Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-
öffnet.
Zunächst teile ich mit, dass der Kollege Ernst
Schwanhold am 21. Februar auf seine Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet hat. Seine Nachfolge-
rin, die Abgeordnete Dr. Carola Reimann, hat am
22. Februar die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag
erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih-
nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Energiekonsensgespräche und Energiedialog vor dem
Aus?
2 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Umwelt und Gesundheit – Drucksache
14/2767 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zi-
– Drucksache 14/2698 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Jünger,
Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS: Ächtung der Gewalt in der
Erziehung wirkungsvoll flankieren – Drucksache
14/2720 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Rennwett- und Lotteriegesetzes – Drucksache
14/2271 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses – Drucksache 14/2762 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer
Elke Wülfing
Heidemarie Ehlert
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache
14/2798 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Uwe-Jens Rössel
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 131 zu Peti-
tionen – Drucksache 14/2790 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 132 zu Peti-
tionen – Drucksache 14/2791 –
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 133 zu Peti-
tionen – Drucksache 14/2792 –
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 134 zu Peti-tionen – Drucksache 14/2793 – 5 Vereinbarte Debatte zur Drogenpolitik 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Ar-tikel 77 des Grundgesetzes zu demDritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes
–
Drucksachen 14/1515, 14/2345, 14/665, 14/2796 – Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Schmidt
7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur Patent-vergabe des Europäischen Patentamtes auf Genmanipula-tion an menschlichem Erbgut 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit,Annette Faße, Iris Follak, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
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8280 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Steffi Lemke, Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wettbewerbspositi-on für die deutsche Landwirtschaft verbessern und nach-haltige Entwicklung der Landwirtschaft und der ländli-chen Räume sichern – Drucksache 14/2766 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Naumannund der Fraktion der PDS: Betriebliche Obergrenze von3 000 DM Gasölbeihilfe zurücknehmen – Drucksache14/2795 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 10 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bun-desknappschaft und See-Krankenkasse – Drucksache14/2764 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiteren Abgeordne-ten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppeltenStrom- und Wärmeerzeugung – Drucksa-che 14/2693 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 12 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung – Drucksache 14/2765 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zugleich sollen folgende Punkte von der Tagesord-nung abgesetzt werden: 10 b – es handelt sich um die sogenannte Altfallregelung im Ausländerrecht –, 15 – Do-ping im Spitzensport – und 22 a – zweite und dritte Be-ratung des Flurbereinigungsgesetzes. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss-überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam: Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung über dieFestlegung eines vorläufigen Wohnortes fürSpätaussiedler – Drucksache 14/2675 – überwiesen: Innenausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesenwerden. Antrag der Abgeordneten Annette Faße, UlrikeMehl, Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Gila Altmann, Albert Schmidt ,Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Si-cherung der deutschen Nord- und Ostseeküstevor Schiffsunfällen – Drucksache 14/2684 – überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steu-ersätze und zur Reform der Unternehmensbe-steuerung
– Drucksache 14/2683 – überwiesen: Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 2auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung Sondergutachten des Rates von Sachverstän-digen für Umweltfragen Umwelt und Gesundheit Risiken richtig einschätzen – Drucksache 14/2300 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für Tourismus Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umwelt und Gesundheit – Drucksache 14/2767 –Präsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8281
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionder CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Ver-einbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stundenvorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen. Das Wort hat Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin froh,dass das Thema Umwelt und Gesundheit endlich mehrAufmerksamkeit als bislang erhält, und zwar auch imparlamentarischen Rahmen. Da dies ein Querschnitts-thema ist und mehrere Ressorts betrifft, besteht manch-mal die Gefahr, dass es durch die Raster fällt und zu ei-nem Stiefkind wird. Das war in der Vergangenheit man-ches Mal der Fall, aber man kann schon sagen, dass wirseit dem Regierungswechsel eine deutliche Kehrtwendeeingeleitet haben. Wir haben eine sehr enge Zusammen-arbeit zwischen Umwelt- und Gesundheitsministeriumund auch mit anderen Ressorts wie dem Landwirt-schafts- und dem Forschungsressort begonnen. Mit die-sem systematischen Ansatz und dieser gezielten Zu-sammenarbeit mit dem Ziel, dass wir in diesem Bereichvorankommen, machen wir genau das, was hier amwichtigsten und am notwendigsten ist. Noch etwas haben wir deutlich verändert. Wir sagen:Für uns spielt die Frage der Vorsorge eine ganz ent-scheidende Rolle. Im Zweifelsfall entscheiden wir unsimmer für den vorsorgenden Gesundheits- undVerbraucherschutz. Wir führen seit Jahren darüber eine Diskussion, dieallerdings – Stichworte: systematisch, unsystematisch –häufig anhand von Beispielen geführt wird und diemanchmal auch mit Aufregung versehen ist. Das veran-lasst diejenigen, die das für übertrieben halten, zu derzynischen Rede, hier werde jede Woche ein neuerSchadstoff verhandelt. Wenn man aber hinter diese me-diale Aufbereitung schaut, die in Konjunkturen undZyklen vor sich geht, dann stellt man fest, dass es ers-tens falsch wäre, die Gefahren zu verharmlosen, nurweil einem die Art, wie dies in den Medien behandeltwird, nicht gefällt, und dass wir zweitens noch sehr vielmehr darüber wissen müssen. Dies würde im Zweifels-fall die Debatte versachlichen und die Aufklärung er-leichtern, wenn es Besorgnisse gibt. Es gibt einige grundsätzliche Zusammenhänge. Siesind bekannt und sie sind auch unstrittig, so zum Bei-spiel die Tatsache, dass Schadstoffe in der Luft grund-sätzlich die Entstehung von Allergien begünstigen kön-nen und dass dieses Risiko für Kinder besonders hochist. Die Fragen, in welcher Konzentration diese Stoffewie wirken, wie die Ursache-Wirkungs-Beziehung ge-nau aussieht und welche Rolle andere Faktoren dabeispielen, sind im Zweifelsfall häufig strittig, auch in derBewertung unter den Fachleuten. Das hat in den vergan-genen Jahren dazu geführt, dass in unterschiedlichenGremien das Risiko unterschiedlich bewertet wird. Dannstehen die Verbraucher, im Zweifelsfall aber auch diezuständigen Behörden, die Maßnahmen ergreifen sollen,vor einer Vielzahl von unterschiedlichen Stellungnah-men. Damit wird das Handeln nicht einfacher. Deswe-gen ist es so wichtig, dass wir mit dem Sondergutachten„Umwelt und Gesundheit“ und mit dem Bericht desTAB-Projektes „Umwelt und Gesundheit“ aktuelle Do-kumente erhalten haben, die sich mit einer Vielzahl vonUmweltrisikien beschäftigen. Wir haben dann in demAktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ kon-krete Handlungsschritte vereinbart, die darüber hinausden ganzen Komplex betreffen.Ich will noch einmal verdeutlichen, was in dem Akti-onsprogramm steht, um weitere Klarheit über die Ursa-che-Wirkungs-Zusammenhänge zu gewinnen. Wir ha-ben nicht vor, Datenfriedhöfe anzulegen, mit denenniemand etwas anfangen kann. Gerade weil die Ursache-Wirkungs-Beziehung so umstritten ist, ist es wichtig,dass wir darüber mehr erfahren, weil wir nur dann han-deln können und nur dann auch angemessene Maßnah-men ergriffen werden können. Wenn Sie sich mit denje-nigen unterhalten, die an Krankheiten leiden, die durchUmwelteinflüsse hervorgerufen worden sind, dann er-fahren Sie, dass sie nicht nur wegen ihrer Krankheit ei-nen langen Leidensweg hinter sich haben, sondern auchdeshalb, weil niemand herausfinden kann, was sie genauhaben und was die Ursachen sind. Sie erfahren dann,dass man sie für aufgeregt hält und dass sie sich angeb-lich etwas einbilden würden. Das ist häufig ein zusätzli-ches Leiden. Aus Unkenntnis über diese Zusammenhän-ge wird es den Menschen schwer gemacht, die richtigeDiagnose und die richtige Behandlung zu bekommen.Deswegen ist es so wichtig, dass wir in diesem Bereichweiterkommen.
Im Rahmen des Aktionsprogramms haben wir eineNeuordnung des Verfahrens zur Risikobewertung undSetzung von Standards bei Umwelteinflüssen eingelei-tet. Wir werden in Kürze eine Ad-hoc-Kommission aushochrangigen Experten einsetzen, die bestehende Ver-fahren und Strukturen der Risikobewertung und -einschätzung einer kritischen Analyse unterziehen. Da-bei geht es – das habe ich gerade schon gesagt – insbe-sondere um die Frage: Gelten Werte, die wir für uns Er-wachsene gesetzt haben, auch für Kinder? Müssen dieWerte nicht extra untersucht werden? Der erwachseneMensch ist nicht immer die Norm.
Wir wollen sehr viel mehr die Vernetzung der ver-schiedenen Institutionen, die sich damit beschäftigen,mit Diskussionsforen und dadurch voranbringen, dasswir alle unterstützen, die in diesem Bereich forschen undarbeiten. Wir haben eine Keimzelle für ein elektroni-Präsident Wolfgang Thierse
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8282 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
sches Netz mit der Dokumentations- und Informations-stelle für Umweltfragen in Osnabrück. Wir haben aberauch einen Bereich für Umweltmedizin am Robert-Koch-Institut etabliert und wollen ihn weiter aufbauen.Dort ist bereits eine zentrale Erfassungs- und Bewer-tungsstelle für umweltmedizinische Methoden einge-richtet worden. Wir haben zusätzlich eine Kommissioneingerichtet, die einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssi-cherung in der Umweltmedizin leisten soll. Hier geht esum unseren Beitrag dazu, der Verunsicherung von Ärz-ten und Patienten entgegenzuwirken und Erkenntnisse,die durch die Umweltmediziner gewonnen wurden, zu-sammenzuführen und anderen zugänglich zu machen.Wir werden über solche Querschnittsmaßnahmenhinaus, die unseren Informationsstand verbessern sollenund allen Seiten mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnensollen, mit medien- und stoffbezogenen Qualitätszie-len arbeiten, die wir im Interesse des gesundheitlichenVerbraucherschutzes für besonders notwendig halten.Ein Beispiel dafür ist, dass wir in Folge der Novellie-rung der EU-Trinkwasserrichtlinie ein Programm zumAustausch der Bleileitungen einleiten wollen, die es zurTrinkwasserversorgung immer noch gibt. Wir wissen in-zwischen – da besteht kein Zweifel mehr –, dass Bleiinsbesondere für Kinder außerordentlich schädlich istund es deshalb weiterhin sehr wichtig ist, etwas zu un-ternehmen.Ein weiterer Punkt, bei dem wir meines Erachtensnoch wesentlich aktiver werden müssen, ist die Frageder Ernährung. Auch hier müssen wir von einer Ver-waltung von Schadensfällen durch Schadstoffe weg-kommen. Wir dürfen uns nicht nur damit beschäftigen,auf einen Schadensfall möglichst schnell zu reagierenund einen Schadstoff gegebenenfalls aus dem Verkehrzu ziehen, sondern müssen uns darüber hinaus wesent-lich mehr der Frage stellen, wie es überhaupt dazukommt, dass solche Schadensfälle immer wieder auftre-ten. Wir müssen uns damit auseinander setzen, dass wires zum Teil mit Kriminalität, zum Teil aber auch mitFolgen von bestimmten Anbauweisen zu tun haben. Wir sind der Auffassung, dass es dringend gebotenist, die Lebensmittelqualität und -sicherheit zu verbes-sern. Da gibt es von der Ebene der EU, wo das Themaim Moment sehr weit oben auf der Agenda steht, überdie Ebene der Bundesregierung bis hin zur Ebene derkommunalen Behörden noch einiges zu tun. Dabei wer-den wir uns vor allen Dingen die Frage stellen müssen,wie und zu welchen Bedingungen in unserem Land Le-bensmittel produziert werden.Das Thema Umwelt und Gesundheit berührt sehr vie-le Menschen in ihrem Alltag. Ich habe es vorhin schoneinmal gesagt: Es berührt vor allen Dingen Menschen,die sich in der Politik am wenigsten äußern können,nämlich Kinder, die von den Schadstoffen in unsererUmwelt besonders stark betroffen sind und besondersdarunter leiden. Aus diesem Grund werden wir in die-sem Bereich einen Schwerpunkt bei der Umweltmedi-zin für Kinder setzen. Ich habe vorhin das Beispiel Bleigenannt, aber wir werden dieses Thema auch im Zu-sammenhang mit Abgasen und anderen Punkten zu dis-kutieren haben, bei denen deutlich wird, dass Kinder be-sonders stark unter der Lebensweise zu leiden haben, diedie Erwachsenen sich angewöhnt haben.Wir befinden uns in einem Bereich, in dem wir nichtnur über Daten reden dürfen und darüber, wie man dieseDaten verändert, sondern in dem wir auch darüber redenmüssen, wie wir leben und was wir mit unserer Lebens-weise anrichten. Ich glaube, dass es im Interesse derKinder geboten ist, dass wir diesem Bereich mehr Auf-merksamkeit schenken.
Ich nehme bei der Lektüre des Antrags derCDU/CSU-Fraktion in diesem Zusammenhang erfreutzur Kenntnis, dass das Problembewusstsein der Oppo-sition in diesem Bereich offensichtlich erheblich ge-schärft worden ist.
Vor diesem Hintergrund bin ich sehr zuversichtlich, dasswir mit dem Parlament bei der Lösung der vielen Prob-leme, die ich jetzt in der Kürze der Zeit nur anreißenkonnte, gut zusammenarbeiten können.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Vera Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Medien konsumierendeBürger von heute weiß, dass wir Deutschen ein gesund-heitlich bedrohtes Volk sind, das überdies in einem öko-logischen Notstandsgebiet lebt. Die Gefahr lauert über-all, so schreiben Michael Miersch und Dirk Maxeiner: inder Luft und in der Zahnfüllung, in der Sonne und imBabybrei. Allergien und Krebs, Pseudokrupp und Asth-ma: Die Deutschen werden immer kränker, Kinder unterfünf Jahren dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben.Ob bei Sonnenbrand oder Leberzirrhose, die Diagnosesteht von vornherein fest: Die steigende Umweltver-schmutzung ist schuld. Aber, so fragen die beiden Um-weltjournalisten weiter, wie hat es inmitten der Umwelt-und Gesundheitskatastrophen geschehen können, dasssich unsere Lebenserwartung in den letzten 100 Jahrenfast verdoppelt hat?Wahr ist, dass die Menschen umso gesünder sind, jewohlhabender das Land ist, in dem sie leben. Wenn esden Anschein hat, es gäbe heute mehr Kranke als früher,so liegt das an einem Paradox: Je ausgereifter die medi-zinische Versorgung wird, desto mehr Behandlungsbe-dürftige gibt es.Miersch und Maxeiner, um ein letztes Mal aus dem„Lexikon der Öko-Irrtümer“ zu zitieren, weisen aufdas Beispiel der Zuckerkranken hin. Heute leben inDeutschland zehn Mal mehr Zuckerkranke als vor 100Bundesministerin Andrea Fischer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8283
Jahren, aber nicht, weil die moderne Medizin versagthätte oder weil sich die Umwelt verschlechtert hätte,sondern weil vor 70 Jahren das Insulin erfunden wurde.
Ohne Insulin würden die Betroffenen früh sterben undes gäbe weniger Zuckerkranke.
Wer heute an Diabetes leidet, ist von Insulin abhängig,führt ein fast normales Leben, bleibt aber Patient bis ansein Lebensende. Hoch entwickelte Industrieländer haben sehr viele be-sonders lebensgefährliche Krankheiten beseitigt. Sieproduzieren aber zweifellos auch neue: Allergien, Atemwegserkrankungen, psychosomatische Erkrankun-gen, Hyperaktivität usw. Trotzdem bedeutet eine Schä-digung der Umwelt nicht immer direkt oder indirekt ei-ne Schädigung der menschlichen Gesundheit. Nichtjede Umgestaltung der Umwelt ist eine Schädigung,auch wenn uns das die Grünen immer gerne weismachenwollen.
Auch ist nicht jede Belästigung des Menschen eineSchädigung und nicht jede Schädigung ist belästigend.Lärm führt zu Anspannung und Stress und vielleicht zuBluthochdruck, wirkt aber in einem Pariser Straßencafésehr anregend. Milben, Pollen und Katzenhaare sindsehr natürlich und trotzdem können sie die Gesundheitbeeinträchtigen.
Die Zusammenhänge sind nicht eindimensional undimmer auch von unserer Empfänglichkeit und unserenGewohnheiten abhängig. Angesichts dessen, dass sichdie Grünen soeben so gefreut haben, gestatte ich mirfolgenden Hinweis – ich habe ja gerade über das Pro-blem Lärm gesprochen –: Das Aus für den Transrapidwar auch für die Bemühungen um die Eindämmung desmodernen Lärmpegels ein Rückschlag.
Denn diese Technik hätte es gestattet, die Züge in dieInnenstädte zu führen, ohne zusätzliche teure umwelt-und ressourcenfressende Lärmschutzmaßnahmen durch-zuführen.
Weil wir gerade dabei sind: Das ist keineswegs dieeinzige Entscheidung der rot-grünen Regierung, dieumwelt- und gesundheitspolitisch zweifelhaft ist. Erstletzte Woche überraschte uns die Regierung mit einerweiteren zukunftsbehindernden Entscheidung: Ab sofortist der Anbau von gentechnisch verändertem Mais derFirma Novartin untersagt,
obwohl er nach wie vor in Lebensmitteln zugelassen ist,und das, obwohl das dem Bundesgesundheitsministeri-um unterstellte Robert-Koch-Institut vor drei Jahren imEinklang mit EU-weiten Testverfahren eine Gefährdungvon Mensch, Tier und Umwelt beim Anbau von Bt-Mais ausgeschlossen hat.
Grundlage für die Anweisung der Bundesregierungwaren angebliche „neue Erkenntnisse“ in einer vor kur-zem fertig gestellten Studie des Freiburger Öko-Insti-tutes, die nach Aussagen von Mitarbeitern dieses Institu-tes aber keine Ergebnisse neu durchgeführter wissen-schaftlicher Experimente enthält, sondern eine – immer-hin – mit Experteninterviews angereicherte Literaturstu-die ist. So stehen wieder einmal die ideologischen grü-nen Glaubenspostulate gegen die wissenschaftliche For-schung.
Fortschritte in der Gentechnik werden verteufelt und be-hindert, weil sie im Gegensatz zum reinen Ökolebenstehen sollen.Daher wird die Verhinderung der Lösung von drin-genden Problemen bei Umwelt und Gesundheit in Kaufgenommen. Gentechnisch verändertes Getreide wirdimmer wieder in Gegensatz zum Ökolandbau gebracht.Dabei könnte es gerade dem Ökolandbau helfen. Gen-technisch verändertes Getreide führt zu einer drastischenReduzierung der Düngemittel- und Pestizideinsätze –mit allen segensreichen Folgen für Umwelt und Ge-sundheit. Mit der Züchtung zum Beispiel mehrjährigen Reises,die ja bereits gelungen ist und der bald die Züchtungmehrjährigen Getreides folgen könnte, wäre das Pro-blem der Bodenerosion praktisch gelöst, weil der Bodennicht mehr jedes Jahr bearbeitet werden muss.
Afrika wartet auf die Züchtung salzresistenter Nah-rungspflanzen, die seine Probleme lösen könnte. Also gerade aus umwelt- und gesundheitspolitischerSicht ist der rot-grüne Bann über die Gentechnik antiso-zial und antiökologisch.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird deshalb in ihrerAuseinandersetzung mit dem ökologischen Hinter-wäldlertum der gegenwärtigen Regierung nicht nach-lassen. Vera Lengsfeld
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8284 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Es wird Frau Ministerin Fischer nicht helfen, dass siein ihrem Ministerium die erwähnte Freiburger Studie vorden Augen der kritischen Öffentlichkeit versteckt hält.Frau Ministerin Fischer, ich fordere Sie auf, diese Frei-burger Studie allen Interessierten zugänglich zu machenund sich den daraus resultierenden kritischen Fragen derÖffentlichkeit zu stellen. Das letzte Wort zum Anbauvon Bt-Mais ist noch nicht gesprochen.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegendenEntschließungsantrag beweist die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion erneut, dass die ökologische Kompetenzlängst an sie übergegangen ist.
– Ich rede hier nur von Fakten. Darüber können Sie sichzwar freuen – da bin auch ich erfreut –, aber Sie solltensie zumindest zur Kenntnis nehmen.
In Deutschland ist in den vergangenen Jahren viel er-reicht worden. Das ökologische Schutzniveau ist au-ßerordentlich hoch. Massive Umweltbelastungen durchSpitzenkonzentrationen von Schadstoffen oder extremeLärmpegel sind nahezu völlig beseitigt worden. Die Be-lastung mit vielen Schadstoffen – ich nenne Kohlenmon-oxid, Schwefeldioxid, Benzol, Schwermetalle oder auchpersistente organische Verbindungen – ist stark reduziertworden. Trotz des erreichten hohen Schutzniveaus in Deutsch-land können Umweltfaktoren zur Entstehung oder Ver-stärkung von Erkrankungen beitragen. Die CDU/CSUwill deshalb die Grundlagen für den Umgang mit Risi-ken verbessern. Es geht uns um die Identifizierung undBekämpfung derjenigen Umwelteinflüsse, die zu ge-sundheitlicher Beeinträchtigung führen oder führen kön-nen. Wir wollen keinen Aktionismus, aber die Ursachenmüssen zielstrebig und wissenschaftlich erforscht, dieFaktoren müssen in ihren Wechselwirkungen klargestelltwerden.Besonders am Herzen liegt uns der Schutz von älterenMenschen und von Kindern. Kinder sind stärker gefähr-det als Erwachsene. Ihr Immunsystem ist schwächer.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-desregierung auf, folgende Maßnahmen umzusetzen:Zuerst sollte ein Risikokatalog erarbeitet werden. Essollte dabei vor allem um die Überprüfung und Anpas-sung von Grenzwerten, die Entwicklung einheitlicherBewertungslinien und die Erstellung eines Konzepts füreine ganzheitliche Betrachtung aller umweltbedingtenGesundheitsrisiken gehen. Zu ergreifen sind zweitens konkrete Maßnahmen, sozum Schutz vor Lärm. Wir denken unter anderem aneine Absenkung von Geräuschgrenzwerten für Fahrzeu-ge um drei bis fünf Dezibel, an die Fortführung derLärmsanierung an bestehenden Bundesfernstraßen, anein Lärmsanierungskonzept für vorhandene Schienen-wege und dessen schrittweise Umsetzung, an die Fertig-stellung der Fluglärmnovelle, an die Förderung techni-scher Maßnahmen an Fahrzeugen und Verkehrswegen.Drittens geht es um einen verbesserten Schutz vor Al-lergien. Der individuelle Rechtsschutz von Allergikernmuss ausgebaut werden. Wir schlagen eine Erweiterungder Produktkennzeichnung vor.
– Das habe ich doch eben schon begründet! Sie habenmir nicht zugehört, Frau Kollegin Höfken; es tut mirLeid. Aber Sie können meinen Vortrag ja anschließendnoch einmal nachlesen, wenn Sie es möchten.
Die Grenzwertermittlung von Schadstoffen muss beiKindern angepasst werden. Kombinationswirkungen,Wechselbeziehungen und Dauer der Schadstoffeinwir-kung sollten bei den Messungen stärker berücksichtigtwerden. Die Allergieforschung mit dem Ziel, Risikozu-sammenhänge offen zu legen, muss von der Bundesre-gierung weiter unterstützt werden. Der Informationsar-beit von Selbsthilfegruppen ist beizustehen. Viertens schlagen wir Maßnahmen zur Bestimmungund Risikoabschätzung bei chemischen Stoffen vor.Wir fordern dabei vor allem ein nationales Forschungs-programm zur Gewinnung von Erkenntnissen über dieAuswirkungen hormonartig wirkender Chemikalien aufdie menschliche Gesundheit und die Fortentwicklungvon Prüfmethoden zwecks Erfassung von schädigendenStoffen.Fünftens schlagen wir Maßnahmen zum Schutz vorbodennahem Ozon vor; das meint eine deutliche Min-derung der VOC-Emissionen von verschiedenen Pro-dukten.
– Nein, ich widerspreche mir überhaupt nicht, Herr Kol-lege Matschie.
Aber wir können das gern noch einmal diskutieren,
denn die Probleme ernst zu nehmen und sie zu instru-mentalisieren ist ein Unterschied. Wir nehmen die Pro-bleme ernst und wollen Maßnahmen ergreifen,
Sie aber instrumentalisieren die Probleme für Ihre Ideo-logie. Vera Lengsfeld
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8285
Meine Damen und Herren, es geht uns nicht um Alar-mismus und Hysterie und es geht uns um alles andereals um ein Zurück zur vermeintlich beschaulichen Natur.Natur ist keineswegs immer eine freundliche Umweltund sie ist der Gesundheit des Menschen auch nicht im-mer förderlich.
– Aber ja doch! –
Wenn Sie Opfer eines Hurrikans werden und dabei um-kommen, dann sind Sie durch die Natur umgekommen;also war das Ihrer Gesundheit nicht sehr förderlich.Muss ich Ihnen das jetzt wirklich erklären?
Ich warne auch vor leicht gemachten kausalen Ablei-tungen, vor einer ideologischen und oft verlogenen Ver-teufelung des technischen Fortschritts. Dieser Fort-schritt hat uns bei weitem mehr gebracht als gekostet.Wir wollen die Dinge ganzheitlich sehen, das heißt, siekomplex und ohne Vorurteile betrachten. Es geht unsdarum, negative Auswirkungen der gesellschaftlichenEntwicklungen zu korrigieren. Es geht um Gebote undVerbote, aber auch um das Aufklären und Abwägen vonInteressen. Wir wollen nichts verharmlosen, aber ebenauch keine unbegründeten Ängste schüren.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau KolleginLengsfeld, ich bin Rheinländerin
und bin mir daher nicht sicher, ob ich weite Teile IhresVortrages ernsthaft kommentieren oder sie als stärken-des Element für den noch etwas unterentwickeltenKarneval hier in Berlin betrachten soll.
Es ist sicherlich falsch, Panik zu machen. Aber Risi-ken herunterzuspielen, sie zu negieren,
dieses Aktionsprogramm als Hinterwäldlertum zu be-zeichnen, das ist wirklich nicht angemessen. Die Bürge-rinnen und Bürger haben ein Recht auf Schutz vor um-weltbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen. Es istunsere Aufgabe, die Aufgabe der Politik, hier Ziele zuentwickeln und vorsorgende Maßnahmen zu ergreifen,die diesem Schutzbedürfnis Rechnung tragen.Das Sondergutachten der Sachverständigen, aberauch der aktuelle Bericht des Büros für Technikfolgen-abschätzung sprechen eine klare Sprache und stellen ei-nen Wirkungszusammenhang – der in vielerlei Hinsichtals gesichert gelten darf – zwischen den von den Men-schen selbst verursachten Umweltbelastungen und chro-nischen Erkrankungen her. Die rot-grüne Koalitionmacht deutlich, dass die Schnittstelle der PolitikbereicheUmwelt und Gesundheit gefordert ist, dass hier komple-xe Fragen vorliegen, die eines ganzheitlichen und res-sortübergreifenden Ansatzes bedürfen – im Übrigen einThema, das die SPD in der Vergangenheit immer besetztund aufgegriffen hat.
Das heute zu diskutierende Sondergutachten desUmweltrates ist dabei ein ganz wichtiger Stein in demgroßen Mosaik Umwelt und Gesundheit. Es liefert einenentscheidenden Beitrag zur Abschätzung und Bewertungumweltbedingter Gesundheitsrisiken. Unter den zahl-reichen Ergebnissen des Sondergutachtens ist eines be-sonders eindeutig: 16 Jahre Kohl-Regierung haben imBereich Umwelt und Gesundheit zu wirklich großenVersäumnissen geführt.
Die Gutachter sehen bei der Bewältigung umwelt-bedingter Gesundheitsrisiken einen ganz erheblichenNachholbedarf. Nach ihrer Meinung wurde auch ver-säumt, eine Kommunikationsstruktur zwischen den be-teiligten Gruppen – Ärzten, Gutachtern, Politikerinnenund Politikern, Betroffenen – aufzubauen. Versäumtwurde auch, Gesundheitsrisiken auf breiter Front zuveröffentlichen, diese Ergebnisse den Menschen imwahrsten Sinne des Wortes nahe zu bringen.Die Gutachter treten dafür ein – ich zitiere –,sich aus pragmatischen Gründen notfalls mit einemgeringeren Maße an gesicherten wissenschaftlichenErkenntnissen zu begnügen, das heißt auf gut Deutsch: endlich zu handeln. So vielsteht fest: Die Aufarbeitung umweltbedingter Risiken,deren Abschätzung und Bewertung wurden bisher starkvernachlässigt. Das soll sich ändern. Das Aktionspro-gramm der beiden Ministerien hat eine eindeutige Ak-zentuierung. Der umweltbezogene Gesundheitsschutz,der Aspekt der Vorsorge als Gestaltungsprinzip rückenendlich in den Mittelpunkt.
Vera Lengsfeld
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8286 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Die Wählerinnen und Wähler haben sich mit ihremRegierungsauftrag an die rot-grüne Koalition eindeutigfür einen bedarfsgerechten und qualitativ überzeugendenGesundheitsschutz ausgesprochen. Wir nehmen diesenAuftrag ernst. Erstmalig in der Geschichte der deutschenPolitik werden mit diesem Aktionsprogramm Hand-lungsziele und Strategien für eine umfassende Auseinan-dersetzung mit den gesundheitlichen Folgen von Um-welteinwirkungen vorgelegt. Das Programm stellt einewichtige Orientierung dar, an der sich auch die Gesund-heitspolitik auszurichten hat. Herausgestellt werden vorallem nachhaltige Wirkungen politischer Maßnahmen.Diese haben wir mit dem Gesetz zur Reform der gesetz-lichen Krankenversicherung im Gesundheitswesen be-reits verankert. Ein Beispiel ist der von uns als wichtig bewertetePräventionsbereich. Maßnahmen der Gesundheitsför-derung verbessern den allgemeinen Gesundheitszustandnachhaltig. Sie bewirken einen Beitrag zur Verminde-rung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen.Dies ist ein Punkt, der uns besonders am Herzen lag. Der alte § 20 – man kann es nicht oft genug sagen –nahm bei der alten Bundesregierung nach einer nur sie-ben Jahre dauernden Existenz im SGB V am 13. Sep-tember 1996 ein trauriges Ende. Wir haben diesen Para-graphen wieder belebt.
– Ich kenne diese Argumente, aber Sie wissen, dass un-ser Ansatz richtig ist. Unsere Gesundheitsreform ermöglicht, dass dieKrankenkassen ihren Versicherten wieder Angebote zurGesundheitsförderung und Krankheitsverhütung unter-breiten dürfen und auch wieder Maßnahmen zur be-trieblichen Gesundheitsförderung durchführen kön-nen. In diesem Sinne schafft unsere Reform eine Ver-bindung zwischen gesundheitspolitischer Diskussionund Nachhaltigkeitsdebatte.
Ein anderer nachhaltig wirkender Punkt: Auch derEinzelne – das ist gerade in der Umweltdebatte wich-tig – soll in seiner Verantwortung, in seiner Initiativegestärkt und in der Mobilisierung seiner Ressourcen undSelbstheilungskräfte unterstützt werden. Unser Gesetzgreift auch diesen Gedanken auf. Selbsthilfegruppentragen zu einem günstigeren Krankheitsverlauf und zueinem bewussteren Umgang mit chronischen Krankhei-ten bei und wirken auf diesem Wege langfristig stabili-sierend. Selbsthilfe steht für Erfahrungsaustausch, ge-genseitige Unterstützung und bedeutet eigenverantwort-liches und gemeinschaftliches Handeln. Ich glaube, dasswir hier einen ganz wichtigen Schwerpunkt gesetzt ha-ben.Wir haben auch das Ziel, die Patientenrechte und denPatientenschutz zu stärken. Darum haben wir im Ge-sundheitsreformgesetz auch vorgesehen, dass die Infor-mationsmöglichkeiten für Patienten und Patientinnenverbessert werden. Dazu werden unter anderem Einrich-tungen zur Verbraucher- und Patientenberatung ge-zielt gefördert. Die Krankenkassen erhalten die Mög-lichkeit, Modellprojekte zur Beratung zu finanzieren.Der gut informierte Patient, der Angebote im Systemsinnvoller und selbstbewusster nutzt, wird auch mehrEigenverantwortung übernehmen.Wir stärken die Rehabilitation. Im Sinne der Nach-haltigkeit gilt der Grundsatz: Präventation vor Rehabili-tation, Rehabilitation vor Rente und Pflege. Die Rehabi-litation kann dazu beitragen, Selbstständigkeit und Le-bensqualität möglichst lange zu erhalten. Wir haben dieSeehofer’schen Begrenzungen wieder aufgehoben. Wirhaben die Mutter-Kind-Kuren gestärkt. Auch dies sindMaßnahmen, die unseren nachfolgenden Generationenzugute kommen.
Wir haben auch die Qualitätssicherung eingeführt.Das ist ein ganz wichtiges Element in der stationärenund ambulanten Versorgung. Wir haben die Gesund-heitsberichterstattung verbessert. Das sind alles Dinge,die die Nachhaltigkeit sichern.Der Antrag „Umwelt und Gesundheit“, der heutevorgelegt und demnächst in den Ausschüssen beratenwird, betont, dass wir eine ganz besondere Verantwor-tung für die Gesundheit unserer Kinder haben. Das istschon mehrmals erwähnt worden und sehr wichtig. Wirmüssen mehr Verantwortung für die Schwächsten unse-rer Gesellschaft übernehmen. Es ist zum Beispiel be-kannt, dass sich Grenzwerte und Messmethoden in derRegel am gesunden männlichen Durchschnittserwachse-nen orientieren. Bekannt ist aber auch, dass KinderUmwelteinflüssen erheblich intensiver ausgesetzt sind.Nach Angaben von Professor von Mühlendahl gibt eseine Verschiebung weg von den klassischen Infektions-krankheiten hin zu umweltbedingten Erkrankungen. DieAuswertung einer bundesweit durchgeführten Untersu-chung zeigte, dass bei einem Viertel aller Jugendlichenasthmatische und allergische Erkrankungen vorlagen.Deshalb ist es richtig, sich um diesen Bereich verstärktzu kümmern, hier zu forschen, die Daten besser auszu-werten, die gesundheitsgefährdenden Belastungen deut-lich zu machen und darüber aufzuklären. Das ist in derTat – ein oft benutzter Begriff, aber dennoch richtig –eine Investition in die Zukunft.
Wir unterstützen die im Aktionsprogramm vorgelegteForderung nach einer Verbesserung der Gesundheits-beobachtung und -berichterstattung. Wir unterstützendie Forderungen, eine Kommission einzurichten, dieVorschläge zur Neuordnung und zur Risikobewertungerarbeiten soll, und dass die Umweltmedizin durch Wei-terbildung und Qualifizierung gestärkt werden soll. Ichdenke, auch das ist ein Weg, ihr zu einer besseren Ak-zeptanz, Kompetenz und Anerkennung zu verhelfen. Helga Kühn-Mengel
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8287
Die hier genannten Beispiele zeigen deutlich denWillen der rot-grünen Koalition, sich im gesundheitspo-litischen Bereich an einer langfristigen Entwicklung zuorientieren. Das Gesetz zur Reform der gesetzlichenKrankenversicherung stellt die Patientinnen und Patien-ten wieder in den Mittelpunkt. Die Förderung der Ge-sundheit und die Verhütung von Krankheiten erreichenwieder einen höheren Stellenwert.
Das ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Stabilitätder Beitragssätze zu sehen, sondern auch ein wesentli-cher Beitrag zum Bündnis für Arbeit sowie eine wichti-ge soziale Säule.
Der konkrete Forderungskatalog des Antrages „Um-welt und Gesundheit“ verdeutlicht, dass die alte Stagna-tion überwunden ist und ressortübergreifend gedachtund aus der Verantwortung für unsere nachfolgendenGenerationen heraus entschlossen gehandelt wird.
Ich erteile der Kolle-
gin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Das Sondergutachten des Rates von Sach-verständigen für Umweltfragen liefert uns eine Fülle vonDetailinformationen zu den Wechselwirkungen vonUmweltschäden und gesundheitlichen Folgen. Ichmöchte mich an dieser Stelle bei den Gutachtern nocheinmal herzlich bedanken. Sie haben uns bereits imUmweltausschuss ausreichend Rede und Antwort ge-standen. Das Gutachten hat erneut bewiesen, dass die Qualitätder Umwelt und die menschliche Gesundheit in einemunmittelbaren Wirkungszusammenhang stehen. Warenes in der Vergangenheit eher akute Erkrankungen infol-ge der Umweltbelastungen – ich denke dabei besonders,Herr Paziorek, an unsere Heimat, das Ruhrgebiet –, sindes heute eher chronische Erkrankungen, die sich über ei-nen längeren Zeitraum entwickeln. Das macht es schwe-rer, kausale Zusammenhänge zu erkennen. Aber, FrauKühn-Mengel, der Rückgang akuter Erkrankungen darfuns weiß Gott nicht blind gegenüber dem machen, wasin der Vergangenheit passiert ist. Wir dürfen nicht ver-gessen, dass wir sehr bedeutende Erfolge gerade im Be-reich von Umwelt und Gesundheit – das wird von denGutachtern bestätigt – unter der alten Regierung erzielthaben.
Risikoabschätzungen müssen auf der Basis wissen-schaftlicher Praxis erfolgen, wobei der Sachverständi-genrat betont, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwi-schen der wissenschaftlichen Risikoabschätzung und dersubjektiven Wahrnehmung seitens der Betroffenen gibt.Wir brauchen auch nicht weit zu gehen, um dafür Bele-ge zu finden: In der letzten Sitzungswoche haben wirüber möglicherweise hormonell wirkende chemischeStoffe gesprochen. Zu diesem Bereich kommen dieSachverständigen zu einer interessanten Aussage: Hinsichtlich der menschlichen Gesundheit ergebensich aufgrund der vorliegenden Datenlage keineVerdachtsmomente von einer derartigen Plausibili-tät, dass ein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Die Belastung des Menschen durch Substanzen natürli-chen Ursprungs sei ungleich höher als die durch synthe-tisch hergestellte Stoffe. Zu den natürlich hergestelltenStoffen gehören zum Beispiel die Inhaltsstoffe der nor-malen, also nicht genveränderten Sojabohne, die auchim Muttermilchersatz enthalten ist und eine erheblicheBelastung für Kleinkinder darstellen kann. Natürlich brauchen wir vor allem mehr Forschung imsensiblen Bereich der hormonell wirkenden Stoffe. Aberdie Hysterie, die vor allem die Grünen hierbei an denTag legen, ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt.
Minister Trittin hat ein Verbot von TBT angekündigt,obwohl er genau weiß, dass sich die Textilhersteller inDeutschland bereits vor drei Jahren verpflichtet haben,TBT nicht in Textilien zu verwenden. Im Bereich derSchiffsanstriche ist eine IMO-Regelung in der Pipeline,das wissen wir alle. Ersatzstoffe stehen zur Verfügung.Wenn also jetzt der große Aktionismus bei Herrn Trittinausbricht, wird den Bürgerinnen und Bürgern umweltpo-litisches Handeln wieder einmal nur vorgespielt.
Sie haben uns eine Anhörung zu TBT angekündigt,die im März stattfinden wird. Ich frage mich allerdings,wozu diese Anhörung dienen soll, da ein TBT-Verbotbereits über die Presse angekündigt wurde. Bis heutehaben wir noch keine Liste der Sachverständigen, dieSie dazu einladen wollen. Mir sieht diese Aktion sehrstark nach einer reinen Alibiveranstaltung aus, mit derSie davon ablenken wollen, dass Sie in anderen Berei-chen nichts getan haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen einigePunkte nennen, die im Gutachten angesprochen werdenund von denen wir meinen, dass eine verantwortungs-bewusste Umwelt- und Gesundheitspolitik sich dieserThemen annehmen muss. Ich nenne das Beispiel UV-Strahlung: Wir wissen, dass die Häufigkeit von Mela-nomen in den letzten Jahren zugenommen hat, nämlichum 6 bis 7 Prozent jährlich, und der Höhepunkt scheintnoch nicht erreicht zu sein. Hier brauchen wir dringendeine Präventionsstrategie, um über die Gefährlichkeitvon Sonnenbänken aufzuklären. Sonnenbräune ist ebennicht ein Ausdruck von Gesundheit, wie es immer wie-der irrtümlich verbreitet wird.Helga Kühn-Mengel
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8288 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Wesentlich brisanter ist das gerade so aktuelle ThemaLärmschutz. Die Belastung durch Lärm ist in Deutsch-land trotz zahlreicher Baumaßnahmen in etwa gleichgeblieben. Circa 70 Prozent der Bevölkerung fühlen sichdurch Straßenverkehr belästigt. Beim Flugverkehr sindes circa 50 Prozent. Dieser Wert ist in den letzten Jahrensogar angestiegen. Eine Studie des UBA aus dem Jahre1994 stellt fest, dass sich damals 46 Prozent der Men-schen in den alten und 27 Prozent der Menschen in denneuen Ländern durch Fluglärm gestört fühlten. Hier fin-det offensichtlich eine Ost-West-Angleichung statt –und das im negativen Sinne.Diese Regierung hat eine Änderung des Fluglärmge-setzes angekündigt. Staatssekretär Scheffler hatte hieram 14. Oktober erklärt, die Novellierung befinde sichbereits in der Ressortabstimmung. Seither sind nachmeiner Rechnung schon wieder vier Monate vergangen.Je mehr der Lärm in Deutschland anstieg – 16 Pro-zent der Deutschen sind tagsüber einem mittleren Lärm-pegel von mehr als 65 Dezibel ausgesetzt –, umso leiserund umso stiller wurde es bisher im BMU.Jetzt hat der Minister – passend zur heutigen Debatteund natürlich passend zur Wahl am Sonntag – ein Eck-punktepapier zur Novellierung des Fluglärmgesetzesvorgelegt. Meine Damen und Herren, abgesehen davon,dass das Adjektiv „nachhaltig“ neuerdings inflationärbei Ihnen vorkommt, stimmen wir natürlich mit demZiel, die Geräuschbelastung dauerhaft zu senken, über-ein.65 Dezibel, das ist der Lärmpegel an einer stark be-fahrenen innerstädtischen Hauptstraße. Ab diesem Wertsteigt das Risiko des Herzinfarktes. Die Sachverständi-gen sagen uns, dass es einen Zusammenhang mit lärm-bedingtem Bluthochdruck und Magnesiumunterversor-gung gibt. Unser Ziel muss es also sein, die Lärmbelas-tung unter diesem Pegel zu halten.Wir begrüßen es, dass es jetzt zu einer Novellierungdes Fluglärmgesetzes kommen wird. Was uns aber dabeistört, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erneut die Artund Weise, wie Minister Trittin das Thema angeht. Siesprechen davon, dass es ein unheimlich steiniger Wegsei und dass viele Widerstände zu überwinden seien.Dabei gehen Sie in bewährter Manier vor und bauen sichdie Widerstände selbst auf. Auf meine Nachfrage bei der ArbeitsgemeinschaftDeutscher Verkehrsflughäfen sowie bei den FlughäfenMünchen und Düsseldorf – nicht gerade unwichtigeFlughäfen – erhielt ich die Auskunft, es habe vor derVorstellung der Eckpunkte keinerlei Gespräche mit denBMU gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe ja Ver-ständnis dafür, dass man zügig vorgehen will. Aber diesist erneut der Versuch, mit dem Kopf durch die Wand zugehen und, statt einen Konsens mit den Betroffenen zufinden, diese zunächst einmal gründlich zu verärgern.
Eine Absenkung der Werte für die Lärmschutzzonenist ein schwerer Eingriff. Das wissen wir alle. Insbeson-dere kleinere Luftfahrtunternehmen werden Problemehaben, kurzfristig umzusteigen, und es wird zu Aus-weichbewegungen kommen. Die Arbeitsgemeinschaftbefürchtet ernsthafte Probleme in der Bewältigung desFracht- und Ausweichverkehrs, zum Beispiel nach Brüs-sel, mit Weitertransport – man höre und staune – auf derStraße.Es kann ja wohl nicht das Ergebnis Ihrer Bemühun-gen zur Lärmbegrenzung sein, dass in Zukunft mehr Gü-ter auf der Straße transportiert werden. Das wäre die ökologische Bankrotterklärung Ihrer Initiative.
Auch das Europaproblem ist erneut nicht geklärtworden. Minister Trittin wagt wieder einmal den natio-nalen Alleingang, wie schon bei der Ökosteuer und beider Kernkraft. Auf europäischer Ebene gibt es wedereinheitliche Messgrößen für Lärm noch uns bekannte Initiativen für eine europäische Fluglärmrichtlinie. Wa-rum reden Sie nicht mit den Betroffenen?
Warum versuchen Sie nicht, eine europäische Lösung zufinden?Meine Damen und Herren, in anderen lärmintensivenBereichen sind Initiativen des BMU wenig zu erken-nen – im Bahnbereich nicht; im Straßenverkehrsbereichhaben Sie ebenfalls nur Ankündigungen produziert, essei denn, Sie sehen in der Erhöhung der Benzinpreiseeinen Beitrag zur Senkung des Verkehrslärms, weil sichweniger Menschen eine Autofahrt leisten können. DerStraßenverkehrslärm wird von den Bürgern aber mitAbstand als der störendste empfunden. Als Anlieger ei-nes Plus-Marktes denke ich da nur an die Kühlwagenmit den laufenden Motoren und Kühlanlagen. Das istschon etwas, was wir uns gemeinsam vornehmen müss-ten.
Meine Damen und Herren, es hat auch heute einenwunderschönen Artikel in der „Berliner Zeitung“ gege-ben, wie man mit wenig Geld – und wir alle wissen ja,dass wir wenig Geld haben – der Deutschen Bahn et-was auf die Sprünge helfen könnte, etwas leiser zu wer-den. Man schlägt einfach vor, den Lärm dadurch um 3 Dezibel zu verringern, dass man regelmäßig dieSchienen schleift. Das wäre auch einmal ein Ansatz. Al-lein der Austausch von Metallklötzen gegen Kunststoff-klötze könnte eine Lärmverringerung um 10 Dezibelbewirken – auch ein Ansatz. Das sind doch die Proble-me, deren Lösung wir in Angriff nehmen müssen. Wirsollten nicht die Leute verärgern, die wir eigentlichbrauchen.
Ich möchte mich in diesem Augenblick nicht zufeindlich äußern. Lassen Sie mich auch eine freundlicheUlrike Flach
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8289
Bemerkung zum Abschluss machen, und zwar zu IhrerBroschüre.
Wir Liberalen finden die Broschüre gut.
Damit finden wir endlich einmal konkrete Maßnahmen,zum Beispiel zur Verbesserung des umwelt- und ge-sundheitsbezogenen Informationsmanagements, zur Ri-sikobewertung bei Gefahrstoffen, zur zentralen Erfas-sungs- und Bewertungsstelle und zum Qualitätsmana-gement. Das ist in Ordnung, damit können wir leben.Vor allem werden in einzelnen Sektoren auch einmalQualitätsziele genannt, die erreicht werden sollen, ohnedass der Weg dorthin zwingend vorgeschrieben wird.Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, ob diese An-kündigungen auch umgesetzt werden. Meine Damen und Herren, zusammen mit dem Sach-verständigengutachten liefert diese Broschüre die Basisfür eine überlegte, auf rationalen Kriterien beruhendeUmweltpolitik. Halten Sie sich bitte daran! Es würdemanches erleichtern.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich denke, Zusammenhänge zwischenUmweltschädigungen, Umweltbelastungen und auchschwerwiegenden Folgen für die Gesundheit leugnethier in dem Raum niemand mehr. Trotzdem gehört es zuden Schwächen des Gesundheitssystems, dass die sozi-alökologische und gesellschaftliche Bedingtheit von Ge-sundheit und Krankheit weitgehend ausgeblendet wird.Damit verbindet sich eine Unterschätzung des vorbeu-genden Gesundheitsschutzes. Im Ergebnis dessen wer-den unter Prävention oft nur die medizinischen Vorsor-gemaßnahmen der Früherkennung sowie eine Zurück-drängung individuellen Fehlverhaltens verstanden.Krankheiten sind aber vielfach Folge von Belastungen,die aus Lebens-, Arbeits- und Umweltverhältnissen re-sultieren. Der Einzelne kann sie nicht oder kaum beein-flussen. Ziel einer präventiven Gesundheitspolitik muss essein, bereits in den Entstehungsbereichen von Krankheitvorbeugend einzugreifen. Schon die Steuerung der me-dizinischen Versorgungsleistungen darf nicht primärdem Markt überlassen werden. Dies gilt auch für denGesundheitsschutz. Dieser muss Aufgabe des Staatessein. Er hat die Voraussetzungen und gesetzlichen Rah-menbedingungen für eine gesundheitsfördernde Ge-samtpolitik zu gestalten.
Es geht darum, das gesellschaftliche und wirtschaftli-che Handeln in allen relevanten Bereichen, in Arbeits-welt und Konsum, in Energieerzeugung und Verkehrebenso wie in Ländern und Kommunen auch an den Kri-terien der Gesunderhaltung und Gesundheitsförderungauszurichten. Dabei muss es sowohl um sozial gerechteVerhältnisse gehen als auch um ökologisch verantwort-bare Beziehungen zwischen Mensch und Natur und dieZurückdrängung umweltbedingter Gesundheitsrisiken. Wir begrüßen, dass die beiden zuständigen Bundes-ministerien ein gemeinsames Aktionsprogramm „Um-welt und Gesundheit“ verabschiedet haben. Mit diesemAktionsprogramm verbindet sich die Hoffnung, dass dieAuseinandersetzung um einen wirksamen, umweltbezo-genen Gesundheitsschutz auch bundesweit endlich einenneuen Schub erhält.Wir hoffen vor allem, dass die Bundesregierung Ge-sundheits- und Umweltpolitik nunmehr als integrierteStrategie betreibt, die Nachhaltigkeit ebenso wie die Ge-sundheit der Bevölkerung im Blick hat; denn genau hiersehen wir noch beträchtlichen Nachholbedarf. So ist dieZusammenarbeit der im Schnittfeld von Gesundheit undUmwelt tätigen Behörden und Fachorganisationen zuverbessern. Die umweltbezogene Gesundheitsbericht-erstattung ist zu erweitern. Die Bevölkerung, die sich inInitiativen auf lokaler und kommunaler Ebene oder inNichtregierungsorganisationen für gesündere Lebens-verhältnisse einsetzt, ist wesentlich ernster einzubezie-hen. Besonders dringlich sind die Förderung einschlägi-ger gesundheitswissenschaftlicher Forschungen sowieder Ausbau der Grundlagendisziplinen wissenschaftlichfundierter Prävention wie Umweltmedizin, Umwelthy-giene oder Sozialepidemiologie. Dies beachtend leistet das Sondergutachten des Ra-tes von Sachverständigen für Umweltfragen einenwichtigen Beitrag zur Bewertung umweltbedingter Ge-sundheitsrisiken, einschließlich der dafür erforderlichenwissenschaftlich-methodischen Grundlagen. Dabei sindzwei Aussagen für das Herangehen an Gesundheitsrisi-ken und ihre Bewältigung von besonderer Bedeutung:Erstens halten wir die erneute Hervorhebung des Um-weltrates für wichtig, dass für jede Risikobewertung ei-ne umfassende wissenschaftliche Begründung unab-dingbar bleibt. Zweitens ist der Standpunkt besonders zu unterstrei-chen, dass es im Zweifelsfall stets notwendig ist, auchein geringeres Maß an gesicherter Erkenntnis und einenoch vorläufige Risikoabschätzung bereits zur Grundla-ge aktiv eingreifender Vorsorgemaßnahmen zu machen.
Folgende Aussage der Europäischen Charta „Umweltund Gesundheit“ aus dem Jahre 1989 – Frau Lengsfeld,dieses Datum ist besonders für Sie interessant; denn Siehätten aktiv werden können –
hat unseres Erachtens nichts von ihrer Aktualität verlo-ren. Die Gesundheit des Einzelnen und die von Bevöl-kerungsgruppen muss eindeutig Vorrang vor wirt-schaftlichen Überlegungen haben.Ulrike Flach
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8290 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Jutta Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über dasSondergutachten des Rates von Sachverständigen fürUmweltfragen. Frau Lengsfeld, bevor Sie hier so eineRede halten, hätten Sie wenigstens einmal in die Kurz-fassung des Sondergutachtens hineinschauen können. Sodick ist die vorliegende Kurzfassung auch nicht, wie Siesehen.
– Dann haben Sie es nicht verstanden – wenn Sie hin-eingeguckt haben.
Der Sachverständigenrat hat sich übrigens schon1987 und 1994 mit dem Thema befasst. Ich bin der neu-en Bundesregierung außerordentlich dankbar, dass sieim Gegensatz zur Regierung Kohl die Lösung des Pro-blems nicht aussitzt, sondern dass sie in einem Aktions-programm die Themen Umwelt und Gesundheit endlicheinmal zusammenfasst; denn das Problem in der Ver-gangenheit war nicht, dass Sie gar nichts gemacht ha-ben; vielmehr war das Problem, dass die beiden Berei-che getrennt waren und dass Sie Datenfriedhöfe angelegthaben – genau das wollten wir nicht –, und zwar ohnedie Daten zusammenzufassen und daraus dann Schlüssezu ziehen. Den Vorschlägen der Gutachter folgend wird dieBundesregierung verschiedene Bereiche zusammenfas-sen, um eine Verbesserung der umweltbezogenen Ge-sundheitsbeobachtung und des Informationsmana-gements zu erreichen. Schließlich besitzen wir entspre-chende Datenbestände und müssen sie, wie gesagt, nurnoch zusammenfassen. Es soll dauerhaft ein differen-ziertes Beobachtungs- und Berichterstattersystem fürUmwelt und Gesundheit etabliert werden. Es muss da-rauf hingewirkt werden, dass die wissenschaftlichenBundesoberbehörden bei den mit Umwelt und Gesund-heit zusammenhängenden Fragen eng zusammenarbei-ten und ein aktives Informationsmanagement ent-wickeln.Der Sachverständigenrat hat insbesondere bei denGesundheitsbeeinträchtigungen aufgrund von UV-Strahlen, Allergien und Lärm einen erheblichen Bera-tungsbedarf festgestellt. Am Beispiel von Allergienkann man deutlich erkennen, dass vor allem Umweltfak-toren zu einer Besorgnis erregenden Verbreitung allergi-scher Erkrankungen in der Bevölkerung geführt haben.Wir stimmen deshalb den Sachverständigen zu, die eineverstärkte Information, Beratung und insbesondere einePflicht zur Kennzeichnung von allergieauslösendenStoffen fordern.Es gibt im Übrigen auch den ganz interessanten prak-tischen Vorschlag des Rates, dass man beispielsweiseüberlegen sollte, neben einem Wärmeschutzpass fürWohnungen auch einen Allergikerschutzpass vorzuse-hen, der die Eignung von Wohn- und Arbeitsräumen fürAllergiker sicherstellt. Konsequentes Energiesparen undhygienisch einwandfreie Innenraumluft müssen sichnicht ausschließen.Zum Thema Lärm empfehlen die Sachverständigenein ganzes Bündel von Lärmminderungsmaßnahmen.Die Belastungen des Menschen durch Lärm, insbesonde-re durch Flugzeuge, Schienenkraftfahrzeuge und Indus-triegewerbe, aber auch durch die Freizeitgestaltung, sindnicht zu unterschätzen. Dort ist eindeutig gesagt worden:Eine hohe Dauerbelastung durch Lärm wirkt als ernst zunehmender Stressfaktor und erhöht das Risiko von Herz-und Kreislauferkrankungen. Das sollte man mit Beispie-len wie „Straßencafé in Paris“ nicht ins Lächerliche zie-hen.
Unser Ziel ist zum einen die nachhaltige Minderungdes Lärms durch technisch, planerisch und rechtlich auf-einander abgestimmte Maßnahmen. Zum anderen beab-sichtigen wir Maßnahmen gegen gesundheitsschädlichenFreizeitlärm. Wir brauchen auch auf diesem Gebiet eineverstärkte Aufklärung, besonders bei Jugendlichen, diein dieser Frage zu den gefährdeten Gruppen gehören.Ähnliches gilt auch für die gesundheitlichen Risiken,die durch die erhöhte UV-Strahlung beim Menschenausgelöst werden. Frau Flach, es ist natürlich klar, dasswir noch mehr Aufklärungskampagnen durchführenmüssen, obwohl – das ist ein Phänomen – alle Dermato-logen jedes Jahr vor dem Urlaub davor warnen, sichstundenlang der prallen Sonne auszusetzen. Wenn manan die Strände kommt, dann sieht man, dass diese War-nung nicht unbedingt ernst genommen wird. Wir als Gesetzgeber müssen darauf achten, dass sichdie Menschen ein bisschen vernünftiger benehmen. Daskann nur über Information passieren. Wir sind verpflich-tet, auch dafür zu sorgen, dass Vorläufersubstanzen, diedie Ozonschicht schädigen, also zu einer Vergrößerungdes Ozonlochs beitragen, vom Markt verschwinden. Da-gegen müssen wir selber etwas tun.
Ich halte es für notwendig, dass das Aktionspro-gramm auch dazu genutzt wird, eine breite öffentlicheDebatte mit der Bevölkerung zu führen. Ich persönlichhalte es für falsch, wenn eine Diskussion „Umwelt undGesundheit“ ausschließlich auf Chemikalien beschränktwürde. Wir haben es sowohl mit natürlichen Faktorenals auch mit persönlichem Verhalten zu tun. Das Sachverständigengutachten beschäftigt sich sehrausführlich mit dem Thema Risikokommunikation. Ei-Dr. Ruth Fuchs
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8291
ne ganze Reihe von umweltbedingten Erkrankungenkönnte durch eigenes Verhalten vermieden werden. Wirmüssen aber feststellen, dass man in dem einen Zusam-menhang ein Risiko akzeptiert oder sogar bewusst her-beiführt, während man in dem anderen Kontext eingleich großes oder sogar kleineres Risiko ablehnt.Wir finden in dem Gutachten auch interessante Erhe-bungen über die unterschiedliche Einschätzung von Ge-fährdung infolge von Umweltbelastungen bei Bevölke-rung und Wissenschaft bzw. Technikern. Ich will einkurzes Beispiel nennen: Man hat in der Bevölkerung ei-ne statistische Erhebung durchgeführt und gefragt, wasman als gesundheitliche Bedrohung empfinde. 81 Pro-zent der Bevölkerung haben Giftmüll als gesundheitli-che Bedrohung bezeichnet. Experten und Wissenschaft-ler schätzen Giftmüll nur zu 26 Prozent so ein. Fragtman aber nach Spirituosen, dann kehrt sich das Verhält-nis um: Während die Bevölkerung ihren Konsum nichtganz so schlimm findet, halten die Experten ihn für vielschlimmer. Dass wir auf Verhaltensänderung hinwirkenmüssen, ist klar. Das können wir nur tun, indem wir die-ses Programm zu einer entsprechenden Diskussion nut-zen.In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit möchte ichgerne noch ein paar Sätze zum Entschließungsantrag derCDU/CSU sagen. Ich freue mich, dass wir in der Ein-schätzung der Wichtigkeit des Themas derart eng bei-einander liegen. Wenn man den Antrag liest, dann hatman nicht das Gefühl, dass Sie 16 Jahre an der Regie-rung waren.
Sie fordern beispielsweise eine Lärmsanierung anbestehenden Schienenwegen. Ich gehöre diesem Hausjetzt seit 1990 an. Von 1990 bis 1998 hat meine Fraktionjedes Jahr beantragt, entsprechende Mittel in den Haus-halt einzustellen. Jedes Jahr haben Sie das abgelehnt.Erst seit dem Regierungswechsel, seit Rot-Grün an derRegierung ist, wurden 100 Millionen DM für die Lärm-sanierung an Schienenwegen eingestellt.
Das ist nicht sonderlich viel; auch ich hätte mir einenhöheren Betrag gewünscht. Aber Sie wissen, wie eng dieFinanzen sind. Dass dies so ist, haben nicht wir zu ver-antworten, sondern Sie.
Mit unserem Koalitionsantrag „Umwelt und Gesund-heit“ wollen wir die Prävention in den Mittelpunkt stel-len. Wir haben uns hier ein sehr anspruchsvolles Pro-gramm gesetzt. Wir wollen natürlich auch – das ist hierschon oft gesagt worden – stärker auf Schutzbedürfnissevon Kindern eingehen. Wir dürfen aber nicht nur Kinderim Auge haben, wenn wir Grenzwerte diskutieren, son-dern müssen auch alte, kranke und vorbelastete Men-schen im Auge haben.Ich denke, wir haben sowohl mit dem Programm alsauch mit unserem Antrag ein anspruchsvolles Arbeits-programm vorgelegt, das der Verbesserung des Umwelt-und Gesundheitsschutzes dient und das wir im Interesseder Menschen zügig umsetzen wollen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir haben ein Aktionsprogramm vorgelegt be-kommen. Sie werden sich wundern, wenn ich dieses Ak-tionsprogramm nicht in der Härte kritisiere, wie Sie essonst bei verschiedenen Vorträgen von mir gewohntsind. Ich will Ihnen auch den Grund dafür nennen: DieDebattenredner, insbesondere aus der SPD, haben im-mer wieder ausgeführt, die alte Regierung habe 16 Jahrelang nichts gemacht bzw. sie habe das Problem ausge-sessen.
Wenn man sich aber intensiv mit der Thematik befasst,stellt man fest, dass die frühere Umweltministerin Dr.Angela Merkel ein Schwerpunktprogramm erarbeitetund vor zwei Jahren vorgelegt hat. Das haben Sie ent-weder nicht gelesen oder mit Erfolg verdrängt. Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag habe icheine Synopse erstellen lassen zu der Frage, was zu Um-welt und Gesundheit in dem vom Ministerium vor zweiJahren erarbeiteten Schwerpunktprogramm und was indem steht, was Sie heute vorgelegt haben.
– Das war überhaupt nicht geheim, sondern ist auch Ih-nen zugegangen. Sie hätten es nur lesen müssen. Das istder Punkt.
Jetzt stelle ich fest, dass dieses vor zwei Jahren vomMinisterium vorgestellte Programm nahezu identischmit dem Programm ist, das Sie jetzt vorstellen. Da gibtes überhaupt nichts Neues. Ich will Ihnen einmal an ei-nem Beispiel klarmachen, welche revolutionären Verän-derungen sich in dem Programm finden, das Sie jetztvorgelegt haben. Im Trittin/Fischer-Papier steht: Sen-kung der Immissionsgrenzwerte kanzerogener Stoffe derTA Luft um 75 Prozent. Im Merkel-Papier steht: Sen-kung der Grenzwerte von kanzerogenen Stoffen bei derTA Luft auf ein Viertel. Ist das nicht ein gewaltiger Un-terschied? Das ist geradezu revolutionär, was Sie hierzustande gebracht haben!
Dazu, um dieses umzuformulieren – das ist das Erstaun-liche – , haben Sie zwei Jahre gebraucht.Jutta Müller
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8292 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Verstehen Sie jetzt, warum Sie nicht weiterkommen?Schon seit zwei Jahren liegen Aktionsbündel vor; schonseit zwei Jahren liegen Schutzziel-Entwürfe vor. Wasmachen Sie daraus? – Ein neues Programm, indem Siedas alte umformulieren.
Es heißt nicht mehr: „Absenkung auf ein Viertel“, son-dern: „Absenkung um 75 Prozent“. Grandios, dieseLeistung!
Kollege Lippold,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
ImMoment nicht. – Es ist wirklich erstaunlich. Ich könntedie Positionen jetzt Punkt für Punkt weiter durchgehen.Wir stellen – um Ihnen das ganz deutlich zu sagen, waswir bei Ihnen insbesondere im Umweltbereich immerwieder erleben – fest: Außer Ökosteuer und Diskussio-nen um den Ausstieg aus der Kernkraft leisten und tunSie nichts. Gelegentlich sprechen Sie davon, dass Sie ir-gendwann etwas vorlegen werden. Dann schreiben Siebei uns etwas ab, damit Ihre Bilanz nicht ganz so mäßigaussieht. Die Umsetzung konkreter Dinge fehlt. Seit Ih-rem Regierungsantritt ist nichts Konkretes passiert.
Das ist der Schluss, den man aus den Fakten ziehenmuss. Das halte ich Ihnen mit der gebotenen Deutlich-keit vor.Damit Ihre Bemühungen nicht ganz so blass aus-sehen – das hat die Kollegin Flach ja zu Recht ange-sprochen – , wird rechtzeitig einen Tag vor der Debatteim Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier vorge-stellt, das das Umweltministerium auf Verlangen nochnicht einmal herausgibt. Ich weiß nicht, warum. Viel-leicht haben Sie Angst, dass man es kritisch überschaut.Jedenfalls bekommt man es auf Nachfrage einfach nicht.Für eine Pressekonferenz reicht es aber. Dabei wirddann wieder der Anschein erweckt, als würde man sichintensiv mit den Problemen auseinander setzen.Im Herbst letzten Jahres hat meine Fraktion den An-trag eingebracht, dass die Fluglärmnovelle jetzt endlichvon Ihnen auf den Weg gebracht wird. Es gab keinekonkrete Reaktion darauf; es wurde nicht gehandelt.Jetzt legen Sie ein schwammiges Eckpunkteprogrammvor. Bei Nachfragen von Journalisten nach Details stell-te sich heraus, dass der Minister keine Antworten gebenkann, weil das alles noch nicht durchgeprüft sei. Wassoll das denn? Sie müssen in diesem Bereich handelnund dürfen nicht immer nur neue Sprechblasen produ-zieren. Aber es passiert nichts.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der auch mitdem Thema Umwelt und Gesundheit zusammenhängt.Als die Grünen in Hessen noch in der Regierung waren,haben sie sicherheitserhöhende Maßnahmen im Kraft-werk Biblis verhindert. Jetzt, da sie nach dem Wechselder Regierung für Biblis nicht mehr direkt das Sagenhaben und sicherheitserhöhende Maßnahmen von derneuen Landesregierung durchgesetzt werden, blockt dasBundesumweltministerium diese Maßnahmen ab. Läuftdas auch unter dem Aspekt Gesundheitsschutz? Wersich ernsthaft mit diesen Problemen auseinander setzt,kann doch sicherheitserhöhende Maßnahmen nicht ver-hindern wollen. Genau das aber tut diese Bundesregie-rung. Auch das gehört in diesen Kontext und das mussman Ihnen ganz einfach einmal sagen.
– Nein, das, was Sie hier machen, ist nicht gut. Sie redennur und handeln nicht.
Das kann man Ihnen so nicht durchgehen lassen.
Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dassSie, Frau Fischer, mit der Gesundheitsreform und derDiskussion darüber im letzten Jahr wirklich keinen Bei-trag dazu geleistet haben, dass die Menschen in dieserRepublik sich von Ihnen angenommen gefühlt habenkonnten und mit ihren Problemen von Ihnen ernst ge-nommen werden. Nein, die hektische Vorlage eines un-zureichenden Papiers, das viel mehr Bürokratie, für dieMenschen aber viel weniger Leistung in diesem wichti-gen Bereich versprach,
war ein Trauerspiel. Sie kamen hier mit einer unvoll-ständigen Vorlage an, haben dann behauptet, wir hättenalles beschlossen, und mussten hinterher eingestehen,dass 20 Seiten gefehlt haben. Die Menschen können sichdoch gar nicht ernst genommen fühlen, wenn eine soschlamperte Arbeit geleistet wird.
Das gehört auch in diesen Zusammenhang, wenn manüber Umwelt und Gesundheit diskutiert, und das kannich Ihnen nicht ersparen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wirdas Thema Umwelt und Gesundheit erörtern, sollten wiruns einen Moment Zeit dafür nehmen, es nicht nur fürunser Land, sondern auch global zu betrachten. Es istsehr verdienstvoll, dass sich die Agenda 21 intensiv mitdieser Problematik auseinander setzt und deutlich macht,dass menschliche Gesundheit von einer gesunden Um-Dr. Klaus W. Lippold
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welt, von sauberem Wasser und einer ausreichendenMenge an gesunden Nahrungsmitteln abhängt. „Wirmüssen die menschliche Gesundheit“, so heißt es dort,„und die Gesundheit der Umwelt gleichermaßen pfle-gen.“Wir haben damals diese Agenda mit getragen und mitdafür gesorgt, dass sie weltweit publik und zum Gegen-stand von Programmen und Aktivitäten wird. Wir setzenuns heute dafür ein, dass dieser Zusammenhang auch inder bundesdeutschen Politik beachtet wird. Das heißt,wir müssen globales Denken in unser lokales und bun-desrepublikanisches Handeln Eingang finden lassen,wenn es um den Aspekt von Umwelt und Gesundheitgeht.Dabei muss man sehen, dass die Probleme global vielgravierender als bei uns sind. Anderswo sind Menschendurch Umweltschäden in wesentlich existenziellererForm bedroht, als es bei uns der Fall ist. Sieht man dieChrombelastung im Wasser, weil in Gerbereien dasAbwasser nicht gereinigt wird und der Einsatz von be-stimmten Stoffen nicht vermieden wird, wie es bei unsder Fall ist, sieht man, welche Krankheiten die Men-schen davontragen, weil das Wasser verunreinigt wirdoder weil Schlämme auf die Felder aufgetragen werden,
dann wird die Verpflichtung deutlich, dass wir hier nichtnur an uns denken dürfen, sondern dass wir auch in glo-balem Zusammenhang Visionen entwickeln müssen, wiemit diesen Problemen umzugehen ist.Deshalb stehen wir auch zu unseren internationalenVerpflichtungen; das sage ich hier ganz deutlich. Dabeidenken wir daran, dass wir nicht nur national, sondernauch global Luftschadstoffe eliminieren müssen. Hoch-sensible Gebiete in der Arktis, hochsensible Biotopsys-teme im nördlichen Kanada werden heute durch Luft-schadstoffe beeinträchtigt, die an völlig anderen Stellender Erde produziert und emittiert werden. Dies zeigt,dass sich lokales Handeln allein zum Schutze der Um-welt nicht auszahlt, sondern dass wir global denkenmüssen. Wir müssen also andere Visionen haben unddürfen uns nicht nur in eingeschränkter Weise mit unse-ren eigenen Problemen beschäftigen.
Wenn wir vom Bereich der ultravioletten Strahlensprechen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dasswir den Schutz der Ozonschicht in der Stratosphäre nachwie vor ungeheuer ernst nehmen müssen. Der Rat vonSachverständigen für Umweltfragen führt zutreffendaus, dass dieses Problem zwar jetzt noch nicht unserKernproblem ist, dass aber schon die Länder der südli-chen Hemisphäre davon viel stärker betroffen sind. Wirwissen, dass diese – aufgrund des Ozonlochs – erhöhteUV-B-Strahlung in einem verstärkten, um nicht zu sa-gen: in einem dramatischen Umfang Krebs auslöst undAugenkrankheiten hervorruft. Damit wir hier zu wirk-samen Problemlösungen kommen, müssen wir dafürsorgen, dass der Technologietransfer in die Länder derDritten Welt wesentlich schneller stattfindet, als das bis-lang der Fall war.Dass wir in der Bundesrepublik beispielhaft gehan-delt haben, indem wir im Vergleich zur internationalenGemeinschaft blitzartig aus der FCKW-Produktion aus-gestiegen sind, war ein notwendiger Beitrag. Aber wenndie anderen Länder FCKW weiterproduzieren, weil wirden Technologietransfer nicht vorantreiben, dann wer-den wir das Problem nicht lösen. Ich appelliere deshalbdafür, dass wir dieses Problem nach wie vor im Augebehalten. Wir müssen weltweit darauf achten, dass be-sonders vulnerable und anfällige Gruppen wie Säuglingeund Kinder besser geschützt werden, als das derzeit derFall ist.Wo stehen wir in der Bundesrepublik Deutschland?Ich glaube, dass 16 Jahre Umweltschutzpolitik in erheb-lichem Maße Früchte getragen haben. In den vergange-nen Jahren ist die Belastung der Bevölkerung hinsicht-lich der Schadstoffkonzentrationen erheblich verrin-gert worden. Wir haben die Konzentrationen von Koh-lenmonoxid, Schwefeldioxid und Benzol, dieKonzentrationen von Schwermetallen wie Blei sowievon Giften wie Arsen und Quecksilber um über70 Prozent deutlich gesenkt. Das ist angesichts dessen,was wir heute unter dem Aspekt Umwelt und Gesund-heit diskutieren, ein ganz wesentlicher Fortschritt.
Wir haben zum Schutz der Bevölkerung auch im Be-reich der ionisierenden und nicht ionisierenden Strah-lung fortschrittliche Rechtsvorschriften geschaffen. Diegeltenden Grenzwerte sind ausreichend. Dass wir sienoch verbessern können, darüber müssen wir miteinan-der diskutieren.Ich habe die umweltpolitischen Maßnahmen nur kurzskizziert. Ich bin nicht ausführlich auf die Maßnahmenzum Gewässerschutz, zum Grundwasserschutz und zumBodenschutz eingegangen, die ein ganz wesentlicherPunkt in diesem Bereich sind. International sind wir dieErsten, die ein Bodenschutzgesetz geschaffen haben unddie damit die entsprechenden Maßnahmen eingeleitethaben. Diese Maßnahmen haben zwar zu einem hohenSchutzniveau für die menschliche Gesundheit geführt –die Belastung für die Menschen konnte erheblich redu-ziert werden – , aber trotz dieses erreichten hohenSchutzniveaus können Umweltfaktoren für sich alleinoder in Kombination mit anderen Faktoren zur Entste-hung oder Verstärkung von Erkrankungen beitragen.Der Zusammenhang, um den es hier geht, ist wissen-schaftlich vielfach noch nicht hinreichend erforscht.Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen uns fragen, wiewir Umwelteinflüsse identifizieren können, wie wir eineBeziehung zwischen Umwelteinflüssen und gesundheit-licher Beeinträchtigung herstellen können und wie wiraus der Kenntnis von Kombinationswirkungen lernenkönnen. Wir haben in diesem Bereich nach wie vor ei-nen ganz erheblichen Nachholbedarf, obgleich wir inDeutschland auf diesem Gebiet wesentlich mehr geleis-tet haben als die anderen europäischen Länder.
Dr. Klaus W. Lippold
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Trotzdem stehe ich zu der Verpflichtung, dass wir hierweiterarbeiten müssen, weil der Schutz der Bevölkerungein solches Vorgehen erfordert.Wann sind Umwelteinflüsse ein Gesundheitsrisiko?Ich glaube, gerade diese Frage umfasst eines der heikels-ten Probleme der genannten Themenkreise. Hier beginntund endet manchmal jede Diskussion. Manche Sachver-halte stellen subjektiv ein hohes Risiko dar, obwohl sienaturwissenschaftlich gesehen ein eher niedriges Risikodarstellen – und umgekehrt.Laien und Experten schätzen Risiken unterschiedlichein; denn ihren Einschätzungen liegen unterschiedlicheRationalitäten zugrunde. Laien haben ein intuitives Risi-koverständnis. Deshalb müssen wir heute in Sachen Ri-siko zu mehr Transparenz kommen. Wir müssen Krite-rien entwickeln, wie wir die Sachverhalte rationaler be-werten können und wie wir sie der Bevölkerung rationa-ler vermitteln können. Wenn wir den Menschen ihre beiihnen unbegründet produzierten Ängste nehmen – dieseÄngste können entstehen, weil Risikofaktoren in ihrerWirkung verzerrt dargestellt werden – , dann tragen wirdamit dazu bei, die Menschen vor gesundheitlichen Ge-fahren zu bewahren; denn auch Angst kann ein Faktorsein, um Krankheiten oder psychische Beinträchtigunenauszulösen. Diese Beeinflussung wollen wir vermeiden.Wir wollen den Menschen die Ängste nehmen und sienicht zusätzlich schüren.In der Vergangenheit haben Sie in dieser Frage mitverschiedensten Stoffkampagnen genau zum Gegenteilbeigetragen. Sie haben Risiken unendlich hoch ge-puscht – das Wort „Pseudokrupp“ ist heute Morgenschon gefallen – , Ängste instrumentalisiert, um be-stimmte Dinge zu verhindern. Solange Sie nicht gegenKernkraftwerke waren, haben Sie im Umfeld von Koh-lekraftwerken die Pseudokrupp-Debatte geschürt, beiMenschen Ängste geschaffen.
Als Sie auf die Kernkraftdiskussion umgestiegen sind,habe ich keinen mehr aus Ihren Reihen erlebt, der aufdiese Gefahr hingewiesen hat. Instrumentalisiert habenSie die Ängste, und das ist falsch, weil Sie den Men-schen damit noch mehr Angst gemacht haben und siedamit stärkeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ha-ben, als in der Sache selbst gegeben waren. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das muss an-ders werden. Ich meine, dass wir stärker zusammenar-beiten müssen, um zu Regelungen zu kommen, mit de-nen wir diese Problematik zukünftig gemeinsam besserlösen. Auch darin liegt eine Chance für die Bevölke-rung, eine Chance für die Menschen in der Bundesrepu-blik Deutschland. Herzlichen Dank.
Nun erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Gila Altmann das
Wort.
Gi
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier istso viel von Ängsten die Rede. Ich muss sagen, ich habeam meisten Angst vor dem Halbwissen der Opposition,so wie es sich heute Morgen dargestellt hat.
Die Politik macht sich ja so gerne für die Jugendstark. In allen Politikfeldern reden wir heute von der Ju-gend: bei den Arbeitsplätzen, beim Thema Bildung, so-gar bei der Rente. Aber was tun wir eigentlich dafür,dass die Kinder und Jugendlichen gesund bleiben? Hiersetzt das Projekt „Umwelt und Gesundheit“ an. Zur Zeitrechnung von Herrn Lippold muss ich sagen:Wir haben das Aktionsprogramm „Umwelt und Ge-sundheit“ letzten Sommer vorgestellt. Wenn Sie ein hal-bes Jahr brauchen, um es zu lesen, dann wundert michgar nichts mehr. Die zunehmende Umweltbelastung trifft vor allemKinder und ihre Gesundheit. Kinder sind die Leidtra-genden unseres ungebremsten Fortschrittsglaubens. Siesind weltweit besonders betroffen bei Umweltkatastro-phen wie Überschwemmungen, Dürren und Hurrikans,Frau Lengsfeld, die in der Häufigkeit auch Folge vonUmweltzerstörung sind.
Das heißt, indem wir unsere Umwelt schützen, schützenwir auch die Gesundheit unserer Kinder. Die zunehmende Globalisierung trägt dazu bei, dassdie weltweiten Umweltbelastungen zunehmen und damitauch das Tempo, in dem sich Krankheiten ausbreiten.Das Sondergutachten des Rates der Sachverständigenfür Umweltfragen fordert, dass wir uns mit den Risikenvon Umwelteinwirkungen, deren Erkennbarkeit undEinschätzung sowie den Strategien zum Schutz wie auchinsbesondere mit der Vorsorge stärker als bisher be-schäftigen. Dabei geht es auch immer wieder um dieFrage des gesellschaftlichen Kontextes, also um die Fra-gen: Wie viel Risiko kann oder will sich diese Gesell-schaft leisten? Wo stehen Umwelt und Gesundheit inKonkurrenz zu Wirtschaftswachstum, Beschäftigungund menschlicher Bequemlichkeit? Bei drei Problemfeldern sieht das Sondergutachtenzurzeit Risiken, die in dieser Gesellschaft unterschätztwerden. Das sind die Probleme des Zusammenhangsvon Allergien und Umwelteinflüssen, die Belastungdurch ultraviolette Strahlung und die Belastung durchLärm. Der Lärm ist heute schon ein paar Mal angesprochenworden. Auch ich möchte bei diesem Beispiel bleiben.Lärm, der akustische Abfall, ist in seiner Wirkung langeZeit dramatisch unterschätzt worden. Und, Frau Lengs-feld, er schädigt auch dann, wenn er positiv wahrge-nommen wird. Dr. Klaus W. Lippold
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Bei Letzterem, dem so genannten Freizeitlärm, zum Bei-spiel durch Walkmen oder in Discos, tut AufklärungNot. Das haben Sie ja bewiesen.
Noch ein Wort, Frau Lengsfeld, zum Transrapid, dem„Leisetreter“. Bei 400 Stundenkilometer – so war es jageplant – ist der Zug 93 dB laut. Zum Vergleich:Ein Presslufthammer erzeugt 95 dB .
Lärm beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität,sondern erhöht den Stress. Ab einem Lärmpegel von 65 Dezibel – das wurde schon gesagt – steigt das Risikovon Herz- und Kreislauferkrankungen, von Schwerhö-rigkeit einmal ganz abgesehen. Besonders sensibel sinddie Nachtzeiten und die Aufweckereignisse, das heißtdie Anzahl der Momente, in denen der Schlaf gestörtwird. All dies sind Erkenntnisse, die sich erst im Laufe derletzten 30 Jahre durchgesetzt haben. So alt ist nämlichdas Fluglärmgesetz.Frau Flach, ich finde es schon prickelnd, wenn Sievon Aktionismus sprechen. Sie haben doch die Händejahrelang in unverantwortlicher Weise in den Schoß ge-legt, obwohl Sie etwas hätten tun können. Wenn Sie vonBeteiligung reden, so muss ich sagen, dass wir als Op-position in der letzten Legislaturperiode Anhörungen zudiesem Thema erzwungen haben. Das hätten Sie in denProtokollen nachlesen können. Das Desinteresse derdamaligen Regierung war offensichtlich. Es ist auchklar, warum: Es war die Angst vor der eigenen Courage.Denn obwohl dringend geboten, ist es nicht so ein-fach, gegen Fluglärm vorzugehen. Da gibt es ökonomi-sche Interessen, zum Beispiel die der Betreiber derFlughäfen und derjenigen, die dort ihre Arbeitsplätzehaben. Wir müssen aber auch sehen, dass diesen öko-nomischen Interessen volkswirtschaftliche Kosten, undzwar in Milliardenhöhe, entgegenstehen. Es wird Zeit,dass wir solchen Interessen stärker als bisher das Ruhe-bedürfnis der Bevölkerung entgegenstellen. Das gilt ins-besondere für alte Menschen, für Kranke und besondersfür Kinder als die verletzlichsten Mitglieder unserer Ge-sellschaft. Die Bundesregierung nimmt das Grundrechtauf körperliche Unversehrtheit und seine Umsetzungsehr ernst. Wir haben das in der Koalitionsvereinbarungfestgeschrieben. Zurzeit wird ein Gesamtkonzept zumSchutz vor Verkehrslärm erarbeitet. Dieses Konzept solldie Basis für eine verbesserte Rechtsgrundlage bilden.Frau Flach, auch hier haben Sie sich als sehr schlechtinformiert gezeigt, wenn Sie fordern, dass wir Schienenschleifen sollen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass wirdies bereits tun. 1999 und 2000 haben wir 100 Milli-onen DM im Haushalt des BMV für diese Lärmschutz-maßnahmen eingestellt. Es wird etwas getan.Es ist gut, dass das Eckpunktepapier zum Fluglärm-gesetz vorliegt, das übrigens in nächster Zeit mit allenBeteiligten, Frau Flach, intensiv diskutiert wird. IhreBedenkenträgerei ist wirklich allzu durchsichtig.
Das Gesetz soll unter anderem erstmalig einen allge-meinen Nachtschutz in der Umgebung von Flughäfeneinführen und es soll an den Erkenntnissen der Lärm-wirkungsforschung orientierte neue Grenzwerte für denFluglärm vorschreiben. Insofern bilden die vier Baustei-ne – das TAB-Projekt, das gemeinsame Aktionspro-gramm, das Sondergutachten und der vorliegende An-trag der Regierungsfraktionen – eine gute Grundlage fürdie weitere Arbeit in diesem Bereich. Dazu gehört auchdie Grundeinstellung, dass es nicht um partielle, sondernum gemeinsame Interessen geht.Danke schön.
Ich erteile der Kolle-
gin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Das Thema Umwelt und Ge-sundheit bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise.Denn ohne Zweifel sind viele Ursache-Wirkungs-Beziehungen, beispielsweise bei der multiplen Chemika-lien-Überempfindlichkeit, noch unklar. Es existieren ei-nige, in sich schlüssige Theorien. Es stehen allerdingsgesicherte Beweisketten noch aus. Gleichwohl gibt esaugenscheinlich diese Krankheit mit ihren Müdigkeits-und Depressionsbildern, mit Symptomen wie schwerenKopfschmerzen, Übelkeit, Konzentrationsstörungen undanderes mehr.Die Betroffenen leiden oft unermesslich. Deshalbspielt es nicht nur für die Erkrankten, sondern auch fürdie Gesellschaft eine untergeordnete Rolle, ob sie auf-grund tatsächlich bestehender oder vermeintlicher Risi-ken oder auch nur aufgrund der als bedrohlich empfun-denen Gesamtsituation erkranken. Ihnen muss geholfenwerden.
Doch was sind die Ursachen für das rapide Anwach-sen von Überempfindlichkeiten und Allergien? Bereitsbei der letzten Debatte über endokrine Stoffe habe ichdarauf hingewiesen: Trotz vieler Erfolge bei der Ver-minderung von Schadstoffemissionen fungiert unserKörper als Sammelstelle für die Nebenprodukte derWohlstandsgesellschaft. Einige Hundert, meist langlebi-ge Chemikalien parken wir in unseren Organismen. DieUmwelt wird mit Hunderttausenden von menschlich ge-schaffenen Chemikalien bombardiert. Stress, Lärm undStrahlungen, summarische oder Kreuzreaktionen bzw.katalytische Wirkungen können die Toxizität oderParl. Staatssekretärin Gila Altmann
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8296 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Schädlichkeit verstärken, schwächen oder sogar um-wandeln.Kurz gesagt: Der Cocktail ist etwas unübersichtlich ge-worden.Deshalb möchte ich zwei Ansätze des Aktionspro-gramms „Umwelt und Gesundheit“ positiv hervorheben:erstens die Interdisziplinarität, zweitens den Vorsorge-gedanken.Die Diskussion um aus der Umwelt stammende Ge-sundheitsrisiken erfordert eine fundierte Risikobetrach-tung. Auch da stimmen wir der Regierung zu. Dennschließlich müssen aus der Flut von tatsächlich begrün-deten Meldungen über neue Schadstoffe und Risiken aufder einen Seite und dem sicher ebenso großen Strom vonHalbwahrheiten, interessengeleiteten Abwiegelungender Industrie und schließlich auch aus Wissenslücken re-sultierenden widersprüchlichen Warnungen auf der an-deren Seite konkrete Schlussfolgerungen gezogen wer-den, die dann in der Umsetzung Geld kosten.Bei alldem sollte aber nicht aus den Augen verlorenwerden: Die Analyse steht nicht am Anfang. Dass bei-spielsweise der ständig wachsende Verkehr mit seinenEmissionen von Gasen, Feinstäuben und Lärm, mit sei-nem Stresspotenzial und seiner Naturraumzerstörung ei-ner der wichtigsten Risikofaktoren der Industriegesell-schaft ist, liegt auf der Hand. Es gibt auch experimentel-le Hinweise auf die schädliche Wirkung von Feinstäu-ben aus Dieselmotoren für die Lunge und das Herz-Kreislauf-System. Doch während Frau Fischer und HerrTrittin am Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“basteln, schnitzt Herr Klimmt an weiteren sechsspurigenAutobahnen, die zusätzlichen Verkehr erzeugen werden.Ich meine, das ist ein Witz. Gleiches gilt für die Lärm-schutzprogramme, deren Erstellung schon meist nichtfinanzierbar ist, geschweige denn ihre Realisierung.Wollen wir mit der Vermeidung von Verkehr so lan-ge warten wie bei der von FCKW? Das Gutachten desSachverständigenrates dokumentiert ständig steigendeZahlen von Hautkrebserkrankungen durch die Zerstö-rung der Ozonschicht. Das ist die Quittung für fehlendeVorsorge und leichtfertigen Umgang mit umweltrele-vanten Chemikalien.Leider habe ich keine Zeit mehr, etwas zu den Be-rufskrankheiten zu sagen.
Niemand hier im Raum hat darüber gesprochen. Auchzu den Opfern der unsäglichen Holzschutzmittelaffärekann ich nichts mehr sagen. Es ist ein großer Skandal,dass diese Opfer nicht entschädigt wurden. Auch dafürkönnte noch etwas getan werden.Danke.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wir sehen in der Debatte über Umwelt und Gesundheit einen wichtigen Beitragzur Modernisierung des Gesundheitswesens. Wir hal-ten es für dringend notwendig, dass wir – so wichtig dasist – nicht nur über Kosten und Organisationsstrukturensprechen, sondern auch über die Frage der Inhalte, wieunser Gesundheitssystem zukunftsfähig und moderngestaltet werden und wie es den Menschen besser helfenkann. Deshalb geht es hier um einen Ansatz, der die In-halte der Gesundheitspolitik überdenkt und weiterentwi-ckelt. Das halten wir für richtig.
Entscheidend hierfür sind vor allem zwei Faktoren.Der erste Faktor- ist die Veränderung in den Krank-heitsbildern. Wir erleben immer häufiger unspezifischechronische Krankheiten, die dann oftmals Türöffner fürweiter gehende, schwere und auch sehr teuer zu behan-delnde Krankheiten sind. Der zweite Faktor ist, dass wirgerade im Medizinsektor eine der wichtigsten Innovati-onsbranchen der Zukunft sehen. Wir glauben, dass inder Bundesrepublik große Chancen, auf diesem Marktbestehen, insbesondere im europäischen Raum an derSpitze zu sein.
Deshalb ist es sehr wichtig, die Modernisierung des Me-dizinsektors in allen ihren Facetten, von der technologi-schen Seite, der wissenschaftlichen Seite und dem Ver-hältnis Patient-Arzt insgesamt her, zu beleuchten unddas System, wo immer Schwachstellen sind, zu verbes-sern. Wir sehen die Gesundheitsreform als einen Ein-stieg hierfür, auf dem wir aufbauen wollen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch dieUmweltpolitiker für dieses Ziel interessieren. Denn, imKern ist in der Gesundheitspolitik eine ähnliche Denk-weise wie in der Umweltpolitik erforderlich. Umweltpo-litik ist auf Dauer nur erfolgreich, wenn wir von derNachsorge zur Vorsorge kommen.
Dasselbe gilt in der Gesundheitspolitik. Wir braucheneinen vorsorgenden Gesundheitsschutz oder, um es an-ders auszudrücken, wir müssen – so wichtig sie bleibt –weg von der Krankheitspolitik und hin zur aktiven Ge-sundheitsförderung kommen. Um diese Veränderunggeht es.
Das ist auch das, was die Weltgesundheitsorganisa-tion im Hinblick auf die Aufstellung der Pläne Umweltund Gesundheit definiert hat, indem sie sagte: „Gesund-heit müssen wir als Zustand des Wohlbefindens undnicht nur als Zustand des Freiseins von Krankheit defi-nieren.“ Eva Bulling-Schröter
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Dies ist übrigens auch die Ansicht von modernen, weiterblickenden Medizinern. Wir sollten uns sehr viel mehran diesen orientieren als an verkrusteten Ständeinteres-sen, die leider allzu häufig blockieren und verhindern.Um es mit Dietrich Grönemeyer zu sagen: „weg von derKrankheitspolitik hin zur modernen Gesundheitspolitik“.
– Man kann es Ihnen nicht oft genug sagen.
Dies ist auch deshalb wichtig, weil wir dann, wennwir keine Modernisierung des Gesundheitswesens errei-chen, in die Gefahr geraten, dass aufgrund der knappenMittel Selektionsmechanismen entstehen. Wir möchtennicht, dass es am Ende heißt: Nur wer Geld hat, lebt län-ger, weil er sich eine umfangreichere gesundheitlicheVersorgung leisten kann. Das darf nicht sein. Auch des-halb wollen wir eine Modernisierung des Gesundheits-systems. Diese Neuorientierung ist für uns ein Kernbe-reich einer modernen Gesundheitspolitik.
– Herrn Grill antworte ich nicht. Bei jedem anderenwürde ich das tun, bei Ihnen aber derzeit nicht. Da ha-ben wir leider zu viele unangenehme Erfahrungen ge-macht.
Das Gesundheitswesen ist aus unserer Sicht noch vielzu sehr auf das Kranksein ausgerichtet. Wir wollen essehr viel stärker sowohl auf die Verbesserung der Um-welt, um die Gesundheit zu erhalten, als auch auf dieStärkung des Einzelnen – er soll wissen, was er tunmuss, um seine Gesundheit zu sichern und zu erhalten –ausrichten.Mit dieser Grundfrage hat sich auch der Sachverstän-digenrat für Umweltfragen beschäftigt. In seinem Son-dergutachten heißt es sinngemäß: Alle Krankheiten ge-hen letztlich auf genetische Faktoren oder auf Faktorenaus der Umwelt zurück; in der Regel sind es beide. – Füruns ist es erschreckend, dass wir in der ZwischenzeitStudien vorliegen haben, die zu dem Ergebnis kommen,dass in der Bundesrepublik bis zu 25 Millionen Men-schen auch aufgrund von Umweltfaktoren erkranktsind. Dies betrifft insbesondere Allergien, Atemwegs-erkrankungen und Immundefekte. Das sind Zahlengrö-ßen, angesichts deren wir nicht sagen können: Die sinduns egal. Im Gegenteil: Das Fazit von Dietrich Gröne-meyer: „Die Menschen sind zwar nicht richtig krank,aber sie sind auch nicht richtig gesund“ ist richtig. Mankann das auch so bezeichnen: Es gibt mehr und mehr ei-ne Art Krankheit vor der Krankheit.
– Es ist schon interessant, dass Sie über so etwas lä-cheln. Viele Gesundheitsexpertern führen darüber einesehr wichtige Debatte. Es wird gesagt: Wir dürfen nichtnur über den Ausbruch von Krankheiten nachdenken,sondern müssen vor allem auch über die Faktoren spre-chen, die Vorschädigungen hervorrufen. Das ist übri-gens auch für die Modernisierung des Gesundheitswe-sens eine ganz zentrale Frage.
Ich muss Ihnen sagen: Ihre Reaktionen scheinen mirin einem eklatanten Widerspruch zu den Aussagen IhrerRedner, dass sie dieses Thema wichtig nehmen, zu ste-hen. Wenn sie dies täten, müssten sie auch zu dieser Er-kenntnis kommen.
Wir müssen über die Krankheit vor der Krankheit, al-so über die Vorschädigungen, sprechen und alles dafürtun, den Umfang der Vorschädigungen zu reduzieren.Ich weise darauf hin, dass in der sehr lesenswerten Stu-die „Med. in Deutschland“ steht:Der alltägliche Medizinbetrieb steht dieser Ent-wicklung oftmals konzeptionslos gegenüber. Die Folgen sind: Ausgrenzung von Patienten, un-geeignete kostentreibende Behandlungsmethodenoder Psychiatrisierung von Kranken.Deshalb sprechen wir über Vorschädigungen, also überdie Verursachung von Krankheiten, und nicht nur überdie Krankheit selbst. Das ist der Paradigmenwechsel, derendlich in den Vordergrund gebracht werden muss.
Von daher ergeben sich für uns fünf wichtige Zielset-zungen.Erstens. Wir wollen eine systematische und umfas-sende Erweiterung in der Bewertung von Krankheits-ursachen erreichen.Zweitens. Wir wollen vor allem die Immunologie alswesentliches Instrument für Diagnostik und Therapiestärken. Wir haben in Deutschland mit Paul Ehrlich inder Immunologie eine Tradition. Wir sollten an dieserTradition sehr viel stärker ansetzen. Hierin liegt als drit-te Säule eines Gesundheitssystems ein wesentlicher Fak-tor, um vorsorgend Krankheiten bekämpfen zu können.Ich hoffe, dass wir einer Meinung sind, dass der Ausbauder Immunologie sehr wichtig ist.Drittens. Wir wollen durch die Gestaltung von Ar-beits- und Lebensumwelt sehr viel stärker erreichen,dass Krankheiten möglichst vermieden werden. Michael Müller
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8298 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Viertens. Wir wollen alles tun – da begrüßen wir dasProgramm der Bundesforschungsministerin –, um Inno-vationen in diesem Bereich zu forcieren. Wir haben mitFreude die Ankündigung vernommen, dass es einenSchwerpunkt Gesundheitsforschung geben wird.Fünftens. Wir wollen natürlich die Patienten, die Be-troffenen selbst, zu sehr viel mehr motivieren, dennSelbsthilfe und Selbstverantwortung sind ein wesentli-cher Teil aktiver Umwelt- und Gesundheitspolitik.Meine Damen und Herren, der Medizinsektor ist eineder wichtigsten Wirtschaftsbranchen. Direkt und indi-rekt sind ungefähr zwölf Prozent aller Beschäftigten indiesem Bereich tätig oder von ihm abhängig. In diesemBereich können wesentliche Innovationen und eine er-hebliche Leistungsfähigkeit der Wissenschaft erreichtwerden. Deshalb möchten wir, dass die Bundesrepublikauf diesem Feld Spitze bleibt. Wir haben leider in denletzten Jahren vernehmen müssen, dass wir ins Hinter-treffen geraten und etwas zurückgefallen sind. Deshalbbegrüßen wir die Anstrengungen, diesen Sektor zu stär-ken, und fordern alle Beteiligten – Wirtschaft, Wissen-schaft, Medizinorganisation, Patienten, Ärzte – auf, einNetzwerk für eine moderne Medizinpolitik in Deutsch-land zu bilden.Deshalb wollen wir auch, dass sehr viel mehr Mo-dellprojekte im Bereich Umwelt und Gesundheit umge-setzt werden. Es geht nicht, dass nur gesagt wird – wiewir es in den letzten Jahren oft gehört haben –: Da mussweiter geforscht werden. Wir haben inzwischen so vielekonkrete Anhaltspunkte, dass daraus endlich modellhaf-te Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Das gilt auch fürMCS und CFS.
Wir wollen den Abbau von Hemmnissen gegen Er-neuerungen. Damit meine ich jetzt weniger den staatli-chen Sektor als vielmehr die Standes- und Selbstorgani-sation. Von Region zu Region erlebt man eine völlig un-terschiedliche Offenheit gegenüber neuen Erkennt-nissen. Es darf nicht sein, dass es vom Zufall abhängt,ob man bestimmte Hilfen bekommt, nur weil man ent-weder in Süddeutschland oder in Norddeutschland, inOst oder West lebt.
Im Gegenteil, es muss Teil der Volksgesundheit sein,moderne Erkenntnisse auch anzuwenden, und zwar un-abhängig davon, wo man wohnt.
Wir wollen, dass die Ignoranz gegenüber neuen Er-kenntnissen, die zum Teil vorhanden ist, beendet wird.Es kann schon sein, dass sich manche in ihren Vorher-sagen auch mal irren. Wer täte das nicht? Aber nochschlimmer ist es, wenn man neue Erkenntnisse völlig ignoriert und sie nicht zumindest einmal ernsthaft prüftund aufgreift. Das verlangen wir auch und gerade in derGesundheitspolitik.Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einerZeit einzigartiger medizintechnischer und medizinver-sorglicher Möglichkeiten. Ich weise nur darauf hin, dassbeispielsweise in den USA durch das Internet die Bera-tungsintensität zwischen Medizin und Patient stark zu-genommen hat. Wir haben mit solchen technischenMöglichkeiten auch ganz andere Voraussetzungen, denKontakt zwischen Medizinern und Patienten zu verbes-sern. Wir sollten so etwas nutzen. Es darf auch nicht sein, dass die Beratung, dieBetreuung und die Fürsorge für Patienten reduziertwerden, weil die Ärzte keine Zeit haben oder weil ihreBeanspruchung dies einfach nicht mehr zulässt.
– Ich habe Ihnen doch gesagt, es wäre gewissermaßeneine Chance, dies über solche Patienteninformationssys-teme auszuweiten. Warum soll man das nicht versu-chen? In anderen Ländern wird es gemacht. Wir könnendie Bundesregierung – ich weiß, dass sie solche Über-legungen auch hat – nur unterstützen. Es ist ein sinnvol-ler Ansatz. Wir möchten den Bereich immunologischer undumweltmedizinischer Diagnostik ausbauen. Ich habeeben schon davon gesprochen, dass für uns insbesonderedie Immuntherapie ein ganz wichtiger Ansatz ist.Wir sehen darüber hinaus in dem technischen Fort-schritt – insbesondere in miniaturisierten Verfahren, ins-besondere in schonenden Operationsweisen – eine gro-ße Chance, aus der Verbindung von Vorsorge, mehr Be-ratung, Hightechmedizin und schonenden Behand-lungsmethoden neue Vorteile für die Menschen zu errei-chen.
– Ich komme jetzt dazu. Natürlich ist es richtig, dasseinzelne neue Behandlungsweisen teurer sind. Aberdurch die Umstellung auf eine solche moderne Medizinwerden erhebliche Kostenersparnisse erreicht. Dasmuss man in einem Zusammenhang sehen. Es ist richtig,dass nicht generell alles billiger wird – wer behauptetdas? –, aber in bestimmten Bereichen werden schwereKrankheiten dadurch, dass wir mehr Vorsorge betreiben,verhindert, was dann natürlich zu Kostenersparnissenführt, insbesondere bei den zeitaufwendigen und sehrkostenintensiven Behandlungsverfahren. Diesen Zu-sammenhang muss man sehen.Auch die Zeit, die für die Erbringung medizinischerLeistung nötig ist, kann durch moderne Verfahren deut-lich verkürzt werden. Auch das ist ein Ansatz für Kos-tenreduzierung. Eine rein quantitative Betrachtung wirduns nicht helfen. Und vor allem: Eine moderne Gesund-heitspolitik hat die Chance, die Menschen zufriedener zumachen. Das ist ein hohes Ziel unserer Politik.Michael Müller
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8299
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Kurt-Dieter
Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Mei-
ne Damen und Herren! Ich habe bei der Rede des Herrn
Michael Müller in Anbetracht des Szenarios, das er ge-
zeichnet hat, eine Frage stellen wollen, nämlich: Wie
bringt er – und manch andere, die hier geredet haben –
die Gefahrenbeschreibung in Einklang mit der Tatsache,
dass in der Bundesrepublik Deutschland die mittlere
Lebenserwartung stetig steigt? Denn das bestätigt die
Prognosen, die hinsichtlich der Gefährdung abgegeben
werden, nicht.
In der Bundesrepublik Deutschland hatten wir 1990
eine Situation, die das dramatisch deutlich gemacht hat:
Die mittlere Lebenserwartung in der ehemaligen DDR
lag um fünf bis zehn Jahre niedriger als die in den west-
lichen Industrienationen. Deswegen ist die letzte Frakti-
on, die in diesem Hause behaupten kann, es werde im
Zusammenhang mit Gesundheit und Umwelt nichts ge-
tan und die Menschen seien gefährdet, die Fraktion der
PDS.
Ich musste mich damals in Niedersachsen damit be-
schäftigen, wie wir 20 000 atemwegerkrankten Kindern
allein aus der Region Halle einen vierwöchigen Nord-
seeaufenthalt gönnen konnten, damit sie wieder eine
Perspektive bekamen.
Eine andere Bemerkung: In den Jahren 1982 bis 1984
haben wir eine Diskussion über die vom Kraftwerk
Buschhaus ausgehende Gefährdung der Menschen,
insbesondere der Kinder, geführt. In dieser Republik hat
damals eine Diskussion über Pseudokrupp stattgefun-
den – Klaus Lippold hat darauf hingewiesen –, in der
zum Ausdruck kam, dass man in Braunschweig, Helm-
stedt und darüber hinaus sogar Tote zu befürchten habe.
Das Kraftwerk Buschhaus läuft und kein Mensch redet
mehr über diese Frage.
Deswegen rate ich uns, die Dinge ernst zu nehmen,
sich aber davor zu hüten, Schreckensszenarien in dem
Maße zu entwickeln, wie das Herr Müller getan hat.
Denn dies steht im krassen Widerspruch zu unserer Le-
benserwartung. Herr Müller, man kann das Thema wich-
tig nehmen; man muss aber nicht all das wichtig neh-
men, was Sie heute gesagt haben.
Kollege Müller, wol-
len Sie antworten?
Ich habe den
Eindruck, Herr Grill war in einem anderen Raum. Denn
ich habe gar kein Szenario gezeichnet,
sondern über die Anforderungen an eine moderne Ge-
sundheitspolitik geredet.
Auch für uns ist es im Übrigen sehr erfreulich, wenn
das durchschnittliche Lebensalter steigt. Wer sollte et-
was dagegen haben? Was sind das für Alternativen, die
hier aufgezeigt werden sollen? Wir danken dafür, dass
diese technische Entwicklung das möglich gemacht hat.
Aber umgekehrt sage ich: Gerade weil wir wollen, dass
die Menschen älter und zufriedener werden und ein er-
fülltes Leben haben, müssen wir alles tun, um ihre Ge-
sundheit zu sichern. Eben dies wollen wir. Insofern:
Man sollte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Nun erteile ich noch
einmal dem Kollegen Klaus Lippold von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Esmacht euch richtig Spaß, dass ihr mich zweimal ertragenmüsst.Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will nurnoch einmal darauf hinweisen, dass wir jetzt das, was inder Zeit Töpfer/Merkel begonnen wurde, fortsetzen wol-len. Wir gehen also bei allem, was wir erreicht haben,davon aus, dass nach wie vor Positionen gegeben sind,an denen wir mit Erfolg weiterarbeiten müssen.Wir haben beim Lärmschutz – das wollte ich nocheinmal spezifisch aufgreifen – über das Bundes-Immissionsschutzgesetz, die Regelungen zum Arbeits-schutz und das Bauplanungsrecht gute und entscheiden-de Fortschritte erzielt. Ich will auch hinzufügen, dasswir hinsichtlich der Reduzierung des Verkehrslärms ei-niges vorangebracht haben, aber schlussendlich sehenmüssen, dass dieser heute immer noch ein ganz ent-scheidender Faktor ist.Wir haben zum Beispiel erreicht, dass die Flugzeugeder neuen Generation mit aktivem Lärmschutz wesent-lich leiser als die alten Maschinen sind. Wir sind soweit, dass auf einigen Flughäfen fast ausschließlich die-se modernen Flugzeuge und keine Flugzeuge nach Kapi-tel 3 mehr landen dürfen.
Dies sind alles Ansatzpunkte, die nach wie vor wei-terentwickelt werden müssen; deshalb unser Antrag,deshalb der Vorschlag einer ganzen Reihe von Punkten,so – ich kann es Ihnen nicht ersparen – die Fertigstel-lung und die Umsetzung der Fluglärmnovelle. Wir wol-len auch eine Absenkung der Geräuschwerte für Kraft-Michael Müller
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8300 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
fahrzeuge. Wir wollen Geräuschgrenzwerte für Reifennach dem Stand der Technik. Wir wollen die Fortfüh-rung – ich unterstreiche das noch einmal – der Sanierungder bestehenden Lärmschutzwälle an Bundesstraßen undnatürlich auch an Schienenwegen. Da ich im Ballungs-raum Frankfurt lebe, weiß ich doch, wo diese Problemebestehen und wie groß sie sind. Hier stellt sich nicht nurdie Frage des Lärmschutzes. Zusätzlich sind die Men-schen von Erschütterungen betroffen. Hier müssen wirnach wie vor Verbesserungen erzielen.Frau Altmann, wir können nicht alles auf einmal. Wirhaben in den vergangenen Jahren viel erreicht und dasshier nach wie vor Handlungsnotwendigkeiten bestehen,ist gar nicht zu bestreiten. Wir brauchen die Reduzie-rung von Geräuschemissionen von Maschinen. Das sindalles Vorhaben, die wir noch umsetzen wollen.Ich finde es gut, dass der Sachverständigenrat, dersagt, der Lärm sei ein zentraler Punkt – weshalb wir hierinsbesondere ansetzen –, gleichzeitig aber auch anderePositionen deutlich gemacht hat, nämlich dass sich auf-grund der vorliegenden Datenlage Verdachtsmomentenicht in der Form ergeben, wie sie bislang diskutiertworden sind. Ich spreche von den hormonartig wir-kenden Stoffen. Eine abschließende Bewertung derHypothese von der Störung des Hormonsystems vonMensch und Tier durch Stoffe mit hormonähnlicherWirkung bedarf erst weiterer Grundlagenforschung, ins-besondere stehen Untersuchungen zur Kombinations-wirkung und Untersuchungen bezüglich der Aufnahmevon Phytoöstrogenen durch Säuglinge und Kleinkindernoch aus. Dies ist ein ganz zentraler Punkt. Deswegenbrauchen wir ein nationales Forschungsprogramm zurErkenntnisgewinnung über die Auswirkungen hormon-artig wirkender Chemikalien auf die menschliche Ge-sundheit und auf Ökosysteme, ein internationales For-schungs- und Arbeitsprogramm zur Fortentwicklung vonPrüfmethoden und die Bewertung einzelner Stoffe imRahmen des EU-Altstoffprogramms. Ich will noch einmal deutlich machen: Wir brauchenin diesem Bereich eine nüchterne Betrachtung und keinePanikmache. Die Fortführung notwendiger Arbeiten istangesagt. Deswegen brauchen wir uns in diesem Bereichgar nicht so weit auseinander zu reden. Wenn wir unsdarauf verständigen, dass wir Panikmache unterlassenund nüchtern daran arbeiten, kommen wir einen ganzerheblichen Schritt weiter. Im Bereich bodennahes Ozon haben wir in unseremAntrag eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht.Auch das sind Punkte, von denen ich meine, dass wirdarüber sprechen müssen. Hier wollen wir weitergehen. Einen Punkt – damit will ich schließen – möchte ichbesonders herausstellen. Wir haben mit den Allergienein neues Problemfeld in einer Größenordnung, die esfrüher nicht gab. Das ist kein einfaches Problemfeld. Ichhalte es für wichtig, dass wir Maßnahmen zur Produkt-kennzeichnung ergreifen, dass wir die Förderung der Al-lergieforschung mit dem Ziel fortführen, Risikozu-sammenhänge offen zu legen, und auch – das haben wirbegonnen – die Informationsarbeit von Selbsthilfegrup-pen mit dem Ziel fortsetzen, den Selbstschutz zu för-dern. Die Aufklärung von Betroffenen durch Betroffenemuss dabei eine ganz eminente Rolle spielen. Das heißt, in all diesen Punkten besteht noch erhebli-cher Handlungsbedarf. Ich glaube, das ist auch für SieAnlass genug, unseren Antrag zu prüfen. Wir selbstwerden ihn noch einmal systematisch mit Sachverstän-digen erörtern. Wir werden ihn noch einmal unter Hin-zunahme von Experten prüfen, weil wir meinen, in die-sem Punkt ist noch mehr Sachverstand gefragt, als bis-lang eingebracht wurde. Wir werden hier sehr sorgfältigvorgehen und weitere konkrete Schritte vorschlagen, wiewir auf diesem für den Schutz der Bevölkerung ganzmaßgeblichen Weg, weitergehen können.
Ich will aber deutlich machen, dass wir gerade jetztdiesen Weg zuversichtlich gehen können. Es gibt, wieKurt-Dieter Grill eben betont hat, klassische Kennzei-chen dafür, dass wir Erfolge hatten. Wenn wir den Men-schen vermitteln, dass sie nicht mit Pessimismus, son-dern mit Optimismus in die Zukunft blicken können, istdas eine wesentliche Grundlage. Menschen, die lachenkönnen, werden wesentlich seltener krank. Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Ich weiß nicht, ob ich bei dem Beitrag, den wirvonseiten der CDU gehört haben, lachen oder weinensoll.
– Ich halte das Lachen für gesünder. Mich erstaunt, dassausgerechnet die Frau Kollegin Vera Lengsfeld uns undder Bevölkerung Verfolgungswahn vorwirft.
Ich glaube, wir sollten einmal über umweltbedingte Er-innerungslücken sprechen. Denn vor nicht allzu langerZeit war sie noch Vertreterin der ökologischen Kinder-rechte.
Ich meine, Herr Lippold hat uns dankenswerterweisegesagt, was Sie alles vorhatten und nicht getan haben. Ich finde, das Thema ist in vieler Hinsicht sehr ernst.Manchmal drängt sich mir auch der Eindruck von Zy-nismus bei dieser Debatte auf. Vor 23 Jahren ist ein 12-jähriges Mädchen an denFolgen einer Vergiftung durch das Holzschutzmittel ge-storben, das ihre Eltern unwissenderweise in ihrem HausDr. Klaus W. Lippold
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verstrichen hatten. Nach diesem Vorfall im Jahr 1977hat es bis 1989 gedauert, bis PCP als Holzschutzmittelverboten wurde. Es hat eine Unmenge von Geschädigtensowie einen wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhefür Wirtschaft, Gesundheitswesen und die Volkswirt-schaft insgesamt gegeben. Noch zu Zeiten der alten Bundesregierung hat es imBML ein Gutachten – es war kein bösartiges und hyste-risches dieser neuen Regierung – über Kosten und Nut-zen von Pestiziden gegeben. Dieses benennt beispiels-weise – an die Seite der CDU gerichtet, die nach denKosten und Nutzen fragt – die Kosten des Schutzes vorsowie der Beseitigung und Vermeidung von Pestiziden,die diese Gesellschaft aufbringt, mit etwa 240 Mill-ionen DM jährlich. Das Gutachten nennt aber auch einerhöhtes Krebsrisiko bei den Arbeitern sowie Nerven-schädigungen bei den Anwendern. In den ländlichenHaushalten sind Pestizidgehalte im Hausstaub zu finden,von dem gerade die auf dem Boden herumkrabbelndenKinder betroffen sind. All diese Probleme wurden vonIhnen, von der alten Bundesregierung, das heißt vonCDU/CSU und F.D.P., über Jahre verschleppt und igno-riert.
Auch im Fall der Pestizide haben wir eine Odysseefür die Betroffenen sowie Kosten in Milliardenhöhe zuverzeichnen. Diese Bundesregierung beginnt mit einemParadigmenwechsel. Sie beginnt mit einem neuen An-satz von Gesundheits- und Umweltpolitik, in den dieArbeitswelt mit einbezogen ist. Bei diesem Paradig-menwechsel wird deutlich: Man hört auf mit der Einzel-betrachtung, zum Beispiel der Betrachtung, wie derWirkstoff, das Pestizid auf die einzelne Erdbeere imHinblick auf die menschliche Gesundheit wirkt, undfängt an, den Menschen bzw. das Kind an sich und seineUmwelt zu betrachten. Im Nahrungsmittelsektor wirdbeispielsweise nicht mehr das Einzelprodukt, sondernder Warenkorb betrachtet. Der ganzheitliche Ansatz isteine völlig andere Vorgehensweise, die auch Sie, werteKollegen von der Opposition, in Ihrem Antrag aufge-griffen haben. Wir werten dies als Unterstützung. Das ist ein sehr anspruchsvolles Arbeitsprogramm,wie meine Kollegen von der SPD es schon gesagt haben,das Schritt für Schritt umgesetzt werden soll. Es bedeu-tet erstens die systematische Erfassung umweltbedingtergesundheitsschädigender Faktoren, die bislang nicht ineiner vernünftigen Form – es wurde von Datenfriedhö-fen gesprochen – vorhanden war, zweitens die Bewer-tung auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse und drit-tens die Ableitung entsprechender zielorientierter Maß-nahmen für die Politik. Dies bedeutet, das Vorsorge-prinzip wird zum Grundprinzip von Umwelt- und Ge-sundheitspolitik wird. Es ist keinesfalls so, dass wir dieanderthalb Jahre der rot-grünen Regierung damit ver-bracht hätten, die alten Unterlagen von Frau Merkel zulesen.
Nein, es hat bereits entscheidende Schritte gegeben.Mit der Gesundheitsreform ist das Vorsorgeprinzip wie-der an seine bedeutende Stelle gerückt worden. Es hatzum Beispiel beim TBT ein entsprechendes Verbot ge-geben. Das war kein Aktionismus, sondern ein entspre-chender Antrag wurde im Umweltausschuss schon vorüber einem halben Jahr formuliert. Darin wird die Bun-desregierung aufgefordert, differenzierte Maßnahmen indiesem Fall zu ergreifen. Das hat sie natürlich getan.Auch die Zulassung von BT-Mais ist ein Schritt dieserBundesregierung. Der hat sehr wohl konkrete umweltpo-litische und gesundheitliche Gründe. Das sind hand-lungsbezogene und programmbezogene Reaktionen, dieeinen vernünftigen Ansatz bieten, um Umwelt und Ge-sundheit in diesem Land zusammenzubringen und Kon-zepte für die Menschen umzusetzen damit, sie ebennicht krank, sondern gesund alt werden können. Vielen Dank
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 14/2300 an die auf der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der An-
trag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/2767
und der Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/2771 sollen an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden, wobei der Antrag auf
Drucksache 14/2767 nicht an den Ausschuss für Tou-
rismus und der Entschließungsantrag auf Drucksache
14/2771 nicht an den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend überwiesen werden sollen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe damit Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Dr. Heiner Geißler, Monika
Brudlewsky weiterer Abgeordneter und Fraktion
der CDU/CSU Verfolgung von Christen in al-
ler Welt.
– Drucksachen 14/1279, 14/2431 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Die heutige Debatte über unsere Große Anfrageund die Antwort der Bundesregierung bietet uns erst-mals die Gelegenheit, im Bundestag über die Lage dis-kriminierter und verfolgter Christen in aller Welt zu re-den. Immer wieder haben wir – auch in den letzten Ta-gen noch – erschütternde Nachrichten über zerstörteKirchen und misshandelte und ermordete Christen erhal-Ulrike Höfken
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8302 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
ten. Erst vorgestern ging die erst jetzt bekannt geworde-ne Hinrichtung von Missionaren im kommunistischenNordkorea im November des vergangenen Jahres durchdie Zeitungen. Unsere Große Anfrage zielt auf eine systematischeund differenzierte Aufarbeitung dieses Themas insge-samt ab. Ausgangspunkt unserer Arbeit – hier befindenwir uns in völliger Übereinstimmung mit der Antwortder Bundesregierung – ist unser Einsatz für die Religi-onsfreiheit generell. Deshalb passt es durchaus in dieheutige Debatte, wenn wir im Vorfeld des Besuchs vonBundesaußenminister Fischer im Iran gemeinsam deut-lich machen, dass die jüngste Verkündung bzw. Bestäti-gung von Todesurteilen gegenüber Bahi im Iran nichthingenommen werden kann. Der Reformkurs im Iran istnur glaubwürdig, wenn endlich mit der unerträglichenVerfolgung der Bahi Schluss gemacht wird.
Wir treten für verfolgte Anhänger gleich welcher re-ligiösen oder weltanschaulichen Überzeugung ein.Zugleich sagen wir aber auch sehr deutlich: Angesichtsder christlichen Prägung unserer politischen Kultur füh-len wir uns verfolgten Christen in besonderer Weiseverbunden und zur Solidarität verpflichtet. Ich stelle er-freut fest, dass sich die Bundesregierung – wie es in ih-rer Antwort heißt – durch „die zahlreichen und häufigengen Kontakte der deutschen Zivilgesellschaft mit be-drängten Christen in aller Welt ... in besonderer Weisegefordert , sich weltweit gerade auch für verfolgteChristen einzusetzen“. Ich hebe diese Erwähnung des Engagements ver-schiedener Gruppierungen aus dem kirchlichenRaum und aus Menschenrechtsorganisationen auchdeshalb besonders hervor, weil ihrer tätigen Solidaritätunser aller Anerkennung gelten sollte. Es sollte diesenGruppen Mut machen zu hören, dass sie mit ihrem Ein-satz zur Ausrichtung der Politik unseres Landes beitra-gen können.Ich nenne weitere wichtige Punkte der Übereinstim-mung. Wir teilen die Auffassung, dass staatliches Vor-gehen gegen die Religion im Namen einer Ideologieinsgesamt abgenommen hat.
Sie werden mir diese Bemerkung erlauben: Angesichtsder Tatsache, dass Antikommunismus noch vor gar nichtlanger Zeit bei vielen in Politik und auch in den Kirchennahezu als eine völlig abwegige Geisteshaltung galt,verdient es eine Hervorhebung, dass die rot-grüne Bun-desregierung ausdrücklich – ich zitiere – den „Zerfalldes kommunistischen Machtblocks in Osteuropa“ alswesentliche Ursache für diesen Zugewinn an Freiheitnennt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass nochimmer in Ländern wie der Volksrepublik China, inNordkorea und in Vietnam eine Religionspolitik wirk-sam ist, die von der kommunistischen Vorstellung vonReligion als „Opium für das Volk“ geprägt ist. Nochimmer werden in China romtreue Katholiken und An-hänger protestantischer Hauskirchen vielfach gezwun-gen, ihren Glauben weitgehend im Untergrund zu leben,werden Prediger und Priester nicht registrierter Gemein-den schikaniert und inhaftiert. Erst vor zwei Wochenwurde ein über 80-jähriger Untergrundbischof erneut in-haftiert, der bereits 30 Jahre in chinesischen Gefängnis-sen verbracht hat. Dabei sind auch in dieser Menschen-rechtsfrage in der Volksrepublik China erhebliche regi-onale Unterschiede festzustellen. So herrscht in der ei-nen Region nahezu vollständige Freiheit für die An-hänger der verschiedensten Religionsgemeinschaften,während in anderen Regionen Religionsgemeinschaften,in Sonderheit die nichtregistrierten, Terror und Schika-nen erleiden müssen. Angesichts dieser Situation in China reicht es nichtaus, wenn in der Antwort der Bundesregierung lediglichfestgestellt wird, dass seitens der Volksrepublik Chinaoder auch Vietnams wenig Bereitschaft bestünde, Fra-gen der Religionsfreiheit ernsthaft zu erörtern, und dassden Botschaften der Kontakt zu nicht registrierten Reli-gionsgemeinschaften untersagt sei. Wir müssen nicht zu-letzt im Vorfeld der Sitzung der UN-Menschen-rechtskommission in Genf alles versuchen – wir werdenüber dieses Thema noch anhand anderer Anträge zu dis-kutieren haben – , um dem Thema Religionsfreiheit inChina zu größerem Gewicht zu verhelfen. Ich nenne ne-ben den genannten christlichen Gruppen auch die Mus-lime in Xinjiang, die Falun-Gong-Bewegung oder dieanhaltende Zerstörung der religiösen Kultur in Tibet.Sicherlich stimmt es, – davon ist in der Antwort dieRede, – dass der nichtstaatliche Druck auf Christenein wachsendes Problem ist. Auch 1999 – dies hat derzuständige UN-Sonderberichterstatter festgestellt – istein Anwachsen des religiösen Extremismus zu konsta-tieren. Zu nennen ist hier etwa ein militanter Hindu-Nationalismus, der seit der Regierungsübernahme derPartei BJP zu einem dramatischen Anstieg der Aus-schreitungen gegen christliche Kirchen in Indien geführthat. Dabei will ich die Bemühungen auch indischer Re-gierungsstellen, dieser Gewalt entgegenzutreten, oderinsbesondere die erfreulich klaren kritischen Worte inder indischen Presse im Hinblick auf diese Vorkomm-nisse nicht unerwähnt lassen. In der Antwort wird zu Recht festgestellt, dass religi-öse Konflikte häufig mit ethnischen und sozialen Kon-flikten verbunden sind. Sicherlich geht es im Sudan ganzzentral um den Konflikt zwischen dem arabisch gepräg-ten Norden und dem afrikanisch geprägten Süden, aberes sind eben auch entscheidende Kräfte in diesem Land,die nicht nur gegen die Christen im Süden, sondern etwaauch gegen für abtrünnig erklärte Muslime in den Nuba-Bergen einen „heiligen Krieg“ führen. In der Antwort wird gesagt, dass die gewalttätigenAuseinandersetzungen in Indonesien zwischen Christenund Muslimen, wie wir sie vor allem auf den Molukkenerleben, das Resultat einer „gestörten Balance“ zwischendiesen Bevölkerungsgruppen sind. Es muss aber aucherwähnt werden, dass diese Balance durch Jahrzehnteeiner unverantwortlichen Transmigrationspolitik der in-donesischen Machthaber zerstört wurde. Lauter werden-de Hasstiraden der Führer einer islamistischen Minder-Hermann Gröhe
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8303
heit müssen uns ebenso besorgt machen wie die vielfäl-tigen Schikanen, denen christliche Gemeinden ausge-setzt sind, wenn sie etwa versuchen, zerstörte Kirchenwieder aufzubauen.
Die Hoffnungen vieler Christen in Indonesien beruhennicht zuletzt auf dem muslimischen StaatspräsidentenWahid, der sich vielfach für ein gutes Miteinander derunterschiedlichen Religionen eingesetzt hat. Wenn wir mit großer Sorge ein Anwachsen der Dis-kriminierung und die Verfolgung von Christen in einerReihe islamisch geprägter Länder betrachten, dann gehtes nicht um eine fragwürdige Verallgemeinerung. Aber die Sorge um den Vorwurf, neue Feindbilder zuschaffen, darf auch nicht dazu führen, dass zu Verfol-gungstatbeständen in Afghanistan, in Saudi-Arabien oder in Pakistan nicht deutlicher Klartext gesprochenwird. Hier sehe ich weiteren Diskussionsbedarf. Sowirkt es aus meiner Sicht nahezu verharmlosend, wenndie Bundesregierung in ihrer Antwort meint, die nachtraditioneller Auslegung der Scharia Muslimen, dieChristen werden, drohende Todesstrafe stelle eine „eherhypothetische Gefahr“ dar, von Todesurteilen sei seitvielen Jahren nichts bekannt. Im Gegensatz dazu stellt der bereits erwähnte Son-derberichterstatter der Menschenrechtskommission derVereinten Nationen, Amor, der in der Antwort verschie-dentlich zitiert wird, fest, es komme… in den muslimischen Ländern in der Praxis rela-tiv häufig vor, dass Menschen hingerichtet werden,weil sie vom islamischen Glauben abgefallen sind.Bis heute sitzt der 30-jährige Ayub Masih in einempakistanischen Gefängnis, nachdem er im April 1998wegen angeblicher Beleidigung des Propheten Moham-med zum Tode verurteilt worden ist. Auch weitere To-desurteile der letzten Jahre, die in Pakistan unter ande-rem gegen ein 14-jähriges Kind wegen Blasphemie ver-kündet wurden, verbreiten Schrecken und Entsetzen un-ter der christlichen Minderheit in diesem Land, auchwenn die Urteile später aufgehoben wurden. 1994 fand man einen protestantischen Pastor in einemVorort Teherans ermordet auf, nachdem sein Todesurteilaufgrund internationalen Drucks zuvor aufgehoben under freigelassen worden war.Auch der familiäre und soziale Druck ist häufig lebensbedrohlich, ja tödlich. So wurde 1997 eine 22-jährige Pakistanerin von ihrem eigenen Bruder er-mordet, weil sie sich für den christlichen Glauben inte-ressierte. Für problematisch halte ich es, wenn in der Antwortder Bundesregierung zur Lage der Christen in den isla-mischen Ländern erklärt wird, „lediglich missionarischeAktivitäten“ würden „von den meisten islamischen Staa-ten“ – wie es weiter heißt – „konsequent unterbunden“;denn das Grundrecht auf Religionsfreiheit umfasst, wiees in Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte ausdrücklich heißt, … die Freiheit, seine Religion oder seine Weltan-schauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seineReligion oder seine Weltanschauung allein oder inGemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privatdurch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst und Be-achtung religiöser Bräuche zu bekunden.Mir erscheint auch ein deutliches Wort zur schwieri-gen Lage der Christen in der Türkei notwendig. Be-reits seit 1923 können keine neuen Kirchengebäude inder Türkei errichtet werden. Immer wieder wird kirchli-ches Eigentum enteignet, insbesondere das der arme-nisch-orthodoxen Kirche. 1998 war auch eine katholi-sche Gemeinde am Bosporus von einer größeren Grund-stücksenteignung betroffen. Die seit 1971 anhaltendeSchließung des griechisch-orthodoxen TheologischenSeminars und das erst 1997 erlassene Verbot, die arme-nische Sprache an die nachwachsende Generation wei-terzugeben, bedrohen die Existenz christlicher Religi-onsgemeinschaften in der Türkei.
Für uns ist es selbstverständlich, dass wir uns zumRecht der in Deutschland lebenden Muslime, auch derTürken und der deutschen Staatsangehörigen türkischerAbstammung auf Ausübung ihrer religiösen Bräuche be-kennen. Eine andere Große Anfrage der Unionsfraktionzielt hier auf weitere Verbesserungen in unserem Land.Aber wir erwarten auch, dass der Weihnachtsbotschaftvon Staatspräsident Demirel im vergangenen Jahr end-lich ein Ende der Diskriminierung von Christen in derTürkei folgt.
In der Antwort der Bundesregierung auf die letzteFrage heißt es: Es herrscht kein Mangel an Aufmerksamkeit fürdas Thema der Religionsfreiheit.Dem hat beispielsweise die Deutsche Evangelische Alli-anz ausdrücklich widersprochen. Auch die DeutscheKommission Justitia et Pax hat festgestellt, dass sich imHinblick auf die Lage der verfolgten Christen der Ein-druck verstärke, „dass sie in der internationalen Staaten-gemeinschaft keine ausreichende Lobby haben“.Wenn die Bundesregierung auf den vom US-Außenministerium jährlich veröffentlichten Bericht zurReligionsfreiheit hinweist, dann muss erwähnt werden,dass dieser Bericht erstmals im September 1999 erschienund das Resultat einer überparteilichen Initiative, des„International Religious Freedom Act“, im amerikani-schen Kongress war, die eine für unzureichend gehalte-ne öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema zumAnlass hatte. Ich hoffe, dass die Konsequenzen, die wir aus dengewonnenen Erkenntnissen ziehen und die wir diskutie-ren müssen, dazu beitragen werden, höhere Aufmerk-samkeit für dieses Thema zu erzielen, und dass sie dazubeitragen, den Einsatz für Religionsfreiheit und nicht zu-letzt für verfolgte Christinnen und Christen generell zuHermann Gröhe
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8304 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
einem Markenzeichen westlicher, vor allem deutscherMenschenrechtspolitik zu machen.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Kortmann von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wenn wir uns in dieser Debatte mitder Verfolgung von Christen befassen, dann tun wir diesin der tiefsten Überzeugung, dass wir auch 52 Jahrenach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärungder Menschenrechte vom Dezember 1948 weiterhingroße Anstrengungen unternehmen müssen, um allenMenschen gleiche und unveräußerliche Rechte zu garan-tieren und um für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden inder Welt einzutreten.Der Grundgedanke der Menschenrechtserklärungsetzt eine geschwisterliche Gleichheit voraus, die jegli-che Unterscheidung, etwa nach Rasse, Farbe, Ge-schlecht, Sprache, politischer oder sonstiger Überzeu-gung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Ge-burt oder sonstigem Status, generell verbietet; dazu ge-hört eben auch das Verbot jeglicher Unterscheidungnach der Religion. Das bedeutet, dass jede Religion dasRecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheithat. Das gilt für Christen und für Yeziden ebenso wie fürAleviten, Sikhs, die Zeugen Jehovas oder muslimischeAhmadis. Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich die Bundesre-gierung in gleicher Weise und mit gleicher Intensität fürdie Glaubensfreiheit aller Religionen, aller religiösenGruppen und für die Opfer religiöser Verfolgung undDiskriminierung unabhängig von ihrer religiösen Zuge-hörigkeit einsetzt; denn nur das Eintreten für weltweiteReligionsfreiheit und für Menschen aller Religionenverdient das Prädikat der Glaubwürdigkeit.
Religionsfreiheit umfasst die Freiheit, seine Religionoder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie dieFreiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung „al-lein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oderprivat durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst oderBeachtung religiöser Bräuche zu bekunden“. Das wissenwir.Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben nach Angabender Internationalen Gesellschaft für MenschenrechteMillionen von Menschen ihr Leben aus religiösen Grün-den verloren und zahlreiche Menschen wurden aus reli-giösen Gründen in Haft genommen, misshandelt, ver-trieben und verfolgt. Kollege Gröhe hat dafür sehr an-schauliche Beispiele benannt.Zahlen von jährlich aus Religionsgründen verfolgtenoder ermordeten Christen sind jedoch schwer verifizier-bar, wenn man sich nicht allein auf Schätzungen derDeutschen Evangelischen Allianz verlassen will – siesteht nicht jedem so nahe, wie Ihnen, Herr Gröhe –, zumal es sich oftmals um ein Bündel von politischen,ethnischen, sozialen und religiösen Gründen handelt,warum diese Menschen Opfer von Gewalt wurden.Christenverfolgung ist heute nämlich nicht mehr dieKonfrontation von Kirche mit einem heidnischen oderatheistischen Staat, sondern vorwiegend Folge des En-gagements von Christen, ihres Aufstehens gegen dieVerletzung von Menschenrechten. Christen treten fürMinderheiten ein, für Schwache und für Rechtlose, fürdiejenigen, deren Menschenrechte verletzt werden. Sietreten als Fürsprecher für Demokratie ein. Sie organisie-ren sich in Friedenskomitees oder in kirchlichen Men-schenrechtsprogrammen und setzen sich zusammen mitanderen für Verständigung und Versöhnung ein.Eines der vielen uns bekannten Beispiele für diesesEngagement war das Wirken des brasilianischen Bi-schofs Dom Helder Camara – er ist der Begründer der„Theologie der Befreiung“ –, der die christliche „Optionfür die Armen“ als Sinnbild einer sich dem Menschenzuwendenden Kirche, eines Christentums, das sich be-dingungslos an die Seite der arbeitenden Bevölkerungstellte, verstand und die produktive Spannung zwischender Verkündigung des Evangeliums und der politischenVerantwortung und der Lebenswirklichkeit von Christenin Lateinamerika hervorrief.Er sagte – ich zitiere wörtlich –:Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen siemich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum dieArmen nichts zu essen haben, dann schimpfen siemich einen Kommunisten.
Die Ursache für die Verfolgung von Menschen christli-chen Glaubens liegt darin, dass sie sich nicht mit gege-benen ungerechten Realitäten zufrieden geben, sonderndie System-, Zugangs- und Verteilungsfrage stellen.
Dennoch gibt es in Lateinamerika keine Verfolgungvon Christen, wie die Antwort der Bundesregierungrichtig wiedergibt und wie auch die evangelische Kir-che, die katholische Kirche, Misereor, Brot für die Weltund Justitia et Pax bestätigen. Auch in den mittel- undosteuropäischen Staaten und in den GUS-Staaten wä-re es nach Ansicht des katholischen Hilfswerks Renova-bis übertrieben, von einer Verfolgung von Christen odervon christlichen Kirchen zu sprechen. Sehr wohl benen-nen sie Behinderungen bei der Ausstellung von Arbeits-erlaubnissen für Priester in Belarus, benennen Schikanenbei der Visa-Erteilung und bei der Genehmigung vonAufenthaltserlaubnissen für ausländische Priester undOrdensleute in Russland. Hermann Gröhe
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8305
Anders verhält es sich dagegen beispielsweise in Ägypten. Die dortige koptische Kirche weist immerwieder auf ihre umfassende Diskriminierung hin. Vonder alarmierenden Menschenrechtssituation sind Chris-ten ebenso betroffen wie fundamentalistische islamischeGemeinschaften. Übergriffen auf koptische Christenwird nicht nachgegangen. Darauf müssen wir achten,das müssen wir anprangern. Wir müssen dafür sorgen,dass Instrumentarien entwickelt werden, die weitere Übergriffe zu verhindern suchen.
Ein ähnlich negatives Bild wird von der Situation derChristen in Afghanistan, Bangladesh, China, Myanmar,Pakistan oder Vietnam gezeichnet. Auch hier führen dieMenschenrechtsarbeit und die Demokratisierungsversu-che von Christen zu ihrer Diskriminierung. Der Kollege Hermann Gröhe ist insbesondere aufChina eingegangen. Ich teile seine Einschätzungen.Wenn ich in einer Pressemitteilung vom 18. Februar le-se, dass Chinanach Angaben seiner Regierung bei der Verbesse-rung der Menschenrechte keine westlichen Modelleübernehmenkann und seinen Weg nur von den eigenen Gegebenheitenaus suchen könne, dann mag das zwar deren Haltung richtig wiedergeben,aber die internationale Staatengemeinschaft kann dasnicht hinnehmen. Ein Punkt, den wir dabei kritisieren,ist die Christenverfolgung.
Die Antwort der Bundesregierung geht auf eine Viel-zahl von Länderbeispielen ein, deren – das möchte ichausdrücklich betonen – ausgewogene und sachliche Be-wertung sicherlich auch ein überzeugendes Beispiel fürihr Engagement in der Unterstützung der Religions-freiheit ist. Beide großen christlichen Kirchen inDeutschland haben diese Antwort der Bundesregierungausdrücklich gewürdigt. Aber – das sage ich zum Schluss auch – wir müssenAcht geben, dass wir nicht jede Form der Behinderung,der Diskriminierung und der unsachlichen Bewertungbereits als Verfolgung titulieren, Herr Gröhe. Der TitelIhrer Großen Anfrage intendiert etwas anderes als das,worauf auch Sie eben in Ihrem Beitrag eingegangensind. Deshalb sollten wir die einzelnen Schritte der Be-hinderung, Diskriminierung und Verfolgung sehr genaubetrachten, aber auch den Mut haben, sie sauber zu un-terscheiden, weil wir sonst nicht allen, die guten Willenssind, gerecht werden.
Da aber, wo Christen und Angehörige anderer Religi-onsgemeinschaften, unter – sei es staatlicher, sei es nichtstaatlicher – Verfolgung leiden, müssen wir alle uns zurVerfügung stehenden Instrumentarien einsetzen, um siezu schützen und den allgemeinen Menschenrechten zurWirkung zu verhelfen. Ich wünsche mir, dass die Bun-desregierung zukünftig dafür sorgt, dass das Bundesamtfür die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in dieLage versetzt wird, Zahlenmaterial zu veröffentlichen,damit wir auch hier dem Gedanken der Christenverfol-gung etwas differenzierter nachgehen können, zum Bei-spiel der Frage, wo Christen ausschließlich aufgrund ih-res Glaubens und nicht aufgrund ihrer menschenrechtli-chen Aktivitäten verfolgt werden.Herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nichtsicher, ob die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, die die heute zu behandelnde Große Anfragean die Bundesregierung formulierten, vorausgesehenhaben, dass ihre Anfrage eine über das Thema „Verfol-gung von Christen in aller Welt“ hinausführende parla-mentarische Diskussion provozieren würde. Es ist näm-lich ebenso richtig wie verständlich und war insofernauch abzusehen, dass die Bundesregierung in ihrer Ant-wort auf die Große Anfrage die in ihrer Macht stehendenMaßnahmen zum Schutz verfolgter Christen in allerWelt in den allgemeineren Zusammenhang ihrer Men-schenrechtspolitik stellen würde. Auch die Tatsache,dass unsere Gesellschaft eine christlich geprägte ist,kann seitens der offiziellen Politik nur um den Preis ei-nes krassen menschenrechtlichen Selbstwiderspruchsdazu führen, die Verfolgung von Christen in aller Weltan anderen, etwa höheren Maßstäben zu messen odernachdrücklicher zu bekämpfen als die ebenso schlimmeVerfolgung nicht christlicher Menschen.
Leitlinien der Menschenrechtspolitik sind dieGrundsätze der Universalität, Unteilbarkeit und Interde-pendenz der Menschenrechte, wie sie auch von derZweiten Weltmenschenrechtskonferenz der VereintenNationen in Wien 1993 formuliert und bekräftigt wur-den.
Minderheitenschutz und Freiheit der Religionsausübungsind zwei wesentliche Elemente der Menschenrechtspo-litik, aber eben zwei Elemente. Dass der Maßstab dabeider weltweite Schutz jeder Form der Religionsausübungund jeder Form der Gewährung der Rechte von Minder-Karin Kortmann
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8306 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
heiten sein muss, ist selbstverständlich und in denGrundsätzen der Universalität und Unteilbarkeit veran-kert. Deshalb spielen die Zahlen hinsichtlich der Verfol-gung von Christen für unsere Menschenrechtsdebatteauch nicht die entscheidende Rolle. Jegliche Form derVerfolgung von Menschen wegen ihrer Religion musskritisiert werden; stets muss mit geeigneten Maßnahmendagegen vorgegangen werden.
Lassen Sie uns aber nicht vergessen, dass es bei derVerfolgung von Religionsgemeinschaften oft um weitmehr als um die Unterdrückung religiöser Überzeugun-gen geht. Es handelt sich meist um eine komplexe Ver-schränkung von politischen, wirtschaftlichen und so-zialen Problemen. Wie richtigerweise in der Beantwor-tung der Großen Anfrage herausgestellt wird, sind zumBeispiel die Angriffe pro-indonesischer Milizen und desindonesischen Militärs auf die überwiegend christlicheBevölkerung Osttimors besonders im Jahr 1999 fast aus-schließlich als Auswirkung eines Unabhängigkeitskon-flikts und nicht eines in erster Linie religiösen Konflik-tes zu werten. Aber ich hätte von der Bundesregierungerhofft und erwartet, dass sie die Ergebnisse und Emp-fehlungen der unabhängigen Untersuchungskommissionder Vereinten Nationen auch in ihre Politik und in ihrProgramm übernommen hätte.
Gerade bei der Verfolgung von Christen in manchenTeilen der Dritten Welt sind religiöse Motive oft nur derVorwand für tiefsitzende, historisch begründete Ressen-timents gegen wirtschaftliche und soziale Privilegienmancher christlicher Minderheiten. Dies gilt für dieKopten in Ägypten ebenso wie für die Christen in Pakis-tan, China und Indien, um nur einige besonders eklatan-te Beispiele zu nennen. Traditionelle Animositäten undsoziale Spannungen sowie politische Akteure im Hinter-grund können sich so – das ergibt sich aus der Antwortder Bundesregierung – in vielen Ländern zu einer explo-siven Mischung verbinden. Aber richtigerweise kannman hier eben nicht darüber diskutieren, ob die Verfol-gung von Christen zugenommen hat; denn jede Formvon Verfolgung ist zu verurteilen. Vielmehr muss in ei-ner solchen Debatte die Gelegenheit genutzt werden, diedeutsche Menschenrechtspolitik insgesamt einer Wür-digung und kritischen Bewertung zu unterziehen.Menschenrechtspolitik ist notwendigerweise Politikaus Überzeugung. Sie ist auf normierte und als allge-meinverbindlich vereinbarte Wertüberzeugungen exis-tenziell angewiesen, mit denen nur um den Preis ihrerVernichtung nach Opportunitätsgesichtspunkten undZweckmäßigkeitserwägungen verfahren werden kann.Mit diesen der Menschenrechtspolitik zugrunde liegen-den Normen kann nicht im Stile des heutzutage so oftund viel gerühmten politischen Pragmatismus umgegan-gen werden.
Wie kaum eine andere Politik ist deshalb die Qualitätder Menschenrechtspolitik, die sich im Wesentlichenimmer auf den Umgang von Mehrheiten mit Minderhei-ten bezieht, von der Gradlinigkeit und Glaubwürdigkeitabhängig, mit der sie gegenüber anderen Staaten ebensowie im staatlichen Innenverhältnis vertreten und vollzo-gen wird.Unter diesem für die Güte der Menschenrechtspolitikentscheidenden Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit wei-sen die bei uns implizit und explizit vertretenen Konzep-te von Menschenrechts- oder Minderheitenpolitik mehroffene Flanken und verwundbare Stellen auf, als uns al-len lieb sein sollte. Das gilt zum einen für die minderhei-tenpolitischen Ansätze, die zwar nicht von den nament-lich genannten Verfassern der Großen Anfrage, aberdoch von einem nicht unmaßgeblichen Teil der durchdie CDU/CSU repräsentierten konservativen Politik inDeutschland vertreten wird. Es kommt ja nicht von un-gefähr, dass allein der Hinweis auf die Tatsache, dassunsere Gesellschaft in ethnischer, kultureller und somitauch weltanschaulicher Hinsicht eine plurale und offeneGesellschaft ist und nach dem Wollen unseres Grundge-setzes auch sein soll, in den Reihen der CDU, besondersaber der CSU immer noch heftige Reaktionen hervor-ruft.So wie gerade die von der Union vertretene Politikdes law and order als ein Produkt der Scheinheiligkeitentlarvt wurde, so wird auch die Glaubwürdigkeit dervon ihr vertretenen Minderheitenpolitik Schaden neh-men, wenn eine Mehrheit daran festhält, dass die seitvielen Jahren bei uns lebenden Menschen ausländischerHerkunft nichts weiter als geduldete Gäste seien.
Glaubwürdige Menschenrechtspolitik verlangt Kon-sistenz und Kohärenz; sie verlangt aktives Handeln, be-sonders, wenn die selbst gesteckten Maßstäbe vollmun-dig und anspruchsvoll sind.Die Bundesregierung hat verbal die Menschenrechtein den Mittelpunkt ihrer Politik zu Beginn dieser Legis-laturperiode gestellt.
Die Bilanz der bisherigen Taten sieht dagegen eher ma-ger aus.
Ich will hier gar nicht betonen, wie die haushaltsrechtli-chen Ansätze gerade für die Unterstützung derMenschenrechtskommissarin hinter dem gestelltenAnspruch zurückbleiben. Es fällt auch gar nicht so sehrins Gewicht, dass der längst überfällige Bericht zurSituation der Menschenrechte noch nicht vorliegt. Aberwenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf dieGroße Anfrage zu Recht darauf hinweist, dass sie denOpfern religiöser Verfolgung Schutz gewährt, gleichwelcher religiösen Gemeinschaft sie angehören, dannSabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8307
muss sie sich auch fragen lassen, warum sie minderjähri-gen, unbegleiteten Flüchtlingen aus anderen Ländernnicht auch diesen selbstverständlichen Schutz gewährt.Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, denVorbehalt zur Kinderkonvention aufzuheben, obwohlein einstimmiger Beschluss des Bundestages vom Sep-tember 1999 sie ausdrücklich dazu auffordert.
Auch das Versprechen in der Koalitionsvereinbarung,in Deutschland ein Institut zum Schutz der Menschen-rechte zu etablieren mit dem Ziel einer kritischen Be-gleitung der Menschenrechtspolitik im In- und Ausland,ist bisher nicht umgesetzt worden. Anscheinend wirddas Vorhaben, ein unabhängiges, regierungsfernes, vomParlament eingesetztes Institut einzurichten, von denKompetenzgelüsten verschiedener Ressorts demontiert.
Sprachlos ist die Bundesregierung geworden, wenn esum die unstreitigen Menschenrechtsverletzungen geradein Tschetschenien geht. Nicht einmal ein deutlichesWort der Unterstützung für die von der russischen Re-gierung schnöde abgewiesenen Hochkommissarin fürMenschenrechte war von der Regierung und von unse-rem Außenminister zu vernehmen.
Das friedliche Zusammenleben von Menschen unter-schiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Glaubenszu fördern muss – sie ist es ja auch – eine selbst gestellteAufgabe der Menschenrechtspolitik der Bundesregie-rung im Innern und nach außen sein. Es wird jetzt ver-sucht, den Scherbenhaufen im Kosovo im Sinne des avi-sierten multiethnischen Zusammenlebens und des Zu-sammenlebens von Menschen unterschiedlicher Her-kunft notdürftig zu kitten. Aber wir warten noch bis heu-te – dazu gab es schon eine Debatte – auf konkrete Tatenzur Umsetzung des dafür beschlossenen Stabilitätspaktesfür Südosteuropa.
Das alles zeigt, dass Ankündigungen und Erstellenvon Situationsberichten das eine sind – die Zielrichtungunterstützen wir in vielen Punkten –, dass aber der Voll-zug anderthalb Jahre, nachdem die Bundesregierung dieVerantwortung übernommen hat, noch auf sich wartenlässt.Lassen Sie mich zum Schluss noch die gestrige Ent-scheidung zur Zulassung von muslimischem Religi-onsunterricht in Berlin erwähnen. Dies ist eine amGrundsatz der Glaubens- und Religionsfreiheit orientier-te Entscheidung. Ich bedaure, dass der zuständige Sena-tor von sich aus nicht in der Lage war, diese Entschei-dung selbst zu treffen, und dass sie den Gerichtenüberlassen wurde.
Glaubwürdige Menschenrechtspolitik – ich glaube,dieser Punkt ist deutlich geworden – darf nicht den all-täglichen politischen Zwängen geopfert werden.Vielen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Köster-Loßack vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
legen! Ich finde es ausgesprochen wichtig, dass sich dieUnion mit der Verfolgung und Unterdrückung von Men-schen in vielen Ländern der Welt auseinandersetzt.Denn: Wenn Menschenrechte verletzt werden, wennMenschen an ihrer freien Religionsausübung gehindertwerden, wenn sie verfolgt oder ermordet werden, dannmüssen wir alle gemeinsam dagegen angehen.
Ob es sich dabei um Christen im Sudan, um Muslime inNigeria oder um Asylbewerber unterschiedlichen Glau-bens in der Bundesrepublik Deutschland handelt, istmeiner Meinung nach wirklich unerheblich.Damit komme ich zu meinem Hauptkritikpunkt ander Anfrage der Union. Bei den geschilderten Fällengeht es nicht um Christenverfolgungen im engeren Sin-ne, sondern es geht um religiös verbrämte Menschen-rechtsverletzungen. Es greift viel zu kurz, wenn mandie Menschenrechtsverletzungen an Christen in allerWelt als Christenverfolgungen bezeichnet. Dahintersteht in aller Regel eine Vielzahl von sozialen, wirt-schaftlichen, politischen und kulturellen Ursachen, dieeinen langen historischen Vorlauf haben. Betrachten wir zwei konkrete Beispiele:Wenn man sich die Situation in Indonesien verge-genwärtigt, so gibt es beispielsweise auf den Molukkenschwere Menschenrechtsverletzungen an Christen. De-ren Ursachen liegen allerdings nicht im christlichenGlauben der Verfolgten, sondern in der Auseinanderset-zung um Ressourcen. Muslime sind mindestens genausostark von Gewalt betroffen. Es wird hier die Religi-onszugehörigkeit instrumentalisiert, um Chaos und Hasszu säen.Die christlichen Dayak in Ost-Kamilantan werdenauch nicht in erster Linie ihres Glaubens wegen ausge-grenzt und diskriminiert. Sie gehören vielmehr zu denindigenen Völkern Indonesiens, die seit Jahrhundertenversuchen, ihr Überleben zu sichern. Hinter diesen Auseinandersetzungen steht immer derpolitische Wille, politische und wirtschaftliche Vorherr-schaft zu sichern, die durch das vom Kollegen Gröheschon erwähnte Transmigrationsprogramm der Suharto-Regierung etabliert wurde. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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8308 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
In einem anderen Erdteil, in Afrika, kommt es in Ägypten zurzeit zu heftigen Gewaltausbrüchen zwi-schen Muslimen und Christen. Bei gewaltsamen Ausei-nandersetzungen wurden Mitte Februar in Koschehmehrere Dutzend Menschen getötet, in der MehrzahlChristen. Der dortige Jesuitenpfarrer, Christiaan vanNispen, sagt allerdings eindeutig, dass als Ursache fürdiese Auseinandersetzungen und für die Verfolgung derGraben zwischen Armen und Reichen wesentlich wich-tiger sei als der Graben zwischen Muslimen und Chris-ten.
Diesen Zusammenhang betonen auch die Hilfswerkeder großen Kirchen in Deutschland sowie Menschen-rechtsorganisationen wie Watch Indonesia. Dies ist invielen Gesprächen zum Ausdruck gebracht worden. Ein Solidaritätsvorrang gegenüber Christinnen undChristen, wie er in der Anfrage zum Ausdruck kommt,widerspricht dem christlichen Glauben. Nach ihm sindalle Menschen gleich. Diesem Ansatz der Gleichwertig-keit folgen auch die christlichen Hilfswerke in ihrerentwicklungspolitischen Arbeit. Für mich geht es des-halb um die Solidarität mit den verfolgten und unter-drückten Menschen, unabhängig von ihrer Religionszu-gehörigkeit,
aber nicht darum, wie die Union schreibt: Angesichts der christlichen Prägung unserer politi-schen Kultur fühlen wir uns aber verfolgten Chris-ten in besonderer Weise verbunden und zur Solida-rität verpflichtet. Ich fühle mich allen Menschen in Not ohne Ansehen ih-rer Religionszugehörigkeit verbunden und bin ihnen ge-genüber in gleicher Weise zur Solidarität verpflichtet.
Wir müssen uns den komplexen Ursachen der Kon-flikte zuwenden und versuchen, mit allen politischenMöglichkeiten zur zivilen Konfliktprävention bzw. zurBeilegung der Auseinandersetzungen beizutragen. Wennwir aber den Ausbruch latenter Konflikte verhindernwollen, müssen wir nicht nur die Gesamtheit der Kon-fliktursachen in den Blick nehmen, sondern auch han-deln, bevor die Konflikte ausbrechen. Wir waren überalle diese Konflikte seit Jahrzehnten ausreichend infor-miert und haben immer zu spät gehandelt. Sollte einKonflikt gewaltsam werden, ist humanitäre Hilfe kurz-fristig und rechtzeitig zu leisten, bevor Hunderttausendevertrieben werden. Dies gilt für Menschen aller Glau-bensrichtungen. Langfristig müssen wir durch außen-und entwicklungspolitische Unterstützung an der Ursa-chenbekämpfung und gegen Gewalt, Vertreibung undUnterdrückung arbeiten. Hierbei haben wir im Aus-tausch mit anderen Ländern auch eine wichtige Rolle fürunsere Stiftungen und die Bildungsinstitutionen einzu-planen. Deutlich wird die Eindimensionalität im Herangehender Union, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in vie-len Ländern auch Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten,Anhänger kleinerer Religionsgemeinschaften und auchAtheisten von Gewalt und von langfristiger Ausgren-zung bedroht sind. Ist denn die Unterdrückung der Al-baner im Kosovo oder der Kurden in der Türkei wenigerschlimm als die der Christen in Nigeria?Man hätte natürlich auch fragen können, wie – bei-spielsweise im Kosovo – die Verfolgung islamischerMinderheiten durch orthodoxe Christen aussieht undumgekehrt. Es macht keinen Sinn, Menschenrechtsver-letzungen an Christen anzuprangern. Es muss die Ver-folgung aller Menschen im Auge behalten und in einerMenschenrechtspolitik ohne Ansehen des religiösenHintergrundes beachtet werden.
Dies hebt die meines Erachtens sehr sorgfältige unddifferenzierte Antwort der Bundesregierung auf dieGroße Anfrage deutlich hervor. Damit komme ich zumeinem zweiten Kritikpunkt:Die Anfrage der CDU/CSU erweckt den Eindruck,dass die Verfolgung von Christen schlimmer ist als dieVerfolgung von Menschen anderer Religionen. DieseSichtweise führt zwangsläufig dazu, dass wir uns imWesten über Christenverfolgungen empören, währendislamische Länder dem Westen die Diffamierung des Is-lam vorwerfen. Beides sind nicht haltbare Pauschalie-rungen.
Das Schlimmste, was wir tun können, wäre, im Sinnevon Huntington einen „clash of civilizations“, also einenKultur- oder Religionskampf, heraufzubeschwören, unddas nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch inDeutschland. In den Fragen 5 bis 9 der Unionsanfragewird die Situation von Christen in unterschiedlichenSystemen abgefragt. Nirgendwo werden allerdings dieMenschenrechtssituation in christlich geprägten Gesell-schaften, beispielweise in Nordirland, oder die Men-schenrechtsverletzungen durch Christen an Menschenanderen Glaubens thematisiert.Es geht doch in erster Linie darum, ein Klima der To-leranz zu schaffen und die Achtung der Menschenrechtepolitisch und gesellschaftlich durchzusetzen.
Dafür müssen wir uns international einsetzen. Die Bun-desregierung hat in ihrer Antwort dafür viele Beispielegenannt. Das müssen wir aber auch im eigenen Land machen,insbesondere gestützt durch Bildungs- und Ausbildungs-curricula. Wir haben viel zu wenig neue Entwicklungenin diesem Bereich. Genauso wie es international um dieDurchsetzung der Menschenrechte aller Menschen geht,Dr. Angelika Köster-Loßack
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8309
gelten auch national die Menschenrechte für alle Men-schen, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oderihres Glaubens. Die freie Religionsausübung steht hieran vorderer Stelle. Es ist wichtig, dass wir in der Beant-wortung der Großen Anfrage diesen Aspekt besondershervorgehoben sehen und uns nicht auf den eingeengtenBlickwinkel der Christenverfolgung beschränken.
Ein Klima des besseren Verstehens und der Toleranzkann durch besseres Wissen übereinander und durch ei-nen interreligiösen Dialog auf allen Ebenen hergestelltwerden. Diese gesellschaftliche Aufgabe, die eine derwichtigsten Aufträge der Enquete-Kommission „So ge-nannte Sekten und Psychogruppen“ war, müssen wirgemeinsam angehen. Dafür ist der ganze Tenor der Uni-onsanfrage aus meiner Sicht eher hinderlich.Meine Fraktion wird jedenfalls die Bundesregierungaktiv in ihrem Vorhaben unterstützen, den interreligiö-sen Dialog in unserem Land auf allen Ebenen einzurich-ten.Ich danke Ihnen.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hermann
Gröhe von der CDU/CSU das Wort.
Ich möchte zu dem
angesprochenen Punkt des Solidaritätsvorrangs und zu
dem Vorwurf, die Anfrage sei eine einseitige Verengung
auf eine religiöse Minderheit, etwas sagen.
Im Text der Großen Anfrage selbst steht das Be-
kenntnis zur Religionsfreiheit generell oben an. Die ers-
te verfolgte Gruppe, die ich in meiner heutigen Rede ge-
nannt habe, waren die Bahai. Es ist geradezu abwegig,
bei der Zuwendung zu einem Problem zu unterstellen,
darin liege die Missachtung eines anderen Problems.
Wenn wir im Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe in Sonderheit die Lage der Roma etwa
im Balkan diskutieren, dann ist es doch abwegig zu un-
terstellen, wir missachteten die Not anderer Minderhei-
ten, weil wir einem Thema eine besondere Aufmerk-
samkeit geben. Wir sprechen in der Anfrage selbstver-
ständlich – ich habe es bei Indonesien in Bezug auf die
Gewalt von beiden Seiten hier auch getan – auch die
Menschenrechtsverletzungen in christlich geprägten
Kulturen an; Stichwort: privilegierte Rechtsposition or-
thodoxer Kirchen gegenüber anderen Religionsgemein-
schaften. Die Unterstellung, dies sei einseitig, weise ich
zurück.
Wenn es darum geht, auch in unserem Land vorbild-
lich zu sein, so verweise ich darauf, dass ich in meiner
Rede erwähnt habe, dass wir darüber weiter diskutieren
werden. Wenn eine Große Anfrage der Unionsfraktion
auf die Situation hinweist, was wir in Deutschland an
Rechtsordnung ändern müssen, um religiöse Bräuche,
zum Beispiel von Muslimen in unserem Land, zu
ermöglichen, so kann keine Rede davon sein, dass wir
einseitig sind und einen Solidaritätsvorrang einräumen.
Es ist für uns selbstverständlich, dass wir uns für alle
einsetzen. Ich sage aber genauso deutlich, dass wir die
Aussage der Bundesregierung begrüßen, dass das
zivilgesellschaftliche Engagement einen besonderen
Schwerpunkt auch der Menschenrechtsarbeit der
Regierung bei verfolgten Christen beinhaltet.
Wenn ich mir noch eine Bemerkung dazu erlauben
darf, warum wir sagen, dass es da vielleicht Nachholbe-
darf gibt: Schauen Sie sich den gerade vorgelegten Men-
schenrechtsbericht der Europäischen Union an, die dür-
ren Worte, die dort zum Thema Religionsfreiheit gefun-
den werden. Dort wird zu Recht Antisemitismus in der
ehemaligen Sowjetunion beklagt und dort wird, eben-
falls zu Recht, die Situation der Bahai im Iran angespro-
chen, aber zum Thema Christenverfolgung keine Silbe!
Natürlich kann man bei komplexen Konflikten nicht sa-
gen, dass die betroffenen Menschen allein Opfer von
Religionsverfolgung seien. Dies findet in den kurzen
Texten, die zu einer Großen Anfrage gehören, bei uns
ausdrücklich Erwähnung. Aber es kann keine Frage sein,
dass von den ungefähr 2 Milliarden Christen dieser Welt
mindestens 200 Millionen in Ländern leben, in denen es
erhebliche Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit für
alle – ich habe hier die Muslime in Xinjiang genauso
erwähnt wie andere Gruppen – gibt. Insofern weise ich
den Vorwurf der Einseitigkeit zurück. Ich hätte mir ge-
wünscht, wir könnten in dieser wie in anderen Men-
schenrechtsfragen zu einem größeren Maß an Sachlich-
keit zurückkehren.
Wollen
Sie erwidern, Frau Köster-Loßack? – Bitte schön.
Rückfrage zu Ihrer Äußerung: Warum haben Sie die
Fragestellung in der Großen Anfrage nicht auf religiöse
Verfolgung in aller Welt bezogen, sondern nur auf die
Christen?
Die Fra-
ge kann jetzt nicht beantwortet werden; das ist nach der
Geschäftsordnung nicht möglich. Vielleicht kann aber
der nächste Redner der CDU/CSU die Frage beantwor-
ten.
Als nächster Redner hat der Kollegen Carsten Hübner
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! So schwerwiegend in Teilen derDr. Angelika Köster-Loßack
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8310 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Welt die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Chris-tinnen und Christen in jedem Einzelfall auch sind, sosehr begrüße ich von ganzem Herzen das Ergebnis derNachforschungen der Bundesregierung im Zusammen-hang mit der Großen Anfrage, dass es keine verifizier-baren Angaben über eine Zunahme der Verfolgung vonChristen gibt. Der gegenwärtige Zustand wird dadurchkeineswegs besser, aber es gibt eben keinen explizitfestzustellenden Negativtrend.Ich möchte das deswegen hier hervorheben, weil auchich, ähnlich wie die Bundesregierung, die Quelle der inder Anfrage angegebenen Zahl von 163 000 allein auf-grund ihres Glaubens getöteten Christen für wenig seriöshalte. Ich will das kurz begründen.Zunächst einmal gehört die Deutsche EvangelischeAllianz zum so genannten evangelikalen Spektrum derevangelischen Kirche, einem Spektrum, das man getrostauch als den rechten Flügel der evangelischen Kirchebezeichnen kann und zu dessen Wortwahl und Denk-strukturen so schöne Begrifflichkeiten wie „christlicheMärtyrer“ gehören. So hat etwa der Generalsekretär derKommission für Religionsfreiheit der Weltweiten Evan-gelischen Allianz, also des Dachverbandes, der finnischePastor Johan Candelin – übrigens unlängst Gast der in-ternationalen Konferenz „Verfolgte Christen heute“ derKonrad-Adenauer-Stiftung –, am 14. November bei ei-nem Gottesdienst im amerikanischen Minneapolis aufden folgenden, überaus interessanten Ausspruch vonKirchenvater Tertullian hingewiesen: „Das Blut derMärtyrer ist der Samen der Kirche.“Dieses Religions- und Kirchenverständnis ähnelt, wieSie zugeben müssen, durchaus dem extremistischerMoslems oder Hindus. Dabei ist zumindest nicht explizitausgeschlossen, dass man Märtyrer, also für den Glau-ben Gestorbene, als identitätsstiftend begreift – viel-leicht ein Grund dafür, warum sich die Zahlenangabenvon dieser Seite nur schwer verifizieren lassen, selbst fürderen Urheber.Hieß es bei der bereits erwähnten Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung am 28. Oktober letzten Jah-res von diesem Johan Candelin noch, niemand wisse,wie viele Christen ihren Glauben mit dem Leben bezahlthätten, befürchtete er bereits wenige Tage später, am14. November, es könnten 1999 rund 164 000 und damitseinen Angaben zufolge 3 000 mehr als im Vorjahr sein.Seine Organisation und der Text der Großen Anfragesprachen für 1998 aber von 163 000 ermordeten Chris-ten.Die Bundesregierung nun eruiert als Quelle für dieseZahl für das Gesamtjahr 1998 eine Veröffentlichung, diebereits Anfang 1998, im Januar, erschienen ist. Sie wer-den verstehen, dass mich das nachdenklich macht.Bei diesem Zahlenvergleich geht es nicht um Zynis-mus. Zynisch ist aus meiner Sicht vielmehr, wenn einezwielichtige Strömung innerhalb der evangelischen Kir-che versucht, auf den Zahlen ermordeter Christen ihrSüppchen zu kochen. Auf ein paar Tausend mehr oderweniger kommt es dann nämlich nicht mehr an. Zynischist auch, wenn man das Leiden dieser Menschen dazumissbraucht, einen radikalen Missionseifer zu legitimie-ren und eine Wagenburgmentalität zu befördern. Hierhalten schlicht die Falschen ihre Hand über die Opferextremistischer Religionsauslegung. Ich verstehe beim besten Willen nicht, Herr Gröhe –wir kennen uns ja von der Arbeit im Ausschuss –, wiesoSie und Ihre Fraktion gerade auf derartige Gruppen bzw.Informationsquellen zurückgreifen. Noch weniger ver-stehe ich, wieso Sie in Ihrem Anfragetext ganz in derLogik der Evangelikalen formulieren, die bedrängtenChristen fänden in der Staatengemeinschaft wegen ihrerGlaubenspraxis nur selten Anwälte ihrer Interessen; alssei der christlich geprägte Teil der Welt nicht derjenige,der derzeit ganz wesentlich die gesamte Bandbreite glo-baler Entwicklung zumindest maßgeblich mitbestimmt.Meine Damen und Herren, jeder Mensch, ob Christoder Moslem, schwarz oder weiß, der aufgrund seinerReligionszugehörigkeit oder Religionslosigkeit – auchdas gibt es, zum Beispiel in Indonesien – verfolgt wird,ist ein Verfolgter zu viel. Jedes individuelle Leid iststrikt zu verurteilen und öffentlich anzuprangern.
Da Sie hier die Christen nun schon als eine Gruppehervorgehoben haben, sage ich es auch in dieser Rich-tung ganz deutlich: Was in dieser Frage in den Staatendes ehemaligen Ostblocks an Menschenrechtsverletzun-gen passiert ist, ist nicht hinnehmbar und deutlich zuverurteilen,
ebenso deutlich wie das, was derzeit in unseren engenPartnerländern Indonesien, Pakistan, Saudi-Arabien oderder Türkei mit Duldung oder sogar auf Veranlassung desStaates geschieht. In Menschenrechtsfragen darf es nichtzweierlei Maß geben – auch nicht bei China, so attraktivdessen Markt einigen unter uns auch erscheinen mag.Die Religionsfreiheit ist ein Kernbestandteil der Men-schenrechte. Das Gleiche gilt selbstverständlich für dieBewertung nichtstaatlicher religiöser Extremisten zumBeispiel in Ägypten oder Algerien, wo jede und jeder –nicht zuletzt Christen, aber gerade auch Moslems, dieeiner islamistischen Auslegung des Koran nicht folgenwollen – aufgrund der dortigen Terroraktivitäten poten-zieller Verfolgung ausgesetzt sind. Dennoch warne ich davor, hinter Auseinandersetzun-gen zwischen Religionsgruppen per se substanzielle re-ligiöse Motive zu vermuten. Nicht selten ist die Religionnämlich allein die Folie, auf die von interessierten Krei-sen bewusst soziale, politische und gesellschaftlicheKonflikte projiziert werden, ähnlich wie das bei ver-schiedenen Ethnien häufig der Fall ist.
Indonesien, also die Vorfälle um die Molukken unddie Auseinandersetzungen in Aceh und auf Ambon, istCarsten Hübner
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dafür gegenwärtig ein wirklich schreckliches Beispiel;darauf ist heute schon mehrfach hingewiesen worden.Indonesien ist ein ganz konkretes Beispiel dafür, wietradierte oder längst überwunden geglaubte religiöseVorurteile und Feindschaften wieder mobilisiert werden,um soziale Konflikte zu kaschieren und die Machtstel-lung der Militärs zu zementieren. Wer hier an der Er-scheinungsebene hängen bleibt, kann nur falscheSchlüsse ziehen und falsch antworten. Ich möchte mit Blick auf Lateinamerika kurz auf ei-nen weiteren Punkt zu sprechen kommen, nämlich da-rauf, dass es gerade dort in der Vergangenheit, aber lei-der auch noch in der Gegenwart fast ausschließlichChristen sind, die Christen aufgrund ihres Religionsver-ständnisses verfolgen. Denken Sie etwa an El Salvador,wo diejenigen Christen, die es stets mit der Macht hiel-ten, diejenigen Christen verfolgen und ermorden ließen,die sich eher den Zehn Geboten, der Bergpredigt odergar der Vertreibung der Wechsler und Händler aus demTempel verpflichtet fühlten.
Selbst vor einem Bischof wurde da nicht Halt gemacht.Auch das ist in einem gewissen Sinne als Verfolgungvon Christen aufgrund ihrer Glaubenspraxis zu bezeich-nen.Meine Damen und Herren, jede Verletzung der Men-schenrechte – ob von Christen oder von Nichtchristen –ist eine zu viel, muss sanktioniert und letztlich überwun-den werden, selbstverständlich auch im Bereich der Re-ligionszugehörigkeit und -ausübung. Dazu gibt es in die-sem Hause sicher Einverständnis. Wovor ich aber war-nen möchte, ist, eine Parzellierung der Diskussion überdieses Problem zuzulassen, die es sicher ungewollt, aberdennoch möglich machen würde, dass daraus wiederumextremistische religiöse Kreise Profit schlagen. Wie zi-tierte doch gleich Pfarrer Candelin: „Das Blut der Mär-tyrer ist der Samen der Kirche.“ Na vielen Dank!
Als
nächster Redner hat der Kollege Reinhold Hemker von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen, liebe Kollegen! Ich danke den Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion ganz aus-drücklich für die Initiative, die Anlass für die heutigeDebatte ist. Zwar hätten auch nach meinem Verständnismanche Fragestellungen etwas anders aussehen können,aber in der Debatte hat sich bereits gezeigt, dass die dif-ferenzierte Stellungnahme der Bundesregierung das An-liegen der CDU/CSU-Fraktion sehr ernst genommen hat.Die Beantwortung der Fragen geht über den von denFragestellern ursprünglich offenbar angedachten Rah-men hinaus. Das hat die Debatte eindeutig gezeigt unddas ist auch gut so. Nach meinem Verständnis wird eines deutlich: Hinterreligiösen Auseinandersetzungen liegen immer wiederKonflikte, die etwas mit der sozialen, der wirtschaftli-chen, der kulturellen und der politischen Situation imjeweiligen Land bzw. in der jeweiligen Region zu tunhaben. Wer sich ein wenig in der Arbeit des Weltkir-chenrates und seiner Mitgliedskirchen in den letzten Jah-ren auskennt, weiß: Die Kirchen – unabhängig davon,ob sie sich in einer Mehrheits- oder einer Minderheitssi-tuation in der Gesellschaft befinden – haben sich in ihrerMehrheit immer um den weltlichen Teil ihrer religiö-sen – in diesem Fall ihrer christlichen – Botschaftgekümmert. Das galt auch – und gilt weitestgehendimmer noch – für die große katholische Kirche, woraufdie Kollegin Karin Kortmann in besonderer Art undWeise hingewiesen hat.Die Kirchen haben sich immer wieder eingemischt,wenn es um die Verletzung elementarer Menschenrechteging und um die Unterdrückung und Ausbeutung derverarmten Massen im jeweiligen Staat, insbesondere inden Entwicklungsländern. Dafür haben wir von der poli-tischen Seite aus ein herzliches Dankeschön zu sagen.
Dies hat in der Vergangenheit immer wieder dazu ge-führt, dass sich die jeweils Herrschenden gegen Reprä-sentanten der christlichen Glaubensgemeinschaften ge-wandt haben. Ich erinnere aber auch daran, dass Verfolgung enga-gierter Christen nicht nur von Andersgläubigen oder vonKommunisten organisiert wurde und wird – wie es zumBeispiel auch im Kontext der Großen Anfrage, bezogenauf die Muslime, zum Ausdruck kommt –, sondern auchvon „christlich“ orientierten Kirchen, wie zum Beispielnoch in der letzten Zeit im damals rassistischen Südafri-ka. Dort wurde theologisch begründet, dass Schwarze –im Übrigen in der Mehrheit christliche Glaubensbrüderund -schwestern – Menschen zweiter Klasse seien. Indiesem Zusammenhang hat es dann eben Verfolgung,Gewalt und Mord gegeben, christlich begründet undstaatlich abgesichert. Das ist das eigentlich Schlimme aneiner solchen Situation. Ich danke insbesondere auch derKollegin Angelika Köster-Loßack für die anderen Bei-spiele, die sie in diesem Zusammenhang genannt hat.Das ist wichtig, wenn wir in einer solchen Debatte alsChristen darüber reden. Auch verweise ich darauf, dass unterschiedliche In-terpretationen der christlichen Grundlagen – der bibli-schen Grundlagen im Alten und Neuen Testament undder christlichen Tradition in Lehrschriften, Dogmen undSynodenbeschlüssen – zu Konfliktpotenzialen zwi-schen christlichen Gruppen geführt haben und welt-weit auch heute noch führen, auch in Europa.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stellung derverschiedenen christlichen Kirchen in Indonesien ge-genüber dem Suharto-Regime war dafür in neuerer Zeitwieder ein klassisches Beispiel. Die Kirchen gerietenund geraten – nicht nur in Indonesien – vor allem da-durch in Konflikte mit Angehörigen anderer Religions-gemeinschaften und besonders den politisch Mächtigen,dass sie die Option für die Armen ernst nehmen. Hat-ten sie sich in den zurückliegenden Jahren darauf kon-Carsten Hübner
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8312 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
zentriert – das gilt nicht nur für Indonesien, sondernauch für viele andere Entwicklungsländer; ich betonedas noch einmal –, Krankenhäuser und Schulen zu bau-en und zu erhalten, ist heute die gesellschaftspolitischeDimension kirchlichen Handelns stärker im Blick. ImGrunde geht es dabei immer wieder um das alte Staat-Kirche-Verhältnis, wie wir es ja auch aus der Zeit derNS-Diktatur kennen. Dort, wo sich Christen an Reformbewegungen imBereich der Menschenrechte, des Schutzes von Minder-heiten, der Demokratisierung, des Aufbaus von Sozial-systemen, an Landreformen usw. beteiligen – immerauch im Blick auf die christlichen Grundlagen –, geratensie in Widerspruch zu den jeweils Herrschenden. Siestören im wahrsten Sinne des Wortes die von den Herr-schenden gewünschte Ruhe und Ordnung, insbesonderedann, wenn die Herrschenden im Bereich ihrer Weltan-schauung eine fundamentalistische Orientierung haben. Es ist allerdings falsch, wenn bestimmte Kreise, dieselbst eine fundamentalistische Orientierung haben –wie zum Beispiel diejenigen, die sich als Deutsche Evangelische Allianz bezeichnen und über ihren Nach-richtendienst IDEA auch entsprechende Nachrichtenfördern –, tendenziell die Meinung vertreten, dass dieAnhänger des Islam nun grundsätzlich intoleranter seienund von daher Christen verfolgten. Es gibt, insbesondere in Afrika, aber auch in asiati-schen Ländern, viele Beispiele dafür, dass die Anhängerverschiedener Weltregionen alle sehr tolerant miteinan-der umgehen und friedlich in einem Staatssystem zu-sammen leben. Wer zum Beispiel einmal auf Mauritiuswar, wird begeistert sein von dem bunten kulturellenGemisch aller Menschen, die sich irgendwann auf die-sem Inselparadies niedergelassen haben.Ich verweise auch darauf, dass die kirchlichen Orga-nisationen, die im Bereich der Entwicklungszusam-menarbeit tätig sind, unabhängig davon, welche religiö-se oder weltanschauliche Orientierung ihre Zielgruppenhaben, die in der Antwort der Bundesregierung genann-ten Grundsätze bei ihrer Arbeit anwenden. Es wird beider Absprache über Projekte und Programme nicht da-nach gefragt, welcher Glaubensgemeinschaft die Men-schen angehören, die sich zum Beispiel in einzelnen un-abhängigen Nichtregierungsorganisationen organisieren.Sie handeln nach dem Grundsatz: Gott ist ein Gott füralle – oder für keinen. Die Zusammenarbeit der kirchlichen Organisation derEntwicklungszusammenarbeit – das gilt übrigens nichtnur für die deutschen – mit den nationalen Christenrätenin Asien, Afrika und Lateinamerika, wenn man so will,den Koordinationsgremien der Kirchen in den jeweili-gen Partnerländern, ist in der Regel vorbildlich. Es wer-den zum Beispiel in den von der EKD als schwierig ein-gestuften Ländern Indonesien, Indien und Pakistan stän-dige Konsultationen durchgeführt, immer in enger Zu-sammenarbeit und Absprache mit den deutschen Vertre-tungen in den genannten Ländern. Auch dabei wird im-mer wieder deutlich: Jede Form fundamentalistisch ori-entierter und in manchen Bereichen sogar militanterMissionsarbeit führt zwangsläufig zu Konflikten, diedann immer wieder in Gewalt ausarten.Noch ein Gedanke zum Schluss: Wir sollten alsChristen ganz vorsichtig sein, wenn wir uns kritisch ge-genüber Verfolgungen äußern. Denn die Geschichte derKirchen und derjenigen, die sich in ihnen als Christenbezeichnet haben, ist voll von Gewaltanwendung, Krieg,Unterdrückung und Unterwerfung, ja Ausbeutung gan-zer Völker. Angesagt ist nicht zuletzt auch eine kritischeReflexion darüber, was in der Vergangenheit angerichtetwurde und was heute noch Grundlage für viele Konflik-te ist, wenn ich nur an die willkürlichen Grenzziehungender Berliner Beschlüsse aus dem Jahre 1884 denke.Eine auch im neutestamentlichen Sinne verstandenePolitik der Versöhnung im nationalen wie im internati-onalen Rahmen ist angesagt. Menschen wie NelsonMandela und vielleicht auch der jetzt gerade durch dieWahlergebnisse auf seinem Reformweg, in seiner Arbeitbestätigte iranische Staatspräsident Chatami – ich nennebewusst zwei Persönlichkeiten aus verschiedenen religiös-kulturell geprägten Lagern – sind Vorbild füreine gegen falschen Fundamentalismus im religiösenund politischen Bereich gerichtete Reformpolitik. Ichwünschte mir viele solche Vorbilder weltweit.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt auf, dass die-se im Sinne konstruktiv-kritischer Dialoge in diesem Be-reich tätig ist. Ich gehe davon aus, dass die Vertreter derBundesregierung, wenn sie bei bilateralen Verhandlun-gen oder bei internationalen Konferenzen über „goodgovernance“ reden, alle heute hier debattierten Aspekteberücksichtigen.Im Übrigen – das sage ich auch als engagiertes Mit-glied einer der großen Kirchen – heißt „Evangelium“,das von allen Christen dieser Welt vertreten wird, gute,frohe Botschaft. Vielleicht hilft ja auch die heutige De-batte dabei, dies etwas mehr zu verdeutlichen, und si-gnalisiert das gute Anliegen auch gegenüber den Vertre-tern anderer Religionen und Weltanschauungen.Vieles von dem, was als religiöse Gewalt erscheint,ist ein Ausdruck von Entwurzelung in einer Gesell-schaft, die aus den Fugen geraten zu sein scheint. Bei-spiele dafür sind heute schon etliche genannt worden.Der Weg aus der Gewalt zwischen Angehörigen ver-schiedener Religionsgemeinschaften in Asien – undnicht nur dort – ist ein Weg der Rückkehr zu den Wur-zeln des eigenen Glaubens und der Suche danach, wieGlaube dem eigenen Leben und dem Leben der Ge-meinschaft Sinn und Orientierung geben kann. DieDurchsetzung dieses Grundsatzes – damit schließe ich –würde denjenigen, die Verfolgungen jeder Art noch fürein Mittel der Politik halten, den Boden für ihre Schand-taten entziehen. Wenn wir heute dazu einen kleinen Bei-trag leisten, dann hat sich diese Debatte gelohnt.Herzlichen Dank.
Reinhold Hemker
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Das
Wort hat jetzt der Kollege Carl-Dieter Spranger von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ein Volk und ein Staat, wel-che die religiöse Toleranz und die Achtung der Men-schenrechte auf ihre Fahnen geschrieben haben, könnenmit der Frage der Verfolgung von Christen weltweitnicht zögerlich oder passiv umgehen.Deutschland und die Deutschen – das vergessen wirgelegentlich – sind über Jahrhunderte hinweg vomChristentum geprägt worden. Die Menschenrechte, zudenen sich unser Volk im Grundgesetz bekennt, sind imWesentlichen aus christlichem Gedankengut heraus ent-standen. Die Erfahrungen aus zwei Diktaturen haben unsden hohen Stellenwert dieser Rechte bewusst werdenlassen. Gerade deshalb muss es uns, die wir religiöseToleranz im Inneren beachten, ein besonderes Anliegensein, auf diese auch im Ausland zu drängen.
Auch deswegen habe ich 1991 als Entwicklungsministerdie Achtung der Menschenrechte zu einem der fünf Kri-terien gemacht, die seitdem Art und Umfang derEntwicklungszusammenarbeit bestimmen. Über Richtig-keit und Notwendigkeit der Verknüpfung deutscher Poli-tik mit der Achtung der Menschenrechte,der Achtungder Religionsfreiheit besteht heute große Übereinstim-mung in allen Fraktionen des Deutschen Bundestages.In ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion nennt die Bundesregierung zahlreiche Länder,vor allem Entwicklungsländer, mit vielen unterschied-lich schweren Verletzungen der Religionsfreiheit undder Verfolgung von Christen. Das zeigt, wie notwendiges war, durch eine solche Anfrage die Aufmerksamkeitder Öffentlichkeit auf diese weltweite, vielerorts tabui-sierte Lage der Christen zu lenken. Öffentliche Auf-merksamkeit für dieses Thema zu wecken und Verlet-zungen der Religionsfreiheit weltweit entgegenzuwir-ken, das ist eine Aufgabe nicht nur der Politik, sondernaller gesellschaftlichen Kräfte. Dieser Aufgabe stellen sich seit vielen Jahren ingroßartiger Weise unsere Kirchen, ihre Entwicklungs-dienste ebenso wie die Stiftungen der Parteien, die derAchtung der Menschenrechte in zahlreichen Projektenständig wachsende Bedeutung eingeräumt haben. Regie-rung und Parlament sollten die zukünftige finanzielleAusstattung der Stiftungen auch an der Bedeutung dieserAufgabe messen.
Ich möchte auch meinen großen Respekt und meineHochachtung vor vielen Repräsentanten der Kirchen imAusland zum Ausdruck bringen, die mit Mut und Stand-festigkeit in ihren Ländern der Verletzung von Men-schenrechten entgegentreten und für Religionsfreiheiteintreten. Wir alle schulden ihnen tatkräftige Unterstüt-zung.
Die Bundesregierung scheint mir in ihrer Antwort dieGefährdung der Glaubensfreiheit in islamischen Staatenzu verharmlosen, wenn sie meint, dass von den meistenislamischen Staaten lediglich missionarische Aktivitätenkonsequent unterbunden würden. Zum Wesen des christ-lichen Glaubens gehört es nämlich, diesen auch in derÖffentlichkeit bekennen zu dürfen und andere Menschenzum Glauben an Jesus Christus einzuladen. Solange –wo auch immer – dies nicht ohne Androhung von Sank-tionen möglich ist, geht es nicht um eine hinnehmbareEinschränkung der Glaubensfreiheit, sondern um eineelementare Beschränkung der Glaubensfreiheit derChristen. Nicht die Freiheit der Religionszugehörigkeit,sondern die Freiheit der Religionsausübung, die ihrenGipfel in der angstfreien Möglichkeit auch zum Religi-onswechsel haben muss, ist entscheidend. In Gesell-schaften und Staaten, in denen diese Freiheit nicht be-steht, kann und darf nicht davon ausgegangen werden,dass tatsächliche Religionsfreiheit gegeben wäre.
Die kritischen Darlegungen der Behandlung christli-cher Minderheiten in der Türkei werfen nach der Debat-te der letzten Wochen sowie nach den Beschlüssen derEU in Helsinki die Frage auf, wie eigentlich unter die-sem Aspekt die Anerkennung der Türkei als Beitritts-kandidat zur EU zu rechtfertigen ist. Während man ge-gen Österreich einen so genannten europäischen Werte-katalog mobilisierte – den allerdings niemand kennt – istvon Ähnlichem gegenüber der Türkei nicht die Rede.
Das entbindet die Bundesregierung allerdings nicht vonder Pflicht, aus den von ihr selbst gescholtenen Miss-ständen in der Türkei notwendige Konsequenzen zu zie-hen. Die Türkei muss sich an diesen Fragen ganz beson-ders messen lassen.In diesem Zusammenhang darf noch einmal daran er-innert werden, dass sich die Türkei für den Völkermordan den Armeniern bis heute nicht entschuldigt hat unddiese auch heute noch benachteiligt.
Ich wünsche mir, dass der Deutsche Bundestag einesTages dem Beispiel der französischen National-versammlung folgt und die Türkei zu einem solchenSchritt auffordert.
Die Türkei ist jetzt zwar Beitrittskandidat zur Europäi-schen Union, doch ihre Innenpolitik ist der eines EU-Beitrittskandidaten unwürdig. Unbefriedigend ist die Antwort auf Frage 6, welchedie Verletzung von Religionsfreiheit in kommunisti-schen und sozialistischen Staaten betrifft. Es werdenzwar China und Vietnam genannt – Herr Kollege Gröhehat dazu schon Stellung genommen –, doch Nordkoreawird überhaupt nicht erwähnt, obwohl gerade in diesenTagen von massiver Christenverfolgung dort berichtet
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wird, bei der das Regime mit drakonischen Strafen undzum Teil öffentlichen Hinrichtungen gegen christlicheMissionare vorgeht, die von China aus in das abgeschot-tete Land reisen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kuba werdenverharmlost, wohl auch, um die Entscheidung der zu-ständigen Ministerin nicht zu diskreditieren, die offiziel-le Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba in nächsterZeit aufzunehmen.
Diese Entscheidung steht im Widerspruch zu den ele-mentaren Grundsätzen deutscher Entwicklungspolitik.Hier wird bewusst ein Gewaltregime gestärkt, von demsich zuletzt selbst eher kubafreundliche Staaten wie Me-xiko oder Brasilien zu distanzieren begannen.
Während die Finanz- und Personalausstattung desBMZ immer weiter abnimmt und die Zahl der Partner-länder des BMZ bis auf 50 heruntergefahren werdensoll, wird Kuba zulasten anderer Entwicklungsländer indie Entwicklungszusammenarbeit aufgenommen. Diesgeht vor allem zulasten von Ländern, die sich um dieReformierung ihrer internen Rahmenbedingungen be-müht haben und sich, im Gegensatz zu Kuba, keineMenschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommenlassen. Eine solche Politik ist ungerecht und falsch.
In Deutschland hat man gelegentlich den Eindruck,dass Toleranz gegenüber nicht christlichen Minderheiteneinen höheren moralischen Wert besitzt als Toleranz ge-genüber Christen. Wer aber unterschiedliche moralischeMaßstäbe anlegt, der entlarvt sich selbst. Wer eine Dop-pelmoral hat, hat keine Moral.
Gerade wir, denen die Menschenrechte so am Herzenliegen, müssen uns für Christen in aller Welt jetzt und inZukunft mit aller Entschiedenheit einsetzen.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Cem Özdemir vom Bündnis
90/Die Grünen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Als ich das The-ma der Großen Anfrage und der heutigen Debatte gele-sen habe, habe ich mich spontan um einen Debattenbei-trag bemüht. Es wird Sie vielleicht wundern, warum ge-rade ich hier spreche. Ich bin nachweislich nicht getauft,nicht konfirmiert und laut Geburtsurkunde Muslim.
– Danke, dass Sie die Hoffnung noch nicht aufgegebenhaben. – Es war mir als Mensch muslimischer Herkunft,der seinen Glauben wahrscheinlich so praktiziert wie –unter wenigen Ausnahmen – die meisten Taufschein-christen, ein besonders Anliegen, hier zu diesem Themazu reden.
Wenn wir vom Thema Christenverfolgung sprechen,reden wir über das Thema Fundamentalismus. Redetman über das Thema Fundamentalismus, liegt dasThema Islam sehr nahe. Wir setzen die beiden Begriffehäufig gleich. Ich glaube, wir sollten uns dringend hü-ten, eine Religion in irgendeiner Weise zu stigmatisierenoder eine Religion bzw. deren Anhänger in Gänze füreinzelne schlimme, nicht zu rechtfertigende Taten ver-antwortlich zu machen, die andere begangen haben.
Man darf nicht die Angehörigen einer Religion dafürganzheitlich in Haftung nehmen. Ich habe oft den Ein-druck, wenn ich Fernsehen schaue, manche Zeitungenlese oder Beiträge und Reden zum Thema Islam undFundamentalismus höre, dass jeder, der bei uns zwei oder drei Worte Arabisch kann, zum Islam-Expertengeworden ist, eine Sendung im Fernsehen erhält unddarin über „das Schwert des Islam“ und andere Dingeschwadronieren darf. Ich glaube, dass uns bei diesemThema etwas mehr Sachlichkeit gut tun würde.
Da wir gerade beim Thema Fundamentalismus sind:Mir fallen zum Fundamentalismus ganz unterschiedlicheDinge ein. Mir fällt beispielsweise ein, dass in Amerikain Kliniken, an denen Abtreibungen vorgenommen wer-den, Polizeibeamte unter Einsatz ihres Lebens Ärzte undKrankenschwestern vor Fanatikern schützen müssen, dieangeblich meinen – ich sage bewusst: angeblich –, imNamen des Christentums einer höheren Sache nachzu-gehen, indem sie Jagd auf Ärzte und Krankenschwesternmachen.
Mir fällt beispielsweise ein, wenn ich mir Südameri-ka, Lateinamerika und das südliche Afrika anschaue,dass dort evangelikale Christen mit ihrer Missionsarbeitzum Teil Verheerendes mit ihrer Missionsarbeit anrich-ten und damit übrigens auch das, was die katholischeKirche aufbaut, die Vorbildliches leistet, kaputtmachen.Sie richten zum Teil schreckliche Dinge an. Auch dasfällt mir zum Thema Fundamentalismus ein.Mir fällt, wenn ich nach Israel schaue, auch die Er-mordung des ehemaligen israelischen Ministerpräsiden-ten Rabin ein. Mir fällt beispielsweise das Attentat inder Moschee ein. Mir fällt zum Thema Fundamentalismus die Zerstö-rung der Moschee in Indien durch Hindu-Fanatiker ein.Mir fallen natürlich auch die schrecklichen Bilder ausAlgerien und aus Afghanistan ein, die wir immer wiederCarl-Dieter Spranger
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sehen müssen. Dort begehen die Taliban barbarischeMenschenrechtsverletzungen an Frauen, aber auch ananderen Menschen.Mir fallen auch die Bilder ein, die wir bisher aus demIran gekannt haben und die sich hoffentlich jetzt endlichändern – wobei ich nicht so optimistisch bin, dass ichsage, dass sich dort schnell etwas ändern wird. Meine Damen und Herren, wir sollten uns schon dieMühe machen, genau hinzuschauen. Mit welchen Waf-fen schießen denn die Taliban? – Manche haben es an-scheinend vergessen, dass es auch lange Zeit unsere Po-litik war, die Politik des Westens, die dazu geführt hat,dass gesagt wurde: Der Feind meines Feindes ist meinFreund. Und dabei ging es nicht um Menschenrechte,dabei ging es nicht um den Schutz von Christen. Es gingnicht um den Schutz von Minderheiten, sondern es gingdarum, dass der schnöde Mammon regiert hat, dass ei-gene wirtschaftliche Interessen dominiert haben, und esging darum, dass außenpolitische Erwägungen wichtigerwaren als Menschenrechte. Diesen Vorwurf müssen sichalle miteinander gefallen lassen. Es waren unsere ameri-kanischen Freunde, die beispielsweise in Afghanistanaus sehr durchsichtigen Interessen heraus die Talibanmit gestützt haben und deshalb Mitverantwortung für dieSituation tragen, die wir dort haben.
– Wir sind uns sicher darüber einig, dass in Tschetsche-nien schreckliche Menschenrechtsverletzungen passie-ren. Und ich würde mir wünschen, lieber Kollege, dasswir mehr Einfluss auf die Situation in Tschetschenienausüben könnten, um das schreckliche Treiben zu been-den. Lassen Sie uns bei dem Thema der Debatte bleiben.Wenn wir uns die Situation auf der arabischen Halbinselanschauen – sie ist einer der Herde der Menschenrechts-verletzungen an Christen, auch an Atheisten und ande-ren – , müssen wir fragen: Wie ist es denn dort? Ichkann mich noch ganz gut an den Golfkrieg erinnern, indem die Menschenrechte ein wichtiges Argument waren.Ich kann mich erinnern, dass wir der Frage der religiö-sen Toleranz und der Menschenrechte, den Werten, diewir hier doch gemeinsam vertreten, einen Bärendiensterwiesen haben, indem wir der islamischen Welt gezeigthaben, es geht nicht um Menschenrechte. Wir haben ei-nen Diktator unterstützt, um einen anderen Diktator zustürzen – Menschenrechte standen dabei nicht auf derTagesordnung.
Ich finde, es ist wichtig das zu erwähnen, wenn mansich über das Thema Menschenrechte für Christen un-terhält. Ich möchte, – weil ich nicht so viel Zeit habe, – nurnoch auf einen Punkt eingehen, – er wurde heute schonvon mehreren Debattenrednern angesprochen –: Ichglaube, wir tun den Menschen; die ihren Glauben prakti-zieren Unrecht, wenn wir sie dafür in Verantwortungnehmen, was häufig Menschen unseres Berufsstandes,Politikerinnen und Politiker, machen, indem sie nämlichdie Religion für ihre Zwecke missbrauchen. Sie miss-brauchen sie für den Machterhalt, um andere zu be-kämpfen oder um Oppositionelle oder Andersdenkendeauszuschalten.
Häufig sind es leider Ideologen, die die Religion aus-nutzen, um Massen zu mobilisieren. Dass es dabei vielereligiöse Funktionäre gibt, die sich gern missbrauchenlassen, muss ich hier nicht gesondert erwähnen. Auchdas ist leider eine schreckliche Realität. Umso wichtigerist es, dass wir denen, die sich in allen Weltreligionenfür den Dialog einsetzen – wie beispielsweise HerrKüng, der sich für den Weltethos einsetzt –, unsere Un-terstützung anbieten. Es geht darum, dass alle Weltreli-gionen das Gemeinsame entdecken, nämlich die Ach-tung vor der Schöpfung und die Achtung vor der Unver-letzlichkeit des menschlichen Lebens. All denen, die da-für arbeiten, muss unsere Solidarität gelten. Dass esMenschen, die sich für eine Reform im Islam einsetzen,besonders schwer haben, das wissen wir alle miteinan-der. Genau deshalb würde es uns gut zu Gesicht stehen,dass wir ihnen unsere ungeteilte Solidarität zuteil wer-den lassen. Denn wir brauchen sie, wir brauchen geradedie moderaten Kräfte innerhalb des Islam,
damit wir den Dialog der Religionen voranbringen kön-nen.Da wir über das Thema Fundamentalismus und reli-giöse Toleranz reden, möchte ich noch auf einen ande-ren Punkt eingehen. Ich glaube, das Schlüsselwort dieserDebatte ist das Wort „Respekt“. Respekt ist es, was wirbrauchen, wenn wir uns als Angehörige unterschiedli-cher Konfessionen und unterschiedlicher Religionen ge-genseitig begegnen. Ich denke, dazu gehört auch eineBetrachtung dessen, was in der Schule geleistet wird.Ich erinnere mich an meine Schulzeit – ich bin immer inDeutschland zur Schule gegangen – : Was habe ich dennüber die Kultur meiner Vorfahren gelernt?Irgendwann einmal kam mein Geschichtslehrer herein,holte tief Luft, schaute auf mich und sagte: Damals, dieTürken vor Wien, da haben wir Glück gehabt, dass dieJungs von Cem eins auf den Deckel bekommen haben,denn sonst wären die Jungen jetzt alle zwangsbeschnit-ten und die Mädchen müssten Kopftücher tragen. – AlleBlicke richteten sich auf mich. Ich ging nach Hause mitdem Gefühl, aus einer schlimmen, schrecklichen Kulturzu kommen. Jetzt will ich gar nicht sagen, dass dies nicht Teil derGeschichte ist. Zur Geschichte gehört auch, dass mandie schönen und die weniger schönen Dinge lernt. Dahermeine ich zur Allgemeinbildung gehört auch, dass wirunseren Kindern beibringen, was vor 500 Jahren in Spa-nien los war, als die Reconquista kam,
als dort das – sicherlich mit Abstrichen – tolerante Re-gime, in dem Christen, Juden und Muslime in relativerCem Özdemir
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Blüte gelebt haben, beendet wurde. Auch das gehörtzum Thema, genauso, wie es dazugehört, dass wir uns indiesem Jahrhundert anschauen, was in Bosnien passiertist. Wie lange haben wir gebraucht, bis wir den Völker-mord dort – das richte ich an alle, Adressen, auch anmeine Adresse und an die Adresse meiner Partei –, biswir diesen Spuk beenden konnten? Der Präsident signalisiert, dass ich zum Ende kom-men soll. Ich will auch mit einem Zitat schließen, west-östlich, wie es dieser Debatte vielleicht gut zu Gesichtsteht:Wenn der Mensch das Bedürfnis hat zu loben, dannfür die Vernunft, für das Wissen, für ein freundli-ches Wesen, für ein gutes Herz. Dummheit: DerDumme zeigt sich darin, dass er mit seiner Ab-stammung prahlt. Dieses Zitat stammt von Hazreti Ali, einem engen Weg-gefährten des Propheten Mohammed. Viele kennen ihnals den Begründer des Alevetismus. Das zweite Zitat ist ein westliches:Die Demokratie aufhalten wollen hieße gegen Gottselber kämpfen.Es stammt von Alexis de Tocqueville.
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Heiner Geißler von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann fastallem zustimmen, was über die allgemeine Situation derMenschenrechte auf der Welt gesagt worden ist. Ichkann aber nicht ganz verstehen, dass der Sinn der Gro-ßen Anfrage der CDU ins Zwielicht gezogen wird, undzwar offenbar mit der Unterstellung, die Verfolgung vonChristen sei meiner Fraktion ein wichtigeres Thema alsdie Verfolgung anderer Minderheiten auf dieser Welt.Ein solch absurdes Argument sollte hier nicht vorgetra-gen werden.
Wir haben hier im Parlament schon viele allgemeineMenschenrechtsdebatten gehabt, und man kann anhandder Christenverfolgung, die eben nicht bestritten werdenkann – auch nicht die spezifische Christenverfolgung,Frau Köster-Loßack, – sehr wohl darlegen, welcheDenkstrukturen und Kausalitäten ganz allgemein Men-schenrechtsverletzungen zugrunde liegen. Ich will ver-suchen, dies darzulegen. Ich finde, darüber sollten wireinmal einen Meinungsaustausch führen. Wenn hier der Eindruck erweckt werden sollte, alsgebe es spezifische Christenverfolgung nicht, dann treteich dem entgegen. Ein solcher Eindruck, dass also Men-schen auf dieser Welt nicht allein oder hauptsächlichdeshalb verfolgt würden, weil sie Christen sind, istfalsch und widerspricht den Realitäten. Ich hoffe, dassdies auch niemand so darlegen wollte. Wenn wir, soweitwir einer christlichen Religion angehören, über diesesThema reden, dann muss am Anfang ein Schuldbe-kenntnis stehen; denn im Namen des Christentums sindin den vergangenen Jahrhunderten schwere Menschen-rechtsverletzungen begangen worden.
Die Kreuzritter haben in Jerusalem ein Blutbad ange-richtet. Wie Zeitzeugen beschrieben haben, seien dieLeute im Blut der ermordeten Menschen gewatet. ImVorfeld dieser Kreuzzüge haben Leute wie Petrus vonAmiens, Walter Sans-Avoir und Emicho von Leiningenden Pöbel gegen die einheimischen Nichtchristen, zumBeispiel gegen die Juden, aufgehetzt. Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie imNamen Gottes und auch im Namen des Christentumsschwerste Menschenrechtsverletzungen begangen wor-den sind. Cem Özdemir hat auf die Situation in Spanien hinge-wiesen, wo wir wirklich ein friedliches multikulturellesZusammenleben zwischen Christen, Juden und Arabernhatten, das durch El Cid, die Gegenbewegung im 11.Jahrhundert, durch die christlichen Spanier völlig verän-dert worden ist. Große Teile der jüdischen und mauri-schen Bevölkerung haben damals das Land verlassen. Das Schicksal der europäischen Juden ist ein be-sonders trauriges Beispiel für eine Politik im Namen ei-ner falsch verstandenen religiösen Dominierung. IhreLage war gekennzeichnet von Abgrenzung und Selbst-behauptung, zwischen Resignation und Flucht sowie vonDuldung und Schutz durch Kaiser, König oder Landes-herr, verbunden mit Gettobildung, Sondersteuern undblutigen Pogromen. Am Ende stand der Völkermorddurch die Nationalsozialisten. Es ist völlig klar, dass wir dann, wenn wir über diesesThema reden, zunächst ein Schuldbekenntnis ablegenmüssen. Aber das darf uns heute nicht daran hindern,über die Situation von Millionen Menschen zu reden, diewegen ihres Glaubens und insbesondere auch wegen ih-rer Zugehörigkeit zur christlichen Religion verfolgtwerden. Darüber müssen wir gar nicht lange debattieren.Dafür sind genügend Beispiele aufgeführt worden. Re-den Sie einmal mit der Basler Mission und den Angehö-rigen der presbyterianischen Kirche im Sudan, die ichneulich besucht habe. Ich verwahre mich gegen alle Verharmlosungen, diehier angeführt worden sind. Natürlich gibt es immer eineVerzahnung von Argumenten, das ist klar. Johan Cande-lin, den Sie erwähnt haben, hat einmal gefragt: Worankann man feststellen, ab wann Christen verfolgt werden.Antwort: Christen sind dann verfolgt, wenn sie ihrenGlauben ablegen, die Religion der Mehrheit annehmenund sich ihre Lage dadurch verbessert. Wenn man diesals Maßstab für die Lage der Christen heranzieht, dannstellt man fest, dass es Christen in vielen Regionen die-ser Erde besser gehen würde, wenn sie ihren Glaubenablegten und eine andere Religion annehmen würden. Cem Özdemir
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Es handelt sich nicht immer um blutige Verfolgungund militärische Unterdrückung, sondern oft um einesubkutane, heimliche und schikanöse Verfolgung: Esgibt berufliche und bildungspolitische Nachteile. Sowird zum Beispiel der Besuch einer Elementarschulevon dem vorherigen Besuch eines Kindergartens abhän-gig gemacht. Unter dieser Voraussetzung akzeptiert mangerne Elementarschulen in christlicher Trägerschaft,weil man gleichzeitig festgelegt hat, dass Christen keineeigenen Kindergärten haben können. Damit haben sieauch keinen Zugang zu einer Elementarschule. Der Erz-bischof von Khartum hat mir das erklärt: ChristlicheKirchen dürfen keine Grundstücke besitzen. Folglichhabe ich das Grundstück selber gekauft. Aber dann istmir gesagt worden, auf einem Privatgrundstück dürfenkeine öffentlichen Institutionen errichtet werden. – Soläuft dies ab. Christen werden allein wegen ihres Glau-bens massiv behindert. Ich sage in diesem Zusammenhang auch: Wir dürfenuns nicht beschweren, dass die Katholiken im sudanesi-schen El-Obeid, wo es einen Bischofssitz gibt, ihr eige-nes Wort während des Gottesdienstes nicht mehr verste-hen können, weil die Lautsprecher der Moscheen auf dieKirche gerichtet sind, wenn wir gleichzeitig in Deutsch-land Theater machen, weil die zweitgrößte Religion inDeutschland, der Islam, ihre eigenen Gotteshäuser habenmöchte, und wir uns bedroht fühlen, wenn man nicht nurdie Glocken der Kirchen hört, sondern auch das Gebet,das ein Muezzin von einem Minarett herab spricht. Manmuss hier schon konsequent bleiben
und die Toleranz aufbringen, die notwendig ist, um einsolches Thema glaubwürdig zu behandeln. Warum gibt es Christenverfolgung? Das ist nachmeiner Auffassung eine wichtige Frage. Die christlicheReligion, insbesondere die katholische, aber auch dieevangelische, gerät naturgemäß wegen ihres universel-len Charakters in Konflikt mit allen nationalstaatlichen,homogenen Philosophien. Genau das erleben wir imMoment. Wenn man fragt, warum Christen verfolgtwerden, dann bekommt man als Hauptargument zurAntwort, die wachsende Zahl der Christen bedrohe dienationale Identität, auch die Mehrheitsreligion. Das istder Hauptgrund für die Auseinandersetzungen in einerganzen Reihe von Staaten dieser Erde. Christen tretenheute als Fürsprecher für Menschenrechte auf. Sie gera-ten zum Beispiel dann in Gegensatz zum Staat, CemÖzdemir, wenn eine Religion wie der Islam seineRechtsordnung mittels der Scharia zur Staatsordnungmacht. Das ist nicht allein das Ziel von Nichtregierungs-organisationen; vielmehr gibt es Staaten, in denen das soist, zum Beispiel im Sudan oder in anderen Staaten desIslams. Damit muss man sich auseinander setzen. Ausder Praktizierung der Scharia folgt unmittelbar eine Ver-folgung der Menschen ohne islamischen Glauben.Am meisten hat mich das gewundert, was Sie zu La-teinamerika gesagt haben. Überlegen Sie einmal: Diekatholische Kirche tritt massiv für die Rechte der Chia-pas ein. Wenn die katholische Kirche oder die evangeli-sche Kirche, die Rechte der unterdrückten, der armenBevölkerung, die Rechte der aufgrund ihres Verständ-nisses von christlicher Nächstenliebe ausgebeutetenMenschen artikuliert und sich aufgrund ihrer Glaubens-überzeugung gegen die Großgrundbesitzer – mögen siesich selber als Christen bezeichnen – auf die Seite derUnterdrückten stellt und in einer üblen Weise auch vonder mexikanischen Regierung verfolgt wird, dann nenneich das ganz selbstverständlich Christenverfolgung. Da-gegen müssen wir uns natürlich wehren. In Lateinameri-ka haben sich viele in der katholischen und in der evan-gelischen Kirche – ich erinnere an Helder Camara undviele andere – auf die Seite der Unterdrückten gestellt.Diejenigen, die von den Generälen und den Diktatorenbekämpft worden sind, sind insoweit selbstverständlichOpfer einer Christenverfolgung gewesen.Ich will einmal die Denkstrukturen aufzeigen, die ei-ner solchen Verfolgung zugrunde liegen. In China istdie Identifizierung des Staates mit der Aufgabe, dieMentalität der Menschen im Lande unter eine geistigeKontrolle – dem Verständnis der Mächtigen entspre-chend – zu bringen, ganz klar. Es kann keine zwei Son-nen am chinesischen Himmel geben – das ist die Auffas-sung der chinesischen Kommunisten. Infolgedessenkönnen staatlich nicht erlaubte Religionen keine Chancehaben.Aus all dem habe ich für mich selber ein Fazit gezo-gen – ich glaube, dass man es nachvollziehen kann – :Religiöser Fundamentalismus allein reicht als Begrün-dung für die Christenverfolgung oft nicht aus. Aber Na-tionalismus und religiöser Fundamentalismus habensich in vielen Gegenden der Welt zu einer unheiligenAllianz mit dem Ziel verschworen, Menschen nur des-wegen zu verfolgen, zu diskriminieren und zu töten,weil sie oft beides waren: Angehörige einer ethnischenMinderheit und auch einer anderen Religion. Sehr oft waren diese Menschen aber nur Angehörigeeiner Religion, die den Machtanspruch der Machthaberdurch den Universalitätsanspruch gefährdet hat. Die ser-bischen Kriegsverbrechen dieses und des letzten Jahr-hunderts sind nicht ohne die Identifikation der Serbenals Nation mit dem orthodoxen Christentum zu verste-hen. Das ist die andere Seite der Medaille.Es wird immer wieder behauptet, diese Konflikte sei-en unausweichlich; ich erinnere an das Buch von Hun-tington „Clash of Civilization“. Dies ist absolut falsch;vielmehr ist das Gegenteil richtig.
Es gibt auf der Erde genügend Beispiele dafür, dass dieAngehörigen unterschiedlicher Religionen und unter-schiedlicher Ethnien friedlich zusammenleben. Wirbrauchen als Konzeption, um diese Situation zu verän-dern – sie hat sich bereits verbessert: Die Anzahl derDemokratien ist größer geworden, es gibt heute mehrfreie Menschen auf der Erde als noch vor 100 Jahren – ,eine Weltfriedensordnung, in der die Menschen unab-hängig davon, ob sie katholisch, hinduistisch, evange-lisch oder muslimisch sind, friedlich zusammenlebenkönnen.Dr. Heiner Geißler
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Das zum Beispiel von Hans Küng formulierte Welt-ethos, in dem sich die verschiedenen Religionen findenkönnen – Sie, Cem Özdemir, haben es angesprochen –,ist als geistig-moralische Grundlage wirklich eine Hilfe.Die Beseitigung der Diskriminierung und die Durchset-zung der Menschenrechte unabhängig davon, welchemVolk, welcher Nation, welcher Rasse die Menschen an-gehören – sind die Grundstruktur einer neuen Weltfrie-densordnung, die wir anstreben müssen. Niemand sage mir, das sei eine Utopie, die niemalserreicht werden könne. Wenn wir vor zwölf Jahren inOstberlin, zum Beispiel in Berlin-Mitte oder in Prenz-lauer Berg, miteinander diskutiert hätten und jemand ge-sagt hätte, in elf Jahren werden die Tschechoslowakeiund Polen Mitglied der NATO sein, dann wären wir inOstberlin sofort verhaftet und in Westberlin in die Psy-chiatrie gebracht worden. Innerhalb von zehn Jahren istes Realität geworden, obwohl diese Länder damals nochMitglieder des Warschauer Paktes waren. Die Zukunft rückt näher. Die Zeit läuft so schnell ab,dass wir es uns gar nicht leisten können, noch lange dar-auf zu warten. An diesem Konzept einer Weltfriedens-ordnung muss auch eine deutsche Bundesregierung ar-beiten. Man darf vor allen Dingen ebenso wenig wie dieVerfolgung von Christen die Verletzung von Menschen-rechten akzeptieren. Man muss vielmehr, wenn zumBeispiel Geschäftsbeziehungen mit diesen Staaten ange-bahnt werden oder Minister dort auftauchen, die Frageder Menschenrechte, bevor das Wort D-Mark in denMund genommen wird, auf den Tisch des Hauses legen.So kommen wir in dieser Frage weiter.
Herr
Kollege Geißler!
Das gilt für die alte
Regierung,
aber genauso auch für die neue Regierung, die in dem
Punkt um kein Haar besser ist als die frühere.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Joachim Tap-
pe von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir haben in dieser De-batte das generelle Problem sehr umfassend gewürdigt.Deshalb möchte ich lediglich einen kleinen Ausschnittbeleuchten und einen regionalen Akzent setzen. Diesesmöchte ich zum Anlass nehmen, die Fragesteller um ei-ne noch differenziertere Betrachtung dieses sicherlichnicht kleinzuredenden Problems der weltweiten Chris-tenverfolgung zu bitten. Zugleich möchte ich die we-sentliche Quelle, die der Großen Anfrage zugrunde liegt,mit diesem Beispiel ein wenig kritisch hinterfragen.Ich kenne mich in Afrika ein bisschen aus und, weilin der Anfrage der Sudan – Kollege Geißler hat ja ebenmehrfach auf dieses Land hingewiesen – als ein afrika-nisches Beispiel für angebliche Christenverfolgung aus-drücklich genannt worden ist, will ich dieses BeispielSudan auch verwenden, um eine von den Medien stän-dig verbreitete Legende ein wenig zu relativieren. In-wieweit solche Relativierungen auch für andere Regio-nen, bezogen auf das Problem, notwendig sind, vermagich nicht zu beurteilen.Seit Jahren wird der Bürgerkrieg im Sudan in der Be-richterstattung als ein Kampf des Halbmonds gegen dasKreuz dargestellt: der muslimisch dominierte Nordenim missionarischen Krieg gegen den christlich-afrikanisch geprägten Süden. In diesem Zusammen-hang fällt oft auch der Begriff der Zwangsislamisierung.Diese Sichtweise ist nach meinen Erfahrungen – dieseEinschränkung will ich gerne machen – falsch und ver-stellt deswegen auch den Blick auf eine baldige und, wieich finde, auch mögliche Lösung dieses blutigen Kon-flikts, der seit 40 Jahren dieses Land nicht zur Ruhekommen lässt und allein seit 1983 mehr als 1 MillionenMenschenleben gefordert hat.Ich war im letzten Jahr zweimal im Sudan, nicht nurin Khartoum, sondern auch im so genannten christlichenSüden. Auch das ist, nebenbei gesagt, eine Legende.Ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dassauch im Südsudan nur etwa 20 Prozent der Menschensich zum christlichen Glauben bekennen. Ich war inWau, in Lunyaker und in Juba. Ich habe dort unter ande-rem Kirchen und Schulen besucht, mit politisch Verant-wortlichen, mit Geistlichen und Lehrern gesprochen, ebenso mit traditionellen Chiefs aus der Region und im-mer wieder übereinstimmend bestätigt bekommen, dasssie trotz der durch die Kriegssituation beklagenswertenUmstände doch relativ ungehindert arbeiten können. Wenn dennoch in der westlichen Berichterstattungdieser schreckliche und, wie ich finde, völlig überflüssi-ge Bürgerkrieg fast ausschließlich als religiös motivier-ter Konflikt dargestellt wird – an dieser Legende stricktauch so mancher hochrangige sudanesische Kirchen-mann nicht uneigennützig; häufig wird das mit Bildernvon gewaltsamen Abrissen illegal errichteter Behelfskir-chen in den Flüchtlingslagern am Rande Khartoums be-legt, – dann scheint mir diese Art der Berichterstattungeinseitig interessengeleitet und nicht zuletzt von derSPLM, einer wichtigen Konfliktpartei, unterstützungs-heischend in diesem machtpolitischen Pokerspiel in-strumentalisiert. Aus meiner Sicht ist der Sudankonfliktein für Afrika leider typischer ethnischer Konflikt, inden auch starke soziale und ökonomische Komponentenhineinspielen, die eine Folge der vorhandenen Unter-Dr. Heiner Geißler
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entwicklung der afrikanischen Bevölkerungsgruppengegenüber den arabisierten muslimischen Nordsudanernsind.Meine Gespräche mit sudanesischen Vertretern ausden Nuba-Bergen haben noch einen anderen Aspekt die-ses Konfliktes deutlich gemacht, nämlich das tief sitzen-de Misstrauen, gewachsen aus der über Jahrhunderte ge-nährten Erfahrung von und Angst vor Versklavung. Die-se Angst wird leider durch aktuelle Vorkommnisse ver-stärkt, weil immer wieder Massenentführungen und inbesonders schändlicher Weise Entführungen von Kin-dern vorkommen. Doch auch hier gilt es festzuhalten:Diese schlimmen Menschenrechtsverletzungen habenkeine originär religiöse Dimension. Ich möchte in die-sem Zusammenhang daran erinnern, dass die sich alschristlich verstehende Lord’s Resistance Army, eine ugandische Rebellenorganisation unter Führung von Joseph Kony, die von der muslimischen Regierung inKhartoum unterstützt wird, aus dem Südsudan heraus inNorduganda agiert, dort oft die Entführung ganzerSchulklassen als besonders abscheuliches Mittel derKriegführung anwendet und dabei nicht unterscheidet,ob es sich um christliche oder muslimische Kinder han-delt.
Dieser Hinweis auf die LRA soll nicht dazu dienen,die Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen in die-ser geschundenen Region gegenseitig aufzurechnen unddamit zu relativieren. Minderheiten haben es überallschwer, auch in unserem Land. In muslimisch geprägtenLändern, vor allem, wenn sie fundamentalistische Zügeaufweisen, trifft das besonders in Bezug auf christlicheGruppen zu. Aber im Sudan – das kann ich aus meinenvielfältigen Erfahrungen im Wesentlichen auch für dengesamten schwarzafrikanischen Bereich sagen – gibt eskeine organisierte oder geduldete Christenverfolgungin der Weise, dass Menschen nur deshalb umgebrachtwerden, weil sie sich zum Christentum bekennen. Dasses im Sudan auch Übergriffe fanatischer Gruppen undEinzelpersonen gibt, will ich dabei nicht in Abrede stel-len.Gestatten Sie mir zum Schluss, dass ich noch eineThese zur aktuellen Situation im Sudan äußere, weil diesein Beitrag zur Lösung bestimmter Probleme in diesemUmfeld sein könnte. Wenn die Amerikaner den Geistli-chen John Garang, den im sicheren Exil in Nairobi le-benden Chef der so genannten sudanesischen Volksbe-freiungsbewegung, der als Einziger der ehemals sechssüdsudanesischen Warlords noch aktiv ist, nicht massivmit Geld und Waffen unterstützten, dann wäre der vonallen Konfliktparteien im Sudan sehnlichst erwünschteFrieden längst Realität.Wir müssten dann zumindest für diesen Teil der Weltnicht über das Problem der Christenverfolgung diskutie-ren, sondern darüber, wie wir Europäer und wir Deut-sche unseren Beitrag zum Frieden und zur Entwicklungdes Sudan leisten können.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Norbert Blüm
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Lieber Kollege
Tappe, auch ich war im Sudan. Am 7. Februar sind über
den Nuba-Bergen Bomben abgeworfen worden; 14 Kin-
der wurden getötet. Man kann sagen, dass die Flieger
unregelmäßig fliegen, aber die Menschen regelmäßig
Angst haben. Da hilft kein diplomatisches Gerede: Das
ist ein Skandal. Der Deutsche Bundestag muss sich ge-
gen diese menschenverachtenden Methoden der Regie-
rung in Khartoum ohne Abstriche wenden.
Ich will außerdem noch sagen, dass für mich Men-
schenrechte immer konkret sind. Man sollte sie nicht in
abstrakte Kategorien zwängen. Ich muss ganz konkret
sagen, dass es unter den Verfolgten Christen gibt, mit
denen ich mich solidarisiere.
– Lassen Sie mich doch wenigstens ausreden! – Das
heißt nicht, dass ich andere im Stich lasse. Aber ich fin-
de den Grundsatz „Wenn ich nicht allen helfen kann,
dann helfe ich niemandem“ nicht richtig. Das Christen-
tum ist der Idee der Menschenrechte verpflichtet. Es ist
daher ein Gebot, sich für Bedrängte, auch für bedrängte
Christen, einzusetzen.
Man kann die Situation in wirtschaftlicher und ideo-
logischer Hinsicht kunstvoll analysieren. Ich stelle aber
fest: Im Moment gibt es einen menschenverachtenden
Fundamentalismus – den ich nicht mit dem Islam identi-
fiziere –, der auf dem Boden des Islam zum heiligen
Krieg auch im Sudan aufruft. Dieser Fundamentalismus
– noch einmal gesagt: ich identifiziere ihn nicht mit dem
Islam – hat der Welt nur mehr Fanatismus und mehr
Menschenverachtung gebracht.
Ich finde, wir sollten nicht so kunstvoll debattieren
und analysieren, wer alles was gemacht hat. 14 Kinder
sind tot; es wird im Sudan weiter gebombt. Meine Ant-
wort darauf ist: Keine Regierung, die das zulässt, kann
unsere Unterstützung haben.
Zur Er-
widerung, Herr Kollege Tappe, bitte schön.
Herr Kollege Blüm, ichstimme dem vollkommen zu, was Sie über die Vor-kommnisse im Sudan gesagt haben. Man muss aber soehrlich sein und sagen, dass dies auf beiden Seiten pas-siert. Auch John Garang und seine Helfershelfer bombenim Sudan. Dem müssen wir in dem Sinne, wie Sie es ge-sagt haben, mit aller Entschiedenheit begegnen.Joachim Tappe
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Ich möchte meine Erwiderung zum Anlass nehmen,eine Bitte an Sie und auch an den Kollegen Geißler zuäußern – Sie waren ja kürzlich im Sudan; KollegeSchuster und ich waren voriges Jahr dort –: Wäre esnicht sinnvoll, unsere Erfahrungen und Sichtweisen, diesicherlich unterschiedlich sein mögen, einmal miteinan-der abzustimmen und dies zum Anlass zu nehmen, dasssich der Deutsche Bundestag mit einem entsprechendenAntrag profiliert, in dem die Bundesregierung aufgefor-dert wird, im Sudan helfend tätig zu werden? Dies wärein unser aller Sinne.
Das
Wort hat jetzt der Staatsminister Christoph Zöpel.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat die Gro-ße Anfrage zur Verfolgung von Christen gern beantwor-tet. Es war gut, dass sie gestellt wurde. Der Beantwor-tung gingen die entsprechenden Recherchen in unserenBotschaften in den angesprochenen Ländern voraus.Diese sind insbesondere von den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern im Auswärtigen Amt sorgfältig ausgewertetworden. Sie und nicht der Bundesminister oder ich tunja diese praktische Arbeit. Wenn es Kritik gab, so war sie in manchen Punktenberechtigt, weil der Text auch nicht zu lang werdendurfte. Ein Hinweis zu Nordkorea: Die zitierten Vor-kommnisse sind nach Redaktionsschluss eingetreten undkonnten schon deshalb nicht berücksichtigt werden. Dashat nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung Nord-korea nicht für das zurzeit vielleicht problematischsteÜberbleibsel des Kommunismus hält. Ich möchte Ihnen eine Zusage geben: Wir werden alleReden sorgfältig lesen und Anmerkungen und Kritik-punkte dieser Art in ein Schreiben an den Bundestagaufnehmen, um hier zusätzliche Aufklärung zu leisten.
Die Bundesregierung hat auch ihre Grundposition zurChristenverfolgung, zur Religionsfreiheit von Christendargelegt. Diese Grundposition ist die Neutralitätgegenüber allen Weltanschauungen und Religionen.
Diese Neutralität ist nicht wertfrei. Ihr Wertbezug ist dieAufklärung. Das wurde am anspruchsvollsten formuliertvon Immanuel Kant, dem bedeutendsten Preußen, fürdiese Debatte am geeignetsten formuliert von GottholdEphraim Lessing in „Nathan der Weise“ und im20. Jahrhundert für mich am eindrucksvollsten for-muliert von einer polnischen Jüdin, die daraufhin vonmissgeleiteten Preußen einige Meter von hier entfernt inden Landwehrkanal geworfen wurde: Freiheit ist immerdie Freiheit des Andersdenkenden.
Dieser weltanschaulich neutrale Staat hat gegenüberder Religionsfreiheit zwei Verpflichtungen. Die erstebildet die Grundlage: Er selber darf niemanden um sei-ner Religion willen verfolgen. Das ist eine Selbstver-ständlichkeit. Es ist gut festzustellen, dass nach demNiedergang des Kommunismus – in Europa auf jedenFall, in anderen Teilen der Welt auch – Christenverfol-gungen in den entsprechenden Ländern nicht mehr statt-finden. Wir sollten nicht darüber diskutieren, dass dieseBundesregierung das für richtig hält. Weshalb Nordkorea in der Antwort nicht angespro-chen worden ist, habe ich bereits gesagt; China undVietnam haben wir in der Antwort erwähnt. Dass im Übergang vom Kommunismus zur Demokra-tie vor allem in Russland auch mit der Religionsfreiheitund den Menschenrechten noch nicht so umgegangenwird, wie wir es uns wünschen, wissen wir. Ich verurtei-le an dieser Stelle namens der Bundesregierung aus-drücklich Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche-nien. Das hat die Bundesregierung aber auch vorherschon ausreichend getan.
Herr Kollege Spranger, lassen Sie mich eine Bemer-kung zu Kuba machen. Gerade in dieser Debatte Kubazu diskutieren, ohne auch über Befreiungstheologie, über die Ermordung von Allende und über Pinochet zusprechen, ist einseitig.
– Dass ich Einseitigkeit konstatiere, veranlasst Sie zuengagierten Bemerkungen, ohne dass Sie abwarten, wasich noch sage: Das politische Modell Kubas ist nicht dasVorbild der Bundesregierung.
– In dieser Region ist es nicht das Vorbild. Damit IhrLachen wieder aufhört: Es wäre eher Costa Rica.
– Frau Kollegin, es ist sehr traurig, wenn man in einerDebatte über Toleranz nicht einmal so lange mit unan-gemessenen Zwischenrufen warten kann, bis das Ar-gument zu Ende geführt worden ist. Joachim Tappe
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Ich füge an dieser Stelle hinzu: Die Bundesregierungwünscht es sich, dass auch die Regierung Castro denMut aufbrächte, den die Sandinisten in Nicaragua auf-gebracht haben, und demokratisch wählen ließe.
Ich hoffe, jetzt klatschen auch Sie. – Ich bin zufälliggleich nach der Debatte mit dem kubanischen Botschaf-ter verabredet. Ich werde ihm dasselbe sagen. Ich hatte das Selbstverständnis des weltanschaulichneutralen Staates erwähnt, Religionen nicht zu verfol-gen. Dies reicht aber nicht aus. Der weltanschaulich neutrale Staat muss auch dafürsorgen, dass alle Religionen ihr Recht bekommen. Dasist die zweite größere Herausforderung. Hier liegt einesder Probleme der Staaten des westlichen und des sicherweiternden Europas mit den islamischen Staaten.Die im Hinblick auf die Religionsfreiheit zu führen-de Auseinandersetzung mit den meisten muslimischenStaaten muss zum Ziel haben, dass das Staatsverständnisin diesem Teil der Welt sich dahin entwickelt, dass alleReligionen geschützt werden. Es ist schon ein Problem,wenn sich islamische Staaten unter dieser von der Reli-gion bestimmten Bezeichnung zusammenschließen. Diesist auch – die kritischen Bemerkungen nehme ich sehrbewusst auf – eines der Probleme, die sich bei der Frageder Mitgliedschaft der Türkei in der Europäische Unionstellen. Der derzeitige Schutz anderer Religionen in derTürkei ist nicht gewährleistet.
Bereits bevor ich dieses Amt antrat, habe ich mich beiItalienbesuchen im Vatikan darüber informieren lassen,wie sich in islamischen Staaten christliche Religionenbetätigen können. Das, was ich über die Türkei gehörthabe, hat mich schon immer erschreckt. Die Türkei sel-ber will aber, dass wir ihre gesellschaftlichen Verhält-nisse anhand der Anforderungen prüfen, die mit demKandidatenstatus verbunden sind. Das haben wir aufge-nommen. Die Prüfung auch des Verhaltens der türki-schen Regierung hinsichtlich der Betätigungsmöglich-keiten der christlichen Religionen gehört zu den unab-dingbaren Kriterien, die in den Fortschrittsberichten derEuropäischen Union enthalten sein werden.
Das ist einer der Gründe, weshalb wir den Kandidaten-status wollten. Ich verspreche: So wie sich bisher dasVerhältnis der Türkei zu Griechenland gebessert hat, sowird auch die Prüfung durch die Europäische Union zueiner Verbesserung in dieser Hinsicht führen. Wenn diesnicht der Fall sein wird, brauchen wir über die Vollmit-gliedschaft nicht zu sprechen.
Ich bleibe bei den Ideen der Aufklärung als denLeitgedanken der Politik der Bundesregierung und geheauf Ihre Frage ein, ob es nicht einen Grund gibt, dasssich die deutsche Politik besonders um die Christen inaller Welt kümmert. Dies ist eine berechtigte Frage. Ichmöchte sie so beantworten: Sosehr es notwendig ist,dass der Staat Deutschland die von mir geschilderteweltanschauliche Neutralität beibehält, so berechtigt istes, dass sich im politischen System der BundesrepublikDeutschland unter Pluralitätsgesichtspunkten die Reprä-sentanten dieses Systems auch für die Menschenrechteder Christen oder – Herr Kollege Özdemir – der Musli-me einsetzen. Wir sollten diese Pluralität als Teil unse-res Systems verstehen. Die oben erwähnteTrennung soll-ten wir vornehmen. Das ist die Antwort auf ihre Frage.Ich mache dazu aber noch eine Bemerkung. Je mehrsich die christlichen Religionen seit dem Humanismusmit der Aufklärung verbunden haben, umso weniger ag-gressiv sind sie, umso toleranter sind sie. Leider ist eseine Tragik dieser Welt, dass hohe Toleranz auch dazuführen kann, dass man sich nicht mehr,wenn notwendig,verteidigt. Aus diesem Gedanken, dass christliche Reli-gionen mit der Aufklärung am stärksten verbunden sind,vermag ich ein besonderes Eintreten für die Christen inaller Welt auch seitens der Bundesregierung abzuleiten.
Religionen aber gehören in die Zivilgesellschaft. DieZivilgesellschaft muss vom Staat in der Weise einenRechtsrahmen bekommen, dass es auch innerhalb derZivilgesellschaft keine Übergriffe einer Religion gegendie andere oder einer Religion gegen Nichtgläubige gibt.Das ist ein weiteres Erfordernis staatlicher Politik in Be-zug auf die Religionsfreiheit. Hier ist auch ein entschie-dener Appell an die Religionen zu richten. Herr KollegeGeißler, Sie haben hinsichtlich der christlichen Religio-nen alles dazu gesagt. Ich könnte es annäherungsweisenicht so gut formulieren und übernehme diese Ausfüh-rungen zur Notwendigkeit der eigenen Toleranz christli-cher Religionen in den Zivilgesellschaften dieser Welt.Lassen Sie mich schließen und auf die kritischen Be-merkungen eingehen, dass die Politik der jeweiligenBundesregierung nicht immer dem entspricht, was inMenschenrechtsdebatten formuliert wird. Für mich gibtes seit langem eine klare Erkenntnis. Internationale Poli-tik hat drei Ziele: die Sicherheit vor militärischen An-griffen auf dieser Welt herzustellen, wirtschaftliche Be-ziehungen mit dem Ziel der Reichtumsvermehrung in al-ler Welt zu ermöglichen und die Menschenrechte zu si-chern. Dazwischen gibt es Zielkonflikte.
– Immer, das hat jede Regierung erfahren. – In unsererAntwort ist ein sehr praktischer Zielkonflikt aufgezeigt:Mit der indischen Regierung konnte im Rahmen desEntwicklungsdialogs nicht mehr über Religionsfreiheitdiskutiert werden, denn der Entwicklungsdialog wurdenicht mehr durchgeführt, weil die Inder Atomwaffen er-probt haben. Wenn Sie ein Ziel verabsolutieren, könnenStaatsminister Dr. Christoph Zöpel
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8322 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Sie immer Kritik üben. Verabsolutieren wir das Sicher-heitsziel, dann werden wir den Entwicklungsdialog ein-stellen, usw.Ich bitte alle, in Menschenrechtsfragen im Geiste derAufklärung so engagiert zu sein, wie die Regierung undauch ich persönlich es befürworten, dabei aber nicht zuvergessen, dass praktische internationale Politik sich indem genannten Zieldreieck bewegt. Keine Regierungwird eines der drei Ziele verabsolutieren wollen. Ich se-he auch niemanden in diesem Hause, der das wollte. Ander Stelle bitte ich um etwas Toleranz gegenüber derRegierung.Herzlichen Dank.
Ichschließe die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 e sowieZusatzpunkt 3 auf: 21. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung von Vorschriften über die Tä-tigkeit der Steuerberater
– Drucksache 14/2667 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Protokoll vom 9. September 1998zur Änderung des Europäischen Über-einkommens vom 5. Mai 1989 über dasgrenzüberschreitende Fernsehen – Drucksache 14/2681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Protokoll von 1996 zur Änderungdes Übereinkommens von 1976 über dieBeschränkung der Haftung für Seeforde-rungen– Drucksache 14/2696 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh-rungsgesetzes zu dem Protokoll von 1996zur Änderung des Übereinkommens von1976 über die Beschränkung der Haftungfür Seeforderungen– Drucksache 14/2697 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
– Drucksache 14/2444 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachtenVerfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Zivildienstver-
– Drucksache 14/2698 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sa-bine Jünger, Rosel Neuhäuser, ChristinaSchenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktionder PDS Ächtung der Gewalt in der Erziehungwirkungsvoll flankieren– Drucksache 14/2720 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen beschlossen.Tagesordnungspunkt 22 a ist abgesetzt. Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten22 b bis 22 j sowie zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 22 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Verwaltungskostengesetzes – Drucksache 14/639 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/2704 –Staatsminister Dr. Christoph Zöpel
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8323
Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Dr. Joseph Theodor Blank Cem Özdemir Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Petra PauDer Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache14/2704, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse nunüber den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache14/639 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. beiEnthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Tagesordnungspunkt 22 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Mai 1998 über Partnerschaft und Zusam-menarbeit zur Gründung einer Partnerschaftzwischen den Europäischen Gemeinschaftenund ihren Mitgliedstaaten einerseits und derRepublik Turkmenistan andererseits – Drucksache 14/1787 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 14/2626 – Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen Dr. Erika Schuchardt Dr. Helmut Lippelt Ulrich Irmer Dr. Dietmar BartschDer Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache14/2626, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf einstimmigangenommen worden.Tagesordnungspunkt 22 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, PetraPau und der Fraktion der PDS Keine Zurückweisung von Kosovo-Flücht-lingen an den Grenzen, die Erteilung von Visafür Familienangehörige sowie unbürokrati-sche Ausstellung von Reisedokumenten undAufnahme und Schutz von unbegleitetenFlüchtlinges- und Waisenkindern – Drucksachen 14/1182, 14/2526 – Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dietmar Schlee Marieluise Beck
Dr. Max Stadler Ulla JelpkeDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/1182 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSUund der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenom-men. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses. Tagesordnungspunkt 22 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 122 zu Petitionen – Drucksache 14/2710 – BeschlussfassungWer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Dann ist diese Sammelübersicht bei Ent-haltung der PDS und Zustimmung aller anderen Fraktio-nen angenommen. Tagesordnungspunkt 22 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 123 zu Petitionen – Drucksache 14/2711 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Sammelübersicht 123 ist bei glei-chem Stimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 22 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 124 zu Petitionen – Drucksache 14/2712 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Sammelübersicht ist einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 22 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 125 zu Petitionen – Drucksache 14/2713 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Sammelübersicht ist mit denVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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8324 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegendie Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 22 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 126 zu Petitionen – Drucksache 14/2714 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Sammelübersicht 126 ist bei Zu-stimmung aller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion, die dagegen gestimmt hat, angenommen.Tagesordnungspunkt 22 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 127 zu Petitionen – Drucksache 14/2715 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Sammelübersicht ist mit Zustim-mung aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS, die da-gegen gestimmt hat, angenommen.Zusatzpunkt 4: Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Rennwett- und Lotteriegesetzes – Drucksache 14/2271 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-nanzausschusses
– Drucksache 14/2762 – Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer Elke Wülfing Heidemarie Ehlert
– Drucksache 14/2798 – Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Werner Hoyer Dr. Uwe-Jens RösselIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmenaller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion, dieabgelehnt hat, angenommen.Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit mit Zustim-mung der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktionund der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses.Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 131 zu Petitionen – Drucksache 14/2790 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Sammelübersicht ist bei Zustim-mung aller Fraktionen bis auf die PDS–Fraktion, diesich der Stimme enthalten hat, angenommen.Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 132 zu Petitionen – Drucksache 14/2791 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Diese Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 133 zu Petitionen – Drucksache 14/2792 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Sammelübersicht ist bei Zustim-mung der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktiongegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und F.D.P.-Fraktion angenommen.Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 134 zu Petitionen – Drucksache 14/2793 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Sammelübersicht 134 ist bei Zu-stimmung der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion und gegen die Stim-men der PDS-Fraktion angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Vereinbarte Debatte zur DrogenpolitikVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8325
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebeich das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt für dieSPD-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin sehr froh darüber, dem Hause mittei-len zu können, dass wir gestern zu dem hier zur Debattestehenden Thema nach einem erfolgreichen Vermitt-lungsverfahren ein echtes Vermittlungsergebnis zu-stande gebracht haben.Dabei war besonders bemerkenswert, dass sich nachintensiven Kontakten auf allen Ebenen auf der Seite ei-niger CDU-geführter Bundesländer Bewegung gegen-über dem Zustand ergeben hat, den wir noch vor einigenTagen und Wochen zu registrieren hatten.
Störrisch, starrköpfig und in ihrem ideologischen Käfigfest verharrend zeigt sich leider nur die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Das können wir nicht hinnehmen.
Ich sage das deswegen, weil dies offensichtlich der neueStil der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu sein und auchzu werden scheint.
Das kann man möglicherweise auch daran erkennen,dass sich Herr Merz, der designierte neue Vorsitzende,eilfertig gleich als Erstes zu einem ersten Gespräch nachBayern begeben hat. Hier tönen uns auch in dieser De-batte zu diesem Thema manche bayerischen Klänge ent-gegen. Offensichtlich wird die CDU/CSU mehr, als wires bisher vermutet haben, aus Bayern ferngelenkt.
Davon könnte auch die Pressemitteilung des KollegenHüppe vom 22. Februar, also von vorgestern, ein gewis-ses Zeugnis ablegen, denn der Kollege Hüppe hatte nochvor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass die rot-grüne Bundesregierung den Versuch unternimmt – ichzitiere –, „im Vermittlungsausschuss einen nicht zu-stimmungspflichtigen Gesetzentwurf zu Fixerstubeneinzubringen, der jegliche Beteiligung der Bundesländerausschließt“. Er sagt weiter, dass damit zukünftig „jedebeliebige Drogenberatungsstelle einen Raum eröffnenkann, in dem jegliche Drogen geschnieft, gespritzt odergeraucht werden können“, und dass hinsichtlich der me-dizinischen Betreuung künftig auf der Seite der rot-grünen Bundesregierung keine Notwendigkeit mehr ge-sehen wird, eine besondere Genehmigung oder Prüfungvorzunehmen. „Keine Behörde wird mehr darauf Ein-fluss nehmen können, ob beispielsweise Minderjährige,Schwangere oder Methadon-Substituierte dort Drogenkonsumieren.“Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Hüppe – Sie sind jahier im Saal –: Sie haben nichts gelernt. Sie wollten indem Verfahren nicht zu einer erfolgreichen Vermittlungbeitragen und deswegen haben Sie sich auch sehr striktvon einem solchen Vermittlungsverfahren ausgeschlos-sen. Das ist zu rügen und nicht hinzunehmen.
Ich glaube, dass Sie sich mit der starren Art und Wei-se, wie Sie mit diesem Thema umgehen, selber entlar-ven. Sie wollen nicht den Menschen helfen, Sie wollennicht dafür sorgen, dass die Drogenpolitik in diesemLande besonnen auf einen neuen Weg geführt wird. Siewollen nicht dazu beitragen, dass die Länder und Kom-munen selbstständig Entscheidungen treffen können,wie sie in Frankfurt, in Saarbrücken und an anderer Stel-le offensichtlich so positiv verlaufen sind. Deswegenwollen wir dies hier auch deutlich machen und entlar-ven, dass dies Ihre Position ist, von der wir hoffen, dassSie sie wenigstens später irgendwann einmal verlassenkönnen. Im Vermittlungsverfahren hat die CDU/CSU-Fraktion dies leider nicht geschafft.Ich will aus meiner Sicht noch einmal darauf hinwei-sen, dass wir uns ganz bewusst in dem hier in Rede ste-henden Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungs-mittelgesetzes auf die Einrichtung solcher Drogenkon-sumräume – nun mag man sich über den Begriff strei-ten, aber er ist nun einmal gewählt worden – ganz spe-ziell auch deswegen verständigt haben, weil wir für dieEinrichtung solcher Drogenkonsumräume Mindeststan-dards gesetzt haben. Dabei geht es eben genau darum,das zu verhindern, was Sie uns fälschlicherweise – und,wie ich finde, vorsätzlich fahrlässig – unterstellen.
Wir machen ganz bewusst mit zehn Mindeststandardsin diesem Gesetzentwurf darauf aufmerksam, dass wirsowohl die Notfallversorgung als auch die medizinischeBetreuung, dass wir sehr wohl auch die Frage der Kri-minalisierung des Umfelds im Auge haben, und wir ge-währleisten auch durch direkte Kontakte mit der Polizeiund anderen, dass alles dies, was Sie da in die Welt ge-setzt haben, nicht entstehen kann. Von daher ist dies ein sehr besonnenes Verfahren.Wir wollen damit auch sicherstellen, dass die Ländernicht gezwungen werden, in dieser Weise vorzugehen,obwohl manche statistischen Ermittlungen und Erfah-rungen in der letzten Zeit sehr dafür sprechen. Wir ge-ben ihnen nur die Chance, wir eröffnen einen Rahmenund in diesem Rahmen können sich alle entsprechendbetätigen. Das haben einige Länder inzwischen auchverstanden, denn nicht ohne diesen Hintergrund und oh-ne diesen Erfahrungswert haben sich doch wohl Hessenund das Saarland – CDU-regierte Länder – auf diesenWeg begeben und das Vorhaben unterstützt. Wir dankendiesen Ländern ausdrücklich dafür. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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8326 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Natürlich wollen wir damit nicht den Eindruck ver-mitteln, als ob das der Königsweg sei. Das ist überhauptnicht unser Ziel. Aber es ist ein ganz wichtiger Schrittauf dem Wege, neue Möglichkeiten einzuführen, dieauch genutzt werden können. In diesem Zusammenhang will ich noch einmal aufdie Statistik, die sich ja mittlerweile herumgesprochenhat, verweisen: Gerade die Länder, in denen schon sol-che Einrichtungen bestehen, sind jene, in denen die we-nigsten zusätzlichen Drogentoten zu beklagen sind. Dasmuss doch auch Ihnen, Herr Hüppe, zu denken geben.Ich weiß nicht, warum Sie immer noch an Ihrer alten,ideologischen Kiste festhalten.
Lassen Sie uns deswegen als Vermittlungsergebnisfesthalten, dass wir uns alle sehr bemüht haben, auf die-sem Wege zueinander zu finden. Wir haben deswegenim Vermittlungsverfahren gestern noch zwei Änderun-gen vorgenommen und in den Gesetzentwurf eingebaut.Die erste Änderung ist – sie ist vom Lande Hessen ein-gebracht worden; auch wir finden das sehr sinnvoll –,noch einmal deutlich zu betonen, dass die Arbeit dieserDrogenkonsumräume ausstiegsorientiert gestaltet wer-den soll. Diese Betonung ist durchaus in unserem Sinne;wir haben sie deswegen aufgenommen – übrigens ein-stimmig. Insofern ist es ein bisschen widersinnig, dassdie Vertreter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gesternim Vermittlungsausschuss dagegen gestimmt haben.
Zur zweiten Änderung: Rheinland-Pfalz hat den Vor-schlag eingebracht, ein zentrales Register einzurichten,in dem diejenigen erfasst werden, denen Substitutions-mittel verschrieben werden. Auch dies hat unsere Zu-stimmung gefunden. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass beide Ände-rungen auch den Interessen der Länder entgegenkom-men. Das hat mit zur Entspannung der Situation beige-tragen. Deswegen werden wir morgen im Bundesrat of-fensichtlich eine Mehrheit dafür bekommen, den Ge-setzentwurf in dieser geänderten Fassung durchzusetzen.Ich sage noch einmal Dank all denjenigen, die sich –sowohl im Vermittlungsverfahren als auch im Vor-wege – daran beteiligt haben, dass dieses Gesetz zustan-de gekommen ist. Das sage ich insbesondere in Richtungdes Gesundheitsministeriums und der Drogenbeauftrag-ten, Frau Nickels, sowie meiner Fraktion, deren Beauf-tragte – die Arbeitsgruppe – sich in dieser Frage sehr en-gagiert habt, sodass dieses Ergebnis zustande gekommenist. Herzlichen Dank!Ich hoffe auf Ihre Zustimmung zum vorgelegten An-trag.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! In der Tat hat gestern der Ver-mittlungsausschuss mit Mehrheit der Änderung des Be-täubungsmittelgesetzes zugestimmt. Sie wissen: Es gabzwei Teile: zum einen die Regelungen, die der Bundes-regierung neue Möglichkeiten im Bereich der Substitu-tion, insbesondere der methadongestützten Behandlung,einräumen; zum anderen die Regelungen zur Legalisie-rung von Fixerräumen.Ich habe schon in den vergangenen Debatten daraufhingewiesen, dass wir von der Union eine bessere Rege-lung der Methadonsubstitution ausdrücklich befürwor-ten, nicht zuletzt deswegen, weil die dramatische Zu-nahme der Zahl der Drogentoten im Zusammenhang mitMethadon in den letzten zwei Jahren ein entschiedenesHandeln erfordert.Es muss dringend mit der zum Teil unverantwortli-chen Vergabepraxis Schluss gemacht werden. Deswegenbegrüße ich – wie der Kollege Schmidt –, dass man sichbei der Meldepflicht für Methadonpatienten auf einezentrale Stelle geeinigt hat, eben um Doppelverschrei-bungen zu verhindern und um den Schwarzmarkt im Zu-sammenhang mit Methadon, dessen Umfang in den letz-ten Jahren unzweifelhaft zugenommen hat, einzudäm-men. Natürlich treten auch wir dafür ein – da bestehtauch kein Dissens –, die Qualifikation von Ärzten, die inder Substitution tätig sind, zu verbessern. Und – das ist der wahrscheinlich wichtigste Punkt indiesem Bereich –: Wir müssen wieder dazu kommen,dass Methadonpatienten psychosozial begleitet werden.Ich darf daran erinnern, dass früher immer nur von „me-thadongestützter Behandlung“ die Rede war. Dasheißt, die eigentliche Behandlung bestand nicht allein inder Abgabe des Methadon, sondern war weitaus mehr.Heute ersetzt Methadon häufig nicht zuletzt aufgrundfehlender finanzieller Ressourcen die Behandlung. Wiraber sagen: Die Abgabe von Methadon kann ein Wegsein, um die Situation von Drogenabhängigen zu verbes-sern, es darf aber nicht so sein, dass Patienten lediglichruhig gestellt oder abgefüttert werden.
Die Bundesregierung kann nun beweisen – wenn derGesetzentwurf angenommen wird, haben Sie dazu dieMöglichkeit –, wie ernst sie die Probleme in diesem Be-reich nimmt.Meine Damen und Herren, der umstrittenere Teil desvorliegenden Gesetzentwurfes ist und bleibt der Bereichder so genannten Drogenkonsumräume. Ich betone,dass dieser Teil des Gesetzentwurfes auch nach den po-sitiven Änderungen, die das Land Hessen im Vermitt-lungsverfahren durchgesetzt hat, für die Unionsfraktionim Bundestag weiterhin unakzeptabel bleibt. Die Haupt-kritikpunkte bleiben bestehen. Die Abhängigen werden nicht durch Fixerstuben –wie immer behauptet – für therapeutische MaßnahmenWilhelm Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8327
gewonnen werden können, abgesehen davon, dass diemeisten der Besucher der bestehenden Fixerstuben so-wieso schon mit der Drogenhilfe in Kontakt stehen. Esgibt eine Untersuchung, in der gesagt wird, dass über einDrittel der Besucher einer Fixerstube in Hannover Me-thadonpatienten waren. Diese sind weder vor noch nachder Einnahme des Rauschgiftes ansprechbar. Es ist auchganz natürlich, dass jemand, der auf seinen Schuss war-tet, nicht für Gespräche offen ist. Nach dem Schuss ist er – ganz klar – unter dem Einfluss der Droge nicht an-sprechbar. Meine Damen und Herren, die Befürworter – HerrSchmidt hat dies heute auch wieder getan – führen im-mer wieder Todesstatistiken an, mit denen bewiesenwerden soll, dass Fixerräume Leben retten. Es ist schonseltsam, wenn Frau Nickels in „Erläuterungen zurSucht- und Drogenpolitik“ – das ist der Titel ihrer Ver-öffentlichung – als Drogenbeauftragte der Bundesregie-rung erklärt, dass die Anzahl der so genannten „Drogentoten“ alsMaßstab für den Erfolg oder Misserfolg einer be-stimmten Drogenpolitik oder bestimmter drogenpo-litischer Maßnahmen nicht herangezogen werdenkann, aber kurz darauf erklärt, dass natürlich gerade in denStädten ein Rückgang der Anzahl der Drogentoten zuverzeichnen sei, in denen es Fixerräume gebe. Das hatsie noch Anfang des Jahres getan, hat aber verschwie-gen, dass die Anzahl der Drogentoten in denselben Städ-ten im Jahr vorher erheblich angestiegen war. Ich will damit nicht sagen, dass wir Recht haben. Ichhalte es aber für falsch, Drogentote zu instrumentalisie-ren.
– Nein, nicht ich, sondern Ihr Kollege Schmidt hat die-ses Thema zuerst aufgegriffen.Letztlich bleiben ordnungspolitische Argumentezugunsten der Drogenkonsumräume. Ich will diese auchgar nicht abtun. Sie wissen, dass auch in unserer Frakti-on, in unserer Partei darüber diskutiert wird, wie manneue Wege gehen kann. Sicher ist es besser, wenn Sprit-zen nicht auf Spielplätzen herumliegen, sondern ver-nünftig entsorgt werden. Wenn das aber der eigentlicheGrund ist – er wurde auch von den Befürwortern desEntwurfs im Bundesrat immer wieder in den Vorder-grund gestellt –, dann sollte man auch sagen, dass Ord-nungspolitik der Gesundheitspolitik vorgezogen wird.Die Realität der existierenden Räume beweist dies auch.Inzwischen werden – wie zum Beispiel in Frankfurt –sogar private Wachdienste eingestellt, um die Situationüberhaupt noch im Griff zu haben. Alles in allem bleiben also kaum Argumente dafür,allerdings gibt es eine Menge dagegen. Dies betont auchdie Stellungnahme der UN-Drogenbehörde. Der UN-Suchtstoffkontrollrat hat noch gestern, kurz vor derEntscheidung des Vermittlungsausschusses, erneut Fi-xerstuben als einen Schritt auf dem Weg zur Drogenle-galisierung kritisiert.
Er hat sogar gesagt, dass die Duldung von Fixerräumengegen internationale Übereinkommen verstoße.
– Doch. Das haben Sie auch zur Kenntnis bekommen.Ich weiß nämlich, dass Frau Nickels darauf bereits rea-giert hat. Sie müssen zugeben, dass auch dort Fachleutesitzen und Sie die Wahrheit nicht allein gepachtet haben. Obwohl der Bundesregierung diese Stellungnahmebekannt war, wurde sie einfach ignoriert.Argumente spielen kaum noch eine Rolle. Wichtigscheint es in der mageren Bilanz rot-grüner Drogenpoli-tik nur noch zu sein, irgendein Ergebnis, ob gut oderschlecht, vorweisen zu können.
– Herr Schmidt, Sie müssen doch zugeben, dass Sie dieMittel für die Präventionsmaßnahmen gesenkt haben.Ich kann mich daran erinnern, dass wir immer kritisiertwurden, als wir darüber sprachen, ob man daran sparenmüsste.
Sie müssen sich an Ihren Worten messen lassen.
Ein weiterer Beweis dafür, dass es Ihnen nur um ir-gendein Ergebnis geht, ist, dass Sie die Kritikpunkte derFachleute überhaupt nicht aufgenommen haben. Selbstdiejenigen, die grundsätzlich für Fixerräume waren, ha-ben Kritik geäußert. Sie haben aber an Ihrem Antrag sogut wie nichts geändert. Ausnahmen sind die Punkte, diedie unionsregierten Länder und Rheinland-Pfalz einge-bracht haben.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Beweis ist –darauf bezog sich meine Pressemitteilung; HerrSchmidt, Sie können ruhig zuhören, ich habe dasschließlich bei Ihnen auch getan –, dass Sie Ihre Politikauf Biegen oder Brechen, ob sinnvoll oder nicht, durch-setzen wollen. Meine Pressemitteilung bezog sich da-rauf, dass Sie einen Alternativentwurf vorgelegt haben.
Es ging darum, dass Sie die Mitbestimmung der Län-der aushebeln wollten.
– So war es. Sie haben eine Alternative vorgelegt, umden Entwurf der Zustimmungsbedürftigkeit der LänderHubert Hüppe
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8328 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
zu entziehen. Danach hätte in der Tat kein Bundesland –übrigens auch keine Gemeinde, keine Kommune – Ein-fluss darauf gehabt, welchen Standard diese Räume ha-ben werden.
Sie hätten nicht einmal einer Genehmigung bedurft. Dasist aus meiner Sicht keine verantwortungsvolle Drogen-politik.
– Ich habe den Popanz nicht aufgebaut.
– Es ist ein Glück, dass er nicht zur Abstimmung steht.Aber es kommt doch auch darauf an, wie man in einemsolchen Verfahren miteinander umgeht. Es hieß: Frissoder stirb, wenn du nicht zustimmst, wird es noch vielschlimmer.
– Ja, so war es im Vermittlungsausschuss. Ich hätte nichtgeglaubt, dass Sie bei einem so ernsten Thema so weitgehen würden.
Es bleibt das ernüchternde Fazit: Wir werden denEntwurf in der Tat nicht mehr verhindern können, zu-mindest nicht hier im Bundestag. Es bleibt die ernüch-ternde Bilanz, dass noch mehr Mittel für drogenakzep-tierende Maßnahmen ausgegeben werden. Immerhinkostet jede Einrichtung zwischen 600 000 und800 000 DM pro Jahr. Das sind Mittel, die wir dringendin den Bereichen der Prävention, der Therapie oder, wieam Anfang erwähnt, in der qualifizierten Methadonbe-handlung nötig hätten. Es wird zu einem drogenpolitischen Flickenteppich inDeutschland kommen, weil die im Gesetz vorgeschrie-benen Mindeststandards so schwammig und niedrigangesetzt sind, dass fast alles möglich wird. Sie begebensich auf einen gefährlichen Weg und wir werden Ihnendabei nicht stillschweigend zusehen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Christa
Nickels das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrHüppe, ich freue mich, dass Sie unser Substitutionsre-gister loben. Das hätte die alte Regierung schon langemachen können, weil es dazu einen einstimmigen Bun-desratsbeschluss aus dem Jahr 1997 gab. Das Substituti-onsregister war bei uns von Anfang an im Gesetz vorge-sehen. Es hat sich lediglich die Ansiedlung der zentralenStelle geändert. Dabei sind wir den Ländern gern entge-gengekommen. Das Substitutionsregister und die zentra-le Stelle waren vorgeschrieben. Ich weise mit Nachdruck Ihren Einwurf zurück, wirhätten an den Ländern vorbei agiert. Wir haben in einerausgesprochen intensiven Debatte – sie dauerte mehr alsein halbes Jahr an – mit allen Verbänden, Trägern undselbstverständlich allen Bundesländern erörtert, wie dieLänderinteressen berücksichtigt werden könnten. Des-halb ist unter anderem die Regelung zustande gekom-men, dass die Bundesländer selber entscheiden müssen,ob sie es ihren Städten über eine Verordnungsermächti-gung ermöglichen, Drogenkonsumräume unter den ge-nannten qualitätsorientierten Mindeststandards einzu-richten.Sie haben sich an einigen Mindeststandards hochge-zogen und gesagt, man hätte noch dies und das und jenesmachen können. Dazu möchte ich Ihnen zur Kenntnisgeben, dass hierbei ausdrücklich die Wünsche der ver-schiedenen Länder eingeflossen sind, die einen gewissenGestaltungsspielraum wollten. Es waren ausdrücklichCDU-geführte Bundesländer, die das eingefordert ha-ben.
Ich glaube, Sie werden kaum ein Gesetz finden – dashier ist ja eine vergleichsweise kleine Regelung –, zudem so intensiv, auch unter Einbeziehung der Leitungunseres Hauses, die Länder gehört würden und derenAnregungen mit eingeflossen sind. Ich bin mit Fleiß ge-prügelt worden, weil es deswegen ja auch Schwierigkei-ten gibt. Bayern hat ja schon angekündigt, dass es dieseMöglichkeit nicht eröffnen wird. Wir haben aber gesagt,das geht nicht über die Köpfe der Länder hinweg, dasmuss in einem breiten Konsens derjenigen, die in derPolitik auf dem Stand von heute sind, geschehen. HerrHüppe, es tut mir leid, Sie sind noch ein junger Kollege,aber ich habe sehr viele Ältere gehört, die bei der Dro-gen- und Suchtpolitik mehr auf dem Stand der Zeit sindals Sie.
Wir haben hier im Bundestag im Dezember deshalbmit großer Mehrheit dem Gesetz zugestimmt. In derBundesratssitzung am 4. Februar haben dann zweiStimmen gefehlt, obwohl wir von vornherein davonausgehen konnten, dass wir die Zustimmung erhalten.Ich will aber nicht nachkarten. Ich bin außerordentlich froh und dankbar – das möch-te ich hier betonen –, dass zusätzlich zum Saarland, dasallein CDU-regiert ist – ich kann nicht genug die enga-giert sachkundige und realitätsbezogene Rede der saar-ländischen Gesundheitsministerin im Bundesrat loben –,auch Hessen über die Hürde gesprungen ist. Die zweiWünsche aus Hessen haben wir gern aufgenommen.Hubert Hüppe
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8329
Denn es handelt sich unseres Erachtens um eine Klar-stellung der Zielsetzung, die die einbringenden Fraktio-nen und selbstverständlich auch die Bundesregierunghaben. Wenn wir Hilfe wollen, auch Überlebenshilfe, dannist klar, dass letztlich der Wunsch dahinter steht, dassabhängig gewordene Menschen irgendwann einmal voll-ständig von der Sucht frei werden. Deshalb haben wirgern diese beiden Worte „und ausstiegsorientiert“ mitaufgenommen. Es ist eine Klarstellung in unserem Sin-ne.
Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte aufzählen, diewichtig sind und unsere Zielsetzung wiedergeben: Eshandelt sich um die rechtliche Klarstellung der Drogen-konsumräume, um die Einführung des Substitutionsre-gisters – das, wie schon gesagt, 1997 zu Recht von allenBundesländern eingefordert wurde – und die besondereQualifikation für substituierende Ärzte.Die Mindeststandards für Drogenkonsumräumewerden im Gesetz festgelegt, weil wir eben keine „shooting galleries“ wollen – gekachelt, gefliest, dieLeute geben sich ihren Schuss, gehen raus und findenüberhaupt keine Hilfsangebote vor. Das wollen wir aus-drücklich nicht und das wollen auch die Länder, die dasunterstützen, nicht. Darum haben wir die zehn Mindest-standards festgelegt, die gewährleisten, dass Drogenkon-sumräume Beratung und Hilfe sowie weiterführendeAngebote für die Betroffenen anbieten. Außerdem wird dadurch gewährleistet, dass Drogen-konsumräume weder der Begehung von Straftaten nochdem Drogenmissbrauch von Menschen Vorschub leis-ten, die eben nicht wegen ihrer schon bestehenden Dro-genabhängigkeit ohnehin täglich Opiate konsumieren.Erstkonsumenten und Gelegenheitskonsumenten habenkeinerlei Zutritt zu diesen Räumen. Hier sollte man bittekeinerlei Legendenbildung betreiben und Eltern verunsi-chern und verängstigen.
Schon abhängigen Personen sollen in den Drogen-konsumräumen gesundheitliche Hilfe, Überlebensschutzund weiterführende Angebote im gesamten Netz derDrogenhilfe angeboten und gewährt werden. Wenn mansich einmal darauf einlässt und mit offenen Augen sol-che Einrichtungen anschaut, sieht man, dass das begrü-ßenswerte alltägliche Praxis ist und dass man damitwirklich imstande ist, diesen Menschen zu helfen.Ich möchte jetzt noch auf einige Punkte eingehen, dievon den Gegnern einer solchen Reform vorgetragenwurden, unter anderem wieder von Herrn Hüppe heute.Es wird behauptet, der Drogenhandel werde im Umfeldder Einrichtungen zunehmen. Das trifft aber nach allenbisherigen langjährigen Erfahrungen mit diesen Einrich-tungen – etwa in Hamburg oder in Frankfurt – ebennicht zu. Das wurde sogar ausdrücklich vom Bundes-kriminalamt schon 1998 – und zwar noch vor der Bun-destagswahl – bestätigt. Es wird behauptet, Präventionsbemühungen und Hil-fen zum Ausstieg würden unterlaufen. Auch das stimmtnicht, Herr Hüppe, im Gegenteil: Hier werden langjährigverelendete Drogenabhängige erreicht, die andere An-gebote der Hilfe bisher nicht angenommen haben. In al-len bestehenden Drogenkonsumräumen werden Betrof-fene in Entgiftung, in Methadonbehandlung und sogar inAbstinenztherapien vermittelt, auch wenn das ein müh-samer und langwieriger Prozess ist. Die Alternative istzu sagen: „Denen muss es noch viel dreckiger gehen“,sie einfach allein zu lassen und ihnen keine Hilfestellun-gen anzubieten. Das hat dann die Konsequenz, dass vie-le dieser Menschen hinterher tatsächlich in der Drogen-totenstatistik auftauchen und zu beklagen sind.
Es wird behauptet, es sei doch paradox, dass geduldetwerde, dass unter staatlicher Aufsicht gefixt wird. HerrHüppe, Suchtarbeit muss sich ständig mit paradoxen Si-tuationen befassen. Die Flucht in eine scheinbare Ein-deutigkeit ist tatsächlich die Flucht aus der Realität.Denn damit wird verkannt, dass Abhängige, die von existierenden Hilfsangeboten eben nicht erreicht wer-den, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen inder Verelendungsspirale noch weiter absteigen.Es wird weiterhin behauptet, es werde nur für eine klei-ne Gruppe von Süchtigen etwas angeboten und damitwerde anderen Bereichen Geld entzogen, aber man müs-se die Abhängigen insgesamt im Auge behalten. Abergenau das tun wir von den Koalitionsfraktionen und derBundesregierung.Herr Kollege Schmidt hat schon klargestellt: Wir be-haupten doch hier überhaupt nicht, dass das der Kö-nigsweg ist. Es ist ein kleiner Baustein, ein kleiner, aberwesentlicher Mosaikstein, der jetzt mit der rechtlichenKlarstellung hinsichtlich der Drogenkonsumräume eineLücke in unserem insgesamt sehr ausdifferenzierten Hil-fesystem im Bereich der Überlebenshilfe schließt. DerStein muss an diese Stelle, gerade wenn man diejenigen,die am meisten Unterstützung und Hilfe brauchen, nichtallein lassen will.Ich verstehe Sie nicht. Wir tragen nicht das „hohe C“im Parteinamen. Es ist doch auch ein Gebot der christli-chen Barmherzigkeit, dass man so etwas tut. Ich verste-he Sie da überhaupt nicht mehr.
Wir dürfen nicht zynisch diejenigen, die am meistenverelendet sind, ihrem Schicksal preisgeben. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dassdiese Maßnahmen nicht den Vorschriften der internatio-nalen Suchtstoffübereinkommen zuwiderlaufen, denndie Bundesregierung nimmt die bekannten allgemeinenBedenken der zuständigen Behörden der Vereinten Na-Christa Nickels
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8330 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
tionen gegen Drogenkonsumräume sehr ernst. Sie hat siesorgfältig geprüft und ihnen in dem vorliegenden GesetzRechnung getragen. Danach sind Straftaten, besondersder Drogenhandel, sowie jede Art der Beihilfe auch undgerade in Drogenkonsumräumen nach den allgemeinenStrafvorschriften zu verfolgen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssten bitte zum Schluss kommen.
Ich
bin jetzt direkt fertig. – Außerdem müssen die Träger
der Einrichtungen in Abstimmung mit den Behörden –
ich zitiere – zusätzliche „Maßnahmen zur Verhinderung
von Straftaten in Drogenkonsumräumen“ sowie „im
unmittelbaren Umfeld der Drogenkonsumräume“ ge-
währleisten. Wir werden hier im Gespräch auch mit dem
INCB und den internationalen Suchtstoffkontrollbehör-
den bleiben und diesen Standpunkt auch weiter vertreten
und dafür werben.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer und teilweise
auch die dort führenden CDU-Politiker gestern wirklich
mitgeholfen haben, dieses Gesetz auf den Weg zu brin-
gen. Ich muss sagen, ich werde mich erst richtig darüber
freuen, wenn wir morgen die Mehrheit für dieses Gesetz
im Bundesrat erzielen. Ich glaube, damit haben wir dann
wirklich ein kleines, gutes Element, das für eine sehr be-
troffene Gruppe, für die Angehörigen und auch diejeni-
gen, die in diesen Bereichen arbeiten, sehr wichtig ist,
geschaffen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die
F.D.P.- Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieF.D.P.-Fraktion begrüßt, dass es im Vermittlungs-ausschuss zu diesem Ergebnis gekommen ist.
Wir haben schon lange diese Richtung verfolgt und sie –das war ja heute hier im Plenum erlebbar – bis 1998nicht durchsetzen können. Deshalb sind wir froh, dass esgerade auch mit Beteiligung der F.D.P. in den Ländernzu einem sehr guten Kompromiss gekommen ist. Ich glaube, alles das, was die Vorredner positiv dazugesagt haben, muss ich hier nicht wiederholen. Dazu ge-hört, dass Vorgaben dafür gemacht werden, wie dieseDrogenkonsumräume betrieben werden sollen. Denn ge-rade uns ging es nie darum, nur einfach Räume zuzulas-sen, ohne dann einheitliche Vorgaben zu haben, was indiesen Räumen passiert, nämlich dass dort konsumiertwird, dass da aber auch Angebote gemacht werden, dassdie psycho-soziale Betreuung eine entscheidende Rollespielt, dass es die Möglichkeit der medizinischen Bera-tung und der Information über Therapie gibt. Von daherhaben wir überhaupt kein Problem mit der im Vermitt-lungsausschuss jetzt hinzugefügten Ergänzung, dass indiesen Räumen auch versucht wird, in Kontakt mit denSchwerstabhängigen zu kommen, so dass sie letztend-lich frei von Sucht leben können. Aber man muss auchall die Schritte gehen, die nicht sofort und nicht unmit-telbar zum Ausstieg führen, die aber dieses Ziel letzt-endlich ganz deutlich anstreben. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es gut, dass estrotz immer noch sehr grundlegender Widerstände, wiesie von Herrn Hüppe formuliert worden sind, hier imBundestag und – da bin ich sehr zuversichtlich, eigent-lich sicher – auch morgen im Bundesrat eine Mehrheitfür den Gesetzentwurf gibt. Es hat sich in den Beratun-gen im Vermittlungsausschuss gezeigt: Die praktischeErfahrung in Hessen hat dazu geführt, dass ein Land miteiner CDU/F.D.P.-Regierung zum entscheidendenDurchbruch beigetragen hat.
Gerade sie müssen sicher sein, sich nicht strafbar zu ma-chen. Das wird mit diesem Gesetzentwurf erreicht. Ich möchte nicht mehr auf die Änderungsvorschlägeeingehen, die die F.D.P.-Fraktion im Bundestag einge-bracht hatte und die eine andere Ausgestaltung des Ge-setzentwurfes zum Inhalt hatten, nämlich dass wir an dieEinrichtung solcher Räume und die Erteilung der Er-laubnis, solche Räume einzurichten, Anforderungen ge-stellt haben, aber dass wir dies nicht zwingend an eineRechtsverordnung koppeln wollten. Denn wir alle wis-sen und können es an den Redebeiträgen im Bundestagwie dem des Kollegen Hüppe nachvollziehen, dass dasjetzt sehr unterschiedlich in den Ländern gehandhabtwerden wird. Ich hoffe und wünsche, dass die Landesregierungenalle Kommunen, die wirklich Probleme mit Suchtab-hängigen, Schwerstabhängigen und mit der damit ein-hergehenden Kriminalisierung haben, in die Lage ver-setzen, entsprechende Räume einzurichten. Wir habennie das Ziel verfolgt, Deutschland flächendeckend mitDrogenkonsumräumen zu überziehen; vielmehr wolltenwir rechtliche Sicherheit, Entscheidungs- und Hand-lungsfreiheit für die Kommunen erreichen, in denen sol-che Räume aufgrund der örtlichen Konstellationen ge-braucht werden. Das wird durch den jetzigen Gesetz-entwurf sichergestellt. Deshalb stimmen wir im Bundes-tag dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu. Auchdie hessische F.D.P. wird dafür sorgen, dass diesem Ge-Christa Nickels
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8331
setzentwurf ebenfalls im Bundesrat zugestimmt werdenwird. Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Auch die PDS wird dem Ergebnis des Ver-
mittlungsausschusses zustimmen. Uns geht der Gesetz-
entwurf – das haben wir in den vorherigen Debatten
deutlich gemacht – zwar nicht weit genug, aber im
Rahmen der Beratungen unseres eigenen Antrags in den
nächsten Wochen werden wir mit Sicherheit unsere wei-
tergehenden Vorstellungen darlegen können.
Nach meiner Meinung ist es schlimm genug, dass wir
heute überhaupt über diesen Vermittlungsvorschlag dis-
kutieren müssen. Das zeigt eigentlich nur, wie heuchle-
risch die CDU/CSU Drogenpolitik, Drogensucht und
Drogenkriminalität diskutiert und sie auch in der Ver-
gangenheit diskutiert hat. Man muss sich nur die Zahl
der Drogentoten, die schon erwähnt worden ist, an-
schauen: Es gab im letzten Jahr 1 812 Tote. Das ist ein
Anstieg um 20 Prozent in zwei Jahren.
Diese Zahl sollte uns alarmieren, endlich mehr zu tun.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es selbst in
einer Stadt wie Berlin, die von CDU und SPD gemein-
sam regiert wird, noch immer nicht möglich ist, Fixer-
stuben einzurichten und betroffenen Menschen die Mög-
lichkeit zu geben, sich unter einigermaßen gesundheits-
gemäßen Umständen ihre Spritze zu setzen. Auch in
Berlin ist die Zahl der Drogentoten von 160 auf 205 im
letzten Jahr gestiegen.
Zu Ihrer Erinnerung, Herr Hüppe: Unter den Flächen-
ländern liegt das CSU-regierte Bayern an der Spitze hin-
sichtlich der Zahl der Drogentoten. Ich verstehe über-
haupt nicht, wie Sie behaupten können, dass die Ein-
richtung von Fixerstuben nichts gebracht habe, obwohl
die Zahl der Drogentoten dort, wo solche Räume einge-
richtet worden sind, heruntergegangen ist.
Ich meine, die Drogensucht ist nicht mit Mitteln der
Strafverfolgung zu bekämpfen; vielmehr müssen wir –
das haben wir hier schon sehr oft diskutiert – wirklich
humane Einrichtungen schaffen und ganz konkrete Hil-
fen zum Beispiel durch eine umfassende Legalisierung
leisten. Wir müssen mehr Therapiemöglichkeiten schaf-
fen, wie es schon eben von der Drogenbeauftragten dar-
gelegt worden ist.
Die Aufklärung über jede Art von Drogen muss aus-
gebaut werden. Vor allen Dingen muss auch jede Art der
Werbung für Drogen verboten werden, auch für Tabak
und Alkohol. Ich verweise auf eine Kleine Anfrage
meiner Fraktion, in der sehr deutlich geworden ist, dass
es auch hier ein riesengroßes Problem gibt: Durch den
Konsum von Tabak und Alkohol sterben im Jahr 42 000
Menschen. Ich kann leider aus Zeitgründen nicht näher
auf die Folgen dieser Drogen für die Gesundheit der
Menschen und auf das eingehen, was hier ebenfalls ge-
tan werden müsste.
Grotesk und meilenweit von jeder Realität entfernt
ist nach meiner Meinung auch das Urteil der
17. Großen Strafkammer vom 26. März letzten Jahres.
Danach ist Samenhändler Jochen Forer zu einem Jahr
und vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden,
weil er in seinem Keller trotz des seit 1. Februar 1998
geltenden so genannten Hanfsamenverbots – CDU/CSU
und F.D.P. haben dies durchgesetzt – noch Hanfsamen
für die Lebensmittelherstellung lagerte. Jede höhere In-
stanz hat Rechtsmittel abgelehnt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, auch
Sie müssen auf Ihre Redezeit achten.
Ich komme gleich zum Schluss.
Ich möchte nur noch einen Gedanken äußern.
Ich meine, dass solche Urteile ebenfalls verhindert
werden müssen, indem wir neue Gesetze schaffen. Wir
brauchen Reformen und vor allen Dingen eine liberali-
sierte Drogenpolitik. Nur das und nicht die Repression
wird den Drogenabhängigen wirklich helfen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (DrittesBtMG-Änderungsgesetz – 3. BtMG-ÄndG) – Drucksachen 14/1515, 14/2345, 14/2665,14/2796 – Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Schmidt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall. Wird das Wort für eine weitereErklärung gewünscht? – Das ist ebenso nicht der Fall. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. DerVermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deut-schen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzu-stimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlungdes Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/2796?– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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8332 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
lung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an-genommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN Haltung der Bundesregierung zur Patentver-gabe des Europäischen Patentamtes auf Gen-manipulation an menschlichem ErbgutIch eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat die Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir habenes mit einem Vorgang zu tun, der in den vergangenenTagen, wie ich finde, zu Recht nicht nur sehr viel Auf-merksamkeit, sondern auch sehr heftige Reaktionen her-vorgerufen hat. Das Europäische Patentamt hat bestätigt,dass es auf eine Klonierungstechnik zur Herstellung vonembryonalen Stammzellen ein Patent erteilt hat. Es hatsich selber dazu bekannt, dass diese Erteilung ein Ver-sehen gewesen sei. Wir haben es einerseits mit einemrechtlich, aber natürlich auch mit einem ethisch-moralisch und damit politisch zu bewertenden Vorgangzu tun. Was die rechtliche Seite angeht, möchte ich vor allenDingen darauf hinweisen, dass das Europäische Patent-amt bei der Vergabe von Patenten sozusagen die kom-merzielle Verwertung von Forschungsergebnissen undin diesem Fall von embryonalen Stammzellen regelt. Eslässt sich viel Kritisches darüber sagen, ob wir über-haupt wollen, dass menschliche embryonale Stammzel-len zum Gegenstand von kommerziellem Handeln wer-den. Dies wird durch die Bioethik-Richtlinie derEuropäischen Union gar nicht zugelassen.Vor allen Dingen ist unabhängig von der Frage, objemand ein kommerzielles Recht dazu hat, noch zu klä-ren, ob die nationalen Gesetze diese Forschung über-haupt zulassen. Ich erkläre hier ganz eindeutig: Nachdem Embryonenschutzgesetz, das wir seit zehn Jahrenhaben, ist die Manipulation an embryonalen Stammzel-len im Stadium der Totipotenz untersagt. Dieses Gesetzgilt unabhängig davon, welche Patente dort erteilt wer-den. Dies muss aus gegebenem Anlass festgehalten wer-den. Ich habe eben gesagt, dass dieser Vorgang beim Eu-ropäischen Patentamt zu Recht heftige Reaktionen her-vorgerufen hat. Man kann sich darüber mit gutem Grundsehr ärgern. Die Frage, wer dieses Patentamt eigentlichüberwacht, wird sicherlich aufgeworfen. Aber ich finde,dieser Vorgang hat auch sein Gutes: Die Reaktionen derletzten Tage haben doch gezeigt, dass es bei allem, wassich in der Forschung geändert hat, offensichtlich einensehr breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, was dieGrenzen, die wir in diesem Bereich setzen wollen, an-geht.
Ich muss ehrlich sagen: Ich bin über den Umstand frohund ich bin erleichtert, dass die Bestimmung, wonachwir keine Forschung und keine Manipulation an embry-onalen Stammzellen vornehmen dürfen, fortbesteht.Wir haben in der Tat enge Grenzen gesetzt, die auchimmer wieder in die Kritik geraten. Ich will zum einengegen das Argument, man mache damit eine Forschungunmöglich, die helfe, menschliches Leiden zu verhin-dern, festhalten, dass man nicht auf embryonale Stamm-zellen zurückgreifen muss, um diese Forschung durch-zuführen. Deswegen ist dies meines Erachtens keinstichhaltiges Argument, um die bestehenden Grenzenaufzuweichen. Ich glaube aber, dass wir auch wegen derunabsehbaren Folgen, die nicht nur diese Forschung,sondern die auch die damit möglich werdenden Eingriffein die menschliche Keimbahn, die nach deutschemRecht ebenfalls untersagt sind, mit sich bringen, rechtdaran tun, an dieser Grenze festzuhalten. Auch die an-sonsten sehr umstrittene Bioethik-Konvention des Euro-parates ist an diesem Punkt eindeutig, Wir sollten dieGrenzen nicht aufweichen, weil wir nicht um die Folgenwissen, die da auf uns zukommen. Ich bin durchaus erleichtert, dass offenbar in unsererGesellschaft ein Konsens darüber möglich ist, weil wir,um einen altmodischen Begriff zu gebrauchen, Ehrfurchtvor dem menschlichen Leben haben. Dementsprechenddiskutieren wir auch besonders sensibel über die Gren-zen. Diese Grenzen werden uns in den nächsten Mona-ten und Jahren immer wieder beschäftigen. Wir werdenimmer wieder mit der Frage konfrontiert, ob das jetzigeEmbryonenschutzgesetz noch der neueren Forschungs-entwicklung standhält. Wir wurden von der Gesundheitsministerkonferenzaufgefordert, darüber zu diskutieren, ob wir ein Fort-pflanzungsmedizingesetz brauchen. Wir tun das im Maiauf einem Symposium, das sehr breit angelegt ist. Dabeilegen wir großen Wert darauf, dort alle Positionen reprä-sentiert zu haben. Ich glaube, dass dieses Haus gut bera-ten ist, sich über ein Verfahren zu verständigen, am bes-ten jenseits der Fraktionsgrenzen, und darüber zu reden,ob wir in der Fortpflanzungsmedizin neue, an-gemessenere Regelungen brauchen. Ich mache mir darüber keine Illusionen: Diese Debat-te berührt sehr stark moralisch-ethische Fragen. Das sindeinerseits immer sehr wertvolle Debatten, andererseitsoft auch sehr schwierige Debatten. Ich selber habe einesehr eindeutige Haltung zu einigen Punkten, die auchstark von Moralkategorien geprägt ist. Ich will mir abermeinerseits alle Mühe geben, die Diskussion so zu orga-nisieren, dass jede Position, die vertreten wird, den ihrzukommenden Respekt erfährt und wir hinterher zu ei-nem von einer breiten Mehrheit getragenen Ergebniskommen. Ich glaube, dass dies das einzig Angemessenefür eine so schwierige Frage ist, bei der unterschiedlicheRechtsgüter gegeneinander aufgewogen werden, abereben auch unsere höchstpersönliche Sicht auf dasmenschliche Leben mit hineinkommt. Ich selber vertrete eine eher konservative Haltungund sage: Wir müssen bei dem, was wir medizinischmachen, Grenzen setzen. Ich sage dies aber, wie gesagt,Vizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8333
mit Respekt vor all denjenigen, die eine andere Positionmit guten Argumenten vertreten. Ich nehme an, dass ei-nige dieser Argumente auch heute schon in der Aktuel-len Stunde hier benannt werden und wir andere in derweiteren Debatte, von der ich hoffe, dass wir sie mit dergebotenen Ernsthaftigkeit hier in diesem Hause führen,bekommen.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Hubert
Hüppe.
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen und Herren! Wir wollen und brauchen den
wissenschaftlichen Fortschritt gerade im Bereich der
Medizin. Forschungserfolge und ihre wirtschaftliche
Nutzung sichern Gesundheit, hohe Lebenserwartung und
materiellen Wohlstand. Wir brauchen und wollen den
Fortschritt der Bio- und Gentechnologie. Doch gerade
derjenige, der Akzeptanz für diese Bereiche schaffen
will, muss verbindlich sagen, wo die Grenzen liegen.
Die wesentliche Grenzlinie – ich hoffe, da sind wir
uns einig – verläuft dort, wo auf die genetische Identität
des Menschen zugegriffen wird, wo der Mensch zum
Objekt oder gar zum Produkt gentechnischer Manipula-
tionen wird. Das Europäische Patentamt hat diese abso-
lute Grenze verletzt. Von daher begrüße ich ausdrück-
lich für die Union die Entscheidung der Bundesregie-
rung, Einspruch einzulegen.
Allerdings, auch das muss man sagen, ist es schon
bedenklich, dass wir erst – das gilt nicht nur für die Re-
gierung, sondern auch für uns – durch Medien auf die-
sen Sachverhalt hingewiesen worden sind. Wir müssen
wissen, dass Patente in diesem Grenzgebiet eine fatale
Wirkung entfalten können.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir Beobachtungsme-
chanismen aufbauen können, die solche wirtschaftlichen
Anwendungen im Bereich des menschlichen Lebens
verfolgen. Diesmal haben wir noch einmal Glück ge-
habt, da die Einspruchsfrist erst im August abläuft. Aber
wir müssen die Warnung verstehen. Es muss uns besorgt
machen, was wir auf dem Gebiet der genetischen Dia-
gnostik und der sich abzeichnenden Verfügbarmachung
des Menschen beobachten können. Wir haben heute An-
lass genug, zu erkennen, dass wir das, was wir dort beo-
bachten können, auch tatsächlich aufmerksam beobach-
ten müssen.
Mit Recht sind wir auf den hohen Standard für den
Schutz des Menschen im Bereich Forschung und Tech-
nik in Deutschland stolz, der die Anwendung des oben
genannten Patentes verbieten würde. Darin stimmen wir
mit Ihnen, Frau Ministerin, überein. Das geltende deut-
sche Embryonenschutzgesetz bedroht jede Verwendung
menschlicher Embryonen, die nicht deren Erhaltung
oder der Herbeiführung einer Schwangerschaft dient –
insbesondere das Klonen und Keimbahneingriffe –, mit
Freiheitsstrafe.
Das Embryonenschutzgesetz hat – vor nun fast
zehn Jahren – weit vorausblickend Grenzlinien auch in
solchen Bereichen gezogen, die sich damals wissen-
schaftlich-technisch erst am Horizont abgezeichnet ha-
ben. Damals waren Klonen, genetische Selektion
menschlicher Embryonen im Reagenzglas und Eingriffe
in die menschliche Keimbahn noch weit entfernt von je-
der kommerziellen Anwendung. Damals war es auch ei-
ne leichte Übung, entschiedenen Widerstand gegen sol-
che Praktiken öffentlich zu bekennen.
Das ist heute anders. Die Techniken stehen vor der
Tür. Sie sind eine Anfrage an unser gemeinsames Men-
schenbild. Wir haben den ethischen Ernstfall. Hier sehe
ich Anlass zu Besorgnis: Im Internet lädt Ihr Ministeri-
um, Frau Fischer, für Mai zu einem Symposium über
Fortpflanzungsmedizin ein und veröffentlicht zugleich
„Leitfragen“, die zentrale Punkte des Embryonenschutz-
gesetzes zur Diskussion stellen. Darunter fallen die um-
strittene Präimplantationsdiagnostik, die heute in gewis-
sen Fällen auch von der Ärztekammer befürwortet wird,
sowie die Gewinnung und Verwendung embryonaler
Stammzellen. Wer solche Fragen stellt, Frau Ministerin,
stellt natürlich auch ein Gesetz infrage. Das muss man in
diesem Zusammenhang betonen.
Das Symposium und die Leitfragen stellen den be-
währten und von einem breiten gesellschaftlichen Kon-
sens getragenen Embryonenschutz infrage. Ich teile,
Frau Ministerin, im Übrigen nicht die Auffassung, dass
die Bioethik-Konvention ein solches Patent verbieten
würde, weil in der Tat die Keimbahntherapie durch
Art. 13 der Bioethik-Konvention nur dann verboten
wird, wenn das Ziel in der Veränderung von Nachkom-
men liegt. Dies wäre bei Stammzellen nicht der Fall, da
man dort Menschen nur als Ersatzteillager produzieren
will, die hinterher selbst keine Nachkommen haben
werden. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass das eine
offene Flanke ist. Es wäre besser, wenn die entspre-
chenden Vertreter diese Frage klären würden. Ansonsten
ergäbe sich, auch im Zusammenhang mit dem europäi-
schen Recht, eine gefährliche Lücke.
Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, gemeinsam
den Lebensschutz in diesen Bereichen nach vorne zu
bringen und gemeinsam – weg von aller Ideologie – zu
handeln. Wir sollten uns auf das verständigen, was der
Nobelpreisträger Albert Schweitzer als Appell an uns al-
le gerichtet hat, nämlich „Ehrfurcht vor dem Leben“.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Bernhard Brinkmann, SPD-Fraktion.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Bundesministerin Andrea Fischer
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8334 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung desEuropäischen Patentamts, der Universität Edinburgh einPatent zu erteilen, das unter anderem ein Verfahren zurIsolierung, Anreicherung und selektiven Vermehrungvon so genannten tierischen Stammzellen zum Inhalt hatund somit auch Stammzellen aus der Keimbahn oder ausdem Embryo umfasst, hat berechtigterweise in der Öf-fentlichkeit große Aufmerksamkeit und Irritationen aus-gelöst. Daher bin ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen sehr dankbar, dass sich über die gestrige Befragungder Bundesregierung hinaus heute der Deutsche Bundes-tag anlässlich einer Aktuellen Stunde mit dieser sehrsensiblen Thematik befasst.Inzwischen steht fest, dass dieses Genpatent irrtüm-lich erteilt wurde und darüber hinaus gegen deutscheGesetze sowie die eigenen EU-Patentrichtlinien ver-stößt. Ich danke daher der Justizministerin sehr aus-drücklich dafür, dass sie bereits gestern anlässlich derBefragung der Bundesregierung sehr deutlich zu diesemThema Stellung bezogen hat.
Hier wurde sehr schnell reagiert; denn eines steht ein-deutig fest: Menschliche Gene sind nicht patentierbar.
Aus einem Statement von Professor Dr. Hoppe vonder Bundesärztekammer darf ich mit Genehmigung derFrau Präsidentin zitieren.
– Vielen Dank für den Hinweis, Herr Geis. Wenn icherst einmal so lange dabei bin wie Sie, dann weiß ichdarüber Bescheid. – Ich zitiere:Es muss Klarheit darüber bestehen, dass menschli-che Gene oder Gensequenzen nicht patentierbarsind, sondern lediglich Herstellungsverfahren undVerfahrensschritte für gentechnische Medikamentepatentfähig sein können.Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemein-gut und keine Handelsware. Deshalb hat die deut-sche Ärzteschaft immer wieder mit Nachdruck da-rauf bestanden, dass der Mensch oder Teile desMenschen nicht patentierbar sind. Neue Erkennt-nisse über natürliche Gegebenheiten sind Entde-ckungen, niemals aber Erfindungen. Patente kön-nen nur auf Erfindungen erteilt werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung desEuropäischen Patentamtes, gentechnisch verändertemenschliche Zellen patentrechtlich zu schützen, ei-ne außerordentlich Besorgnis erregende Entwick-lung. Die Entscheidung darf keinen Bestand habenund muss sofort korrigiert werden.
Die Bundesärztekammer, Deutsche Ärztetage, derStändige Ausschuss der Europäischen Ärzte wieauch der Weltärztebund haben immer wieder be-tont, dass das Genom des Menschen zum gemein-samen Erbe aller Menschen gehört und nicht kom-merzialisiert werden darf.Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine weitere Be-wertung aus wirtschaftspolitischer Sicht: Nicht jede Ge-nehmigung von Genpatenten stärkt den Wirtschafts-standort Deutschland und nicht jede Ablehnungschwächt den Wirtschaftsstandort Deutschland. Dahermüssen wir bei diesem sensiblen Thema alles unterneh-men, damit diese falsche Patenterteilung verhindertwird. Ich bin dem Kollegen Hüppe sehr dankbar, dass erzum Ausdruck gebracht hat, dass zu diesem Thema indiesem Hause bestimmt Einigkeit bestehen wird.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Edzard Schmidt-
Jortzig.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Für dieF.D.P. – das sage ich ausdrücklich – ist der Sachverhalt,um welchen sich die Aktuelle Stunde dreht, ebenso ein-deutig inakzeptabel wie, so glaube ich, für alle Fraktio-nen in diesem Hause. Wir verlangen deshalb von derBundesregierung, mögliche Schritte zur Beseitigung dervorgekommenen gravierenden Fehlleistung im Europäi-schen Patentamt und zur künftigen Vermeidung erneu-ter, ähnlicher Vorgänge zu ergreifen.Da ist zum einen das erteilte Patent selber. Dass einVerfahren – Herr Kollege Brinkmann, Sie haben diesenPunkt eben schon angeführt – zur „Isolierung, Selektionund Verschmelzung von transgenischen Stammzellen“Patentierung erhielt, welches nicht ausdrücklich aufnicht menschliche Lebewesen begrenzt wurde, ist einmassiver Verstoß gegen geltendes Recht. Da hilft auchdas Abstraktionsprinzip beim Patentverfahren nicht.Schon nach der Verfassung der allermeisten Mit-gliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens,aber auch nach deren linearem Recht dürfte eine Erstre-ckung der angegebenen Manipulationen auf menschlicheStammzellen – also ein Eingriff in die menschlicheKeimbahn – schlichtweg verboten sein. In Deutschlandist dies bekanntlich nach Art. 1 Abs. 1 des Grundgeset-zes und ebenso nach dem Embryonenschutzgesetz derFall.Der Verstoß gegen die EU-„Richtlinie über den recht-lichen Schutz biotechnologischer Erfindungen“ ist eben-so offenkundig. Würde die Biomedizin-Konvention desEuroparates schon in Kraft sein, würde das EuropäischePatentamt auch gegen dessen Art. 13 verstoßen haben.Die Bundesregierung wird deshalb unbedingt Ein-spruch gegen das Patent erheben müssen, was sie dan-Bernhard Brinkmann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8335
kenswerterweise schon angekündigt hat. Sie sollte sichdarum bemühen, dass die Patentnehmer, also die Uni-versität Edinburgh und Professor Austin Smith, aberauch deren Forschungspartner, die australische Firma„Stem Cell Sciences“, von dem möglichen humangene-tischen Teil des Patents bis zur Rechtsmittelentschei-dung des Europäischen Patentamtes keinen Gebrauchmachen. Sie scheinen das ja auch versprechen zu wol-len, aber sicher ist es nicht. Zum anderen ist es – in meinen Augen jedenfalls –ein Skandal, dass das Europäische Patentamt in einemderart sensiblen Bereich die Patentausweitung, die unsauf den Plan ruft, wie es selber bekennt, aus Versehenerteilt hat. Da scheinen also erhebliche Missstände zuherrschen. Entweder ist hier tatsächlich „nur“ ge-schlampt worden. Dann müsste man schleunigst eineQualitäts- und Qualifikationskontrolle durchführen. Oder die Unachtsamkeit ist nur vorgetäuscht. Ich weißes nicht. Dann müsste die gesamte Legitimation der Be-hörde auf den Prüfstand gestellt werden. Greenpeace hatjedenfalls nachhaltige Vorwürfe dahin gehend erhoben,dass das Amt schon seit über zwei Jahren fragwürdigehumangenetische Verfahren patentiere. Dem muss drin-gend nachgegangen werden.
Zum Dritten schließlich belegen der Vorgang, aberauch die erschreckten Reaktionen in der Öffentlichkeit,dass bezüglich der Möglichkeiten der Biotechnologie of-fenbar nur ein höchst begrenztes allgemeines Problem-bewusstsein herrscht. Soll weiterhin gar nicht oder nuremotional reagiert werden, sind nicht nur verhängnisvol-le Fehlentscheidungen nicht mehr zu verhindern, son-dern geraten die großen therapeutischen und Erkenntnis-chancen dieses Forschungsfeldes insgesamt in Misskre-dit. Deshalb ist es beispielsweise dringend notwendig,dass die Bundesregierung ein so wichtiges Projekt wiedie Biomedizin-Konvention des Europarates – wie im-mer man zu ihr stehen mag – aus Sorge vor den Emotio-nen nicht mehr weiter vor sich her schiebt, sondern sichernsthaft und in der Sache damit befasst, mit welchemErgebnis auch immer.
Ebenso deutlich dürfte geworden sein, dass die nun offenbar konsentierte Einsetzung einer Enquete-Kom-mission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ über-fällig ist.
Es geht bei diesem Themenkomplex schließlich umGrundlagen des Menschseins, also um Existenzfragender Menschheit. Da darf sich ein Parlament nicht um ei-ne Durchdringung – auch wenn sie schwierig ist – undgegebenenfalls um klare Normierungen drücken. Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion hat der Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnenund Zuschauer dort oben! Ewige Jugend – ein Traum.Ewige Schönheit – ein Traum. Ewige Gesundheit – zau-berhaft. Ewiges Leben – ein Albtraum, vermute ich. Alldas aber verspricht uns die Biotechnologie, die Gen-technologie, die dahinter stehende Bioethik. Wir reden heute über ein Patent, das eigentlich nichthätte angenommen werden dürfen. Ich finde, es hätteniemals beantragt werden dürfen, es hätte nicht so weitkommen dürfen, dass es überhaupt beantragt werdenkonnte.
Selbstverständlich hat die PDS bereits Einspruch ein-gelegt. Ich freue mich, dass die Regierung dies auch tunwird. Aber, meine Damen und Herren, es handelt sichhierbei nicht in erster Linie um ein juristisches Problem.Hier geht es um die Frage: Welches Menschenbild ha-ben wir? Es geht um die Frage: Wie gehen wir mit uns,der Welt, der Natur und all dem um? Derjenige, der entdeckt hat, was man mit den Zell-kernen machen kann, Erwin Chargaff – inzwischen 95 Jahre alt – , hat sich von seiner Entdeckung mit Ent-setzen abgewandt. Er warnt seit über 40 Jahren vehe-ment davor, irreversible Veränderungen in der Naturvorzunehmen, weil sie unanständig sind. Man kann einLebewesen, das gentechnisch verändert ist, nicht „zu-rückrufen“. Es führt dann ein Eigenleben und ist recht-lich nicht unter Eigentumsschutz zu stellen, weder voneiner Universität, noch von einem Wissenschaftler, nochvon einer Firma , oder weiß der Teufel von wem. In die-sem Hause konnten wir uns bisher obwohl es jetzt an-ders aussieht – nicht einmal auf die Einrichtung einerEnquete-Kommission zu dieser Thematik einigen. Jetztwird sind alle aufgeschreckt, jetzt sind wir alle entsetzt.Meine Damen und Herren, es gibt viele, die seit Jah-ren vor dieser Entwicklung warnen. Es gibt aber leiderauch viele, die immer nur die Chancen und Verheißun-gen sehen und – für sie das Schlimmste – den „Wirt-schaftsstandort“ gefährdet wähnen, wenn wir das nichtfördern würden. Fortschrittsfanatismus hilft niemandemweiter: uns nicht und der Menschheit als solcher auchnicht. Ich kann vor dem Machbarkeitswahn einiger Wis-senschaftler, einiger Techniker und auch einiger Politke-rinnen und Politiker nur warnen.Wie leichtfertig reden wir häufig von „menschlichemLeiden“, das es zu beseitigen, abzuschaffen gelte. SagenSie doch bitte einmal, meine Damen und Herren: Wo-rüber sollen sich denn unsere Enkelinnen und Enkel oderdie dann im Labor konstruierten Nachkommen nochfreuen, wenn sie gar nicht wissen, was Leid ist, wenn diegar keinen Schmerz mehr kennen? Ich stelle mir eineDr. Edzard Schmidt-Jortzig
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8336 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
solche Zukunft grauenhaft vor. Deshalb: Es geht hiernicht darum, dass nur verboten werden soll, in dasmenschliche Genom einzugreifen. Ich finde, das ist vielzu kurz gegriffen. Denn es nützt nichts, wenn ich erlau-be, Ratten, Affen, Fische oder auch nur Bakterien gene-tisch zu verändern, und so tue, als ob ich es irgendwieverhindern könnte, dass es nicht doch jemanden gibt, derdieselben Technologien, dieselben Techniken, dasselbeWissen und dieselben Instrumente auf Menschen an-wendet. Wenn wir wirklich wollen, dass die Einzigartig-keit jedes Lebewesens so bleibt, wie sie ist – dafür brau-che ich kein religiöser Mensch zu sein –, dann könnenwir nicht wollen, dass alles erlaubt ist, außer der Eingriffin das menschliche Genom.Das Parlament ist ein politischer Ort. Wir müssenhier politisch entscheiden. Wir brauchen dazu auch Mut.Wenn wir nicht dazu kommen, dass gesellschaftlich ge-ächtet wird, was hier geschieht, kommen wir nicht wei-ter. Die Natur ist keine „Fehlkonstruktion“. Sie bedarfkeiner irreversiblen Korrektur. Lasst Sie uns erhalten,wie sie ist, und verschandelt sie nicht durch angebliche„Verbesserungen“, die nur von uns wegführen können:von den Menschen und von der Natur an sich.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Her-
ren und Damen! Gestatten Sie, dass ich hier sage: Ich
bin wirklich beeindruckt davon, wie die Diskussion von
allen Fraktionen heute hier geführt wird, wie sie eröffnet
worden ist und wie intensiv gerade im letzten Beitrag
und auch von Ihnen, Herr Dr. Schmidt-Jortzig, das
Thema behandelt worden ist: Was geschieht, wenn der
Mensch über Instrumente verfügt, die die Fragen, was
der Mensch als Mensch ist und was der Mensch als Sub-
jekt des Menschenrechts ist, so tief berühren, dass wir
erkennen müssen, dass mit der Anwendung dieser Tech-
nologien unser gesamtes kulturelles Selbstverständnis,
das, was wir als sozial, als gerecht, als gleich empfinden
und was Moral und Ethik ausmacht, ganz tief getroffen
ist?
Wir haben diese Debatte heute als Aktuelle Stunde
beantragt, weil wir das Gefühl hatten, dass die Nach-
richt – die auch uns sehr überrascht hat – , dass eine sol-
che Patentierung genehmigt worden ist, die Menschen
zutiefst erschreckt hat. Ich denke, wir müssen deutlich
machen, dass wir als Parlament uns als eine Einrichtung
betrachten, die solche tief gehenden Fragen nicht nur ak-
tuell behandelt, sondern auch darüber hinausgehende
Antworten zu geben bereit ist und sich dieser Aufgabe
stellt.
Es wurde in den vorangegangenen Beiträgen vielfach
gefragt: Wer kontrolliert eigentlich das Europäische Pa-
tentamt? Es gibt eine Diskussion um die Inhalte der
Bioethikkonvention, bei der auch ich der Meinung bin,
dass die Grenze nicht eindeutig gezogen ist und dass
embryonale Föten Fremdinteressen unterworfen, benutzt
und verwertet werden können.
Insofern können wir uns nicht positiv darauf bezie-
hen. Auch aus diesem Grund – das hat die Qualität der
Debatten und der Anträge in der letzten Legislaturperio-
de in diesem Hause ausgemacht – haben wir gesagt: Die
Bundesregierung soll nicht dieser Konvention beitreten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen!Dr. Ilja Seifert
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8337
Nun wissen wir es mit beängstigender Eindrücklichkeit:Die Entnahme von Zellen aus menschlichen Embryonen,die gentechnische Manipulation dieser Zellen und dieZüchtung gentechnisch manipulierter Menschen just ausdiesen Zellen sind die Visionen der Genkonzerne.Meine Damen und Herren, das sind keine zukunftszu-gewandten Visionen. Das ist ein Schreckensszenario.Dies alles wird nun überaus deutlich offenbart durchdas Patent, das am 8. Dezember 1999 vom EuropäischenPatentamt in München erteilt wurde. Wir wollen unsnichts vormachen: Dieses Patent ist nur die Spitze desEisberges. Das Tabu ist bedauerlicherweise schon längstgebrochen. Weltweit werden in Ländern, in denen dasstrenge deutsche Embryonenschutzgesetz nicht gilt undin denen nicht die gleichen ethischen Maßstäbe wie inDeutschland angelegt werden, menschliche Embryonenzu Forschungsobjekten. Damit ist der Ausverkaufmenschlicher Identität und Individualität vorprogram-miert.Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, dasssechs Jahre lang niemandem im Europäischen Patentamtaufgefallen ist, dass der diesbezügliche Patentantrag „al-le Teile von Tieren, insbesondere von Säugern – ein-schließlich des Menschen“ – umfasst. Durch die im Pa-tent formulierten Ansprüche wird der gentechnisch ver-änderte Mensch eindeutig selbst zum patentierten Pro-dukt. Wir wissen es: Gentechniker träumen davon, mit die-ser Methode nicht nur den Körper, sondern auch denGeist bestimmen zu können. In dieser Situation ist derFehler des Europäischen Patentamtes zugleich ein Indi-kator für eine gefährliche Entwicklung, die uns imwahrsten Sinne des Wortes in Teufels Küche führt.Längst ist das Unternehmen Schöpfung globalisiert, undzwar nicht nur im Verbund von Edinburgh und Austra-lien. Die ethische Rechtfertigung erlangen die Bio- unddie Gentechnik nach dem Verständnis meiner Fraktiondurch den biblischen Schöpfungsauftrag, durch den derMensch ermächtigt wird, gestaltend in die Natur ein-zugreifen. Aber wir brauchen in diesem Falle Rechtssi-cherheit. Ohne entsprechende Rahmengesetzgebung gibtes keine Rechtsgarantie für den ethisch begründetenSchutz des menschlichen Körpers.Ich möchte hier nicht nur politische, juristische undmedizinische Argumente anführen. Vielmehr möchte icheine Bemerkung zu der Tatsache machen dürfen, dassfür mich diese Entscheidung auch Ausdruck eines ver-hängnisvollen Zeitgeistes ist. Der Münchener SoziologeKurt Weis stellt einige die Ängste der Menschen geradein dieser Zeit repräsentierende Bilder eindrucksvoll vor.Ich frage mit ihm: Was macht den Menschen zumMenschen? Ist der Mensch heute angesichts der Genfor-schung Mittelpunkt der Schöpfung oder nur Randfigurim Universum? Ist er Krone der Schöpfung oder nur einbesonders erfolgreiches Säugetier? Ist der Mensch Herrder Schöpfung oder nicht einmal Herr im eigenen Hau-se? Ist er moralisch ausgezeichnet oder nur durch egois-tische Gene manipuliert? Ist er Be-Herrscher der Weltoder technisches Anhängsel als Be-Diener seiner Tech-nik? Ist er einmalig und besitzt er individuelle Identitätoder ist er bald durch Klonen zu vervielfältigen? Ist ereinmalig aufgrund seines intelligenten Gehirns odercomputerähnlich und damit bald übertreffbar? Ist er, te-letechnisch gesehen, jederzeit erreichbar und ein Virtuo-se in interaktiven Medien oder nur ein Beziehungs- undKommunikationskrüppel sowie ein Informationsidiot? Vor all diesen bedrängenden Fragen möchte ich Fol-gendes deutlich benennen: Erstens. Der Mensch ist keine Erfindung. Er kann da-her auch nicht patentiert werden.Zweitens. Das genetische Erbe der Menschheit istkeine Handelsware. Drittens. Die EU hat die Pflicht, sich nicht nur umden Kommerz, sondern nicht zuletzt auch um die ethi-sche Zukunft Europas zu kümmern.
Viertens. Die europäische Politik darf es sich nichtlänger gefallen lassen, dass eine Behörde mit ihrer eige-nen Gerichtsbarkeit über so wichtige ethische Zukunfts-fragen entscheidet, geht es doch hier nicht nur um dasVersagen von Prüfern. Dieser Fall ist vielmehr verhäng-nisvoller Ausdruck eines Systems, das auf die Industriefixiert ist und nicht mehr auf dieEthik.
Ich fordere daher: Patente auf Gene müssen wiedervon der Bildfläche verschwinden.
Schließlich gilt es zu verhindern, dass das Klonenvon Menschen durch die Hintertür legalisiert wird. Ich fordere: Die deutsche und die europäische Patent-gesetzgebung müssen dringend verbessert und die Pa-tentämter einer stärkeren öffentlichen Kontrolle unter-stellt werden. Wir sollten nach meiner Meinung auchüberlegen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, eine zweiteKontrollinstanz für gentechnische Verfahren einzurich-ten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Lensing, Sie
müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Ich verstehe das gut;ich habe auch nur noch zwei sinnvolle Gedanken – nachmeinem eigenen Verständnis – vorzubringen.
Eine solche Behörde sollte unabhängig vom Europäi-schen Parlament arbeiten.Ich unterstütze in der Tat gemeinsam mit meinerFraktion die Bemühungen, die die Bundesregierung jetzt – wie ich hoffe – offensiv angehen wird, um einenEinspruch geltend machen zu können.
Werner Lensing
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8338 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Durch den Tabubruch des Patentamtes ist der im Laborproduzierte und patentierte Mensch nun deutlich nähergerückt – für mich eine Horrorvision, die es mit allenMitteln zu verhindern gilt.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär beider Bundesministerin
für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen.
W
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es istganz wichtig, dass in der Diskussion deutlich wird, dieVorfälle im Europäischen Patentamt können keine Frak-tion, keine Gruppe und – wie ich denke – auch nicht dieBundesregierung dazu bewegen, diese Vorfälle zum An-lass für eine Deregulierungsdebatte zu nehmen. Ganz imGegenteil; es ist wichtig, dass der Konsens in diesemParlament sehr breit ist, dass die Entscheidung vom En-de der 80er-Jahre – klare ethische Grenzziehung imUmgang mit der modernen Biomedizin – richtig ist undsich für Deutschland auch bewährt hat. Es geht alsonicht nur um das Versagen des Europäischen Patentam-tes, sondern es geht um eine Entwicklung in der biome-dizinischen Forschung, bei der das, was traditionell Me-dikament war, verschwimmt und bei der auch die Gren-zen für die Patenterteilung offenkundig ins Rutschenkommen, vor allem dort, wo es um die Anwendung amMenschen geht. Es gibt und gab immer gute Gründe, Gene und vor al-lem ihre Genprodukte im Kontext der Entwicklung neu-er Medikamente patentieren zu lassen, um wichtige In-novationen und auch Investitionen in der modernenPharmaforschung zu ermöglichen. Das ist bei der Ent-wicklung von Insulin und Interferon wie auch andererWirkstoffe wirklich kein streitiges Thema. Wir stehenjetzt aber vor einer Entwicklung, in der sich das, was wirklassisch unter einem Medikament, einem Wirkstoffverstanden haben, dramatisch wandelt. Ein erster Schrittist die somatische Gentherapie, gegen die aus meinerSicht keine ethischen Bedenken bestehen. Aber hierwerden - das muss deutlich hervorgehoben werden -Techniken zur Veränderung des genetischen Programmsmenschlicher Körperzellen entwickelt; hier wird diegentechnisch manipulierte Körperzelle selbst zum Me-dikament, um Krankheiten wirksam bekämpfen zu kön-nen. Gerade in den letzten Monaten ist deutlich zu beo-bachten gewesen, dass der massive Einstieg kommer-zieller Interessen in das erhoffte Gentherapiegeschäft inAmerika dazu geführt hat, dass Risiken verharmlost oder verdunkelt wurden und Todesfälle bei der klini-schen Erprobung möglicherweise zur Sicherung desBörsenwertes von Firmen verheimlicht wurden, eine injeder Hinsicht inakzeptable Entwicklung. Der Aufschwung der Stammzellforschung, insbeson-dere die Arbeiten an der Strategie des so genannten the-rapeutischen Klonens verschärfen diese Entwicklungund werfen neue dramatische Fragen auf. Stammzellfor-schung bearbeitet durchaus interessante medizinischeFragestellungen, vor allem dann, wenn es um diejenigenZellen geht, die jeder von uns in seiner Leber, in seinemHirn hat – nämlich Stammzellen, die nicht voll ausdiffe-renziert sind, die also in ihrer Entwicklung beeinflussbarsind und die sich vermehren können.Forschungsarbeiten an solchen Stammzellen sindethisch vertretbar; sie haben durchaus auch ein beachtli-ches therapeutisches Potenzial. Aber die Strategie, nachder entkernte menschliche Eizellen das genetische Pro-gramm eines Menschen aufnehmen sollen, vielleichtauch einmal differenzierte Zellen in totipotente Zellenzurückverwandelt werden sollen – das ist eine dieser Vi-sionen oder Utopien der Grundlagenforscher –, könntedazu führen, den Prozess der Menschwerdung asexuellstarten zu lassen. Hier ergibt sich das Problem, dass dieTechnik für die Gewinnung embryonaler Stammzellenund auch ihrer gentechnischen Manipulation plötzlichfür patentierbar erklärt wird. Es gibt ein Patent in Großbritannien, das im Januarerteilt worden ist und das noch viel dramatischer ist alsdas, worüber wir heute reden; denn dort hat die kalifor-nische Firma Geron zwei Patente erhalten - so berichtet„Science“ in seiner Ausgabe vom 28. Januar 2000, – diedieser Firma kommerzielle Rechte an durch Klonen ge-wonnenen Embryonen sichert. Diese Rechte erstrecken sich nach Aussage von DavidEarp, Vizepräsident von Geron, auch auf menschlicheEmbryonen. Offenkundig hat das britische Patentgerichtaus dem englischen Rechtszustand, dass Embryonenfor-schung in den ersten 14 Tagen erlaubt ist – mit allenKonsequenzen: verbrauchende Embryonenforschung, al-les, was möglich ist –, eine Legitimation für eine Pa-tenterteilung in dem Bereich abgeleitet, mit der Begrün-dung, dieses Patent decke ja nur die Forschung anmenschlichen Embryonen in den ersten frühen Entwick-lungsstadien ab. Dies geht nach dem Motto: Woverbrauchende Embryonenforschung erlaubt ist, kannsich auch das Patentrecht uneingeschränkt auf teilungs-fähige menschliche Eizellen erstrecken.Dann, schreibt „Science“ – das ist natürlich eine hüb-sche Wissenschaftssprache –, würden diese Stammzel-len „geerntet“ und zur Behandlung des Patienten ver-wandt werden: befruchtete menschliche Eizellen in denersten Stadien der Zellteilung sozusagen als Saatstättefür Stammzellen. Das ist schon eine zynische Sprache.Ich denke, dass uns mit großer Sorge erfüllen muss, mitwelcher Zielstrebigkeit hier von interessierten Firmendie Patentierung von geklonten, manipulierten, totipo-tenten menschlichen Zellen vorangetrieben wird. Die europäische Patentrichtlinie sieht – das mussdeutlich hervorgehoben werden – Gott sei Dank, andersals das amerikanische Patentrecht, durchaus die Patent-versagung aus ethischen Gründen vor.
Dass dies im europäischen Patentrecht verankert wordenist, liegt maßgeblich an dem Drängen der deutschen Sei-Werner Lensing
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8339
te. Denn es gibt in anderen europäischen Ländern auchPatentrechte, die die Möglichkeit der Patentversagungaus ethischen Gründen nicht vorsehen.
Deshalb muss unsere massive Kritik an dem Europäi-schen Patentamt darauf zielen, dass von einer aktivenWahrnehmung dieser neuen Aufgabe nicht die Rede seinkann. Das Patentamt hat bis heute nicht begriffen, dassdiese neue europäische Patentrichtlinie auch die Einhal-tung ethisch gebotener Grenzen – gerade was den Ein-griff in die menschlichen Erbanlagen angeht – durch dasPatentamt einfordert. Ich denke, wir sind uns einig, dasssich das Patentamt dieser Aufgabe bisher nicht gestellthat und an dieser Stelle versagt hat.Ich möchte aber noch zwei Dinge positiv würdigen.Sie wissen, dass das Projekt zur Entschlüsselung dermenschlichen Erbanlagen eine Vielzahl von Informatio-nen über menschliche Gene bringt und sich daher dieFrage nach Patentierung in besonderer Dringlichkeitstellt. Es ist wichtig, an dieser Stelle positiv zu betonen:Nur durch die Tatsache, dass das Projekt der Entschlüs-selung menschlicher Erbanlagen aus öffentlichen Mit-teln finanziert worden ist, besteht heute überhaupt nochdie Möglichkeit, dass das menschliche Genom mit sei-nen Informationen tatsächlich Gemeingut wird, öffent-lich zugänglich bleibt. Denn private Firmen vor allem inden USA versuchen massiv, eine private Aneignung die-ses Wissens zu erkämpfen. Es ist wichtig, dass die Ge-nomforscher weltweit bereit sind, gegen diese Strategieder Unternehmen – auch in Prozessen – anzugehen. Ichglaube, wir sollten die deutschen Wissenschaftler in derAblehnung der privaten Aneignung dieser Informationenstützen.Lassen Sie mich mit einer Bemerkung zum ThemaInternationalisierung schließen. Wir sind konfrontiertmit der Anmeldung eines Patentes, das nicht in Deutsch-land entstanden ist. Wenn solche Patente auf europäi-scher Ebene nicht zugelassen werden, kann es sein –diese Entwicklung werden wir in Europa bekommen –,dass sie in Großbritannien oder Italien zugelassen wer-den. Wir müssen uns der Frage, wie wir internationaleRegeln und Standards auf diesem Gebiet zumindest inEuropa durchsetzen, mit einer anderen Dramatik wid-men.
Ich stimme Herrn Hüppe zu: Das Menschenrechts-übereinkommen zur Biomedizin regelt diese Frage nichtabschließend. Zu diesem Zeitpunkt, 1996, ließ sich dieFrage des therapeutischen Klonens noch gar nicht ab-schließend regeln, weil die Entwicklung embryonalerStammzellen damals nicht die Dynamik wie heute hatte.Aber wir sind dringend darauf angewiesen, in dieserFrage eine europäische Lösung zu finden. Deshalb las-sen Sie uns in den Prozess stärker einsteigen: auf der ei-nen Seite unsere gemeinsamen deutschen Positionen in-ternational offensiv zu vertreten, auf der anderen Seiteaber nicht die schwierige Frage wegzudrücken, was unsinternationaler Konsens wert ist, auch dann, wenn dieRegelungen nicht voll dem deutschen Schutzniveau ent-sprechen. Diese Frage wird sich in den nächsten Mona-ten noch mit viel größerer Dramatik stellen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Peter Hintze für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es tut dem Deutschen Bun-destag gut, dass er dieses Thema zum Anlass nimmt,sich hier im Parlament einmal mit ethischen Grundfra-gen im Zusammenhang mit unserer Normbildung zu be-schäftigen. Darüber besteht auch eine große Überein-stimmung. Der schwerwiegende Fehler einer Behörde hat einThema von höchster ethischer Relevanz in die öffentli-che Diskussion gebracht. Wir haben das aufgegriffenund das ist gut so. Darf der Mensch alles, was er kann?Viele Redner haben dazu gesprochen und die Fragenicht nur mit einem klaren Nein, sondern auch mit ei-nem klaren Bekenntnis zur Unverletzbarkeit der Würdedes Menschen beantwortet. Nun möchte ich einen Zwischenruf von einem Mit-glied dieses Hohen Hauses aufgreifen, der gemachtwurde, als ich zum Rednerpult ging. Er war der Mei-nung, zu dem Thema sei bereits alles gesagt. Ich versu-che, diese Befürchtung zu widerlegen.Hier war sehr viel von Wachsamkeit die Rede. DerParlamentarische Staatssekretär Catenhusen hat davongesprochen, dass wir eine europäische Regelung brau-chen. Ich sage nur summarisch: Wir brauchen eineweltweit greifende Regelung. Das ist klar und das hat erauch gemeint. Hier besteht kein Widerspruch zwischenunseren Ansichten. Ich finde es aber wichtig, dass unse-re Aufforderung zur Wachsamkeit nicht in einer läh-menden Betroffenheit stecken bleibt. Diese Gefahr seheich bei unserer Debatte. Ich möchte dies ganz kurz er-läutern:Erster Punkt. Die Patenterteilung war ein schwererFehler. Sie ändert die Rechtslage in Deutschland unsererAuffassung nach jedoch nicht. Ein Patent gibt nieman-dem das Recht, etwas zu tun, es verbietet nur einemDritten, etwas wirtschaftlich zu verwerten, worauf derPatentinhaber ein Patent hat. Das ist für die Juristen un-ter uns eine Selbstverständlichkeit, aber für die Öf-fentlichkeit wichtig zu sagen, weil dem Patentamt unter-stellt wird, es habe jetzt quasi die Tür zum Hades geöff-net. Ein von mir sehr geschätzter Vorredner hat vorhinein ähnliches Bild gebraucht. Wir müssen der Öffent-lichkeit sagen, dass dieses Patent die Rechtslage inDeutschland und Europa erfreulicherweise nicht zumSchlechteren verändert.Zweiter Punkt. Die Gentechnik wird das21. Jahrhundert ähnlich nachhaltig bestimmen wie dieComputertechnik die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
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8340 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Ich meine, wir dürfen das Thema nicht nur unter demAspekt der drohenden Gefahren und Probleme diskutie-ren. Ich möchte einmal alle Vorredner ansprechen, dievon der ethischen Urteilsbildung gesprochen haben. Zurethischen Urteilsbildung gehört natürlich auch, dass wirMenschen uns fragen müssen, was wir mit unseren geis-tigen und körperlichen Gaben mit Blick auf die Über-windung von Hunger, Krankheiten oder Seuchen tunkönnen. Bei einigen der ganz großen Menschheitsgei-ßeln, beim Krebs, bei Aids, bei vielen anderen zerstö-renden Krankheiten, liegt in der Gentechnologie ohneFrage auch das Potenzial für viele ethisch sehr positiv zubewertende Ergebnisse.
– Es ist nach einem Beispiel gefragt worden. Ein solchesmöchte ich gerne nennen: Die Firma Bayer beispiels-weise produziert in den Vereinigten Staaten von Ameri-ka – weil Nordrhein-Westfalen damals als Standort poli-tisch unsicher schien – auf gentechnische Weise denBlutgerinnungsfaktor VIII, den Bluter brauchen, damitsie nicht bei einer kleinen Verletzung ausbluten undsterben. Dies ist ein Beispiel. Auch insulinabhängigeMenschen profitieren heute davon, dass Insulinprodukteauf gentechnischem Wege hergestellt werden, die imGegensatz zu aus tierischen Produkten gewonnenenStoffen für den menschlichen Körper besser verträglichsind. Es gibt eine ganze Reihe von weiteren positivenBeispielen.Ich möchte hier denen ausdrücklich widersprechen,die sagen: Das ist schlimm, dahinter steckt eine wirt-schaftliche Wirkung. Meine Damen und Herren, wir wä-ren fahrlässig, wenn wir die positiven wirtschaftlichenWirkungen, die in einer guten und positiven Biotechno-logie stecken, nicht erkennen und für uns nutzen, son-dern sie wieder den Vereinigten Staaten von Amerikaüberlassen würden, wie uns das bei der Computertech-nik passiert ist.Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass esein Problem für Deutschland und Europa sei, dass vielekluge Köpfe im Bereich der Informatik aus Deutschlandnach Amerika gehen, weil sie sich hier nicht verstandenfühlen und keine Wirkungsmöglichkeiten haben. Ichmöchte nicht, dass das Gleiche auf dem Gebiet der Bio-technologie passiert. Wir können übrigens all unsere ethischen Grundsätzenur dann durchsetzen, wenn wir dafür weltweit ein Be-wusstsein schaffen. Ich möchte einmal sagen: Was deut-sche Universitäten, was die Deutsche Forschungsge-meinschaft, was deutsche Unternehmen in diesem Be-reich machen, entspricht nach meiner Kenntnis und Ein-sicht voll unseren ethischen Grundsätzen und bedarf derUnterstützung. Ich fände es sehr bedauerlich, wenn diesewichtige, grundsätzliche Debatte erneut zu einem großenFragezeichen an der Gentechnologie oder an der Bio-technologie gegen unsere Forscher, gegen unsere wis-senschaftlichen Institutionen führen würde.Im Gegenteil: Ich möchte unsere Forscher ermuntern, imRahmen der ethischen Grundsätze, die wir mit ihnen zu-sammen entwickelt haben, dieses wichtige Zukunftsfeldder Menschheit aufzugreifen. Ich komme zum Schluss. Der Kollege Schmidt-Jortzig hat gesagt, es gehe um eine Existenzfrage derMenschen. Er hat Recht, es geht um eine Existenzfrageder Menschen. Sie ist aber nicht mit einem einfachenNein oder einem nicht hinterfragten Ja zu beantworten,wir müssen sie durch einen verantwortlichen Umgangbeantworten. Dann kann die Gentechnologie auch derSchlüssel sein, um Hunger und Krankheiten in der Weltzu überwinden und um wirtschaftliche und humaneFortschritte miteinander zu verbinden. Wenn wir sie indiesem Sinne begleiten, werden wir unserem parlamen-tarischen Auftrag als Normgeber gerecht. Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich möchte uns einfach fra-gen: Weshalb ist das passiert, was steckt dahinter? Wel-che Interessen steckten dahinter? Weshalb wollen For-scher und die sie finanzierende Wirtschaft solche For-schungen durchführen? Weshalb soll das geschehen? Ichmöchte das nicht einfach ableiten, sondern aus einemBericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft, derkürzlich zu diesem Thema erschienen ist, zitieren. Vielleicht ist es ganz gut, den Gegenstand des Patentsnoch einmal kurz zu definieren. Was sind Stammzellen?In den Gesprächen unter den Abgeordneten wurde deut-lich, dass viele überhaupt nicht wissen, was damit ge-meint ist. Ich zitiere:Mit dem Begriff der Stammzelle wird jede nochnicht ausdifferenzierte Zelle eines Embryos, Fetusoder geborenen Menschen bezeichnet, die Tei-lungs- und Entwicklungsfähigkeit besitzt. Diese nimmt im Laufe des Wachstums ab. Ich stelle jetzt die Frage: Was kann man damit ma-chen? Auch diese Frage wird gleich im Vorwort beant-wortet: Die Möglichkeit, pluripotente menschliche Stamm-zellen in Kultur zu halten, – das heißt, im Reagenzglas weiter zu pflegen und amLeben zu erhalten –eröffnet eine völlig neue Dimension medizinischerForschung. Aus diesen Möglichkeiten leitet sie ihre Forschungs-ziele ab. Auch davon möchte ich zwei zitieren. Sie sagt: Langfristig zielt diese Forschung darauf, die Arbeitmit embryonalen Stammzellen zu ersetzen und plu-ripotente Stammzellen aus spezialisierten Zellen – ich sage: Körperzellen –zu gewinnen. Peter Hintze
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Das heißt: Man will und muss dann nicht mehr denUmweg über embryonale Zellen gehen, sondern es wirdangestrebt, aus Körperzellen Zellen zu entwickeln, diedas können, was bisher nur embryonale Zellen können.Dann braucht nicht mehr beachtet zu werden, was dasEmbryonenschutzgesetz schützen möchte, sondern manumgeht die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes.Auf die Frage: Wozu das alles? heißt es weiter: Ein langfristiges Ziel besteht in der Generierungkomplexer Gewebeverbände oder ganzer Organe,die die derzeitigen Engpässe und immunologischbedingten Probleme sowie die Risiken einerKrankheitsübertragung bei der Organtransplantati-on umgehen könnten. Das heißt, die Forschung möchte hier, unter Umge-hung der vom Gesetzgeber vorgesehenen ethischenSchranken, einen Weg finden, der trotzdem medizini-schen Fortschritt möglich macht. Das ist lobenswert. Siemöchte erreichen, dass es Menschenteile, Organhaufenund Gewebe von Menschen geben wird, die nutzbar sindund eingepflanzt werden können, und dabei möglichstkeine ethischen Grenzen überschreiten. Dass das ein Eiertanz ist, merken wir, so glaube ich,ganz deutlich. Dass sich dieser Eiertanz auch in gesetzli-chen Regelungen widerspiegelt, können wir sehen, wennwir uns die Europäische Patentrichtlinie ansehen, dieseit einigen Jahren bekannt ist und die wir in diesemJahr in nationales Recht umsetzen müssen.Wir werden die Interpretationsmöglichkeit, die dieseRichtlinie gibt, noch einmal näher in Augenschein neh-men. Das Europäische Patentamt hat sich zwar hier nichtganz an diese Richtlinie gehalten, aber es wurde bereitsvieles, von dem wir noch gar nicht gesprochen haben,weil es noch nicht zur Tagesordnung durchgedrungenist, vom Europäischen Patentamt verwirklicht. Was ist zum Beispiel mit dem Patent – das BgVV,unsere eigene Behörde, beklagt es –, das eine bekannteKosmetikfirma innehat? Es handelt sich um ein Patent,auch vom Europäischen Patentamt erteilt, nach dem manmit Hilfe embryonaler Stammzellen Kosmetika testenkann. Wir haben ja beschlossen, dass Kosmetika nichtmehr in Tierversuchen getestet werden dürfen. Hier hatdas Patentamt reagiert und gesagt: Embryonale Stamm-zellen werden patentiert, eine Kosmetikfirma erhält dasPatent. Unsere eigene Behörde, das BgVV, welches dieTests zum Schutz der Menschen vor schädlichen Che-mikalien machen möchte – wir haben heute Morgenschon darüber gesprochen – muss 1 Million Dollar Pa-tentgebühren zahlen und im Jahr 100 000 Dollar Patent-gebühren an diese Kosmetikfirma zahlen, damit sie kei-ne Tierversuche durchführen muss. Das ist die Realität.Und das ist nicht das erste dieser Patente.Ich möchte zu dieser Entscheidung des EuropäischenPatentamtes noch etwas hinzufügen. Ich sage es in allerDeutlichkeit: Ich halte es nicht für ein Versehen, son-dern für ein Verdienst von Greenpeace – insbesonderevon Herrn Then, dem ich auf diesem Wege ganz beson-ders für seine Hartnäckigkeit danken möchte, diesesThema an die Öffentlichkeit zur bringen –, dass heraus-gekommen ist, dass das Europäische Patentamt zweimalabsichtlich bei ein und derselben Patenterteilung daraufhingewirkt hat, dass menschliches Gewebe, menschlicheStammzellen, patentiert werden können. Es ist nicht so,dass es in der Beschreibung des Patentgegenstandes ver-gessen wurde, den Menschen auszunehmen. Vielmehrist in der Begründung – sie ist allerdings in Englischformuliert – ausdrücklich erwähnt, dass das Patent auchauf humane Zellen Anwendung finden soll. Also: Beider Beschreibung des Gegenstandes ist die Beschrän-kung herausgelassen worden, aber später wird es aus-drücklich erwähnt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Wodarg, Sie
müssen leider zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss. Wir müssen vieles tun: Wir müssen das
Europäische Patentamt und seine Grundlagen gründlich
durchleuchten, wir müssen dort eine bessere Kontrolle
einrichten. Wir müssen diese schwammigen Richtlinien
der Europäischen Union daraufhin durchleuchten, wo
sich Lücken befinden, die einen solchen Fall ermöglicht
haben. Ich weise darauf hin, dass der Europarat – 41 eu-
ropäische Staaten – beschlossen hat, dass solche Patente
nicht mit den Menschenrechten vereinbar sind. Ich bin
ganz zuversichtlich, dass das, was der Kollege Catenhu-
sen gesagt hat, in eine handfeste Rechtsprechung umge-
setzt werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Wodarg, ich
muss Sie daran erinnern, dass es sich hier um eine Aktu-
elle Stunde handelt.
Ich hoffe, dass wir
den Beschluss des Europarats in der weiteren Diskussion
nutzen können.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin
Ulrike Höfken.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der aktuelleSkandal um die Patenterteilung des Europäischen Pa-tentamtes – ich nenne das sehr wohl einen Skandal undglaube nicht an die Zufälligkeit – rückt das Thema derPatentierung von Lebewesen aus den Dunkelkammernder nicht öffentlichen Entscheidungen einer nicht kon-trollierbaren Behörde dahin, wo es hingehört, in die öf-fentliche Debatte um die gesellschaftliche Nutzung vonEntdeckungen, von therapeutischen Verfahren im Rah-men der Bio- und Gentechnologien.Dr. Wolfgang Wodarg
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8342 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Bei der Patentierung von Lebewesen treffen zweisehr ambivalente Instrumente aufeinander: Zum einendie Patentierung selbst, die einen sehr großen Nutzen be-inhaltet, – auf dieser Grundlage können Investitionengetätigt und wirtschaftliche Entwicklungen ermöglichtwerden –, zum anderen dienen Patente der Eroberungund Festigung von Märkten; sie können zur Monopoli-sierung genutzt werden. Alle Firmen, die Global Playerwerden wollen, gründen ihre Geschäftsstrategien aufweitreichende internationale Patente. Genauso ist es mitder Gentechnik: Auf der einen Seite beinhaltet sie Chan-cen zur Rettung von Leben, zur Forschung und zur Er-reichung von positiven Dingen, die uns bisher nicht ge-lungen sind. Auf der anderen Seite hat sie ganz klar auchdas Potenzial, große ökologische, gesundheitliche undsoziale Risiken heraufzubeschwören und große ethischeProbleme zu verursachen.Wenn Patentrecht und Gentechnik aufeinander tref-fen, zeigt sich die ganze explosive Brisanz des Kon-struktes „Patentierung auf Leben“. Denn dieser Fall –das ist vorhin schon erwähnt worden – ist durchaus nichtder einzige, in dem sich das Europäische Patentamt ei-genmächtig über Rechtsnormen hinweggesetzt hat. Of-fensichtlich ist die ganze Konstruktion marode. Das, wasSie, Herr Lensing, als Zeitgeist bezeichnet haben, zeigtsich immer häufiger: Die bisher meiner Ansicht nachetwas naive Haltung in Richtung einer Technikgläubig-keit auch gerade in Bezug auf die Gentechnik animiertdiese Forscher doch ganz offensichtlich dazu, sich ingewisser Weise zu verselbstständigen und diese Normenzu verletzen. Es gibt einen Grundkonsens darüber – das ist auchgesetzlich geregelt –, dass eine Patentierung menschli-cher Gene oder gar Embryonen in Deutschland nicht inFrage kommt, aber ich möchte die Aufmerksamkeiteinmal stärker auf die Patentierung von Tieren und vonPflanzen lenken.
Auch die Patentierung von Tieren wirft schwerwie-gende ethische Fragen auf, was gerade die Anmeldungdieses Patentes zum Ausdruck bringt. Schweine oder Fi-sche mit menschlichen Wachstumsgenen kommen aufdie Teller. Es stellt sich die Frage, ob Menschen oderTiere als Ersatzteillager gehalten oder gezüchtet werdendürfen. Das ist ein großes ethisches Problem und abge-sehen davon im Übrigen auch ein gesundheitliches Pro-blem, das Einfallstor für die Übertragung von Krankhei-ten, die wir bisher noch gar nicht kennen oder die aufdiese Art und Weise eben noch nicht zustande gekom-men sind.
All dies gilt es zu bedenken. Das Gleiche gilt für die Patentierung von Pflanzen.Herr Hintze hat vom Hunger in der Welt gesprochen. Ja,natürlich, aber Sie wissen doch: Gerade die Entwick-lungsländer haben große Sorgen vor der Biopiraterie,davor, dass die dortige Artenvielfalt an Heil- und Kul-turpflanzen mit ihren Wirkstoffen patentiert wird, wäh-rend am Ende die dort lebenden Menschen, weil sienicht die nötigen finanziellen Mittel haben, leer ausge-hen, – abgesehen davon, dass die Verhinderung vonHunger durch Gentechnik recht unmöglich ist. Wichtig ist Folgendes: Die Politik wird sich daranmessen lassen müssen, welche Konsequenzen sie ausdieser Situation zieht. Erstens ist es wichtig, dass die Entscheidungen desEuropäischen Patentamtes für die Öffentlichkeit transpa-rent werden. Es kann nicht von der Findigkeit einigerGreenpeace-Aktivisten, denen tatsächlich Dank gebührt,abhängen, dass derartige Fehlentscheidungen an die Öf-fentlichkeit kommen.
Zweitens muss das Europäische Patentamt kontrol-lierbar werden. Damit ist nicht allein der Gerichtsweggemeint. Die Bundesregierung sollte sich aber dafür ein-setzen, Klagerechte für Einwender beim EuropäischenGerichtshof zu schaffen, und eine unabhängige Ein-spruchsinstanz einbeziehen. Drittens müssen die Entscheidungen des Europäi-schen Patentamtes rückholbar sein; auch darauf ist inden Reden schon eingegangen worden. Gerade im Um-gang mit einer neuen Technologie, in der täglich ganzneue Erkenntnisse gewonnen werden können, kann esnicht sein, dass Entscheidungen auf der Grundlage desWissensstandes von vorgestern oder selbst krasse Fehl-entscheidungen nicht korrigierbar sind. Die offene Flanke, die hier – ich glaube, vom Kolle-gen Brinkmann – genannt worden ist, ist im konkretenFall, dass die Embryonennutzung nur zur Erzeugungvon Nachkommen verboten ist und nicht als „Ersatzteil-lager“ für Organe. Hier liegt das Problem, dass in dieserArt und Weise der eigentliche gesetzgeberische Willenumgangen werden soll. Durch den aktuellen Fall ist auch die Haftungsfrageneu aufgeworfen worden. Es kann nicht sein, dass fürgravierende Fehler keiner haftet und keiner zur Verant-wortung gezogen werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, auch
Sie müssen bitte auf die Redezeit achten.
Ja. –Ein letzter Satz: Solange diese gravierenden Verfah-rensmängel – es ist schon der Begriff Missstände gefal-len – nicht behoben sind, sollte die EU-Patentrichtlinieauch nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Zuallerletzt: Ich meine, wie auch Kollege Brinkmanngesagt hat, dass Patente auf Erfindungen und nicht aufLeben erteilt werden sollten, nicht auf menschliche Ge-ne, nicht auf tierische und nicht auf pflanzliche.Danke schön.
Ulrike Höfken
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8343
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Empörung über
die Erteilung des Patentes zur gentechnischen Manipula-
tion an menschlichen Embryozellen ist einhellig. Sie
geht über alle Parteien dieses Parlamentes hinweg und
ist auch in der Öffentlichkeit spürbar. Sie entspringt
wohl der Sorge der Menschen, in einer Weise durch
Technik fremdbestimmt zu werden, die die Person in ih-
rem Kern trifft. Deswegen ist diese Sorge auch so groß.
Ich meine, dass wir in der Debatte auf diese Sorge der
Menschen sehr gut eingegangen sind und dass wir in ei-
ner wirklich fruchtbaren Weise miteinander diskutieren.
Wir sind uns auch darüber einig, dass die Manipulati-
on an menschlichen Embryonalzellen nicht möglich sein
darf, weil sie der Würde des Menschen widerspricht, de-
ren Unverletzlichkeit in Art. 1 des Grundgesetzes festge-
legt ist und die der Mensch von Anfang an besitzt – sie
wird ihm nicht vom Staat verliehen –, und zwar genau
ab dem Zeitpunkt, ab dem die Individualität des Men-
schen vorhanden ist, nämlich ab der Verschmelzung von
Ei- und Samenzelle. Unser Embryonenschutzgesetz
schützt diesen Vorgang in besonderer Weise, weil er
auch in vitro geschehen kann. Darauf hinzuweisen
scheint mir bei einer solchen Gelegenheit ebenfalls
wichtig. In Deutschland ist schon vor zehn Jahren eine
Regelung geschaffen worden, die den Sorgen der Men-
schen, glaube ich, gerecht wird. Natürlich sind Verbes-
serungen ohne weiteres denkbar.
Wir stimmen auch darin überein, dass die hier disku-
tierte Patentierung gegen nationales und internationales
Recht verstößt. Das festzustellen ist auch wichtig. Es
war im Grunde ein rechtswidriger Akt. Insofern stim-
men wir alle überein und unterstützen die Bundesregie-
rung darin, dagegen Einspruch einzulegen. Aber es ist
wohl auch richtig, darüber nachzudenken, ob nicht eine
Instanz in irgendeiner Form geschaffen werden muss,
die zumindest kontrolliert, ob das Europäische Patent-
amt Rechtsfehler begangen hat. Ihr Vorschlag, Herr
Lensing, dass in der Kontrollinstanz die ganze Technik
noch einmal überprüft werden soll, mag diskussions-
würdig sein. Aber mir scheint die Forderung wichtig zu
sein, zumindest die Rechtmäßigkeit der Erteilung eines
Patentes noch einmal durch eine Kontrollinstanz über-
prüfen zu lassen.
Zu beachten ist auch, dass der Antrag auf Patentie-
rung aus Großbritannien kam, einem Land, in dem die
Gesetzgebung – das darf ich mit einem gewissen Stolz
sagen – nicht so gut ist wie die in Deutschland. Das be-
deutet, Herr Catenhusen, dass wir entsprechende inter-
nationale Regelungen brauchen. Wenn solche Regelungen
nicht möglich sind, dann muss die Regierung darauf
hinwirken, dass zumindest durch entsprechende nationale
Regelungen im EU-Raum dafür Sorge getragen wird,
solche Ausbrecher in Zukunft unmöglich zu machen.
Zum letzten Punkt. Wir müssen uns auch Gedanken
darüber machen, wie wir Forschung in diesem Bereich
dennoch ermöglichen können. Wir brauchen natürlich
eine Forschung für präventive Medizin, für eine bessere
Diagnostik und für eine bessere Therapie. Eine solche
Forschung darf durch unsere Sorge um den Eingriff in
die Gene des Menschen nicht verhindert werden. Mir
scheint es wichtig zu sein, eine genaue Abgrenzung zwi-
schen Manipulation und Forschung zu finden. Darüber
nachzudenken ist auch Aufgabe unseres Parlamentes.
Ich möchte abschließend das feststellen, was ich
schon eingangs erwähnt habe: Diese Debatte hat gezeigt,
dass es hier eine große Übereinstimmung in diesem
Parlament gibt. Das auszusprechen ist richtig, weil dies
nicht allzu oft der Fall ist.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Es gibt eine große Überein-stimmung und ein allgemeines Erschrecken über das,was sich im Europäischen Patentamt zugetragen hat undwas dort entschieden worden ist. Alle sind sich darübereinig, dass diese Entscheidung gegen Recht verstößt. Trotzdem lassen sich nach meinem Eindruck die Re-den, die ich hier gehört habe, in zwei Gruppen einteilen,auch wenn Nuancen durchaus unterschiedlich stark aus-geprägt sind: Einige beklagen, dass in diesem Fall dasGesetz, das Recht, die allgemeine Moral und die Vor-stellung von Ordre public nicht ausgereicht haben, umeine rechtswidrige Entscheidung – darüber besteht Kon-sens – zu verhindern. Die anderen beklagen – wie ge-sagt, der Unterschied liegt in Nuancen – das Vorhanden-sein der Genforschung und der Biotechnologie selbst alsProblem.
– Ich höre „richtig“. Genau dasselbe habe auch ich ausdem, was Sie gesagt haben, herausgehört. Wir werdenuns entscheiden müssen, auf welcher Seite wir stehen. Das Schreckliche ist in meinen Augen, dass das Eu-ropäische Patentamt jedenfalls dieser zweiten Seite einArgument geliefert hat: die anscheinend vorhandeneUnwirksamkeit von Recht angesichts von Interessen.Danach sieht es ja aus, vor allem, wenn man nicht nur –zumindest grobe – Fahrlässigkeit, sondern auch, wie eseinige tun, Absicht vermutet. Es ist schon schlimm ge-nug, dass nicht mindestens einem Menschen, der im Eu-ropäischen Patentamt arbeitet, die Gänsehaut angesichtsdessen, was er las, gekommen ist.Dies alles führt dazu, dass man sich fragen muss:Was dient denn angesichts so großer Interessen, die imSpiel sind, eigentlich dem Recht? Aber wenn man dieserFrage nachgeht, dann führt das dazu, dass man absolutresignieren muss. Eines wissen wir in Europa seit der
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8344 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Fruchtlosigkeit des Anatomieverbots: Forschung imSinne von Fragen, Wissen-Wollen und Können-Wollenist ein Teil der menschlichen Natur. Ebenso gehört es zur Wahrheit der menschlichen Na-tur, dass sie – da sie „Natur“ ist – in der Petri-Schale undunter dem Mikroskop beobachtbar und erforschbar ist.Wir sind sowohl Beobachter als auch Gegenstand derBeobachtung. Wer glaubt, dass Recht dort nicht zu wir-ken hat und nichts auszurichten vermag, der hat ver-spielt. Zu denen will ich nicht gehören.Das heißt, das Einzige, worauf ich setzen kann undwill, ist Recht. Wohl wissend, dass Recht 100 000fachimmer wieder gebrochen wird,
ist es doch die einzige Sicherheit, Herr Seifert, die ichzum Beispiel meinem behinderten Enkelkind hinterlas-se, wenn eines Tages seine Eltern und ich nicht mehr dasind.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Josef Fell für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Freiheit der Forschung ist ein hohes und schüt-zenswertes Gut. Freiheit der Forschung bedeutet abernicht Schrankenlosigkeit. Sie findet ihre Grenzen beiTatbeständen zum Schutz der Wahrung der Menschen-würde, des Lebens und der körperlichen Integrität. DieseGrenze hat das Europäische Patentamt in München ein-deutig überschritten.Was ist passiert? Das Europäische Parlament erteilteim Dezember für die australische Firma Stem CellSciences, lizenziert von der Universität Edinburgh, einPatent auf ein Verfahren für die Isolierung und die gene-tische Manipulation von embryonalen Stammzellen. Ausdiesen embryonalen Zellen möchten Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler Organe zum Zweck der Trans-plantation – Haut, Herz, Nervensystem – züchten.Anstoß an dieser Entscheidung erregte vor allem derEinschluss auch menschlicher Zellen in den Schutz desPatents. Ein möglicher Eingriff in die menschlicheKeimbahn, der bei Weiterentwicklung der Technik prin-zipiell auch zu patentgeschützten Menschenzüchtungengenutzt werden könnte, steht sowohl im Widerspruchzum deutschen Embryonenschutzgesetz als auch zur eu-ropäischen Biopatentrichtlinie. Die Anwendung dieserTechnologie bei menschlichen Zellen wäre also schlichtillegal und das Europäische Patentamt hat inzwischendiesen Fehler – schlichtweg eine grobe Schlamperei –eingeräumt.Niemand will das Ziel der modernen Biotechnologieinfrage stellen, dass mit der medizinischen Forschungeine Therapie durch verbesserte Medikamente, zum Bei-spiel Insulin für Zuckerkranke, angestrebt wird. Ich er-innere auch daran, dass verbesserte Medikamente fürAids-Infizierte anders gar nicht möglich gewesen wären.Bekannt ist das berechtigte Interesse der Industrie amSchutz ihrer in aufwendigen klinischen Studien geteste-ten Erfindungen durch Patente. Ethische Fragen müssenbei der Erteilung solcher Patente natürlich Beachtungfinden. Aber getrieben durch Interessen der Industriewurden auch und gerade im Europäischen Patentamt inden letzten Jahren Patente auf Gene, Tiere und Pflanzenvergeben. Im Fall der so genannten Krebsmaus im Jahre1992 geschah dies sogar gegen den Willen des Europäi-schen Parlaments. Beruhte die Erteilung des umstrittenen Patents alsowirklich auf einem Fehler? Oder ist dies nicht Teil einerStrategie zur Umgehung der Rechtsprechung und zurAufweichung ethischer Standards? Hier läuft aus meinerSicht in jedem Fall etwas grundfalsch. Auch in Kreisender Wissenschaft herrscht Klage über die „Würgepaten-te“ der Industrie, die auch nicht kommerzielle For-schung lizenzpflichtig und manchmal faktisch unmög-lich machen. Die Menschen erwarten, dass die Politikhier die Rahmenbedingungen zurechtrückt. Mit der Entscheidung des Europäischen Patentamtessind einige Fragen der Gentechnik wieder in den Mittel-punkt gerückt. Warum werden Patente auf Gene erteilt,wenn deren Bedeutung für den Organismus noch garnicht bekannt ist? Dadurch wird zum einen die medizi-nische Forschung selbst behindert; zum anderen werdenethische Grundsätze nicht beachtet, da eine ab-schließende Bewertung noch gar nicht stattgefunden hat.Warum darf das Europäische Patentamt administrativ,unabhängig vom Regierungs- und Volkswillen – dieheutige Debatte hat gezeigt, dass der Volkswillen hiereindeutig ist – und im Gegensatz zur Rechtspraxis Ent-scheidungen fällen? Wir fordern genauso wie Europaparlamentarier dieEinrichtung einer unabhängigen Ethik-Kommission aufeuropäischer Ebene zur Kontrolle eigenmächtiger Ent-scheidungen des Europäischen Patentamtes.
Wie können die beim Europäischen Patentamt entschei-denden Instanzen neutrale Gutachten gewährleisten,wenn sie sich über die Gebühren genehmigter Patentefinanzieren? Wir fordern eine unabhängige Finanzierungder Entscheidungsgremien. Die Enquete-Kommissiondes Bundestages zur Bioethik muss sich dieser Fragendringend annehmen. Daneben hat die Enquete-Kommission auch weitereForschungsfragen in diesem Zusammenhang zu klären.Ein Beispiel will ich noch erwähnen: die fremdnützigeForschung an Menschen mit geistiger Behinderung. Erstjüngst wurde der Verdacht auf unerlaubte humangeneti-sche Untersuchungen an Menschen mit geistiger Behin-derung im St.-Josefs-Stift in Eisingen bei Würzburg vonder Staatsanwaltschaft verfolgt. Allerdings wurde vomvertretenden Rechtsanwalt umfangreiche Beschwerdegegen die Art der staatsanwaltschaftlichen ErmittlungenMargot von Renesse
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8345
eingelegt, da sie nicht intensiv und genau durchgeführtwurden.Die Vorgänge im Europäischen Patentamt oder diemögliche Missachtung der Menschenwürde von Behin-derten bei fremdnütziger Forschung offenbaren dieNotwendigkeit eindeutiger Regelungen zum verbesser-ten Schutz der Menschenwürde, des Lebens und derkörperlichen Integrität bei allen Fragen der Fortpflan-zungsmedizin. Fortschritte der Medizin sollen schließ-lich dem Menschen helfen und ihn nicht versklaven.
Ich gebe das Wortder Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichglaube, es ist selten vorgekommen, dass das Wort Kon-sens so häufig in einer Debatte im Bundestag aufge-taucht ist wie heute. Ich finde das gut und freue mich darüber, auch wenn ich glaube, dass Margot vonRenesse durchaus Recht mit ihrer Beobachtung hat, dassin einigen Bereichen der Bogen der Meinungen und Ein-stellungen auch hier ausgesprochen breit gezogen ist undes darauf ankommen wird, im Detail diesen Konsensauch wirklich herzustellen, der im Augenblick durch dieEmpörung über diesen in der Tat unerhörten Vorganggetragen wird.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, ich freuemich über den Konsens. Das tue ich deshalb, weil ichglaube, dass er ganz schön weit trägt; und das ist gut.Zum ersten ist er bei der Bewertung der rechtlich undethisch falschen Patenterteilung durch das EuropäischePatentamt in München vorhanden. Lassen Sie mich hierübrigens noch kurz anmerken, dass auch die Datenwichtig sind: Dieses Patent wurde bereits im Jahre 1994beantragt, im Januar vorigen Jahres erteilt und im De-zember 1999 veröffentlicht. Ich freue mich darüber, dassuns alle übereinstimmend die Einschätzung verbindet,die Patenterteilung müsse widerrufen beziehungsweiseauf den rechtlich und ethisch einwandfreien Rahmen be-schränkt werden. Ich freue mich auch über die Unter-stützung und den Zuspruch für die Einleitung des Ein-spruchsverfahrens.Ich gehe davon aus – ich darf das deutlich sagen –,dass der Widerruf beziehungsweise die Beschränkungbald erfolgen wird und dass außerdem die UniversitätEdinburgh als Patentinhaber die rechtlichen und ethi-schen Beschränkungen trotz der falschen Patenterteilungschon jetzt akzeptiert. Es gibt Äußerungen, dass sie sichso verhalten wird. Aber wir werden darauf achten und eskontrollieren.Ich glaube, dass der Konsens noch einen Schritt wei-ter reicht. Es ist richtig, dass diese Patenterteilung recht-lich und ethisch gesehen ein gravierender Fehler war.Aber wir müssen auch die Folgen im Auge haben. Wirsind auch darin einer Meinung, dass es nicht nur darumgehen kann, Fehlentwicklungen zu rügen und rückgän-gig zu machen, sondern es muss auch darum gehen, inder Zukunft alles dafür zu tun, dass sich derartige Vor-gänge nicht wiederholen.Deshalb – lassen Sie mich das ausdrücklich sagen –stimme ich allen zu, die hier gefordert haben, es müsseerst einmal geklärt werden, worin denn eigentlich derFehler gelegen habe und auf welche Weise er zustandegekommen sei. Wir müssen zunächst klären, ob es sichnur um ein zufälliges Missverständnis, gewissermaßenum einen Irrtum in der Anwendung der rechtlichen Re-gelungen handelt oder ob hier, wie manche befürchten,die Spitze eines Eisbergs von Problemen zu erkennenist, die auf unklare rechtliche Regelungen zurückzufüh-ren sind. Dies festzustellen ist zunächst Aufgabe des Eu-ropäischen Patentamtes als der zuständigen Behörde.Unsere Aufgabe – übrigens sowohl die der Bundesregie-rung als auch die des Deutschen Bundestages, aber auchdie des Europäischen Parlaments –ist es, uns darum zukümmern, dass die Dinge geklärt und hinterher abge-stellt werden.Ich will Ihnen deshalb berichten, was ich über dieEinleitung dieses Einspruchsverfahrens hinaus in denletzten Tagen unternommen habe. Ich habe die deutscheDelegation im Verwaltungsrat des Europäischen Patent-amts, der in diesen Tagen in Dublin zusammengetretenist, angewiesen, diesen Vorgang dort zur Sprache zubringen, eine klare Erklärung des Präsidenten zu fordernund Regelungen zu initiieren, die für die Zukunft erheb-lich mehr Sicherheit und Kontrolle ermöglichen.Dies ist gelungen. Es hat gestern eine dreistündigeDiskussion gegeben, in der festgestellt und betont wur-de, dass mit der Erteilung eines fälschlichen Patentesnicht automatisch die Berechtigung zur Nutzung des ge-schützten Gegenstandes einhergeht. Der Präsident desEPA hat eingeräumt, dass die Erteilung in rechtlicherund ethischer Hinsicht ein Fehler gewesen sei, und an-gekündigt, Vorkehrungen zu treffen, damit sich derarti-ge Fehler nicht wiederholen. Weiter hat er festgestellt,dass trotz der fehlenden Einschränkung „non human“ –wir haben heute darüber geredet – der Schutzbereichauch dieses konkreten Patentes aufgrund der Art. 69 und84 des Europäischen Patentübereinkommens nicht dasKlonen von Menschen umfasst. Der Verwaltungsrat hatdiese Erklärung zur Kenntnis genommen und seine Be-sorgnis darüber deutlich gemacht, dass der eingeräumteFehler überhaupt hat passieren können. Er hat den Präsi-denten aufgefordert, sicherzustellen, dass künftig wirk-same Vorkehrungen gegen Fehler getroffen werden. Das ist das eine. Ich bin aber zudem der Meinung,dass diejenigen aus dem Hause und vor allen Dingen inder Öffentlichkeit Recht haben, die sagen, das alles rei-che nicht; wir müssten vielmehr auch die Instrumenteder Kontrolle verstärken. Deshalb will ich darauf auf-merksam machen, dass Kontrollmöglichkeiten nichtnur – Frau Kollegin Höfken – auf gerichtlichem Wege,sondern auch durch die Öffentlichkeit schon heute beste-hen, dass diese aber auch genutzt werden müssen.Hans-Josef Fell
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8346 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Ich habe darauf hingewiesen, dass das fälschlich erteiltePatent bereits 1994 beantragt wurde. Nach 18 Monatenwird jede Patentanmeldung automatisch veröffentlicht.Auch dieses Patent wurde nach 18 Monaten –also 1995– veröffentlicht. Wird ein Patent erteilt, wird es noch-mals veröffentlicht. Das war 1999 der Fall. Wir müssengerade in diesem Bereich sehr deutlich darauf hinwei-sen, dass man heute bereits Kontrollmöglichkeitenwahrnehmen kann, die jetzt gefordert worden sind, undzwar „online“. Sie können und sie müssen wahrgenom-men werden. Auch wir selbst müssen uns mehr darumkümmern.Ich glaube, dass darüber hinaus noch eine Reihe vonPunkten mit dem Präsidenten des Europäischen Patent-amtes zu besprechen sind. Dazu gehört die Frage desUmgangs mit der Öffentlichkeit.Ich habe aufmerksam zugehört, als der Kollege Wodarg gerade auf folgenden Punkt hingewiesen hat:Wer die Patentschrift sorgfältig liest, dem fällt auf, dasses zwei Fehler gegeben hat. Der erste Fehler ist die Aus-lassung der Ausschließung menschlicher transgenerStammzellen in der Patentschrift. Der zweite Fehler istdie ausdrückliche Einbeziehung des menschlichen Be-reiches an einer anderen Stelle der Patentschrift. Dasdarf nicht sein. Auch dabei handelt es sich um einenrechtlich und ethisch unakzeptablen Fehler.Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, dassauch der zweite Fehler in der Öffentlichkeit deutlichgemacht wird. Es darf nicht der Eindruck entstehen,Fehler würden nur scheibchenweise zugegeben. Wenndieser Eindruck angesichts der schwierigen Materie er-weckt würde, dann wäre das Vertrauen perdu. Ich glau-be, dass wir dieses Vertrauen dringend brauchen wer-den.Lassen Sie mich einen letzen Punkt anführen. Wirwerden bei der Diskussion der Biomedizin-Konvention,aber auch bei der Umsetzung der Bio-Patent-Richtlinie,die noch in diesem Sommer ansteht, und bei der Rege-lung weiterer schwieriger Einzelfälle um den Konsens,den wir heute allgemein beschworen haben und im Gro-ben hoffentlich existiert, im Detail weiterringen müssen.Wie schwierig dies sein wird, haben uns der Beitrag desStaatssekretärs Catenhusen und andere Beiträge gezeigt.Ich hoffe, dass dieses Haus zu einem Konsens in der La-ge sein wird. Ich lade herzlich dazu ein.Danke schön.
Nun gebe ich das
Wort dem Kollegen Alfred Hartenbach für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Erteilung des Patentesmit der schlichten Bezeichnung EP 0695 351 hat, nach-dem sie bekannt geworden ist, für Aufregung, ja fürEmpörung gesorgt, für Aufregung deshalb, weil hier of-fensichtlich der Versuch unternommen wird, ein Verfah-ren zur Isolierung, Selektion und Vermehrung von tieri-schen transgenen Stammzellen als Patent einzuführen,und weil dabei die menschlichen Stammzellen mit inbe-griffen sind.Es gibt aber auch Empörung darüber – das hat dieFrau Justizministerin eben deutlich gemacht –, dass hierganz offensichtlich eine Veröffentlichung mit den Ein-zelheiten – es geht ja nicht nur um die Nummer des Pa-tentes – nicht erfolgt ist und dass dadurch die Öffent-lichkeit lange Zeit im Unklaren darüber gelassen wordenist, was hier geschieht. Ich denke, wir können denendanken, die diesen Sachverhalt öffentlich gemacht habenund die uns dadurch den Anlass zu dieser heutigen Dis-kussion gegeben haben.Empörung ist aber auch deswegen angesagt, weilhier, so wie es lapidar behauptet worden ist, ein Patentversehentlich erteilt worden ist. Ich hoffe für die Werteund für die Achtung der Würde des Menschen in diesemLand, dass es wirklich nur ein Versehen war. Wir wissenalle, dass gerade in der Biotechnik der Druck auf die Öf-fentlichkeit und auf den Gesetzgeber, Gesetze großzügigzu fassen, immer mehr zunimmt.Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb gestern, solltendie Gesetze aufgrund des größer werdenden Drucks derBiotech-Unternehmen aufweichen, bekämen Patente wiedas soeben bewilligte für die Firmen einen unschätzba-ren Wert. Ich hoffe, dass der Präsident des EuropäischenPatentamtes, den wir alle aus seiner früheren politischenTätigkeit sehr gut kennen, die Größe und das Durchset-zungsvermögen hat, sehr klar und für die Öffentlichkeitnachvollziehbar aufzuklären, was wirklich gewesen ist.Natürlich sind auch wir gefragt, unseren Beitrag dazu zuleisten und auch die Justiz ist aufgefordert. Nun haben wir natürlich die eine oder andere Mög-lichkeit. Frau Justizministerin, ich bin dankbar, dass dieheutige Aktuelle Stunde gezeigt hat, dass dieBundesregierung auf zwei Ebenen tätig geworden ist,nämlich einmal Einspruch dagegen einzulegen und zumanderen auf der Versammlung des Verwaltungsrates dereuropäischen Patentorganisation eine Klarstellungherbeizuführen. Dies hilft uns weiter. Aber wir müssenmehr tun. Alleine die Tatsache, dass man auf demnationalen Rechtsweg klagen kann – wir in Deutschlandzum Beispiel unter Anwendung unseresEmbryonenschutzgesetzes –, reicht nicht aus. Das Patentkann für viele europäische Länder erteilt werden.Angesichts der Globalisierung ist die Vermarktung undVerwertung dieses Patentes dann sehr leicht möglich.Wir müssen also auch sehen, dass wir auf europäischerEbene einen wirksamen Rechtsschutz bekommen, dervor allen Dingen demokratisch legitimiert ist.Ich weiß nicht, ob es ausreicht, dass man Einsprucheinlegen kann, so wie dies die Richtlinien jetzt vorsehen,sodass eine Patentabteilung erneut entscheidet, und dassgegen diese Entscheidung der Patentabteilung eine Be-schwerde möglich ist und die Beschwerdekammer ent-scheidet. Ich denke schon, dass letztlich ein unabhängi-ges Gericht die Entscheidung treffen muss, und ichglaube, darin sind wir uns alle einig. Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte FrauJustizministerin, die heutige Debatte, die mit großerSorgfalt und, wie ich glaube, auch in gegenseitiger Ach-tung geführt worden ist, in der deutlich wurde, dass die-ser Bundestag die Achtung der Würde des Menschenüber alles stellt, zeigt der Öffentlichkeit, dass wir diesesThema ernst nehmen, und sollte uns allen auch den Mutgeben, dass wir bei den anstehenden Beratungen zurUmsetzung der europäischen Richtlinie in nationalesRecht mit großer Sorgfalt, mit großer Gewissenhaftig-keit und in großer Einmütigkeit vorgehen. Ich denke,wir sind auf einem guten Weg dazu, und bedanke michsehr herzlich bei Ihnen für die heutige Debatte.
Damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen
– Drucksache 14/1246 –
– Zweite und dritte Beratung des von den
Abgeordneten Dr. Michael Luther,
Norbert Geis, Ronald Pofalla, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Durchset-
zung von Forderungen der Bauhandwer-
ker
– Drucksache 14/673 –
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
– Drucksache 14/2752 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Andrea Astrid Voßhoff
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Rechtsausschusses
zu dem Antrag der Abge-
ordneten Jürgen Türk, Cornelia Pieper,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Zahlungsverzug bekämpfen – Verfah-
ren beschleunigen – Mittelstand stärken
– Drucksachen 14/567, 14/2752 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Andrea Astrid Voßhoff
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
c) Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Rechtsausschusses
zu dem Antrag der Abge-
ordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft,
Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der PDS
Zahlungsforderungen schneller durch-
setzen – Zahlungsunmoral bekämpfen
– Drucksachen 14/799, 14/2752 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Andrea Astrid Voßhoff
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium
der Justiz, Herrn Professor Dr. Eckhart Pick, das Wort.
D
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Der Bundestag will heute das Ge-setz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen beschließen.Schon in der letzten Legislaturperiode haben alle Frakti-onen des Deutschen Bundestages beklagt, dass die Zah-lungsmoral in Deutschland schlechter geworden sei.Dabei handelt es sich aber nicht nur um ein deutsches,sondern ebenso um ein europäisches Problem. Dies zeigtauch der Vorschlag der EU-Kommission, die dies offen-bar erkannt hat und eine Richtlinie zur Bekämpfung desZahlungsverzugs im Geschäftsverkehr vorgelegt hat. Während die EU-Kommission immerhin einen Vor-schlag gemacht hat, müssen wir für die vergangene Le-gislaturperiode aufseiten der Bundesregierung Fehlan-zeige vermelden. Das muss sich jetzt ändern. Wir müs-sen erreichen, dass fällige Forderungen tatsächlich sofortbeglichen werden. Das fordert das BGB übrigens schonseit 100 Jahren. In der Praxis wird es allerdings nicht er-reicht. Gerade für kleine und mittelständische Unter-nehmen ist dieser Zustand untragbar. Sie sind nicht inder Lage, beliebig lange Außenstände, insbesondere sol-che von Bedeutung, zu überbrücken. Sie sind existen-ziell darauf angewiesen, dass die begründeten Forderun-gen auch tatsächlich erfüllt werden. Das ist sicher in ers-ter Linie ein ökonomisches Problem.Aber auch der Gesetzgeber kann hierzu seinen Bei-trag leisten. Ich füge hinzu, dass unser Recht in vielenPunkten wesentlich besser als sein Ruf ist. Wir haben ineiner Handwerkerfibel des Bundesministeriums der Jus-tiz deutlich gemacht, dass es erfolgreiche InstrumenteAlfred Hartenbach
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gibt. Es gibt aber die eine oder andere Hürde, an derrechtlich unerfahrene Handwerker und kleinere Unter-nehmen scheitern können. Hier setzt der Gesetzentwurfzur Beschleunigung fälliger Zahlungen an. DerRechtsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung einganzes Paket von effektiven Sofortmaßnahmen vorge-legt, um die Fallstricke für kleine und mittlere Unter-nehmen zu beseitigen. Er konnte sich dabei auf Vorar-beiten stützen, die in einer Arbeitsgruppe des Bundesund der Länder zur Verbesserung der Zahlungsmoraldiskutiert und vorgelegt worden sind.Zentral wichtig ist in diesem Gesetzentwurf – da be-steht parteiübergreifender Konsens – die Anhebung desVerzugszinses auf fünf Prozentpunkte über dem Basis-zinssatz. Auch die Verbesserung der Bauhandwerkersi-cherungsbürgschaft wird von allen Fraktionen akzep-tiert. Schließlich ist es ganz wichtig, dass künftig dieAbnahme wegen wesentlicher Mängel verweigert wer-den darf, und zwar nur wegen wesentlicher Mängel.In der jetzt vorgeschlagenen Fassung des Koalitions-entwurfes sind aber auch eine Reihe von Maßnahmenenthalten, die in den Vorschlägen der anderen Fraktio-nen bislang keine Beachtung gefunden haben.
So soll zum Beispiel der Verzug bei Geldforderungenkünftig 30 Tage nach Erhalt der Rechnung eintreten. Eshandelt sich dabei um eine erhebliche Verbesserung ge-rade für die kleinen und mittleren Unternehmen, da diezusätzliche Mahnung des Vertragspartners entbehrlichwird.Der Entwurf sieht auch vor, dass Abschlagszahlungenzum gesetzlichen Leitbild des Werkvertragsrechts gehö-ren und nicht nur dem Verhandlungsgeschick der Partei-en unterliegen.In diesem Zusammenhang wollen wir auch eine Lü-cke in der Makler- und Bauträgerverordnung schließen.Das dort geregelte – und zwar bewährte – Abschlags-zahlungsschema beim privaten Hausbau soll auch fürden Fall vorgeschlagen werden, dass nur das Haus, nichtjedoch das Eigentum am Grundstück an den Verbrau-cher geliefert wird, also auch für den normalen Häusle-bauer, um es einmal so auszudrücken. Ferner soll beivorhandenen Mängeln der Besteller seine Vergütungs-zahlung künftig mindestens in Höhe des Dreifachen derfür die Beseitigung des Mangels erforderlichen Kostenverweigern können. Das ist heute bereits in der Recht-sprechung anerkannt, meine Damen und Herren, undnicht eine Erfindung. Deswegen kann man auch die Ver-treter der Handwerkerschaft, die hier insbesondere Pro-bleme haben, beruhigen und sagen, hier ist der Gesetzge-ber lediglich der Rechtsprechung gefolgt, die ein ausge-wogenes Verhältnis sucht.Wir wollen mit diesen Bestimmungen gleichzeitig auchdem Verbraucherschutz in einem hohen Maße Rech-nung tragen. Schließlich bezweckt die Regelung zurDurchgriffsfälligkeit, dass der Hauptunternehmer dievom Erwerber erhaltenen Raten auch tatsächlich an dieHandwerker weiterreichen muss, die die Gewerke aus-geführt haben.Meine Damen und Herren, ich will noch einen Hin-weis geben. Ich denke, dass mit diesem Gesetzentwurfzur Beschleunigung fälliger Zahlungen auch etwas ande-res erreicht wird, nämlich ein weiteres Teilergebnis inunserer Justizreform. Das Ziel der Entlastung der Ge-richte ist ein tragender Gesichtspunkt für den Vorschlag,mit Hilfe einer Fertigstellungsbescheinigung im Ur-kundsverfahren die Streitklärung zu vereinfachen unddas Verfahren zu beschleunigen.Die Durchsetzung der meisten Vergütungsforderun-gen aus Bauwerkverträgen wird durch den Streit umMängel behindert. Diesem Streit kann man nur entge-genwirken, indem zumindest eine grobe Klärung derMängelfrage erfolgt. Dazu schlägt der Gesetzentwurfvor, dass das Werk als Ersatz für die Abnahme vor ei-nem Prozess durch einen unabhängigen Sachverständi-gen besichtigt und begutachtet werden kann, der danneventuelle Mängel feststellt.Die Fertigstellungsbescheinigung eröffnet dem Un-ternehmer den Weg in den schnellen Urkundsprozess.Davon haben sowohl der Unternehmer als auch der Be-steller, der Kunde, Vorteile. Der Unternehmer weiß,dass er seinen Titel schnell bekommt, wenn er die vomSachverständigen eventuell festgestellten Mängel besei-tigt, und auch für den Besteller wirkt es sich positiv aus,dass der Unternehmer einen Anreiz hat, festgestellteMängel tatsächlich zu beseitigen.Wir wollen in diesem Zusammenhang aber auch dieBeteiligten, nämlich Handwerkskammern und Banken,dazu aufrufen, die Durchführung dieses neuen Verfah-rens zu unterstützen. Es muss flankiert werden. DerEntwurf schafft zwar die Voraussetzungen dafür, dassdas Verfahren zügig erledigt werden kann, aber darüberhinaus ist es wichtig, dass der Zeitraum bis zur Er-füllung der Werkforderung durch entsprechende Krediteüberbrückt werden kann. Ich denke, dass die Risiken fürdie Kreditgeber kalkulierbar sind. Es ist nun auch Sacheder Finanzwirtschaft, durch die Veränderung ihres Ver-haltens gegenüber ihren Kunden einen Beitrag zur Ver-besserung der Situation von Handwerkern zu leisten.Ich darf abschließend feststellen, dass der Entwurfzur Beschleunigung fälliger Zahlungen, wie er nundurch den Rechtsausschuss beschlossen worden ist – icherkenne an, dass sich alle Fraktionen um ein Ergebnisbemüht haben und dass insofern auch ein Wettstreit derIdeen festzustellen ist –, die Situation der kleinen undmittelständischen Unternehmen verbessern wird. Aufder anderen Seite behält er ausgewogen ebenso die Inte-ressen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Auge.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht Professor Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8349
ren! Die Frage der pünktlichen Zahlung ist so alt wie derZahlungsverkehr selber und die Zahlungsmoral ist ei-gentlich eine Frage der Redlichkeit gegenüber dem Ge-schäftspartner. In der Regel funktioniert dies auch ohneBeanstandung. In den Fällen, in denen besondere Risi-ken vorhanden sind, haben sich Vorauskasse, Nachnah-me und Abbuchung eingespielt. Im Geschäftsverkehrsollte man auch heute noch den alten germanischenRechtssatz gelten lassen: Trau, schau, wem. Das heißt,schau dir den Partner an, mit dem du Geschäfte machst;notfalls musst du es sein lassen.Das ist in einer Zeit des Wettbewerbs und des Zwan-ges, den eigenen Betrieb auszulasten, natürlich leichtergesagt als getan, sodass immer wieder Risikogeschäfteeingegangen werden. Das ist vor allem dann bedrü-ckend, wenn der Abnehmer eine besonders starke wirt-schaftliche Stellung hat, die er nicht nur bei der Forde-rung nach Preiszugeständnissen gnadenlos ausnutzt,sondern auch indem er die vereinbarten Zahlungszielewillkürlich überschreitet. Besonders stark ist diese mo-nopolartige Stellung auf dem Bausektor, wo der Hand-werker oft mit einem Bauträger oder staatlichen Behör-den als Auftraggeber zu tun hat. Gerade die Letzteren,die staatlichen Auftraggeber, die eigentlich Vorbild seinsollten, auch in der Einhaltung von Zahlungszielen undvereinbarten Regelungen, haben zum Teil mit unerträg-licher Verzögerungstaktik mittlere und kleine Betriebemit Zahlungen hingehalten, sodass diese oft an den Randder Existenzfähigkeit gerieten.Hinzu kam, dass in den 90er-Jahren in den neuenLändern ein Bauboom ungekannten Ausmaßes aufkam,der eine Vielzahl von Hasardeuren anzog, die kleinereund mittlere Firmen, welche auch im Umgang mitBaurecht nicht so erfahren waren, in nicht hinnehmbarerWeise um ihren gerechten Lohn zu prellen versuchten,indem sie nicht oder zu spät zahlten oder mit unberech-tigten Mängelrügen überhöhte Preisnachlässe mit sofor-tiger Zahlung „belohnten“.Die rechtlichen Instrumente des BGB – darauf hatStaatssekretär Pick bereits hingewiesen – und des HGB,die es eigentlich gab, wurden zur stumpfen Waffe in ei-nem erst im Aufbau befindlichen Gerichtssystem derneuen Länder mit zum Teil überforderten Rechtsanwäl-ten, Richtern, Rechtspflegern und Gerichtsvollziehern.Der Ruf nach verbesserten Instrumenten wurde daherinsbesondere dort laut. Aber auch Klein- und Mittelbe-triebe in den alten Ländern litten zunehmend unter demDruck von Großbestellern. Der durch das Bauhandwerkersicherungsgesetz ein-gefügte § 648 a BGB erwies sich leider auch nicht alsgute Waffe, weil die nach diesen Vorschriften vorhan-dene Berechtigung von Handwerkern, eine Sicherungs-hypothek zu fordern, in der Regel dazu führte, dass derBesteller spätestens beim nächsten Mal diesen Unter-nehmer nicht mehr berücksichtigte.
Die Mahnung, die in Verzug setzte und berechtigte, hö-here Zinsen als die gesetzlichen zu verlangen, wurdevon den Bestellern entweder ignoriert, oder aber der be-troffene Handwerker wurde bei der nächsten Vergabe„negativ“ beschieden. Der Schadensersatz bei der Auf-tragseinbuße bei Nichtstellung der Sicherheit des Bestel-lers war schwierig zu ermitteln. Prozesse zogen sich hin,sodass dieses Instrument Bauhandwerker letztlich nichtwirksam schützte.Aus diesem Grunde hat die Fraktion der CDU/CSUnoch während der vorigen Legislaturperiode den „Ent-wurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzungvon Forderungen der Bauhandwerker“ ausgearbeitet undvor einem Jahr vorgelegt, dem neben den Gesetzentwür-fen der F.D.P. und der PDS dann auch der „Entwurf ei-nes Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen“der Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/DieGrünen folgte. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ver-zögerte sich dadurch, dass Sie, meine Damen und Her-ren von der Koalition, sich nicht einigen konnten.
– Nein. Sie konnten sich nicht einigen, lieber Herr Kol-lege.
In einigen Punkten können wir Ihrem Entwurf, HerrHartenbach, zwar zustimmen. In anderen Punkten kön-nen wir Ihnen jedoch nicht folgen und hätten lieber un-sere Vorschläge durchgesetzt.
Wir sind der Meinung, dass das Volumen der Bau-handwerksleistungen, das viele hundert Milliarden DMumfasst, in der Bundesrepublik Deutschland so groß ist,dass mit einem eigenen, in sich geschlossenen Bauver-tragsgesetz klarere Entscheidungen getroffen werdenkönnten als durch die allgemeine Einarbeitung von Neu-regelungen in die Verzugsregeln des BGB und in die all-gemeinen Regeln des Werkvertrages.
Ob dabei die Wiederentdeckung des Gesetzes über dieSicherung von Bauforderungen vom 1. Juni 1909, alsoeines Gesetzes aus dem Kaiserreich, und dessen Einar-beitung in den Entwurf der CDU/CSU der Weisheit letz-ter Schluss war, mag dahingestellt bleiben. Aber ein ei-genes Bauvertragsgesetz hätte für die Bauhandwerker,aber auch für die Besteller mehr Klarheit und Sicherheitgebracht.
Um aber die berechtigten Forderungen der Bau-handwerker zumindest teilweise zu erfüllen, haben wirim Ausschuss die jetzt vorgesehenen Verbesserungenzum Teil unterstützt. Wir werden die Verabschiedungdieses Gesetzes nicht verzögern, weil für die Betroffe-nen der magere „SPD-Spatz“ in der Hand immer nochbesser ist als die fette Taube eines eigenen Bauvertrags-gesetzes auf dem Dach, das mit dem derzeit – leider –vorhandenen Mehrheiten im Parlament nicht durchge-setzt werden kann. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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8350 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
– Das magere „SPD-Spätzchen“ ist ja dann noch übrig. So ist die Einfügung des § 284 Abs. 3 BGB, der denSchuldner nach Ablauf von 30 Tagen nach Zugang einerRechnung in Verzug setzt und die generellen Verzugs-zinsen nach § 288 Abs. 1 BGB auf 5 Prozentpunkte überdem Basiszinssatz festsetzt – sie liegen in Zukunft mit-hin zwischen 7 und 10 Prozent –, nicht nur für die Bau-handwerker, sondern auch für alle anderen Gewerbetrei-benden ein Fortschritt. Insoweit stimme ich dem zu,Herr Staatssekretär Pick.
Ei
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Manche Juraprofessoren müs-
sen sich jetzt neue Klausurthemen für den Verzug aus-
denken, weil sie nun keine Studenten mehr mit den Un-
terschieden in den Bestimmungen des § 284 Abs. 1 und
Abs. 2 aufs Glatteis führen können.
Die in der Regel in Verträgen festgesetzten Teilzah-
lungen werden durch den neuen § 632 a BGB, insbeson-
dere auch hinsichtlich der Sicherheiten, präzisiert.
Dem beliebten Spiel, Zahlungen durch Mängeleinre-
de zu verzögern, wird – zumindest teilweise – durch die
Veränderungen des § 640 BGB Einhalt geboten, nach
dem wegen unwesentlicher Mängel die Abnahme nicht
verweigert werden kann. Dabei halten wir, weil in der
Praxis sehr schwer durchführbar, die Regeln für die Be-
scheinigung eines Gutachters für missglückt. Hier wer-
den wir sehen, dass das Gesetz nach einer gewissen Er-
fahrungszeit vereinfacht und verbessert werden muss.
Die Einfügung, dass der Besteller, der die Beseitigung
eines Mangels verlangen kann, die Zahlung eines ange-
messenen Teils der Vergütung, mindestens in Höhe des
Dreifachen der erforderlichen Kosten, verweigern kann,
ist, wie bereits der Herr Staatssekretär gesagt hat, quasi
die Übernahme der gängigen Rechtsprechungspraxis
und daher sinnvoll. Im Zweifelsfalle ist dieser erhöhbar.
Eine Vereinfachung und letztlich auch eine gerechte
Lösung, die auch vielfacher Gerichtspraxis entspricht,
enthält der Zusatzabsatz 5 des § 648 a BGB, der dem
Unternehmer ohne Nachweis einen Pauschalschaden
von 5 Prozent der Auftragssumme zugesteht, wenn der
Besteller die erforderliche Sicherheit nicht leistet und
der Auftrag damit entfällt.
Zusammenfassend ist zu sagen: Wir hätten gern mehr
gehabt, und zwar durch ein eigenes Bauvertragsgesetz,
das insbesondere mehr Sicherheit für die Bauhandwer-
ker gebracht hätte. Wir übersehen aber nicht die Verbes-
serungen durch diese Bestimmungen und wollen sie
deswegen weder verzögern noch verhindern. Wir wer-
den uns bei der Abstimmung der Stimme enthalten.
Wenn sich die von uns befürchteten Unzulänglichkeiten
und Mängel zuungunsten der Handwerker bewahrheiten,
werden wir erneut und mit Nachdruck einen Bauver-
tragsgesetzentwurf entsprechend unserem Entschlie-
ßungsantrag einbringen, dem zuzustimmen ich Sie bitte.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HelmutWilhelm.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Weil von einem meiner Vorredner, Herrn Staats-sekretär Professor Pick, ausführlich auf die Inhalte desneuen Gesetzes eingegangen wurde, sei es mir erlaubt,mich etwas kürzer zu fassen.Ich freue mich sehr, dass das Thema bisher doch rela-tiv einmütig debattiert wurde, soweit das parlamentari-sche Oppositionsverständnis dies eben zugelassen hat,denn wir sind uns einig, dass die bei großen Teilen derBevölkerung leider vorherrschende Einstellung – „Ichzahle erst nach Mahnung!“ – der Korrektur bedurfte. Auch die Tatsache, dass die Zeiträume, innerhalb de-ren fällige Geldforderungen durch die Schuldner begli-chen werden, allgemein immer länger wurden und dassdas vermehrte Zurückbehalten von teilweise erheblichenForderungen kleinere und mittlere Betriebe – vor allemim Handwerk und in der Bauwirtschaft – immer öfter infinanzielle Bedrängnisse brachte, war einfach nicht mehrlänger hinnehmbar. Darin besteht ebenfalls Konsens. Vor diesem Hintergrund haben wir von mehrerenzielführenden Vorschlägen und Möglichkeiten denjeni-gen Weg gewählt – übrigens auch aufgrund von Anre-gungen aus der Opposition –, der nach unserer Auffas-sung zunächst der geradlinigste und vor allem auch derinteressengerechteste Weg ist, um den negativen Um-ständen schnell und unverzüglich entgegenwirken zukönnen. Ich habe an dieser Stelle ganz bewusst das Wörtchen„zunächst“ gebraucht, denn über den vorliegenden Ge-setzentwurf hinaus sind bei den Koalitionsfraktionendurchaus auch Überlegungen vorhanden, ein übergrei-fendes, zusammenführendes Bauvertragsrecht zu erar-beiten. Da ein Vorhaben „Bauvertragsgesetz“, das allendenkbaren Anforderungen eines umfassenden und kom-plexen Bauvertrags gerecht wird, aber in Anbetracht deserforderlichen raschen Regelungsbedürfnisses nicht ge-leistet werden konnte, mussten die von uns als wichtigerachteten vielfältigen neuen Instrumentarien zunächstin den Allgemeinen Teil und in den Werkvertragsteil desBGB eingegliedert werden. Dabei wurde von meiner Fraktion auch sehr auf Aus-gewogenheit der Regelungen hinsichtlich des Verbrau-cherschutzes geachtet, denn bei aller Regelungsbedürf-tigkeit durfte eines auf keinen Fall vergessen werden:Wer gesetzliche Vorschriften auf diesem Gebiet erlässt,Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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darf nicht einäugig nur auf die Not leidende Bauwirt-schaft blicken. Auch das ohnehin schon große finanziel-le Risiko der privaten Häuslebauer durfte nicht ins Un-überschaubare getrieben werden. Bei den Verbraucherndurfte keinesfalls eine bestimmte Schwelle überschrittenwerden, damit sie nicht von einem einmal gefasstenBauentschluss Abstand nehmen. Dies nämlich kannauch nicht im Sinn der Bauwirtschaft sein.
Für diese Überzeugung, für einen effektivenVerbraucherschutz haben wir uns vom Bündnis 90/DieGrünen stark eingesetzt. Wir befanden uns auf einerGratwanderung, die nicht zu einer schädlichen Übersi-cherung der Bauindustrie führen durfte. Die notwendigen Schritte, die in Angriff genommenwurden, mussten also folgenden Kriterien genügen: Siemussten ein ausgewogenes Verhältnis von Gläubiger-und Schuldnerschutz gewähren. Sie mussten rechtsstaat-lich unbedenklich sein. – So halte ich den Vorschlag derUnion für eine richterliche Vorabverfügung nach wievor nicht für vertretbar und für eines sorgfältigen undunparteilich handelnden Richters nicht würdig – Siemussten transparent und verständlich sein und ohne gro-ßen bürokratischen Aufwand vollzogen werden können.Die Forderung nach Anderkonten etwa entspricht letzte-rem Erfordernis nicht.Mit dem Unionsentwurf wird vorgeschlagen, das Ge-setz über die Sicherung von Bauforderungen in dasBGB zu integrieren. Das konnte meines Erachtens zunichts führen und wurde folglich von uns auch nicht be-rücksichtigt. Das Gesetz über die Sicherung von Bau-forderungen findet ohnedies auch bisher schon weitge-hend keine Beachtung und führt außerdem nicht zu einerbeschleunigten Zahlung, da es lediglich dazu verpflich-tet, eingehende Baugelder und ihre Verwendung in Bau-büchern festzuhalten. Es besagt aber nichts darüber, obund aus welchen Gründen Baugelder zurückbehaltenwerden können. Das aber ist das eigentliche Problem.Den oben geschilderten Anforderungen kann auch derAntrag der PDS nicht gerecht werden. Ja, die PDS kon-terkariert sogar ihren eigenen Antrag. So fordert siezwar rechtsstaatlich unbedenkliche Schritte, verlangt aber andererseits bei Mahnverfahren, die ins streitigeVerfahren übergeleitet worden sind, ein Urteil innerhalbvon 120 Tagen ab Rechtshängigkeit. Wie dies bei Bau-prozessen, die die Einschaltung von Sachverständigenerfordern, möglich sein soll, bleibt das Geheimnis derPDS. Ohnedies scheint der Antrag der PDS von einemgrenzenlosen Misstrauen in die Justiz beseelt zu sein.
Denn in ihm ist pausenlos von Schadensersatzansprü-chen gegenüber der Justizkasse die Rede und wenigervon solchen der Bauvertragspartner.Das von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorge-schlagene Instrumentarium orientiert sich an dem Be-richt der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung derZahlungsmoral“ und den Ergebnissen der Sachverstän-digenanhörung des Rechtsausschusses. Es ist geeignet,den ungerechtfertigten Verschleppungen von Zahlungenwirksam entgegenzutreten und zugleich den Verbrau-cherschutz zu verbessern.Der bei fälligen Geldschulden automatisch eintreten-de Verzug nach 30 Tagen, gerechnet ab Rechnungsle-gung, schafft erstens Rechtsklarheit auch für den juristi-schen Laien – mein Vorredner, Herr von Stetten, hatschon gesagt, dass sich die Problematik von Examens-klausuren in Zukunft dramatisch verringern wird – undführt zweitens dazu, dass die Zahlungsfrist „europäi-siert“ wird. Die Anhebung des Verzugszinses von bis-her 4 Prozent auf zukünftig 5 Prozent über dem Basis-zinssatz nach § 1 des Diskont-Überleitungs-Gesetzes – das entspricht etwa einer Anhebung auf zurzeit7 Prozent – bedeutet das Aus für die Inanspruchnahmebilliger „Justizkredite“.Durch den gesetzlichen Anspruch auf Abschlags-zahlungen wird der Unternehmer in die Lage versetzt,Vor- und Teilleistungen zu erbringen, ohne aufwendigeVorfinanzierungen tätigen zu müssen, wenn er demVerbraucher Eigentum oder Sicherheit an den Sachenverschafft – übrigens wieder ein Verbraucherschutzas-pekt. Die Abnahmefiktion und Abnahmepflicht bei un-wesentlichen Mängeln garantiert dem Unternehmer eineschnelle Vergütung seiner Leistung. Gleichzeitig erhältder Besteller die gesetzliche Möglichkeit, einen „Druck-zuschlag“ einzubehalten, wenn der Unternehmer vor-handene Mängel nicht beseitigt.Die Fertigstellungsbescheinigung erspart beidenParteien eventuell ein gerichtliches Gutachten – zumin-dest beschleunigt sie ein solches –, weil sie frühzeitigKlarheit über bestehende oder nicht bestehende Mängelbringt, und animiert den Werkunternehmer, Mängel ge-gebenenfalls schnell zu beseitigen. Damit kann auch indiesem Instrument eine Verbraucher schützende Wir-kung gesehen werden.Ich bin der Ansicht, dass uns insgesamt ein zielfüh-render und ausgewogener Gesetzentwurf und damit einguter Wurf gelungen ist, der die Zustimmung des ganzenHauses verdienen würde.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Jürgen Türk.
Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen unszum wiederholten Male mit der Beschleunigung fälligerZahlungen in der Absicht, heute endlich dieses leidigeProblem vom Tisch zu bekommen und natürlich aucheine Lösung zu finden. Nicht nur Rechnungen sind fällig. Es ist auch langeüberfällig, hier wieder Ordnung zu schaffen. Die Politikmuss künftig schneller handeln, denn nur schnelle Hilfeist wirkliche Hilfe. Trotzdem gibt es quer durch alle Par-teien Fundamentalisten – so sage ich das mal – die jetztfragen, warum man zur Wiederherstellung der Zah-Helmut Wilhelm
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8352 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
lungsmoral ein Gesetz benötige. Dies sei nur eine Sacheder Liquidität und der Leistungsfähigkeit der Gerichtesowie der Unternehmen. Diesen Schlaubergern sage ich: Das stimmt fast alles,aber können wir auf die Liquidität der kleinen und mitt-leren Unternehmen bauen, wenn die Eigenkapitaldeckedurch nicht bezahlte Rechnungen immer dünner wird?Oder wollen wir auf eine längst überfällige Justiz-reform – damit meine ich nicht die geplante – warten?Hoffen und Harren macht manchen zum Narren – undnatürlich viele Handwerker zu Pleitiers. Hier besteht schon lange Handlungsbedarf; das rich-tet sich an alle, die hier sitzen. Der Staat sollte jedochnicht zum Überregulierer, aber auch nicht zum Nacht-wächter werden. Die Erhaltung des Leistungsprinzipsund der Rechtsstaatlichkeit ist wohl eindeutig eine hoheit-liche Aufgabe des Staates. Ich hoffe, dass wir uns we-nigstens darüber einig sind.Akuter Handlungsbedarf besteht, weil es in Deutsch-land modern geworden ist, seine Rechnungen viel zuspät oder gar nicht zu begleichen. Dies hat nichts mehrmit Leistungsprinzip oder Rechtsstaatlichkeit zu tun.1999 haben 29 Prozent der Schuldner, also fast ein Drit-tel, ihre Rechnungen nicht vereinbarungsgemäß bezahltund die Tendenz ist steigend. Selbst wenn dies ein euro-päisches Problem ist, darf es nicht sein, dass wir diesesProblem nicht angehen. Kaum zu glauben, aber wahr: Laut Statistik des Be-triebswirtschaftlichen Instituts der Bauindustrie brau-chen Bund und Länder – das muss man hier auch einmalsagen – am längsten zur Bezahlung ihrer Rechnungen.Der jetzige Stand ist: Der Bund benötigt 95 Tage, dieLänder liegen bei 90 Tagen und die Kommunen brau-chen 73 Tage. Das kann mit Sicherheit nicht so bleiben. Private Investoren sind schneller – aber was heißtschon „schneller“? – , sie begleichen ihre Schulden be-reits nach 55 Tagen. Trotzdem stellen private Investorendas höhere Risiko dar, weil sie öfter vorsätzlich garnicht oder erst nach einem langjährigen Gerichtsprozesszahlen. Dieser endet häufig mit einem Vergleich unddem Ergebnis, dass die Auftraggeber nur 50 Prozent ih-rer Schulden abgelten müssen. Damit kann man sicher-lich nicht leben.Die schlechte Zahlungsmoral ist kein Kavaliersdelikt,als welches sie lange Zeit angesehen wurde, sondern ei-ne im Sinne des Wortes mörderische Praxis: Sie trieb1999 rund 3 100 Handwerksbetriebe in den Ruin. Alleindadurch sind 30 000 bis 40 000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Deshalb haben wir noch in der alten Koali-tion – das muss auch einmal gesagt werden – einigeMaßnahmen auf den Weg gebracht, zum Beispieldie Zwangsvollstreckungsnovelle
– bitte schön – und die Neuregelung des Schiedsver-fahrensrechts. Aber das Schiedsverfahrensrecht mussnatürlich auch angewendet werden. Ich erneuere hiermeinen Vorschlag an die Kammern und Verbände, end-lich einmal gemeinsam regionale Schiedsgerichte als Pi-lotprojekte einzurichten, um die außergerichtliche Streit-schlichtung auszuprobieren.
Wenn wir von diesen Dingen sprechen, muss ichauch an das am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Insol-venzgesetz erinnern. Hinsichtlich seiner Umsetzung hatsich jedoch noch nichts getan. Es gibt viele unverschul-det in Zahlungsschwierigkeiten Geratene, denen mit die-sem Insolvenzgesetz geholfen werden soll. Dies mussendlich in Gang gesetzt werden, damit den unver-schuldet in Zahlungsschwierigkeiten Geratenen und denGläubigern geholfen werden kann. Da diese Maßnahmen noch nicht die erforderlicheWirkung zeigten – das muss man realistischerweise sa-gen – , brachten die damaligen Regierungsparteien, alsowir, einen entsprechenden Antrag ein, der aufgrund desRegierungswechsels natürlich nicht mehr umgesetztwerden konnte.
Deshalb wurde die F.D.P.-Fraktion im März 1999 mitdem Antrag „Zahlungsverzug bekämpfen – Verfahrenbeschleunigen – Mittelstand stärken“ wieder initiativ.Das Ergebnis ist der jetzt, wenn auch wieder mit Ver-spätung, vorgelegte Gesetzentwurf. Immerhin war unserAntrag eine positive Provokation.
Natürlich - jetzt komme ich zur Zustimmung - sindwir mit dem automatischen Verzugseintritt nach 30 Ta-gen einverstanden. Den Mindestverzugszins anzuhebenund so die Hemmschwelle zu erhöhen, ist ebenfalls rich-tig, weil dies den Anreiz für einen Justizkredit ein Stückweit zurücknimmt.n Ich frage mich allerdings, warumman nur 5 Prozent auf den Basiszinssatz der Europäi-schen Zentralbank aufschlägt; denn das Ergebnis ist:Wir erhöhen von 4 Prozent auf 7,68 Prozent, also aufknapp 8 Prozent, und der Überziehungskredit der Bankkostet immer noch über 10 Prozent. Diese Lücke habenwir immer noch nicht ganz geschlossen. Ich hätte es lie-ber gesehen, wenn wir uns der europäischen Norm an-gepasst hätten; denn sie liegt meines Erachtens auchüber 5 Prozent.
Dass man künftig wegen unwesentlicher Mängel dieBezahlung nicht mehr verweigern kann, ist ebenfalls gutund richtig; ebenso, dass der Auftraggeber einen ange-messenen Teil der Vergütung einbehalten kann, um aufdie Beseitigung von Mängeln hinwirken zu können. Dasmuss natürlich gesichert sein. Man kann sich darüberstreiten, ob das Dreifache das richtige Maß ist. Es mussaber eine Möglichkeit geben, dass Mängel beseitigtwerden. Für sinnvoll halte ich ferner, dass in Zukunft fürHauptunternehmer die Verpflichtung besteht, nach er-folgter Zahlung auch die Rechnungen der Nachunter-nehmer, also die der kleinen Unternehmer zu beglei-chen. Jürgen Türk
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Bei der Fertigstellungsbescheinigung, die der Ab-nahme gleichgesetzt werden soll, ist meines Erachtenszu beachten, dass die Gutachtersuche und die Gutacht-nenerstellung nicht wieder unzumutbare Verzögerungenhervorrufen. Ich denke, hier kann man die ohnehindurchzuführenden Bauabnahmen einbeziehen. Hinsichtlich des § 648a BGB, der so genanntenHandwerkersicherung, könnte ich mir schon vorstel-len, dass aus der jetzigen Kann- eine Mussbestimmung,für die ich immer gekämpft habe, gemacht wird.
Eines ist natürlich klar: Die Kannbestimmung wird nichtwirksam. Das ist in der Praxis nun einmal so. Wir habenin der interfraktionellen Arbeitsgruppe zusammengeses-sen, und wenn wir ein wenig intensiver beraten hätten,hätten wir auch eine praktikable Lösung finden können.Wir wollen aber noch nachbessern; vielleicht könnenwir das dann auf diesem Weg erreichen. Über den Gesetzentwurf hinaus bleibt es notwendig,dass in einem zweiten Schritt die Voraussetzungen dafürgeschaffen werden, dass Schuldner eine Zwangsvoll-streckung durch Vermögensverschiebung nicht mehrvorsätzlich verhindern können. Das ist ein schwierigesProblem, aber ich glaube, wir müssen es trotzdem ange-hen, damit nicht kriminell gehandelt und Vermögen ver-schoben wird. Alles in allem aber, Herr Hartenbach, ist das Gesetzein Fortschritt. Deshalb wird die F.D.P. dem Gesetzauch zustimmen.
Allerdings sollte es laufend auf seine Wirksamkeit hinüberprüft werden. Es nützt nichts, ein Gesetz nur umseiner selbst willen zu machen. Nach In-kraft-treten soll-ten nach angemessenen Fristen Prüfberichte vorgelegtwerden. Wir sollten das also in der Praxis begleiten.Stellt sich heraus, dass sich die Zahlungsmoral nicht we-sentlich verbessert hat, sind in Abstimmung mit Unter-nehmen und Verbänden – darauf lege ich Wert – sofortNachbesserungen im Gesetz vorzunehmen.Vielen Dank.
Das Wort für die
Fraktion der PDS hat nun der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Über die Notwendigkeit, dasProblem mangelnder Zahlungsmoral anzugehen, gabund gibt es kaum unterschiedliche Auffassungen. – Herrvon Stetten, wenn es nur am Schauen und Trauen liegt,dann muss ich sagen: Offensichtlich trügt der Scheinallzu oft. Das wäre aber noch das kleinere Problem. Dasgrößere ist, dass sich die Zechprellerei regelrecht zumVolkssport entwickelt hat und viele kleine Betriebedarunter leiden. –
Das Problem „Zahlungsverzug und Zahlungsmoral“, fürdas heute eine gesetzgeberische Lösung gefunden wer-den soll, ist weder neu, noch ist seine Brisanz von unse-rer Fraktion bisher gering geschätzt worden. Vor fast ei-nem Jahr, im April 1999, befasste sich dieses Hauserstmals in dieser Wahlperiode mit drei Initiativen zudiesem Thema. Diese drei sollen heute nun für erledigterklärt werden, um einem Koalitionsentwurf Gesetzes-kraft zu verleihen.Herr Kollege Wilhelm, Sie haben vorhin ausführlichdie Redebausteine vom April 1999 verwandt, als Sie daseingeschätzt haben, was die PDS geleistet hat. Sie soll-ten zumindest eingestehen, dass sie eine der drei Frakti-onen war, die etwas eingebracht haben. Sie sollten aucheingestehen, dass eine Vielzahl von Vorschlägen durch-aus sinnvoll ist. Auch wenn Sie mit einigen Vorschlägennicht einverstanden sind, haben die restlichen dazu ge-dient, dass die Koalition überhaupt einen ordentlichenVorschlag vorlegen konnte. Das sollte man in aller Fair-ness zugestehen.
Ich habe diesen Ablauf noch einmal beschrieben, weilich meine: Für einige vernünftige – und hoffentlich aucheffektive – Dinge wurde viel zu viel Zeit vertan. Überdie heute zu beschließende Anhebung und Flexibilisie-rung des gesetzlichen Verzugszinses herrschte schon voreinem Jahr Einigkeit. Die automatische 30-Tage-Fristdes In-Verzug-Geratens, sofern nicht ausdrücklich etwasanderes vereinbart wurde, ist ebenfalls ein begrüßens-werter Fortschritt zugunsten der Gläubiger. Sie entbüro-kratisiert und verbilligt darüber hinaus etwas die Titulie-rung von Forderungen. Deshalb werden wir uns alsPDS-Fraktion dem Gesetz nicht verweigern.Darüber hinaus, so fürchte ich – ich rechne gleich mitIhren vehementen Protesten – , werden die neuenRegelungen aber weitgehend folgenlos bleiben. Schon inder Anhörung Ende September deutete sich an: Das nuneinzuführende Bescheinigungsverfahren bei Streit umMängel oder Fertigstellung eines Werkes wird besten-falls ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Gutachter,aber kein wirksames Instrument zur Beschleunigung fäl-liger Zahlungen. Dieses Grundproblem, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Koalition, konnte auch in der Ausschussar-beit nicht beseitigt werden. Dort kamen darüber hinaussogar Veränderungen zustande, die dem selbst gesetztenZiel, Verbesserung der Zahlungsmoral, aus meiner Sichtwidersprechen. Nur beispielhaft nenne ich den ersatzlo-sen Wegfall der für § 641 BGB ursprünglich vorge-schlagenen Regelung, wonach bei Mängeln dennoch dieVergütung fällig wird, wenn der Unternehmer für dasDreifache der bescheinigten MängelbeseitigungskostenSicherheit leistet. Dadurch wird der allseits kritisierten, regelrecht gras-sierenden Methode der Zahlungsverweigerung durchJürgen Türk
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8354 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Mängelrüge nicht nur nicht entgegengewirkt, sondernsogar noch Vorschub geleistet; denn jetzt heißt es, dassder Besteller bei Mängeln die Vergütung mindestens inHöhe des Dreifachen der für die Beseitigung des Man-gels erforderlichen Kosten verweigern kann. Was aber,wenn vielleicht demnächst Gerichte die Zurückhaltungder gesamten Vergütung für angemessen halten, nurweil der Gesetzgeber das bisher Übliche nun als Min-destwert definiert?Das neue Gesetz droht also in vielen Teilen folgenloszu bleiben oder die Lage gar zu verschlimmbessern. Indem Fall sage ich ausdrücklich das, was auch Herr Türkgesagt hat: Es muss betrachtet werden, wie das Gesetzwirkt. Wir sollten Vereine, Verbände und Betroffeneimmer wieder mit einbeziehen, um zu prüfen, wie es inder Praxis ankommt. Dieses „Verschlimmbessern“ gilt allerdings auch fürden CDU/CSU-Entwurf. Ich meine seinen Schwerpunkt„richterliche Vorabverfügung für Teilbeträge“. Dasumgesetzt würde nichts gewonnen, weil jeder Richterentweder auf Gutachten warten muss oder sich einerLawine von Befangenheitsanträgen der verklagten Be-steller aussetzen müsste. Deshalb müssen wir auch IhrenEntschließungsantrag ablehnen.Ihre Forderung nach Modernisierung des Gesetzesüber Sicherung von Bauforderungen, liebe Kollegin-nen und Kollegen der CDU/CSU, ist bekanntlich auchdie unsrige. Vor allem stimmen wir ausdrücklich IhrerFeststellung zu, dass die heute zu beschließenden Maß-nahmen nicht ausreichen, mangelnder Zahlungsmoralwirksam und auf Dauer beizukommen.Wir hoffen, dass viele Anregungen unseres, aber auchdes F.D.P.-Antrages nach der heute zu erklärenden Erle-digung nicht zu den Akten gelegt und verstauben wer-den, sondern immer wieder zurate gezogen werden,wenn es entsprechende Anlässe gibt. So sollte die Zen-tralisierung der Mahngerichte oder die Beschleuni-gung von Mahnverfahren durch Wegfall des gesonder-ten Antrages auf Erlass eines Vollstreckungsbescheidesbei der anstehenden Justizrefom noch einmal bedachtwerden. Im heute abzuschließenden Gesetzgebungsverfahrenwar der Blick allzu sehr auf Gerichtsprozesse fixiert. Esmuss aber vielmehr um Maßnahmen gehen, damit sol-che Prozesse wesentlich seltener werden, um Maßnah-men, durch die von vornherein deutlich öfter als bishereine Leistung bezahlt wird. Nur das ist letztlich die Lö-sung des gesellschaftlichen Problems.Danke schön.
Ich gebe der Kolle-
gin Jelena Hoffmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob der BegriffZahlungsmoral aus Ostdeutschland kommt, weiß ichnicht. Aber ich weiß, was viele ostdeutsche Unterneh-mer mit diesem Wort verbinden. Sie denken dabei an dieLiquiditätsschwierigkeiten, an die Eigenkapitaldecke,die bei uns immer noch sehr dünn ist, und an die Insol-venz, die unerwartet und sehr oft unverschuldet vor derTür steht.Ich will nicht sagen, dass die mangelnde Zahlungs-moral nur ein ostdeutsches Problem ist, aber in Ost-deutschland ist sie ein Problem. Deshalb müssen wir se-hen, dass wir mit diesem Gesetz fällige Zahlungen be-schleunigen.Wir müssen darauf achten, dass wir das Problemnicht nur für eine Branche lösen, zum Beispiel für dieBaubranche, sondern für alle Bereiche. Wir sollten dabeiauch nicht vergessen, dass ein Handwerker ein Gläubi-ger, aber auch ein Schuldner sein kann. Das heißt, dassdas Gesetz ausgewogen sein muss, wobei das Hauptzielbleibt, dass die berechtigten Forderungen schneller be-glichen werden müssen. Dafür sieht das Gesetz unter anderem vor, dass 30Tage, nachdem die Rechnung eingegangen ist, der Ver-zug einsetzt. Der lange Weg mit der ersten, zweiten,dritten Mahnung wird jedem Fliesenleger in der Zukunfterspart. Damit wird das gerichtliche Mahnverfahrenauch beschleunigt. Schneller geht es auch mit der Fertigstellungsbe-scheinigung. So wird dem Hickhack mit den angebli-chen Mängeln am Werk ein Riegel vorgeschoben. VomUnternehmer kann ein Gutachter bestellt werden, derfeststellen muss, ob das Werk nun Mängel aufweist odernicht. Wenn nicht, dann kann eine Fertigstellungsbe-scheinigung ausgestellt werden, damit der Urkundenpro-zess stattfinden kann. Wichtig ist, dass wir unterscheiden müssen, warumein Werk, zum Beispiel ein Gebäude, nicht abgenom-men und bezahlt wird. Geschieht das, weil ein kleinerKratzer in der Ecke entdeckt wurde oder weil die ganzeHeizung nicht funktioniert? Man muss schon unter-scheiden, ob die Mängel wesentlich oder unwesentlichsind. Wenn ein Handwerker wirklich gepfuscht hat, wasnatürlich auch vorkommen kann, dann kann das Dreifa-che der Beseitigungskosten von der Auftragssumme ab-gezogen werden. Der Rest muss aber bezahlt werden. Einen Durchbruch haben wir auch in der Frage derBezahlung von Subunternehmen erreicht. Das ist ge-rade für kleine und kleinste ostdeutsche Unternehmenwichtig. Wenn der Hauptauftragnehmer sein Geld bekommenhat, darf er das Geld nicht zurückhalten, sondern muss eres – so sieht es das Gesetz vor – an die Subunternehmerweitergeben. Damit erreichen wir, dass Elektriker,Klempner und Heizungsmonteure das Geld für ihreLeistungen bekommen, sobald der Hauptauftragnehmerdas Geld erhalten hat. Der so genannte Justizkredit wirdin diesem Fall nicht mehr möglich sein. Er wird übri-gens auch nicht mehr interessant sein, weil wir den Ver-zugszins deutlich erhöhen. Rolf Kutzmutz
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8355
Ein großes Problem, das die Handwerker uns immerwieder vorgetragen haben, waren die unbezahlten Vor-leistungen. Ich kann mich noch erinnern, wie mir säch-sische Dachdecker ganz aufgeregt erzählt haben, dasssie in der Zukunft die Dachziegel vom Dach herunterho-len werden, weil sie die Dachziegel bezahlt und einge-baut haben, aber das Geld dafür nicht bekommen. Liebe Handwerker und besonders natürlich liebesächsische Dachdecker, in der Zukunft wird das nichtnötig sein. Wir führen nämlich einen gesetzlichen Anspruch auf Abschlagszahlungen für Teilleistungenund auch Material ein. Ich muss schon sagen, dass die Handwerker vieleForderungen an uns gestellt haben.
Mit unserem Gesetz haben wir für die meisten Antwor-ten gefunden. Wir wollen übrigens, dass das Gesetz erst am 1. Maiin Kraft tritt. Wir geben damit allen die Gelegenheit,sich mit den neuen Regelungen des Gesetzes vertraut zumachen. Ich bin mir absolut sicher, dass die Handwerkskam-mern, aber auch die IHKs die positiven Auswirkungenunseres Gesetzes erkennen werden.
Wir werden den Unternehmen das neue Gesetz ge-meinsam erklären und wir werden die Unternehmen un-terstützen, damit sie den Kampf gegen die schlechteZahlungsmoral gewinnen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht Kollege Dr. Michael Luther.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Was lange währt,wird gut – das hätte ich heute an dieser Stelle gern ge-sagt.
Es ist leider nicht der Fall. Ich kenne das Gesetz und ichweiß, wie es wirken wird. Das Bauhandwerk braucht dringend Hilfe. JedenTag gehen Bauunternehmer wegen uneinbringbarer For-derungen und wegen gewollter Zahlungsverzögerungenin Konkurs. Wir wissen das seit langem. Helfen wirwirklich? Dem Bundestag lagen jetzt zwei Gesetzentwürfe zurBeratung vor. Es ist also nicht so, dass wir uns nicht mitdem Problem befasst haben. Wir kennen alles ganz ge-nau und wissen um die Ursachen. Was ist getan worden?Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits vor einemJahr einen gut vorbereiteten Gesetzentwurf eingebracht,
der dem Bauhandwerk wirklich helfen würde. Die Bera-tungen über diesen Gesetzentwurf wurden von Ihnenlange Zeit verschleppt.
Wir hätten schon im Frühjahr des letzten Jahres eineAnhörung durchführen und uns mit Sachverständigenüber das Gesetz auseinander setzen können. Aber erstnach der sächsischen Landtagswahl, am 29. September,durfte es eine Anhörung zu diesem Gesetz geben.
– Nein, das ist die Wahrheit. – Aber es ging noch weiter.
Ich möchte den Beratungsverlauf kurz beschreiben: Be-richterstattergespräche wurden angesetzt, die dannmehrfach verschoben wurden. Warum? Ich kann es Ih-nen sagen: Sie wurden verschoben, weil Ihre Justizmi-nisterin, Frau Herta Däubler-Gmelin – ich schätze sieansonsten sehr – , in der Öffentlichkeit mehrfach ange-kündigt hatte, was sie alles machen wolle. Nur, ein Ge-setzentwurf lag nicht vor. Das heißt, eigene Vorstellun-gen von Ihnen gab es lange Zeit nicht.
Im Beratungsverfahren habe ich auch erfahren, dassSie nicht bereit waren, die von uns dargebotene Handanzunehmen und angesichts des schwierigen rechtlichenFelds einen gemeinsamen Entwurf auf den Tisch zu le-gen. Sie haben uns lediglich vor vollendete Tatsachengestellt. Wir konnten nur noch Ja oder Nein sagen. Wirsind der Meinung: Viele Fragen bleiben offen. Aus die-sem Grunde können wir dem Gesetzentwurf leider nichtzustimmen.
Ich möchte den Inhalt des Gesetzes wie folgt be-schreiben – Herr Kollege Wolfgang Freiherr von Stettenhat es schon getan – Das Gesetz enthält eine Reihe vonsinnvollen Regelungen, die wir unterstützen. Das Gesetzenthält nach meiner Ansicht auch eine Reihe von nutzlo-sen Regelungen, die unschädlich sind und deswegenauch nicht hätten aufgenommen werden müssen. Aberdas Gesetz enthält auch eine Reihe von schädlichen Re-gelungen. Das ist das Problem.Lassen Sie mich ein paar Punkte ansprechen, von de-nen ich meine, dass sie dringend verbessert oder verän-Jelena Hoffmann
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8356 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
dert werden müssten. Sie geben den BauhandwerkernSteine statt Brot. Weil Sie aus rein ideologischen Grün-den nicht den Wortlaut unseres Gesetzentwurfes über-nehmen wollten, nämlich dass eine Abnahme nur beiwesentlichen Mängeln verweigert werden kann, erfindenSie erst den Begriff der Geringfügigkeit und später dender Unwesentlichkeit, wohl wissend, dass beide völligneue Rechtsbegriffe sind und dass erst die Rechtspre-chung klären muss, was diese Begriffe eigentlich bedeu-ten. Die Handwerker brauchen jetzt Hilfe.
Anstatt auf die Regelung der VOB zurückzugreifen, dieden durch die Praxis der Rechtsprechung geklärten Be-griff der wesentlichen Mängel enthält, erfinden Sieneue Rechtsbegriffe. Sie geben den BauhandwerkernSteine statt Brot. Ich hätte mir an dieser Stelle die Einsetzung einerKommission zur Gesetzesfolgenabschätzung gewünscht;denn die Frage, was mit dem Gesetz eigentlich bewirktwerden soll – darüber haben wir gesprochen –, konntenweder Sie noch die Vertreter der Regierung und auchnicht die Sachverständigen beantworten.
– Nein, auch ich kann es nicht beantworten, aber ich hät-te diese Regelung auch nicht so beschlossen. Die Errichtung eines Bauwerks, die Renovierung ei-nes Hauses, die Leistungen eines Friseurs und die Her-stellung eines Werbespots unterliegen genau demselbenRecht, nämlich dem Werkvertragsrecht. Das ist nichtmehr zeitgemäß. Die moderne Bauwirtschaft weist heuteso viele Besonderheiten und Spezifika auf, die sich nurnoch schwer unter einem allgemeinen Werkver-tragsrecht subsummieren lassen. Diese Erkenntnis hattenwir bereits vor einigen Jahren beim Reisevertragsrecht.Deswegen ist im BGB hierfür ein eigenständiger Rege-lungsteil eingeführt worden. Bislang weigern Sie sich,so etwas auch für den technisch viel komplizierterenBaubereich einzuführen. Deshalb bleiben auch die neuenRegelungen zum Teil unverständlich und lassen Spiel-raum für Interpretationen mit meiner Meinung nach teil-weise nicht vorhersehbaren Folgen für die Bauwirt-schaft.Um Zahlungsflüsse kontrollieren und um sicherstel-len zu können, dass Baugeld für eine Bauleistung tat-sächlich zur Bezahlung des Bauhandwerkers genutztwird, der die Bauleistung erbracht hat, ist die Moderni-sierung des Gesetzes über die Sicherung der Baufor-derungen vom 1. Juni 1909 notwendig.Ich meine, dann könnte man böswilligem oder betrüge-rischem Handeln begegnen, weil man nämlich im vonuns vorgeschlagenen Baubuch nachlesen könnte, wasmit dem Baugeld passiert. Sie haben zwar zugesagt, dassauf diesem Gebiet etwas getan werden soll. Ich vermuteaber, dass das Ihre Strategie ist, um dieses Thema aufden Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
Sagen Sie nicht, dass es in diesem Fall keine brauch-bare Lösung gab. Ich verweise an dieser Stelle nocheinmal ausdrücklich auf unseren Gesetzentwurf.
Wir haben einen Versuch unternommen, eine brauchba-re Formulierung vorzulegen. Sie haben noch nicht ein-mal ansatzweise versucht, sich mit diesem Gedanken zubeschäftigen, ihn möglicherweise zu ergänzen und zuverbessern; vielmehr haben Sie unseren Lösungsansatzvon vornherein ad acta gelegt. Ich denke, das Baubuchwäre wirklich ein Beitrag gewesen, um Schwarzarbeiternsthaft zu bekämpfen.
Sie sind stolz auf Ihre Fertigstellungsbescheinigung.Das klingt gut, weil es die Abnahme eines Bauwerkeserleichtern und damit mutwilliger Abnahmeverweige-rung entgegenwirken soll. Allerdings wird die Fertigstel-lungsbescheinigung nur erteilt – das muss ich sagen –,wenn es überhaupt keinen Mangel gibt. Damit wird esauch eine Fertigstellungsbescheinigung nicht geben;denn einen mangelfreien Bau – das zeigt uns die Pra-xis – gibt es leider nicht.Die Experten haben Sie bereits in der Anhörung imSeptember auf die Probleme der Fertigstellungsbeschei-nigung hingewiesen. Sie haben das zwar überarbeitet;aber Sie waren nicht bereit, im Rahmen des Berichter-stattergesprächs die Sachverständigen einzuladen, umsich hinsichtlich der neuen Formulierungen noch einmalberaten zu lassen.
Wir haben das dann ohne Sie durchgeführt. Wir wolltenkeine neue Anhörung. Es wäre nicht fair gewesen, sichmit diesem Thema in dieser Form zu befassen.Ein Problem bleibt – das haben uns die Sachverstän-digen bestätigt, mit denen wir gesprochen haben –: Sieschaffen ein Instrument, das die Abnahme nicht erleich-tert; vielmehr fügen Sie eine Instanz ein, die für denBauhandwerker zusätzliche Kosten verursacht.Ein zentrales Problem der Handwerker ist jedoch,dass bei einem totalen Forderungsausfall, also zumBeispiel beim Konkurs eines Generalübernehmers, derHandwerker alles verliert. Er sieht seine eingebautenMaterialien, den Heizungsofen und das gedeckte Dach.Allein durch den Einbau ins Gebäude verliert er seinenAnspruch auf Eigentum und kann es deshalb nicht wie-der wegnehmen. Ihre Regelungen zu § 648 a BGB – ichzitiere aus einem Brief der Landesinnung des sächsi-schen Dachdeckerhandwerks – bringen „eine wesentli-che Verschlechterung“ der bisherigen Situation.Dr. Michael Luther
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8357
Das zentrale Anliegen der Bauhandwerker, einen ad-äquaten Ersatz für einen Eigentumsvorbehalt zu schaf-fen, bleibt ungelöst. Die Handwerker berührt diese Fragebis ins Mark. Über 180 Handwerker haben sich im Sep-tember nach Berlin aufgemacht, um in der Anhörungdurch ihre Anwesenheit deutlich zu machen, dass dieAngelegenheit sie wirklich zutiefst berührt. Sie habenuns gebeten, ihnen in diesem Punkt zu helfen. Ich kannIhnen sagen: Wir helfen den Handwerkern in ihrem An-liegen, das sie vorgetragen haben, nicht.
Die Union erwartet, dass Sie die angekündigten Ar-beiten zum eigenständigen Bauvertrag, so wie es auf derJustizministerkonferenz am 10. Novem-ber 1999 be-schlossen wurde, zügig in Angriff nehmen, damit we-nigstens in absehbarer Zeit eine Verbesserung für dieNot leidenden Handwerker zustande kommt. Die Bun-desregierung stützt das Bauhandwerk weder durch dasGesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen nochdurch andere Maßnahmen, die sie zu verantworten hat.Durch Rücknahme von öffentlichen Investitionen geradein den neuen Bundesländern gehen weitere Aufträgeverloren.Eines ist klar: Zur Beschleunigung fälliger Zahlungenwird dieses Gesetz nicht wesentlich beitragen. Von denvollmundigen Ankündigungen der Regierungsfraktionenaus dem letzten Jahr ist nicht viel geblieben. Die Vor-schläge zeigen, dass die Probleme des Handwerks vonder SPD nicht verstanden worden sind.
Mit diesem Gesetz wird Tausenden von Handwerksbe-trieben, die auf die Unterstützung des Gesetzgebers beiihren Problemen gehofft haben, nicht geholfen.Danke schön.
Als letzter Redner
in dieser Debatte spricht nun für die SPD-Fraktion der
Kollege Dirk Manzewski.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigenTag sprechen wir im Deutschen Bundestag abschließendüber das Thema Zahlungsmoral. Meine beiden Vorred-ner, vor allen Dingen der liebe Kollege Herr Dr. Luther,hat nun den Gesetzentwurf der Regierungskoalition kri-tisiert, aber – das ist bezeichnend – zum eigenen Gesetz-entwurf inhaltlich überhaupt nichts gesagt.
Das hat natürlich seinen guten Grund. Ebenso wurden einige wesentliche Aspekte etwasvernachlässigt, die von entscheidender Bedeutung sind.So zum Beispiel, dass auf Initiative der Justizministerin-nen und Justizminister des Bundes und der Länder eineBund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der Zah-lungsmoral“ gebildet worden ist, die nach mehreren Sit-zungen, einer Verbandsanhörung und einer Sachver-ständigenanhörung zu dem Ergebnis gekommen ist, dassder Entwurf der Regierungskoalition bei weitem derdurchdachtere und effektivere ist. Herr Luther, das hät-ten Sie heute hier einmal sagen sollen.
Die Idee eines reinen Bauvertragsgesetzes, wie esdie Union vorschlägt, ist zwar nicht grundsätzlich abge-lehnt worden, die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist aberzu der vorsichtig formulierten Auffassung gelangt – ichzitiere –, dass es insoweit noch „einer näheren Untersu-chung“, „einer näheren Prüfung“ und „einer vertiefende-ren Erörterung“ bedarf. Das meine auch ich, Herr Lu-ther.
Wenn man nun auch noch berücksichtigt, dass Vertreterder Union in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe die Mehr-heit gestellt haben, dann weiß man auch ganz genau, wieman diese doch rücksichtsvollen Formulierungen richtigzu interpretieren hat. Weniger diplomatisch hätte manden Entwurf der Union auch als ganz großen juristischenMumpitz bezeichnen können.
Anschauen, Kollege Luther, darf man sich Ihren Ge-setzentwurf nämlich nicht genauer.
– Hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie ein bisschen Ah-nung von der Materie haben, können Sie mich ja wider-legen. Den Handwerkern geht es grundsätzlich und vorran-gig darum, ihre berechtigten Forderungen schneller be-glichen zu bekommen. Nur hierdurch geraten sie nicht inLiquiditätsengpässe und damit nicht in die Gefahr einerInsolvenz. Der Entwurf der CDU/CSU hilft ihnen inso-weit jedoch überhaupt nicht weiter. Kollege Luther, esreicht nicht aus, wenn man, indem man einigeVorschriften aus der VOB, einige Vorschriften aus demGSB und einige Vorschriften aus dem BGB nimmt,meint, ein eigenständiges Bauvertragsrecht und damiteine Hilfe für das Handwerk geschaffen zu haben. Daseinzige, was Sie geschaffen haben, ist ein Berg sinnloserVorschriften, mehr nicht.Dr. Michael Luther
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8358 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Das Schlimmste daran ist aber, meine Damen undHerren, dass dieser so geschaffene Vorschriftenbergüberhaupt nur bei einer ganz geringen Vertragskonstel-lation gelten würde. Man muss sich ohnehin schon fra-gen, wieso nur Bauhandwerker von so einem Gesetzprofitieren sollen. Das Problem der Zahlungsmoral be-trifft mittlerweile viele Verträge. Was die Redner derUnion jedoch wohlweislich verschwiegen haben, ist,dass sich ihr Gesetzesentwurf noch nicht einmal auf alleBauverträge, bzw. auf das, was man damit bezeichnet,bezieht. So ist zum Beispiel der gesamte typische Ein-familienhausbau hiervon nahezu ausgeschlossen. Wiewichtig jedoch gerade dieser Bereich für das Handwerkist, zeigt die momentane Krise in der Bauwirtschaft.Das ist aber noch nicht alles. Selbst bei den übrigenBauverträgen kommt der Gesetzentwurf der Unionkaum zur Anwendung. Nach dem Gesetzeswortlauf derUnion sollen nur Verträge für Werke an einem Bau ge-schützt sein. Der Wortlaut ist eindeutig. Errichtet je-mand zum Beispiel für eine Firma ein Gebäude, so wür-de er sich sicherlich auf die von der Union angedachtenVorschriften berufen können. Was ist jedoch mit all denVerträgen, die er sodann selbst zur Realisierung seinesBauvertrages abschließt? Was ist zum Beispiel mit denVerträgen über Türen, Fenster, Fensterbänke usw. usw.,die er in der Regel nicht selbst herstellt, sondern anferti-gen lässt? Allenfalls, wenn diese von den herstellendenFirmen auch selbst eingebaut werden, was meistensnicht der Fall ist, würden hier die Regelungen des Ge-setzentwurfes der CDU/CSU nach dessen Wortlaut„Werk an einem Bau“ zur Anwendung kommen. An-sonsten nicht.Nun mag man mir erklären, warum für den einenFensterbauer das Bauvertragsgesetz gelten soll, für denanderen aber nicht. Beide haben ein Fenster gebaut, esliegen jeweils Werkverträge vor; der Unterschied be-steht lediglich im Einbau. Das verstehe, wer will, HerrDr. Luther. Der Entwurf der Union hätte sogar die Kon-sequenz, dass derjenige, der ein Fenster baut, aber nichtselbst einbaut, leer ausgeht, während demjenigen, derdas Fenster nur einbaut, das Bauvertragsrecht der Unionzugute kommen würde. Das, liebe Kolleginnen und Kol-legen, kann doch nun wahrlich nicht sein.
Was ist weiter mit den Verträgen zur Einrichtung derBaustelle wie denen zur Bereitstellung des Baustroms?Was ist mit den Verträgen zur Begleitung des Bauvor-habens wie denen zur Errichtung eines Gerüstes? Die Union hat den Handwerkern – insbesondere inSachsen und Sachsen-Anhalt – zumindest suggeriert,dass sie alle von ihrem Gesetzentwurf profitieren wer-den. Die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen,sieht, wie dargelegt, leider ganz anders aus. Es existiertim Gesetzentwurf der Union auch keine einzige sinnvol-le Vorschrift, mit der Handwerker ihre Ansprücheschneller gerichtlich geltend machen könnten. Findenlässt sich hierin lediglich eine so genannte Vorabverfü-gung, das heißt, der Richter soll im Laufe eines Verfah-rens nach billigem Ermessen über Teile des Anspruchsentscheiden können.
– Zu dieser Anhörung komme ich gleich.Ich habe die letzten Monate genutzt, um über dasheute hier zu behandelnde Thema in meiner Heimat mitUnternehmern und Juristen ausgiebig zu diskutieren.Außerhalb des Bundestages haben sich von circa40 Juristen lediglich zwei dafür ausgesprochen. Der einewar der ehemalige Innenminister meines Bundeslandesvon der CDU, der andere der Sachverständige Dr. Raumaus der schon angesprochenen Anhörung.
Wie sich in der Anhörung herausstellte, Herr vonStetten, ist dieser jedoch nicht unmaßgeblich an der Ideeder so genannten Vorabverfügung beteiligt gewesen.Wobei es im Übrigen schon bezeichnend ist, HerrDr. Luther, wenn man denjenigen, auf dessen Gedankender eigene Gesetzentwurf offenbar zumindest mit be-ruht, als unabhängigen Sachverständigen benennt, ohnediesen Umstand darzulegen. Aber das spricht für Sie.
Wie soll ein Richter auch eine Entscheidung treffen,wenn die Entscheidungsreife fehlt? Ohne Sachverstän-dige ist ein Richter kaum in der Lage, Baumängel feh-lerfrei einzuschätzen. So können unscheinbare Feuch-tigkeitsschäden im Obergeschoss eines Hauses die ers-ten Anzeichen für schwere Mängel des Daches sein, mitder Folge, dass dieses gegebenenfalls völlig erneuertwerden muss. Kürzlich habe ich mir ein Einfamilienhausangesehen, in dem das Fußbodenparkett an mehrerenStellen Wellen aufwies. Ansonsten war es optisch eintolles Haus. Der Mangel war Gegenstand eines Ge-richtsverfahrens. Das Gericht hatte einen Sachverständi-gen bestellt, der zu dem Ergebnis gekommen war, dassdas Fundament des Hauses nicht winterfest und dasAufbrechen des Parketts ein erstes Anzeichen für dasBrechen des gesamten Fundamentes gewesen ist. Ergeb-nis: Es lag eine Bauruine vor!Liebe Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Ma-terie auskennen: Welcher Richter wird sich der Gefahreiner solchen Fehlentscheidung aussetzen? Was sich dieUnion hier ausgedacht hat, hat nichts mit Ermessen zutun, sondern geht eindeutig in Richtung Willkür.
Meine Damen und Herren, bei vernünftiger und fachli-cher Betrachtung kann man deshalb nur zu dem Schlusskommen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Uni-on, lieber Dr. Luther, § 651 m bis x, das ist nix!
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8359
Wenn wir tatsächlich etwas für die Betroffenen errei-chen wollen, müssen wir an den richtigen Stellen anset-zen – und das sind vor allem die der Fälligkeit und desVerzugs. Genau dies tut der Gesetzentwurf der Regie-rungskoalition. Da wir bereits inhaltlich ausführlichhierüber diskutiert haben, will ich mich – nicht zuletzt inAnbetracht der geringen Zeit, die mir noch zur Verfü-gung steht – ich nur noch auf die wesentlichen Punktebeschränken.Die Verzögerung der Begleichung berechtigter For-derungen muss wirtschaftlich unattraktiv gemacht wer-den. Dem kommt unser Gesetzentwurf durch eine deut-liche Anhebung des Verzugszinssatzes nach. Niemandsoll mehr statt des teuren Bankkredites lieber den billi-geren Gläubigerkredit in Anspruch nehmen können. Dergewählte Zinssatz von 5 Prozent über dem Basiszinssatzist dabei nicht, wie der von der Union vorgeschlagene,aus der Luft gegriffen, sondern bereits durch dasVerbraucherkreditgesetz in der Praxis erprobt. Der ange-strebte Zinssatz lässt daher erwarten, dass er sich dauer-haft mit dem tatsächlich entstandenen Verzugsschadendeckt.Indem wir dem Handwerker grundsätzlich die Mög-lichkeit eröffnen, bei vertragsgemäßer Leistung für insich abgeschlossene Teile eines Werks Abschlagszah-lungen zu verlangen, geben wir ihm die Möglichkeit,größere Liquiditätsengpässe zu vermeiden und auf dieseWeise keine großen Forderungsausfälle entstehen zulassen.Die Rechtsstellung des Unternehmers werden wirdadurch verbessern, dass wir im Gesetz deutlich ma-chen, dass eine Abnahme nur bei wesentlichen Mängelnverweigert werden darf. Der Auftraggeber soll also nichtmehr bei jedem noch so unbedeutenden Mangel gleichden gesamten Werklohn zurückbehalten können. Diesentspricht im Wesentlichen bereits der heutigen Recht-sprechung. Der Schutz des Auftraggebers bleibt dabeigewahrt, da er die für die Beseitigung des unwesentli-chen Mangels erforderlichen Kosten nebst einemDruckzuschlag zurückbehalten kann.Zudem wollen wir durch unser Gesetz klarstellen,dass die unberechtigte Verweigerung der Abnahme einerAbnahme gleichsteht. Dem kleinen Handwerker werdenwir gegenüber dem Bauträger bzw. Generalunternehmerdadurch helfen, dass wir seine Forderung bereits dannfällig werden lassen, wenn letzterer aufgrund der Her-stellung des Werks hierfür das Entgelt oder Teile davonkassiert hat. Der Bauträger bzw. Generalunternehmersoll also nicht mehr, wie bisher in der Praxis häufig beo-bachtet, vom Hauptauftraggeber den Werklohn kassie-ren und die Zahlung gegenüber demjenigen, der dasWerk eigentlich hergestellt hat, mit dem Hinweis aufvermeintliche Mängel verweigern dürfen.Mit der so genannten Fertigstellungsbescheinigungwerden wir den Handwerkern bei verweigerter Abnah-me wegen vermeintlicher Mängel die Möglichkeit einervorläufigen Titulierung ihres Vergütungsanspruchsschaffen. Hierdurch wird der Anreiz, einen Bauprozessdurch mutwillige Mängeleinreden in die Länge zu zie-hen, verloren gehen. Da die Parteien bereits vor einemteuren Gerichtsverfahren das Prozessrisiko einschätzenkönnen, gehen wir zudem davon aus, dass wir dadurchviele Prozesse vermeiden können.Ein nicht zu unterschätzender Vorteil für das Hand-werk wird zudem die Stärkung der Bauhandwerkersi-cherheit bringen. Dieses Schwert des Unternehmers zurAbsicherung gegen den Konkurs des Auftraggebers warbisher stumpf. Zwar durfte der Unternehmer den Vertragkündigen und Schadenersatz verlangen, wenn der Auf-traggeber hierzu nicht bereit war. Die Darlegung desSchadens war aber in der Praxis häufig schwierig.Die pauschalierte Festsetzung einer Schadensvermu-tung wird dem Handwerker dies abnehmen und denAuftraggeber eher dazu animieren, dem Unternehmerdie ihm gesetzlich zustehende Sicherheit zu verschaffen.In gleicher Weise wird im Übrigen der Handwerker ge-schützt, dem der Auftraggeber im unmittelbaren Zu-sammenhang mit einer Sicherheitsforderung zuvor-kommen will, und den Vertrag selbst kündigt.Meine Damen und Herren, wenn wir von Zahlungs-moral reden, dann reden wir insbesondere darüber, dassRechnungen grundsätzlich immer später beglichen wer-den. Das geht mittlerweile so weit, dass in der Bevölke-rung vielfach der Eindruck entstanden ist, man müsseerst nach einer zweiten Mahnung zahlen. Dieser Ein-druck ist jedoch ebenso falsch wie fatal. Fällige Forde-rungen sind grundsätzlich sofort zu begleichen. DieMahnung dient lediglich dazu, den Verzug herbeizu-führen, um einen weiter gehenden Schaden geltend zumachen. Dies wollen wir verdeutlichen, indem wir dieMahnung bei Geldforderungen entbehrlich machen undden Verzug automatisch 30 Tage nach Fälligkeit undZugang einer Rechnung eintreten lassen.Dies entspricht im Wesentlichen im Übrigen demVorschlag der Europäischen Kommission für eine Richt-linie zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges im Han-delsverkehr und der Rechtslage der meisten europäi-schen Staaten, die eine Mahnung – wie bei uns – über-haupt nicht kennen.Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über-zeugung, dass das Maßnahmebündel im Gesetzentwurfder Regierungskoalition zu einer beschleunigten Zah-lung fälliger Forderungen und damit zu einer erhebli-chen Verbesserung der Situation unserer Unternehmerführen wird. Gleichzeitig soll hiermit das letzte Wortnicht gesprochen worden sein. Wir sehen durchaus diebesonderen Probleme in der Bauwirtschaft. Ob wir zu-künftig zu einem reinen Bauvertragsrecht kommen, be-darf jedoch einer intensiveren und viel eingehenderenUntersuchung als bisher. Dies haben wir zugesagt; wirwerden uns darum kümmern.
Erlauben Sie mir abschließend noch einige kurzeAnmerkungen. Ich möchte der Justizministerin für diehervorragende Mitarbeit und den Einsatz ihres Hausesdanken.Dirk Manzewski
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8360 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Zum ersten Mal seit langem wird wieder aus dem Be-reich der Justiz nicht nur von Mittelstandsförderung ge-redet, sondern es wird dafür etwas getan.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,hatten dazu jahrelang Zeit; Sie haben aber nichts be-wegt.
Aber seit wir an der Regierung sind, kommen Ihnen nurso die Gedanken – immerhin ein Vorteil.
Kollege Luther, wenn Sie hier der Regierungskoaliti-on Verzögerungstaktik vorwerfen, dann muss ich unsererstes Berichterstattergespräch im Dezember erwähnen.Seinerzeit bin ich davon ausgegangen, dass der Berichtder Bund-Länder-Arbeitskommission die Grundlage un-seres Gespräches sein kann. Ich erinnere mich noch gutdaran, wie Sie damals unvorbereitet aufgetaucht sindund so getan haben, als wüssten Sie von nichts. Wir wa-ren im Übrigen dazu bereit, eine Woche später dasnächste Berichterstattergespräch zu führen. Zu diesemZeitpunkt hatten Sie aber keine Zeit, weil die Weih-nachtsferien kurz bevorstanden.
Herr Kollege Man-
zewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Luther?
Nein, nicht von Herrn Lu-
ther. Ich will zum Schluss meiner Rede kommen.
Herr Kollege Man-
zewski, dann muss ich Sie darauf aufmerksam machen,
dass Sie Ihre Redezeit schon längst überschritten haben.
Noch ein paar Sätze und dann müssen Sie zum Schluss
kommen.
Das ist in Ordnung. Ich be-
ende meine Rede mit einer letzen Bemerkung.
Herr Kollege Luther, selbstverständlich werden wir
darauf achten – das sichere ich Ihnen zu –, inwieweit
unser Gesetz tatsächlich den von uns erhofften und mei-
ner Auffassung nach eintretenden Erfolg bringen wird.
Sollte er wider Erwarten, so wie Sie es suggerieren,
nicht eintreten, werden wir unser ohnehin schon gutes
Gesetz sicherlich weiter verbessern.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr.
Michael Luther.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kollegen! Ich will mich nicht zu dem
äußern, was Herr Manzewski gesagt hat.
Herr Kollege
Luther, die Kurzintervention ist dazu gedacht, dass man
konkret auf den Vorredner eingehen kann.
Ich will konkret
auf eine Bemerkung von ihm eingehen. Er hat wiederum
die Mär erzählt, wir hätten 16 Jahre nichts getan. Ich
will ihn fragen, ob er mir Recht gibt, dass das Problem
aufgrund der Konjunktur am Bau insbesondere in den
neuen Bundesländern erst nach 1996 aufgetreten ist.
Ich meine, deswegen konnte man vorher gar nichts tun.
Wir haben dieses Problem in den Jahren 1996/97 er-
kannt und es seinerzeit bereits im Deutschen Bundestag
behandelt. Es gab einen Antrag im Deutschen Bundes-
tag, der im Jahre 1998 von der damaligen Regierungs-
koalition verabschiedet worden ist. Wir haben unsere ei-
genen Vorgaben ernst genommen, haben uns mit dem
Problem beschäftigt, über die Wahlpause einen Gesetz-
entwurf erarbeitet – dies geschah gemeinsam mit dem
Freistaat Sachsen; das ist richtig – und diesen dann vor-
gelegt.
Sie können uns also nicht vorwerfen, dass wir nichts
gemacht haben. Wir haben uns dieses Problems beizei-
ten angenommen.
Zur Erwiderung er-
hält der Kollege Manzewski das Wort.
Herr Kollege Luther, dasProblem der Zahlungsmoral ist alt. Es ist nicht erst 1996aufgetaucht, sondern existiert schon ungefähr seit 20Jahren. Aber selbst wenn wir vom Jahr 1996 reden, wäreja Zeit genug gewesen, einen konkreten Gesetzentwurfvorzulegen.
Dirk Manzewski
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8361
Wenn Sie sagen, Sie hätten die ganze Sache ange-schoben: Heute ist die Justizministerin von Sachsen-Anhalt zugegen. Sie könnte Ihnen einiges dazu sagen,wer die Sache angeschoben hat. Sie waren es nicht, HerrLuther.
Ich schließe dieAussprache. Wir kommen zunächst zu den Abstimmungen zu Ta-gesordnungspunkt 5 a.Abstimmung über den von den Fraktionen der SPDund Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent-wurf zur Beschleunigung fälliger Zahlungen auf denDrucksachen 14/1246 und 14/2752, Buchstabe a. Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31der Geschäftsordnung des Bundestages vor, unterzeich-net vom Kollegen Dr. Michael Luther und zwölf weite-ren Kollegen*). Die Erklärung wird zu Protokoll ge-nommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.bei Enthaltungen der CDU/CSU-Fraktion und der PDSangenommen. Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in derzweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu dem soebenangenommenen Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2772.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der CDU/CSU abgelehnt. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu demGesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Verbes-__________*) Anlage 2serung der Durchsetzung von Forderungen der Bau-handwerker auf Drucksache 14/2752, Buchstabe b. DerAusschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksa-che 14/673 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die-se Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Ent-haltung der Fraktion der PDS mit den Stimmen des Hau-ses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 5b: Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion derF.D.P. mit dem Titel „Zahlungsverzug bekämpfen –Verfahren beschleunigen – Mittelstand stärken“, Druck-sache 14/2752, Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/567 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen. Tagesordnungspunkt 5c: Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDSmit dem Titel „Zahlungsforderungen schneller durchset-zen – Zahlungsunmoral bekämpfen“ Drucksache14/2752, Buchstabe d.Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/799 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmender Fraktion der PDS mit den Stimmen des Hauses imÜbrigen angenommen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 6 a und6 b sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn, Michael Gold-mann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.Agrodiesel tanken – Gasölbetriebsbeihilfeabschaffen – Drucksache 14/2384 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstnAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit b) Beratung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU Heizöl als Kraftstoff für die deutscheLand- und Forstwirtschaft – Drucksache 14/2690 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heitZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit, Annette Faße, Iris Follak,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,Dirk Manzewski
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8362 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Steffi Lemke, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN Wettbewerbsposition für die deutscheLandwirtschaft verbessern und nachhalti-ge Entwicklung der Landwirtschaft undder ländlichen Räume sichern – Drucksache 14/2766 – ZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenKersten Naumann und der Fraktion der PDS Betriebliche Obergrenze von 3 000 DMGasölbeihilfe zurücknehmen – Drucksache 14/2795 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenMatthias Weisheit für die Fraktion der SPD das Wort
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über mehrere Anträge, die eines gemeinsam haben: DieSteuerbelastung für den Treibstoff landwirtschaftlicherMaschinen, die in den EU-Mitgliedstaaten sehr unter-schiedlich gehandhabt wird und zu starken Wettbe-werbsverzerrungen führt, soll harmonisiert werden.Ausdrücklich genannt wird dieses Ziel allerdings nur imAntrag der Koalition. Die Opposition setzt den Wegfort, den sie in 16 Jahren Regierungsverantwortung ge-gangen ist, nämlich mit nationalen Steuermitteln dasauszugleichen, was man auf europäischer Ebene zu re-geln versäumt hat.
Den Kommissionsentwurf für eine europäischeHarmonisierung gibt es länger als die rot-grüne Regie-rung. Er war aber nie ein Schwerpunkt europäischerBemühungen der alten Regierung. Annähernde Wettbewerbsgleichheit ist aber nur aufeuropäischer Ebene zu erreichen. Das gilt nicht nur fürdie Treibstoffbesteuerung, sondern auch für die Mehr-wertsteuersätze oder die von uns Agrarpolitiker in denletzten Monaten immer wieder beschäftigenden Proble-me im Pflanzenschutz. Auch hier haben wir von der al-ten Regierung ein Erbe übernommen, das in der Frageder fairen Wettbewerbschancen im Bereich der land-wirtschaftlichen Sonderkulturen möglicherweise nochgravierendere Probleme aufwirft als die Treibstoff-besteuerung.
– Keine Zwischenfrage. Nein.Wie gesagt, die CDU/CSU macht es sich sehr ein-fach. Sie fordert „Heizöl in den Tank der Traktoren“ undkann sich sicher sein, auf Bauernversammlungen mitdieser Forderung viel Beifall einzuheimsen.
Es fragt sich, warum Sie diese anscheinend so einfacheLösung nicht schon vor drei, vier oder fünf Jahren inAntragsform gegossen und umgesetzt haben.
Denn schon damals gab es ordentliche Steuerunterschie-de innerhalb der EU. Ich gehe sicher nicht fehl in derAnnahme, dass Ihre Umweltpolitiker – aus gutem Grundübrigens – und Ihr Finanzminister Derartiges verhinderthaben. Es macht auch überhaupt keinen Sinn, mineralischenTreibstoff in der Landwirtschaft so billig zu machen,dass Treibstoff aus nachwachsenden Rohstoffen, die dieLandwirtschaft produziert und die angesichts der Über-schüsse und des dadurch bedingten Preisverfalls im Be-reich der Nahrungsmittelproduktion zu einem immerwichtigeren Standbein der Landwirtschaft werden, ausbetriebswirtschaftlichen Gründen keinerlei Chance hat,auch in der Landwirtschaft eingesetzt zu werden. UnserZiel muss es sein, Treibstoff, den die Landwirte herstel-len, in erster Linie in der Landwirtschaft zu verwenden.
Da gilt es noch technische Probleme zu lösen – dafürhaben wir im Haushalt Geld eingesetzt –, aber auchDenkbarrieren einzureißen.Meine Damen und Herren, der F.D.P.-Antrag, derauch zur Diskussion steht, fordert zwar ebenfalls Heizölstatt Diesel, was wir aber aus den genannten Gründen,aber auch aus finanziellen Gründen nicht verantwortenkönnten. Die Einsparaktionen der Koalitionsregierungwaren doch umungänglich, weil uns die alte Regierungeinen Schuldenberg hinterlassen hat, bei dem jede vierteSteuermark zur Zinsleistung benötigt wurde. Aus dieserVerantwortung können Sie sich nicht stehlen, auch wennSie dies gern tun würden.
Auch hier gilt, was ich anfangs gesagt habe: Sie kön-nen nicht in Europa Kriterien für den Euro beschließen,die zu absoluter Haushaltsdisziplin zwingen, und imNachhinein so tun, als wären Sie bei der ganzen Veran-staltung nicht dabei gewesen und könnten die unge-hemmte Ausgabenpolitik so weitertreiben wie bisher.Die F.D.P.-Forderung nach Heizöl statt Diesel ist wiedie der Union ordentlicher Wahlkampf, aber völlig unse-riös. Mit dem Hinweis – leider nur in der Begründung –,die aufgrund der Abschaffung der Gasölbetriebsbeihil-fe frei werdenden Mittel im Agrarhaushalt für die Ge-meinschaftsaufgabe einzusetzen, gibt es durchaus eineGemeinsamkeit.Mit unserem Antrag, der die Einführung eines festenSteuersatzes für Argradiesel beinhaltet, schaffen wir dieVizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8363
Voraussetzung, die Gemeinschaftsaufgabe in dieser Le-gislaturperiode so zu bedienen, dass die Länder, die ko-finanzieren müssen, keinerlei Grund zur Klage habenwerden.
Vielmehr werden einige Länder Probleme haben, ihreMöglichkeiten voll auszuschöpfen.
Wir werden– wegen der Notwendigkeit, im Jahre 2001die Gasölverbilligung für das laufende Jahr bezahlen zumüssen, erst im Jahr 2002 in der Agrarsozialpolitikneue Akzente setzen können. Voraussetzung hierfür istaber, dass bei der überfälligen Reform bei den Trägerndes agrarsozialen Sicherungssystems Nägel mit Köpfengemacht werden.Zuschüsse aus Mitteln der Steuerzahler sind in einerBranche, die seit Jahrzehnten einem immensen Struk-turwandel unterworfen ist, gerechtfertigt und notwendig.Aber Solidarität innerhalb des Berufsstandes und eineoptimale Verwaltungsstruktur sind Voraussetzung fürdiese staatlichen Leistungen.Wir haben die Bäuerinnen und Bauern mit den Geset-zen zur Einkommensteuerreform, zur Ökosteuer und zurHaushaltskonsolidierung belastet.
– Ich wiederhole: Wir haben sie belastet. – Deshalb istunser Ansatz richtig, bis zur Harmonisierung derTreibstoffbesteuerung in Europa, die die Regierungvorantreiben wird, die Wettbewerbsfähigkeit auch durcheinen stabilen Steuersatz für Agrardiesel zu sichern,gleichzeitig aber den von den Landwirten produziertenBiodiesel betriebswirtschaftlich nicht ins Abseits zustellen.Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch ein Wort desDankes. – Leider muss ich zum Schluss kommen; dieZeit rennt. – Ich möchte mich bei allen aus meiner Frak-tion und der Fraktion der Grünen bedanken, die daranmitgewirkt haben, dass wir zu der Entlastung um700 Millionen DM gekommen sind.
– Ja, natürlich! 700 Millionen DM mehr Geld als bisherbedeuten eine Entlastung, darüber braucht man gar nichtzu diskutieren!
Ich bedanke mich bei meinen Kollegen, die das mit-getragen haben, insbesondere bei Landwirtschaftsminis-ter Karl-Heinz Funke und bei Hans Eichel, der die Min-dereinnahmen letztlich verkraften muss.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Albert Deß.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über dieEnergiekostensituation in der Landwirtschaft ist deshalbnotwendig, weil die Landwirtschaft durch die von Rot-Grün getragene Bundesregierung laufend mit neuen Be-lastungen konfrontiert wird. Man kann, Herr Minister,die rot-grüne Agrarpolitik auch als „Nullachtfünfzehn-Politik“ bezeichnen: null Entlastung für unsere Bauern,dann werden unseren Bauern acht Belastungen von 15angekündigten zugemutet und der Minister lässt sichfeiern, dass das Ganze nicht gar so schlimm gekommenist.
Unter dem Strich bedeutet dies aber, dass unsereBauern im Wettbewerb schwere Nachteile gegenüber ih-ren europäischen Kollegen hinnehmen müssen.
Ich bin auch der Meinung, dass diese rot-grüne Agrar-politik die Existenz vieler bäuerlicher Betriebe in unse-rem Land gefährden wird. Besonders ärgert mich, dassim Sozialbereich so unsozial gehandelt wird.Minister Funke fordert in Presseerklärungen, dass un-sere Landwirtschaft wettbewerbsfähiger werden müsse.
Das ist in Anbetracht der Politik, die Sie, Herr Minister,zu verantworten haben, ein reines Ablenkungsmanöver.
Wie soll denn die deutsche Landwirtschaft wettbewerbs-fähiger werden, wenn diese Bundesregierung ihr laufendneue nationale Belastungen aufbürdet?
Wer pausenlos von der Wettbewerbsstärkung derdeutschen Landwirtschaft spricht, muss auch danachhandeln.
Die von der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P. ge-forderte Möglichkeit, Heizöl als Kraftstoff für die deut-sche Landwirtschaft zuzulassen, ist ein entscheidenderSchritt zur Stärkung der deutschen Landwirte im Wett-bewerb. Eine solche Regelung hat auch den Vorteil, dasskeine eigene Vertriebslogistik notwendig ist. Bei derjetzt vorgesehenen Regelung mit Agrardiesel wird mirberichtet, dass nach Auffassung des Mineralölhandelszusätzliche Kosten entstehen werden. Bei Heizöl alsKraftstoff in der Landwirtschaft ist auch die KontrolleMatthias Weisheit
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8364 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
denkbar einfach. Es ist kein bürokratischer Aufwandnotwendig. Mit dieser Maßnahme würde die Wettbe-werbsfähigkeit unserer Landwirte innerhalb der Europä-ischen Union, auch im Hinblick auf die nächste WTO-Runde, entscheidend gestärkt.Es ist doch in diesem Hause weitgehend unbestritten,dass unsere Landwirtschaft wichtige Funktionen für un-ser Land erfüllt und Grundlage für Millionen von Ar-beitsplätzen ist. Deshalb sollten wir hier einen breitenKonsens für eine Entscheidung zugunsten der deutschenLandwirte finden. An den finanziellen Zwängen darfdies nicht scheitern.
Wenn wir wollen, dass unsere Landwirtschaft weiterihre vielfältigen Aufgaben erfüllt und dadurch Arbeits-plätze gesichert werden, müssen wir gemeinsam dafürsorgen, dass sie auf der Kostenseite entlastet wird. Einesolche Entscheidung ist auch ein positives Signal für un-sere jungen Landwirte und ein Zeichen, mit dem wir ih-nen wieder Mut für die Zukunft machen können. Dies istein Mosaikstein, dem jedoch viele andere hinzugefügtwerden müssen. Während die deutsche Landwirtschaft seit der rot-grünen Regierungsübernahme einseitig national belastetwird, erhöhen andere Länder ihre Agrarförderungen.
Der australische Landwirtschaftsminister hat kürzlichein Hilfspaket für die australischen Milchfarmer in Höhevon 2,18 Milliarden DM beschlossen. Es ist interessant,wie dieses in Australien finanziert wird – ich habe esbereits gestern den Kollegen dargestellt –: In Australienwird auf den Verbraucherpreis für Milch eine Abgabevon 14 Pfennig pro Liter erhoben, damit dieses Paket fi-nanziert werden kann.
Warum diskutieren wir nicht gemeinsam über ähnlicheWege, damit unsere Landwirtschaft auch in Zukunft ihreAufgaben erfüllen kann? Wir von der Opposition sindbereit, mit der Regierung darüber zu diskutieren.
An diesem australischen Vorgehen ist interessant,dass die Farmer anscheinend auch in dem Land, in demeine Liberalisierung am heftigsten gefordert wird, nichtin der Lage sind, zu Weltmarktagrarpreisen Milch zuproduzieren. Sonst wäre dieses Hilfspaket in Höhe von2,18 Milliarden DM nicht notwendig. Bezogen auf dieFörderung pro Farmer übersteigt das bei weitem das,was in Europa für die Milchbauern ausgegeben wird. Eine in die Zukunft gerichtete nationale Agrarpolitik,die unseren Bauern Chancen für die Zukunft gibt, mussdie deutsche Landwirtschaft auf der Kostenseite entlas-ten und nicht belasten, wie dies durch die Bundesregie-rung laufend erfolgt. Die einseitige Ökosteuerbelas-tung der Landwirtschaft ist eine Ungerechtigkeit, die sonicht hingenommen werden kann.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierungauf, ihren Reden Taten folgen zu lassen und die deut-schen Bauern spürbar zu entlasten. Die von Rot-Grün angekündigte Entlastung ist nurder sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. DieEinführung des Agrardiesels mit einem festen Steuer-satz von 57 Pfennig pro Liter ab 2001 und die Verwen-dung der im Rahmen der Gasölrückerstattung frei wer-denden Mittel für die Agrarsozialpolitik bzw. für die indiesem Zusammenhang bestehende Gemeinschaftsauf-gabe und im Rahmen der Förderung nachwachsenderRohstoffe bewirken eine Entlastung, die sich im Ver-gleich zur gigantischen Belastung der deutschen Land-wirtschaft sehr bescheiden ausnimmt. Die Wettbewerbs-verzerrungen durch die unterschiedlichen Dieselsteuer-sätze innerhalb der Europäischen Union werden nichtbeseitigt. Ein Liter deutscher „Agrardiesel“ wird immernoch rund doppelt so viel kosten wie zum Beispiel fürdie französischen und dänischen Bauern ein Liter Treib-stoff. Deshalb fordert die CDU/CSU-Fraktion, unserenBauern den Einsatz von Heizöl als Kraftstoff zu gestat-ten. Dann wird der Liter Treibstoff nur mit einer Steuerin Höhe von 12 Pfennig belastet. Man könnte dann zu-mindest bei den Kraftstoffkosten von fairen Wettbe-werbsbedingungen in Europa sprechen. Wie ich erfahrenhabe, werden die Österreicher einen ähnlichen Weg be-schreiten. Sie werden den Dieseltreibstoff mit einerSteuer in Höhe von 13 Pfennig pro Liter belasten. Wa-rum gehen wir in Deutschland nicht einen ähnlichenWeg? Ich glaube, gerade im Energiebereich ist es wichtig,dass die Produktionskosten niedriger werden, weil nurdann die Produktion in unserem Lande bleibt.
Herr Minister, ich hatte vor kurzem eine Diskussionmit einem Kollegen der Grünen in Bayern. Er hat sichdarüber aufgeregt, dass bei uns die Verbraucher Blumenkaufen, die aus Kolumbien bzw. aus Südafrika eingeflo-gen werden. Wenn jetzt in Deutschland die Landwirteund die Gärtner im Energiebereich mehr belastet wer-den, dann werden in Zukunft noch mehr FlugzeugeBlumen aus dem Ausland nach Deutschland bringen unddie Produktion wird sich von Deutschland weg verla-gern. Das Ganze wäre dann auch ein ökologischer Un-sinn.
Deshalb müssen wir gemeinsam darum ringen, einenWeg zu finden, der deutschen Landwirtschaft Rahmen-bedingungen zu geben, sodass sie wieder Mut für dieZukunft schöpfen kann und sich unsere jungen Bauernwieder trauen, den Beruf des Bauern langfristig auszu-üben, und sie auch in Zukunft die Chance haben, Bauernbleiben zu können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Albert Deß
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8365
Ich gebe das Wort
der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Fangen wir an beim Thema Wettbewerb! Ich denke,nicht nur hier setzen wir uns ständig darüber auseinan-der; erinnern wir uns an die Diskussion gestern mit denAmerikanern. Sie sagen immer, die Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Landwirtschaft werde geschmälertdurch die viel bessere Situation in anderen europäischenLändern. Ich will nur einmal daran erinnern – und dies nichtzum ersten Mal –, dass es auch in sechs anderen europä-ischen Ländern Ökosteuern gibt. Es gibt Steuern aufPestizide; es gibt Steuern auf Stickstoff. Von argrarsozi-aler Sicherung haben viele europäische Mitgliedsländerüberhaupt noch nie etwas gehört. Wenn Sie vergleichen, dann vergleichen Sie aberrichtig, und zwar mit allen Elementen, die es gibt. Dasieht Deutschland überhaupt nicht so schlecht aus.
Frankreich nimmt die Modulation wahr, Großbritannientut das und ist in der Diskussion. Wenn wir einen euro-päischen Vergleich anstellen wollen, sollten wir unseinmal in einer richtig ernsten Diskussionsrunde anse-hen, wo denn die Wettbewerbsvor- und -nachteileDeutschlands liegen.
Nächster Punkt: politische Rahmenbedingungen, dieauch den Wettbewerb bestimmen. Da zeichnet sich dochseit vielen Jahren mehr und mehr ab, dass es gerade imRahmen der WTO-Verhandlungen die Greenbox ist, diein Zukunft Fördergrundsätze für Naturschutz, für Um-weltschutz, für Arbeitsplätze, für gesellschaftliche Leis-tungen
– für den Tierschutz, genau! – bestimmen wird. Dafürwerden Förderungsleistungen gezahlt. Und was hat diealte Bundesregierung gemacht? Sie hat die Möglichkei-ten, in diesen Wettbewerb einzusteigen, regelrecht ver-hindert und nichts davon eröffnet.
Das ist ein entscheidender Fehler. Wenn man von Wett-bewerb redet, dann muss man diese Belange doch wahr-haftig mit einbeziehen.
Zum Bereich Garantie. Es gibt zurzeit in Europa eineDiskussion, der auch ich nicht gerade mit Begeisterunggegenüberstehe – Minister Funke ja auch nicht –, um dieAgenda 2000 und deren Bestand bis zum Jahre 2006.
– Wir haben das gebilligt, aber wir haben nicht gebilligt,dass es jetzt schon wieder erodiert.
– Das hat gar nichts damit zu tun; das hat mit einer eu-ropapolitischen Entwicklung zu tun, die andere Dingenotwendig macht und der man sich ebenfalls stellenmuss. Das hat mit den Erdbeben in der Türkei zu tun,die wir nicht bestellt haben – die Türken ganz offen-sichtlich auch nicht –;
das hat mit den Aufbaunotwendigkeiten im Kosovo zutun, die ich auch nicht sehr komisch finde. Ich denke, alle diese Anforderungen an die europäi-schen Haushalte führen dazu, dass im Bereich „Garan-tie“ eine Entwicklung stattfinden wird, die eine – ichdrücke es einmal so aus – „produktbezogene Förderung“immer unsicherer macht. Das heißt, es muss auch hier –das haben Sie genauso wie wir immer betont – eine zu-nehmende Unabhängigkeit der Landwirtschaft vomStaat geben und man muss diese Möglichkeit wahrneh-men, muss sie initiieren und muss die Zeichen der Zeitsehen wollen. Das tun Sie gerade nicht, indem Sie letzt-lich nichts anderes tun, als immer wieder die staatlichenMaßnahmen einzuklagen, die genau diese Situation, dieman seit vielen Jahren voraussehen kann, letztendlichdoch nicht bewältigen helfen.
Der dritte Punkt: Was hat denn die alte Bundesregie-rung getan,
wenn sich die Bauern doch so „wohl fühlen“ konnten –was man an den durchaus nicht gerade optimalenEinkommenserlösen ablesen konnte? Sinkende Be-triebszahlen, sinkende Einkommen waren doch das Er-gebnis. Eine unglaubliche gesellschaftliche Isolation, diees gerade schwer macht, jetzt Einkommen am Markt zuerlösen, ist das Ergebnis.
Oder nehmen wir einmal die Milchquoten! Die alteBundesregierung hat nichts dazu getan, diese enormeKostenbelastung im Milchsektor wirklich anzugehen.
Jetzt gibt es endlich eine Reform. Jetzt gibt es einenKompromiss – gut, den hätte man sich anders denkenkönnen. Jammern Sie jetzt nicht über die Mehrwertsteu-
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8366 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
ern, die daraus entstehen können. Sie waren es, die füreine Börse waren. Sie müssen sich jetzt etwas anderesüberlegen. Zur Sozialversicherung. Sie beklagen sich über diehohen Kosten der Sozialversicherung. Stimmt, ja, diesehen wir auch. Aber wer hat denn diese überfällige Re-form letztlich versäumt
und wer hat es denn versäumt, eine Zukunftsfähigkeitdieser Systeme herzustellen und damit auch eine Entlas-tung der Betriebe zu erreichen? Wir sind es, die dieseAufgaben jetzt angehen. Wir alle sagen ja nicht, dass dasleichte Aufgaben sind.
Agrodiesel. Auch dieser Bereich ist nicht angegan-gen worden. Sie sagen jetzt, das sei nicht notwendig gewesen, weildie Beihilfen niemals in der Diskussion gewesen seien.Stimmt nicht! Wir wissen sehr genau, dass wir in jedemHaushalt darum gerungen haben. Letztendlich ist das einguter Weg.
– Das darf ich nicht so laut sagen.
Außerdem ist der Agrarhaushalt in Ihrer Regierungszeitum 17 Prozent gekürzt worden.Auf jeden Fall haben wir letztendlich eine Lösung er-reicht, nämlich ein Kombinationsmodell: Wir habenneue Wege gesucht, um eine Entlastung herbeizuführenund um die Ziele der Unternehmensteuerreform auch inder Landwirtschaft umzusetzen. Wir hoffen, dass Sieuns dabei unterstützen. Erstens: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Si-cherung der Arbeitsplätze. Natürlich wollten wir etwasim Bereich der Belastungen auf dem Treibstoffsektortun – und haben es auch geschafft. Die jetzt gefundeneRegelung trägt zur Stabilisierung und zur Entbürokrati-sierung bei. Der Steuersatz von 57 Pfennig ist ein Mit-telsatz; er liegt zwischen den Steuersätzen für Treibstofffür Industriemaschinen und für die Maschinen, die fürden Transport gedacht sind. Heizöl einzubeziehen ist ei-ne absurde Forderung. Zum einen ist es umweltrechtlichgar nicht möglich, zum anderen werden Sie ja derLandwirtschaft wohl einen gewissen Anteil an der Stra-ßenbenutzung nicht absprechen wollen.Zweitens. Mit dem Kombinationsmodell sind auchdeutliche ökologische Signale verbunden, nämlich eineUnterstützung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabefür umwelt- und besonders für naturschutzpolitischeZiele.Drittens: eine soziale Komponente. Wir haben dieMöglichkeit, im Bereich der Zukunftssicherung der So-zialversicherung über Beitragsentlastungen im Rahmeneiner effizienten Reform der Sozialversicherungsträgerunterstützend zu helfen.
Ich denke, wir werden da auf den richtigen Weg kom-men. So kurzfristig, wie wir das gerne möchten, geht dasleider nicht. Auf jeden Fall wollen wir in absehbarerZeit zu einer Lösung kommen, die gerade die kleinenund mittleren Betriebe im süddeutschen Raum entlastet.
Mit der Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes,mit dem Programm zur Markteinführung der erneuerba-ren Energien, mit der Förderung der biogenen Treibstof-fe machen wir die Betriebe zukunftsfähig. Diese Maß-nahmen haben ein Volumen von über 100 Millionen DM;hinzu kommen übrigens noch Einsparungen durchdie Verbilligung des Stromes in Höhe von etwa300 Millionen DM.
Dadurch eröffnen wir die Möglichkeit, sich von Kostenzu entlasten und Einkommen zu erzielen.Ich denke, insgesamt ist das ein Weg, der dem Ziel,die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft zu sichern,wahrscheinlich sehr viel näher kommt als all das, wasSie gemacht haben.Danke schön.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nun der Kollege Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon beachtlich,was man heute zu hören bekommt.
Nach langem, zähem Ringen hat sich die F.D.P. letzt-endlich durchgesetzt: Unnötige Bürokratie, die im Jahretwa 100 Millionen DM kostet, wird abgebaut.
Die Gasölbetriebsbeihilfe soll nach Aussage des HerrnMinisters abgeschafft; stattdessen soll ein dritter Mine-ralölsteuersatz eingeführt werden. So weit, so gut –nach meiner Meinung sogar sehr gut. Das war ein aus-gezeichneter und richtiger Schritt. Wir waren die Ersten,die diesen Vorschlag im Ausschuss eingebracht haben.Damals hat noch der gesamte Ausschuss müde gelächeltund gesagt: Das kriegt ihr nie fertig. – Minister FunkeUlrike Höfken
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8367
hat das aufgegriffen und durchgesetzt. Ich bin ihm – ichsage das so deutlich – dankbar dafür.
Was aber dann die Regierung in Aussicht gestellt hatund was Herr Weisheit und Frau Höfken als Erfolg ver-kaufen wollen, bedeutet genau das Gegenteil dessen,was in Wirklichkeit getan wird. Herr Minister Funke,die Belastungen für unsere Bauern nehmen auch imKraftstoffbereich zu und nicht ab. Ihre Stellung imWettbewerb wird nicht verbessert, sondern verschlech-tert. Mit dem durchgängigen Steuersatz von 57 PfennigMineralölsteuer pro Liter Diesel bedeutet dies, dassnoch nicht einmal die zusätzliche Belastung in Höhe von900 Millionen DM, die in Form der Ökosteuer einge-führt worden ist, kompensiert wird.
Die zusätzlichen Belastungen werden nicht kompensiert.
Die mittlerweile von Ihnen, Herr Funke, eingestandeneüberproportionale und ungerechte Belastung desAgrarsektors durch die Ökosteuer muss deshalbvollständig ausgeglichen werden. Man darf dieMehrbelastung in Höhe von 200 Millionen DM nichteinfach so stehen lassen.
Gegenüber 1999 haben Sie, Herr Minister, die Gasöl-beihilfe halbiert. Dann steigt der Beihilfesatz, hervorge-rufen durch die Belastung aus der Ökosteuer, erst zumJahre 2003 schrittweise auf 700 Millionen DM. Aus-gangsbasis 1999 waren 835 Millionen DM. Die Zahlenbelegen, dass durch Regierungshandeln die Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Bauern nicht besser, son-dern schlechter geworden ist. Das ist eindeutig und kannniemand widerlegen. Ich zitiere aus Ihrer Pressekonferenz zum Agrarbe-richt:Mir ist seit langem ein Dorn im Auge, dass diePreise für Energie, und hier speziell für Dieselkraft-stoff, immer weiter in Europa auseinander klaffen.Im Ernährungsausschuss haben Sie für die deutscheLand- und Forstwirtschaft im EU-Vergleich gravierendeWettbewerbsnachteile aufgrund von Höchstpreisen beiKraftstoff eingeräumt. Sie haben es mit Ihrer Aussageim Ernährungsausschuss auf den Punkt gebracht: Siesagten, im Jahre 2003 würden die Landwirte in Belgiennur ein Viertel, in Großbritannien nur ein Drittel, in denNiederlanden, in Dänemark und in Frankreich nur runddie Hälfte des deutschen Dieselölpreises zahlen. Mit an-deren Worten: Deutsche Landwirte zahlen gegenüberbelgischen Landwirten viermal so viel, gegenüber briti-schen dreimal so viel, gegenüber französischen, nieder-ländischen und dänischen Landwirten das Doppelte. Sosieht es in Wahrheit aus. Um den Wettbewerb zu stärken und die Benachteili-gung der deutschen Landwirtschaft abzubauen, dürftennach meinem Dafürhalten allenfalls 8 bis 10 Pfennig proLiter als Mineralölsteuer erhoben werden. Ich rechneIhnen das auch vor. Damit gäbe es gegenüber den euro-päischen Nachbarländern immer noch eine zusätzlicheBelastung von etwa 50 Pfennig pro Liter. Von dieserBasis aus wären dann auch Bemühungen um eine euro-päische Harmonisierung realistisch. Ihr Vorhaben,Herr Minister Funke, die Kraftstoffpreise zuerst zu er-höhen und dann nach Harmonisierung zu rufen, ist einallzu durchsichtiges Spiel.
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass unsere Nachbar-staaten ihre Preise für Kraftstoffe verdoppeln, um denDeutschen auf ihrem Sonderweg zu folgen und diesenzu bestätigen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Belastungen für die Landwirtschaft beliefen sich1999 ganz konkret auf 26,5 Pfennig pro Liter Diesel. Siewollen sich jetzt dafür feiern lassen, dass Sie die Belas-tung für die Landwirtschaft auf 57 Pfennig pro Liter an-heben. Gleichzeitig reden Sie aber von einer Orientie-rung in Richtung einer Harmonisierung nach unten.
Sie haben die Mineralölsteuer von 26,5 auf57 Pfennig pro Liter erhöht. Das wird für die deutscheLandwirtschaft immer schwerer verkraftbar. Zu diesenBelastungen – hier hauen Sie noch eines drauf – kom-men für die Landwirtschaft noch Belastungen durch dasSteuerentlastungsgesetz in Höhe von rund 1 MilliardeDM und durch das Haushaltssanierungsgesetz in Höhevon 519 Millionen DM. Die zusätzlichen Belastungendurch die geplante Unternehmensteuerreform werdenmit etwa 300 Millionen DM beziffert. Rechnen Sie daseinmal zusammen. Wo stehen denn da Ihre Aussagenund die Realität in Übereinstimmung? Es gibt eine er-hebliche zusätzliche Belastung für die deutsche Land-wirtschaft durch die Kraftstoffpreise.
Wenn Sie, Herr Minister, Ihren Ansprüchen tatsächlichgerecht werden wollten, hätten Sie die Mineralölsteuernicht auf 57 Pfennig erhöhen, sondern auf 10 Pfennigpro Liter senken müssen. Dann hätten Sie hier zu RechtBeifall bekommen und man hätte gesagt, dies sei inOrdnung. So gehen Sie genau in die falsche Richtung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wunde-re mich schon, wie man hier von einer Stärkung derWettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaftsprechen kann. Genau das Gegenteil wird erreicht.Danke schön.Ulrich Heinrich
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8368 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat nach zä-
hem Ringen aller Beteiligten den berechtigten Forde-
rungen der Bauern nachgegeben und sich zur Einfüh-
rung des Agrardiesels bekannt. Die Anträge von
CDU/CSU und F.D.P. haben sich nach meinem Ver-
ständnis damit erledigt.
Die von der Bundesregierung beabsichtigte Regelung
ist aus finanzieller Sicht ein ausgleichender Ersatz für
die bisherige Gasölbeihilfe.
Die CDU/CSU und die F.D.P. verstehen sich aber als
Klientelparteien und wollen über eine noch günstigere
Agrardieselregelung Punkte bei den Familienunterneh-
men in Westdeutschland sammeln. Oder wie soll ich die
heutige Debatte über den Agrardiesel sonst auffassen?
Meine Damen und Herren, worin besteht das eigentli-
che Problem? Die Gasölbeihilfe wurde eingeführt, weil
die Bauern Diesel bei der Feldarbeit verbrauchen und
deshalb von einer Steuer befreit werden, die der Ver-
kehrspolitik dient. Es kommt ja auch niemand auf die
Idee, das Heizöl mit der Mineralölsteuer für Fahrzeug-
diesel zu belasten.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hein-
rich?
Nein, keine Zwischen-
fragen.
Die Einführung des Agrardiesels ist die sachlich be-
gründete Lösung, die der Regelung beim Heizöl ent-
spricht. Sie hat nichts mit den Belastungen der Land-
wirtschaft durch die Ökosteuer zu tun. Die PDS hat die
Agrardiesellösung schon in der Vergangenheit gefordert
und unterstützt dieses Vorhaben deshalb nachdrücklich.
In der bisherigen Diskussion wurde jedoch ein Pro
blem völlig ausgespart: Die Agrardiesellösung soll erst
ab 2001 eingeführt werden. Bis dahin gilt jedoch eine
modifizierte Gasölbeihilferegelung. Allen Betrieben
wird die Beihilfe nämlich nur bis zu einer Obergrenze
von 3 000 DM gewährt. Praktisch bedeutet das, dass die
Betriebe für ihre Betriebsfläche von über 100 Hektar
keine Beihilfe erhalten. Davon sind natürlich auch Ver-
edelungsbetriebe betroffen. Die Gasölbeihilfe für die
Agrarbetriebe verringert sich dadurch allein in Sachsen
um 33 Millionen DM. Diese Einschnitte sind für viele
Agrarbetriebe existenzgefährdend. Die PDS fordert des-
halb mit ihrem Entschließungsantrag nachdrücklich die
vollständige Beseitigung der 3 000-DM-Obergrenze
auch für das Verbrauchsjahr 2000.
CDU/CSU und F.D.P. sind nun allerdings eifrig da-
bei, das Problem des Agrardiesels mit der Ökosteuer zu
vermischen. Tatsache ist, dass die Landwirtschaft mit
etwa 900 Millionen DM durch die Ökosteuer belastet
wird und kaum Vorteile von der Senkung der Lohnne-
benkosten hat. Der Versuch, diese Belastungen mindes-
tens teilweise über die Agrardieselregelung abzufangen,
führt steuersystematisch zu einem Chaos, besonders
dann, wenn man die geplanten weiteren Schritte bei der
Ökosteuer berücksichtigt.
Die PDS plädiert deshalb dafür, zum eigentlichen
Ziel der Ökosteuer zurückzukehren und die
900 Millionen DM für den ökologischen Umbau der
Agrarproduktion zu verwenden. So könnten die Mittel
zum Beispiel für die Förderung des ökologischen Land-
baus und einer standortgerechten Produktion sowie die
Förderung nachwachsender Rohstoffe und Energieträger
eingesetzt werden.
Auch die Einführung umweltgerechter Technologien
und Organisationsformen, zum Beispiel durch den Auf-
bau von agrochemischen Zentren oder Biogasanlagen,
sowie die Erweiterung der Umweltprogramme und nicht
zuletzt der Vertragsschutz und andere Naturschutzvor-
haben könnten mit diesen Mitteln zielgerichtet gefördert
werden.
Wir sind überzeugt, dass die Bauern viele gute Ideen
einbringen würden, wenn der ökologische Umbau der
Agrarproduktion finanziell kräftig gefördert würde. Wir
fordern deshalb, die aus der Landwirtschaft der Öko-
steuer zufließenden finanziellen Mittel in die Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ einzustellen und zielgerichtet für den
ökologischen Umbau einzusetzen.
Die PDS erwartet, dass Minister Funke dieses Thema,
wie versprochen, mit großem Nachdruck weiter verfol-
gen wird. Herr Minister Funke, halten Sie sich einfach
an Herbert Wehner, der einmal sagte: „Politik ist die
Kunst, das Notwendige möglich zu machen.“ Beweisen
Sie also, dass Sie neben Landwirt und Politiker auch
Künstler sind. Ich denke, der Beifall wäre Ihnen sicher.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wahr-scheinlich der einzige Nichtlandwirtschaftspolitiker, derheute etwas zu diesem Thema sagt, aber angesichts derGrößenordnung von 700 Millionen DM ist es sinnvoll,dass sich auch die Finanzpolitik darüber Gedankenmacht, welchen Beitrag sie leisten kann, um den Bauernzu helfen. Ulrich Heinrich
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8369
Aus unserer Sicht ist es überhaupt nicht zu bezwei-feln, dass die Landwirtschaft in den letzten Jahrenerheblich unter Druck geraten ist und dass der Druckmöglicherweise noch zunehmen wird. Wenn man sichden Landwirtschaftsbericht, und die Debatte darüber zu-rück ins Gedächtnis holt, sieht man, dass sich dieEinkommenssituation 1999 um 7,3 Prozent erheblichverschlechtert hat, dass der Durchschnittsertrag einesBetriebes nur noch 53 000 DM betrug und dass nur nochdie Hälfte aller Höfe, nämlich 190 000, überhaupt alsHaupterwerbsquelle geführt werden können.
Das erkennen wir an. Das sage ich ausdrücklich.Wenn man sich die Situation im Bereich Schweine-mast ansieht – das ist etwas, was bei mir in der Heimatin Warendorf als dem schweinereichsten Kreis, einegroße Rolle spielt – , dann ist festzustellen, dass dort dieEinkommen dermaßen zusammengebrochen sind, dassman sehr ernsthaft darüber nachdenken muss, ob mannicht die eine oder andere zusätzliche Unterstützungwirken lassen kann.Vor diesem Hintergrund sind natürlich politisch initi-ierte und für sich im Einzelfall jeweils notwendigeMaßnahmen als Belastung besonders schwerwiegend.Das gilt für die Agenda 2000, deren Auswirkung geradeunter der deutschen Präsidentschaft gegenüber ursprüng-lichen Befürchtungen deutlich gedämpft worden ist, fürdie Ökosteuerreform mit ihren 900 Millionen DM anBelastung im Jahr 2003 und für Veränderungen im Be-reich der Einkommensteuer. Es ist unbestritten, dass die Landwirte im Jahr 2003alles zusammen genommen etwa 2,3 Milliarden DM zu-sätzlich an Belastung hinnehmen müssen. Deswegengewinnen die Sorgen der Landwirtschaft eine politischeDimension, an der eine zur Konsolidierung bereite Bun-desregierung und auch die Finanzpolitik nicht vorbeige-hen können. Deswegen soll eine wesentliche Entlastungdurch die Einführung des niedrigen Sondersteuersatzesauf Diesel beschlossen werden, der für landwirtschaftli-che Nutzfahrzeugen eingesetzt wird. Wenn man sich die Landschaft in der EuropäischenUnion anschaut, dann stellt man fest, dass diese leidersehr große Gestaltungsmöglichkeiten zulässt, was dieBesteuerung von Kraftstoffen in der Landwirtschaft an-geht. Die meisten Länder nutzen diese Möglichkeiten.Lediglich Griechenland, bislang auch Österreich undSchweden, haben für die Landwirtschaft keine Sonder-regelung. Deutschland hat bislang die Mineralölsteuerteilweise in Dänemark ganz zurückerstattet. Sechs Län-der erlauben den Einsatz von Heizöl als Kraftstoff. Dieübrigen vier Länder haben einen Sondersteuersatz aufDiesel, den Agrodiesel. Sowohl das als Kraftstoff zuge-lassene Heizöl als auch der Agrodiesel sind in diesenzehn Ländern eingefärbt und damit an besonderen Zapf-säulen verfügbar. Sie werden nicht über das Rückerstat-tungsverfahren zurückgezahlt.Wenn man sich die Unterschiede ansieht, wird er-sichtlich, dass die Kosten innerhalb der EU zwischen1,20 DM und 20 Pfennig liegen, die der Landwirt zuzahlen hat. Dazwischen liegt wirklich eine Welt. Beidiesen Kostenstrukturen, muss man, denke ich, auch an-gesichts der Entwicklung durch die ökologische Steuer-reform gegensteuern. Das wollen wir.
Der einheitliche Steuersatz von 57 Pfennig wird dazubeitragen, dass die Belastung im Jahr 2003 deutlich ab-gefangen wird und dass der einzelne Landwirt auf demHöhepunkt der Entwicklung der ökologischen Steuerre-form mit 35 Pfennig besser dasteht als in den Jahren vorder Reduzierung der Gasölbeihilfe. Insofern ist das einebei der voraussehbaren Entwicklung der Dieselkostenadäquate Lösung, die wir hier gefunden haben, zumaldie 3 000-Liter-Obergrenze bei dem neuen Modell weg-fallen soll, was für größere Betriebe, für Maschinenringeund für landwirtschaftliche Lohnunternehmen besonderswichtig ist.Die Alternative, Heizöl als Kraftstoff einzusetzen,halten wir für ökologisch unverantwortbar. Heizöl unter-liegt nicht den strengen Normen wie Kraftstoffe, wasden Schadstoffinhalt angeht. Es wäre unverantwortlich,Diesel sowohl auf den Äckern als auch auf den Straßenim ländlichen Raum einzusetzen. Also müssen wir jen-seits der Finanzierungsfrage eine Lösung finden, die denökologischen Fortschritt im Bereich der Zusammenset-zung von Kraftstoffen auch in der Landwirtschaft wei-terhin aufrechterhält. Wir sind froh darüber, dass es gelungen ist, die 375 Millionen DM, die dann für die Gasölbeihilfe nichtmehr erforderlich sind, der Landwirtschaft insgesamt fürSozialpolitik und zur Verbesserung der Eigenmittelaus-stattung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu erhalten. Ichdenke, dadurch wird auch deutlich, dass dies den Land-wirten insgesamt eine echte Nettoentlastung in Höhevon 700 Millionen DM bringt, die – so denke ich – vonihnen auch anerkannt wird. Wenn der Bauernverband 900 Millionen DM fordert,so habe ich dafür Verständnis. Das ist bei solchen Ver-handlungen so.
Wenn man sich aber einer Forderung zwischen null und900 Millionen DM politisch im Rahmen eines Konsoli-dierungsprogramms bis auf 700 Millionen DM annähert,dann ist das eine stolze Tat, die dem Finanzminister undden Finanzpolitikern große Schwierigkeiten bereitet hat,die nichtsdestotrotz notwendig ist und die man nichtkleinreden sollte, weil man Verbandsfunktionären nachdem Maul redet.
Herr Kollege! Reinhard Schultz
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8370 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Wir haben
die Landwirtschaft nicht im Regen stehen lassen. Ich
denke, die Lösung wird akzeptiert werden.
Vielen Dank.
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich Kollegen Ronsöhr das Wort.
Die Bau-
ern regen sich auf, nicht ich. – Ich habe auf einen Zuruf
von Herrn Schönfeld reagiert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schultz hat eben davon gesprochen, dass
es durch die hausgemachten Beschlüsse eine Gesamtbe-
lastung von 2,3 Milliarden DM für die Bauern gibt. Nun
habe ich hier ein Papier der SPD-Fraktion vom 6. Januar
2000. Darin wird von einer ganz anderen Belastung aus-
gegangen. Ich finde, Sie sollten dann schon bei Ihren ei-
genen Papieren bleiben, obwohl ich auch dabei Schwie-
rigkeiten habe, das nachzuvollziehen.
In diesem Papier steht, die ökologische Steuerreform,
also die Ökosteuer, bringt in der ersten und zweiten Stu-
fe für die Landwirtschaft eine Belastung von 950 Milli-
onen DM. Es wird ja immer wieder etwas anderes ge-
sagt; hierin stehen 950 Millionen DM. Ulrike Höfken
hat davon gesprochen, dass die zukünftige Unterneh-
mensteuerreform für die Landwirtschaft eine Entlastung
bringt. Hier ist eine Belastung von 165 Millionen DM
im Jahre 2003 aufgezeigt. Insgesamt kommen Sie auf
eine Belastung von 2,968 Milliarden DM. Das sind etwa
700 Millionen DM mehr als das, was Sie angesprochen
haben. Darin ist noch nicht die Kürzung der Vorsteuer-
pauschale enthalten, die nach eigenen Berechnungen der
Bundesregierung für die Landwirtschaft auch noch ein-
mal 400 Millionen DM ausmacht. Und nun sprechen Sie
von einer Entlastung round about – ich lege es einmal
ganz großzügig aus – von 1,1 Milliarden DM, und dann
sagen Sie: Netto kommt eine Entlastung heraus.
Ich würde doch darum bitten, dass Sie das kleine
Einmaleins irgendwie nachvollziehen. Glauben Sie doch
nicht, dass Sie den Landwirten draußen ein X für ein U
vormachen können. Das wird Ihnen nicht gelingen.
Vielmehr bleibt eine erhebliche Belastung.
Ich kann Ihnen Ihr eigenes Papier ja gern zuschicken,
damit Sie Ihre eigenen Zahlen nachvollziehen können.
Das sind nicht meine Zahlen. Aber bitte: Tun Sie doch
nicht in der Öffentlichkeit so, als wenn es keine Belas-
tung wäre, während Sie intern nach diesem Papier selbst
von einer Belastung von über 3 Milliarden DM ausge-
gangen sind!
Bitte schön,
zur Antwort hat Herr Kollege Schultz das Wort.
Lieber Herr
Kollege! Ich habe eben, was ich nicht hätte tun müssen,
aufgeblättert, welche Belastungen insgesamt auf die
Landwirtschaft zukommen und dass deswegen der poli-
tische Druck groß ist, zur Entlastung beizutragen. So
weit, dass die Politik sämtliche Entlastungen neutralisie-
ren kann
und der Gesamthaushalt oder die Einkommen aller übri-
gen Menschen in Deutschland sozusagen als Deckungs-
reserve für Probleme der Landwirtschaft herhalten kön-
nen, werden selbst Sie nicht gehen. Man muss zwischen
dem Interesse an einer Haushaltskonsolidierung und den
gesamten Interessen der Verbraucher und Steuerzahler
sowie besonderen Notlagen in der Landwirtschaft abwä-
gen und dann einen Kompromiss finden, der noch trag-
fähig ist und von den Betroffenen angenommen wird.
Die Äußerungen des Bauernverbandes über die von
uns heute vorgestellte Lösung sind außerordentlich posi-
tiv. Nach dem RWI-Gutachten liegen die sektoralen
Auswirkungen der Ökosteuer bei 900 Millionen DM.
Das ist eindeutig und unbestritten. Die negativen Aus-
wirkungen der Unternehmensteuerreform entstehen vor
allen Dingen durch den vorgesehenen Wegfall der An-
sparabschreibung und vergleichbarer Tatbestände.
Darüber wird sicherlich zu reden sein. Aber das Gesetz-
gebungsverfahren läuft noch. Sie können also nicht das
einbeziehen, was politisch noch in der Pipeline ist. Wir
werden uns genau ansehen, wie sich Belastungen und
Entlastungen auf die Steuerbürger auswirken. Wir haben
versprochen, einen sehr offenen Dialog über die Unter-
nehmensteuerreform mit allen Betroffenen zu führen.
Diesen sollten wir hier nicht abbrechen.
Ich fände es gut – das verstehe ich unter Oppo-
sition – , wenn Sie jenseits des populistischen Hinterher-
rennens zur Kenntnis nähmen, dass selbst der Präsident
und der Generalsekretär des Bauernverbandes das, was
wir gemacht haben, für eine große Tat halten, die sie
dieser Koalition angesichts ihrer selbst gesetzten Konso-
lidierungsziele so nicht zugetraut hätten. Mehr kann man
in einer solch schwierigen Lage wohl kaum erwarten.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Peter Bleser.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8371
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren!
– Vielleicht kann man auf der SPD-Seite den Mund hal-ten, damit ich meine Ausführungen vortragen kann.
Ich habe nämlich für meine Rede genügend Stoff ge-sammelt, um alle Argumente, die hier gebracht wordensind, auch belegen zu können, insbesondere diejenigenüber die Belastungen.Wir, die CDU/CSU, bringen heute wie die F.D.P. ei-nen Antrag ein, der vorsieht, dass der deutschen Forst-und Landwirtschaft die Verwendung von Heizöl erlaubtwird. Damit sind wir einer langjährigen Forderung desBerufsstandes gefolgt. Wir wollen die deutschen Land-wirte ihren europäischen Nachbarn gleichstellen und –das ist das Wichtige – wollen die Landwirte von derÖkosteuer wirklich entlasten. Diesen Antrag – das sageich hier ganz offen, Herr Kollege Weisheit – werde ichin meinem Büro an einem sicheren, aber leicht auffind-baren Ort aufbewahren, damit ich ihn dann, wenn wir2002 wieder die Bundesregierung stellen, auch schnellfinden werde.
Keine andere Bundesregierung hat die deutschenLandwirte so belastet wie diese rot-grüne Koalition. Oh-ne eine spürbare Entlastung wird es in der deutschenLandwirtschaft einen Strukturbruch geben, mit der Fol-ge, dass Tausende von Arbeitsplätzen verloren gehen.Das sage ich hier mit allem Ernst. Die Liste IhrerSchandtaten, Herr Minister Funke, und Ihrer Regierungist so lang, dass meine Redezeit nicht ausreicht, um sievollständig hier vorzutragen.
Ich liste nur einige Beispiele auf: die Rückführung derMehrwertsteuerpauschale um 1 Prozent, obwohl dieZahlen eine Erhöhung zuließen; die Agendabeschlüsse;
die Ökosteuer; die Rückführung der Gasölverbilligung;das Steuerbelastungsgesetz – so heißt es ja richtig – , dasein Volumen von 1,1 Milliarden DM hat, und die Rück-führung der Zuschüsse in die Sozialversicherung. DieAuswirkungen der angekündigten Unternehmensteuerre-form kommen noch hinzu. Der Bauernverband sagt, essei eine Belastung in Höhe von 350 bis 500 Milli-onen DM zu erwarten, weil die Abschreibungsmodalitä-ten vorübergehend verschlechtert würden. Wenn mandas alles addiert – ich kann das belegen – , dann kommtman auf fast 5 Milliarden DM. Damit nehmen Sie dendeutschen Bauern ein Viertel ihres Einkommens. Das istdie Wahrheit. Trotzdem verweisen Sie immer auf die –verglichen mit den Belastungen – lächerlichen Entlas-tungen. Das grausame Spiel geht noch weiter. Mir sind In-formationen zugegangen, nach denen im Bundesfinanz-ministerium die Neufestsetzung von Einheitswerten be-rechnet wird. Ich habe gehört, dass eine Erhöhung umden Faktor 10 bis 15 zu erwarten sei. Was damit letztlichauf die bäuerlichen Familien zukommt, wage ich zurzeitnoch nicht einmal zu beschreiben.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ha-ben die deutschen Landwirte wie keine andere Bevölke-rungsgruppe einseitig mit Sonderlasten belegt. Am un-gerechtesten ist dabei die Ökosteuer, weil eine Entlas-tung durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträ-ge wie in der übrigen Wirtschaft, wie Sie wissen, nichtmöglich war. Es gibt nun einmal wenig abhängigBeschäftigte in den landwirtschaftlichen Betrieben. Erst nach längerem Gewürge haben Sie der Landwirt-schaft die Zurechnung zum produzierenden Gewerbegestattet, was ab dem Sockelbetrag von 1 000 DM dieAbzugsfähigkeit der Ökosteuer ermöglichte. Aber auchdiese Maßnahme hat nur 5 Prozent, im WesentlichenGartenbaubetriebe, erreicht. Der Rest, also das Gros derBetriebe, ist leer ausgegangen. Sie hatten also keine Ent-lastung durch die Ökosteuer.
– So war ‘s.Nur der massive Druck der Bauern hier am Branden-burger Tor hat Sie letztlich dazu veranlasst, über Agrodiesel nachzudenken und eine Steuerbelastung aufdann 57 Pfennig ab dem Jahr 2001 zu fixieren. Damitbleiben Sie 23 Pfennig unter der im Jahr 1999 von unsinstallierten Gasölrückverbilligung. Es ist also eine Ver-schlechterung von immerhin noch 400 Millionen DModer 18 Pfennig gegenüber der Altregelung, die bis Endeletzten Jahres galt.Selbst wenn im Jahre 2003 die letzte Stufe der Öko-steuer auf grausame 35 Pfennig inklusive Mehrwertsteu-er angewachsen ist, wird die Entlastung durch Ihr Mo-dell noch immer geringer als unser altes Modell ausfal-len, das bis Ende letzten Jahres galt. Das Ganze ist alsoschlicht und einfach eine Mogelpackung.
Die jetzt geplante Einführung eines womöglich grü-nen Agrodiesels bedingt – neben der für Heizöl und Die-sel – eine dritte Logistikschiene. Beim Mineralölhandelund bei den Bauern löst diese Vorstellung nur nochKopfschütteln aus. Das Ganze ist für mich ein weiteresBeispiel für die Weltfremdheit dieser Bundesregierung.Stellen Sie sich einen Landwirt vor, der wegen Um-weltauflagen seine Hoftankstelle aufgegeben hat. Woher
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8372 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
soll er in Zukunft seinen grünen Agrodiesel bekom-men? Von einer Tankstelle, die extra Gerätschaften an-schafft? Glauben Sie es nicht. Oder stellen Sie sich ei-nen Betrieb vor, der auch noch gewerbliche Tätigkeitenverrichtet. Wollen Sie dem entsprechenden Landwirtempfehlen, wann er welchen Diesel im Tank seiner Ma-schinen haben soll? Es wird also so sein, dass durch diezusätzliche Logistik weitere Kosten auf die Bauern zu-kommen. Verehrte Kollegen der Regierungskoalition,ich sage Ihnen das jetzt, damit Sie nachher nicht sagenkönnen, das habe man Ihnen vorher nicht mitgeteilt.Wir wollen jetzt einen ganzen Schritt gehen. Wirwollen das rot gefärbte Heizöl auch für landwirtschaftli-che Fahrzeuge zulassen. Ich sage ganz offen: Ich seheauch hierbei Probleme in der Praxis. Deshalb empfehleich, die Einfärbung des Agrodiesels in Zukunft – zumin-dest auf dem Papier – als Option aufrechtzuerhalten.Ich fasse zusammen: Erstens. Die rot-grüne Bundesregierung belastet dieLandwirtschaft mit rund 5 Milliarden DM.
Allein durch die Ökosteuer wird sie mit 900 Milli-onen DM belastet. Erst nach massivem Druck haben Siezuletzt versucht, die Landwirte teilweise zu entlasten.Der Landwirtschaft wird dabei noch nicht einmal daszugestanden, was ihr zugestanden werden müsste, wenndie Gleichbehandlung mit der übrigen Wirtschaft er-reicht würde. In Wirklichkeit bleibt Ihr Agrodieselmo-dell selbst im Jahre 2003 um 160 Millionen DM hinterder Altregelung zurück, die bis Ende letzten Jahres galt.Zweitens. Ich fordere Sie deshalb auf, die erst für daslaufende Jahr eingestellte Regelung auszusetzen und diealte fortbestehen zu lassen, bis Ihre Regelung im nächs-ten Jahr greift.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hein-
rich?
Bitte schön, Herr
Heinrich.
Herr Kollege Bleser, Sie
haben uns gerade vorgerechnet, dass die Entlastung
durch den festen Steuersatz bei der Mineralölsteuer noch
nicht die Entlastung der vorausgegangenen Jahre von
835 Millionen DM erreicht. Wo soll denn die Entlastung
für die Ökosteuer herkommen, wenn noch nicht einmal
die Entlastung für die bisher gewährte Rückvergütung
von Steuern auf Dieselöl stattgefunden hat.
Genau das ist der Punkt,
Herr Kollege Heinrich.
Zunächst einmal wurde die Belastung dramatisch erhöht.
Dann wurde durch die Gewährung eines kleinen Bon-
bons das Gefühl vermittelt, dass bei der Regierung in
der Tat der Wille vorhanden ist, den Bauern entgegen-
zukommen. Ich habe das als Mogelpackung bezeichnet,
bei dieser Bezeichnung bleibe ich, Herr Kollege.
Ich komme zum dritten Punkt: Befreien Sie die
Landwirtschaft wie das übrige produzierende Gewerbe
von der Ökosteuer und bieten Sie ihr die gleichen Kon-
ditionen an, wie sie der Industrie bei der Erzeugung von
Prozessenergie bereits heute gewährt werden.
Viertens. Verschonen Sie uns von einer weiteren
Versorgungsschiene mit grünem Agrodiesel.
Eine letzte Bitte noch am Schluss: Nehmen Sie auch
die Erwerbsimker dieses Mal mit ins Boot.
Ich stelle abschließend fest: Diese erneute Nachbesse-
rung zeigt, dass diese Bundesregierung auch in der Ag-
rarpolitik weder eine Vision, noch konkrete Ziele, noch
ein schlüssiges Konzept für eine gute Zukunft der
Landwirtschaft hat. Meine Damen und Herren der Koali-
tion, stimmen Sie unserem Antrag zu und Sie haben den
ersten Schritt zu einer guten Agrarpolitik gemacht.
Das Wort hatjetzt der Herr Bundesminister Funke.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte hier einige Korrekturenanbringen. Dazu greife ich einige Stichworte auf. Es istja nicht das erste Mal, dass hier selbst ernannteLichtgestalten Dinge vortragen, die der Realitätüberhaupt nicht entsprechen.
Angesichts der Tatsache, dass Sie hier fordern,
jegliche Belastung müsse durch eine entsprechende Ent-lastung ausgeglichen und möglichst noch überkompen-siert werden, möchte ich Sie nur einmal an Ihre Regie-rungszeit erinnern und Sie fragen, wie sich das mit derKompensation entsprechender Belastungen verhielt, alsSie ständig die Mineralölsteuer erhöhten, ohne für eineRückerstattung zu sorgen. War das keine Wettbewerbs-verzerrung oder -verschiebung? Darüber wird nicht ge-redet.
Peter Bleser
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8373
– Das mögen Sie nicht hören, das verstehe ich auch, aber wir müssen es schon erwähnen.Von 1989 bis 1994 haben Sie die Mineralölsteuer um50 Pfennig erhöht. Da haben Sie noch nicht von Wett-bewerbsverzerrung und Wettbewerbsnachteilen geredet.
Sie haben hier alles zusammengezählt, was estatsächlich oder vermeintlich an Belastungen aus derSteuerreform gibt. Ich darf Sie an Ihre Petersberger Be-schlüsse erinnern und einmal nachrechnen, welche Be-lastungen darin für die Landwirtschaft durch die Ab-schaffung von Sondertatbeständen vorgesehen waren.Darüber reden Sie überhaupt nicht. Auch daran mussman Sie erinnern, wenn Sie hier diskutieren.
Ich habe mir auch genau angeguckt, was Ihr Steuerre-formkonzept aussagt und bedeutet. Ich habe den Ent-wurf der CSU noch in Erinnerung. Der Eingangssteuer-satz sollte auf 19 Prozent abgesenkt werden. Sie wissenganz genau – deswegen ist das schon ein entscheidenderPunkt – , dass es über Steuersenkungen nur dann zu ei-ner Entlastung kommen kann – insbesondere im Bereichder Landwirtschaft mit einem Grenzsteuersatz von20 Prozent –, wenn der Eingangssteuersatz möglichstniedrig ist.
In unserem Entwurf beträgt er 15 und nicht 19 Prozent.
Jetzt haben Sie nachgebessert – ich weiß das – weil dieDurchschnittsbelastung in Sachen Steuern keine Aussa-ge darüber zulässt, welche Betriebe belastet und welcheentlastet werden.
Man muss hier über den Grenzsteuersatz diskutieren.Nun sind auch Sie bei 15 Prozent, das ist zu begrüßen.
Aber gucken Sie sich einmal an, welche landwirt-schaftlichen Betriebe keine Entlastung, sondern eine Be-lastung erfahren hätten.
– Herr Heinrich, ich spreche jetzt ja gar nicht Sie an,sondern in diesem Falle die Kollegen der CDU/CSU.
Sehr wichtig ist für einen Sektor der Volkswirtschaft,der mit einem Grenzsteuersatz von 20 Prozent belastetwird, die Höhe des Steuerfreibetrages.
Daran haben Sie überhaupt nicht gedacht. Da wirdnachgebessert werden. Ich bin sogar überzeugt, es isteher ein Versehen. Das führt aber auch zu einer Belas-tung derer in der Landwirtschaft, die Sie unserer Gütehier förmlich anempfehlen. Sie müssen auch an dieSteuerfreibeträge denken. Es ist sehr unglaubwürdig, was Sie hier vortragen,wenn Sie uns unterstellen, wir seien ausschließlich fürdie Belastung, Sie aber für die Entlastung verantwort-lich.
Wir sind alle sehr gern bereit, mit Ihnen über Wett-bewerbsverzerrung zu reden, dann aber so, wie die Kol-legin Höfken und der Kollege Schultz es hier vorgetra-gen haben: über die gesamte Palette. Es wäre schön ge-wesen, wenn Sie in 16 Jahren schon entsprechende Vor-arbeit geleistet hätten. Dies betrifft nicht nur die Verein-heitlichung der Steuergesetzgebung auf europäischerEbene, sondern auch die Wettbewerbsverzerrung im Be-reich der Pflanzenschutzmittel. Wo sind Sie denn aufdiesen Gebieten auf europäischer Ebene tätig gewesen?Überhaupt nicht.
Wir könnten jetzt bei dem Themenkomplex der Bio-masse zur Schaffung zusätzlicher Standbeine für dieLandwirtschaft darüber reden, warum Sie nicht dafürgesorgt haben, dass diese Anwendung im Baugesetz-buch privilegiert wird, um zusätzliche Chancen auch imEinkommen zu schaffen. Aber davon ist nichts zu fin-den.
Nun klage ich niemanden an, sondern beklage ledig-lich, dass Sie sich hier hinstellen und einseitig vortragen,um die eigenen Fehlleistungen vergessen zu machen. Ichhalte das für nicht in Ordnung. Natürlich sagen Sie, HerrHeinrich, der Mineralölsteuersatz dürfe nur zehn Pfen-nig betragen; hätten wir zehn Pfennig gewählt, hättenSie sicherlich begeistert zugestimmt.
Hätten wir zehn Pfennig gewählt, hätten Sie – davon binich überzeugt – gesagt, es hätten nur fünf Pfennig seindürfen.
Deswegen hätten Sie uns auch dann kritisiert.
Ich verstehe doch die Haltung der Opposition in diesemPunkt.Bundesminister Karl-Heinz Funke
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8374 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Man kann – das ist unstrittig – darüber reden, welcheBelastungen und Entlastungen es durch die Unterneh-mensteuerreform geben wird bzw.geben kann. Ich sageausdrücklich: geben kann. Das kann man gegenwärtig,wenn man seriös rechnet, überhaupt noch nicht sagen:ich meine jetzt ausschließlich den Sektor Landwirt-schaft. Denn dass es in der Zeitschiene zu einer entspre-chenden Entlastung kommt, ist mittlerweile bei allen,die zunächst Horrorgemälde gezeichnet haben, unum-stritten.
Auch das gehört zur Wahrheit und muss hinzugefügtwerden. Die Zahlen, die ursprünglich spontan genanntworden sind, sind mittlerweile widerrufen oder zumin-dest korrigiert worden.Wir sind also sehr gern bereit, über Wettbewerbsver-zerrungen und die Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit zu reden. Das gilt im Übrigen auch in strukturpoliti-schen Fragen und nicht nur in den Punkten, die Sie hierangesprochen haben. Summa-summarum: Angesichtsder obwaltenden Umstände auch angesichts der Markie-rungen in der finanzpolitischen Situation, innerhalb de-ren wir uns zu bewegen hatten, bin ich dankbar, dass wirdiese Lösung erreicht haben.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei all denen, die da-zu beigetragen haben und die geholfen haben, diesesmöglich zu machen. Spricht man mit denen, für die dieArbeit letztlich geleistet worden ist, erntet man sehr vielVerständnis, soweit man sachlich vorträgt und nicht ver-sucht, Dinge parteipolitisch zu instrumentalisieren. Dassage ich auch hinsichtlich ganz bestimmter Vertreter vonVerbänden.
Mit diesem Dankeschön an alle, die dazu beigetragenhaben, verbinde ich die Überzeugung, dass wir auch hin-sichtlich des Abbaus von Bürokratie, soweit wir diesso umsetzen können, ein gutes Stück vorangekommensind. Wenn gesagt wird, andere hätten zuerst den Ge-danken gehabt und wir hätten ihn übernommen: WasUrheberrechte anbelangt, Herr Heinrich, sind wir sehrgroßzügig.
Uns kommt es auf die Effekte und die Wirksamkeit an.Die ist allemal gewährleistet.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Über-
weisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/2384 und
14/2690 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksa-
chen 14/2766 und 14/2795 sollen an dieselben Aus-
schüsse überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7a und 7b auf.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes
– Drucksache 14/2668 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Römischen Statut des Internationalen
Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998
– Drucksache 14/2682 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Auswärtiger Ausschuss Federführung strittig)
Ausschuss. für. Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordung
Innenausschuss
Ausschuss. für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Kein Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter demEindruck der Grausamkeiten des preußisch-franzö-sischen Krieges 1870/71 machte der Schweizer Gustave Moynier 1872 den ersten förmlichen Vorschlagfür einen internationalen Strafgerichtshof. Wie oft habenwir uns seitdem angesichts millionenfachen Leids ge-wünscht – und auch gefordert –, dass die Verantwortli-chen für Krieg, Vertreibung und Völkermord für ihreVerbrechen vor einem unabhängigen internationalen Ge-richt zur Rechenschaft gezogen werden.Nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen,nach den internationalen Jugoslawien- und Ruanda-Tribunalen stehen wir mit dem im Juli 1998 in Rom ver-abschiedeten Statut eines Internationalen Strafgerichts-hofs an der Schwelle zu einem von politischer Opportu-nität unabhängigen Weltrechtsprinzip bei der Verfol-gung schwerster Verbrechen. Das Statut ist ein Meilen-stein in der Entwicklung des Völkerrechts und legt dasFundament für eine Institution, die die Herrschaft desBundesminister Karl-Heinz Funke
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8375
Rechts in den internationalen Beziehungen künftig deut-lich stärken wird.Die überragende Mehrheit der Staaten – 120 insge-samt – hat sich in Rom für die Schaffung eines Interna-tionalen Strafgerichtshofes ausgesprochen. 94 Regierun-gen haben das Statut bis heute unterzeichnet, darunteralle 15 EU-Mitgliedstaaten. Deutschland war vor undwährend der Konferenz einer der entschiedensten Be-fürworter und hat sich mit großem Nachdruck für einenunabhängigen, effektiven und damit glaubwürdigen In-ternationalen Strafgerichtshof eingesetzt – gemeinsammit vielen unserer europäischen Partner, gemeinsam mitKanada, Australien, Südafrika, Argentinien und vielenanderen.Das Ergebnis ist ein Kompromiss; aber es ist ein gu-ter Kompromiss. Es ist gelungen, das Völkerrecht trotzunterschiedlicher Rechtssysteme und Rechtstraditionender Mitglieder der Vereinten Nationen in einem völker-rechtlichen Vertrag zusammenzufassen und zugleichdeutlich weiterzuentwickeln. Ob es um die Verbrechen der Roten Khmer in Kam-bodscha, die Gräuel in Osttimor oder um den Fall Pinochet geht: Klare und glaubwürdige strafrechtlicheKonsequenzen sind seit langem überfällig. Sie sind auch – das sollte nicht unterschätzt werden – ein wirk-sames Element umfassender Konfliktprävention; denndie Wirkung eines effektiven Internationalen Straf-gerichtshofes ist eine dreifache:Erstens können die Verantwortlichen für Krieg, Ver-treibung und Völkermord nicht länger damit rechnen,unter dem Schutzschirm nationaler Souveränität straflosauszugehen. Mein französischer Kollege Hubert Védrinehat das Statut zu Recht einen „Sieg über die Straflosig-keit“ genannt.Zweitens wird von der Arbeit des Gerichtshofes eineAbschreckungs- und Präventionswirkung ausgehen, diedas Kalkül potenzieller Täter mitbestimmen wird. Siewerden sich künftig nirgends mehr sicher fühlen kön-nen. Das ist einer der ganz wichtigen präventiven Ge-sichtspunkte.
Drittens wird der Strafgerichtshof auf die nationalenStrafrechtssysteme und die dortigen Rechtsüberzeugun-gen positiv ausstrahlen. Dies ist gerade im Zeitalter derGlobalisierung und der Entwicklung sehr vieler nationa-ler Rechtssysteme ebenfalls ein wichtiger Gesichts-punkt.Amnesty International hat das Ergebnis von Romdeshalb als „Revolution der rechtlichen und moralischenHaltung der Staatengemeinschaft“ gegenüber der Ver-folgung und Ahndung von Schwerstverbrechen bezeich-net.Sieben Staaten haben das Statut bis heute ratifiziert,zuletzt Norwegen vor genau einer Woche. Es wird inKraft treten, wenn 60 Staaten ratifiziert haben, voraus-sichtlich in knapp zwei Jahren. Angesichts der Bedeu-tung, die die Bundesregierung dem Gerichtshof und dermit ihm verbundenen Verrechtlichung der internatio-nalen Beziehungen beimisst, ist es ein gutes Signal,wenn Deutschland auch bei der Ratifikation zur erstenGruppe gehören wird.
Das Ratifikationsgesetz ist deshalb zusammen mit dererforderlichen Anpassung von Art. 16 des Grundgeset-zes den Gesetzgebungsorganen mit der Bitte um rascheVerabschiedung zugeleitet worden. Ich würde michfreuen, Frau Präsidentin, wenn es angesichts der breitenUnterstützung im Bundestag für die Ziele des Strafge-richtshofes – die Vorgängerregierung hat sich ja um dieVerhandlungen in Rom verdient gemacht – zu einer Ra-tifizierung noch vor der Sommerpause kommen könnte.
Das französische Parlament hat das Statut vor zwei Ta-gen mit großer Mehrheit angenommen. Die EU-Staatenhaben sich als gemeinsames Ziel gesetzt, den Ratifizie-rungsprozess bis zum Ende dieses Jahres abzuschließen.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, das Sta-tut des Internationalen Strafgerichtshofes sieht die inter-nationale Verfolgung von vier Kernverbrechen vor. Essind dies Völkermord, Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, Kriegsverbrechen sowie – nach Einigung übereine angemessene Definition – das Verbrechen der Ag-gression. Der künftig in Den Haag ansässige Gerichtshofkann aufgrund einer Staatenbeschwerde, einer Initiativedes UN-Sicherheitsrates oder des Anklägers tätig wer-den. Aber er wird nach dem Prinzip der Komplemen-tarität nur dann tätig, wenn Staaten nicht willens odernicht in der Lage sind, eine bestimmte schwere Straftaternsthaft selbst zu verfolgen. Er wird die nationale Ge-richtsbarkeit also nicht ersetzen, sondern ergänzen. Deutschland hat maßgeblich zu entscheidenden Arti-keln für eine erfolgreiche Arbeit des Gerichtshofes bei-getragen, etwa zur starken Stellung des Anklägers, derauf eigene Initiative hin und unabhängig tätig werdenkann. Von großer Bedeutung ist auch die insgesamt weitgefasste und strikte Pflicht zur Zusammenarbeit mit demGerichtshof. Zugleich wurde bei den Verhandlungen über das komplexe, in 13 Kapitel und 128 Artikel ge-gliederte Vertragswerk besonderer Wert auf die Beach-tung rechtsstaatlicher Grundsätze gelegt: auf das Rück-wirkungsverbot, auf die Rechte des Beschuldigten undauf das Verbot der Doppelbestrafung. Die Verhängungder Todesstrafe durch den Gerichtshof istselbstverständlich ausgeschlossen. Zahlreiche Fragen, die für die spätere Arbeit und denErfolg des Strafgerichtshofes von großer Bedeutungsind, müssen noch geklärt werden. In New York tagt imMärz erneut die Vorbereitungskommission bei den Ver-einten Nationen, in der bis zum In-Kraft-Treten des Sta-tuts wichtige Instrumente wie die Verfahrens- und Be-weisordnung und die Finanzierungsregelungen erarbeitetBundesminister Joseph Fischer
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8376 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
werden. Hier gilt es aber auch zu verhindern, dass demStrafgerichtshof skeptisch gegenüberstehende Staatenden in Rom erreichten Kompromiss nachträglich ver-wässern. Deutschland hätte sich schon in Rom eine robustereZuständigkeitsregelung des Strafgerichtshofes ge-wünscht. Sie darf nicht noch weiter geschwächt werden,meine Damen und Herren. Die Integrität des RömischenStatuts muss auch bei den jetzt anstehenden Verhand-lungen gewahrt bleiben, damit die Gerichtsbarkeit desStrafgerichtshofes nicht ins Leere läuft.
Deutschland wird weltweit dafür werben, dass weite-re Unterzeichnungen und Ratifikationen des RömischenStatuts möglichst bald erfolgen, und wird andere Staatenbei ihren Ratifikationsbemühungen unterstützen. Wirwerden uns auch bemühen, Staaten, die dem Staatsge-richtshof skeptisch gegenüberstehen, darunter leiderauch die USA, weiterhin zu einer konstruktiven Mitar-beit zu bewegen. „Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit ge-kommen ist“ – das war das Motto der Gerichtshofbe-fürworter während der Verhandlungen. Die weltpoliti-schen Ereignisse seit dem Abschluss des Statuts in Rom1998 haben gezeigt, wie dringlich wir eine Institutionwie den Internationalen Strafgerichtshof brauchen – lei-der, füge ich hinzu. Er wird kein Wundermittel gegenKrieg, Gewalt und Verbrechen sein; aber er gibt derStaatengemeinschaft ein Instrument an die Hand, das inentscheidenden Fällen verhindern kann, dass der Ver-weis auf die nationale Souveränität als Deckmantel fürschwere und schwerste Verbrechen und anschließendeStraffreiheit missbraucht wird. Das in der Präambel des Römischen Statuts formu-lierte Ziel, dass „um der heutigen und künftigen Genera-tionen willen ein mit dem System der Vereinten Natio-nen in Beziehung stehender unabhängiger ständiger In-ternationaler Strafgerichtshof errichtet wird, der Ge-richtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, wel-che die internationale Gemeinschaft als Ganzes berüh-ren“, verdient deshalb unsere uneingeschränkteUnterstützung. Ich bitte Sie um die Zustimmung des Bundestages zuden vorgelegten Gesetzentwürfen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Errich-tung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofesist in der Tat ein großes Ziel erreicht worden, ein Ziel,das von den Vereinten Nationen und all den Staaten, diean einer friedlichen Weltordnung interessiert sind, seitmehr als einem halben Jahrhundert verfolgt worden ist.Darum ist es nicht zu hoch gegriffen, zu sagen, dass diesein historischer Erfolg ist, dass es nun eine solche inter-nationale Gerichtsbarkeit gibt, eine Gerichtsbarkeit, diedie kardinale und stets beklagte Schwäche des Völker-rechts überwindet, die in mangelnder Durchsetzungs-kraft bestanden hat. Das ist die Veränderung, die statt-findet.Es gibt neben dem materiellen Völkerrecht nun eineInstitution, die in der Lage ist, dies durchzusetzen. Dasist eine prinzipielle Veränderung, die vielfache Wirkun-gen hat. Der Bundesaußenminister hat drei Wirkungengenannt. Eine wichtige Wirkung ist ganz sicher die Ab-schreckung der Diktatoren, der Kriegsverbrecher. Ichwill zu den drei Wirkungen, die Sie genannt haben, einevierte hinzufügen.Dadurch, dass es gelungen ist, ein unabhängiges Ge-richt – nicht konzipiert als Organ des Sicherheitsrates,das durch Veto von seiner Tätigkeit hätte ausgeschaltetwerden können – einzurichten, ist jedenfalls in einemgewissen Umfang die Verfolgung schwerster Verbre-chen gegen die Menschlichkeit auch der Opportunitätder internationalen Interessenpolitik entzogen. Das istnatürlich ein Grund, warum die USA in diesem Prozessskeptisch waren. Es obliegt jetzt nicht mehr dem Vorbe-halt der Opportunität der eigenen nationalen Interessen –auch als Weltmacht –, ob ein Kriegsverbrecher verfolgtwird, sondern der Gerichtshof entscheidet. Er hat, wieSie zu Recht ausgeführt haben, die Mittel dazu, die An-klage durchzusetzen, und ist nicht vom Goodwill mäch-tiger Staaten abhängig. Auch das ist ein enormer Fort-schritt: dass es einen unabhängigen und damit einenstarken Gerichtshof gegeben hat.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen diesen Fort-schritt nachdrücklich. Es ist auch so, dass er in der Kon-tinuität der Außen- und Justizpolitik liegt. Die Vorgän-gerregierung hat an diesem Erfolg wesentlich mitgear-beitet. Es war auch immer ein Konsens in diesem Hau-se – das ist etwas sehr Positives –, dass wir dies gemein-sam erreicht und unterstützt haben.Dennoch müssen wir uns bewusst machen – bei allerFreude –, dass ein Prozess erst begonnen und nicht seinEnde gefunden hat. Sie haben zu Recht darauf hingewie-sen, dass die Zahl der für das In-Kraft-Treten des Statu-tes notwendigen Ratifikationen, nämlich 60, noch langenicht erreicht ist und dass es. sicher noch lange dauernwird, bis diese hohe Zahl erreicht sein wird.Ich will auf eine zweite inhaltliche Schwäche einge-hen, weil wir jetzt anfangen, das Völkerrecht ernst zunehmen. Es gehört auch dazu, dass wir nicht vor lauterFreude die Schwächen verkennen. Das ist die Frage derZuständigkeit des Gerichtshofes. Die Judikatur er-streckt sich nur auf Mitgliedsstaaten, auf deren Territo-rium die Verbrechen begangen worden sind, oder aufsolche, denen der Beschuldigte als Staatsangehörigerangehört. Das ist eine erhebliche Einschränkung der Ju-Bundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8377
dikatur. Das bedeutet negativ gesprochen, dass der Dik-tator, der seine eigenen Bürger in einem Land massa-kriert, das nicht Mitgliedstaat des Statutes ist, dieser Judi-katur nicht unterliegt. Es ist eine schmerzhafte Schwä-che dieses Statutes, dass es gerade die diktatorischenStaaten vor die Wahl stellt, ob sie sich selbst der Judika-tur unterwerfen wollen. Das müssen wir sehen. Wirmüssen diese Schwäche, die in diesem Statut beinhaltetist, erkennen und daran arbeiten, dass sie überwundenwird.Ich will das nicht schlechtreden, aber ich will deutlichmachen, dass dies ein beginnender Prozess der Insti-tutionalisierung einer internationalen Gerichtsbarkeit ist,der Kompromisse beinhaltet und darum auch verbesse-rungsbedürftig ist.Die Bundesrepublik Deutschland möchte, getragenvon allen Fraktionen, von allen Parteien, diesem Statutbeitreten, und zwar in vollem Umfang. Dazu gehört,dass wir unsere Verfassung ändern müssen, womit wiruns schwer getan haben. Wir haben es auch im Zusam-menhang mit dem Gesetz zum Jugoslawien-Strafgerichtshof und zum Ruanda-Strafgerichtshof erör-tert.Wir müssen Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, dasunbedingte Auslieferungsverbot, das deutsche Staats-angehörige schützt, ändern, wenn wir die Wirksamkeitauch für Deutsche und für Deutschland in vollem Um-fang herstellen wollen. Wir tun dies nicht leichtfertig,denn die Bundesrepublik Deutschland hat die Schutz-verpflichtung, ihre Staatsangehörigen, ihre Bürger nichtan Staaten und Gerichte auszuliefern, die die notwendi-gen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Garan-tien nicht geben.In dem Fall des Statutes sind diese Garantien erfüllt.Der vorgesehene Entwurf der Verfassungsänderungsieht auch die Auslieferung an Staaten vor. Es muss injedem Einzelfall per Gesetz geregelt werden, ob derStaat, den wir als Adressaten der Auslieferung in Be-tracht ziehen, diese rechtsstaatlichen, menschenrechtli-chen Garantien erfüllt. Das ist kein Freibrief, sondernhier hat die Bundesrepublik Deutschland eine Schutz-funktion gegenüber ihren Bürgern zu erfüllen.Die Verfassungsänderung durch ein Gesetz zum Rö-mischen Statut zu vollziehen fällt uns auch wegen desbereits angesprochenen Prinzips der Komplementaritätleicht. Dieses Prinzip führt dazu, dass die Anklage vordem Internationalen Strafgerichtshof nur zulässig ist,wenn die Staaten, deren nationale Gerichtsbarkeit zu-ständig ist, entweder unfähig oder unwillig zur Strafver-folgung sind. Auch wenn sich das Völkerrecht, die Tat-bestände der Kriegsverbrechen und der Verletzung deshumanitären Völkerrechts, in seinem materiellen Gehaltnicht eins zu eins im deutschen Strafgesetzbuch wieder-findet, erfüllen wir die Voraussetzung, dass die interna-tionale Strafgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Strafge-richtsbarkeit in Deutschland subsidiär ist, weil wir dieTatbestände der Sache nach und dem Gewicht nach auchin Deutschland haben. Das heißt, es wird in diesem Fallkeine praktische Anwendung der Auslieferung zu erwar-ten sein. Aber das ist nicht der entscheidende Grund. Ich weisenur darauf hin, dass die praktischen Auswirkungen, wasden Internationalen Strafgerichtshof anbelangt, wegendieses Grundsatzes der so genannten Komplementaritätgering sein werden und dass darüber hinaus die rechts-staatlichen Garantien erfüllt sind.Allerdings müssen wir, Frau Bundesjustizministerin,in dem Gesetz schon zitieren, dass es sich hierbei nachdem Zitiergebot des Art. 19 um eine Einschränkung aufgesetzlicher Grundlage des Grundrechts aus Art. 16Abs. 2 handelt. Da besteht noch ein Nachbesserungsbe-darf hinsichtlich des einfachen Gesetzes. Ich glaube, dasZitiergebot verlangt von uns, dass wir die Einschrän-kung von Art. 16 Abs. 2 explizit aufnehmen.Ein zweiter Gesichtspunkt, den ich hier ansprechenmöchte und den wir sicherlich im Rechtsausschuss beiden Facherörterungen noch aufgreifen können: Ich binder Überzeugung, dass wir, wenn wir die Auslieferungim Hinblick auf den Ruanda- und den Jugoslawien-Strafgerichtshof ebenfalls ermöglichen wollen, auchdiese Gesetze ändern müssen. Denn diese Gesetze sindauf der alten verfassungsrechtlichen Grundlage erfolgt,das heißt keine Auslieferung von Deutschen an dieseStrafgerichtshöfe. Wenn wir ermöglichen wollen – dasist der politische Konsens –, dass nun auch wegenVerbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruandaausgeliefert werden können soll, dann müssen diese Ge-setze wegen des Zitiergebotes ebenfalls ergänzt werden.Die Begründung der Verfassungsänderung sagt, dies seinicht nötig, es könne ohne Änderung der Gesetze zu denStrafgerichtshöfen, die ich angesprochen habe, ausgelie-fert werden. Das scheint mir wegen Art. 19 Abs. 1 nichtmöglich zu sein. Darum sollten wir uns sehr rasch dar-über verständigen, dass diese beiden Gesetze aufgrunddes Zitiergebotes noch geändert werden und die Ein-schränkung von Art. 16 Abs. 2 aufgeführt wird.Im rechtspolitischen Teil dieser Frage möchte ich denKollegen der anderen Fraktionen und der Bundesregie-rung eine Anregung unserer Fraktion übermitteln. Wirnähern uns der Hälfte der Legislaturperiode und stellenfest, dass wir an der einen oder anderen Stelle verfas-sungsrechtlichen Diskussionsbedarf haben. Gesternwar die Debatte über die Änderung des Art. 12 a desGrundgesetzes, Stichwort: Frauen in der Bundeswehr,aus Anlass der Entscheidung des Europäischen Ge-richtshofes in der Sache Kreil. Außerdem haben wir dieDiskussion über Art. 87 a, Begrenzung des Einsatzes derStreitkräfte, und möglicherweise noch andere verfas-sungsrechtliche Fragen. Wir regen an und schlagen vor,einmal im Zusammenhang über die anstehenden verfas-sungsrechtlichen Fragen zu diskutieren, weil wir es fürrichtig halten, eine fachliche Diskussion zu führen, dieauf Konsens angelegt ist. Wir suchen immer gern denStreit, aber wir sind auch dafür, dass es gerade in Ver-fassungsfragen bei einem breiten Konsens bleibt.
– So ist es. Darum ist unsere in dieser Debatte ausdrücklich vor-getragene Bitte, im Bereich der Rechtspolitik in dieserNorbert Röttgen
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8378 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Legislaturperiode fraktionsübergreifend über den verfas-sungsrechtlichen Änderungsbedarf, den wir sehen, einGespräch zu führen. Herr Kollege Stiegler und HerrKollege Hartenbach, wir wollen nicht über den vorlie-genden Gesetzentwurf verhandeln. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt diesem Gesetzentwurf zu. Wir wollenmit dieser Bitte vielmehr eine vernünftige verfassungs-rechtliche Diskussion initiieren. Ich glaube, dem stehtnichts im Wege. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt aus-drücklich den enormen Fortschritt, der erreicht wordenist. Ich habe ihn als historisch bezeichnet. In einer Zeit, in der die Welt zusammenwächst unddamit die Konflikte, die es auf dieser Welt gibt, näherbei uns sind, ist die Errichtung eines InternationalenStrafgerichtshofes ein Beitrag zur friedlichen Ordnungdieser Welt. Daher ist das Ergebnis, über das wir heutediskutieren, ein sehr schönes. Wir unterstützen es nach-drücklich.Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der Umset-zung des Statuts über den Internationalen Strafgerichts-hof beginnen können. In der Tat – wir haben es vorhingehört –, der Weg von der Geburt der Idee zu einem sol-chen Strafgerichtshof im Jahre 1872 bis zu jenem histo-rischen 17. Juli 1998 war sehr lang, viel zu lang. Dassdie Verabschiedung des Statuts am 17. Juli 1998 nachlangen Mühen und vielen gescheiterten Versuchen mög-lich wurde, auch das ist – ich unterstreiche das, was bis-her gesagt wurde – ein historischer Schritt. Nun wissen wir alle, dass wir mit dem Prädikat „his-torisch“ zurückhaltend umgehen sollten. Aber ich teileIhre Auffassung: In dem vorliegenden Falle ist dieseBezeichnung gerechtfertigt. Denn politisch dokumentiertdieser Vertrag die Bereitschaft der internationalen Ge-meinschaft, zum Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwechselein neues und vor allem ein neuartiges internationalesGericht zu gründen. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof wird derbislang leider vorherrschenden Straflosigkeit schwersterMassenverbrechen der Kampf angesagt. Die kraftvollvon Rom ausgehende Botschaft soll lauten: Die Stärkedes Rechts soll an die Stelle des Rechts des Stärkerentreten. Und: Die Schreibtischtäter und Folterknechte die-ser Welt – wo immer sie sich aufhalten – dürfen sichnirgendwo und zu keiner Zeit mehr sicher fühlen. Siekönnen nicht mehr darauf vertrauen, dass ihre Taten aufDauer ungesühnt bleiben.
Dieses Signal ist angesichts der Massenverbrechen,der Völkermordtaten, die wir immer wieder zur Kennt-nis nehmen müssen, außerordentlich wichtig. Gerechtig-keit möge werden, damit die Welt nicht zugrunde geht,so soll das Motto in Abwandlung des gerade Juristensehr bekannten Wortes heißen, „Fiat iustitia ne pereatmundus“ – Gerechtigkeit möge werden, damit die Weltnicht zugrunde geht.Wie wirksam diese Botschaft sein kann, ja wie wirk-sam sie sein wird, das zeigt schon heute die Arbeit desRuanda- und vor allen Dingen die des Den Haager Ju-goslawien-Gerichtshofs. Beider Arbeit, so mühsam sieim Einzelnen ist – ich meine auch den Jugoslawien-Gerichtshof –, hat einen ganz entscheidenden Anteildaran, dass es gelingen kann, die allgemeine Atmosphä-re der Rechtlosigkeit, des Hasses und der Teilung in die-sen Regionen, speziell auch im ehemaligen Jugoslawien,langsam, aber sicher abzubauen.Wir alle wissen – das hat die Kompromisse, von de-nen bereits gesprochen wurde, und die gescheitertenVersuche hervorgerufen –, dass das Vorhaben eines In-ternationalen Strafgerichtshofes auch Ängste provozierthat, und zwar vor allem bei Staaten, die ganz peinlichauf die Wahrung ihrer Souveränität bedacht sind. DieseÄngste haben verhindert – ich teile diese Trauer, auchwenn ich realistisch bin –, dass man schon jetzt so weitgehen konnte, wie wir das eigentlich gewollt hätten.Nur, Kompromisse waren – das war uns allen klar – un-ausweichlich. Ich halte es für sehr beeindruckend, in welchem Ma-ße die Staaten am Ende doch bereit waren, die über-kommenen Souveränitätsbedenken zurückzustellen.So konnte beispielsweise erreicht werden, dass der An-kläger die internationale Strafverfolgung bei Vorliegeneines Anfangsverdachts einleiten kann, ohne dass zuvorein Staat sein Plazet geben musste. Welch ein Fort-schritt! Das war noch vor wenigen Jahren undenkbarund dieser Fortschritt konnte auch nur erreicht werden,weil es neben den engagierten Regierungen und Staatenwie der Bundesrepublik Deutschland – ich sage an die-ser Stelle ausdrücklich Dank auch an die frühere Bun-desregierung – eine Menge an Nichtregierungsorganisa-tionen gegeben hat, die sich zusammengeschlossen ha-ben und die die Idee eines Internationalen Strafgerichts-hofs ungemein konsequent und auch mit großem in-ternationalen Nachdruck deutlich unterstützt haben.
Ohne sie wäre das nicht gegangen. Deshalb sei ihnen andieser Stelle Dank gesagt, stellvertretend für alle demGründer dieser Koalition, William Pace. Meine Damen und Herren, der Internationale Strafge-richtshof kann – dies ist ebenfalls besonders wichtig –gerade auch staatliche Repräsentanten zur Rechenschaftziehen, wenn sie die Staatsgewalt zu einem Terrorin-strument gegen ihre eigenen Bürgerinnen und Bürgerpervertieren. Auch dies ist ein Bruch mit einer altenTradition, der zeigt, dass die Weltgemeinschaft zu Be-ginn des dritten Jahrtausends nicht mehr gewillt ist,Norbert Röttgen
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8379
massenweise begangene Verbrechen wie Mord, Folterund Vertreibung unter Hinweis auf die bestehende staat-liche Souveränität achselzuckend hinzunehmen.
Dieser Schritt ist ein fundamentaler Schritt hin zu mehrIndividualschutz in der Völkerrechtsordnung, und denwollen wir wieder verstärken. Hinzu kommt noch etwas anderes. Der neue Strafge-richtshof wird eine ständige Einrichtung sein. Auchdas ist wichtig, denn damit wird die internationale Reak-tionsbereitschaft bereits vor der Tat gesichert. Damitwird deutlich gemacht, dass die internationale Strafge-richtsbarkeit ein zentraler, ein präventiver Teil der Welt-friedensordnung sein soll. Dieses Element wollen wirweiter unterstützen und ausbauen.Rechtlich gesehen ist der Fortschritt mit dem Interna-tionalen Strafgerichtshof – also: mit dem RömischenStatut – vor allem in folgenden Punkten gewaltig: ZumErsten werden die völkerrechtlichen Verbrechen desVölkermords, die Verbrechen gegen die Menschlichkeitsowie die Kriegsverbrechen in einem einheitlichen Do-kument zusammengestellt. Damit wird zum Zweitenanerkannt, dass das Völkerstrafrecht eben nicht nur imKrieg, sondern in weitem Umfang auch im Bürgerkriegbegangene Abscheulichkeiten umfasst, und zum Drittenwerden – weil damit nicht genug – die Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit durch das Statut als Straftatbe-stände zur Ahndung schwerster Menschenrechtsverlet-zungen sogar in Friedenszeiten fest etabliert. Außerdem enthält das Römische Statut erstmals einenAllgemeinen Teil des materiellen Völkerstrafrechts.Auch das ist angesichts der unterschiedlichen nationalenLösungen ein ganz erheblicher Fortschritt. Im Strafpro-zessrecht sind ebenfalls neue Wege eingeschlagen wor-den. Dank der großen, aber auch effizienten Kompro-missbereitschaft auf allen Seiten ist es gelungen, eineArt „kleine Völkerstrafprozessordnung“ zu erarbeiten,die – man höre und staune! – in etwa gleichgewichtigemUmfang Elemente des angloamerikanischen und deskontinentalen Rechtsdenkens enthält. Noch etwas kommt hinzu: Ganz zentral und ganz be-sonders bedeutsam ist der hohe rechtsstaatliche Stan-dard dieses Statuts. Lassen Sie uns das deutlich ausdrü-cken: So wichtig die effiziente und effektive Verfolgungvölkerrechtlicher Verbrechen ist, so wichtig ist auch dieLegitimität dieses Vorgehens; dies erfordert die unein-geschränkte Wahrung der Rechte der beschuldigten Per-sonen und daneben auch der Zeuginnen und Zeugen so-wie vor allem der Opfer. Alle diese Anforderungen er-füllt das Statut. Es beachtet – auch das ist wichtig –die international anerkannten Menschenrechtsstandardspeinlich genau.Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Wichtig istauch das Feld der staatlichen Zusammenarbeit mitdiesem Gerichtshof. Wir wissen, dass dieser Gerichtshofnicht über eine eigene Polizei verfügen kann. Deshalbwird er auf die Unterstützung der Vertragsstaaten inForm der Überstellung verdächtiger Personen und derÜbersendung von Beweismaterial angewiesen sein. Oh-ne diese Unterstützung wäre das ganze Projekt zumScheitern verurteilt. Deshalb enthält das Statut ein Re-gime der Zusammenarbeit mit deutlich schärferenPflichten für die Vertragsstaaten als die, die wir heuteim zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr kennen. Wirwollen das und wir werden diese Pflichten im Ausfüh-rungsgesetz zum Statut punktgenau erfüllen.Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, komme ichzu der Arbeit, die jetzt vor uns liegt. Denn in der Tat istdas Unternehmen Internationaler Strafgerichtshof mitder Annahme des Römischen Statuts nicht beendet. Wirhaben schon gehört, dass der Internationale Strafge-richtshof die Arbeit erst aufnehmen kann, wenn60 Ratifikationen vorliegen; sieben gibt es bis heute.Wir wollen, dass die Arbeitsaufnahme sehr bald erfol-gen kann. Deshalb haben wir uns das ehrgeizige Ziel ge-setzt – zusammen mit den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union –, unsere innerstaatlichen Zustimmungs-verfahren zum Statut bis zum Ende des Jahres 2000 ab-geschlossen zu haben. Das ist ein ehrgeiziges Un-terfangen. Ich freue mich – lassen Sie mich das aus-drücklich sagen –, dass wir die Unterstützung aller Frak-tionen dieses Hauses dabei haben.Weil dieser Zeitplan so ehrgeizig ist, haben wir Ihnenim Gesetzgebungsverfahren jetzt zwar den Entwurf desVertragsgesetzes und den Entwurf des Gesetzes zur Er-gänzung des Grundgesetzes vorgelegt, bevor der Ent-wurf eines Ausführungsgesetzes ganz fertig ist. Bei derErarbeitung dieses Ausführungsgesetzes werden wir ei-ne ganze Menge von Überlegungen zu berücksichtigenhaben. Ich kann Ihnen schon heute ankündigen, dass wirdiese Arbeit in Kooperation mit Ihnen auf möglichst ef-fiziente Weise vorantreiben wollen. Uns ist das Ausfüh-rungsgesetz deswegen wichtig, weil wir sicherstellenwollen, dass es in Kraft getreten ist, bevor der Internati-onale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen kann.Jetzt zu dem Ihnen ebenfalls zugeleiteten Gesetzent-wurf zur Ergänzung des Grundgesetzes. Diese Ergän-zung ist notwendig. Würden wir als Vertragsstaat des In-ternationalen Strafgerichtshofs unsere eigenen Staatsan-gehörigen von der Überstellung an diesen Gerichtshofprinzipiell ausnehmen, würde das die Grundidee desVorhabens ad absurdum führen. Das wollen wir nicht.Deswegen soll durch Änderung – eigentlich ist es ei-ne Ergänzung – des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzesdie Auslieferung und die Überstellung deutscher Staats-angehöriger an diesen Gerichtshof ermöglicht werden.Aber in der Tat gehen mit dieser Ergänzung – darauf istschon hingewiesen worden – zwei zusätzliche Erweite-rungen einher: Die eine erlaubt zum Ersten die Ausliefe-rung Deutscher auch an andere internationale Gerichts-höfe. Das zielt in der Tat auf den so genannten Jugosla-wien- und Ruanda-Strafgerichtshof. Wir holen damitnach, wozu die Bundesrepublik Deutschland völker-rechtlich längst verpflichtet ist, aber noch nicht die ent-sprechenden nationalen Gesetze geschaffen hat. Zum Zweiten ermächtigt die Verfassungsänderungden Gesetzgeber auch dazu, die Auslieferung deutscherStaatsangehöriger an Mitgliedstaaten der EuropäischenBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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8380 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Union vorzusehen. Das ist auch eine vernünftige Erwei-terung. Das EU-Auslieferungsübereinkommen von 1996begreift ja die Auslieferung eigener Staatsangehörigerinnerhalb von EU-Mitgliedstaaten längst als Regelfall.Deutschland musste bislang immer eine Ausnahme fürsich in Anspruch nehmen. Das soll sich ändern. Künftigkann es dem innerhalb Europas gesetzten Maßstab ent-sprechen und insofern gleichziehen mit unseren Partnernin der Europäischen Union. Wir kommen damit demkürzlich auf dem Europäischen Rat in Tampere bekräf-tigten Ziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, derSicherheit und des Rechtes in der Europäischen Unioneinen wesentlichen Schritt näher.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zumSchluss noch einen ganz anderen, aber auch zentralenPunkt bezüglich des Internationalen Strafgerichtshofsansprechen. Wir alle wissen, dass dieses Gericht – sowichtig seine Errichtung auch ist – die strafrechtlicheVerfolgung der völkerrechtlichen Massenverbrechennicht allein garantieren kann. Die verstärkte Bereitschaftder Vertragsstaaten zur Strafverfolgung auf der nationa-len Ebene muss hinzukommen. In der deutschen Justizist das bereits als Aufgabe begriffen worden. Auch dafürsei herzlich Dank gesagt. Dieser Gedanke hat eine Auswirkung für den Interna-tionalen Strafgerichtshof, weil das Statut bekanntlichden Gedanken der Komplementarität festschreibt. Dasheißt: Ein Verfahren vor dem Internationalen Strafge-richtshof ist nur dann zulässig, wenn es auf der nationa-len Ebene am Willen oder an der Fähigkeit zur Strafver-folgung fehlt. Dieser Komplementaritätsgrundsatzbringt zum Ausdruck, dass die nationalen Strafverfol-gungsinstanzen auch nach Gründung des InternationalenStrafgerichtshofs gefordert bleiben, und zwar primär.Ich möchte unterstreichen, dass wir diese Botschaft sehrernst nehmen und deshalb Verdächtige auch und insbe-sondere dann, wenn es sich um Deutsche handelt, selbstverfolgen wollen, statt sie dem Internationalen Strafge-richtshof zu überstellen. Wir tun das natürlich auch des-halb, weil wir wissen: Wir können das, wir wollen dasund wir brauchen diesen Internationalen Strafgerichtshofnicht unnötig zu belasten.Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung be-schlossen, eine neue und bessere Rechtsgrundlage fürdie Ahndung von Völkerstraftaten in Deutschland zuschaffen. Eine Arbeitsgruppe, der auch Wissenschaftlerangehören, arbeitet derzeit daran. Ziel ist, mit diesemVölkerstrafgesetzbuch den spezifischen Unrechtsgehaltder Völkerstraftaten im deutschen Recht angemessen zuerfassen, die Rechtsanwendung erheblich zu vereinfa-chen und überdies ein Mehr an Rechtsklarheit und -be-stimmtheit zu erreichen. Dies soll – meine Damen undHerren, lassen Sie mich das sagen – vor allem auch un-seren Soldatinnen und Soldaten zugute kommen und ih-nen mehr Sicherheit geben. Gleichzeitig aber ist dasVölkerstrafgesetzbuch auch wegen seiner internationa-len Symbolkraft ein wertvoller Beitrag zur weiterenKonsolidierung des Völkerstrafrechts.In der Tat liegt eine Menge Arbeit vor uns. Ich be-danke mich ausdrücklich für die Arbeit der früherenBundesregierung. Ich bedanke mich dafür, dass Sie dieUnterstützung der jetzigen Bundesregierung zugesagthaben. Ich danke Ihnen auch für Ihre Anregungen unddarf sagen: Unser Zeitplan ist sehr ehrgeizig. Es wäreaber gut, wenn wir ihn einhalten könnten. Dann nämlichwürde am Ende dieses Prozesses, wenn der Internationa-le Strafgerichtshof seine Arbeit wirklich aufgenommenhaben wird, gesagt werden können, dass Deutschlandseiner gewachsenen internationalen Verantwortung undseiner schon immer in Anspruch genommenen rechts-staatlichen Verantwortung, also seiner Verantwortungfür den Rechtsstaat, gerecht geworden ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Edzard Schmidt-Jortzig.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!Die F.D.P. begrüßt nachdrücklich – das wird Sie nichtüberraschen –, dass die Bundesregierung nun mit derRatifizierung des Römischen Statuts des ständigen In-ternationalen Strafgerichtshofs beginnt. Deutschland hat bei der Einführung einer internatio-nalen Strafgerichtsbarkeit für die völkerrechtlichenKernverbrechen aus guten Gründen immer eine Vorrei-terrolle gespielt und deshalb nicht nur bei der entschei-denden Staatenkonferenz im Sommer 1998, sondernnamentlich in dem langen Arbeitsprozess zuvor sowie inden Detaillierungsverhandlungen seither zu den enga-giertesten Förderern der Entwicklung gehört. Ich erinne-re daran, dass – jedenfalls habe ich dies Pressemitteilun-gen entnommen – zuletzt ein Vorschlag gerade auch derDeutschen zusammen mit Kanada das sehr schwierigeGeschäft der Definition des Aggressionstatbestandes vo-rangebracht hat.Die Bildung eines ständigen Internationalen Strafge-richtshofs ist im humanitären Völkerrecht in der Tat einFortschritt par excellence. Es kommt damit – das istschon verschiedentlich betont worden, ich glaube aber,dass es richtig ist, das noch einmal zu betonen – eineEntwicklung ans Ziel, die, jedenfalls konkret, vor mehrals einem halben Jahrhundert, mit den Kriegsverbre-cherprozessen in Nürnberg 1945 bis 1949 begann undnun die Ächtung, die Verfolgung und die Ahndung vonVölkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen dieMenschlichkeit und Angriffskrieg zur erklärten Sacheder gesamten Welt macht. Jetzt wird also ein Teil der Bemühungen um Friedenund Menschenrechte zur normalen Pflicht des prakti-schen Normvollzugs. Eine Aufgabe zwischenstaatlicherBemühungen wird zum Gegenstand der Weltinnenpo-litik. Das ist nachhaltig zu begrüßen. Ich scheue michBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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ein wenig vor dem Prädikat „historisch“, aber eigentlichwäre es hier angebracht.Zudem wird die Dominanz militärischer Aspekte beider Lösung internationaler Konflikte ganz eindeutig zu-rückgedrängt, weshalb in manchen Staaten die Militärsheftig dagegen opponiert haben und wohl auch noch op-ponieren.Schließlich bekommen die Menschenrechte nachhal-tige Verstärkung, weil ein Verstoß, wenigstens gegen ih-re elementarsten Formen, nun nicht nur politische Reak-tionen hervorruft, sondern direkte strafrechtliche Folgenhat. Die Herrschaft des Rechts allgemein wird also aus-gebaut und damit rückt die Vision einer Weltfriedens-ordnung durch Recht ein deutliches Stück näher.
Ich will es bei dieser Skizze der Folgen des Schrittesvon Rom belassen; es ist schon von anderen darauf hin-gewiesen worden. Über den Inhalt des Gerichtshofssta-tutes im Einzelnen werden wir noch in den Ausschüssenberaten. Aber eine kleine weiterreichende, nämlich eu-ropäische Perspektive will ich noch hervorheben. Seit In Kraft Treten des Amsterdamer Vertrags vorbald einem Jahr ist der Aufbau eines gemeinsamenRaumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aus-drückliches Ziel der Europäischen Union. Es sollenschrittweise – ich zitiere –Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschrif-ten über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Hand-lungen und die Strafen in bestimmten Bereichen organisierter Kriminalität er-griffen werden. Das ist der Einstieg in ein europäischesStrafgesetzbuch. Niemand sollte sich skeptisch zurücklehnen, weil soetwas realiter doch nicht zu erreichen sei; man wisse ja,dass die Europäer, wenn es um ihre Rechtsordnung geht,bockbeinig und herzlich zerstritten seien. Rom hat unshier eines Besseren belehrt. Was dort 150 Staaten derganzen Welt zustande gebracht haben, werden erst rechtdie 15 in Europa schaffen können. Wir sollten also auchden europäischen Drive des Römischen Statuts, der hierhineingekommen ist, deutlich sehen.
Meine Damen und Herren, mit dem Ratifikationsge-setz verbindet die Bundesregierung den Entwurf einerÄnderung des Grundgesetzes. Auch diesen Schritt be-grüßen wir, selbst wenn es im Einzelnen noch Klärungs-bedarf gibt und – ich werde das gleich noch vortragen –Präzisierungen erwünscht sind. Die Auflösung der strikten Abschottung der eigenenStaatsbürger gegenüber nicht heimatstaatlichen Justiz-zugriffen ist an der Zeit; denn der Maßstab eines alleinauf sich bezogenen Nationalstaats hat seine Berechti-gung verloren, jedenfalls für einen Staat wie Deutsch-land im Zentrum Europas. Deutschland engagiert sichnicht nur nachdrücklich, wie seine Verfassung besagt,bei der Verwirklichung eines vereinten Europas, wel-ches namentlich den gemeinsamen Rechtsraum anstrebt.Deutschland integriert sich vielmehr auch in den Orga-nisationen der Völkergemeinschaft und ist dazu bereit,Hoheitsrechte zu übertragen. Damit sind aber auch Jurisdiktionsverschiebungenmöglich, soweit gleiche rechtsstaatliche Standards derRechts- und Prozessordnung garantiert werden können.Diese Garantenpflicht gegenüber den eigenen Staatsan-gehörigen verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland,diese Bedingungen genau einzuhalten. Deshalb muss dieÖffnung des Auslieferungsschutzes für internationaleGerichtshöfe wohl doch noch hinterfragt werden. Sollsie für alle Felder gelten oder nicht doch nur für Strafge-richtshöfe? Und vor allem: Soll sie für jede zwischen-staatliche Justizeinrichtung, jeden zwischenstaatlichenGerichtshof gelten, nicht nur für solche, die ausdrücklichunter der Verantwortung der Vereinigten Nationen ste-hen, also möglicherweise auch dort, wo wir nicht dieGarantie dafür geben können, dass die drohenden Stra-fen, das angewendete Prozessrecht und gegebenenfallsauch die Vollzugsordnung den Maßstäben unseresRechtsstaates genügen? Das eben wird dem deutschenStaatsangehörigen von seinem Schutzverband, das heißt:dem Staat garantiert. Und das war und ist auch die Ratiodes bestehenden Auslieferungsverfahrens.In der Sache sind wir uns wahrscheinlich völlig einig,dass ein einzelnes Auslieferungsgesetz in der Tat nurzustande kommen kann, wenn der Staat, an den ausge-liefert werden soll, das internationale Gericht, an dasausgeliefert werden soll, die gleichen rechtsstaatlichenStandards bewahren und gewähren, wie wir sie inDeutschland kennen. Für eine Durchbrechung der gel-tenden Regelungen muss dieser Maßstab ausdrücklich indie Verfassung aufgenommen werden.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Zeit.
Ja, ich denke
daran, zumal das Lämpchen hier wunderschön leuchtet.
„Präsident“ steht darauf, nicht „Präsidentin“; das muss
geändert werden.
Ich bin bei meinem vorletzten Satz. Die Öffnung der
überkommenen Sperre zugunsten der Mitgliedstaaten
der EU bzw. ihrer Gerichte befürworten wir ausdrück-
lich, weil in dem europäischen gemeinsamen Raum des
Rechts diese Gewähr übernommen und erreicht werden
kann. Lassen Sie uns also in den Ausschusssitzungen auf
diesen Punkt noch einmal genauer schauen!
Herzlichen Dank.
Jetzt erhältFrau Kollegin Kenzler das Wort.Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
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8382 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Zustandekommen des
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs mehr als
ein halbes Jahrhundert nach den Nürnberger und Tokio-
ter Tribunalen ist zweifellos ein bedeutsames Ereignis
im internationalen Leben. Mit dem Statut wird der
rechtliche Rahmen dafür geschaffen, dass sich
Einzelpersonen, auch wenn sie hohe Ämter ausüben
oder ausgeübt haben, vor einem internationalen Gericht
wegen schwerster internationaler Verbrechen verant-
worten müssen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt
werden können.
Das Statut bestimmt die Tatbestandsmerkmale der
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegs-
verbrechen hinreichend eindeutig und übernimmt den
Tatbestand des Völkermordes aus der entsprechenden
Konvention von 1947. Es sieht eine Gerichts- und Ver-
fahrensordnung vor, die rechtsstaatlichen Erfordernissen
entspricht und einen fairen Prozess garantiert. Zum Teil
sind die Verfahrensvorschriften sogar so penibel und de-
tailliert, dass Behinderungen für ein zügiges Verfahren
zu befürchten sind.
Das Statut enthält jedoch auch wesentliche Mängel.
Wir wissen, dass es einen nach langen Verhandlungen
erreichten Kompromiss darstellt, der beinahe am Wi-
derstand der USA und anderer Staaten gescheitert wäre.
Wir wissen auch, dass der Bundestag auf den Inhalt des
Statuts keinen Einfluss mehr hat. Er kann nur Ja oder
Nein zum Ratifikationsgesetz sagen. Nach Lage der
Dinge muss man Ja sagen. Aber man muss sich der
Mängel bewusst sein, damit nicht euphorische Erwar-
tungen entstehen, die dieser Gerichtshof nicht erfüllen
kann und wird. Dazu einige Anmerkungen:
Erstens. Die USA, China, Indien und einige weitere
Staaten haben in Rom trotz aller Zugeständnisse gegen
das Statut gestimmt. Sie werden dem Statut in absehba-
rer Zeit auch sicher nicht beitreten. Andere Staaten wer-
den sich erwartungsgemäß mit der Ratifikation Zeit las-
sen. Nach Art. 124 kann ein Staat erklären, dass er sie-
ben Jahre lang, nachdem das Statut für ihn in Kraft ge-
treten ist, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs für
Kriegsverbrechen nicht anerkennt. Verfahren können
nur in den Fällen durchgeführt werden, wo entweder der
Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Täter besitzt, oder
der Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Verbrechen
ereignet hat, Partner des Statuts ist. Nach Art. 17 gilt der
Grundsatz der Komplementarität; das heißt: Der Ge-
richtshof kommt nur zum Zuge, wenn ein vorrangig zu-
ständiger Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist,
die Strafverfolgung durchzuführen.
Wann das der Fall ist, wird in einem komplizierten Ver-
fahren entschieden.
Die Überstellung mutmaßlicher Täter an den Ge-
richtshof ist mit vielen Hürden versehen. Der Gerichts-
hof wird in erster Linie auf Initiative eines Ver-
tragsstaates oder des Sicherheitsrates tätig. Dem Anklä-
ger ist es zwar erlaubt, aus eigener Initiative Ermittlun-
gen einzuleiten. Diese Eigeninitiative wird ihm aber
durch prozedurale Vorschriften schwer gemacht.
Das alles behindert von vornherein die Wirksamkeit
des Gerichts ganz erheblich. Es wurden genügend Hin-
dernisse in das Statut eingebaut, die es den Staaten er-
möglichen, ihre eigenen Bürger der Gerichtsbarkeit des
Strafgerichtshofs zu entziehen.
Zweitens. Der Gerichtshof hängt zwar nicht, wie ur-
sprünglich beabsichtigt, am Gängelband des Sicherheits-
rates – das ist zu begrüßen –, aber immerhin wird dem
Sicherheitsrat nach Art. 16 das Recht eingeräumt,
durch ein nach Kapitel VII der UN-Charta beschlossenes
entsprechendes Ersuchen für einen Zeitraum von 12
Monaten die Einleitung oder die Fortführung eines Er-
mittlungs- oder Strafverfahrens zu verhindern und durch
neuerliches Ersuchen diesen Zeitraum zu verlängern.
Das ist eine erstaunliche Beschneidung der Souverä-
nität des Gerichtshofs durch die Ständigen Mitglieder
des Sicherheitsrates. Die USA und andere ständige Mit-
glieder, die womöglich gar nicht dem Statut angehören,
bestimmen über die zeitweilige Aussetzung der Ge-
richtsbarkeit im Einzelfall.
Drittens. Scharfe Kritik verdient die Tatsache, dass
die Anwendung von Atom- und anderen Massenver-
nichtungswaffen nicht in die Tatbestandsmerkmale der
Kriegsverbrechen aufgenommen wurde. Der Einsatz
dieser mörderischen Waffen soll also in diesem Rahmen
straffrei bleiben, obwohl ein völkerrechtliches Verbot
ihrer Anwendung besteht.
Das Verbrechen der Aggression ist zwar in Art. 5
aufgenommen; bestraft werden kann es aber vorerst
nicht. Es muss erst von den Partnern des Statuts eine Be-
stimmung angenommen werden, die dieses Verbrechen
definiert und Bedingungen für die Ausübung der
Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen
festlegt. Dabei existiert bereits eine von der
Generalversammlung 1974 einstimmig angenommene
Definition der Aggression. Offensichtlich soll in diesem
Punkt der Gerichtshof in die Abhängigkeit von Ent-
scheidungen des Sicherheitsrates, praktisch der
Ständigen Mitglieder, gebracht werden.
Die vorgeschlagene Änderung des Art. 16 des
Grundgesetzes scheint mir eine rechtlich gebotene Kon-
sequenz aus der Verbindlichkeit des Statuts für Deutsch-
land zu sein. Wenn man die Gerichtsbarkeit des Interna-
tionalen Gerichtshofs akzeptiert, muss man natürlich
auch akzeptieren, dass Deutsche ausgeliefert werden
können.
Das Statut soll erst am ersten Tag des Monats in Kraft
treten, der auf den 60. Tag nach der 60. Hinterlegung der
entsprechenden Urkunde beim Generalsekretär der Ver-
einten Nationen folgt. Hoffentlich liegt dieser Tag nicht
mehr in allzu weiter Ferne.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Hartenbach.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8383
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beginnen heute mit dem
Verfahren zur Ratifizierung des Gesetzes zum Römi-
schen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Er-
forderlich dazu ist auch, dass wir Art. 16 des Grundge-
setzes so weit ändern, dass in bestimmten Fällen auch
Deutsche an diesen Internationalen Strafgerichtshof und
an andere internationale Gerichtshöfe ausgeliefert wer-
den können, wenn gegen sie wegen schwerer Verbre-
chen ermittelt wird. Bei diesen schweren Verbrechen
handelt es sich um Verbrechen des Völkermords, gegen
die Menschlichkeit, um Kriegsverbrechen und – wie be-
reits gesagt – um Verbrechen der Aggression.
Eine Auslieferung erfolgt nur, wenn die Verfahren
national, also hier bei uns in Deutschland, nicht durch-
geführt werden können, etwa weil sie verjährt sind. Dies
wird in aller Regel nicht der Fall sein.
Andererseits muss man wissen, dass es selbstver-
ständlich sein muss, dass unser Land – auch und beson-
ders eingedenk unserer eigenen Geschichte – diejenigen,
die dieser schwersten Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit beschuldigt werden, entweder selbst verfolgt
oder, wenn eine Verfolgung nicht möglich ist, eben an
einen internationalen Strafgerichtshof ausliefert, damit
verfolgt werden kann.
Wir sind froh, dass die Bundesrepublik Deutschland
diesen Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof
wiederum als eines der ersten Länder ratifizieren will.
Bereits bei der Unterzeichnung des Römischen Statuts
hatte die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle, hat gleich-
sam als Motor fungiert. Für diese positive Gestaltung
möchte ich heute den damaligen Ministern, unter ande-
rem Ihnen, Herr Schmidt-Jortzig, herzlich danken.
Wir brauchen in dieser Welt dringend einen Interna-
tionalen Strafgerichtshof. Er ist notwendig und erforder-
lich, damit künftig kein Diktator in dieser Welt mehr si-
cher sein kann, dass seine Verbrechen ungesühnt blei-
ben. Ich habe mich zusammen mit Frau von Renesse vor
nicht allzu langer Zeit in Ruanda über den dortigen Ge-
nozid informiert. Wir haben uns in Tansania sehr ein-
gehend mit der Arbeit des dortigen Strafgerichtshofes
befasst. Dabei ist deutlich geworden, wie wichtig es ist,
dass entsprechende Verbrechen von einem internationa-
len Gericht geahndet werden, das alle Möglichkeiten der
Ermittlungen hat. Wer wie wir erlebt hat, dass dieser
Gerichtshof mit großer Akribie und Sorgfalt vorgeht, der
weiß, dass dies auch künftig bei allen Verfahren wegen
Verbrechen wie Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, die leider noch immer geschehen und
geschehen werden, möglich sein muss.
Wir begrüßen es, dass in dem Vertrag alle rechts-
staatlichen Grundsätze, wie wir sie aus unserem Straf-
verfahrensrecht kennen, berücksichtigt werden. Dies ga-
rantiert auf jeden Fall, dass Verfahren – so haben wir es
auch in Afrika erlebt – nach rechtsstaatlich einwandfrei-
en Regeln durchgeführt werden. Aber das bedeutet auch,
dass Urteile solcher Gerichtshöfe ein hohes Maß an Wir-
kung in der Welt erzielen werden. Wir versprechen uns
davon, nein, wir wissen, dass der Internationale Strafge-
richtshof schon allein durch seine Existenz und die Er-
fahrungen mit den beiden anderen Strafgerichtshöfen
präventiv wirken wird, also der Verhinderung von
Verbrechen dienen wird.
Wir müssen das Grundgesetz ändern und das vorlie-
gende Gesetz ratifizieren. Unser demokratisch legiti-
mierter Rechtsstaat hat ein hohes Maß an Verantwor-
tung, dass Verbrechen des Völkermords, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in der
Welt künftig nicht mehr geschehen. Aber wir tragen
auch Verantwortung dafür, dass die Arbeit eines Straf-
gerichtshofs effektiv gestaltet wird. Das heißt, wir müs-
sen auch dafür sorgen, dass sich die Verbrecher nicht ir-
gendwo verstecken können, sondern dass sie ermittelt,
ausgemacht und ausgeliefert werden.
Ich bin sehr dankbar, dass wir heute – das ist fest-
stellbar – ein hohes Maß an Übereinstimmung finden.
Ich freue mich auf die künftigen Beratungen, die wir si-
cherlich ebenfalls in einem hohen Maß an Übereinstim-
mung durchführen werden. Wir stellen uns gemeinsam
der Verantwortung und werden gemeinsam etwas für die
Geschundenen dieser Welt tun können.
Vielen Dank.
Jetzt hat der
Kollege Ruprecht Polenz das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Alle Vorrednerinnen undVorredner haben die Einrichtung des InternationalenStrafgerichtshofs begrüßt. Sie haben dabei das besonde-re Engagement der Bundesrepublik Deutschland hervor-gehoben. Wir erinnern uns daran, dass dieses Vorhabenauch immer von allen Fraktionen und allen Parteien hierim Haus unterstützt worden ist. Ich kann mich deshalbden Ausführungen nur anschließen, ebenso wie demDank an die frühere Bundesregierung und an die NGOs,insbesondere Amnesty International, Human RightsWatch, die Vereinigung europäischer Jura-Studenten,das Lawyers‘ Committee for Human Rights und natür-lich die internationale NGO-Coalition for an Internatio-nal Criminal Court. Alle haben die Einrichtung eines In-ternationalen Strafgerichtshofs zu ihrer Sache gemacht. Ich habe zur Vorbereitung auf die heutige Debatte dieSchilderung der abschließenden Verhandlungen in Romnachgelesen, die der Völkerrechtsreferent im Auswärti-gen Amt, Peter Kaul, zu Papier gebracht hat. Es ist fürdie Bewertung des Erreichten wichtig, sich vor Augenzu führen, dass es vor den entscheidenden Verhandlun-gen in Rom 1 400 Dissenspunkte und fast 200 ver-schiedene Optionen zu verschiedenen Stellen des Statusgab. Man muss sich also diese Meinungsverschiedenhei-ten vergegenwärtigen, wenn man den erreichten Kom-promiss richtig bewerten will.
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8384 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Es ist ja richtig: Auf der einen Seite gibt es Staaten –das gilt bis heute fort, und wir werden es auch in denFolgeverhandlungen noch spüren –, die um ihre Souve-ränität besorgt sind. Sie wollen einen eher schwachen,mehr symbolischen Strafgerichtshof, dessen Tätigwer-den möglichst von Einzelfallermächtigungen des Si-cherheitsrats abhängig gemacht werden soll. Ihnen ist eswichtig – dies ist etwa in den USA artikuliert worden –,dass Angehörige des eigenen Staates möglichst nicht vordiesen Gerichtshof gezerrt werden können. Dabei wirddas Ziel einer möglichst universellen Akzeptanz diesesStrafgerichtshofs eher vorgeschoben, um das Vorhabenselbst zu verwässern. Das ist die eine Seite.Auf der anderen Seite stehen die gerichtshoffreundli-chen, so genannten gleich gesinnten Staaten, darunterdie Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen einenmöglichst effektiven, funktionsfähigen, unabhängigenund damit glaubwürdigen Internationalen Strafgerichts-hof. Er soll möglichst klare und obligatorische Zustän-digkeitsregeln haben und soll seine Strafgerichtsbarkeitimmer dann ausüben können, wenn der nationale Straf-richter seinen Aufgaben nicht oder nur ungenügendnachgekommen ist oder diese nicht wahrnehmen konnte.Vor diesem Hintergrund also müssen wir das Statutbewerten. Der Außenminister hat das Abstimmungser-gebnis in Erinnerung gerufen: 120 haben mit Ja ge-stimmt. Es gab 7 Gegenstimmen: China, Irak, Israel,Jemen, Katar, Libyen und die USA – also eine etwasbunte Reihe. Es gab 21 Stimmenthaltungen, darunter In-dien und Pakistan.Vieles ist zur Wirksamkeit des Statuts gesagt worden;aber man muss sich schon vergegenwärtigen, dass in den28 Staaten, die nicht zugestimmt haben, die Hälfte derWeltbevölkerung lebt. Also so ganz schnell wird es überall für die Diktatoren möglicherweise noch nichtErnst.Trotzdem schließe ich mich den hier vorgenommenenBewertungen an, weil im Ergebnis ein Statut erreichtwerden konnte, das für die Errichtung eines ausreichendstarken und unabhängigen Gerichts eine tragfähigeGrundlage bildet. Bis heute haben 94 Staaten dieses Sta-tut unterzeichnet und sieben haben es bereits ratifiziert.Es wird noch etwa zwei Jahre dauern, bis das Statut inKraft treten kann. Deshalb ist es gut, dass die Bundesre-gierung heute das Ratifizierungsverfahren einleitet. Frau Ministerin, wir sollten das Ziel vor der Sommer-pause erreichen. Wenn das geschieht, wären wir bei denErsten, die das Ratifizierungsverfahren abgeschlossenhaben.Dies dürfte übrigens auch für Österreich gelten. Ichhabe mich einmal erkundigt: Die neue Regierung in Ös-terreich wird Mitte April den entsprechenden Gesetz-entwurf ins Parlament einbringen. Nach Auskunft derösterreichischen Botschaft würde sich die jetzige Regie-rung und vor allem die neue Außenministerin für die Ra-tifizierung besonders engagieren. Herr Minister, es istvielleicht eine Chance, das bei nächster Gelegenheitauch einmal zu registrieren und anzuerkennen.Ich möchte noch etwas zur Haltung der USA sagen,weil die bisherige Einlassung der Vereinigten Staatenvon Amerika außerordentlich problematisch ist. DieBundesregierung sollte alles tun, um die Haltung derUSA zu beeinflussen, damit auch die Vereinigten Staa-ten dem Abkommen schlussendlich beitreten. Auch wirals Abgeordnete haben eine Chance, dabei mitzuhelfen.Das darf allerdings nicht um den Preis einer weiterenVerwässerung geschehen. Die Hauptbedenken der USAlassen sich etwa so zusammenfassen: Ein Anklägerkönnte aus politischen Gründen amerikanische Soldatenvor dieses internationale Gericht zerren. Man will ame-rikanische Soldaten in offizieller Mission schützen. –Das sind die Kernbedenken.Aber davor schützt schon der Grundsatz der Kom-plementarität des Internationalen Strafgerichtshofs.Sobald die USA selbst ein Strafverfahren betreiben, hatdies Vorrang. Gemäß Art. 18 des Statuts können dieUSA mit dem Hinweis auf eigene Ermittlungen errei-chen, dass der Ankläger seine Ermittlungen um sechsMonate zurückstellt. Wenn der Ankläger zu dem Ergeb-nis käme, diese Ermittlungen seien nicht ernsthaft, dannkann er dies nicht selbst feststellen und seine Ermittlun-gen einfach wieder aufnehmen; vielmehr obliegt dieseFeststellung der Ermittlungskammer des Gerichtshofs.Gegen deren Entscheidung kann der betroffene Staatwiederum Berufung einlegen. Erst wenn die Berufungs-kammer dies zurückweist, könnte der Ankläger seineErmittlungen fortführen. Diese Regelungen, meine sehr geehrten Damen undHerren, bringen den Vorrang nationaler Strafverfol-gung nun wirklich ausreichend zum Tragen. Man gehthier eigentlich schon ein Stück zu weit. Wenn man sichvor Augen führt, dass der Internationale Strafgerichtshofeinen großen Fortschritt in Bezug auf den Schutz derelementaren Menschenrechte bringt, dann haben wirallen Anlass, den Vereinigten Staaten von Amerika vorAugen zu halten, dass ihre ablehnende Haltung – wennsie denn dabei bleiben sollten – auch einen Bruch mitder eigenen völkerrechtsprägenden Tradition der USAbedeuten würde, die ja wesentliche Impulse für das Ent-stehen des Völkerbundes und der Vereinten Nationenselbst gegeben haben. Damit einher ginge auch ein er-heblicher Glaubwürdigkeitsverlust für die Menschen-rechtspolitik der USA. Es ist ja schwer miteinander ver-einbar, dass das State Department über alle Staaten die-ser Welt jedes Jahr Menschenrechtsberichte erstellt, sichdie USA aber gleichzeitig weigern, sich dem Internatio-nalen Strafgerichtshof zu unterstellen, der, wie es in derPräambel des Statuts heißt, die schwersten Verbrechen, welche die internatio-nale Staatengemeinschaft als Ganzes berühren,nicht unbestraft lassen will und der dazu beitragen soll, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen undso zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen. Wir sollten hier gemeinsam jede Chance nutzen, dieHaltung der Vereinigten Staaten im Sinne einer Zu-stimmung zu dem Statut zu beeinflussen.Nun gibt es noch einen weiteren Punkt, der etwasWasser in den Wein der Hoffnung fließen lässt: DamitRuprecht Polenz
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8385
Verbrecher sehr schnell einem Verfahren vor dem Inter-nationalen Strafgerichtshof zugeführt und gegebenen-falls verurteilt werden können, ist – das ist schon gesagtworden – der Gerichtshof auf die Zusammenarbeit mitden Staaten angewiesen. Er selbst hat dazu nämlich kei-ne eigenen Möglichkeiten. Rechtlich zu dieser Zusam-menarbeit sind aber nur die Vertragsstaaten verpflichtet.Auch deshalb kommt es auf eine möglichst breite Basisbei der Ratifizierung an. Wenn der oder die Angeklagtedem Gericht nicht überstellt wird, dann kann überhauptnicht verhandelt werden. Wir haben diese Erfahrung jamit den zur Fahndung ausgeschriebenen Karadzic undMladic gemacht. Wir wollen einmal sehen, ob sie nochdem eigentlich für im ehemaligen Jugoslawien begange-ne Verbrechen vorgesehenen Gerichtshof überstellt wer-den. Ich möchte aber schon darauf hinweisen, Herr Minis-ter – über den Punkt werden wir auch in einem anderenKontext noch sprechen müssen –, dass das Defizit an internationalen Polizeikräften immer mehr zu einemProblem wird, das wir nicht nur jetzt in Bosnien und imKosovo feststellen, sondern das sich zunehmend auchzeigen wird, wenn der Internationale Strafgerichtshofseine Arbeit aufnimmt. Hier müssen wir in Deutsch-land – wir engagieren uns im Kosovo und in Bosnien invorderer Linie mit unseren Polizeikräften, aber sicher-lich immer noch nicht ausreichend – auch darüber nach-denken, ob nicht die Schnittstellen zwischen Militär undPolizei ein Stück weit neu definiert werden müssen.Diese Debatte brauchen wir heute nicht zu führen, abersie wird auf uns zukommen.
– Nicht im Inneren, aber die Schnittstellen im Äußerenstehen zur Debatte, zum Beispiel die Frage, ob die Bun-deswehr, Herr Minister, dafür zuständig war bzw. wäre,Kriegsverbrecher sozusagen im polizeilichen Sinne zuverfolgen und sicherzustellen. Diese Debatte haben wirja geführt. Es zeigte sich, dass es diese Schnittstellengab.Unsere Fraktion wird dem Statut zustimmen. Es wirdmit breiter Mehrheit in diesem Hause – ich denke, ein-stimmig – ratifiziert werden. Das ist auch gut so. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Margot von Renesse.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Es hat uns schongut getan, dass uns, als wir, der Kollege Hartenbach, dieKollegin Lilo Friedrich und ich, in Ruanda waren, beidem Internationalen Gerichtshof in Arusha, der sich mitdem Völkermord in Ruanda beschäftigt, immer wiedergesagt wurde, als wie gut man die Rolle Deutschlandsbei den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen er-lebt hat und wie sehr sie noch in Erinnerung ist.Das hat uns umso mehr gut getan, als bei der Lektüredes ersten Urteils jeder Deutschen und jedem Deutschendie zweite Rolle förmlich entgegensprang, die wir beider Entwicklung des internationalen Strafrechts gespielthaben, zumal wenn dieses sehr stark durch CommonLaw, also durch das starke Gewicht der Proceedings ge-prägt ist; denn wesentliche Proceedings stammen ausNürnberg. Dass in einem Urteil, das in Arusha in Tansa-nia, im schwärzesten Afrika, gefällt wurde, immer wie-der deutlich zu sehen ist, dass Nürnberg, der Eichmann-Prozess und der Barbie-Prozess die Entwicklung des in-ternationalen Strafrechts geprägt haben, war auch einErlebnis. Beides sollte man im Auge behalten, wennman die Verantwortung Deutschlands für diesen großenSchritt, den wir gehen, bedenkt und wenn man mit Stolz,aber eben auch mit dem Gefühl für die eigene Geschich-te an dieses Thema herangeht. Die alte Bundesregierung hat es gut gemacht, und dieneue muss es gut machen und sich auch darin bewähren,wie es weitergeht. Dazu äußere ich eine erste Bitte: Eshat mir nicht gut getan, dass wir im juristischen Staff inArusha nicht vertreten waren. Die juristische Pipelinezwischen Deutschland und dem auch von unserer Ver-gangenheit geprägten Strafrecht wäre für die Entwick-lung einer internationalen Law-Family wichtig, weil wirnun einmal leidvolle Erfahrungen gesammelt haben. InArusha ist auch deutlich vermerkt worden, dass diesesEngagement bisher nicht in dem Umfang vorhandenwar, wie es hätte sein können und vielleicht hätte seinsollen.Meine zweite Bitte: Die Frau Justizministerin hatschon angedeutet, dass das Engagement für den Interna-tionalen Gerichtshof mit dem, was wir jetzt gesetzlichbeschließen, noch nicht abgeschlossen ist. Vielmehrmüssen wir auch die Zusammenarbeit mit Gerichtshö-fen, die es schon gibt, und dem Ständigen Gerichtshof,den es hoffentlich bald geben wird, tatsächlich beför-dern. Dazu gehört – auch das ist eine Erfahrung aus Arusha – die Unterstützung der Zeugenschutzprogram-me, insbesondere, Kollegin Lilo Friedrich, in Bezug aufZeuginnen, die, wenn es um Menschenrechtsverletzun-gen geht, ihre Existenz und mitunter ihr Leben aufsSpiel setzen, wenn sie wahrheitsgemäß aussagen. Dazugehört – das sage ich an die Adresse der jetzigen Oppo-sition –, dass man als Unterstützerstaat in Einzelfällenauch bereit sein muss, die Existenz von Zeuginnen undZeugen durch Aufnahme im eigenen Land mit veränder-ter Identität zu garantieren.
Die Zusammenarbeit mit internationalen Gerichtshö-fen bedeutet mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Wirwissen das und ich weiß, dass gerade auch bei der Bun-desregierung diese Erkenntnis vorhanden und diesesThema gut aufgehoben ist. Wir tun einen Schritt zumFrieden. Gerade weil wir in Arusha und in Ruanda wa-ren, haben wir gesehen, wie aus den nicht aufgearbeite-ten, traumatisierenden Erlebnissen der VergangenheitRuprecht Polenz
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8386 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
neuer Hass und neue Rachebedürfnisse entstehen. Dieinternationale Zivilgesellschaft braucht nicht nur dieBedrohung der Machthaber, sondern auch das Gefühlder Gerechtigkeit für die Opfer.Merkwürdigerweise hat der Internationale Gerichts-hof Auswirkungen auf die ruandische Strafjustiz. DieZurückdrängung der Todesstrafe ist ein Ergebnis derWirkung von Arusha: In Ruanda wird die Todesstrafenicht mehr vollzogen und in dem neuen Gerichtsverfah-ren demnächst wohl auch dann, wenn es um Völkermordgeht, abgeschafft. Das ist ein großer Erfolg.
Ich möchte das Wort, das die Justizministerin aufschönem Latein an den Anfang gestellt hat, „Fiat iustitiane pereat mundus“, durch ein noch viel älteres Wort er-gänzen: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, Verbrechen istder Menschheit Verderben.“
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/2668
und 14/2682 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/2668 soll zusätzlich an den Auswärtigen
Ausschuss überwiesen werden. Gibt es anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Globalisierung als Chance: Der Weg nach
vorne für Europa
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Rolf Kutzmutz, Dr. Uwe-Jens Rössel, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Soziale und demokratische Weltwirt-
schaftsordnung statt neoliberale Globali-
sierung
– Drucksachen 14/1132, 14/954, 14/2028 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hartmut Schauerte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort geht zuerst an
die beiden antragstellenden Fraktionen, zunächst an die
Abgeordnete Gudrun Kopp, F.D.P.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Herren und Damen! In einer halben Stunde kannman so ein Thema, welches das weite Gebiet der Globa-lisierung umfasst, natürlich nicht abhandeln. Deshalbmöchte ich ganz kurz auf einen liberalen Zukunftsent-wurf für unsere Gesellschaft im europäischen wie auchim globalen Gefüge eingehen.Das Besondere an diesem Antragstext ist, dass dieser – bis auf minimale Änderungen – aus der Federvon Bundeskanzler Schröder und von dem britischenPremier Blair stammt. Große Elemente dieses Texteskönnen wir, die Liberalen, voll und ganz unterstützen;denn sie entsprechen unserem Parteiprogramm aus demJahre 1997. Sie finden darin Forderungen nach Über-nahme von Eigenverantwortung des Einzelnen, dem nö-tigen Umbau der Sozialsysteme, spürbaren Steuerentlas-tungen gerade für den Mittelstand, notwendiger Entbü-rokratisierung und Flexibilisierung am Arbeitsmarkt.Kurzum: Mit diesen Forderungen soll Deutschland fitgemacht werden für den globalen Wettbewerb.Im Kanzler-Credo heißt es wörtlich: „Soziale Gerech-tigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Aus-gaben messen.“ Es heißt weiter: Ohne ideologischeVorbedingungen wolle er – der Bundeskanzler – nachpraktischen Lösungen für Probleme suchen, mit neuenKonzepten für veränderte Realitäten.Diese Auffassung ist zu begrüßen. Unsere Unterstüt-zung hierfür ist aber absolut nicht als programmatischeAnnäherung an die SPD zu verstehen. Denn Vorsicht:Bei uns zählen allein die Taten. Nur diese sprechen fürGlaubwürdigkeit der Politik gegenüber den Bürgern.
Ich komme damit gleich zu einem wichtigen Themain Deutschland, zu dem Ladenschluss. Hilmar Kopperhat uns kürzlich wissen lassen, dass man sich beispiels-weise in den USA über unseren Streit hinsichtlich derLadenschlusszeiten köstlich amüsiert. Hierzu heißt essowohl in dem Schröder/Blair-Papier als auch in unse-rem Antrag:Dienstleistungen kann man nicht auf Lager halten:Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht –zu unterschiedlichen Tageszeiten ... Wir brauchennicht weniger, sondern mehr Flexibilität.– Absolut richtig!
Ich hoffe, dass es für unseren Gesetzentwurf zur Ab-schaffung des Ladenschlusses an Werktagen auch eineentsprechende Mehrheit geben wird.
Doch Bundeskanzler Schröder und auch Wirtschaftsmi-nister Müller sehen hier leider keinen Handlungsbedarf.Das ist sehr bedauerlich.
Margot von Renesse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8387
Oder blicken wir auf den wichtigen E-Commerce,den Internet-Handel, dessen Nutzerkreis von heute circa11 Millionen Personen nach europäischen Schätzungenbis zum Jahre 2001 auf sage und schreibe 39 MillionenNutzer sprunghaft steigen wird. Dazu hat mir HerrStaatssekretär Mosdorf schriftlich erklärt, dass diese At-traktivität des Internet-Handels in erster Linie an derTatsache liegt, dass es im Internet keinerlei Öffnungsbe-grenzungen gibt. Wenn wir fit für die Zukunft und fürdie Globalisierung sein wollen, dann müssen wir nocheiniges nachholen, damit wir auch den traditionellenHandel in die Lage versetzen, sich in diesem Bereich ei-nen Marktanteil zu sichern.
Oder blicken wir auf die Rentendiskussion. Im Pa-pier heißt es dazu: „Die sozialen Sicherungssystememüssen sich den Veränderungen in der Lebenserwar-tung, der Familienstruktur anpassen.“ Dazu kann ich nursagen: sehr richtig. Dann wird es Zeit – das sage ich be-sonders zur SPD-Fraktion –, sich nicht länger gegen dieEinführung des demographischen Faktors zu sperren. Besonders bedeutungsvoll ist es, wenn es heißt – ichzitiere –, der Staat solle schädliches Marktversagennicht korrigieren. Das ist richtig. Nur, ich habe noch diewirklich sehr medienwirksame Holzmann-Rettung in Er-innerung und verweise in diesem Zusammenhang auchgleich auf den Antrag der F.D.P.-Fraktion, auf bestehen-de Tarifverträge mit Öffnungsklauseln zu reagieren, da-mit auf betrieblicher Ebene zwischen Unternehmern undArbeitnehmern Vereinbarungen getroffen werden kön-nen, die dem jeweiligen Zustand des Unternehmens tat-sächlich entsprechen. Ich stelle fest: Wir sind noch ein ganzes Stück vomFitmachen unseres Landes für die Globalisierung ent-fernt. Ich freue mich ganz besonders auf die Arbeit inder Enquete-Kommission „Globalisierung“, in der wirsicherlich einzelne Punkte sehr genau herausarbeitenwerden. Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Die Globalisierung schreitet tatsächlich
mit Riesenschritten voran. Die politische Gestaltung, die
wir im Gegensatz zu Ihnen eher wollen, hinkt hinterher,
und unserer Meinung nach hinkt die Regierung mit.
Mit unserem Antrag wollen wir der Diskussion um
die politische Gestaltung Beine machen. Allen, die nur
die Fortschritte der Globalisierung und des Fitmachens
im Wettbewerb feiern, möchte ich mit dem Schlussdo-
kument der UNCTAD-Konferenz der letzten Woche sa-
gen: Die Einkommensunterschiede bleiben groß, die
Anzahl der armen Menschen ist gewachsen, Ungleichge-
wichte in der internationalen Ökonomie haben zuge-
nommen, die Instabilität der internationalen Finanz-
architektur bleibt ein ernstes Problem.
Viele Redner forderten in Bangkok den Abbau von
Handelsbeschränkungen zumindest für die 48 ärmsten
Länder. Das Ergebnis war eher eine Beerdigung erster
Klasse. Vorschläge zur Lösung des Konflikts um soziale
Mindeststandards durch einen Mindestlohn für arme
Familien, wenn sich diese dazu verpflichten, ihre Kinder
in die Schule zu schicken, und im Gegenzug ein weitge-
hender Verzicht auf die Rückzahlung von Schulden
durch die Entwicklungsländer erklärt wird, sind ins Lee-
re gelaufen. In Bangkok mahnte der malaysische Pre-
mierminister die Neuordnung der internationalen Fi-
nanzarchitektur an und stellte fest: Solange es sie nicht
gibt, müssen wir damit rechnen, dass das Wirt-
schaftssystem weltweit instabil bleibt.
Peter Nunnenkamp vom Institut für Weltwirtschaft in
Kiel kommentiert: Die Reform kommt nicht voran. Die
Positionen der G 20 sind unvereinbar, die internationa-
len Banken verlegen sich auf Blockade. – Eine Antwort
darauf geben Sie im Jahreswirtschaftsbericht nicht.
Circa ein Fünftel des Weltsozialproduktes wird von
den multinationalen Konzernen produziert, erklären
Sie, Kollege Mosdorf, in Ihrer Presseerklärung zur
UNCTAD-Konferenz. Wir haben in unserem Antrag
Maßnahmen dagegen vorgeschlagen. Doch während die
französische Regierung mit einem Maßnahmenkatalog
Front gegen Firmenübernahmen macht, bringen Sie das
Fusionskarussell mit der Steuerreform weiter in
Schwung. Dass Sie jetzt ein Expertengremium dafür ein-
richten, ist ein längst überfälliger, aber zumindest ein
erster Schritt.
Ein NGO-Vertreter resümierte die Ergebnisse in
Bangkok so:
Sie haben die Armut wie einen Fußball behandelt:
sich gegenseitig die Pässe zugespielt, aber nie auch
nur versucht, ein Tor zu schießen.
In der Diskussion hier sind noch nicht einmal die Pässe
angekommen, die wir mit unserem Antrag zu schlagen
versucht haben. Ich denke, die gesellschaftliche Ausein-
andersetzung, zum Beispiel die Kampagne zur Regulie-
rung der Finanzmärkte, die gerade europaweit begonnen
hat, gewerkschaftliche Auseinandersetzungen und
NGOs werden dazu beitragen, Sie eines Besseren zu be-
lehren.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister
für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
S
Gudrun Kopp
Metadaten/Kopzeile:
8388 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist eine sehr bizarre Debatte, die wir heute führen. Vonder PDS wird uns vorgehalten, wir würden uns zu sehrauf die Marktwirtschaft konzentrieren. Die F.D.P. zitiertaus einem Dokument des Bundeskanzlers und des briti-schen Premierministers. Wir befinden uns in der NeuenMitte und fühlen uns auf beiden Seiten sehr wohl.
Wir sind sehr sicher, dass dies der richtige Kurs ist.Lassen Sie mich zur PDS sagen: Ich komme geradevon der UNCTAD-Konferenz aus Bangkok zurück.Wenn auf dieser Konferenz eines klar geworden ist,dann das, dass die Schwellenländer und die Entwick-lungsländer festgestellt haben, dass Direktinvestitionenheute eine viel größere Bedeutung haben als öffentlicheEntwicklungshilfe, die auch weiterhin gesehen wird.Das ist die Kernthese: Länder, deren Märkte über einelängere Zeit relativ weit geöffnet sind, haben doppelt sohohe Wachstumsraten, haben doppelt so positive Ent-wicklungschancen wie abgeschottete, protektionistischeMärkte. Deshalb unterscheiden wir uns von Ihrem Poli-tikkonzept, das noch aus der alten Zeit stammt undnichts mit den modernen Anforderungen zu tun hat.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur F.D.P.kommen. Frau Kopp, ich habe Ihre Ausführungen mitgroßem Vergnügen verfolgt. Ich sehe auch mit großemInteresse, dass Graf Lambsdorff der F.D.P. empfiehlt,auf die SPD zuzugehen,
und klarmacht, dass die SPD im Bund eine vernünftigePolitik betreibt. Er hat im Bund eine Koalition derF.D.P. mit der SPD vorgeschlagen. Möllemann hat vor-geschlagen, man solle endlich die Brandmauern zwi-schen F.D.P. und SPD einreißen.
Das sind interessante, neue Töne. Dass Sie nun auchnoch ein ganzes Dokument abschreiben, hätte nicht seinmüssen. Aber Sie haben es getan und damit gleichzeitiggesagt, dass wir im Grunde auf einem richtigen Kurssind.Meine Damen und Herren, ich habe mir einmal dieMühe gemacht, Ihren Antrag genau anzuschauen. Mir istaufgefallen, dass Sie einige wenige Sätze aus dem Do-kument weggelassen haben.
Einer dieser Sätze ist für uns Sozialdemokraten ein ganzkardinaler Satz. Es heißt nämlich in dem Dokument, dasGerhard Schröder und Tony Blair unterschrieben haben:Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eineMarktgesellschaft.Den Satz haben Sie weggelassen. Daran ist der Unter-schied zu erkennen. Wir sind der Auffassung, dassMarktwirtschaft Sinn macht und das Marktwirtschaftder beste Regelungsmechanismus ist. Wir sind aber da-gegen, dass man den Markt auf gesellschaftliche Ver-hältnisse überträgt. Wir sind gegen eine Marktgesell-schaft, genauso wie wir gegen eine Machtgesellschaftsind.
Mir fällt auch auf, dass Sie den Bezug zum Bündnisfür Arbeit weggelassen haben.
– Nein, das ist schon ein wichtiger Punkt. Sie müsseneinmal etwas zuhören und versuchen, das zu verarbeiten.Mir ist aufgefallen, dass Sie den ganzen Bereich, derin Holland, in Dänemark und auch bei den Briten einegroße Rolle gespielt hat, das, was wir im Bündnis fürArbeit organisieren, einen Dialog zwischen gesell-schaftlichen Gruppen, weggelassen haben. Nun werfeich Ihnen nicht vor, dass Sie den ganzen Steuerentlas-tungsteil weggelassen haben, der in dem Papier steht.Denn das Papier, das Sie vorgelegt haben, stammt vom11. Juni. Zu diesem Zeitpunkt war unser Steuerkonzeptnoch nicht auf dem Markt. Aber Sie müssen dochzugeben, Frau Kopp, dass wir eine Steuerkonzeptionvorgelegt haben, die – das sehen wir anders als die PDS – uns weiterhilft und die Dynamik und Wachstumin unseren Markt bringt.
Das können Sie deshalb in Ihrem Dokument durchausweglassen, weil wir das schon selber machen.Es gibt einen weiteren Punkt, den Sie weggelassenhaben: die ökologische Steuerreform. Da haben wirgesagt, dass wir die Kosten der Arbeit senken wollen,die sehr hoch sind. In Ihrer Regierungszeit sind dieLohnnebenkosten exorbitant gestiegen, sie sind eine enorme Belastung geworden. Wir haben uns dazudurchgerungen, diesen – nicht bequemen – Weg derÖkosteuer zu gehen und haben gesagt: Lasst uns versu-chen, alles zu tun, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zuverbessern und gleichzeitig zwei Effekte zu erzielen,nämlich den Faktor Arbeit zu entlasten und gleichzeitigIncentives zu geben, damit der Energieeinsatz in Zu-kunft effizient erfolgt.Es gibt noch eine andere Sache, Frau Kopp, die auch fürdie F.D.P. interessant ist. Sie haben nämlich in Ihr Pa-pier, dessen Inhalt Sie aus dem Schröder-Blair-Papiersozusagen abgeschrieben und das Sie als Antrag in denDeutschen Bundestag eingebracht haben, den Satz über-nommen:Ein aktiver Staat in einer neu verstandenen Rollehat einen zentralen Beitrag zur wirtschaftlichenEntwicklung zu leisten.Das ist ein ganz wichtiger Satz. Mir war bekannt, dassIhre bisherige Linie war: Wirtschaft findet in der Wirt-schaft statt. Der Staat kam da nicht vor. Wir haben dieVorstellung von einem aktiven Staat, der allerdingsnicht so sein darf, wie wir ihn übernommen haben, näm-Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8389
lich mit 49 Prozent Staatsquote. Diese Staatsquote wol-len wir zurückführen. Wir wollen aber nicht zurück zumNachtwächterstaat. Wir wollen einen leistungsfähigen,modernen Staat. Dass Sie diesen Kernsatz in Ihrem An-trag haben, lässt mich hoffen, dass wir, was die Rolledes Staates angeht, in vernünftiger Weise zu einer inte-ressanten Diskussion kommen.Darüber hinaus haben Sie in Ihren Antrag einen Satzaufgenommen, den Gerhard Schröder und Tony Blairausdrücklich gewollt haben:Armut, insbesondere unter Familien und Kindern,bleibt ein zentrales Problem. Wir brauchen gezielteMaßnahmen für die, die am meisten von Marginali-sierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.Das ist ein wichtiger Satz, der sich auf den Zustand un-seres Landes bezieht. Dafür waren Sie 16 Jahre verant-wortlich.
Wir machen jetzt die Kindergeldreform und wir entlas-ten die Familien. Ich finde es gut, dass Sie diesen Satzaufnehmen, denn das ist ein programmatischer Fort-schritt gegenüber der Regierungszeit der F.D.P., den wirvermerken sollten.Außerdem übernehmen Sie aus dem Dokument vonGerhard Schröder und Tony Blair den Satz:Wir sollten sicherstellen, dass die Ausbildung einewesentliche Rolle in unseren aktiven Arbeitsmarkt-politiken für Arbeitslose und die von Arbeitslosig-keit betroffenen Haushalte spielt.Auch das ist ein wichtiger Satz. Aber wenn ich mir IhreKommentierung unseres JUMP-Programms ansehe,wenn ich mir ansehe, wie Sie heruntermachen, was wirfür junge Leute tun, gerade für diejenigen, die arbeitslossind und keinen Ausbildungsplatz finden, stelle ich fest,dass es eine Differenz zwischen dem Antrag, den Sieuns hier vorlegen, und Ihrer praktischen Politik gibt. Dasdarf man nicht durchgehen lassen.
Es soll ja so sein, dass es uns allen ein bisschen Spaßmacht, solche Dinge zu diskutieren. Mein Vorschlag andie F.D.P. wäre: Nehmen Sie das komplette Dokumentvon Gerhard Schröder und Tony Blair und verabschie-den Sie es auf Ihrem F.D.P.-Bundesparteitag. Erst dannsind Sie glaubwürdig.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erich Fritz.
Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Kollege Mosdorf, ich finde esschön, dass jetzt, da der Lenz naht, die Werbegesprächeanfangen und dass Sie die Signale aus der F.D.P. auf-fangen. Auch die grünen Kollegen werden schon ganzunruhig. Sie trauen sich gar nicht mehr in diese Debatte.
Sie Herr Kollege Mosdorf, haben gerade in Anleh-nung an den Antrag der F.D.P. gesagt, Sie wollten dieStaatsquote deutlich senken. Mir fällt auf, dass Sie die-ses Ziel verfolgen, indem Sie die Staatsquote erst einmalvon 48 auf 50 Prozent steigern.
Wir hatten nämlich 1998 eine Staatsquote von48 Prozent, während wir jetzt bei 50 Prozent liegen. Wirhaben sie trotz der hohen Lasten der deutschen Einheitvon 51 auf 48 Prozent reduziert.
Ich hätte es begrüßt, wenn wir über das Thema Glo-balisierung in einem anderen Zusammenhang etwasernsthafter hätten diskutieren können als auf der Grund-lage dieser beiden Anträge. Auch wir hatten einen An-trag. Wir haben die Diskussion im Plenum mit unseremAntrag damals erst vor der Ministerkonferenz der WTOin Seattle erreicht. Dann hat es eine Diskussion im Aus-schuss darüber gegeben und damit war der Diskussions-bedarf für meine Begriffe eigentlich erschöpft.
Ich finde es nicht in Ordnung, dass man hier eine soseltsame Debattenkultur pflegt, die niemandem etwasbringt.
Eigentlich hätten wir mit dem vorhergehenden Ta-gesordnungspunkt einen Ansatzpunkt für einen zweitenAspekt gehabt, nämlich wie man so etwas wie eine Weltinnenpolitik gestalten kann. Bei diesem Tagesord-nungspunkt ist über den Internationalen Strafgerichtshofdiskutiert worden. Er ist ein wesentliches Element einersolchen weltweiten politischen Gestaltung. Wir müssen im Zusammenhang mit der Globalisie-rung eine ähnliche Diskussion führen. Da haben wir ei-ne seltsame Ausgangslage: Die PDS bekämpft den Neo-liberalismus, und zwar ungefähr so wie früher die DDRden imperialistischen Monopolkapitalismus, nämlichohne jede selbstkritische Anwandlung.
Das Feindbild ist klar. Es steht fest und wird bekämpft.In der Gegenwart sind Sie noch nicht richtig angekom-men.Die SPD – einige wenige Ausnahmen gibt es; daswill ich zugestehen – verschweigt die Vorteile, die inder Globalisierung stecken, drückt sich nach wie vor da-Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
8390 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
vor, aus ihrem traditionellen wirtschaftlichen Denkenherauszukommen, und diskutiert zum überwiegendenTeil aus der Sicht der Nachteile und der Gefährdungen,die es ohne Zweifel auch gibt. Aber Zukunft gewinntman eben nicht durch Reparaturgeschäfte und die Dis-kussion darüber, sondern durch Gestaltungskraft undden Mut, Freiheit und Eigenverantwortung Raum zu ge-ben.
Die F.D.P. spricht über die Vorteile der Globalisie-rung und kümmert sich nach meiner Auffassung viel zuwenig um die neu entstehenden Ungleichheiten und dieGeschwindigkeit dieses Prozesses, die natürlich zu mas-siven Verwerfungen führen kann, die man auch im Blickhaben muss, wenn man sich um das Ganze kümmernwill.Wir denken, dass wir mit unserer Aufmerksamkeitbeide Seiten gleichwertig bedienen. Wenn wir genauhinschauen, dann erleben wir eine Beschleunigung desGlobalisierungsprozesses, die politisch gewollt begon-nen hat und nach der Auflösung der Blöcke sinnvoll ist,die aber durch sich selbst steuernde Faktoren angetrie-ben wird. Gesunkene Transportkosten beschleunigen die Ar-beitsteilung. Schnelle, uneingeschränkte Kommunikati-onsverbindungen im Zusammenhang mit verändertemAnlageverhalten von Sparern bzw. Kapitalanlegern er-möglichen effektivsten Kapitaleinsatz und führen –Rückschläge sind natürlich nie ausgeschlossen – zu ei-nem beschleunigten weltweiten Wachstum. Die wissen-schaftliche Forschung bringt heute in kürzester Zeit eineFülle neuer Ergebnisse und verbreitert die wirtschaftli-chen Betätigungs- und Handlungsbereiche mit einer Ge-schwindigkeit, wie sie vorher nicht vorstellbar war. Aber sie erhöht auch die Geschwindigkeit der Not-wendigkeit des Strukturwandels in den entwickeltenVolkswirtschaften. Sie stellt uns vor Anpas-sungsleistungen und -notwendigkeiten und verlangt vonuns, dass wir uns auf unbequeme Veränderungeneinstellen, vor denen man sich gerne drückt, vor allenDingen dann, wenn man einen solchen populistischenWahlkampf gemacht hat wie zu Lafontaines Zeiten.Man muss den Menschen schon erklären, dass aus denVorteilen, aus den Wohlstandsgewinnen und aus denentstehenden Freiheitsräumen auch Nachteile, Schwie-rigkeiten und erhöhte Anforderungen erwachsen im Hin-blick auf höhere Qualifikation, größere Flexibilität undall das, was damit zusammenhängt.Das, was ich gerade beschrieben habe, führt zu stei-gender Produktivität und höherer Effizienz. Das ist sehrgut für diese Welt und davon profitieren übrigens nichtnur die großen Industrieländer. Der Kapitalexport bringt Vorteile für Anleger in denreichen Ländern, aber auch für die Arbeitskräfte in denAufholländern, wie ich es einmal nennen möchte. DerHandel, der das Ganze durch die entstehende Arbeitstei-lung noch einmal beschleunigt, ist sowohl für uns alsauch für die arbeitende Bevölkerung in den sich entwi-ckelnden Ländern von Vorteil. Allerdings stellt er beiuns weniger Qualifizierte vor große Probleme. Deshalbist die Entwicklung der Wissensgesellschaft, die Ent-wicklung zu höherer Qualifikation das eine, die sozial-politische Aufgabe aber, wie man mit denjenigen um-geht, die in diesem Zusammenhang nicht mehr mit-kommen, das andere. Angesichts dieser Beschleunigungsprozesse in denletzten Jahren wird immer deutlicher, dass sich die An-forderungen an politisches Handeln und Regierenverändern. Sie verändern sich schneller, als mancher daswahrhaben will. Die Denkgewohnheiten müssen verän-dert werden. Sowohl die Finanzkrise in Asien als auchdas Zurückfallen der afrikanischen Länder zeigt, dass„good governance“ unerlässlich ist, wenn man dieseProzesse gestalten will und wenn man an den positivenEffekten, die daraus zu erzielen sind, beteiligt sein will.Dazu gehört aber auch, dass man protektionistische Me-thoden außen vor lässt und nicht der Gefahr erliegt, sichdieser wieder zu bedienen. Das wiederum verlangt, dassman den Menschen deutlich sagt, was auch in unseremLand im Hinblick auf die Steuerpolitik, die Politik dersozialen Systeme, auf Flexibilisierung und Deregulie-rung verändert werden muss. Das Zweite: Eine entgrenzte Wirtschaft kann nichtmit nationalstaatlich begrenzter Politik gestaltet werden.Wir alle wissen, dass es kompliziert ist, multilateraleRahmenbedingungen herzustellen; das geht allemallangsamer als das, was sich durch wirtschaftliche Tätig-keit vollzieht. Multilaterale Rahmenbedingungen im Ar-beits- und Umweltbereich, Mindeststandards, Regelun-gen im Kapitalverkehr, für Investitionen und die Wett-bewerbsordnung müssen entstehen; ihr Fehlen verstärktnämlich genau das Gefühl, man sei diesem Prozesshoffnungslos ausgeliefert. Dieses Gefühl gibt es abernicht nur in benachteiligten Entwicklungsländern, dasgibt es auch bei uns. Deshalb denke ich, das Parlament hat allen Anlass,diesen Zusammenhängen noch mehr und intensiver zubegegnen, als wir es bisher getan haben. In Seattle, bei der WTO-Ministerkonferenz ist wohlziemlich deutlich geworden, dass es – einmal unabhän-gig von dem tatsächlichen Ablauf, der sehr stark durchdie Taktik der US-Position bestimmt war – die Chancegibt, zu vernünftigen Regelungen zu kommen, dass esdie Chance gibt, dass sich die Entwicklungsländer alseinheitliche Gruppe – oder vielleicht auch als zweiGruppen – formieren und die Furcht etwa vor der Rege-lung und der Einführung von Mindeststandards in demMaße verlieren werden, in dem klar ist, dass es sichnicht um protektionistische Maßnahmen der Industrie-länder handelt, sondern dass es darum geht, ihren eige-nen Fortschritt zu befördern und sich selbst die Mög-lichkeit zu geben, Humankapital zu bilden, das dann inZukunft Wertschöpfung auf einer höheren Ebene erbrin-gen kann. Ich bin der Ansicht, dass die geschilderten Verhand-lungen auch eine andere Art des Regierungshandelnsverlangen. Der Unterausschuss „Globalisierung“ wirdsich voraussichtlich demnächst in dieser Richtung be-merkbar machen. Ich denke, dass unsere Art der Res-Erich G. Fritz
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sortpolitik überhaupt nicht mehr in diese Zeit passt unddass sich da etwas verändern muss. Ich finde auch, dass viele Recht haben, die sagen,dass es einen Weg geben muss, diese multilateralen,fundamentale Richtungsentscheidungen treffenden Ver-einbarungen stärker demokratisch und damit parlamen-tarisch zu begleiten. Ich habe deshalb diese Initiative inSeattle unterstützt – wie alle Kollegen, die dabei wa-ren – und bin gespannt, ob es gelingt, innerhalb derWTO eine solche parlamentarische Begleitung zu or-ganisieren, weil sie zusammen mit einer völlig neuenBetrachtung dessen, was heute über das Internet an in-ternationaler Öffentlichkeit von NGOs entsteht, einenwesentlichen Bestandteil einer zukünftigen Legitimationdieser Politik möglich macht. Das wird in den Augender Menschen, die das von fern staunend betrachten undvielleicht manchen komplexen Zusammenhang nichtverstehen, eine entscheidende Frage sein, dass wir hiernämlich Entscheidungen treffen, die wahrscheinlich aufGenerationen hin das Leben der einzelnen Menschen inallen Ländern dieser Welt verändern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fritz,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, sofort. – Deswegen
denke ich, dass wir gut daran tun, diesen Pfad zu verfol-
gen.
Ein Satz noch, Frau Präsidentin, wenn ich darf: Nach
allen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Innovati-
onszyklen und langfristige Wellen der Wirt-
schaftsentwicklung stehen wir im Augenblick an einer
Stelle, an der wir damit rechnen können, diesen Prozess
in einer Zeit positiver wirtschaftlicher Rahmendaten zu
gestalten. Diese Zeit muss man nutzen, denn anschlie-
ßend wird es nicht mehr möglich sein. In Zeiten, in de-
nen etwa große Wirtschaftsmächte wie die USA in kon-
junkturelle Schwierigkeiten kommen, werden die pro-
tektionistischen Geister schneller wieder da sein, als wir
es uns vorstellen können; dann ist die Chance vorbei.
Deshalb haben wir allen Grund, denke ich, auch hier
gemeinsame Positionen zu finden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Länge diesesSatzes war ja fast rekordverdächtig.
Ich erteile jetzt der Kollegin Margareta Wolf für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Herr Fritz, ich teile fast alles, was Siehier vorgetragen haben; was ich nicht teile, ist aus-schließlich die Bemerkung, dass wir schon ganz unruhigwürden, weil sich die F.D.P. im Bewerbungsverfahrenbefinde. Da werden wir mitnichten unruhig, Herr Kolle-ge Fritz; im gesamten Europa redet man über „Wettbe-werb der Ideen“, „Wettbewerb der Kreativität“. Wennich mich bewerbe, indem ich – und das auch nur rudi-mentär – ein Papier von Schröder/Blair abschreibe, istdas nach meinem Empfinden nicht unbedingt Ausweisvon Kreativität. Das heißt, die F.D.P. hinkt der Entwick-lung wie immer hinterher. Frau Kopp, wenn Sie das Papier um die beiden we-sentlichen Punkte Ladenschluss und E-Commerce er-gänzen und glauben, damit werde man die Herausforde-rungen der Globalisierung meistern,
ist das für mich zumindest kein sehr weit führender Bei-trag. Und lassen Sie mich auch noch diese Bemerkungmachen: Ich möchte nicht in einer Partei sein, derenMitglied Kubicki im Wahlkampf mit Herrn Rühe an derKieler Förde spazieren geht, während nach Frau Wagnernun auch Herr Möllemann seinen Parteivorsitzenden de-savouiert und gleichzeitig die Strategie der F.D.P. inSchleswig-Holstein aushebelt.
Ich weiß nicht, wer sich eine solche Art von Politik beieinem Koalitionspartner wünscht.Ich teile ausdrücklich die Einschätzung von HerrnFritz, was die Ergebnisse von Seattle angeht: Es gibt soetwas wie die Angst vor der Globalisierung. Ich glaube,das sollten wir in der Tat ernst nehmen. Es ist wenighilfreich - auch das haben Sie dargestellt –, in den klas-sischen Schwarz-Weiß-Schemen zu denken. Globalisie-rung ist weder nur Unheil noch nur Leitstern. Wir tunsehr gut daran, nach den Erfahrungen mit Seattle ver-mehrt über die Vorbereitung der nächsten WTO-Rundezu reden, vermehrt über Instrumente zu reden, mit denendiese Prozesse transparenter gestaltet werden können,und vermehrt die öffentliche Debatte mit den so genann-ten Nichtregierungsorganisationen zu führen, innerhalbund außerhalb dieses Hauses.Herr Kollege Mosdorf, Sie haben darauf hingewiesen,dass in dem Antrag, den die F.D.P. hier vorgelegt hat,ein ganz entscheidender Satz fehlt, nämlich dass TonyBlair und Gerhard Schröder für soziale Marktwirt-schaft und nicht für die Marktgesellschaft sind. HerrMosdorf, mich hat es eigentlich nicht gewundert, dassder Satz fehlt. Ich habe gestern extra noch einmal in Ih-rem Grundsatzprogramm nachgelesen, Frau Kopp. Dortreden Sie nicht mehr von „sozialer Marktwirtschaft“,sondern ausschließlich von „Gefälligkeitsdemokratie“,
was, wie ich finde, die „Marktgesellschaft“ noch toppt.Insofern hat es mich nicht tatsächlich überrascht, dassdieser Satz fehlt.
– Frau Kollegin Kopp, es geht dort um die Gefällig-keitsdemokratie.Erich G. Fritz
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– Dann führen Sie einmal eine interne Debatte. Ich kannmich noch genau daran erinnern, wie Herr Westerwelledies hier im Grundsatz dargelegt hat. Aber das wechseltbei Ihnen ja wöchentlich. „Gefälligkeitsdemokratie“steht bei Ihnen drin, auch wenn Sie sagen, dass Sie dasnicht wollen. Ich wäre ja zufrieden, wenn wir uns wiederauf die soziale Marktwirtschaft zurückbesinnen würden.Ich glaube, dass es auf dem Weg zu einer neuen Poli-tik jenseits von rechts und links innerhalb von Europaschon jetzt ein Ergebnis gibt: Die großen politischenLager, auf der einen Seite die Staatsinterventionistenund auf der anderen Seite die Marktideologen, habenbeide verloren. Wir haben uns über den Beitrag von Tony Blair und Gerhard Schröder gefreut. Wir sehen inihm einen Debattenbeitrag innerhalb Europas zur Ver-ständigung über strategisch-programmatische Akti-onen in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik, aberauch in der Finanzpolitik. Denn wir glauben, es gehtheute nicht mehr darum, sich wechselseitig Vorwürfe zumachen oder sich irgendwelchen ökonomischen Schulenzuzuordnen.
Vielmehr geht es darum, einen Wettbewerb um diebesten Instrumente in Europa zu beginnen.
Ich bin sehr froh, dass Giddens die Debatte in Europamaßgeblich vorantreibt, dass sich Herr D'Alema mitHerrn Clinton zusammensetzen kann, dass man andersmiteinander redet und zum Beispiel über das Wort „So-zialismus“ auch einmal lächeln kann.Man wird in der Bundesrepublik dem Problem hoherArbeitslosigkeit und der Aufgabe, den Sozialstaat wirk-lich fit zu machen für den Strukturwandel, nur gerechtwerden, wenn man über die nationalen Grenzen hinausPolitik betreibt. Man wird Wirtschaftspolitik durch le-benslanges Lernen ergänzen müssen. Dann werden wirdie Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind,bewältigen können.Abschließend noch diese Bemerkung – auch das wur-de von den Vorrednern schon gesagt –: Ich glaube nicht,dass man dem Thema Globalisierung mit einer Debattevor dem Hintergrund dieser beiden Anträge und mitFünf- bis Siebenminutenbeiträgen gerecht wird. Damitignorieren wir die Debatten, die nach Seattle – auf denStraßen und hier im Hause – stattgefunden haben. Wirsollten diese Kritik ernst nehmen und mit unseren Ge-schäftsführern in dieser Richtung diskutieren.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-
Sperk für die SPD-Fraktion.
Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich kann der letzten Bemerkung derKollegin Wolf nur zustimmen: Eine halbe Stunde für einsolches Thema ist zu wenig. Aber eines muss ich auchsagen: Mit zwei schon angejahrten Anträgen aus demvergangenen Jahr
und dem verfrühten Karnevalsscherz der F.D.P. wirdleider eine Chance vertan, ernsthaft über eines der zent-ralen Probleme der Globalisierung und der Weiterent-wicklung des Welthandels sowie über die Lehren undSchlussfolgerungen zu sprechen, die wir aus dem Schei-tern der WTO-Konferenz in Seattle vom Dezember 1999ziehen sollten.
– Herr Kollege Protzner, nehmen Sie zur Kenntnis, dassdie Kollegen der CDU, die in Seattle waren, sich durch-aus der überparteilich bestehenden Meinung anschlossenund Ihr Dazwischenreden einigermaßen sinnlos ist. Wirsollten uns hier konsequent über die Probleme unterhal-ten und nicht einfach dazwischenblöken, wenn Sie mirdie Bemerkung gestatten.
Denn – täuschen wir uns nicht – was in Seattle aufden Straßen sichtbar wurde, war nicht der Protest einerkleinen gewalttätigen Minderheit, – wie US-PräsidentClinton es zu Recht betonte –, sondern eine breite Koali-tion aus dem Herzblut der beiden großen Volksparteiender USA. Gewerkschaften demonstrierten friedlich undeinträchtig mit Umweltorganisationen, der Verbrau-cherbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, den Verbän-den bäuerlicher Familienbetriebe, den kleinen Fischerei-betrieben und vielen Intellektuellen.Sie alle einte – wir haben das in Seattle erlebt – ge-genüber der Welthandelsorganisation als einer der we-sentlichen Akteure der Globalisierung ein zunehmendesGefühl der politischen Ohnmacht, des wirtschaftlichenAusgeliefertseins und der sozialen Unsicherheit. DieMenschen hatten – im politischen Spektrum von ganzrechts über die breite Mitte bis ganz links – die Befürch-tung, dass eine weitgehend anonyme Handelsbürokratieim Verein mit Big Business über ihre Arbeit, ihr Ein-kommen, ihre Lebensqualität und über die Zukunft ihrerKinder verfügt und diese sich zunehmend der demokra-tischen Kontrolle der Nationen entzögen.Ein Kritikpunkt hat in Seattle Gegner wie Befürwor-ter einer weiteren Liberalisierung des Welthandels ge-eint, nämlich die mangelnde Transparenz der Welthan-delsorganisation, was Inhalte, Abläufe und Entschei-dungsverfahren angeht, und – von allen unbestritten –die fehlende, demokratische Kontrolle der Organisationselbst. Margareta Wolf
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Der Kollege Fritz hat zu Recht angesprochen, dass es – angeführt von US-Senator Bill Roth – eine breiteUnterstützung der in Seattle anwesenden Parlamentarierdafür gegeben hat, vorzuschlagen, der WTO in Genf ei-ne parlamentarische Begleitung und Kontrolle mit-zugeben. Ich meine, der Deutsche Bundestag und seineFraktionen sollten sich dieser Forderung anschließenund sie aktiv unterstützen.
Die Welthandelsorganisation braucht neben einerdemokratischen Legitimation unbezweifelbar eine Re-form an Haupt und Gliedern. Es war schlicht skandalös,wie die kleinen Länder, vor allem die ärmsten Entwick-lungsländer, auf der Konferenz behandelt wurden. Ihröffentlicher Protest war berechtigt. Wenn wir so mit den kleinen Nationen umgehen, dürfenwir uns nicht wundern, wenn sie auf der Konferenz sa-gen: Nicht mehr so mit uns, sonst habt ihr uns gegeneuch. Das kann man nur unterstützen.
Transparenz, Teilhabe aller Mitglieder und Demokra-tisierung sind also unabweisbar, wenn wir weiterkom-men wollen, reichen aber nicht aus. Auch die Ziele undInhalte müssen sich ändern. Die Europäische Union hat-te mit ihrem Vorschlag eines umfassenden Mandatsund der „neuen Themen“ – mit breiter Unterstützungder Bundesregierung und des deutschen Parlaments; wirhatten im Deutschen Bundestag im Oktober vergange-nen Jahres darüber diskutiert, unter den Themen warendie Einbeziehung von Arbeits- und Sozialstandards –erste Schritte in Richtung einer gerechteren, sozial- undumweltverträglichen Welthandelsordnung vorgeschla-gen, die auch einen weltweiten Wettbewerb und dessenRegulierung einbezieht.Die Verwirklichung einer solchen neuen Ordnungwäre ein anspruchsvolles und kühnes Vorhaben für eineimmer enger zusammenwachsende Welt, in der Wirt-schafts- und Währungskrisen schnell von einer Weltre-gion in die andere umspringen und globale Konsequen-zen von ungebremstem Ressourcenverbrauch und zu-nehmender Umweltverschmutzung unübersehbar undimmer weniger zu verantworten sind. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns nicht nur inder Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirt-schaft - Herausforderungen und Antworten“, sondernauch in unseren aktuellen Diskussionen über die Fort-führung der WTO-Verhandlungen nicht allein über mehrDemokratie und eine bessere Organisation, sondern e-benso über die Grundpfeiler einer solchen Weltwirt-schaftsordnung unterhalten. Dazu gehören ohne Zweifeldie Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung undder schrittweisen Umsetzung verbindlicher und sank-tionierbarer Umweltabkommen, die Stärkung einesmöglichst schwankungsfreien qualitativen Wirtschafts-wachstums und eine Vermeidung großer Währungskri-sen durch die Reduzierung von Wechselkursschwan-kungen durch eine verstärkte Regulierung der Weltfi-nanzmärkte und natürlich effektive Wettbewerbskontrol-len weltweiter wirtschaftlicher Macht. Das ist besondersfür uns Sozialdemokraten sehr wichtig. Sehr wichtig istweiterhin die verbindliche Verankerung humanitärer,sozialer, gesundheitlicher und kultureller Rechte in allenTeilbereichen einer solchen Weltwirtschaftsordnungsowie die Verpflichtung aller internationaler Institutio-nen auf ihre Durchsetzung. Wenn wir nicht wollen, dass die Menschen gegendiese neuen Ordnungen angehen und das Tempo, dasSie, Herr Fritz, zu Recht beschworen haben, beklagenund bemängeln, dass es ihnen zu schnell gehe, dass siesich aufgefressen fühlten und dass sie Ängste hätten,müssen wir mit den Menschen reden und sie überzeu-gen, dass wir nicht an einem neuen Turmbau zu Babel oder gar an der Etablierung eines arbeit- undumweltfressenden Molochs arbeiten, sondern an einerWeltverfassung einer globalen Wirtschaft, die den In-teressen der Völker der Welt und der Zukunft unsererKinder wirklich dient. Das bedeutet, Frau Kollegin Kopp, dass es nichtreicht, nur allgemeine Sätze aufzuschreiben. Es reichtauch nicht, wenn wir sagen, dass der Welthandel und die globale Weltordnung uns allen helfen würden.
Wir dürfen die Bedingungen, unter denen sich eine sozi-al- und umweltverträgliche neue Weltwirtschaftsord-nung wirklich zugunsten der gesamten Menschheit posi-tiv auf die Interessen der Völker auswirkt und der Zu-kunft unserer Kinderdient, nicht nur beschreiben, son-dern wir müssen darüber mit den Menschen diskutieren.Wir müssen diese Bedingungen Schritt für Schritt aufjedem Feld und in jeder internationalen Organisationwirklich umsetzen. Denn sonst werden uns die Men-schen entweder für Propagandaredner oder fürWindbeutel halten, die nicht darauf hinarbeiten, dass diePolitik das tut, was sie tun soll, nämlich Leben, Arbeitund Wirtschaft gestalten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktion der F.D.P. zur Globalisierung auf derDrucksache 14/2028, Buchstabe a. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1132 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Werstimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-fehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion an-genommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktion der PDS zur Weltwirtschaftsordnung aufder Drucksache 14/2028, Buchstabe b. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/954 abzuleh-Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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8394 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Clau- dia Nolte, Manfred Grund, Dr. Michael Lu ther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Einheitliches Versorgungsrecht für die Eisenbahner herstellen – Drucksache 14/2522 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Monika Balt Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Regelung von Ansprüchen und Anwart-schaften aus den Systemen der Altersver-sorgung der deutschen Reichsbahn und derDeutschen Post der DDR – Drucksache 14/2729 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Frakti-on der CDU/CSU hat der Kollege Manfred Grund.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Versor-gungsrecht der ehemaligen Reichsbahner der DDRsteht keineswegs ein neues Thema auf der Tagesordnungdieses Hauses. Wir haben uns in der Vergangenheit wie-derholt damit beschäftigt, zuletzt im April 1998, als diePDS den Antrag gestellt hatte, ein zeitlich befristetesVersorgungssystem sui generis einzuführen. Dieser Vor-schlag ist damals von allen anderen in diesem Haus ver-tretenen Fraktionen einstimmig abgelehnt worden. Ge-meinsam waren wir uns aber darin einig, dieses Themain der kommenden, das heißt in der jetzigen, Wahlperio-de noch einmal aufgreifen zu wollen. Diese damals ge-zeigte Einmütigkeit sollte die Basis für das gemeinsameBemühen um eine sachgerechte Lösung im Interesse derbetroffenen Menschen sein.
Von daher geht auch jeder Vorwurf fehl, wir alsCDU/CSU würden jetzt in der Opposition etwas einfor-dern, was wir in Zeiten der Regierungstätigkeit noch ab-gelehnt hätten. Richtig ist, dass das zuständige Bundes-ministerium für Arbeit und Sozialordnung bislang stetseine den spezifischen Besonderheiten der Eisenbahner-versorgung der DDR Rechnung tragende Regelung alsmit dem Prinzip der Beitragsbezogenheit der gesetzli-chen Rentenversicherung nicht vereinbar abgelehnt hat.Aber erstens haben sich nachweislich alle Kolleginnenund Kollegen – auch die von der jetzigen Regierungsko-altion – , die sich früher mit diesem Thema näher be-schäftigt haben, mit diesem Ergebnis schon damals nichtabgefunden. Das gilt für mich persönlich ebenso wie fürdie damaligen Koalitionskollegen von der F.D.P. Zweitens ist jetzt ein umgekehrtes Szenario zu be-fürchten. Nach allem, was in den vergangenen Monatenan Aussagen zu dieser Thematik von der Parlamentari-schen Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium,Frau Kollegin Mascher, zu vernehmen war, hat sich dieHaltung des Ministeriums in dieser Frage nicht geändert,obwohl es – das ist neu – inzwischen eine Reihe voneinschlägigen Urteilen des Bundessozialgerichts gibt, indenen eindeutig nachgewiesen wird, dass die bislangpraktizierte Rentenberechnung für die Reichsbahnereindeutig falsch ist. Man darf deshalb gespannt sein, wiesich hierzu die SPD einlassen wird, hatte sie sich dochals Opposition einst selbst für eine dem Anliegen der Ei-senbahner gerecht werdende Lösung stark gemacht. Die Tatsache, dass wir es hier mit einer noch offenenFrage im weiten Feld der Rentenüberleitung zu tun ha-ben, darf indessen nicht den Blick dafür verstellen, wel-che gewaltigen und großartigen Anstrengungen die da-malige, von der CDU/CSU geführte Bundesregierungunternommen hat, die Rentenansprüche und Rentenan-wartschaften aus der Sozialpflichtversicherung der ehe-maligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung derBundesrepublik zu überführen.
Trotz mancher Probleme und vieler anfänglicher Un-gereimtheiten gehört die Schaffung eines einheitlichenRentenrechts im wiedervereinigten Deutschland zu denherausragenden Leistungen im deutsch-deutschen Eini-gungsprozess. In kaum einem anderen Bereich hat die Rechtsanglei-chung zwischen Ost und West mehr Vertrauen in denbundesdeutschen Rechtsstaat und seine sozialen Siche-rungssysteme geschaffen wie im Rentenrecht. Millionenvon Rentnern in den neuen Bundesländern erhieltenerstmals eine Rente, die in etwa ihrer Lebensarbeitsleis-tung entsprach. Sie wurden so aus einer sozialen Rand-lage befreit, in der sie sich vorher über Jahrzehnte quasials Almosenempfänger von Politbüro-Gnaden befanden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir ein be-sonderes Anliegen, wenige Monate vor dem zehntenJahrestag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionnoch einmal daran zu erinnern. Worum geht es bei derzugegeben nicht ganz einfachen Materie? Es geht umdie Anerkennung der historisch gewachsenen Ansprücheund Anwartschaften der Beschäftigten der DeutschenReichsbahn auf Altersversorgung, vergleichbar der be-trieblichen Altersversorgung bei der früheren DeutschenBundesbahn. Die Besonderheit der Altersversorgung derDeutschen Reichsbahn lag darin begründet, dass es sichVizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8395
um eine Gesamtversorgung, bestehend aus einem Anteilder Sozialpflichtversicherung und einem aus demDienstverhältnis resultierenden Versorgungsanteil, han-delte. Die Reichsbahner hatten ab 1956 Anspruch aufeine erhöhte Sozialpflichtversicherungsrente. Die darauszu erzielende höchste Versorgungsleistung – inAbhängigkeit der Anzahl absolvierter Dienstjahre – lagmit 800 Mark um bis zum 1,8fachen höher als dieallgemeine Sozialpflichtversicherung mit ihrer Bemes-sungsgrenze von 600 Mark. An dieser gesetzlich garan-tierten höheren Rentenversorgung änderte sich auchnichts mit der Einführung der freiwilligen Zusatzrenten-versicherung FZR, im Jahre 1971. Änderungen ergabensich erst mit der Eisenbahnerverordnung von 1974, mitder die Bewertungskriterien für die Versorgungsleistun-gen modifiziert wurden. An die Stelle der nach Dienst-jahren bemessenen Prozentsätze des anrechnungsfähigenTariflohnes trat die Einführung eines jährlichen Steige-rungssatzes von 1,5 Prozent.Für die Rentenberechnung ist aus heutiger Sicht ent-scheidend, dass die bis dahin erworbene Altersversor-gung der Beschäftigten im Zuge von Günstigkeits-berechnungen letztendlich mit oder ohne Beitritt zurFZR erhalten blieb. Für die Eisenbahner war es deshalbweder rechtlich geboten noch faktisch notwendig, ihreAnwartschaften auf eine erhöhte Sozialversicherungs-rente durch Beitritt zur freiwilligen Zusatzrentenversi-cherung und Zahlung von eigenständigen entsprechen-den Beiträgen aufrechtzuerhalten.
Das Bundessozialgericht hat in seinen bereits er-wähnten Entscheidungen angesichts dieser Gegebenhei-ten der Eisenbahnerversorgung auf der Grundlage gel-tenden Rechts auf eine Höherbewertung der Altersver-sorgung erkannt. Die bisherige Begrenzung des für dieRentenberechnung zu berücksichtigenden Arbeitsver-dienstes auf 600 Mark ist danach aufzugeben. Vielmehrist nach § 256 a SGB VI der reale Monatslohn zugrundezu legen. Vergleichbares gilt übrigens für die Beschäf-tigten bei der Deutschen Post.
Meine Damen und Herren, die Rentenversicherungs-träger sehen diese Entscheidungen des Bundessozialge-richtes über die entschiedenen Einzelfälle hinaus nichtals bindend an. Weiterhin stellen sie sich auf den Stand-punkt, Entgelte oberhalb von 600 Mark nur zu berück-sichtigen, insoweit auch Beiträge zur FZR abgeführtworden sind. Es bedarf nicht viel Vorstellungskraft, umnachzuvollziehen, was dies für das Rechtsvertrauen vonTausenden von Reichsbahnern bedeuten muss.
Wir sind der Meinung, dass die Haltung der Renten-versicherungsträger korrigiert werden muss und die Be-rechnung der Altersrenten für alle Reichsbahner nachMaßgabe des Urteils erfolgen muss.
Dabei sehen wir auch durchaus die sich daraus ergeben-den schwierigen finanziellen Probleme für die gesetzli-che Rentenversicherung. Nach Schätzung der BfA wä-ren bei Bahn und Post ungefähr 130 000 Personen voneiner solchen Regelung betroffen. Die zusätzlichen Be-lastungen würden sich auf ungefähr 130 Millionen DMjährlich belaufen. Diese finanzielle Belastung allein kann nach meinemRechtsverständnis jedoch keine Rechtfertigung dafürsein, dass berechtigte, durch das zuständige oberste Bun-desgericht bestätigte Ansprüche auf Dauer negiertwerden. Wenn die Rentenversicherungsträger nicht zueiner dem Bundessozialgericht folgenden Haltung zubewegen sind, ist die Bundesregierung gefordert, denReichsbahnern durch eine gesetzliche Klarstellung in§ 256 a SGB VI zu ihren berechtigten Rentenansprüchenzu verhelfen. Besonders schwer wiegt aus Sicht der Reichsbahner,dass bislang keine Überführung der Altersversorgungder Deutschen Reichsbahn in bundesdeutsches Rechtstattgefunden hat. Dabei ist der Erwerb von Ansprüchenund Anwartschaften aus der betrieblichen Altersversor-gung der Deutschen Reichsbahn überhaupt nicht um-stritten. Dies wird auch von der Bundesregierung in derAntwort auf unsere Kleine Anfrage auf Drucksache14/1426 so gesehen. Jedoch seien – so die Bundesregie-rung in ihrer Antwort – die Ansprüche aus der be-trieblichen Altersversorgung 1974 in die Sozialversiche-rung überführt worden und von daher nicht mit der Zu-satzversorgung für Beschäftigte der Deutschen Bundes-bahn vergleichbar. Ich denke, dass die von der Eisenbahnergewerkschaftvorgelegten Dokumente und Unterlagen genügend An-halt dafür bieten, diese Sichtweise noch einmal einer kri-tischen Überprüfung zu unterziehen. Wie gesagt war die Altersversorgung der Reichsbahnseit 1956 als eine durch Umlageverfahren finanzierteGesamtversorgung ausgestaltet, bestehend aus einemAnteil der allgemeinen Sozialpflichtversicherung undeinem diesen ergänzenden Versorgungsanteil. Dement-sprechend wurden bei der Rentenberechnung durch dasMinisterium für Verkehrswesen beide Teile getrennt be-rechnet und auch getrennt ausgewiesen. Den Sozial-pflichtanteil erhielt die Reichsbahn von der Sozialversi-cherung erstattet. Die Aufwendungen für den Versor-gungsanteil wurden als Beitragsleistung der Arbeitneh-mer in Form von einbehaltenem Lohn vom ArbeitgeberDeutsche Reichsbahn getragen. Bei dieser gesonderten Ausweisung der Anteile bliebes auch ab 1974 mit der neuen Eisenbahnerverordnung.Die Finanzierung erfolgte von da ab in voller Höhe ausdem Staatshaushalt, wurde aber, was den Versorgungs-anteil anbelangt, durch die sich aus der Kostensenkungbei der Deutschen Reichsbahn resultierenden erhöhtenGewinnabführungen an den Staatshaushalt abgesichert. Im Zuge der Zusammenführung der Deutschen Bun-desbahn und der Deutschen Reichsbahn zur DeutschenBahn AG ist im Eisenbahnneuordnungsgesetz der Fort-bestand der Zusatzversorgung für die Beschäftigtender Deutschen Bundesbahn gesichert worden. Für dieManfred Grund
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8396 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Reichsbahner unterblieb eine entsprechende Regelung,trotz vieler struktureller Parallelen zu der Versorgungder ehemaligen Bundesbahner. Wir sind der Auffassung,dass dieser Sachverhalt in seiner Eigenheit im Interesseder Betroffenen noch einmal ruhig und sachlich im Aus-schuss und hier im Parlament aufgearbeitet werden soll-te.
Es macht wenig Sinn, dass alle Parteien in Gesprä-chen mit den Eisenbahnern ihr Verständnis für deren Si-tuation signalisieren, dass sich aber in der Substanz rela-tiv wenig bewegt. Wir sollten deshalb gemeinsam dieKraft für eine befriedende und befriedigende Lösungfinden. Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Wir reden heute über den Antragder Fraktion der CDU/CSU zur Schaffung eines ein-heitlichen Versorgungsrechts für die Eisenbahner.Nun muss ich sagen, dass schon allein der Titel irrefüh-rend ist. Speziell zielt der Antrag auf die Verbesserungder Alterssicherung ehemaliger Beschäftigter der Deut-schen Reichsbahn und der Deutschen Post ab. Sie von der CDU/CSU-Opposition fordern zum ei-nen, dass bei der Berechnung der Renten dieser Perso-nen Arbeitsverdienste auch oberhalb von 600 DM ange-rechnet werden sollen, ungeachtet dessen, ob Beiträgezur freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt wur-den. Zum anderen kritisieren Sie – Herr Grund hat esauch schon vorgetragen – , dass historisch gewachseneund rechtmäßig erworbene Ansprüche und Anwartschaf-ten aus der Altersversorgung der Deutschen Reichsbahnbislang nicht in bundesdeutsches Recht überführt wor-den seien.Bevor ich mich nun in der Sache äußere, möchte ichmein großes Erstaunen über diesen CDU/CSU-Antragzum Ausdruck bringen, auch wenn Ihnen das vielleichtnicht gefällt. Das Renten-Überleitungsgesetz ist dierechtliche Grundlage für ein einheitliches Rentenrecht inganz Deutschland. Dieses Renten-Überleitungsgesetz istam 20. Juni 1991 vom Deutschen Bundestag be-schlossen worden. Sie erinnern sich doch hoffentlichnoch, dass sich die Regierungskoalition seinerzeit ausCDU/CSU und F.D.P. zusammensetzte. Regiert hat die-se Koalition bis Herbst 1998, als der Wähler sie auf dieOppositionsbänke schickte.
Sie hatten also in all diesen Jahren durchaus mehrfachdie Möglichkeit, das Anliegen, das Sie in Ihrem jetzigenAntrag vom 18. Januar 2000 vortragen, rechtlich zu re-geln. Oder welchen Zeitraum verstehen Sie unter „histo-risch“? Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, dass sowohlin der 12. als auch in der 13. Legislaturperiode dierentenrechtliche Situation der ehemaligen Beschäftigtender Deutschen Reichsbahn von verschiedener Seiteproblematisiert worden ist. Wir von der SPD-Fraktionhatten uns zuletzt 1996 im Bundestag dafür eingesetzt,den in den Beschäftigungszeiten, die im Zeitraum vonMärz 1971 bis Dezember 1973 bei der DeutschenReichsbahn oder bei der Deutschen Post angefallen sindtatsächlich erzielten Arbeitsverdienst bei der Rentenbe-rechnung – unabhängig von der Zahlung von Beiträgenzur freiwilligen Zusatzrentenversicherung – zu berück-sichtigen. Obwohl die entsprechenden Forderungen vonden Betroffenen nicht nur an uns, sondern auch an diedamalige Regierungskoalition herangetragen worden sind, also an den der heutigen Antragsteller, haben Siesich in Ihrer Regierungszeit nicht dafür ausgesprochen.Es hat keine Mehrheiten für die Verbesserung derrentenrechtlichen Situation der entsprechenden Personen-gruppe gegeben, obwohl es sich nur um ein kleinesProblem gehandelt hat. Damals haben Sie den Antrageinfach abgeschmettert und heute wollen Sie sozusagendie Rächer der Enterbten spielen. Ich denke, das werdenIhnen die Leute so nicht durchgehen lassen.
Inzwischen hat das Bundessozialgericht – auch HerrGrund hat darauf hingewiesen – sechs Revisionen ausdem Bereich der Rentenversicherung der Angestellteneinschließlich des Rechts der Rentenüberleitung und desRechts der Überführung von Anwartschaften aus Zu-satz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligenDDR entschieden. Im Kern ging es in diesem Verfahrendarum, in welcher Höhe die in der ehemaligen DDR vordem 1. Juli 1990 aus entgeltlicher Beschäftigung erziel-ten Arbeitsverdienste von Beschäftigten der DeutschenReichsbahn oder der Deutschen Post bei der Ermittlungder persönlichen Entgeltpunkte für eine Rente nachdem Sozialgesetzbuch VI rechtserheblich sein können.Umstritten war vor allem die Frage, ob Arbeitsver-dienste, soweit sie über 600 Mark monatlich betragenhaben, auch dann als in der Pflichtversicherung versi-chertes Arbeitsentgelt zugrunde zu legen sind, wenn dieBeschäftigten von der Möglichkeit der Beitragszahlungzur freiwilligen Zusatzrentenversicherung keinenGebrauch gemacht haben.Die Rentenversicherungsträger haben die Rechtspra-xis, Entgelte oberhalb von 600 DM für ehemalige Bahn-und Postangehörige nur dann zu berücksichtigen, wennBeiträge zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung ge-zahlt worden sind. Die Urteile des Bundessozialgerichtslaufen darauf hinaus, die Kläger ebenfalls so zu stellen,auch wenn sie keine Beiträge zur Freiwilligen Zusatz-rentenversicherung gezahlt haben.Wenn Sie nun, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, sich Ihre frühere Beurteilung des Sach-verhaltes in Erinnerung rufen, dann müssen Sie sicher-lich feststellen, dass die Urteile nicht der Zielsetzung desGesetzgebers beim Rentenüberleitungsgesetz entspre-chen; denn für die Ermittlung der persönlichen Entgelt-punkte aus Arbeitsverdiensten im Beitrittsgebiet solltenManfred Grund
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8397
ausschließlich die tatsächlich erzielten Arbeitsverdiensteund Einkünfte maßgebend sein, für die im Rahmen derbestehenden Beitragsbemessungsgrenzen Beiträge zurSozialversicherung, einschließlich der freiwilligen Zu-satzrentenversicherung, gezahlt worden sind.Die Rentenversicherungsträger sehen nun die zu die-sem Sachverhalt getroffenen Entscheidungen des Bun-dessozialgerichts nicht als ständige Rechtsprechung anund haben deshalb nur die Einzelurteile umgesetzt. Klarist jedoch allen Beteiligten, dass die durch die Recht-sprechung entstandene Situation auf Dauer nicht alstragfähige Lösung angesehen werden kann.Wir werden deshalb so schnell wie möglich Regelun-gen schaffen, die den Willen des Gesetzgebers in Bezugauf die Urteile des Bundessozialgerichtes vom10. November 1998 rechtlich klarstellen. Herr Grund,die von der SPD in der Vergangenheit dazu vertretenePosition wird dabei nicht unberücksichtigt bleiben.
Bereits jetzt kann ich jedoch sagen, dass es für dieSchaffung eines neuen Versorgungsrechts ein Aufgrei-fen der 1956 in der ehemaligen DDR eingeführten be-trieblichen Altersversorgung keine gesetzliche Handha-be gibt; denn beide Versorgungssysteme sind bereits1974 in die Sozialversicherung der ehemaligen DDRüberführt worden.Die Geltungsdauer der damaligen Vertrauensschutzbe-stimmungen ist durch den Einigungsvertrag auf den 31. Dezember 1991 begrenzt worden. Einen darüber hi-nausgehenden Vertrauensschutz für Versicherte regeltdas Renten-Überleitungsgesetz. Nun stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass der Eini-gungsvertrag eine erneute Überführung der Ansprücheund Anwartschaften in die gesetzliche Rentenver-sicherung oder in das Tarifrecht des öffentlichenDienstes erfordert. Dazu möchte ich feststellen, dassdies einfach nicht zutreffend ist. Wenn Sie sich einmalältere Drucksachen aus Ihrer Regierungszeit zu Gemüteführen, in denen beispielsweise Fragen von Abgeordne-ten der jetzigen Regierungskoalition beantwortet wur-den, dann werden Sie feststellen, dass der damalige Par-lamentarische Staatssekretär Kraus dieses am 23.September 1997 in einer Antwort auf eine Frage auch sodargestellt hat. Vielleicht sehen Sie sich das noch einmalan. Mich wundert nämlich schon, dass Sie hier jetzt ganzandere Positionen vertreten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir erscheint es vordiesem Hintergrund sinnvoll, die inhaltliche Diskussionüber Ihren Antrag im Rahmen des bevorstehenden Ge-setzgebungsverfahrens wieder aufzugreifen. Ich hatte jagesagt: Eine Klärung ist notwendig, die Bundesregie-rung arbeitet daran. Wir werden in den Ausschussbera-tungen und hier im Parlament die Argumente noch aus-tauschen. Meine Bitte wäre, nicht ganz nach dem Prin-zip zu verfahren: Was gebe ich auf das, was ich gesterngesagt habe? Vielmehr sollten Sie sich auch das nocheinmal genau anschauen, was Sie damals vertreten ha-ben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lotz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?
Nein, ich möchte sie jetzt nicht
mehr zulassen. Ich denke, andere Kolleginnen und Kol-
legen möchten auch noch reden. Wir können die Debatte
dann ja im Ausschuss fortführen und uns dort austau-
schen.
Ich danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Manfred
Grund.
Frau Kollegin, was in
der Vergangenheit sowohl von Ihrer als auch von unse-
rer Seite gesagt wurde, kann sich durchaus sehen lassen.
Ich habe mir schon die Mühe gemacht, einmal in den
Unterlagen der letzten Jahre nachzuschauen, was sowohl
von unserer Seite als auch von Ihrer Seite zu diesem
Thema kam. Ich habe damals noch im Bundestag in
Bonn dazu gesagt, dass bei der Überführung der Alters-
versorgung der Reichsbahner eine Regelungslücke ent-
standen ist, die geschlossen werden sollte.
Ich habe auch davon gesprochen, dass aufgeschoben
nicht gleich aufgehoben ist und wir in der jetzigen
Wahlperiode das Thema auf die Agenda setzen wollten.
Damals hat von Ihrer Seite die Kollegin Rennebach
gesprochen und gesagt – das kann sich durchaus sehen
lassen, wenn Sie bei der Abfolge bleiben würden –:
Die SPD vertritt die berechtigten Anliegen der Be-
schäftigten der Reichsbahn und Post. In unserem
Gesetzentwurf vom Mai 1995 zur Novellierung der
Rentenüberleitung haben wir rentenrechtliche Be-
rücksichtigung des vollen Arbeitsentgelts im Zeit-
raum vom 1. März 1971 bis 30. Juni 1990 verlangt,
weil Reichsbahner und Postbeschäftigte – mit we-
nigen Ausnahmen – angesichts der zugesagten Ver-
sorgungsansprüche keine Beiträge zur FZR gezahlt
haben.
Wenn man die Reden in diesem Kontext sieht, muss
man sagen: Die Regierung hat gewechselt, die Stich-
wortgeber sind die gleichen geblieben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lotz,
zur Erwiderung, bitte.
Herr Grund, ich will es einfachwiederholen: Sie hatten seit 1991 – ich sage an der Stel-le nicht: seit 16 Jahren – und vor allen Dingen, nachdemErika Lotz
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die Betroffenen die Anliegen vorgetragen hatten, Gele-genheit, dies zu tun. Das haben Sie nicht gemacht. Ichhatte vorhin ja auch gesagt, dass unser Anliegen, alsodas, was die SPD-Fraktion in der Vergangenheit vertre-ten hat, auch Berücksichtigung finden wird. Ich weiß garnicht, warum Sie diese Kurzintervention hier jetzt nochgemacht haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Irmgard Schwaetzer für die
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser kurze Wort-
wechsel hat schon deutlich gemacht, wie schwierig es
ist, die in der DDR entstandenen Rentenanwartschaften
nach den Prinzipien des alten, gewachsenen westdeut-
schen Rentenrechtes zu übertragen. Wir haben uns in all
den Jahren sehr schwer damit getan. Mit dem heute zu
debattierenden Problem haben sich in der vergangenen
Legislaturperiode alle Fraktionen beschäftigt. Ich er-
wähne hier besonders die Kollegin Dr. Gisela Babel,
aber auch die Kollegin Pieper und den Kollegen Lühr,
die immer wieder versucht haben, diese Frage, die nach
unserer Auffassung unbefriedigend geregelt war, einer
Lösung zuzuführen.
In einem Punkt möchte ich Sie, liebe Frau Lotz, noch
ergänzen. Natürlich kann man sich immer darauf zu-
rückziehen, dass man das seit 1991 hätte anders regeln
können. Aber jetzt gibt es einen Anlass, nämlich das Ur-
teil des Bundessozialgerichtes vom November 1998.
Das war nach dem Regierungswechsel.
Insofern ist es durchaus folgerichtig, dass das Thema
jetzt wieder hier auf den Tisch kommt. Sie haben gesagt,
die Regierung denke nach. Das ist immer gut. Aber wir
möchten schon sehr schnell wissen, wo dieses Nachden-
ken enden wird.
Die F.D.P. wird sich auf der Grundlage dieses Urteils
dem berechtigten Anliegen der Eisenbahner nicht ver-
schließen.
Auch die Bundesregierung hat im Übrigen schon im
letzten Jahr auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU zu-
treffend darauf hingewiesen, dass mit dem Urteil des
Bundessozialgerichts – sie hat es nicht auf die Einzelfäl-
le beschränkt und sich damit erkennbar nicht der Inter-
pretation der Rentenversicherungsträger angeschlossen,
dass das Urteil nur auf die vor dem Bundessozialgericht
verhandelten Fälle anzuwenden sei – offensichtlich auch
Einkommen über 600 Mark rentenrechtlich zu werten
seien, selbst wenn keine Beiträge zur freiwilligen Zu-
satzrentenversicherung gezahlt worden sind.
Insofern wünsche ich mir, Frau Mascher, dass Sie
heute die Zusage geben, dass die Bundesregierung an
der in ihrer Antwort im Juli des letzten Jahres gegebenen
Haltung festhält. Natürlich muss dann geklärt werden,
wie diese Zeiten finanziert werden. Dabei sollte sie al-
lerdings berücksichtigen, dass, auch wenn hier kein Ge-
nerationenvertrag vorliegt, eine Finanzierung gefunden
werden kann, wie es zu anderen Zeiten bei in die Ren-
tenversicherung übernommenen Lasten auch schon ge-
macht worden ist.
Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass
sich die F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiode
schon hätte vorstellen können, dass es andere Lösungen
für diese Frage gibt.
Wir haben immer wieder angeregt, dass dieses Anliegen
der Eisenbahner in den Tarifverträgen Berücksichti-
gung findet oder dass Ansprüche gegenüber dem Bun-
deseisenbahnvermögen geltend gemacht werden können.
Beides wäre eine tragfähige Lösung gewesen. Allerdings
haben sich die Gewerkschaften um dieses berechtigte
Anliegen der Eisenbahner nicht gekümmert. Insofern ist
jetzt der Gesetzgeber am Zuge.
Wir werden den Antrag der CDU/CSU unterstützen.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HelmutWilhelm.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Anträge von CDU/CSU und PDS sind aufdie Umsetzung der Rechtsprechung des Bundessozialge-richts vom 10. November 1998 zur rentenrechtlichenBewertung von Beschäftigungszeiten bei der DeutschenReichsbahn und darüber hinaus auch der Deutschen Postin der ehemaligen DDR gerichtet. Gefordert wird ausGründen der Gleichbehandlung mit ehemaligen Bundes-bahn- und Bundespostmitarbeitern und zur Überführungder Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssys-temen die Überleitung der Altersvorsorge dieses Perso-nenkreises in bundesdeutsches Recht.Das Bundessozialgericht hat am 10. November 1998entschieden, in welcher Höhe die in der DDR erzieltenArbeitsverdienste bei der Berechnung einer Rente nachdem Sechsten Buch des Sozialgesetzbuches rechtserheb-lich sein können. Diese Frage war im Übrigen auch Ge-genstand einer Petition, über die der Petitionsausschussdes Bundestages im September 1999 zu entscheiden hat-te. Hierbei wurde einstimmig beschlossen, die Petitiondem Bundesarbeitsminister als Material zu überweisen,weil der Ausschuss hier Regelungsbedarf gesehen hat.Das Bundesarbeitsministerium wird eine Gesetzesinitia-tive zur gesetzlichen Klarstellung der sich aus den Urtei-Erika Lotz
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8399
len des Bundessozialgerichts ergebenden Fragen initiie-ren. Die Einbeziehung von Ansprüchen ehemaligerReichsbahnmitarbeiter in die Zusatzversorgung derDeutschen Bundesbahn bzw. der Deutschen Bahn AGist dabei allerdings nicht möglich, weil diese nach demEisenbahnneuordnungsgesetz – das ebenso wie dasRenten-Überleitungsgesetz unter der CDU/CSU-Ägidezustande gekommen ist – nur auf die Arbeitnehmer An-wendung finden kann, die vor Gründung der DB AGdort versichert waren.Auch im Einigungsvertrag gibt es für diese Forde-rung keine Grundlage. Das Bundesverfassungsgerichthat im Übrigen nicht etwa entschieden, dass im Bei-trittsgebiet erworbene Ansprüche aus Zusatz- oder Son-derversorgungen der Eigentumsgarantie des Art. 14Grundgesetz unterliegen, sondern es hat klargestellt,dass Art. 14 erst mit dem Beitritt der DDR nach Maßga-be des Einigungsvertrages zum Tragen kommt.Die Bundesregierung wird also eine Gesetzesinitiati-ve zur Klarstellung des Rahmens der Entscheidung desBundessozialgerichtes ergreifen. Dies wird sie auch fürdie Beschäftigten der Deutschen Post entsprechend tun.Die Forderung zwei im CDU/CSU-Antrag kommt aberhierbei nicht in Betracht; denn diese käme der Neuschaf-fung einer zusätzlichen Sicherung für ehemalige Be-schäftigte von Reichsbahn und Deutscher Post gleich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Monika Balt für die PDS-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Ausgangssituation für
unseren Antrag war, dass die Beschäftigten der Deut-
schen Reichsbahn und der Deutschen Post in der DDR
historisch gewachsene Ansprüche auf eine Altersversor-
gung erworben haben. Im Prozess der deutschen Einheit
wurden aber keinerlei Regelungen zur Weitergewährung
der erworbenen Ansprüche und Anwartschaften getrof-
fen. Das muss ja wohl die damalige Bundesregierung
veranlasst haben.
Wohl aber wurde das Vermögen der Deutschen Reichs-
bahn, aus dem die Beiträge rechtmäßig gezahlt wurden,
in das Bundesvermögen überführt. Ein Schelm, der Bö-
ses dabei denkt.
Nun haben ehemalige Beschäftigte von Reichsbahn
und Post zum einen eine Lücke in der rentenrechtlichen
Anerkennung ihrer Einkünfte nach dem SGB VI. Zum
anderen berücksichtigt das bundesdeutsche Rentenrecht
nicht ihre Versorgungsansprüche. Trotz der Entschei-
dung des Bundessozialgerichtes – im Urteil wird die
Fehlerhaftigkeit der bis dahin praktizierten Rentenbe-
rechnung eindeutig nachgewiesen – handeln die Renten-
versicherungsträger nicht danach. Die Rechtsprechung
durch das Bundessozialgericht sei noch nicht gefestigt.
Außerdem argumentierten sie mit einer fehlenden
Erstattungsregelung durch den Bund.
Das Bundessozialgericht entschied auch für die Be-
schäftigen, die am 1. Januar 1974 nicht der freiwilligen
Zusatzrentenversicherung beitraten, dass deren Ein-
kommen über 600 Mark bei der Rentenberechnung zu
berücksichtigen seien. Mit dem Urteil sollte die Un-
gleichbehandlung in der Alterssicherung gegenüber den
Kolleginnen und Kollegen der bundesdeutschen Bahn
und Post beseitigt werden. Die Altersversorgungsan-
sprüche der Bundesbahner wurden ja schon beispielhaft
gesichert; eine befriedigende und gerechte Regelung für
die Reichsbahner steht aber immer noch aus.
Deshalb fordert die PDS-Fraktion die Bundesregie-
rung auf, bis spätestens 30. September 2000 eine rechtli-
che Regelung vorzulegen, welche die rentenrechtlichen
Ansprüche der Reichsbahner und Postler in vollem Um-
fange berücksichtigt. Darüber hinaus müssen Versor-
gungsregelungen geschaffen werden, die die Ansprüche
und Anwartschaften aus den Versorgungsordnungen der
Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post entspre-
chend anerkennen. Eine Anspruchsberechtigung soll
rückwirkend ab 1. Juli 1990 für alle hiervon Betroffenen
gelten.
Die Finanzierung kann durch den Bund erfolgen, da
die Sondervermögen der Deutschen Reichsbahn und der
Deutschen Post nach der Einheit zu Bundesvermögen
wurden. Außerdem ist das Bundeseisenbahnvermögen
für die finanzielle Sicherung einzusetzen. Bei Bahn und
Post darf es im gleichen Betrieb keine Ungleichbehand-
lung in der Altersversorgung geben. Deshalb muss das
Gleichbehandlungsprinzip für Ost und West endlich
Realität werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/2522 und 14/2729 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN Einbürgerungsverfahren human gestalten – Einbürgerungshindernisse beseitigen – Drucksachen 14/1757, 14/2565 – Berichterstattung: Abgeordnete Lilo Friedrich
Helmut Wilhelm
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8400 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Meinrad Belle Marieluise Beck
Dr. Max Stadler Ulla JelpkeNach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-leginnen und Kollegen Lilo Friedrich, Wolfgang Zeitl-mann, Marieluise Beck, Max Stadler, Ulla Jelpke unddie Parlamentarische Staatssekretärin Dr. CornelieSonntag-Wolgast haben ihre Reden zu Protokoll gege-ben.*) Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Wir kommen deshalb gleich zur Beschlussempfeh-lung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktio-nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Gestal-tung des Einbürgerungsverfahrens auf Drucksache14/2565. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 14/1757 anzunehmen. Wer stimmt für die-se Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmender CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zurErleichterung der Verwaltungsreform in denLändern
– Drucksache 14/640 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/2797 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Hans-Otto Wilhelm
Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra PauHierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-leginnen und Kollegen Michael Bürsch, Hans-Otto Wilhelm.**) Ekin Deligöz, Max Stadler, Petra Pau undder Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körperhaben ihre Reden zu Protokoll gegeben.***)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den Ge-setzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der Ver-waltungsreform in den Ländern in der Aus-schussfassung. Dies betrifft die Drucksachen 14/640 und14/2797. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen __________*) Anlage 3 **) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor ***) Anlage 4von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache14/2801 vor, über den wir zuerst abstimmen. Werstimmt für den Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange-nommen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung mit der soeben beschlossenen Änderung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktionbei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, trotz der in der zweitenBeratung angenommenen Änderungen unmittelbar in diedritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies mitder erforderlichen Mehrheit beschlossen. Wir kommen damit zur dritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktionbei Enthaltung der Fraktion der CDU/CSU angenom-men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Pass- und Personalausweisrechts – Drucksache 14/2726 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war fürdie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-leginnen und Kollegen Rüdiger Veit, Wolfgang Bos-bach, Cem Özdemir, Max Stadler, Petra Pau sowie derParlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper ha-ben auch hierzu ihre Reden zu Protokoll gegeben.*)Deshalb kann ich an dieser Stelle bekannt geben, dassinterfraktionell die Überweisung des Gesetzentwurfs aufDrucksache 14/2726 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten CarstenHübner, Dr. Barbara Höll, Heidi Lippmann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeitmit Kuba im Jahr 2000 – Drucksache 14/2263 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung
Auswärtiger Ausschuss__________*) Anlage 5Vizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8401
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei diePDS ein Redezeit von fünf Minuten erhalten soll. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeCarsten Hübner für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich war deswegen dagegen,die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokollzu geben, weil die Ministerin Kuba im Mai einen erstenBesuch abstatten will. Dies wird der erste Besuch einesdeutschen Ministers auf Kuba seit der Revolution sein.Ich war auch deshalb dagegen, weil es sich dabei wohlweniger um einen Anstands- als um einen Arbeitsbesuchhandeln wird. Warum sollte das Parlament vor diesemHintergrund darauf verzichten, der Ministerin eine erstePositionsbestimmung mit auf den Weg zu geben bzw.hier ihre Meinung und ihre Pläne abzufragen – und seies anhand unseres Antrages?Ich persönlich bin daran interessiert, weil die Ministe-rin seit Ihrem Amtsantritt in dieser Frage in der Öffent-lichkeit eine konsequente Haltung eingenommen hat undsich zudem andeutet, dass die Koalitionsfraktionen indieser Frage ebenfalls eine parlamentarische Initiativeanstreben werden. Doch nun zum Antrag selbst: Ich erwarte nicht, dassgerade aufseiten der CDU/CSU ein großer Jubel bezüg-lich Inhalt und Charakter unseres Antrages ausbrechenwird. Ich erwarte jedoch, dass hier nicht mit gespaltenerZunge geredet wird, dass nicht mit zweierlei Maß ge-messen wird.
Es ist richtig und auch von uns nicht zu bestreiten,dass die Menschenrechtslage auf Kuba in vielen Berei-chen problematisch ist. Es gibt politische Gefangene, ei-ne restriktive Justiz inklusive der Todesstrafe, Ein-schränkungen der Meinungsfreiheit und anderer demo-kratischer Rechte. Dies zu sagen und anzumahnen, mei-ne Damen und Herren, ist auch für uns eine Selbstver-ständlichkeit.
Aber es muss ebenso eine Selbstverständlichkeit sein,dies nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit zu tunund auch nach diesem Gebot zu reagieren und gegebe-nenfalls zu sanktionieren. Da befindet sich die Bundes-republik im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der-zeit noch in einer erheblichen Schieflage, die allein ideo-logisch motiviert ist. Anders ist es nicht zu erklären, dass es seit langerZeit bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit undenge politische Beziehungen mit Staaten wie Nigeria,Indonesien, Kolumbien usw. gibt. Selbst mit dem Südaf-rika der Apartheid waren enge ökonomische Beziehun-gen die Praxis, während Kuba bis heute bewusst abge-koppelt bleibt, obwohl die dortige Menschenrechtslagebei aller Kritik ungleich besser ist als etwa in den ange-sprochenen Ländern. Dieser Widerspruch muss endlichüberwunden werden.
Zweitens. Die Verwirklichung von sozialen und wirt-schaftlichen Menschenrechten ist auf Kuba trotz des in-zwischen international geächteten Wirtschaftsembargosder USA und erheblicher ökonomischer Einbrüche nachdem Ende des RGW weitaus fortgeschrittener als in denumliegenden Ländern der Region. Ich nenne hier nur dasSchul- und Universitätssystem oder das Gesundheitswe-sen. Das gilt es anzuerkennen und gleichzeitig dafür zusorgen, dass mit entwicklungspolitischen Maßnahmeneine Erosion dieser Errungenschaften und der weitereVerfall der Infrastruktur aufgehalten und ins Gegenteilverkehrt wird.In diesem Prozess die Rolle der Zivilgesellschaft, derKirchen und weiterer gesellschaftlicher Akteure zu stär-ken ist eine Kernforderung unseres Antrags.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kuba ist ein ganzbesonderer Fall. Es kann aus vielerlei Gründen ein über-aus interessantes entwicklungspolitisches Modell sein.Ich will hier nur einige Aspekte nennen.Erstens. Die Befürworter dieses Projektes reichen vonOlaf Henkel über die Bundesregierung bis hin zu Kir-chenvertretern. Andere westliche und lateinamerkani-sche Länder sind trotz des Drucks der USA bereits aktiv.Es gibt also gesellschaftsübergreifend und internationaleine ganze Reihe von Partnern.Zweitens. Das, was in vielen Entwicklungsländernerst mühevoll entstehen muss – ich nannte als Beispieldas flächendeckende Gesundheits- und Bildungswe-sen –, ist in seiner Struktur bereits etabliert und mussdeshalb lediglich reformiert und gefördert werden.Drittens. Kuba ist bereits jetzt trotz aller Problemebereit, anderen Ländern Hilfe zu leisten. Ich nenne nurden Schuldenerlass gegenüber Nicaragua nach derMitch-Katastrophe, immerhin 50 Millionen US-Dollar,die Ausbildung von Ärzten und Technikern aus Ent-wicklungsländern oder den Einsatz kubanischer Ärzte invielen armen Ländern der Region und auch in Afrika.
Viertens. Die Menschenrechtslage ist ein strukturellesProblem. Reformen sind unabdingbar. Dennoch habenwir es nicht mit einem verselbstständigten Militär- oderPolizeiapparat mit den entsprechenden Konsequenzen zutun. Das gilt es bei Reformvorhaben hervorzuheben. Dasmacht Hoffnung auf einen Erfolg partnerschaftlichenDialogs und Engagements.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sieschlicht darum bitten, unseren Antrag sachlich zu disku-tieren, mehr nicht. Damit wäre in diesem Land und fürdie Menschen auf Kuba schon viel gewonnen.Danke.
Vizepräsidentin Petra Bläss
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8402 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben Glück, dass soviele Reden zu Protokoll gegeben worden sind, sodasswir die Zeit nun wunderbar für die Debatte nutzen kön-nen.Bereits im letzten Jahrtausend hat die Ministerin dieEntwicklungszusammenarbeit mit Kuba verkündet,nämlich am 17. Dezember, wenn ich mich recht erinne-re. Das heißt, wir gehen schon einer neuen Zeit entge-gen, aber jetzt muss noch Butter bei die Fische kommen.Kuba, ein Land mit 11 Millionen Einwohnern, lebtzunehmend vom Tourismus sowie vom Zuckerrohr-,Tabak- und Kaffeeanbau. Nach dem Zusammenbruchder kommunistischen Diktaturen in Zentral- und Osteu-ropa und dem weitgehenden Entzug der Unterstützungdurch die betreffenden Länder sieht sich Kuba nach wievor großen wirtschaftlichen und sozialen Problemenausgesetzt. In Kuba gibt es keine parlamentarische, pluralistischeDemokratie. Vielmehr herrscht ein die politischenGrund- und Freiheitsrechte verletzendes System mit ei-nem die Bevölkerung überziehenden Überwachungs-netz. Die Planwirtschaft führt auch in diesem Land zuIneffizienz und Mangel, zur Verschwendung von Ar-beitskraft, Material und Rohstoffen sowie zu weitgehen-der Lähmung von Eigeninitiative und Kreativität.Auf der anderen Seite hat Kuba eine Reihe von ent-wicklungspolitischen Erfolgen aufzuweisen: Die Kin-dersterblichkeit ist niedriger, als sogar in manchen In-dustrieländern, alle Kinder und Jugendlichen haben kos-tenlosen Zugang zu Bildung und Ausbildung, die Le-benserwartung ist mit 76 Jahren etwa so hoch wie in derBundesrepublik Deutschland, sie liegt ein bisschen da-runter. Das, was in der Entwicklungszusammenarbeit alszentral angesehen wird, nämlich die Befriedigung derGrundbedürfnisse, war in Kuba weitgehend gelungen,ist jedoch jetzt, nach dem Zusammenbruch der osteuro-päischen Diktaturen, aber auch durch das 1962 verhäng-te US-Embargo, aufgrund ausbleibender Hilfen in vielenBereichen infrage gestellt.Richtig ist auch, dass sich Castro gegen Veränderun-gen wehrt, wie sie etwa in Zentral- und Osteuropa statt-gefunden haben und noch immer stattfinden. Aber ohnepolitische und wirtschaftliche Reformen und eine sievon außen unterstützende Politik wird es keine durch-greifende, auf Dauer tragfähige Verbesserung der Le-benssituation der kubanischen Bevölkerung geben.
Nachhaltige Entwicklung braucht diese unterstützen-de Politik von außen. Deswegen begrüßt es die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, dass die Bundesre-gierung, insbesondere die Leitung des BMZ, beschlos-sen hat, erstmals die offizielle EZ mit Kuba aufzuneh-men.
Frau Ministerin, Sie bekommen in dieser Frage unserevolle Unterstützung.
Im „Spiegel“ vom 7. Februar dieses Jahres habe ichunter der Überschrift „Heide bei Fidel“ zur Aufnahmeder Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba gelesen:Der entwicklungspolitische Sprecher derCDU/CSU-Fraktion im Bundestag– ich sehe ihn leider nicht –Klaus-Jürgen Hedrich geißelt das Vorhaben als„bewusste Stärkung eines Gewaltregimes“. Die„Hofierung eines Diktators mit Millionen deutscherEntwicklungsgelder“ stehe in eklatantem Wider-spruch zur Menschenrechtspolitik der Bundesregie-rung.Kollege Hedrich – ich kann ihn jetzt leider nicht an-sprechen –, das ist schade. Es geht nicht um die Hofie-rung eines Diktators, sondern schlicht darum, durch dieEntwicklungszusammenarbeit zum demokratischenWandel auf Kuba beizutragen, indem auch oppositio-nelle Gruppen auf Kuba unterstützt werden.Denn es waren doch gerade die oppositionellen Grup-pen, die uns im Vorfeld der Entscheidung bestätigt ha-ben, dass auch sie sich von der Aufnahme der bilateralenEntwicklungszusammenarbeit längerfristig positive ge-sellschaftliche und politische Impulse erhoffen. Diesnehmen wir ernst und dies setzen wir um. Ein weiterer Aspekt zur vorgetragenen Kritik: Unterder alten Bundesregierung gehörte die VolksrepublikChina mit zu den größten Empfängern deutscher Ent-wicklungshilfe. Man kann ja wohl kaum sagen, dassChina ein Musterland der Demokratie sei, wo Partizipa-tion und Menschenrechte groß geschrieben werden. Ichdenke, das hier postulierte Beispiel ist ein eklatantesBeispiel für Doppelmoral.
Kollege Spranger sprach heute Morgen davon, dassMenschenrechtsverletzungen in Kuba verharmlost wer-den, um die Entscheidung der zuständigen Ministerinnicht zu diskreditieren. Ich denke, er hat nicht verstan-den, was es bedeutet, ein Land zu unterstützen, das aufeinem sehr holprigen Wege zur Demokratie ist, und wasEntwicklungszusammenarbeit in diesem Zusammenhangleisten kann.
Er hat heute Morgen auch noch andere Dinge über Kubagesagt, die ich besser nicht wiederhole. Denn dies wären
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8403
wieder Beispiele für Doppelmoral und die wollen wir jahier nicht noch zahlreicher werden lassen.
Viele Länder – Frankreich, Spanien, Italien oder auchKanada – haben längst mit der Entwicklungszusammen-arbeit mit Kuba begonnen. Wir sind da etwas spät dran,aber nicht zu spät. Die Vorgängerregierung hat ebennicht auf praktischen Realismus gesetzt, wie er bereitsbei anderen Regierungen, Wirtschaftsverbänden, Nicht-regierungsorganisationen und Stiftungen anzutreffen ist.Gleichwohl stelle ich fest: Wir können nicht davon aus-gehen, dass sich die Situation in Kuba kurzfristig ver-bessert. Aber über welches andere Entwicklungslandkönnen wir das schon sagen? Es wäre sicherlich aucheine Illusion, wenn wir auf Kuba mit den nun avisiertenMitteln weit reichende Bewegungen auslösen könnten. Dennoch sage ich: Eine weitere Blockade von Kubawäre verkehrt. Die Politik des Embargo und der Isolie-rung, ausgehend besonders von den USA, hat keineVeränderungen bewirken können. Sie trägt vielmehr zurinneren Verhärtung bei. Der politische Dialog und dieAufnahme von entwicklungspolitischen Beziehungen zuKuba sind daher der einzig richtige Weg, um mittel- undlangfristig Fortschritte zu erreichen. Nur durch einen ak-tiven Beitrag von unserer Seite können wir zu einemfriedlichen Wandel auf Kuba beitragen.
Überdies stand in Art. 29 des Einigungsvertrages,dass die gesamtdeutsche Regierung verpflichtet ist, diegewachsenen außenwirtschaftlichen Strukturen der Be-ziehungen der alten DDR unter Berücksichtigung der In-teressen aller Beteiligten und unter Beachtung markt-wirtschaftlicher Grundsätze sowie der Zuständigkeitender Europäischen Gemeinschaften fortzuentwickeln undauszubauen. Die Regierung Kohl hat sich daran nichtgehalten. Auch deshalb sollte die Bundesregierung mit zu jenenStaaten gehören, die einen positiven Wandel in Kubaunterstützen. Sie ist meines Erachtens dazu verpflichtet. Schon in früheren Legislaturperioden sind Delegatio-nen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammen-arbeit in Kuba gewesen. Ziel der Reise, so heißt es ineinem Reisebericht, war es nicht, dort Entwicklungspro-jekte zu besuchen, sondern Möglichkeiten der Aufnah-me der Entwicklungszusammenarbeit im Hinblick aufdie Kriterien der Bundesregierung und im Hinblick aufdie diesbezüglichen Beschlüsse des Deutschen Bundes-tages zu prüfen. Eine Veränderung der Situation durcheine wirtschaftliche Öffnung – auch durch Ent-wicklungshilfe aus Deutschland – ist als wahrscheinlichanzusehen. Das wurde schon 1986 geschrieben. Wir sindjetzt dabei, dies zu realisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dasssich die damalige Leitung des Hauses diese Positionnicht zu Eigen gemacht hat. Wir könnten heute zumBeispiel in der Förderung der Zivilgesellschaft weitersein, als wir es sind.
Dies betrifft einen weiteren Punkt, die konkrete Pro-jektarbeit. Die Bundesregierung startet ihre Zusammen-arbeit mit Kuba mit einem Umweltschutzprojekt. Da-mit steht die Bundesregierung nicht nur im Einklang mitdem Bundestagsbeschluss von 1993, in dem die Umweltals eines von möglichen Zusammenarbeitsfeldern mitKuba ausdrücklich erwähnt worden ist. Sie bewegt sichmit ihrer Neuausrichtung auch auf einer Linie mit demgemeinsamen europäischen Standpunkt von 1996, derim November 1999 bestätigt und bekräftigt wurde. Wie sehr sich die Rahmenbedingungen sowohl poli-tisch als auch wirtschaftlich geändert haben, zeigt auchder Besuch einer Delegation des BDI und des Ibero-Amerika-Vereins in Kuba im letzten Jahr. Die Delegati-on wurde im Übrigen von Olaf Henkel angeführt – wirhaben das schon gehört –, wobei ich davon ausgehe,dass sich das ganze Haus sicher ist, dass der BDI-Präsident nicht zur Hofierung eines Diktators nach Kubareiste. Henkel hat nur weniger Berührungsängste als dieCDU. – Vielleicht raucht er auch gern Havannas; dasmüssen wir ihn einmal fragen.
In der Pressemitteilung des BDI vom 7. Mai des letz-ten Jahres heißt es, dass der kubanische Markt ein inte-ressanter Zukunftsmarkt sei, den wir uns sichern soll-ten. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischenBlocks – so heißt es weiter – habe Kuba 85 Prozent sei-nes Handels mit den sozialistischen Ländern verloren.Jetzt geht der Handel in umgekehrter Richtung. „Heuteist die Europäische Union Kubas wichtigster Wirt-schaftspartner.“Und weiter heißt es: Die Bedingungen für ein deutsches Engagementsind auch deswegen gut, weil rund 30 000 Kubanerin der ehemaligen DDR gearbeitet oder studiert ha-ben und Deutsch sprechen. Dieses Pfund sollten wir nutzen. Vor dem Hintergrund der Globalisierung, liebe Kol-leginnen und Kollegen, sollte nicht nur die deutscheWirtschaft auf Kuba aktiv werden; gerade die Politik,insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit, solltediesen Prozess ebenfalls positiv begleiten.Im Januar war ich zusammen mit dem KollegenKraus und dem Kollegen Günther in Kuba. Wir habendabei in verschiedenen Gesprächen mit offiziellen Ge-sprächspartnern auf bekannte kritische Positionen zuAspekten der kubanischen Politik hingewiesen und dazuStellung genommen, was politische Rechte und Bürger-rechte angeht. Wir waren uns auch einig in der Ableh-nung jeglicher Isolations- und Konfrontationspolitik –wir alle drei –, wie ja gerade auch die vorgesehene Auf-nahme amtlicher Entwicklungszusammenarbeit zeigt.Wir haben zugleich darauf hingewiesen, dass auch Kubagefordert ist, für den gewünschten Aufbau insbesondereder Wirtschaftsbeziehungen die erforderlichen Rahmen-bedingungen zu schaffen. Adelheid Tröscher
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8404 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Einig war sich die Delegation aber vor allem in einemPunkt: Auch bei fortbestehenden Differenzen mit Kuba– etwa im Bereich der politischen Bürgerrechte – gibt eseine große Bereitschaft zur Intensivierung der Zu-sammenarbeit. Die jetzige neue Situation ermöglicht esder Politik auch, die schon jetzt auf Kuba arbeitendenNichtregierungsorganisationen und Stiftungen verstärktzu unterstützen. Ich nenne hier die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung oder die Deut-sche Welthungerhilfe, den DAAD und die Humboldt-Stiftung. Wir als Entwicklungspolitiker haben allenGrund, stolz auf die Stiftungen und auf die NGOs zusein, die dort ihre Arbeit tun und im Vorfeld der Ent-scheidung der Ministerin schon sehr, sehr gute Arbeitgeleistet haben, auf der sie aufbauen kann. Auch in unserem Gespräch mit Kardinal Ortegakam deutlich zum Ausdruck, dass er sich einefortgesetzte Zusammenarbeit des Auslandes mit Kubawünsche, denn diese trage zu Veränderungen zunächstim wirtschaftlichen Bereich bei, die auf längere Sichtauch politische Veränderungen mit sich brächten.Auch das Gespräch mit Vertretern nicht zugelassenerParteien sowie mit Menschenrechtsorganisationen zeigteÜbereinstimmung darin, dass die Gesprächsteilnehmereine fortgesetzte und intensivere Zusammenarbeit desAuslands mit Kuba wünschen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer dies alles be-denkt und die Realitäten richtig einschätzt, der kann nurzu dem Urteil gelangen, dass die Aufnahme der entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit mit Kuba der richtigeund zukunftsweisende Weg ist. Die jetzige Entscheidungder Bundesregierung, den Start der Beziehungen mit ei-nem bilateralen entwicklungspolitischen Umwelt-schutzprojekt zu beginnen, ist von GTZ und DED sorg-fältig vorbereitet worden. Mit der Entwicklungsmaß-nahme unterstützt die Bundesrepublik Deutschland denkubanischen Aktionsplan gegen Wüstenausbreitung undDürre. Es sind dies konkrete Pilotmaßnahmen gegenVersalzung, gegen Bodenerosion und zum Schutz derUfer des größten kubanischen Flusses, des Rio Cauto.Beteiligt werden an dem Projekt auch kubanische Nicht-regierungsorganisationen und nicht organisierte Bauern.Dies ist eine von uns allen gewollte Stärkung der Zi-vilgesellschaft. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möch-te ich nochmals auf den Disput eingehen, – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, das
müssten Sie ganz, ganz kurz machen, denn Ihre Redezeit
ist schon vorbei.
Ja, das mache ich jetzt
ganz kurz. Ich bin gleich fertig. Ach so, da ist schon ein
Minuszeichen vor der Zeit! Das habe ich nicht gesehen.
Ich bin gleich fertig.
Der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Ka-
tholischen Deutschen Bischofskonferenz, der von uns al-
len geschätzte Limburger Bischof Franz Kamphaus, der
sehr viel für die Entwicklungszusammenarbeit getan hat,
hat in einer Stellungnahme eindeutig Position zugunsten
eines Besuchs bezogen. Laut Bischof Kamphaus steht
Kuba seit Jahren im Blick kirchlichen Interesses. Es sei
daher ausdrücklich zu begrüßen, wenn nun das staatliche
Interesse an dem Land wachse. Ich kann dazu nur sagen:
Der Bischof ist ein kluger, aufgeschlossener Mann, und
wo er Recht hat, hat er Recht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nur noch einmal zur
Erläuterung an alle: Bei der Redezeit ist alles nach der
Null minus.
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt die Kol-
legin Erika Reinhardt.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entwicklungspolitikist ja nicht nur ein Instrumentarium zur direkten Behe-bung von Not und Elend; vielmehr ist Entwicklungspoli-tik auch ein politisches Instrument mit dem Ziel Hilfezur Selbsthilfe. Sicherlich ist Kuba, die größte Insel derGroßen Antillen, eine sehr wichtige Region und hat si-cherlich auch Bedeutung; das ist gar keine Frage. Ichwar selber in Kuba und habe erlebt, was sich dort entwi-ckelt hat und was nicht. Es war natürlich auch in derVergangenheit richtig, Gespräche zu führen, Kuba zubesuchen und den Versuch zu unternehmen, zu einerZusammenarbeit zu kommen. In erster Linie muss esaber unser Ziel sein, die Nichtregierungsorganisationenzu unterstützen. Der Deutsche Bundestag, also dieses Parlament, hatam 14. Januar 1993 einen Beschluss gefasst, der immernoch seine Gültigkeit hat. Da heißt es: Die Zusammen-arbeit mit Kuba ist so zu gestalten, dass sie nicht als Un-terstützung der dortigen Diktatur verstanden werdenkann. – Der vorliegende Antrag der PDS missachtet die-sen Beschluss und hat nur ein Ziel: nämlich eine Dikta-tur zu unterstützen. Denn die PDS will nicht Hilfe fürdie Kubaner, sondern Solidarität mit einem der letztenkommunistischen Dinosaurier dieser Erde.
Die PDS fordert die Aufnahme offizieller – ich betoneimmer wieder: offizieller – Entwicklungszusammenar-beit mit Kuba. Damit man auch gleich weiß, was zu tunist, schlägt die PDS natürlich Projekte in Sektoren wieInfrastruktur, Umwelt, Energie, Gesundheitsvorsorge,Agrarproduktion und Bildung vor, also ein Rundumpa-ket, mit dem man den Staat von außen wieder aufbauenmöchte.
Begründet wird das Ganze mit der Versorgungskrise inKuba, die durch das US-Wirtschafts- und Handelsem-bargo ausgelöst worden ist. Adelheid Tröscher
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8405
Nur damit das klar ist: Ich halte Embargos grund-sätzlich nicht für Erfolg versprechend, weil solche Maß-nahmen es dem Diktator – oder dem Staatsmann – imGrunde genommen ermöglichen, die Verantwortung, dieeigentlich er hat, ins Ausland zu schieben, anderen zu-zuschieben und zu sagen: Ich bin ja eigentlich nichtschuld; nur die sind schuld, weil sie mich boykottieren.– Ich halte nichts von Embargos, weil sie wenig verän-dern.Sie von der PDS verschweigen, dass die Krise in Ku-ba in erster Linie durch interne Faktoren verursachtwurde: durch eine kurz vor dem Staatsbankrott stehendePlanwirtschaft – machen wir uns da nichts vor –, ein to-talitäres Einparteiensystem, Menschenrechtsverletzun-gen und durch Unterdrückung der individuellen Bürger-rechte und Grundfreiheiten.
– Das ist schon ein Unterschied, liebe Kollegin Tröscher– wir sind nicht auf einem Auge blind – China hat zu-mindest freie Wahlen.
Kuba ist jedenfalls die letzte klassische Diktatur.
Verstehen Sie mich bitte richtig: Eine offizielle bila-terale Entwicklungszusammenarbeit kann es nicht ge-ben, solange sich die Rolle des Staates nicht verändertund solange nicht einmal ein kleiner Schritt auf demWeg zur Demokratisierung zugelassen wird.
Was wir wollen, ist die Unterstützung auf nicht-staatlicher Ebene, bei den Kirchen, Stiftungen – das istschon angesprochen worden – und sonstigen Nichtre-gierungsorganisationen. Das ist Hilfe. Dort wird guteArbeit geleistet und den Kubanern im Grunde genom-men geholfen. Seit Jahrzehnten machen dies die Stiftun-gen, die Kirchen und die Zivilgesellschaft dort.
Die relative Unabhängigkeit dieser Entwicklungshilfevon diplomatischen und administrativen Zwängen staat-licher Regierungspolitik bietet die Chance zu direkterHilfe, auch ohne das System politisch aufzuwerten. Siehelfen eher, den Umbruch des totalitären Einparteiensys-tems in Richtung eines demokratischen Mehrparteien-systems zu beschleunigen, indem die Menschenrechteund die Beteiligung der Bevölkerung am politischenMeinungsprozess ausreichend Beachtung finden. Des-wegen ist diese Art der Hilfe die bessere.Es war Minister Spranger, der in Kuba in den letztenJahren auf nichtstaatlicher Ebene sinnvolle Kooperati-onsansätze wie Beratungsprojekte der politischen Stif-tungen, der Kirchen und der Nichtregierungsorganisati-onen initiiert hat. Die rot-grüne Regierung hat aber ge-nau in diesem Bereich der Entwicklungshilfe den Nicht-regierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen dieMittel im Haushalt massiv gekürzt und die Zahl derPartnerländer soll wesentlich reduziert werden. Sozusagen im Gegenzug kündigt nun die MinisterinWieczorek-Zeul die Aufnahme der offiziellen bilatera-len Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba an: Alsoauf der einen Seite steht wieder ein Land mehr, aber aufder anderen Seite werden Mittel abgebaut. Als ersteMaßnahme schlägt die Ministerin ein Projekt zur Wüs-tenbekämpfung in Höhe von 11 Millionen DM vor. Ichdachte zuerst, das wäre ein Karnevalsscherz. Aber nein,die Ministerin meint es ernst.In der Entwicklungspolitik gibt es klare Vorgaben,um mit Empfängerländern eine offizielle Entwicklungs-zusammenarbeit aufzunehmen. Der vom ehemaligenMinister Spranger entwickelte Kriterienkatalog fürdie Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit istauch von Ihnen, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul,akzeptiert worden. In Kuba, einem der letzten kommu-nistischen Zwangsregime dieser Erde, ist keines der fünf Kriterien erfüllt. Ich erläutere Ihnen diese Kriteriensehr gern noch einmal; denn es scheint, dass einigeEntwicklungspolitiker in den Reihen von PDS, SPD und auch der Bündnisgrünen diese vergessen haben.
In Kuba wird die Bevölkerung nicht an der politi-schen Willensbildung beteiligt. Es existieren wederRechtsstaatlichkeit noch Rechtssicherheit.
– Das ist so. Die Wirtschaftsordnung orientiert sich nichtam Markt.
Das Handeln Fidel Castros ist nicht entwicklungsorien-tiert. Kuba unterhält nach wie vor eine der größten Ar-meen Lateinamerikas. Bei solchen Dingen sind Sie sonstimmer sehr skeptisch, aber hier scheint das keine Rollezu spielen.
Und schließlich: Die Menschenrechte werden von FidelCastro mit Füßen getreten.Die nun von Ministerin Wieczorek-Zeul angekündig-te Aufnahme der offiziellen bilateralen Entwicklungszu-sammenarbeit mit Kuba steht daher in eklatantem Wi-derspruch zu den elementarsten Grundsätzen deutscherEntwicklungszusammenarbeit und manövriert Deutsch-land in ein entwicklungspolitisches Glaubwürdigkeitsdi-lemma.
Das, was die rot-grüne Regierung hier beabsichtigt, istein verhängnisvoller Einschnitt in der deutschen Ent-wicklungspolitik, ich würde sogar sagen: in der deut-schen Außenpolitik. Erika Reinhardt
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8406 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
Nebenbei bemerkt: Sie müssen sich schon die Fragegefallen lassen, warum Sie Österreich zukünftig in denbilateralen Beziehungen wie ein halbautoritäres Ent-wicklungsland behandeln wollen,
während der Diktator Castro von Ihnen auf dem diplo-matischen Parkett hofiert wird. Aber zurück zu Kuba: Es ist nicht so, als habe sichaußer Ihnen bislang noch niemand mit der Frage offi-zieller entwicklungspolitischer Beziehungen zu Kubaauseinander gesetzt. Im Gegenteil! Aber die vergange-nen Versuche, mit dem Regime in Kuba ins Gespräch zukommen, sind alle gescheitert, weil die kubanischeStaatsführung strikt am Ziel der zentralen Lenkung vonStaat, Wirtschaft und Gesellschaft festhält, weil Kubaam Einparteiensystem festhält, weil Kuba die Meinungs-und Pressefreiheit nicht zulässt. Das war genau das Bild,das wir auch 1996 von Kuba hatten. Ich sage noch einmal: Wir sind zur Zusammenarbeitbereit. Ich halte es für sinnvoll, dass man mehr im Be-reich der Nichtregierungsorganisationen macht. Da müs-sen Sie Geld zur Verfügung stellen, aber nicht auf staat-licher Ebene.
„Die Rolle des Staates bleibt eben unangefochten, dassozialistische System soll beibehalten werden“, sosprach Fidel Castro noch vor wenigen Wochen. Das Ziel einer verantwortungsvollen Entwicklung-spolitik ist: Demokratisierung, Marktöffnung, Beach-tung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerungan politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit undRechtssicherheit. Die PDS würde mit ihrem Antrag ge-nau das Gegenteil dessen bewirken.
– Ich habe ihn ganz genau gelesen. Mir ist kein Satzentgangen. – Mit der offiziellen Aufnahme der Entwick-lungszusammenarbeit mit Kuba kommt es zur Aufwer-tung einer der letzten Diktaturen dieser Erde und zurVerlängerung der Unterdrückung und der Not des kuba-nischen Volkes.
Ich betone nochmals: Zusammenarbeit ja, aber keinestaatliche, sondern eine auf der Ebene der Stiftungen,Kirchen und Nichtregierungsorganisationen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird nicht nur den Antragder PDS ablehnen, sondern auch weiterhin wachsambleiben,
wenn Alt-68er die deutsche Entwicklungspolitik zu ei-nem Instrument der internationalen Solidarität mitkommunistischen Diktaturen degradieren wollen. Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt der Kollegin Heidemarie
Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Heute ist nicht die Zeit – ich sage
an die Adresse der CDU: auch nicht der Anlass –, in ei-
ner Regierungserklärung zu der Frage der Entwick-
lungsarbeit mit Kuba zu sprechen. Das werden wir in ei-
ner eigenen entwicklungspolitischen Debatte tun und
dann unsere Position im Detail darstellen. Ich wollte nur
an die Adresse der Kollegin gerichtet, die vor mir ge-
sprochen hat, etwas zitieren und damit meine Position
zum Ausdruck bringen – ich hoffe, Sie stimmen dieser
Position auch zu –:
Die Frage ist doch, auf welche Weise wir die Men-
schenrechte am wirksamsten fördern können. Und
deshalb muss die Antwort die Gegebenheiten in
den Partnerländern berücksichtigen. Die Maßstäbe,
die wir dabei anwenden, sind weltweit die gleichen.
Wenn ... abzusehen ist, dass sich die Lage der Men-
schenrechte alleine durch Druck von außen kaum
verbessern lässt, ist es sinnvoller, mit gemeinschaft-
lich vereinbarten Programmen Reformen von innen
zu unterstützen.
Ich teile diese Position. Wir wollen mit Programmen
von innen Reformen bewegen. Bezogen auf China ist
das die Position, die der damalige Minister Spranger in
einem Papier zur Frage der Entwicklungszusammenar-
beit im Zusammenhang mit den Menschenrechten bezo-
gen hat.
Da muss ich ehrlich sagen: In solchen Fragen verbitte
ich mir wirklich eindrücklich diese Art von Doppelzün-
gigkeit und Heuchelei, die da an den Tag gelegt wird.
In Bezug auf China hat die frühere Regierung im Be-
reich der Entwicklungszusammenarbeit in manchen Jah-
ren Mittel in Milliardenhöhe zur Verfügung gestellt.
Jetzt geht es bei Kuba zunächst einmal um
3 Millionen DM. Ich fordere Sie auf, nicht nur in Bezug
auf das jetzt diskutierte Thema, sondern auch in Bezug
auf andere Fragen – vielleicht erinnern Sie sich ein
Stück an Ihre Geschichte – solche Unterstellungen, die
den Positionen widersprechen, die Sie selbst zur Frage
der Menschenrechte eingenommen haben, zu unterlas-
sen.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung er-teile ich das Wort der Frau Kollegin Reinhardt, bitte. Erika Reinhardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8407
Frau Ministerin, Sie
haben natürlich korrekt zitiert. Nur sollten Sie berück-
sichtigen, dass sich „von innen“ – was wir immer gesagt
haben – auf Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und
Stiftungen bezieht. Mit dem, was Sie jetzt vorhaben, be-
schreiten Sie einen ganz anderen Weg. Auch den Ver-
gleich mit China halte ich für falsch, denn in China –
dort gefällt uns vieles nicht und ich würde mir wün-
schen, dass manches schneller geht – waren zumindest
klare Anzeichen einer schrittweisen Demokratisierung
vorhanden.
– Das mag Ihnen gefallen oder nicht, aber es ist so. Je-
denfalls hat man freie Wahlen zugelassen.
In Kuba sind selbst die Nichtregierungsorganisationen
an den Staat gebunden. Und das ist der Unterschied.
Deshalb glaube ich, dass unser Weg, nämlich Nichtre-
gierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen zu un-
terstützen, der richtige ist. Im Staat Kuba selbst muss
sich aber auch etwas bewegen, damit man erkennt, dass
überhaupt ein Wille da ist, den Weg der Demokratisie-
rung zu gehen, nämlich die Zivilgesellschaft an dem
Prozess zu beteiligen. Das ist bisher nicht der Fall.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Hans-Christian Ströbele.
Kollegen! Ich hatte eigentlich von der Kollegin
Reinhardt erwartet, dass sie mir erläutert – das haben Sie
mir über die Bänke hinweg versprochen –, wieso man
durch eine technische Zusammenarbeit in einem sinn-
vollen Projekt ein Regime hofiert und auf dem diploma-
tischen Parkett gesellschaftsfähig macht, wieso es aber
etwas anderes ist, wenn man als Oberhaupt der katholi-
schen Kirche nach Kuba fährt, Fidel Castro umarmt und
küsst. Was der Unterschied zwischen diesen beiden
Verhaltensweisen ist, das wollten Sie mir eigentlich er-
klären. Ich glaube, selbst Sie hätten von diesem Podium
aus den Papst nicht kritisiert, oder?
Ich möchte nicht über Kuba reden, ohne die Vergan-
genheit Kubas und auch meine Vergangenheit, die mit
Kuba zu tun hat, zu erläutern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ströbele, bevor Sie das tun, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Abgeordneten Weiß?
Ich gehöre zu denen, die überhaupt keinen Hehl dar-aus machen und auch gar nicht verbergen wollen, dasssie einmal große Hoffnungen in Fidel Castro und diekubanische Revolution gesetzt haben. Ich gehöre zu de-nen, die auch in Berlin mit dem Slogan auf der Straßewaren: Kuba si, Yankee no! Damit wollten wir einefreie, unabhängige und unbeeinflusste Entwicklung inKuba. Und wir wollten den Krieg der USA gegen Kubabrandmarken – Schweinebucht und Ähnliches. Heute stelle ich aber fest – und das fehlt mir ein biss-chen in dem Antrag und bei der Argumentation der PDS –, dass man der Wahrheit und der Realität im heuti-gen Kuba ins Auge schauen muss. Denn leider ist FidelCastro bei allen Verdiensten, die er sicherlich in derDritten Welt erworben hat, heute ein autoritärer Dikta-tor, der es zulässt, dass in seinem Land Menschenrechteverletzt werden, und der demokratische Entwicklungen – jedenfalls die Entwicklung eines Mehrparteien-systems – nicht zulässt und der – da haben Sie sicherRecht – keine Rechtssicherheit gewährt. Aber unsere Hoffnungen haben sich damals auf Kubagerichtet, weil es das einzige Land Lateinamerikas war,in dem es tatsächlich gelungen ist, das Analphabetentumnachhaltig zu bekämpfen; in dem es tatsächlich gelun-gen ist, für die gesamte Bevölkerung eine Gesundheits-versorgung zu garantieren, wie es in keinem der anderenLänder Lateinamerikas der Fall war; in dem es möglichwar; – und ich habe mir das selber angeschaut –, jedemKleinkind in einem karibischen, also tropischen Landeinen halben Liter Milch pro Tag zu geben. Das konnteman sehen; das war von der DDR dort eingeführt wor-den. Und in dem Land ist es heute noch so, dass keineMenschen an Hunger sterben, anders als in vielen ande-ren Ländern Lateinamerikas. Das muss man zunächsteinmal zur Kenntnis nehmen.
Und wenn man das weiß und wenn man die verhäng-nisvolle und negative Entwicklung in Kuba beobachtet,muss man natürlich die Frage stellen: Woher kommtdas? Hat das Embargo, hat die US-Politik, hat die PolitikEuropas, die zu einer Isolierung Kubas beigetragen ha-ben, vielleicht auch etwas damit zu tun, dass eine solcheabgeschottete Entwicklung in diesem Land möglich ge-wesen ist, sodass es unabhängig und unbeeindruckt vomNiedergang der realsozialistischen Staaten nach wie vorund in dieser Weise existiert? Um damit Schluss zu machen, sollte man die Isolati-on durchbrechen. Damit befinden wir uns nicht nur aufder Seite des Papstes und der kirchlichen Organisatio-nen, die uns das empfehlen – diese sind für mich nichtimmer Vorbild –, sondern wir befinden uns damit auchauf der Seite der Europäischen Union, die meiner An-sicht nach zu Recht gefordert hat, dass man eine techni-sche Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisatio-nen in Kuba organisiert, dass man dort fördert, dassNGOs überhaupt entstehen können, weil dies im her-
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8408 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
kömmlichen Sinne dort gar nicht möglich ist. Sie for-dert, dass man so etwas fördert, dass man diese Projektefinanziell unterstützt und Ansätzen dazu Hoffnungmacht. Vielleicht gelingt es durch eine solche Politik, die denRealitäten ins Auge schaut und die natürlich auch diedortigen Fehlentwicklungen benennt, Einfluss in Kubazu gewinnen – für eine andere, eine friedliche Entwick-lung zu einem anderen Kuba, zu einer anderen Gesell-schaftsordnung, ohne dass dann das passiert, was vielebefürchten, ohne dass die Contras aus den USA, ausFlorida herüberkommen und all das dort wieder instal-lieren, wogegen die kubanische Revolution einmal ange-treten ist und damals zu Recht angetreten war.
Das wollen wir mit unseren Partnern in der EU er-reichen. Wir sagen natürlich auch den offiziellen Vertre-tern Kubas und Fidel Castro: Wir erwarten von ihnen,dass sie zu demokratischen Verhältnissen finden unddass sie die Menschenrechte achten. Das wird Begleit-musik zu dieser technischen Zusammenarbeit mit Kubasein. Jeder weitere Schritt, auch zu offiziellen Beziehun-gen, die ich grundsätzlich für die Zukunft bejahe, mussdavon abhängig sein, dass Fortschritte in diesen Berei-chen gemacht werden. Wenn wir das überall immer anmelden, dann kanndie Durchbrechung der Isolation zu einer besserenGesellschaftsordnung in Kuba führen, die all das, waswir sonst in Lateinamerika in Diktaturen beobachten,feststellen und kritisieren müssen, in Zukunft vermeidetund in der das Horrorbild der Contras von Florida aufkeinen Fall Wirklichkeit wird, nämlich die Wiederer-richtung einer Diktatur in Kuba, wie sie vorher unter Ba-tista bestand.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
was das BMZ angedacht hat, richtig: dass wir die tech-
nische Zusammenarbeit aufnehmen und damit mit unse-
ren EU-Partnern einen wichtigen Schritt nach vorne ma-
chen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Joachim Günther für die
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich könntesagen, wir können es kurz machen: Im Prinzip hat sichder PDS-Antrag überholt. Die Entwicklungszusammen-arbeit mit Kuba wird trotz aller Bedenken, die wir aufMenschenrechtsebene haben, weitergeführt und zumTeil ausgeweitet. Aus Sicht meiner Partei geht es vor allem darum,Entwicklungshilfe auf solchen Gebieten zu leisten, aufdenen sie unmittelbar der Bevölkerung zugute kommt.Ich denke da an Landwirtschaft, an Ernährung. Aufdiesen Sektoren hat zum Beispiel die Deutsche Welt-hungerhilfe in Kuba bereits einiges vollbracht. Es geht darum, dass wir auf Gebieten etwas voran-bringen, bei denen es um unwiederbringbare Verlustebei Natur und Umwelt geht. Hierfür ist der Humboldt-Nationalpark ein sehr positives Beispiel. Es geht weiterum die Gefahr der Wüstenbildung in Ostkuba. Ich kannes mir ersparen, das weiter auszuführen, denn das hatKollegin Tröscher bereits ausführlich – in der Minuszeit,wie gesagt wurde – hier dargelegt. Aus Sicht der F.D.P.-Bundestagsfraktion bildet der sogenannte gemeinsame Standpunkt der Europäischen Union vom 2. Dezember 1996 die Grundlage der Gestal-tung der Beziehungen zwischen Deutschland und Kuba.Die EU verfolgt damit das Ziel, durch einen intensivenpolitischen Dialog den Prozess des Übergangs zu einerpluralistischen Demokratie, zur Achtung der Menschen-rechte und zu den Grundfreiheiten sowie eine nachhalti-ge Erholung und Verbesserung des Lebensstandards derkubanischen Bevölkerung zu ermöglichen. Zu diesem Dialog zählen wir auch die Entwicklungs-hilfe, die wir ungeachtet von Meinungsverschiedenhei-ten bei den Menschenrechten, bei der Situation der poli-tischen Gefangenen – auch das haben wir in Kuba ge-hört – und bei den rechtsstaatlichen Rahmenbedingun-gen fortsetzen wollen. Dies entspricht auch dem deut-schen Interesse an der Verbesserung der Lage in Kubasowie auch der Pflege von Beziehungen, die es zum ei-nen früher zwischen der DDR und Kuba gegeben hat, istaber zum anderen auch gegenüber den vielen Deutschsprechenden Kubanern gerechtfertigt, die ebenfalls einInteresse an einer intensiven Zusammenarbeit pflegen. Die Kubapolitik der USA, die von einflussreichenExilkubanern vorrangig mitgestaltet wird, ist wegen ih-rer Auswirkungen auf die kubanische Bevölkerung ausunserer Sicht kontraproduktiv. Sie fördert nicht den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft und erstrecht nicht den Übergang zu einer liberalen Wirtschafts-ordnung.
Diese Auffassung haben schon die frühere Bundesregie-rung und die Europäische Union den amerikanischenPartnern wiederholt mitgeteilt. Sie gilt, soweit ich daserkennen kann, auch für die neue Bundesregierung. Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Ku-ba – das haben Sie richtig dargelegt – fand bisher unter-halb der staatlichen Ebene statt. Die Bundesregierunghebt die Entwicklungshilfe auf die staatliche Ebene. Dasentspricht auch unseren Vorstellungen. Deshalb ist ausder jetzigen Sicht der Antrag der PDS eigentlich über-flüssig. Hans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8409
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2263 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des
Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und
See-Krankenkasse
– Drucksache 14/2764 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die
Kolleginnen und Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak,
Wolfgang Lohmann, Katrin Dagmar Göring-Eckardt,
Dr. Dieter Thomae sowie Dr. Ruth Fuchs haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.*) – Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2764 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zu über-
weisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit be-
reits am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 25. Februar, 9 Uhr,
ein. Ich wünsche Ihnen allen einen geruhsamen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.