalls pathetischen Worten hat sich die neue
Regierung für die Einsetzung der Enquete „Bürgerschaft-
liches Engagement“ eingesetzt. Die F.D.P.-Fraktion un-
terstützte die Einsetzung der Enquete ausdrücklich und ist
auch heute noch der Ansicht, dass diese wichtige Impulse
für die Renaissance einer freiheitlichen gemeinwohlori-
entierten Bürgergesellschaft geben kann. Doch erwarten
wir, dass die Enquete entsprechend ihrem Einsetzungsbe-
schluss gutachterlich Stellung nimmt zu laufenden parla-
mentarischen Initiativen, soweit diese von Bedeutung für
die Gestaltung einer neuen Bürgerkultur in Deutschland
sein können. Im Falle des Gesetzgebungsverfahrens zum
Stiftungsrecht war von der Enquete nichts zu hören. Dies
muss sich jetzt ändern.
Deshalb fordert die F.D.P.-Bundestagsfraktion, dass
der vorliegende Antrag der Union auch Gegenstand von
Erörterungen der Enquete werden muss. Inhaltlich unter-
stützen die Liberalen den CDU/CSU-Antrag voll und
ganz. Pauschale Aufwandsentschädigungen für ehren-
amtlich Tätige müssen von Sozialversicherungsbeiträgen
freigestellt werden, wenn die Aufwandsentschädigung le-
diglich Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung für die
Übernahme eines Ehrenamtes ist. Der geltenden Praxis
der Sozialversicherungsträger, Aufwandsentschädigun-
gen für verschiedene ehrenamtlich Tätige als sozialversi-
cherungspflichtig zu kategorisieren, muss Einhalt gebo-
ten werden. Die Enquete muss hier ein sichtbares Zeichen
setzen und sich öffentlich für die Initiative der Union ein-
setzen.
Dr. Klaus Grehn (PDS): Seit einigen Monaten gibt es
die Enquete-Kommission über die Zukunft des bürger-
schaftlichen Engagements. Der vorliegende Antrag der
CDU berührt wichtige Inhalte, die letztlich Ergebnis der
Arbeit der Kommission sein werden und müssen. Der An-
trag der CDU ist insoweit richtig, als darin ein nicht un-
wesentlicher Aspekt der ehrenamtlichen Tätigkeit berührt
wird, nämlich der Umgang des Staates mit denjenigen, die
für ihr Engagement eine Aufwandsentschädigung erhal-
ten.
Für mich als Sozialpolitiker ist trotzdem Aufwandsent-
schädigung nicht gleich Aufwandsentschädigung. Es ist
schon ein Unterschied, ob ein Arbeitsloser oder ein Rent-
ner oder auch ein Erwerbstätiger ehrenamtlich zum Bei-
spiel eine Selbsthilfegruppe oder eine soziale Beratungs-
stelle betreut, Arbeit mit Seniorinnen und Senioren leistet –
sich also unentgeltlich für das Gemeinwohl engagiert und
bestenfalls eine pauschale Aufwandsentschädigung von
200 oder 250 DM im Monat erhält – oder ob aus steuer-
rechtlichen oder sonstigen Gründen ein Teil des Gehalts,
so etwa 2 000 DM, bei der Erfüllung kommunaler Pflicht-
aufgaben als „Aufwandsentschädigung“ gezahlt wird.
Unter anderem zur klaren Definition bürgerschaftli-
chen Engagements, auch zur Abgrenzung bestimmter
Tätigkeitsmerkmale, gibt es die Enquete-Kommission.
Die Grenzen zwischen geringfügiger Beschäftigung und
Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Arbeit sind
manchmal nicht klar erkennbar und werden zurzeit leider
ausschließlich über das Steuerrecht definiert, jene allseits
beliebten und doch so umstrittenen 630-DM-Jobs. Die
PDS hat die Sozialversicherungspflicht in bestimmten
Fällen für diese Form der geringfügigen Beschäftigung
unterstützt. Es wird also Aufgabe der Enquete-Kommis-
sion bleiben, das weite Feld ehrenamtlicher Tätigkeit
deutlich von geringfügiger Beschäftigung abzugrenzen
und Mitnahmeeffekte, aber auch Zuordnungsprobleme zu
verhindern. Es ist natürlich unabdingbar und gerechtfer-
tigt, ehrenamtliche Arbeit deutlich zu fördern und in ge-
eigneter Form auch finanziell besser zu stellen als Ein-
kommen anderer Art. Eine solche Regelung fehlt, im Mo-
ment werden alle Geldbezüge der Bürger im wesentlichen
lediglich nach ihrer Höhe betrachtet.
Es gibt auch ein weitaus größeres Problem, nämlich ob
bei der ehrenamtlichen Arbeit überhaupt der individuelle
Aufwand entschädigt werden kann und wer dafür die Ver-
antwortung übernimmt. Der engagierte Bürger soll nicht
auch noch sein privates Einkommen, das bereits umfas-
send und kräftig versteuert ist, dafür einsetzen, sein ge-
meinnütziges Engagement zu bezahlen. Seine Arbeits-
kraft und seine Freizeit setzt er ja schon für das Gemein-
wohl ein – daran soll sich der Staat nicht auch noch
bereichern können. Genau das aber passiert, wenn mehr
und mehr kommunale Pflichtaufgaben durch freiwillige
Arbeit der Bürger ersetzt wird.
Wir verlangen eine steuerliche Besserstellung all derer,
die sich bürgerschaftlich engagieren und werden das in
die Enquete-Kommission einbringen. Das wäre wenigs-
tens eine minimale Entschädigung. Es ist ein wenig frus-
trierend, dass die regierende Koalition selbst bei ehren-
amtlichem Engagement nur in den Dimensionen von fis-
kalischen Überlegungen handelt. Sichtbar wird das auch
beim Umgang mit den Männern und Frauen der freiwilli-
gen Feuerwehren. Hier fehlt es praktisch an allem: an Re-
gelungen für die Freistellung von beruflicher Arbeit, an
Aufwandsentschädigungen ganz generell, an Versiche-
rungen gegen Unfälle und anderem.
Viele andere Regelungen des Staates behindern ehren-
amtliches Engagement – wir werden die alle in der Kom-
mission zur Sprache bringen. Stellvertretend möchte ich
hier nur das in der 13. Wahlperiode bereits angesprochene
Problem von ehrenamtlicher Arbeit von Arbeitslosen nen-
nen. Es ist doch schändlich, dass ein Arbeitsloser Sank-
tionen des Arbeitsamtes unterliegt, wenn er – und zwar
ohne jedwede Aufwandsentschädigung – mehr als 15 Wo-
chenstunden ehrenamtlich tätig ist. Angeblich wider-
spräche das der Definition von geringfügiger Beschäfti-
gung, andererseits verletze er auch das Prinzip der ständi-
gen Erreichbarkeit. Diese Ungleichbehandlung von
Erwerbstätigen und Arbeitslosen betrachten wir als we-
sentliche Einschränkung der persönlichen Freiheit eines
Arbeitslosen und damit als eine Verletzung von Grund-
rechten.
Wir unterstützen das Anliegen des vorgelegten Antra-
ges, wollen aber zunächst die Ergebnisse der Arbeit der
Enquete-Kommission abwarten, um den bisherigen Pro-
blemen nicht auch noch neue hinzuzufügen, die einer
allzu großen Eile und einem Vorgriff auf umfassendere
Regelungen zuzuschreiben wären.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 99. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. April 20009370
(C)
(D)
(A)
(B)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44
20