__________
*) Anlage 6
Berichtigungen
88. Sitzung, Seite 8219 C; Absatz 3: Statt
„Werner Wittlich (SPD)“ ist „Werner Wittlich
(CDU/CSU)“ zu lesen.
89. Sitzung, Seite 8272 A, Liste der entschul-
digten Abgeordneten: Der Name „Bierling,
Hans-Dirk (CDU/CSU)“ ist zu streichen.
Joachim Günther (Plauen)
8410 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
(B)
(C)
(D)
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Altmaier, Peter CDU/CSU 24.02.2000
Dr. Blank,
Joseph-Theodor
CDU/CSU 24.02.2000
Dr. Brecht, Eberhard SPD 24.02.2000
Bühler (Bruchsal),
Klaus
CDU/CSU 24.02.2000*
Claus, Roland PDS 24.02.2000
Fischer (Berlin),
Andrea
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.02.2000
Frick, Gisela F.D.P. 24.02.2000
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 24.02.2000
Fuchs (Köln), Anke SPD 24.02.2000
Gebhardt, Fred PDS 24.02.2000
Gehrcke, Wolfgang PDS 24.02.2000
Haschke (Großhenners-
dorf ), Gottfried
CDU/CSU 24.02.2000
Homburger, Birgit F.D.P. 24.02.2000
Dr. Hornhues,
Karl-Heinz
CDU/CSU 24.02.2000*
Ibrügger, Lothar SPD 24.02.2000
Irmer, Ulrich F.D.P. 24.02.2000*
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 24.02.2000
Koppelin, Jürgen F.D.P. 24.02.2000
Lehder, Christine SPD 24.02.2000
Leidinger, Robert SPD 24.02.2000
Marquardt, Angela PDS 24.02.2000
Dr. Meyer (Ulm),
Jürgen
SPD 24.02.2000
Moosbauer, Christoph SPD 24.02.2000
Müller (Berlin),
Manfred
PDS 24.02.2000
Neumann (Gotha),
Gerhard
SPD 24.02.2000*
Ohl, Eckhard SPD 24.02.2000
Papenroth, Albrecht SPD 24.02.2000
Pflug, Johannes SPD 24.02.2000
Probst, Simone BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.02.2000
Rühe, Volker CDU/CSU 24.02.2000
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 24.02.2000
Schloten, Dieter SPD 24.02.2000*
Schmidt (Aachen),
Ulla
SPD 24.02.2000
Schmitz (Baesweiler),
Hans Peters
CDU/CSU 24.02.2000
Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 24.02.2000
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
CDU/CSU 24.02.2000
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 24.02.2000
Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
24.02.2000
Willner, Gert CDU/CSU 24.02.2000
__________
* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Klaus
Brähmig, Günter Nooke, Dr. Sabine Bergmann-Pohl,
Georg Jankovsky, Christa Reichard (Dresden),
Hans-Dirk Bierling, Arnold Vaatz, Clemens
Schwalbe, Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr.-Ing. Joachim
Schmidt (Halsbrücke), Ulrich Adam, Dr.-Ing. Paul
Krüger, Susanne Jaffke (alle CDU/CSU) zur Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Be-
schleunigung fälliger Zahlungen (Tagesordnungs-
punkt 5a)
Wir begrüßen, dass mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation
des Bauhandwerks erfolgt. Wir haben jedoch die große
Sorge, dass die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen
Regelungen insgesamt nicht zu einer wesentlichen Be-
schleunigung fälliger Zahlungen führen werden. Da der
Gesetzentwurf die wirklichen Probleme des Bauhand-
werks sinnvollen Lösungen nicht zuführt, werden wir
dem Entwurf insgesamt nicht zustimmen können, son-
dern uns enthalten.
Den in Art. 1 Nrn. 1, 2 und 7 sowie Art. 2 Abs. 3 und
4 getroffenen Regelungen können wir zustimmen.
Art. 1 Nr. 5 – § 641 Abs. 2 BGB –, Art. 2 Abs. 1 und
Art. 3 können unsere Zustimmung nicht finden. Die in
Art. 1 Nrn. 3, 4, in Art. 1 Nr. 5 – § 641 Abs. 3 –, Art. 1
Nr. 6 und Art. 2 Abs. 2 getroffenen Regelungen lehnen
wir ab, da sie zur Lösung des Problems nicht beitragen.
Die in Art. 1 Nr. 5 vorgenommene Streichung des im
Entwurf vorgesehenen neuen § 641 Abs. 4 BGB ist für
uns nicht hinnehmbar.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8411
(A)
(B)
(C)
(D)
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die im
Gesetzgebungsverfahren angekündigten Arbeiten an ei-
nem eigenständigen Bauvertrag, so wie es auch auf der
Justizministerkonferenz am 10. November 1999 be-
schlossen wurde, zügig fortzusetzen, um damit wenigs-
tens in absehbarer Zeit zu Verbesserungen für die Not
leidenden Handwerker zu kommen. Dazu sind
1. Arbeiten zur Schaffung eines gesonderten Bauver-
tragsrechts unverzüglich aufzunehmen;
2. das „Gesetz über die Sicherung von Bauforderun-
gen“ (GSB) zu modernisieren, welches die ord-
nungsgemäße Verwendung der innerhalb eines
Bauvorhabens fließenden Gelder durch das Bau-
buch absichern will;
3. die Überlegungen zur Schaffung eines prozessualen
Instruments (Voraburteil) fortzusetzen, das es dem
Richter ermöglichen soll, Handwerkern vorab eines
Teil der eingeklagten Forderung trotz vorgebrach-
ter Mängelrügen zuzusprechen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einbürgerungsver-
fahren human gestalten – Einbürgerungshin-
dernisse beseitigen (Tagesordnungspunkt 10 a)
Lilo Friedrich (Mettmann) (SPD): Seit acht Wochen
ist das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Mit die-
ser Reform haben wir ein deutliches Zeichen gesetzt,
dass Integration in Deutschland von einem modernen
Verständnis geprägt ist und unsere Gesetzgebung dem
Geist des zusammenwachsenden Europas entspricht.
Zu den wichtigsten Neuregelungen des Staatsangehö-
rigkeitsrechts gehört es, dass die Einbürgerungsfristen
verkürzt wurden und dass für Härtefälle eine verbesserte
Ausnahmeregelung bei der Hinnahme von Mehrstaat-
lichkeit geschaffen wurde. Nach jeder Pflicht steht be-
kanntlich die Kür auf dem Programm. Das heißt, dass
Buchstaben und Geist des neuen Staatsangehörigkeits-
rechts nun auch in den Verwaltungsvorschriften konse-
quent umgesetzt werden sollen, und zwar mit dem Ziel,
auch in der Praxis das Einbürgerungsverfahren human
zu gestalten und Einbürgerungshindernisse zu beseiti-
gen.
Mit unserem Antrag bitten wir deshalb die Bundesre-
gierung und die Bundesländer, im Zuge des Erlasses der
allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsange-
hörigkeitsrecht den Schwierigkeiten ausländischer Mit-
bürgerinnen und Mitbürger, insbesondere aus dem Iran
und der Bundesrepublik Jugoslawien, im Entlassungs-
verfahren gezielt Rechnung zu tragen.
Um welche Schwierigkeiten es sich hierbei handelt,
habe ich in der Plenarsitzung des Deutschen Bundesta-
ges am 4. November 1999 ausführlich dargelegt. Lassen
Sie mich die wichtigsten Punkte noch einmal rekapitu-
lieren.
Stichwort deutsch-iranisches Niederlassungsabkom-
men: In der Vergangenheit wurde manche Einbürgerung
von Iranern verzögert oder blockiert, weil die iranische
Seite ihre Zustimmung zur Einbürgerung versagt bzw.
Entlassungsanträge abschlägig beschieden oder nicht
bearbeitet hat.
Stichwort Jugoslawien: Bei jugoslawischen Einbürge-
rungsbewerbern treten besondere Schwierigkeiten bei
Staatsangehörigen der Bundesrepublik Jugoslawien, das
heißt Serbien und Montenegro, auf, weil die Entlas-
sungsgebühren unzumutbar hoch sind.
Für die deutschen Einbürgerungsbehörden ist es oft-
mals besonders schwierig, angesichts der nicht immer
nachzuvollziehenden Verwaltungspraxis einiger auslän-
discher Staaten wie zum Beispiel Iran und der Bundes-
republik Jugoslawien die Voraussetzungen für eine Ein-
bürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu be-
urteilen. Mit unserem Antrag wollen wir diesen Proble-
men begegnen und die Intention der Reform des Staats-
angehörigkeitsrechts auch in den Verwaltungsvorschrif-
ten konsequent umsetzen.
Auch nach dem alten Staatsbürgerschaftsrecht hat es
Ausnahmetatbestände gegeben, bei denen Mehrstaatig-
keit hingenommen wurde. Daher konnte ich Ihre Empö-
rung in Hinblick auf den vorliegenden Antrag nicht
nachvollziehen. Auch mit der Reform des Staatsangehö-
rigkeitsrechts herrscht weiterhin der Grundsatz zur
Vermeidung von Mehrstaatigkeit. Wenn jedoch die
Schwierigkeiten bestimmter ausländischer Mitbürger bei
ihren Entlassungsbemühungen das im Einzelfall zumut-
bare Maß überschreiten, soll dieser Grundsatz zurückge-
stellt werden. Dies ist bereits geltendes Recht nach § 87
Ausländergesetz.
Daher appelliere ich nicht nur an die Bundesregie-
rung und die Bundesländer, sondern auch an alle Frakti-
onen des Deutschen Bundestages, unserem Antrag zuzu-
stimmen, damit die Integration unserer ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger auch in praktischer Hin-
sicht umgesetzt und erleichtert werden kann.
Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Wir erleben hier
wieder einmal ein typisches Beispiel, wie Parlamentsar-
beit eigentlich nicht laufen sollte. Die Koalitionsfraktio-
nen haben sich im Zweifel lange darüber gestritten, bis
sie am 7. Oktober 1999 den hier in Rede stehenden An-
trag im Parlament einbrachten. Es dauerte dann drei
Monate, bis der Antrag im Innenausschuss behandelt
wurde, und nun steht er heute – einen Monat später – im
Plenum zur Debatte.
Der Antrag ist darüber hinaus inhaltlich falsch und
deplaciert; denn solche erwünschten länderspezifischen
Regelungen gehören nicht in Verwaltungsvorschriften,
sondern sollten durch Länderabsprachen aktuell geregelt
werden. Die Probleme mit der Republik Jugoslawien
scheitern doch daran, dass das dortige Regime für die
Entlassung aus der Staatsbürgerschaft 2700 DM pro
Kopf verlangt und derzeit noch entsprechende Zahlung
der ehemaligen jugoslawischen Staatsbürger vom EU-
Embargo gehindert werden.
8412 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
(B)
(C)
(D)
Die Probleme mit dem Iran liegen in der Weitergel-
tung des Niederlassungsabkommens von 1929, dessen
Aufhebung von deutscher Seite längst beschlossen ist.
Hier sollte man das Auswärtige Amt auffordern, auf die
iranische Seite einzuwirken, möglichst bald ihrerseits zu
ratifizieren.
Wer wie Sie in einem solchen Antrag das Wörtchen
„insbesondere“ verwendet, muss sich allerdings sagen
lassen, dass es sich hier nicht um präzise, konkrete
Schwierigkeiten, sondern um nebulöse Versuche geht,
über die Verwaltungsvorschriften vielleicht doch noch
den Weg zu einer generellen Hinnahme von Mehrstaat-
lichkeit zu erreichen.
Marieluise Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das neue Einbürgerungsrecht ist nun gerade acht
Wochen alt. Erste stichprobenartige Erhebungen in den
Einbürgerungsbehörden zeigen, dass das neue Recht gut
angenommen wird. Der Trend ist deutlich: Die Zahl der
Antragstellungen hat sich verdoppelt, an einigen Orten
gar verdreifacht.
Dennoch wird es immer wieder Problemfälle geben,
bei denen sich die Einbürgerung schwierig gestaltet. Es
handelt sich oft um Probleme, die mit der Situation in
den Herkunftsländern zu tun haben, wo die Ausbürge-
rung auf Schwierigkeiten stößt. Hier die Hindernisse zu
beseitigen, die Verfahren zügig und human zu gestalten
ist das Anliegen dieses Antrages. Dieses Anliegen teilen
ja durchaus auch einige Kollegen aus der Union. Herr
Kollege Bosbach kennt die oft schwierigen Fälle bei der
Einbürgerung von Iranern ja aus eigener Anschauung
und Praxis.
Es ist daher begrüßenswert, dass im Entwurf der
Verwaltungsvorschriften versucht wird, diesen Problem-
fällen Rechnung zu tragen. Sie wissen um die oft jahre-
langen ergebnislosen Ausbürgerungsbemühungen etwa
iranischer Staatsbürger. Ich finde, mehr als die Antrag-
stellung und eine Wartezeit von 2 Jahren kann ein
Rechtsstaat nicht verlangen. Daher sehen die Verwal-
tungsvorschriften vor, dass 2 Jahre nach Antragstellung
Mehrstaatigkeit hingenommen wird, wenn mit einer
Entscheidung nicht mehr zu rechnen ist. Also kein end-
loses Bemühen mehr um die Ausbürgerung, kein Ren-
nen von Pontius zu Pilatus.
Auch die Senkung der Einbürgerungsfrist und die
Ausweitung der Anspruchseinbürgerung führt etwa bei
iranischen Antragstellern dazu, dass das Zustimmungs-
erfordernis nach dem deutsch-iranischen Niederlas-
sungsabkommen entfällt und damit die Einbürgerung
dieser Staatsangehörigen erleichtert wird.
Gleiches sieht die Verwaltungsvorschrift auch für die
Ehegatten Deutscher vor, die einen Regelanspruch nach
drei Jahren haben. Hier gelten die Hinnahmetatbestände
des neuen § 87; damit soll auch die Zustimmungserfor-
dernis entfallen. Doch diese Erleichterung wollen nun
die B-Länder im Bundesratsverfahren wieder streichen,
wie so viele andere Erleichterungen auch. Wir erleben
derzeit im Bundesratsverfahren den deutlichen Versuch,
die Einbürgerungsverfahren eben nicht human zu gestal-
ten, eben nicht Hindernisse zu beseitigen, sondern eher
neue Hürden zu schaffen.
Weitere Beispiele aus über 100 Änderungsanträgen:
Erstens. Zu den unzumutbaren Entlassungsbedingun-
gen soll laut Entwurf der Verwaltungsvorschriften etwa
zählen, wenn durch die Ausbürgerung Leib und Leben
von Angehörigen gefährdet wird, zum Beispiel Bahai.
Dieses wollen die unionsgeführten Länder, Bayern vor-
an, wieder streichen.
Zweitens. Die Ausbürgerung wird von der Ableistung
des Wehrdienstes abhängig gemacht. Dies ist bei im In-
land Aufgewachsenen, die die Sprache kaum verstehen
und ihr Land nicht kennen, wohl kaum zumutbar. Doch
das Ist will Bayern durch ein Kann ersetzen. Die Juristen
hier im Haus wissen, was der Wandel von Ist zum Kann
bedeutet. Wenn etwas nur unzumutbar sein kann und
nicht ist, ist es dies auch nicht – zumindest in Bayern
nicht.
Diese Liste der bayrischen Restriktionen ließe sich
beliebig fortsetzen.
Nachdem die Union ein unliebsames Gesetz nicht
verhindern konnte, will sie nun über die Verwaltungs-
praxis der Länder die Hürden für die Einbürgerung hoch
und höher hängen. Unter der Hand empfehlen Beamte
der Einbürgerungsbehörden in Baden-Württemberg An-
tragstellern schon, sie sollten es doch lieber in einem
anderen Bundesland versuchen. Dass es dabei nicht um
die Verhinderung des Doppelpasses, sondern um die
Verhinderung von Einbürgerung geht, macht die Aus-
einandersetzung um die Sprachkenntnisse deutlich.
Die Verwaltungsvorschriften legen das Niveau fest:
Der Bewerber soll sich im täglichen Leben sprachlich
zurechtfinden und ein seinem Alter und Bildungsstand
entsprechendes Gespräch führen können. Dazu gehört
auch, einen alltäglichen Text lesen, verstehen und den
wesentlichen Inhalt mündlich weitergeben zu können.
Nicht mehr, nicht weniger.
Hier will Bayern einen Sonderweg gehen: So soll der
Bewerber dort einen mündlichen und schriftlichen Test
absolvieren, der sich im Niveau für das Zertifikat
Deutsch an Volkshochschulen orientiert. Dies geht weit
über das gesetzliche Erfordernis hinaus.
Sprachkenntnisse zu erwarten ist richtig, akademische
Höhenflüge und grammatikalische Feinheiten zu verlan-
gen dient nur dazu, die Hürden für die Einbürgerung so
hoch zu hängen, dass niemand mehr dran kommt.
Wer die Einbürgerung von der Beherrschung der
neuen Rechtschreibung abhängig machen will, will Ein-
bürgerung verhindern, nicht erleichtern.
Dr. Max Stadler (F.D.P.): Die Aufforderung des
Parlaments, die Bundesregierung und die Bundesländer
zu bitten, das neue Staatsangehörigkeitsrecht großzügig
anzuwenden, hatte und hat einen guten Grund. Denn
Gesetze mit ihren abstrakt-generellen Formulierungen
können oft die Vorstellung des Gesetzgebers, wie kon-
krete Einzelfälle oder auch typische Fallgruppen gelöst
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8413
(A)
(B)
(C)
(D)
werden sollen, nur unzureichend zum Ausdruck bringen.
Aus dieser Sorge heraus wurde der heute zur Abstim-
mung stehende Antrag der Koalitionsfraktionen gebo-
ren.
Grundgedanke des reformierten Staatsangehörigkeits-
rechts ist weiterhin die prinzipielle Vermeidung von
Mehrstaatigkeit. Ebenso wie im alten Recht soll es aber
auch künftig Ausnahmen davon geben, wenn bei ei-
ner Einbürgerung die Aufgabe der alten Staatsangehö-
rigkeit unzumutbar wäre. Die praktischen Erfahrungen
haben gezeigt, dass dies insbesondere für Einbürge-
rungsbewerber aus dem Iran und der Bundesrepublik
Jugoslawien zutrifft.
Das neue Recht gibt den Verwaltungsbehörden in
diesen Fällen die eindeutige Möglichkeit, großzügig zu
verfahren. Es entspricht aber nicht der üblichen Geset-
zestechnik, einzelne Länder im Gesetz zu benennen.
Daher hat die Mehrheit, die das neue Staatsangehörig-
keitsrecht im Bundestag getragen hat, sich in den Re-
formberatungen darauf verständigt, diese Absicht des
Gesetzgebers in einem eigenen Antrag zum Ausdruck zu
bringen.
Die F.D.P. unterstützt ausdrücklich diesen Antrag,
wenn es auch etwas seltsam ist, die Bundesregierung zu
etwas aufzufordern, worüber gerade am letzten Freitag
schon abschließend verhandelt worden ist. Dass der heu-
tige Beschluss dennoch notwendig ist, zeigt im Übrigen
diese aktuelle Diskussion um die bundeseinheitlichen
Verwaltungsvorschriften zum neuen Staatsangehörig-
keitsrecht. Wir haben erlebt, dass von einigen Ländern
her die Intentionen der Reform konterkariert werden
sollten. Die politische Auseinandersetzung, bei der man
im Bundestag und im Bundesrat in der Minderheit
geblieben ist, sollte auf dem Umweg über Verwaltungs-
vorschriften fortgesetzt werden. Die Einigung auf
Staatssekretärsebene in der letzten Woche tröstet über
diese bedauerliche Feststellung nicht hinweg, denn dem
Vernehmen nach wurden dabei Formelkompromisse be-
schlossen, die – zum Beispiel bei der Sprachprüfung –
den Ländern oft freie Hand lassen.
Wenn auch die Verwaltungsvorschriften nicht Ge-
genstand der heutigen Beschlussfassung sind, so mag
der Antrag doch als allgemeiner Hinweis der Bundes-
tagsmehrheit verstanden werden, im Staatsangehörig-
keitsrecht alte ideologische Gräben zuzuschütten und zu
einer modernen, einer weltoffenen Gesellschaft wie der-
jenigen der Bundesrepublik Deutschland angemessenen
Verwaltungspraxis zu kommen.
Ulla Jelpke (PDS): Schon bei der ersten Beratung
hatte ich gesagt, dass ich es merkwürdig finde, wenn
SPD und Grüne einen Appell an ihre eigene Regierung
verabschieden. Warum haben Sie das nicht dort geregelt,
wo es hingehört, nämlich in Ihrem Gesetz?
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich fürchte – zumal
nach dem Streit mit den Unionsländern um die Verwal-
tungsvorschriften –, dass sich die angebliche Erleichte-
rung von Einbürgerungen immer mehr als große Pleite
herausstellt. Für Millionen Migranten und Migrantinnen,
die auf eine leichtere Einbürgerung gehofft hatten, ist
das eine bittere Enttäuschung.
Die CDU hat in Hessen letztes Jahr einen ausländer-
feindlichen Wahlkampf mit schmutzigem Geld geführt.
SPD und Grüne sind danach in einem Ausmaß einge-
knickt, dass am Ende nur noch ein Trauerspiel, ein „Re-
förmchen“, herausgekommen ist. Nun drohen selbst die-
se wenigen Verbesserungen in der Praxis der Länder ins
Gegenteil umzukippen. Statt einer erleichterten Einbür-
gerung sind Erschwerungen zu befürchten. Das sehen
auch die Betroffenen so. Der Ansturm auf die Ämter
nach In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes ist schon aus-
geblieben.
Welche schlimmen Blüten die Ausländerfeindlichkeit
von CDU und CSU treibt, können wir in den Ländern
erleben. In Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und
vermutlich Sachsen werden Bewerber um die Staatsbür-
gerschaft nun einer schriftlichen Sprachprüfung unter-
zogen. Wozu kaum eine Behörde in der Lage ist, näm-
lich einen Brief zu verstehen und in einfachem Deutsch
zu beantworten, soll Vorbedingung für alle Migranten
und Migrantinnen werden. Warum führt Herr Beckstein
nicht solche Sprachprüfungen für seine Beamten ein?
Wer prüft die bayerischen und sächsischen Sprachprü-
fer?
Leider ist das Thema nicht zum Lachen. Es zeigt nur,
wozu Ausländerfeinde in der Lage sind, wenn es darum
geht, Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, das
Staatsbürgerrecht zu verweigern.
Ich bin gespannt, wie der Bundesrat am Ende mit den
Verwaltungsvorschriften zum Staatsbürgerrecht umgeht.
Es hat ja eine ganze Reihe von Änderungswünschen der
Union gegeben. Ich nenne die Erschwerung der Einbür-
gerung von Ehegatten, die Rücknahme der Erleichterun-
gen bei der Einbürgerung von mit Deutschen verheirate-
ten Iranern, die Ausweitung von Auskunftspflichten
auch zulasten von Iranern und die Behinderung der Ein-
bürgerung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.
Letzteres ist für mich ein schlimmes Kapitel von Anti-
semitismus. Was aus diesen Absichten am Ende wird,
werden wir erst nach der nächsten Bundesratsdebatte
wirklich wissen.
Vor diesem Hintergrund wird, so denke ich, auch der
heutige Appell nicht viel helfen. Wir werden dem zu-
stimmen, weil wir die Intention mittragen. Aber den
Menschen, um die es geht, wird damit, so fürchte ich,
nicht geholfen sein.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekre-
tärin beim Bundesministe des Inneren: Wer sich aktiv
mit der Migrationspolitik befasst, kennt die Situation
zur Genüge: Fast in jeder öffentlichen Diskussion um
ausländerrechtliche Fragen meldet sich irgendwann ein
Iraner oder eine Iranerin aus dem Publikum und berich-
tet vom Saalmikrofon aus – meist übrigens in sehr gu-
tem Deutsch – von seinen oder ihren Schwierigkeiten
beim Versuch, die deutsche Staatsangehörigkeit zu er-
werben. Einzelfälle, die per Brief oder Petition an uns
herangetragen werden, sind mittlerweile Legion. Die
Bundesregierung hat deshalb volles Verständnis dafür,
8414 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
(B)
(C)
(D)
dass die Koalitionsfraktionen noch vor der Verabschie-
dung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts darauf ge-
drängt haben, besonders auf die Probleme der Menschen
aus dem Iran und aus Jugoslawien zu achten.
Es ist gut, dass ein so bedeutsames gesellschaftspoli-
tisches Reformwerk zusätzlich Schubkraft bekommt. In-
zwischen ist das Gesetz selber in Kraft, und die Bera-
tung über die Verwaltungsvorschriften weit vorange-
schritten. Aber der Antrag hat immer noch seine Aktua-
lität, weil er den Ländern, die noch zu einer restriktiven
Auslegung des Gesetzestextes neigen, die Probleme der
Iraner und Jugoslawen verdeutlicht. Und wir wollen
doch, dass die Reform ihr Ziel erreicht: nämlich die In-
tegration zu fördern und Hürden beim Erwerb des deut-
schen Passes wegzuräumen!
Dennoch kann ich schon jetzt festhalten, was sich für
Einbürgerungsbewerber aus dem Iran und aus Jugosla-
wien durch das neue Gesetz und den von der Bundesre-
gierung vorgelegten Entwurf für die Verwaltungsvor-
schriften zum Besseren wendet.
Dazu einige wichtige Punkte: Für die Iraner ist von
besonderer Bedeutung, dass die Frist bis zum Einbürge-
rungsanspruch fast halbiert worden ist. Denn so fallen
sie nicht mehr unter die Bestimmungen des deutsch-
iranischen Niederlassungsabkommens, das ihnen die
Einbürgerung fast unmöglich macht, weil der Iran dazu
seine Zustimmung geben müsste. Sie profitieren auch
davon, dass Ausländer, die politisch verfolgt im Sinne
des § 51, oder Flüchtlingen im Rahmen humanitärer
Aufnahmequoten sind, sich nicht mehr um die Entlas-
sung aus ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit be-
mühen müssen. Gerade Iraner sind unter diesen beiden
Gruppen zahlreich vertreten. Sie erhalten jetzt auch ei-
nen Einbürgerungsanspruch, wenn ihnen andernfalls er-
hebliche Nachteile insbesondere wirtschaftlicher oder
vermögensrechtlicher Art entstehen. Das trifft gerade
auf Iraner häufig zu. Den jugoslawischen Einbürge-
rungswilligen hilft die Regelung weiter, nach der Mehr-
staatigkeit dann hingenommen werden kann, wenn die
Gebühren für die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit
unverhältnismäßig hoch sind. Genau das ist bei Jugos-
lawen der Fall. – Sie sehen also, es hat sich allerlei zu-
gunsten der Betroffenen getan.
Lassen Sie mich die Gelegenheit noch nutzen und ei-
nen Appell an all diejenigen richten, die insgesamt von
dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht profitieren sollen.
Machen Sie von den neuen Chancen Gebrauch! Das gilt
nicht zuletzt auch für die Eltern der Kinder bis zu zehn
Jahren, die den Einbürgerungsanspruch im laufenden
Jahr, 2000, per Antrag anmelden können. Ein zweiter
Appell geht an die Migrantenorganisationen, die sich
immer noch über die Vorbedingungen für die Einbürge-
rung beklagen, vor allem über das Bekenntnis zum
Grundgesetz und die ausreichenden Sprachkenntnisse.
Ich habe zwar Verständnis für die Sorgen, die sich vor
allem ältere Migranten, und insbesondere Migrantinnen
deshalb machen, und ich hoffe, dass die Ausländerbe-
hörden den Handlungsspielraum des Gesetzes für diesen
Personenkreis sensibel und großzügig nutzen. Aber
Sprachkenntnisse sind nun einmal die Fahrkarte zu In-
tegration, Chancengleichheit und voller gesellschaftli-
cher Teilhabe. So und nicht anders sind die Kriterien des
neuen Staatsangehörigkeitsrechts gemeint. Und die ers-
ten Erfahrungen geben uns Recht. Die Zahl der Anträge
auf Einbürgerung steigt. Die Bilanz von Mitte Februar
war: In München und Bonn gibt es viermal so viele wie
vorher, in Hamburg sind es 50 Prozent mehr, in Kiel so-
gar 300 Prozent. Nicht überall ist der Run so stark, aber
der Trend ist vor allem in den Großstädten eindeutig.
Wir sind – allen Unkenrufen zum Trotz – ein tüchtiges
Stück vorangekommen. Und das ist gut so.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Erleichterung der Verwaltungsreform in
den Ländern (... Zuständigkeitslockerungsge-
setz) (Tagesordnungspunkt 11)
Dr. Michael Bürsch (SPD): Seit rund 10 Jahren be-
mühen sich die Bundesländer intensiv darum, ihre Ver-
waltungen an Haupt und Gliedern zu reformieren. Der
heute zu beschließende Gesetzentwurf mit dem etwas
sperrigen Titel „Zuständigkeitslockerungsgesetz“ soll
diese Reformbemühungen unterstützen.
Als die Länder mit den Verwaltungsreformen began-
nen, war die Begeisterung und das Engagement vieler-
orts groß. Inzwischen ist die Aufbruchstimmung der ers-
ten Jahre etwas verflogen – unter anderem deshalb, weil
der Reformprozess mehr und mehr von der Haushaltsnot
als von echten Modernierungskonzepten geprägt ist.
Neuer Schwung tut Not für die Verwaltungsreformen!
In diesem Zusammenhang wird von Länderseite eine
interessante Entwicklung berichtet: Gerade in jenen
Ländern, die grundlegende Strukturveränderungen in
Angriff genommen haben und daran gehen, Verwal-
tungsebenen zu reduzieren, ist eine Dynamisierung der
Reformprozesse zu beobachten. Jüngstes Beispiel ist
Rheinland-Pfalz, das trotz mancher Widerstände die Re-
gierungspräsidenten, das heisst die mittlere Verwal-
tungsebene, abgeschafft hat. Andere Länder wie Nord-
rhein-Westfalen gehen ähnliche Wege. Es sind offenbar
die mutigen Schritte und fundamentalen Strukturverän-
derungen, die dem Reformprozess wieder neuen Elan
bringen können.
Jedes Bundesland muss für sich selbst den eigenen
Weg der Modernisierung finden. Dies setzt aber voraus,
dass der Bund den Ländern den dafür nötigen Gestal-
tungsspielraum lässt. Wünschenswert wäre aus meiner
Sicht, wenn der Bund zukünftig mehr politisch steuert
und in der Umsetzung längere Leine lässt, statt zu viel
selbst zu bestimmen. Die Länder brauchen Raum für
mehr Eigeninitiative und mehr Eigenverantwortung.
Hier setzt das Zuständigkeitslockerungsgesetz an. Es
räumt den Ländern größere Spielräume für ihre Verwal-
tungsreformen ein. Es ermöglicht ihnen insbesondere die
Verlagerung von Aufgaben auf nachgeordnete Behörden
und steht im Kontext der umfassenden Bemühungen im
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8415
(A)
(B)
(C)
(D)
Bund und in den Ländern, die Verwaltung zu vereinfa-
chen und effizientere Strukturen zu schaffen.
Viele Aufgaben, deren Bedeutung sich im Laufe der
Zeit verändert hat, wie zum Beispiel die Kriegsopferver-
sorgung und die Flurbereinigung, können heute prob-
lemlos mit weniger Verwaltung als früher bewältigt
werden. So kann Doppelarbeit vermieden und Verwal-
tungsaufwand beim Vollzug von Bundesgesetzen ver-
ringert werden.
Zweifellos wird mit dem Zuständigkeitslockerungs-
gesetz, etwa der Änderung der Rasenmäherlärm-
Verordnung, des Milch- und Fettgesetzes und anderer
Gesetze der deutsche Föderalismus nicht revolutioniert,
aber: Auch mit Kleinvieh ist Fortschritt zu machen.
Dass der Bund freiwillig Kompetenzen an die Länder
abgibt, geschieht nicht alle Tage und ist schon deshalb
ein wichtiges Signal für die reformbereiten Bundeslän-
der.
Entgegen den eher zentralistischen Tendenzen der
80er- und 90er-Jahre zeigt der Bund mit dem Zuständig-
keitslockerungsgesetz seine Bereitschaft, den Födera-
lismusgedanken ernst zu nehmen und den Ländern mehr
Autonomie zuzugestehen. Das gute alte Prinzip der Sub-
sidiarität kommt damit wieder zu Geltung.
Über die allzu bürokratische Sprache des Zuständig-
keitslockerungsgesetzes ließe sich manche kritische
Anmerkung machen. Ich beschränke mich mit Rudolf
von Ihering für künftige Reformgesetze auf den Appell:
„Der Gesetzgeber soll denken wie ein Philosoph, aber
reden wie ein Bauer“.
Ein persönlicher Wunsch zum Schluss: Der öffentli-
che Dienst auf allen staatlichen Ebenen steht und fällt
mit der Qualität und Motivation seiner Mitarbeiter. Viel
wichtiger als Reformen zur Organisation der Verwal-
tung und zur Vereinfachung der Verwaltungsabläufe
scheinen mir gerade in der Zeit knapper Kassen Refor-
men, die den Beschäftigten direkt zugute kommen, zum
Beispiel die Einführung moderner Personalführungsme-
thoden wie Personalentwicklung, Beurteilungsrichtli-
nien, Leistungsanreize, Arbeitzeitkonten etc. Hier bietet
sich für die Länder wie für den Bund ein weites, sehr er-
tragreiches Betätigungsfeld für Reformen.
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): “Zu-
ständigkeitslockerungsgesetz“ – dieses Wort klingt für
Uneingeweihte ein bisschen nach Gymnastik und Kör-
perertüchtigung. Ganz falsch ist dieser Eindruck nicht.
Der heute zur Beschlussfassung vorliegende Gesetzent-
wurf ist die Voraussetzung für eine ganze Reihe von
Verwaltungsreformen in den Ländern. Reformen, die
überflüssige Bürokratie abbauen und die Verwaltungen
bürgerfreundlicher gestalten. Die Länder, die viele Auf-
gaben vom Bund als Aufragsverwaltung ausführen, wol-
len verständlicherweise nicht darauf festgelegt werden,
alles immer nach einem vorgebenen Schema auszufüh-
ren. Sie wollen die ihnen auferlegten Aufgaben, je nach
Bedarf, den ihnen geeignet erscheinenden Ebenen zu-
ordnen, auslagern und an freie Träger übertragen, um ih-
ren Haushalt und ihre Bürokratie zu entlasten. Daneben
macht es aus ihrer Sicht Sinn, bestimmte Aufgaben wie
die Umsetzung der „Rasenmäherlärm-Verordnung“
gleich selbst in die Hand zu nehmen oder wiederum der-
jenigen Ebene zu übertragen, die in ihren jeweiligen
Ländern am besten dafür geeignet ist. Natürlich geht es
dabei auch um Kosteneinsparungen. Dagegen ist absolut
nichts einzuwenden, wenn es tatsächlich um Effizienz-
steigerung und die Verlagerung von Kompetenzen auf
untere Ebenen geht – zum Beispiel von der Kabinetts-
auf die Ministerebene oder von der Landes- auf die
Kommunalebene. Gerade weil der Katalog der mögli-
chen Zuständigkeitslockerungen aber so umfangreich
und heterogen ist, besteht die Gefahr, dass neben Sinn-
vollem auch Maßnahmen durchgezogen werden, die ei-
ne Qualitätsverschlechterung, eine Verringerung von
notwendigen politischen Steuerungsmöglichkeiten oder
Interessenkonflikte zwischen öffentlichem Auftrag und
privatwirtschaftlichem Gewinnstreben nach sich ziehen.
Massiv bestanden diese Probleme bei der Jugendhilfe,
die auf nichtökonomische Qualitätsstandards besonders
angewiesen ist. Deshalb wurde die hier geplante Ände-
rung von § 85 SGB VIII, KJHG, nach ebenso effizien-
tem wie begründetem Widerstand mit Unterstützung des
Familienministeriums aus dem Katalog entfernt. Eine
solche Öffnungsklausel für Verschlechterungen in der
Jugendhilfe wird auch als seperarte Vorlage keine Un-
terstützung durch uns erhalten.
Dass die Länder dagegen die Zuständigkeitsebenen
für einzelne Bereiche, wie die Ausführung des Bundeso-
zialhilfegesetzes, selbst bestimmen dürfen, erscheint da-
gegen sinnvoll. Schließlich ist der Verwaltungsaufbau in
den Ländern sehr verschieden – man denke nur an den
noch immer vierstufigen Aufbau der Landesverwaltung
in Bayern. Für die Kommunen hat eine Zuständigkeits-
lockerung zwei Seiten: Sie können, mit vereinten Kräf-
ten, von den Ländern die Zuständigkeit für bestimmte
Aufgaben – etwa beim Kreislaufwirtschafts- und Ab-
fallgesetz – erstreiten. Das ist auch im grünen Sinne,
denn viele Aufgaben können lokal besser und bürger-
und bürgerinnennäher erfüllt werden. Aber: Die Kom-
munen könnten in der Folge auch zusätzliche Aufgaben
von den Ländern aufgedrückt bekommen. Da heißt es
dann wachsam bleiben, vor allem bei der Kostenerstat-
tung und der Qualität der Leistungen.
Meiner hier vorgetragenen, differenzierten Einschät-
zung entsprechen auch die Änderungsanträge der Frak-
tion von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Sie greifen
die Bedenken der Bundesregierung gegenüber der Bun-
desratsvorlage auf und schlagen konstruktive Änderun-
gen vor.
Insgesamt wollen wir die Zuständigkeitslockerungen
so gestalten, dass keine einseitigen Belastungsverschie-
bungen zulasten anderer staatlicher Ebenen entstehen.
Wir wollen sicherstellen, dass keine Qualitätsver-
schlechterungen eintreten oder die Qualitätssicherung
unter den Tisch fällt.
Und wir wollen verhindern, dass rechtssystematische
Brüche oder Rechtsunsicherheiten eintreten. Dafür sind
die Änderungen der Koalitionsfraktionen unerlässlich.
Zeitgemäße Verwaltungsreformen sparen nicht nur
Geld. Sie sorgen dafür, dass die öffentliche Verwaltung
8416 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
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kundenorientierter wird und zugleich die Arbeitszufrie-
denheit der Beschäftigten steigt. Viele dieser Reformen
wurden über Jahre und Jahrzehnte verschleppt – zu Las-
ten der Bürgerinnen und Bürger und zulasten des Anse-
hens unseres Staates. Die Vorlage der Länder gibt nun,
zusammen mit den notwendigen Ergänzungen der Koa-
litionsfraktionen, den Startschuss für zahlreiche, bislang
auf Eis gelegte Reformen. Sie haben daher unsere Zu-
stimmung verdient.
Dr. Max Stadler (F.D.P.): In der Ausbildung wird
jungen Beamten – halb scherzhaft – beigebracht, die ers-
te Frage, die sie bei der Bearbeitung eines Vorgangs
stellen müssten, lautet: Wer ist zuständig? Mag diese
Frage gelegentlich auch zur Strategie der Abwehr unan-
genehmer Aufgaben gehören, so steckt doch hinter
Zuständigkeits- und damit Kompetenzabgrenzungen in
einem Rechtsstaat ein guter Sinn. Für den Zugang zu
Gerichten gibt Art. 101 des Grundgesetzes den Bürge-
rinnen und Bürgern sogar das wichtige Grundrecht auf
den „gesetzlichen Richter“. Auch im Bereich der Exeku-
tive haben Zuständigkeitsregelungen durchaus ihre Be-
deutung. Die Effizienz der Verwaltung, Kostengesichts-
punkte und Bürgernähe sind einige der hierfür maßgeb-
lichen Kriterien.
Ein Gesetzentwurf, der dem Grundprinzip der Subsi-
diarität folgt und Zuständigkeiten, wo immer dies mög-
lich und sinnvoll ist, von oben nach unten verlagert, fin-
det daher prima vista die Sympathie der Liberalen.
Dies entbindet uns freilich nicht der Pflicht zur Kritik
im Detail. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass der
Gesetzentwurf des Bundesrates in der ursprünglichen
Form nicht die Zustimmung der F.D.P.-Fraktion gefun-
den hätte. Wir legen vor allem Wert darauf, dass in der
Arbeitsgerichtsbarkeit weiterhin die bewährte anwaltli-
che Vertretung der Prozessparteien in zweiter und dritter
Instanz gewährleistet sein muss. In der gestrigen Sitzung
des Innenausschusses ist die unseren Vorstellungen zu-
widerlaufende Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes
aus dem Gesetzentwurf ersatzlos gestrichen worden.
Dies macht den Weg frei für die heutige Zustimmung
der F.D.P.-Fraktion. Freilich ist für uns weiterhin frag-
lich, ob es nicht besser wäre, Vereinsverbote prinzipiell
obersten Landesbehörden vorzubehalten, da es sich doch
um einen nicht unerheblichen Eingriff in ein Grundrecht
handelt. Die – zugegeben – schon bestehende Möglich-
keit in der Verwaltungsgerichtsordnung, die Entschei-
dung über Widersprüche der Ausgangsbehörde zu über-
lassen, hätte auch nicht unbedingt ausgedehnt werden
müssen: Schließlich erscheint es uns ein wenig zu ängst-
lich, dass von den Regierungsaktionen in den Aus-
schussberatungen die ursprünglich vorgesehene Delega-
tion auf „nach Landesrecht zuständige Stellen“ korri-
giert worden ist. Nunmehr gilt die Zuständigkeitsverla-
gerung nur noch für „nach Landesrecht zuständige Be-
hörden“. Die Furcht vor Privatisierung hat hier den Koa-
litionsfraktionen die Feder geführt.
Schließlich muß erst die Praxis erweisen, ob entgegen
der Auffassung der Bundesregierung die geplante Zu-
ständigkeitskonzentration von Staatsanwaltschaften für
die Strafvollstreckung und die Vollstreckung von Maß-
regeln der Besserung und Sicherung sich in der Praxis
bewähren wird.
Da aber unsere Hauptkritikpunkte durch Korrekturen
am ursprünglichen Entwurf in den Ausschussberatungen
beseitigt worden sind, möchte die F.D.P.-Fraktion die-
sem kleinen Schritt zur Flexibilisierung der Verwaltung
keine Hindernisse in den Weg legen und stimmt daher
trotz fortbestehender Einwände zu.
Petra Pau (PDS): Ich bin ein Fan von Verwaltungs-
reformen, allemal, wenn es um die Entwirrung von
Kompetenz-Wirrwarr, um mehr Bürgernähe und Trans-
parenz, um den Abbau von Doppelzuständigkeiten geht.
Entscheidungskompetenzen gehören so nah wie möglich
dorthin, wo sich die Entscheidungen letztlich auswirken.
Das ist die grundsätzliche Auffassung der PDS.
Genau diesem Anspruch widersprach der ursprüng-
lich vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf. Mehr
noch, es drohte die Privatisierung von Entscheidungen,
und er enthielt die Gefahr, dass gesetzlich garantierte
Leistungen für Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt
werden können. Diese Mängel konnten in den Aus-
schussberatungen zum größten Teil behoben werden.
Gleichwohl gilt auch für den jetzt vorliegenden Text:
Der Teufel steckt im Detail beziehungsweise er verbirgt
sich unter den Verordnungen über Kleinfeuerungsanla-
gen, über die Messung von Rasenmäherlärm oder unter
dem Milch- und Fettgesetz. Es geht heute um einen Mix
vielfältigster Regelungen, darunter auch um das Ver-
einsgesetz und die Verwaltungsgerichtsordnung. Beide
würden in der vorliegenden Fassung zu weniger Rechts-
sicherheit führen.
Da die vorliegenden Änderungen nur im Paket abge-
stimmt werden, werden wir daher das Gesamtwerk ab-
lehnen. Denn wir können nicht mehr Bürgernähe auf der
einen mit mehr Rechtsunsicherheit auf der anderen Seite
befürworten.
Fritz-Rudolf Körper, Parl. Staatsekretär beim Bun-
desminister des Inneren: Die Zustimmung zu einer Fülle
von Vorschlägen der Länder durch die neue Bundesre-
gierung verdeutlicht das Umdenken entsprechend dem
Programm der Bundesregierung „Moderner Staat – Mo-
derne Verwaltung“. Die Modernisierung von Staat und
Verwaltung kann in einem föderalen Staat wie der Bun-
desrepublik Deutschland nur dann nachhaltig gelingen,
wenn auch die Beziehung der staatlichen Ebenen unter-
einander – und hier vor allem das Verhältnis zwischen
Bund und Ländern – in den Blick genommen wird.
Die Länder brauchen für die Neugestaltung dieses
Verhältnisses einen größeren Entscheidungsfreiraum für
die Erfüllung der staatlichen Aufgaben. Die Bundesre-
gierung wird deshalb alles tun, um Barrieren abzubauen,
die selbst verantwortliches Handeln der Länder– und
auch der Kommunen – behindern. Eine ganz wesentli-
che Voraussetzung hierfür ist der Abbau bundesrechtli-
cher Vorgaben – wie dies jetzt durch das Zuständigkeits-
lockerungsgesetz geschieht.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8417
(A)
(B)
(C)
(D)
Wenn den Ländern der Vollzug des Bundesrechts
grundsätzlich als eigene Aufgabe übertragen wird, so
sollte der Gestaltungsspielraum der Länder nicht durch
strikte bundesrechtliche Vorgaben für die Durchführung
des Bundesrechts mehr als notwendig eingeengt werden.
So ist es in vielen Fällen möglich, auf die Festlegungen
einer bestimmten Landesbehörde oder gar der obersten
Landesbehörde durch den Bund zu verzichten und es
den Ländern durch Öffnungsklauseln zu ermöglichen,
die zuständigen Behörden selbst festzulegen.
Die Modernisierung der Verwaltung ist ein langwie-
riger Prozess, der ständig fortgesetzt werden muss. Die
Summe vieler Einzelmaßnahmen führt zum Erfolg. Die
Bundesregierung wird deshalb ihre Reformbemühungen
fortsetzen. Derzeit prüft sie weitere 183 Vorschriften zur
Lockerung der Zuständigkeit, die von den Ministerprä-
sidenten der Länder vorgeschlagen wurden. Maßstab für
die Lockerung ist die Überzeugung, dass die Länder
grundsätzlich eigenverantwortlich entscheiden können,
welche Zuständigkeit eine sachgerechte Verwaltungs-
praxis am besten gewährleistet.
Einige Beispiele: Bei Art. 13, dem Vereinsgesetz,
wird den Ländern gestattet, dass Vereinsverbote auch
von Behörden unterhalb der obersten Landesbehörde
ausgesprochen werden können. Es ist auch gelungen, bei
Art. 33, dem Gesetz über die Errichtung der Verwal-
tungsbehörden der Kriegsopferversorgung, einen ver-
nünftigen Kompromiss zu finden. Dem Vorschlag der
Länder, das Gesetz vollständig aufzuheben, konnte nicht
gefolgt werden; dies hätte bei den Kriegsopferverbänden
die Besorgnis hervorgerufen, dass die Versorgungsver-
waltung als fachlich kompetente Sozialverwaltung und
damit die Betreuung der über 1 Million Kriegsopfer
nicht mehr gewährleistet wäre. Um jedoch den Spiel-
raum der Länder bei der Versorgungsverwaltung zu er-
weitern, ist es vertretbar, auf die Durchführung des
Bundesversorgungsgesetzes durch besondere Verwal-
tungsbehörden zu verzichten.
Die jetzt vorgesehene Neuregelung ist Voraussetzung
dafür, dass das wichtige Reformvorhaben zur Moderni-
sierung der Landesverwaltung in Nordrhein-Westfalen
wie vorgesehen zum Abschluss gebracht werden kann.
Der Verwaltungsaufwand der Länder beim Vollzug von
Bundesgesetzen soll verringert werden. Hierzu ist der
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der
Verwaltungsreform in den Ländern ein erster wichtiger
Schritt.
Die Bundesregierung stimmt ausdrücklich den Vor-
schlägen in der Form des Änderungsantrags der Fraktio-
nen der SPD und von Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu.
Gegenüber der Stellungnahme der Bundesregierung vom
23. März 1999 wird der Bund bei sechs weiteren Vor-
schlägen den Vorschlägen des Bundesrates entsprechen.
Bei Art. 26, der Binnenmarkt- und Tierseuchen-
schutzverordnung, und bei Art. 27, dem Milch- und
Fettgesetz, wird dem Vorschlag des Bundesrates nun-
mehr vorbehaltlos zugestimmt.
Bei Art. 12, dem Bundessozialhilfegesetz, erfolgt die
Zustimmung mit der Maßgabe, dass die örtliche Zustän-
digkeit für die Sozialhilfe von den Kreisen und kreis-
freien Städten durch Landesrecht nur auf leistungsfähige
Träger übertragen werden darf.
Art. 20, Unterhaltsicherungsgesetz, wird ebenfalls
zugestimmt mit der Maßgabe, dass die Landesregierun-
gen künftig anstelle der obersten Landesbehörde eine
nachgeordnete Landesbehörde bestimmen können, die
das Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Ver-
teidigung bei der Gewährung eines Härteausgleichs her-
stellt.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Pass- und Personalausweisrechts
(Tagesordnungspunkt 12)
Rüdiger Veit (SPD): Den heute in Rede stehenden
Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Ände-
rung des Pass- und Personalausweisrechts könnte man
fast ohne Aussprache beschließen. Denn er enthält vor
allem eine Reihe redaktioneller Veränderungen, die
durch die deutsche Einheit bedingt sind, durch die Um-
wandlung der Bundesdruckerei in eine GmbH, aber auch
so banale Punkte wie die Abschaffung des Unterschieds
zwischen roten und schwarzen Dienstpässen – was na-
turgemäß nicht politisch gemeint ist – oder wie die Be-
rücksichtigung der Nichtmaschinenlesbarkeit des Dok-
tortitels als Namensbestandteil.
In einem Punkt allerdings hat dieser Gesetzentwurf
auch die Öffentlichkeit durch zahlreiche Pressebericht-
erstattungen ab etwa Mitte Januar beschäftigt. Es geht
im Kern darum, Zuwiderhandlungen gegen passbe-
schränkende Maßnahmen – also Einschränkungen des
Geltungsbereiches und der Gültigkeitsdauer eines Pas-
ses – ebenso unter Strafe zu stellen wie es das geltende
Recht auch schon für Strafbemessungen beim Verstoß
gegen Passversagung kennt. Hintergrund ist das Sicher-
heitskonzept „Euro 2000“ der Bundesregierung zur Ver-
hinderung von Ausschreitungen bei der Fußballeuropa-
meisterschaft 2000 in den Beneluxländern. Anders ge-
sagt, geht es also um einen Beitrag der Bundesregierung
zur Bekämpfung des Hooliganunwesens durch Deutsche
im Ausland.
Nachdem wir diesen Komplex in der gestrigen Sit-
zung des Innenausschusses bereits andiskutiert haben,
kann ich Ihnen kaum noch ein Geheimnis verraten,
wenn ich sage, dass auch in der SPD-Fraktion und na-
mentlich in der Arbeitsgruppe Inneres der effektive Nut-
zen und die Wirksamkeit dieser Gesetzesänderung –
ganz vorsichtig ausgedrückt – skeptisch beurteilt wird.
Wenn wir uns aber ohne großes Aufheben – ganz in der
Wortwahl der gestrigen Sitzung – darauf verständigen
mögen, dass im Sinne eines Mosaiksteins auch die
kleinste etwa noch bestehende gesetzgeberische Lücke
geschlossen werden soll, dann sollten wir uns diesem
Ansinnen der Innenministerkonferenz vom 18. und 19.
November des letzten Jahres in Görlitz nicht verschlie-
ßen. Eigentlich sollten die Länderinnenminister in ihrer
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größeren Sachnähe zu Polizeivollzugsmaßnahmen es
ohnehin besser wissen als zum Beispiel wir. Und wer
wollte sich zudem einem gesetzgeberischen Anliegen,
für das der niederländische und der belgische Innenmi-
nister den deutschen Innenminister schon ausdrücklich
belobigt haben, verweigern?
Aber jetzt wieder ganz im Ernst, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wir sind uns wahrscheinlich alle hier im
Hause – und das nicht erst seit jenem schrecklichen
Schicksal des französischen Polizeibeamten Nivell, von
deutschen Hooligans anlässlich der Fußballweltmeister-
schaft 1998 in Frankreich verursacht – darüber einig,
dass es sich bei dem Hooliganunwesen um eine üble Fa-
cette missverstandenen, womöglich vorgeschoben sport-
lich-motivierten, gleichwohl falschen Nationalstolzes
und damit auch um eine verabscheuungswürdige Form
von Rechtsradikalismus handelt, der mit allen mit unse-
rer Verfassung zu vereinbarenden und rechtsstaatlich
vertretbaren Mitteln bekämpft werden muss.
Betrüblicherweise sind es fast 3 000 Deutsche, die in
die Kategorie C und damit als besonders gewaltbereite
Hooligans eingestuft werden müssen. Deshalb: Wesent-
lich wirksamer als diese Gesetzesinitiative sind mit Si-
cherheit eine Reihe anderer Maßnahmen im Rahmen des
Sicherheitskonzepts „Euro 2000“. Ich nenne hier bei-
spielhaft: erstens anlassbezogene Grenzkontrollen nach
dem Schengener Durchführungsübereinkommen, zwei-
tens die Unterstützung der niederländischen und belgi-
schen Polizei durch deutsche Polizei, BKA-Beamte und
einen vor Ort anwesenden Staatsanwalt, drittens eine
verbesserte Risikoanalyse und schnellere Informationen
durch die „Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze“
und viertens den Einsatz von BGS-Beamten, die zum
Beispiel in den letzten Tagen für das Freundschaftsspiel
in Amsterdam mit 1 350 Beamtinnen und Beamten über
4 000 Personenkontrollen durchgeführt haben.
In der Begründung des Gesetzentwurfes an entspre-
chender Stelle befinden sich folgende Sätze: „Die wei-
tergehende Strafbewehrung trägt auch dazu bei, poten-
zielle Gewalttäter davon abzuhalten, entgegen passbe-
schränkenden Verfügungen auszureisen.“ Das glaube
ich nun sicher nicht! Und weiter: „Außerdem eröffnet
die Regelung Repressionsmöglichkeiten gegenüber dem
oben genannten Personenkreis, dessen typische Aus-
landstaten im Inland nicht ohne weiteres verfolgt werden
können.“
Das mag zwar sein, allerdings steht der nach dem
Passgesetz dann zur Verfügung stehende Strafrahmen
bis zu einem Jahr Gefängnis wohl in keinem sinnvollen
Verhältnis zu eben der Gefahr und eben den Straftaten,
die bis hin zu schwersten Körperverletzungen gehen
oder eine nur so zu bezeichnende Gemeingefährlichkeit
darstellen. Richtig aber dürfte sein – auch wenn es in der
Begründung des Gesetzes gerade nicht enthalten ist –,
dass deutschen Grenz- und Strafverfolgungsbehörden
durch die zu beschließende Strafbewehrung geringfügig
bessere Möglichkeiten eröffnet werden, aus dem Aus-
land zurück abgeschobene deutsche Hooligans vorläufig
festzunehmen, erkennungsdienstlich zu behandeln, län-
ger in Gewahrsam zu behalten und eventuell einem be-
schleunigten Strafverfahren zuzuführen. Dies mag dann
mittelbar auch zu einer erleichterten Identitätsfeststel-
lung und Beweisführung im Ausland massivst straffällig
gewordener Gewalttäter dienen.
So verstanden wollen wir als SPD-Bundestags-
fraktion – bei aller gebotenen Skepsis – diesen gesetz-
geberischen Mosaikstein zur Bekämpfung des Hooliga-
nunwesens also hinzutun.
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Zu einer Uhrzeit,
bei der erfahrungsgemäß nur bienenfleißige und ganz
besonders tapfere Kolleginnen und Kollegen noch im
Plenum ausharren, debattieren wir heute – unter einer
zugegebenermaßen spröden Überschrift – ein Thema,
das von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist – nicht
nur für Fußballfans, sondern auch für die Zukunft des
Sports insgesamt und das Ansehen unseres Landes in
der Welt.
Wer die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Pass- und Personalausweisrechts“ hört,
könnte geneigt sein, fluchtartig den Saal zu verlassen
und selbst hartnäckige Phoenix-Kunden könnten in Ver-
suchung kommen, die Fernbedienung zu suchen. Die
wäre jedoch voreilig, denn das zu behandelnde Problem
ist von großem öffentlichen Interesse. Nicht erst seit den
tragischen Ereignissen von Bradford und Brüssel im Mai
1985 oder seit dem Attentat auf den französischen Gen-
darmen David Nivel am 21. Juni 1998 in Lens im Rah-
men der letzten Fußball-WM.
In diesem Gesetzentwurf wird auch – die deutsche
Rechtswissenschaft wird sagen: Endlich! – die histori-
sche Frage beantwortet, wie die Bundesrepublik
Deutschland – nachdem die Bundesdruckerei in der
Rechtsform GmbH geführt wird – Eigentum an den
Passdokumenten erlangt, nämlich nicht mehr durch de-
ren Produktion, sondern durch Gesetz. Da ich jedoch
davon ausgehe, dass diese Nachricht die Bevölkerung
nicht gerade elektrisiert, möchte ich mich gleich einem
anderen, wirklich wichtigen Kapitel zuwenden.
Im Kern geht es darum, dass der Gesetzentwurf mit-
helfen soll – mehr kann er nicht leisten –, gewalttätige
Auseinandersetzungen im Rahmen großer internationa-
ler Sportveranstaltungen frühzeitig zu bekämpfen. Ins-
besondere im Hinblick auf die EM, die vom 10. Juni bis
2. Juli in Belgien und in den Niederlanden stattfinden
wird. Das Gesetz will nicht begeisterte Fußballfans oder
gar die friedlichen Schlachtenbummler der Fußballnati-
onalmannschaft kriminalisieren, zumal diese in letzter
Zeit ohnehin viel mitmachen und sich durch eine große
Leidensfähigkeit auszeichnen. Er will vielmehr einen
Beitrag dazu leisten, dass Kriminellen, so genannten
Hooligans, das Handwerk gelegt wird.
Es kann sein, dass es Hooligans gibt, die von sich be-
haupten, sie seien echte Fußballfans, oder dass sie sich
als solche tarnen. Tatsächlich sind es jedoch gewöhnli-
che Kriminelle, die leider insbesondere den Fußballsport
dazu missbrauchen, ihr Unwesen zu treiben. Echte Fans,
die diesen Sport lieben und ihrem Verein und der Natio-
nalmannschaft helfen wollen, sollten sich, wo immer
und wann immer möglich, in ihrem eigenen Interesse
von diesen Hooligans distanzieren. Denen geht es näm-
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8419
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lich nicht um den Sport, um einen fairen Wettkampf,
nicht um den Fußball – die schönste Nebensache der
Welt. Hooligans geht es um nackte Gewalt und „immer
häufiger um extreme Grade von Brutalität und Grau-
samkeit“, wie der DFB betroffen konstatieren musste.
Dies kann der Staat nicht dulden, zumal Gewalt in all ih-
ren Erscheinungsformen kein fußballspezifisches son-
dern – leider – ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.
Wer das gewalttätige Treiben der Hooligans frühzei-
tig unterbinden will, muss zunächst dafür sorgen, dass
ihnen die Einreise nach Belgien und in die Niederlande
verwehrt wird. Aus gegebenem Anlass soll zukünftig
bekannten Gewalttätern – unter bestimmten Vorausset-
zungen zur Gefahrenabwehr die Aus- bzw. Einreise un-
tersagt werden können.
Nach geltendem Recht sind jedoch Zuwiderhandlun-
gen gegen Passversagungen, nicht aber gegen nur pass-
beschränkende Maßnahmen mit Strafe bedroht. Diese
Strafbarkeitslücke soll geschlossen werden. Wer gegen
diese passbeschränkenden Maßnahmen verstößt, soll
zukünftig schon alleine wegen dieses Deliktes bestraft
werden können. Ob er daneben im Ausland irgendwel-
che Straftaten begeht, ist in diesem Zusammenhang un-
erheblich.
Aber machen wir uns bitte nichts vor: Dieses Gesetz
ist sicherlich gut gemeint, entscheidend ist jedoch nicht
der nackte Gesetzestext, sondern der Gesetzesvollzug,
die praktische Handhabung, also die Umsetzung in den
kommenden Wochen und Monaten durch die zuständi-
gen Behörden. Und da wird es eine Menge Arbeit geben.
Dieses Gesetz macht nur dann Sinn, wenn die geplanten
passbeschränkenden Maßnahmen in der Praxis auch tat-
sächlich verhängt werden. Wir werden daher bei den an-
stehenden Beratungen im Innenausschuss insbesondere
prüfen müssen, ob der Gesetzeszweck mit diesen Maß-
nahmen überhaupt erreicht werden kann.
In der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze,
sind circa 8 000 gewaltgeneigte und gewaltbereite Row-
dies registriert, zwischen 2 700 und 3 000 werden zum
harten Kern gerechnet. Nach den bitteren Erfahrungen
von Lens erscheint es dringen geboten, die Sicherheits-
vorkehrungen nicht wie früher auf die jeweiligen Spiel-
orte zu beschränken, gerade präventive Maßnahmen
müssen früher ansetzen. Vor diesem Hintergrund ist der
Gesetzentwurf durchaus diskussionswürdig, jedenfalls
ist undifferenzierte Pauschalkritik, wie sie von den
Bündnisgrünen Appel und Özdemir öffentlich vorge-
bracht wurde, zumindest in dieser Form, nicht nachvoll-
ziehbar. Dies gilt auch für die etwas nebulösen Ausfüh-
rungen des Kollegen Wiefelspütz, nach deren Lektüre
ich ehrlich gesagt nicht wusste, ob er für oder gegen den
Gesetzentwurf ist.
Bessere Vorschläge sind jedenfalls herzlich will-
kommen und allemal sinnvoller, als die grüne Schmäh-
kritik, hier werde – so wörtlich – „in die Mottenkiste des
Obrigkeitsstaates“ gegriffen. Wenn das der grüne Bei-
trag zur Problembewältigung sein soll, dann könnten
bald die ersten Dankschreiben der Hooligans bei Ihnen
eintreffen.
Natürlich ist die Kritik, dass die geplanten Maßnah-
men der Schengen-Idee zuwiderliefen, nicht einfach von
der Hand zu weisen und natürlich sind die – leider –
notwendigen Grenzkontrollen mit einem erheblichen
personellen Aufwand verbunden, der auch geleistet wer-
den muss. Aber wir wollen doch auch, dass unser Euro-
pa ein Raum der Freiheit und des Rechts ist. Dann muss
man diesem Recht auch Geltung verschaffen und
Rechtsbrechern mit den zur Verfügung stehenden
rechtsstaatlichen Mitteln das Handwerk legen. Die Eini-
gung Europas wird man nicht dadurch erleichtern, dass
man Kriminellen freie Fahrt gewährt – ganz im Gegen-
teil.
Die geplanten gesetzlichen Maßnahmen müssen als
Teil eines umfassenden Sicherheitskonzeptes verstanden
werden, das nur bei innernationaler aber auch internati-
onaler Zusammenarbeit funktionieren kann. Und ich re-
ge an, mit den betroffenen Nachbarländern – sofern
noch nicht geschehen – auch darüber zu verhandeln, ob
im Rahmen der notwendigen polizeilichen Kooperation
nicht auch wechselseitig weitergehende Rechte, zum
Beispiel bei Observierungen und Ermittlungen einge-
räumt werden sollten.
Wichtig ist aber auch, dass die Bundesregierung nicht
den Eindruck erweckt, als sei alleine durch diese Geset-
zesinitiative irgendein Problem gelöst oder gar schon
das Ziel erreicht. Vielmehr brauchen wir ein ganzes
Bündel von Maßnahmen, beispielhaft nenne ich nur: ei-
ne konsequente Ausschöpfung der landesrechtlichen
Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Überwachung von
Meldeauflagen; eine enge internationale Zusammenar-
beit im Vorfeld und vor Ort; rechtzeitige und schnelle –
auch grenzüberschreitende – Amtshilfe; eine enge Ko-
operation der Sicherheitsbehörden mit dem DFB, aber
auch den Vereinen und ihren Fan-Beauftragten oder
präventive Maßnahmen schon beim Verkauf von Ein-
trittskarten.
Gott sei Dank hat es im Zusammenhang mit dem
Fußballspiel gestern Abend keine besonderen Vor-
kommnisse gegeben. Allerdings muss der Vollständig-
keit halber leider darauf hingewiesen werden, dass vor
Ort insgesamt neun Randalierer aufgegriffen und zu-
rückgeschickt werden konnten und dass zuvor circa 30
gewaltbereite Personen auf dem Weg bzw. an der Gren-
ze zu den Niederlanden abgefangen und aufgehalten
wurden.
Daraus, dass glücklicherweise keine besonderen ge-
walttätigen Auseinandersetzungen registriert werden
mussten, dürfen wir jedoch nicht den Schluss ziehen,
dass im Hinblick auf die Europameisterschaft nunmehr
Entwarnung angesagt sei. Nach wie vor ist Wachsamkeit
und eine frühzeitige angemessene Reaktion auf
Provokationen und Rechtsverletzungen oberstes Gebot.
Und die Gewaltbereiten müssen wissen, dass die
Ordnungskräfte im Fall einer Auseinandersetzung auch
nicht vor brutaler Gewalt zurückschrecken oder gar
kapitulieren. Leider gibt es immer noch viel zu viele, die
nur Gegengewalt ernst nehmen.
Wer glaubt, der internationalen Hooligan-Szene mit
in der Bundesrepublik leider auch bei gewalttätigen
8420 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
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Demonstrationen gelegentlich so beliebten Deeskalati-
onsstrategie begegnen zu können, läuft Gefahr, einen ge-
fährlichen Fehler zu begehen. Gesprächstherapeuten
werden bei Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten
Hooligans nicht helfen.
Diese Debatte möchte ich gerne dazu nutzen, hier
einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass der DFB
und mit ihm viele Mitgliedsvereine schon in der Ver-
gangenheit viel geplant und getan haben, um den Fuß-
ballrowdys das Handwerk zu legen. Ich nenne beispiel-
haft die Herren Hennes und Sengle, die auf diesem Ge-
biet besonders arbeiten, und danke all denen, die sich
vor allem ehrenamtlich dafür engagieren, dass Gewalt
verhindert und wenn möglich tabuisiert wird. Lens darf
sich nicht wiederholen – nicht bei der EM 2000 und
auch nicht bei anderen Ereignissen.
Wir werden wohl nie sagen können, dass Legislative
und Exekutive alles getan haben, um den friedlichen
Aufbau derartiger Veranstaltungen garantieren zu kön-
nen. Aber jeder, der hier Verantwortung trägt, muss das
ihm Mögliche und Zumutbare unternehmen, um den
drohenden Gefahren frühzeitig zu begegnen.
Wir wollen in wenigen Monaten bei der Endrunde der
Fußball-EM 2000 ein großes Fest feiern. Wir wollen gu-
te, spannende Spiele sehen und es wäre schön, wenn un-
sere Jungs ab und zu gewinnen würden. Mir persönlich
würde es schon genügen, wenn sie in jedem Spiel nur
ein einziges Tor mehr schießen würden als der Gegner.
Und wir wollen nicht, dass Kriminelle und Chaoten die
EM und andere sportliche Großveranstaltungen dazu
missbrauchen, ihre perversen Triebe zulasten friedlicher
Fans und anderer Bürger auszutoben.
Jeder, der hier sinnvolle und praxistaugliche Vor-
schläge machen möchte, wie das von uns allen ange-
strebte Ziel erreicht werden kann, ist uns bei der anste-
henden Beratung willkommen.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer
das Passgesetz in seiner gültigen Fassung liest, findet
noch die Berlin-Klausel und anderes mehr im Text. Es
ist gut, dass wir die Textfassung mit der vorgelegten
Textfassung aktualisieren. Im Mittelpunkt der Gesetzes-
änderung steht selbstverständlich nicht die Streichung
obsoleter Textstellen.
Wir alle haben noch die Bilder des blutüberströmten
französischen Polizeibeamten Nivel vor Augen, der am
Rande der Fußballweltmeisterschaft von deutschen Hoo-
ligans fast zu Tode geprügelt wurde. Bundesregierung
und Koalitionsfraktionen stehen in der Verantwortung,
das ihnen Mögliche zu tun, um derartige Verbrechen so
gut das eben geht zu unterbinden.
Uns ist klar, dass der Schwerpunkt der Präventionsar-
beit nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch Polizei,
Grenzschutz und ganz besonders auch durch eine kluge
Projektbetreuung dieser Gruppen erfolgen kann. Die
vorgelegte Änderung des Passgesetzes – darüber sind
wir uns einig – ist nur ein Mosaikstein. Fehlt er aber, ist
das Fresko unvollständig. Es ist dann gerade diese Lü-
cke, auf die sich die Blicke richten.
Wir haben es uns mit der Zustimmung für die Straf-
bewehrung der passbeschränkenden Maßnahmen nach
§ 7 Abs. 2 des Passgesetzes nicht leicht gemacht. Wir
haben sehr wohl immer die Gefahr vor Augen, dass Be-
hörden auf einen bloßen Verdacht hin Menschen, die sie
auf dem Kieker haben, die Urlaubsreise verbieten. Das
Grundrecht auf Freizügigkeit hat auch nach der Elfes-
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen ho-
hen grundrechtlichen Stellenwert. Im Umgang mit ho-
hen Verfassungsgütern verbietet sich jede Leichtfertig-
keit.
Es gab im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs durchaus
Vorstellungen, das Gesetz in eine von mir eben skizzier-
te Richtung zu ändern. Das ist mit uns aber nicht zu ma-
chen. Eine Sicherstellung des Passes aufgrund der blo-
ßen Annahme, dass gegen den Inhaber passbeschrän-
kenden Maßnahmen nach § 7 Abs. 2 ergangen sind, geht
uns zu weit. Im Kern kann man sich aber dem Ansinnen
der Innenministerkonferenz nicht verschließen, einen
Beitrag zu leisten, damit deutsche Fußballrowdys im
Ausland weniger Schaden anrichten.
Es ist richtig, auch unseren Nachbarn gegenüber, ein
Zeichen der Entschlossenheit zu setzen. Deutsche Stiefel
haben dort in der Vergangenheit genug Unheil angerich-
tet. Die Menschen in diesen Ländern haben einen An-
spruch darauf, dass wir unser Möglichstes tun, diese
Leute unter Kontrolle zu halten.
Vertretbar halten wir von daher die Erweiterung
Strafbewehrung auf passbeschränkenden Maßnahmen.
Es ist auch kaum verständlich, wenn Steuerschuldner
und andere, die das Land aus gewiss nachvollziehbaren
Gründen nicht verlassen dürfen, bestraft werden – Hoo-
ligans aber nicht, wenn sie trotz Verbot in ein bestimm-
tes Land reisen. Es würde im Übrigen auch keinen Sinn
machen und wäre rechtswidrig, sie nun generell an der
Ausreise hindern zu wollen. Sie aber bei Verstößen ge-
gen die Auflage denen gleichzustellen, die nicht ausrei-
sen dürfen, erscheint mir durchaus angebracht.
Richtig ist, dass die nun strafbewehrte Ausreise trotz
Verbots bereits als Ordnungswidrigkeit geahndet werden
konnte. In der Praxis hat das wohl keine Rolle gespielt.
Richtig ist es aber trotzdem, die deutschen Hooligans zu
warnen: Sie müssen nunmehr damit rechnen, im Falle
ihrer Abschiebung vor ein deutsches Gericht gestellt zu
werden, wenn sie zuvor trotz Verbots ausgereist sind.
Ich hoffe, das es bei den anstehenden sportlichen
Großereignissen nicht zu den gleichen furchtbaren Vor-
fällen kommt wie in Frankreich im Fall Nivel. Zuver-
sichtlich stimmt mich die Generalprobe gestern beim
Polizeieinsatz vor dem Freundschaftsspiel der Fußball-
Nationalmannschaft gegen das Team der Niederlande.
Dabei wurde 18 Rowdys die Ausreise verwehrt. Es blieb
in Amsterdam friedlich. Ich kann nur hoffen, dass dies
auch künftig so bleiben wird.
Dr. Max Stadler (F.D.P.): Das Hooligan-Unwesen
ist auf das Schärfste zu verurteilen. Die friedlichen Be-
sucher von Sportveranstaltungen müssen vor gewalttäti-
gen so genannten Fans geschützt werden. Es gehört da-
her zu den Aufgaben des Bundesinnenministers, ein Si-
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8421
(A)
(B)
(C)
(D)
cherheitskonzept für die bevorstehende Fußball-Europa-
meisterschaft vorzulegen. Ausschreitungen wie bei der
Weltmeisterschaft 1998, verursacht von deutschen Hoo-
ligans, dürfen sich nicht wiederholen.
Das Gesetz zur Änderung des Pass- und Personal-
ausweisrechts soll ein Baustein dieses Sicherheitskon-
zepts sein.
Gut gemeint steht aber oft im Gegensatz zu gut ge-
macht. Mein Fraktionskollege Klaus Kinkel hat nicht
ohne Grund geurteilt: „Schilys Gesetz ist ein Schnell-
schuss mit der Schrotflinte“.
Die Bundesregierung wird in den Ausschussberatun-
gen auf einige kritische Nachfragen der F.D.P.-Fraktion
Antwort geben müssen. Davon, ob diese Antworten zu-
friedenstellend ausfallen, wird unsere endgültige Hal-
tung zu dem Gesetzentwurf abhängen.
Denn in einem Rechtsstaat muss klar sein: Der
Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel“ wird – viel-
leicht zu Unrecht – den Jesuiten zugeschrieben. Im
Grundgesetz sucht man auch nach diesem Satz freilich
vergebens.
Vielmehr ist bei jedem Eingriff in die staatsbürgerli-
chen Rechte, wie bei dem von der Bundesregierung hier
vorgeschlagenen Eingriff in die Reisefreiheit, die Frage
zu stellen: Ist die Maßnahme überhaupt geeignet, das
angestrebte Ziel zu erreichen?
Daran werden von Fachleuten Zweifel geäußert. Die
Gewerkschaft der Polizei beispielsweise hält das Sicher-
heitskonzept für die Fußball-Europameisterschaft für
unzulänglich. Die Vorschläge der Polizeipraktiker fin-
den sich jedenfalls in diesem Gesetzentwurf nicht wie-
der.
Der Gesetzentwurf sieht vor, den Geltungsbereich
von Pässen und Personalausweisen so zu beschränken,
dass für eine bestimmte Zeit keine Berechtigung zur
Einreise in bestimmte Länder mehr besteht. Ein Verstoß
hiergegen soll künftig strafbar sein.
Dann stellt sich freilich die Frage, warum denn bei
der Einführung des Passgesetzes nur die Ausreise bei
entzogenem Pass strafbar gestellt worden ist, nicht je-
doch die Ausreise bei Passbeschränkungen.
Nächstes Problem: Holland und Belgien, die Veran-
staltungsländer der Fußball-Europameisterschaft, sind
Mitgliedsländer der Europäischen Union. Zu den Grund-
freiheiten der EU gehört die Reisefreiheit. Ist denn nicht
angesichts der fortgeschrittenen europäischen Integrati-
on das Verbot einer Reise nach Holland oder Belgien
gleich zu bewerten dem Verbot der Reise eines Fans von
Hertha BSC Berlin zum Auswärtsspiel seiner Mann-
schaft beim FC Bayern München? Niemand käme auf
die Idee, dass die Reisefreiheit von einem deutschen
Bundesland zum anderen Bundesland einschränkbar wä-
re. Ist es wirklich problemlos, innerhalb des Europas des
Schengener Übereinkommens und Amsterdamer Vertra-
ges etwas anderes vorzusehen?
Und schließlich das gewichtigste Problem: Wie stellt
man fest, wer ein Hooligan ist? Muss dazu eine rechts-
kräftige Verurteilung wegen Gewalttätigkeiten vorlie-
gen? Oder reicht die Aufnahme in eine Verdachtskartei
aus, wenn es um die Einschränkung eines Grundrechtes
geht?
Zwischenfazit: Die F.D.P. unterstützt die Bemühun-
gen der Bundesregierung, Gewalttätigkeiten von Hooli-
gans zu verhindern. Ob dieser Zweck die vorgeschlage-
nen Mittel rechtfertigt, ist für uns noch offen.
Petra Pau (PDS): Wer den Jahresbericht über Fuß-
ball-Rowdytum in den Mitgliedstaaten der EU kennt,
wer die erschreckenden Bilder von Lens in Erinnerung
hat, der wird mir zustimmen: Es gibt allen Anlass zum
Nachdenken und Handeln.
Im erwähnten Bericht steht, dass gerade deutsche
Hooligans besonderes „feindselig und gewaltbereit“
sind – nicht nur gegenüber Sachen, sondern auch gegen-
über Menschen. Allerdings stellt sich die Frage, ob dem
ausgerechnet über das Pass- und Personalausweisrecht
zu begegnen ist? Das ist keine abschließende, sondern
eine zu beantwortende Frage.
Uns interessiert außerdem, wie und mit welchen Er-
gebnissen die Bundesregierung mit den Empfehlungen
des Rates der EU zur Zurückdrängung des Fußball-
Rowdytums umgegangen ist. Wir wollen wissen, welche
präventive Fan-Arbeit mit welchen Erfahrungen geleis-
tet wurde.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir schätzen
das Problem keinesfalls gering. Aber wir werden stutzig,
wenn als Erstes und Einziges nach mehr law and order
gerufen wird. Jedenfalls waren das die einzigen Bot-
schaften, die das Innenministerium bislang zum Thema
zu sagen hatte. Das betrifft Gefährdungsansprache, Mel-
deauflagen, Ausreiseverbote, Grenzkontrollen und de-
monstrative Begleitung.
Fritz-Rudolf Körper, Parl. Staatssekrtär beim Bun-
desminister des Inneren: Die Gesetzesvorlage geht auf
eine Initiative der IMK zurück. Ziel ist es, das gesetzli-
che Instrument zur Bekämpfung des Fußballrowdytums
– Hooligan-Szene – zu verbessern.
Im Einzelnen sieht der Entwurf vor: die Einführung
unmissverständlicher, klarer Regelungen über das Ei-
gentum der Bundesrepublik Deutschland am Pass und
Personalausweis, die Aufhebung der gesetzlich festge-
legten Gebührenobergrenzen für die Ausstellung von
Grenzübertrittspapieren, die Strafbewehrung der passbe-
schränkenden Maßnahmen nach § 7 Abs. 2 PassG und
die Aufhebung gegenstandslos gewordener Regelungen
und redaktionelle Änderungen.
Nach geltendem Recht können heute schon durch die
Passbehörde passbeschränkende Maßnahmen anlassbe-
zogen, also zeitlich und räumlich befristet, ausgespro-
chen werden. Dies gilt auch für Maßnahmen im Zu-
sammenhang mit Sportveranstaltungen. Grundvoraus-
setzung ist, dass eine erhebliche Gefährdung von Belan-
gen der Bundesrepublik Deutschland vorliegt. Dies kann
beim Auftreten gewaltbereiter deutscher Hooligans im
8422 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
(B)
(C)
(D)
Ausland der Fall sein. Darüber hinaus müssen Tatsachen
vorliegen, aufgrund derer damit zu rechnen ist, dass der
Betroffene bei dem bevorstehenden Anlass erneut ge-
walttätig wird.
Unter diesen Voraussetzungen kann der Pass be-
schränkt werden. Die Passbeschränkung ist in den Pass
einzutragen. Wird der Pass nicht vorgelegt, so ist die
Anordnung der Beschränkung gleichwohl wirksam.
Durch den Gesetzentwurf zur Änderung des Pass-
und Personalausweisrechts soll die Strafbarkeit der Aus-
reise trotz bestehender passbeschränkende Maßnahmen
neu eingeführt werden, bisher wird ein solcher Verstoß
lediglich als Ordnungswidrigkeit geahndet.
Der praktische Nutzen dieser auch von der IMK ge-
forderten Änderung besteht darin, dass bei gewalttätigen
Ausschreitungen aufgegriffene und abgeschobene Hoo-
ligans, gegen die eine passbeschränkende Maßnahme
verhängt worden ist, schon allein wegen der illegalen
Ausreise bestraft werden können. Es bedarf keines bei
Straftaten im Ausland sehr schwer zu führenden Nach-
weises einer anderen Straftat mehr.
Damit die Änderung des Passgesetzes vor der Fuß-
ball-Europameisterschaft in Kraft treten kann, ist der
Gesetzentwurf eingebracht worden. Allerdings sollte
deutlich gemacht werden, dass diese Regelungen nur ein
Mosaikstein in einer Gesamtkonzeption sind. Die Ände-
rung des Passgesetzes ist ein Baustein des umfassenden
Sicherheitskonzepts für die Fußball-Europameister-
schaft.
Gemeinsame Sicherheitsmaßnahmen sind für die
Fußball-Europameisterschaft unerlässlich, um Gewalt-
ausschreitungen von Hooligans zu verhindern. Die In-
nenminister von Deutschland, Belgien und den Nieder-
landen haben deshalb am 16. Februar 2000 in Berlin ein
gemeinsames Sicherheitskonzept für die Fußball-
Europameisterschaft – EURO 2000 – verabschiedet.
Damit soll vermieden werden, dass die EURO 2000
durch Gewalttäter gestört wird.
Im Wesentlichen wurden in einer gemeinsamen Er-
klärung folgende Sicherheitsmaßnahmen vereinbart: die
Entsendung deutscher Polizeibeamter, die Beobachtung
der Fans bis zu Grenze durch die deutsche Polizei, die
Begleitung der Fans in den Zügen durch den Bundes-
grenzschutz und die Abstimmung der Informations- und
Meldewege, um einen gezielten und sicheren Informati-
onsaustausch sicherzustellen.
Weiterhin waren sich die Minister einig, dass jede
Möglichkeit genutzt werden sollte, um gewaltbereite
Hooligans bereits an der Ausreise zu hindern. Ein Ele-
ment ist in diesem Zusammenhang die von uns einge-
brachte Änderung des Passgesetzes.
Ein Probelauf war das gestrige Spiel. Ich lege die
Hoffnung auf eine friedliche WM.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bun-
desknappschaft und See-Krankenkasse (Zusatz-
tagesordnungspunkt 10)
Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN): Die Gesundheitsreform 2000 ist am
1. Januar in Kraft getreten. Wir können feststellen: Das
Gesundheitswesen existiert immer noch und ist nicht, si-
cher sehr zum Bedauern der Opposition, im Chaos un-
tergegangen. Auch können wir feststellen, dass die Pro-
teststürme des vergangenen Jahres einer breiten Zu-
stimmung gewichen sind. Selbst das Wirtschaftsmagazin
„Capital“ lobt die Gesundheitsreform und verweist auf
die Vielzahl von Verbesserungen für die Patientinnen
und Patienten.
Was der interessierte Beobachter ebenfalls feststellen
kann, ist, dass hier und da einige Details nicht geregelt
werden konnten. Hierzu gehören nicht nur die Organisa-
tionsreform der Kassenärztlichen Vereinigungen, die
Datentransparenz und der Datenschutz. Wer genau hin-
sieht, kann leicht feststellen, dass Sie von der Oppositi-
on durch Ihr Taktieren im Gesundheitsausschuss des
Bundestages die Bundesknappschaft in existenzielle
Schwierigkeiten gebracht haben. Die von uns im letzten
Jahr vorgeschlagene Lösung bremsten Sie aus und hier
verweise ich mit Nachdruck auf die F.D.P..
Von den zurzeit 1,4 Millionen Versicherten in der
knappschaftlichen Krankenversicherung sind circa
900 000 Rentner und 310 000 Angehörige. Demgegen-
über stehen nur 220 000 aktive Mitglieder. Binnen Jah-
resfrist verliert die Bundesknappschaft circa 60 000 ihrer
Versicherten, wovon – aufgrund der bisherigen gesetzli-
chen Regelung – im Jahre 1998 allein 18 000 Aktive
waren. Tendenz stark steigend. Bis zum In-Kraft-Treten
des Ihnen heute vorliegenden Gesetzes wird die Knapp-
schaft also circa 10 000 weitere aktive Mitglieder verlo-
ren haben und wird sich die Situation weiter zuspitzen.
Die bisherige Gesetzesregelung, und die haben wir
von Ihnen geerbt, weist der Knappschaft und der See-
krankenkasse ihre Mitglieder zwingend zu. Ein Aus-
scheiden aus einem Beschäftigungsverhältnis dieser
Wirtschaftszweige erzwingt auch ein Ausscheiden aus
der entsprechenden Krankenversicherung. Die knapp-
schaftliche Rentenversicherung bzw. die Seekasse blei-
ben jedoch für die Leistungsgewährung der Rentenan-
sprüche zuständig. Dies ist nicht nur für die Versicherten
verwirrend, es gefährdet auch die entsprechenden Kran-
kenversicherungsträger.
Die Koalition sah im Rahmen der Gesundheitsreform
eine Interimslösung bis zum In-Kraft-Treten einer Orga-
nisationsreform der Krankenkassen für die Bundes-
knappschaft und die Seekrankenkasse vor. Da sich die
Situation dieser Kassen, bedingt durch den strukturellen
Wandel unserer Industriegesellschaft und den damit
verbundenen Abbau von Arbeitsplätzen, vor allem im
Bergbau, weiter zuspitzt, sind wir als Gesetzgeber ge-
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8423
(A)
(B)
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(D)
fordert, den rechtlichen Sonderstatus der Versicherten
im Bergbau und der Seefahrt zu ändern.
Das vorliegende Gesetz stellt keinen Vorgriff auf die
anstehende Organisationsreform, sondern eine Über-
gangsregelung dar. Um dies zu verdeutlichen, begrenzen
wir die Gültigkeit der vorgesehenen Regelungen bis zum
In-Kraft-Treten dieser. Zu einer Ausweitung des Versi-
chertenkreises für die Bundesknappschaft wie auch zu
einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Kran-
kenkassen wird es nicht kommen. Vielmehr wollen wir
den langjährig Versicherten die Möglichkeit bieten, bei
einem Wechsel aus dem Bergbau in einen anderen Wirt-
schaftszweig bei der bisherigen Krankenkasse versichert
bleiben zu können. Dies hat nicht nur zur Folge, dass
wir den Versicherten unnötige, gesetzlich erzwungene
Belastungen bei der Suche nach einer neuen Kranken-
kasse ersparen, sondern trägt auch zur Stabilisierung der
knappschaftlichen Krankenkasse und der Seekranken-
kasse bei.
Ein Zusammenbruch der Bundesknappschaft liegt
nicht im Interesse der gesetzlichen Krankenversicherung
und der Politik. Wir als Gesetzgeber besitzen die Kom-
petenz, für Abhilfe zu sorgen, und nehmen diese mit
diesem Gesetz war. Auch die F.D.P. sollte sich dem
nicht verschließen.
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung für dieses Gesetz.
Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Die Bundes-
knappschaft ist ein leistungsfähiges Dienstleistungsun-
ternehmen, das ihren Versicherten umfassende soziale
Sicherheit aus einer Hand bietet. Traditionell gewach-
sen, hat die Bundesknappschaft ein weit umfangreiche-
res Leistungsangebot als andere Sozialversicherungsträ-
ger. Die Bundesknappschaft ist zugleich Renten-, Kran-
ken- und Pflegeversicherung.
Der Rückgang der Beschäftigten im Bergbau hat
zwangsläufig eine Reduzierung der Versichertenzahlen
der knappschaftlichen Krankenversicherung zur Folge,
ohne dass es eine Chance für eine Kompensation gibt.
Der Bundesknappschaft als Krankenversicherungsträger
des Bergbaus werden nämlich die Versicherten grund-
sätzlich kraft Gesetzes zugewiesen. Danach sind dieje-
nigen aktiv Beschäftigten Pflichtmitglieder, die in einem
bergbaulichen Betrieb arbeiten. Verlieren die Arbeit-
nehmer ihren Arbeitsplatz im Bergbau, können sie im
Regelfall nicht Mitglied der knappschaftlichen Kran-
kenversicherung bleiben. Sie sind gezwungen, Mitglied
einer Krankenkasse zu werden, bei der sie nie zuvor ver-
sichert waren. Zuwahlrechte zur knappschaftlichen
Krankenversicherung bestehen lediglich für freiwillig
Versicherte und versicherungspflichtige Rentner.
Diese gesetzlichen Regelungen, zuletzt festgeschrie-
ben im Gesundheitsstrukturgesetz, sollten den Bestand
der knappschaftlichen Krankenversicherung sicherstel-
len. Diese ursprüngliche „Schutzfunktion“ der Kassen-
zuständigkeit kraft Gesetzes und die hiermit verbunde-
nen Wahlbeschränkungen haben sich jedoch – als Folge
der Beschäftigtenentwicklung im Bergbau – zwischen-
zeitlich ins Gegenteil verkehrt. Durch strukturelle An-
passungsmaßnahmen im Bergbau ist die Zahl der in die-
sem Bereich Beschäftigten bereits seit längerer Zeit
rückläufig. Das hat zu erheblichen Mitgliederverlusten
der Bundesknappschaft geführt. Durch den Rückgang
des Bergbaus hat die Bundesknappschaft seit 1991/1992
mehr als 400 000 Versicherte verloren, davon knapp
240 000 Aktive, verliert die Bundesknappschaft aktuell
circa 50 000 Versicherte pro Jahr mit anhaltender Ten-
denz und es erhöht sich im Jahr 2000 der Verlust zusätz-
lich durch den überplanmäßigen bzw. vorgezogenen
Stellenabbau im Steinkohlebergbau.
Die dringend erforderliche Stabilisierung der Mit-
gliederbasis kann jedoch von der Bundesknappschaft
nicht aus eigener Kraft erreicht werden. Hierfür ist eine
Änderung der jetzigen Gesetzeslage durch den vorgeleg-
ten Gesetzentwurf erforderlich. Mit dem jetzt vorgese-
henen „Bleiberecht“ der Versicherungspflichtigen und
Versicherungsberechtigten ist keine Ausweitung der Zu-
ständigkeit der Bundesknappschaft kraft Gesetzes ver-
bunden – damit wird auch das Wahlrecht zu Gunsten al-
ler anderen Krankenkassen nicht beeinträchtigt –, wird
lediglich den knappschaftlich Pflichtversicherten – und
auch nur dann, wenn für sie die Bundesknappschaft für
die spätere Rentenfeststellung zuständig ist – die Mög-
lichkeit eröffnet, in der Zeitspanne zwischen dem Aus-
scheiden aus der bergbaulichen Beschäftigung bis zum
Rentenbeginn ihren Versicherungsschutz durchgängig
bei einer Krankenkasse, der Bundesknappschaft, sicher-
zustellen und wird zudem eine Gleichstellung mit den
Beschäftigten erreicht, die nach dem Ausscheiden aus
der knappschaftlichen Beschäftigung im Rahmen der
freiwilligen Versicherung weiterhin Mitglied der
knappschaftlichen Krankenversicherung bleiben können.
In Anbetracht des Vorhabens einer umfassenden Or-
ganisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung
wird die angestrebte Neuregelung zeitlich begrenzt. Sie
stellt weder einen Vorgriff auf eine umfassende Organi-
sationsreform dar, noch wird sie deren Umsetzung in ir-
gendeiner Weise beschränken. Da sich die See-
Krankenkasse in einer vergleichbaren Situation wie die
Bundesknappschaft befindet, ist für sie im vorliegenden
Gesetzentwurf eine gleichgerichtete Neuregelung vorge-
sehen.
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
Bundesknappschaft und See-Krankenkasse spüren als
Krankenversicherungsträger die Folgen des Struktur-
wandels viel stärker als andere Kassenarten. Viele Be-
schäftigte im Bergbau und auf hoher See verlieren ihren
Arbeitsplatz. Da der Bundesknappschaft als Kranken-
versicherungsträger des Bergbaus ebenso wie der See-
Krankenkasse die Versicherten kraft Gesetzes zugewie-
sen werden, können sie bei Verlust des Arbeitsplatzes
bzw. Aufnahme einer anderen Beschäftigung nicht Mit-
glied der knappschaftlichen Krankenversicherung bzw.
der See-Krankenkasse bleiben. Sie sind praktisch ge-
zwungen, Mitglied einer Krankenkasse zu werden, bei
der sie nie zuvor versichert waren. Ein Wahlrecht zur
knappschaftlichen Krankenversicherung und zur See-
Krankenkasse besteht nur in begrenztem Umfang.
Bedingt durch strukturelle Anpassungsmaßnahmen
im Bergbau und in der Seeschifffahrt ist die Zahl der
8424 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000
(A)
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(D)
Beschäftigten in diesen Sektoren stark rückläufig mit der
Konsequenz, dass Bundesknappschaft und See-Kran-
kenkasse unter einem erheblichen Mitgliederverlust lei-
den.
Allein im Zeitraum von Dezember 1995 bis Mitte
1999 ist die Zahl der versicherungspflichtigen Mitglie-
der der Bundesknappschaft um 27 Prozent zurückge-
gangen. Die See-Krankenkasse hat im gleichen Zeitraum
über 10 Prozent ihrer versicherungspflichtigen Mitglie-
der verloren. Bei diesem Mitgliederschwund ist die
Entwicklung in der Krankenversicherung der Rentner
noch nicht berücksichtigt worden.
Rund 80 Prozent der Versicherten der Bundesknapp-
schaft sind Rentner. Lediglich 20 Prozent der Mitglieder
gelten als „junger“ Arbeitnehmer. Das Durchschnittsal-
ter in der Krankenversicherung der Rentner liegt bei
über 73 Jahren. Die hiermit verbundene hohe Sterblich-
keitsrate von jährlich circa 40 000 Mitgliedern be-
schleunigt die Erosion der knappschaftlichen Kranken-
versicherung.
Auch in Zukunft lassen die Rahmenbedingungen kei-
ne positive Änderung der Situation erkennen, sodass die
Existenz der beiden Versicherungsträger massiv bedroht
ist. Es liegt auf der Hand, dass damit auch bei den be-
troffenen Versicherten erhebliche Rechtsunsicherheit
herrscht.
Die Union tritt im Interesse der Versicherten für die
Anliegen von Bundesknappschaft und See-Kranken-
kasse ein. Den Versicherungspflichtigen und den Versi-
cherungsberechtigten, die in der Vergangenheit aus der
Bundesknappschaft oder See-Krankenkasse ausgeschie-
den sind bzw. bis zum In-Kraft-Treten eines umfassen-
den Organisationsrechts der Krankenkassen noch aus-
scheiden, soll die Möglichkeit eröffnet werden, bei ihrer
bisherigen Krankenkasse zu bleiben bzw. zu ihrer frühe-
ren Krankenkasse zurückzukehren. Voraussetzung ist,
dass die Bundesknappschaft bzw. die See-Krankenkasse
für die Leistungsgewährung zuständig ist.
Diese Wahlmöglichkeit löst die Probleme dieser bei-
den Kassenarten nicht vollständig, aber sie honoriert die
Anstrengungen, die unternommen worden sind, um die-
se beiden Kassenarten zu erhalten. So hat die Bundes-
knappschaft im Jahre 1998 einen Anstieg der Leistungs-
ausgaben verhindert, während die Leistungsausgaben
der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt um
2 Prozent gestiegen sind. In einigen Bereichen konnte
die knappschaftliche Krankenversicherung sogar die
größten Einsparungen im gesamten System der gesetzli-
chen Krankenversicherung erzielen, etwa bei den Hilfs-
mitteln und der häuslichen Krankenpflege. Darauf auf-
bauend hat sie den allgemeinen Beitragssatz in der
Krankenversicherung zum 1. Januar 1999 von 14,5 auf
13,8 Prozent gesenkt. Zum 1. Januar 2000 erfolgte eine
weitere Senkung des allgemeinen Beitragssatzes auf
13,5 Prozent.
Auch mit Blick auf die landwirtschaftlichen Kran-
kenkassen, die ebenfalls über einen gesetzlich zugewie-
senen Mitgliederkreis verfügen, ist der vorliegende Ge-
setzentwurf vertretbar. Im Unterschied zu den landwirt-
schaftlichen Krankenkassen erhalten die See-Kranken-
kasse und die Bundesknappschaft keinen Bundeszu-
schuss zur gesetzlichen Krankenversicherung.
Allerdings ist klar, dass die jetzt gefundene Regelung
nur eine Übergangslösung darstellt. Der Mitgliederkreis
von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse soll
nicht dauerhaft in dieser Art und Weise abgegrenzt blei-
ben. Das besondere Wahlrecht gilt nur solange, bis eine
umfassendere Reform des Organisationsrechts der Kran-
kenkassen in Kraft tritt. Ziel dieser Reform muss es sein,
vorhandene Fehlentwicklungen zu beseitigen und den
Wettbewerb der Krankenkassen in ein ökonomisch sinn-
volles Umfeld einzubetten.
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Der vorliegende Ge-
setzentwurf der rotgrünen Koalition zur Stabilisierung
des Mitgliedskreises von Bundesknappschaft und See-
Krankenkasse ist ohne Zweifel zu früh eingebracht wor-
den. Die Bundesregierung versucht in dieser Weise mit
einzeln eingebrachten Gesetzentwürfen die Teilbereiche
zu regeln, die in eine Gesamtkonzeption gehören.
Zum Glück ist die rotgrüne Koalition mit dem Errich-
tungs- und Öffnungsverbot der Betriebskrankenkassen
wegen des erheblichen Widerstandes auch vonseiten
der F.D.P. gescheitert. Nun versucht sie es mit einem ei-
genen Gesetzentwurf für den Teilbereich der Bundes-
knappschaft und der See-Krankenkasse und wird ver-
mutlich wiederum feststellen müssen, dass Insellösun-
gen in einem so sensiblen Bereich wie der Organisati-
onsstruktur der Krankenkassen unter den Kassen Wider-
stände hervorrufen wird. Ich teile die Auffassung, dass
es nicht sinnvoll ist, isoliert für zwei Sondersysteme
Ausnahmeregelungen zu treffen. Vielmehr sollten die
bestehenden Probleme der Bundesknappschaft und der
See-Krankenkasse zusammen in einer umfassenden Re-
form des Organisationsrechts der Krankenkassen insge-
samt gelöst werden. Bei Vorwegnahme einer solchen
Regelung besteht die Gefahr, dass von dieser eine präju-
dizierende Wirkung auf die später durchzuführende Or-
ganisationsreform ausgeht und damit jetzt unter dem
harmlosen Deckmantel einer Kleinstlösung unumstößli-
che Fakten geschaffen werden. Im Gesundheitsaus-
schuss muss nun genauestens geprüft werden, welche
Konsequenzen diese neue Regelung im Einzelnen hat.
Meine Damen und Herren, was mich an diesem Ge-
setzentwurf weiter stört, ist die Tatsache, dass nun zum
zweiten Mal versucht werden soll, diese in den Konse-
quenzen noch gar nicht absehbaren Änderungen in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion durchzusetzen. Denn schon in
der Gesundheitsreform 2000 sollten diese Änderungen –
man höre und staune – ohne Anhörung der Betroffenen
„mal so eben“ mit beschlossen werden. Wo ist denn hier
das von Rotgrün in diesen Tagen so viel beschworene
Demokratieverständnis? Oder hofft man, dass die ande-
ren Kassenarten auf diese Art und Weise nicht so richtig
mitbekommen, was hier läuft und gleichzeitig eine
Klientel bedient werden kann, da im Bergbauland Nord-
rhein-Westfalen und im Küstenland Schleswig-Holstein
Landtagswahlen anstehen? Das würde die Eile ganz gut
erklären. Man will dem Norden dieses Bonbon noch vor
dem nächsten Wahlsonntag überreichen. Das aber ist
eindeutig zu kurz gedacht.
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 90. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2000 8425
(A) (C)
So, Frau Ministerin, kann man keine Politik betrei-
ben. Aber damit befinden Sie sich mit dem Herrn Au-
ßenminister ja in guter Gesellschaft, der zu dritten Mal
einen Afrikabesuch abgesagt hat, um im schleswig-
holsteinischen Wahlkampf joggen zu gehen.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Mit dem vorliegenden Ent-
wurf eines Gesetzes zur Stabilisierung der Mitglied-
schaft von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse
soll bis zum In-Kraft-Treten einer Organisationsreform
der Gesetzlichen Krankenversicherung die Zahl der
Mitglieder in diesen beiden Kassen möglichst erhalten
werden.
Bundesknappschaft und See-Krankenkasse sind be-
kanntlich berufsständische Krankenversicherungsträger,
denen die Mitglieder in der Regel aufgrund gesetzlicher
Bestimmungen zugewiesen werden. Die Mitgliedschaft
erlischt, wenn die Beschäftigten aus dem entsprechen-
den Bereich ausscheiden.
Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und des
Beschäftigungsrückganges in diesen Branchen ist es in
den letzten Jahren in beiden Kassenarten zu beträchtli-
chen Mitgliederverlusten gekommen. Damit bewirkt die
Mitgliederzuweisung, welche die Knappschaft und die
See-Kasse gerade in ihrem Bestand erhalten sollte, in-
zwischen das Gegenteil. Es ist zu befürchten, dass sich
diese Tendenz fortsetzen wird.
Jetzt sollen diejenigen Kassenmitglieder, die in den
letzten Jahren in eine Beschäftigung außerhalb des
Knappschaftsbereiches und außerhalb der Seeschifffahrt
gewechselt sind oder in der kommenden Zeit noch
wechseln werden, ein zeitlich befristetes Wahlrecht für
die Rückkehr bzw. für den Verbleib in Bundesknapp-
schaft und See-Kasse erhalten. Voraussetzung dafür soll
sein, dass die knappschaftliche Rentenversicherung bzw.
die See-Kasse für die Leistungsgewährung zuständig ist.
Die Koalition erhofft sich von dieser Regelung, eine
kurzzeitige Stabilisierung des Mitgliederbestandes von
Bundesknappschaft und See-Krankenkasse.
Letztlich ist die entstandene Situation die Folge eines
Kassenwettbewerbes, bei dem es sich trotz Risikostruk-
turausgleich für eine einzelne Kasse lohnt, Risikoselek-
tion zu betreiben und eine möglichst „günstige“ Versi-
chertenstruktur anzustreben. Unter solchen Bedingungen
ist es natürlich kontraproduktiv, wenn für Kassen, die in
Branchen mit rückläufiger Beschäftigung tätig sind, eine
berufsständische Mitgliederzuordnung gilt. Insofern
kann das Gesetz bestenfalls dazu beitragen, die ange-
sprochenen Kassenarten kurzfristig vor dem Aus zu be-
wahren. Eine Lösung der grundlegenden Probleme, die
mit den gegenwärtigen Formen eines ökonomischen
Wettbewerbs der Krankenkassen verbunden sind, wird
auf solche Weise nicht erreicht.
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