Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Vorweg einige Mitteilungen: Der Kollege DieterPützhofen hat am 1. Oktober 1999 auf seine Mitglied-schaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein
schen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereitsaus vergangenen Wahlperioden bekannten Kollegen sehrherzlich.
Die Fraktion der PDS hat mitgeteilt, daß der Abge-ordnete Uwe Hiksch mit Wirkung vom 5. Oktober 1999der Bundestagsfraktion der PDS angehört.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in einerZusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern: 1. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Betei-ligung an dem internationalen Streitkräfteverband in Ost-timor zur Wiederherstellung von Sicherheit undFrieden auf der Grundlage der Resolution 1264 (1999) desSicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September1999 – Drucksache 14/1719 –
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Die Rolle der Interparlamentarischen Union
im Zeitalter der Globalisierung
– Drucksache 14/1567 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dieter Schloten, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Vor 91 Jahren, 1908, fand indiesem Hause die erste Interparlamentarische Konferenzauf deutschem Boden statt. Am kommenden Sonntagwird hier die 102. Interparlamentarische Konferenzfeierlich eröffnet werden. Wir erwarten über 1 000 Par-lamentarierinnen und Parlamentarier aus 130 Staaten.138 Mitgliedsländer zählt die IPU mittlerweile. DieBerliner Konferenz 1999 wird nach 1908 und 1928 inBerlin, 1978 in Bonn und 1980 in Ost-Berlin die fünfteVersammlung in Deutschland sein.Schwerpunktthemen werden diesmal die Durchset-zung der Genfer Konventionen anläßlich ihres 50. Ge-burtstages sowie die Überprüfung der derzeitigen glo-balen Finanz- und Wirtschaftsmodelle sein. Darüberhinaus hat die Delegation der Bundesrepublik Deutsch-land einen aktuellen Zusatztagesordnungspunkt bean-tragt. Er lautet: „Der Beitrag der Parlamente zu einemfriedlichen und toleranten Zusammenleben von ethni-schen, kulturellen oder religiösen Minderheiten in einemgemeinsamen Staat“. Außerdem wird die KonferenzEmpfehlungen dazu erarbeiten, welchen Beitrag die IPUzum Aufbau eines demokratischen Staatswesens in Ost-timor leisten kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie alleherzlich dazu ein, die Gelegenheit in der kommendenWoche zu nutzen, in das Internationale Congress-Centrum zu kommen und Kontakte zu Kolleginnen undKollegen aus der ganzen Welt zu knüpfen oder zu pfle-gen.Ich bin in den vergangenen Wochen manchmal ge-fragt worden: Wie steht es denn eigentlich mit der de-mokratischen Legitimation vieler sogenannter Parla-mentarier, die auf dieser Konferenz Delegierte ihrerLänder sind? Diese Frage ist berechtigt. Ebenso wie inden Vereinten Nationen sind bei den Interparlamentari-schen Konferenzen Politiker vertreten, deren Legitima-tion oftmals vom Wohlwollen oder vom Willen der je-weiligen autoritären Machthaber ihres Landes abhängt.Ob wir nach Fernost, in bestimmte Regionen Afrikasoder in manche Anrainerstaaten des südlichen Mittel-meers, aber auch nach Ost- oder Südosteuropa, zumBeispiel nach Belarus oder Jugoslawien, schauen, wirstellen fest: Die parlamentarische Demokratie hat aufunserem Globus die Zweidrittelmehrheit noch nicht er-reicht. Dennoch behaupte ich: Die IPU ist das geeignet-ste und bedeutendste Instrument zur weltweiten Demo-kratisierung.Diese These möchte ich mit einem kurzen Rückblickauf die Entstehung und auf einige wichtige Entwick-lungsschritte der IPU sowie auf bedeutende Entschei-dungen, die sie in den letzten Jahren für ihre Zukunftgetroffen hat bzw. zu treffen beabsichtigt, begründen:Die Idee einer friedlichen Schlichtung von Streitigkeitenzwischen den europäischen Mächten wurde in derzweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Par-lamentariern vorangetrieben. Der österreichische Abge-ordnete Robert von Walterskirchen forderte bereits 1870als erster offizielle Beziehungen zwischen Parlamentenmit dem Ziel der Friedenssicherung – leider vergeblich.Erst dem britischen Abgeordneten William Randal Cre-mer sowie dem französischen Pazifisten Frédéric Passygelang es nach mehreren vergeblichen Anläufen, 1889die erste internationale parlamentarische Konferenz inParis einzuberufen. Dafür erhielten sie später den Frie-densnobelpreis. Eine Entschließung zur Friedenssiche-rung und zur Abrüstung kam jedoch noch nicht zustan-de. Zu mächtig wirkten die vom nationalistisch-imperialistischen Geist beherrschten Regierungen auf ih-re Parlamentarier ein.Dennoch folgten regelmäßige InterparlamentarischeKonferenzen in verschiedenen europäischen Hauptstäd-ten. 1899 wurde der Interparlamentarische Rat ge-schaffen, dem bis heute zwei Delegierte jedes Mitglied-staates angehören. Er gab der Union ihre programmati-sche Ausrichtung: Friedenssicherung durchStreitschlichtung und Abrüstung.Der erste international wirksame operative Schrittwurde ausgangs des 19. Jahrhunderts getan: Die Brüs-seler IPU-Konferenz von 1895 verabschiedete einenEntwurf für ein internationales Schiedsgericht. Diesführte unmittelbar zur Einberufung der Haager Frie-denskonferenz im Jahre 1899. Diese Konferenz beschloßdie Einrichtung des Ständigen InternationalenSchiedshofes in Den Haag. Das war ein Meilenstein inder Geschichte des Völkerrechts. Er wurde 1920 alsStändiger Internationaler Gerichtshof vom VölkerbundBundesminister Reinhard Klimmt
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und 1946 von den Vereinten Nationen als Internatio-naler Gerichtshof übernommen. Die Aufgaben diesesGerichtshofes entsprechen bis heute weitgehend den In-terventionen der IPU von 1895.Ideen und Visionen von Parlamentariern wurden lei-der erst nach den Weltkriegen von Regierungen aufge-griffen und im Völkerbund und in den Vereinten Natio-nen umgesetzt. Regierungsvertreter haben in diesenweltweit operierenden Gremien Aufgaben übernommen,die durch parlamentarische Diplomatie entstanden undgewachsen sind.Bevor ich auf die gegenwärtige Situation eingehe,möchte ich an die Interparlamentarischen Konferenzenvon 1908 und 1928 erinnern, die im Reichstag stattfan-den. 1908 scheiterte der vorausschauende Versuch meh-rerer Parlamentarier, eine vertragliche Anerkennung derbestehenden Grenzen in Europa zu erreichen, am Natio-nalismus vieler Teilnehmer und deren Regierungen.1928 unterstützte die Interparlamentarische Konferenzan diesem Ort den für den Frieden in Europa so wichti-gen deutsch-französischen Annäherungsprozeß. 1933wurde dann die interparlamentarische Gruppe des Deut-schen Reichstages aufgelöst. Die folgenden IPU-Konferenzen fanden ohne deutsche Beteiligung statt.Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich dieIPU von einer europäischen zu einer weltweiten parla-mentarischen Friedensorganisation – trotz des kaltenKrieges. Zum erstenmal nahm 1951 in Istanbul wiedereine deutsche Delegation an einer Interparlamentari-schen Konferenz teil. Seitdem beteiligen sich deutscheDelegierte engagiert und oftmals in führenden Positio-nen an der Durchsetzung der programmatischen Zieleder IPU. Ich erinnere an unseren kürzlich verstorbenenKollegen Dr. Hans Stercken, der 1985 für drei Jahrezum Präsidenten des Interparlamentarischen Rates ge-wählt wurde.Neben Friedenssicherung und Abrüstung nahm sichdie IPU neuer Themen an, zum Beispiel: Überwindungdes Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, ge-rechtere Weltwirtschaftsordnung, Maßnahmen gegen dieBedrohung der Umwelt, Weltraumrecht und vor allemSchutz der Menschenrechte und Demokratisierung. DieIPU hatte nämlich erkannt, daß ohne parlamentarischeDemokratie Frieden in der Welt nicht zu erreichen ist,daß ohne parlamentarische Demokratie die Gleichstel-lung der Frau nicht zu erreichen ist, daß ohne parla-mentarische Demokratie Bildung und Erziehung – ins-besondere der Mädchen – nicht zu erreichen sind unddaß ohne parlamentarische Demokratie Rassismus, Ter-rorismus und organisierte Kriminalität nicht erfolgreichbekämpft werden können.
Deshalb verabschiedete die IPU im September 1997in Kairo eine Erklärung zur „Sicherstellung dauerhafterDemokratie und Herstellung enger Verbindung zwi-schen Parlament und Bevölkerung“. Daraus zitiere ichnur einen Satz:Unbeschadet aller kulturellen, politischen, sozialenund wirtschaftlichen Unterschiede ist die Demo-kratie ein weltweit anerkanntes Ideal und zugleichein Ziel … , das auf allgemeinen Werten beruht, dievon der gesamten Völkergemeinschaft … geteiltwerden.Die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaat-lichkeit, die Meinungsfreiheit, geheime und freie Wah-len, das passive und aktive Wahlrecht für jede Bürgerinund für jeden Bürger sowie die Kontrolle der Regierun-gen werden in dieser Erklärung als Voraussetzung jederDemokratie gefordert und anerkannt. Schließlich fordertdie Resolution, daß die Mitgliedstaaten der IPU schwereVerletzungen grundlegender Menschenrechte als Straf-taten ahnden und die Einrichtung eines ständigen Inter-nationalen Strafgerichtshofs unterstützen. – Mit dieserResolution zur Demokratie hat sich die IPU ein erwei-tertes Fundament gegeben.Frieden und Abrüstung sind nicht ohne Demokratiezu erreichen.
Parlamentarier müssen demokratisch gewählt und legi-timiert sein. Und obwohl die Wirklichkeit dieser Forde-rung noch nicht voll entspricht – auch die kommendeKonferenz hier in Berlin nicht –, lohnt es sich, für ihreDurchsetzung zu kämpfen. Von allen IPU-Mitgliedernwird nämlich erwartet, daß sie sich für den Schutz derMenschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Konso-lidierung der Demokratie nicht nur in ihrem eigenenLand, sondern weltweit einsetzen.
Im Zeitalter der Globalisierung ist erneut parlamen-tarische Diplomatie gefordert. Die meisten Inhalte, mitdenen sich die Parlamente heute beschäftigen, haben be-reits transnationale Dimensionen. Seien es Fragen derBeschäftigung, der sozialen Sicherung, seien es Fragender inneren und äußeren Sicherheit oder der Migration:Parlamentarier haben heute eine Verantwortung, dieüber die nationale Verantwortung hinausgeht. Indem sieihre Arbeit auch als Beitrag für Frieden und Sicherheitverstehen, nehmen sie internationale Verantwortungwahr, die immer weniger als auswärtige Angelegenheitbegriffen wird.Parlamentarische Diplomatie ist zu einer Selbstver-ständlichkeit geworden. Es geht jetzt darum, sie zu ord-nen und unter ein weltweites Dach zu bringen. Schauenwir uns einige europäische Institutionen an! Die Euro-päische Union hat eine parlamentarische Dimension: dasEuropäische Parlament. Der Europarat, die OSZE unddie WEU haben eine parlamentarische Dimension: ihreParlamentarischen Versammlungen. Demgegenüber be-steht die Vollversammlung der Vereinten Nationen aus-schließlich aus Regierungsvertretern.Wenn wir die Aufgabe der Parlamente ernst nehmen,die Globalisierung parlamentarisch zu begleiten, dannbrauchen auch die Vereinten Nationen eine parlamenta-Dieter Schloten
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rische Dimension. Die Interparlamentarische Union istgeeignet und bereit, diese Verantwortung zu überneh-men. Die IPU teilt und unterstützt die Ziele der Verein-ten Nationen; sie hat Kooperationsverträge mit ihnenund mehreren ihrer Unterorganisationen abgeschlossen.Eine Parlamentarische Versammlung, bestehend ausVertretern der Parlamente der Mitgliedstaaten, wirdnicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Stärkungder Vereinten Nationen führen;
denn die Vereinten Nationen würden dadurch in den na-tionalen Parlamenten verankert.Der Deutsche Bundestag fordert seit langem eine Re-form der Vereinten Nationen. Diese Reform darf sichnicht nur auf ihre Organisation beschränken, auf ihrVetorecht oder auf ihre Mitgliedschaft im Sicherheitsrat.Diese Reform muß vielmehr eine grundlegende Demo-kratisierung der Vereinten Nationen zum Ziel haben, diegleichzeitig zu einer Entbürokratisierung führen muß.
Globalisierung und Demokratisierung müssen einan-der ergänzen. Deshalb fordere ich die Regierung derBundesrepublik Deutschland auf, sich für diesen großen,weltweit wirksamen Fortschritt einzusetzen – nicht nurauf Grund des Antrags, den wir heute verabschiedenwollen, sondern auf Grund ihres eigenen demokrati-schen Selbstverständnisses.Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, un-abhängig von diesem mittelfristigen Ziel erfüllt die IPUzur Zeit drei große Aufgaben, für die es sich einzusetzenlohnt.Erstens. Sie fördert die Gleichstellung der Ge-schlechter. Seit zwei Jahren ist die Konferenz derFrauen innerhalb der IPU ein Satzungsorgan. Ihre Vor-sitzende hat Sitz und Stimme im Leitungsgremium, demExekutivausschuß.
Nationale Delegationen sollen mindestens ein weibli-ches Mitglied haben. Für viele ist das schon zu viel; daswerden wir nächste Woche wieder sehen. Außerdemwerden wir in der nächsten Woche voraussichtlich erst-malig in der Geschichte der Interparlamentarischen Uni-on eine Frau zur Präsidentin des InterparlamentarischenRates wählen.
Zweitens. Die IPU fördert die Kooperation zwischenParlamenten und Parlamentariern in aller Welt. Damitstellt sie das einzige internationale Forum regelmäßigenintensiven Dialogs zwischen Parlamentariern und Par-lamentarierinnen dar. Darüber hinaus hilft sie jungenDemokratien, ihre Infrastruktur, ihre Ausrüstung undihre Instrumente zu verbessern, unter dem Motto: Ge-genseitig voneinander lernen.Drittens und letztens ist die IPU dabei, für das Mille-niumjahr in New York bei den Vereinten Nationen eineweltweite Konferenz der Parlamentspräsidenten zuorganisieren. – Herr Präsident, ich hoffe, auch Sie wer-den daran teilnehmen können. – Sie wird von UNO-Generalsekretär Kofi Annan einberufen werden. DieVorbereitungen dazu sind weit vorangeschritten. Nahezusämtliche Parlamentspräsidenten haben ihr Kommen zu-gesagt. Übrigens werden in der nächsten Woche 40 Par-lamentspräsidenten als Delegierte hier in Berlin anwe-send sein. Dies ist ein schöner Rekord für eine Interpar-lamentarische Versammlung.
An dieser Stelle möchte ich allen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Arbeitsgruppe IPU ´99 – sie sitzenheute oben auf der Tribüne – unter Leitung von HerrnVoss für ihre ausgezeichnete Planung und ihren uner-müdlichen Einsatz zur Vorbereitung und Durchführungdieser großen Konferenz herzlich danken.
Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ha-ben gegenüber der IPU eine besondere Verpflichtung.Wir haben in der jüngsten Vergangenheit mehrfach be-wiesen, daß wir bereit sind, für die europäische Zivilge-sellschaft Verantwortung zu übernehmen. Diese Ver-antwortung gilt es auch weltweit zu tragen. Denn derFrieden ist nur zu erreichen, wenn wir eine globale Zi-vilgesellschaft haben werden.Die Interparlamentarische Union setzt sich nach wievor für Frieden, Abrüstung und Demokratie in der gan-zen Welt ein. Es lohnt sich, ihre Ziele zu unterstützenund zu fördern. Der Deutsche Bundestag wird dabeisein,wenn es in der nächsten Woche hier in Berlin wiederheißt: Parlamentarier aller Länder, vereinigt euch!Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
Kollegin Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir am kom-menden Sonntag hier im Reichstagsgebäude die IPU-Konferenz in Deutschland eröffnen, dann ist das ein gu-ter Zeitpunkt, denn es ist sinnvoll, die IPU-Konferenzim ersten Jahr unseres Wirkens nach dem Umzug desParlaments von Bonn nach Berlin hier durchzuführen.Ich sage Ihnen: Der Teilnehmerandrang ist sehr groß;man möchte Berlin erleben.Wenn ich dies sage, dann denke ich daran, daß wirdie letzte IPU-Debatte im Deutschen Bundestag am15. September 1989 geführt haben; das war in der 159. Sit-Dieter Schloten
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zung. Sonst werden die Protokolle der Konferenzen nurals Drucksachen veröffentlicht. Das heißt, es ist zehnJahre her, daß wir das letztemal über dieses Thema öf-fentlich diskutiert haben.Ich möchte nach alldem, was Herr Schloten zur Ge-schichte und zur Würdigung der IPU gesagt hat, unter-streichen: Der Beitrag der deutschen Parlamentarier indieser Interparlamentarischen Union ist von großerWichtigkeit. Immer wieder werden wir nach unsererMeinung gefragt.In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-sen, daß heute der 7. Oktober ist. Vor zehn Jahrenmeinte die frühere DDR, ihren 40. Jahrestag feiern zukönnen. Sie hat ihn auch gefeiert; aber er war begleitetvon den ersten Demonstrationen, die damals noch ge-waltsam auseinandergetrieben wurden. In den Tagen da-nach wurde das schwieriger.Für die Kolleginnen und Kollegen aus der Interpar-lamentarischen Union ist der Besuch in Berlin ein An-laß, uns zu fragen, was aus der Wiedervereinigung ge-worden ist. Sie wenden sich gerade an uns Deutsche,wenn es um geteilte Länder geht, die ebenfalls wieder-vereinigt werden wollen, wenn es darum geht, Machtgegen die Ohnmacht in einer Diktatur aufzubauen – sieerinnern uns daran, daß wir dies in der friedlichen Re-volution erlebt hätten, und fragen, ob es nicht auch beiihnen gelingen könnte –, und wenn es schließlich um dieFrage geht, in welcher Solidarität die Völker beieinan-derstehen, wenn Unrecht in Recht zu verwandeln ist.Nun sagen viele, an sich sei die InterparlamentarischeUnion machtlos. Das mag in gewisser Weise richtigsein. Aber Machtlosigkeit kann sich durchaus in Machtverwandeln, wenn die Instrumente richtig genutzt wer-den. In diesem Zusammenhang komme ich auf die Fragezurück, wie es denn mit der Demokratie steht. In der Tatgehören der IPU Parlamente an, die im Sinne unseresDemokratieverständnisses keine Parlamente sind. Aberes lohnt sich, gerade mit diesen Parlamentariern zu re-den und einen Austausch zu pflegen. Die Demokratiehat – allen Widerständen zum Trotz – einen Siegeszugin der Welt angetreten.
Wir sind auf dem Weg zu zivilen, demokratischen Ge-sellschaften und sollten uns auf diesem Wege keines-wegs entmutigen lassen.Stets waren es einzelne Persönlichkeiten, die sich umden Frieden verdient gemacht haben. Sie waren dieWegbereiter des Völkerbundes und nach dem zweitenWeltkrieg die Wegbereiter der Vereinten Nationen, diewir heute weiter stärken müssen. Wenn wir in unseremResolutionsantrag heute von der parlamentarischen Di-mension gesprochen haben, dann ist allemal darauf hin-zuweisen, daß die Regierungen die Parlamentarier brau-chen, um das, was sie wollen, überhaupt durchsetzen zukönnen; denn uns ist manche Freiheit belassen, die dieExekutive nicht hat. Ich erinnere daran, wie wichtig dieparlamentarischen Missionen in den baltischen Staatenwaren, bevor die Abtrennung und völkerrechtliche An-erkennung dieser Staaten erfolgen konnten. Vergleich-bares gilt auch für die knifflige Situation in Weißruß-land. Ich bin sehr froh, daß Weißrußland auf dieser In-terparlamentarischen Konferenz mit wenigen Parla-mentariern, die noch aus dem alten, legitimen Parlamentübriggeblieben sind, vertreten sein wird, wenn auchohne offiziellen Status.
Auch in der Fraktion der CDU/CSU haben wir dar-über diskutiert, was wir in bezug auf auf die Stärkungparlamentarischer Rechte bewirken können. Allerdingswürden wir uns übernehmen, wenn wir uns für eineparlamentarische Versammlung der UNO stark machten.Davor warne ich ausdrücklich, weil wir zunächst – heutemehr denn je – eine Stärkung der UNO insgesamt brau-chen; dies ist nicht nur eine finanzielle, sondern vor al-lem eine politische Frage.
Die neuesten Entwicklungen zeigen, daß die UNO kei-neswegs an Bedeutung verloren hat. Gleichwohl könnenwir als Parlamentarier – das ist mit der parlamentari-schen Dimension gemeint – weltweit begleitend auf Re-gierungen einwirken und im Dialog vieles bewirken,was keine Exekutive könnte. Insoweit muß unser Be-kenntnis lauten: Weder Wohlstand noch Frieden, nochMenschenrechte lassen sich ohne Demokratie entwik-keln.
Manchmal habe ich den Eindruck, die Demokratiewerde bei uns leichtfertig zu Grabe getragen; denken Sienur an die Wahlenthaltungen und das endlose Genöle.Wir wissen um unsere Schwächen. Aber ich rufe dazuauf, die Konferenz der Interparlamentarischen Union inBerlin in die Tradition der Konferenzen von 1908 – un-glücklicherweise scheiterte der Friede damals –, von1928 und von 1978 in Bonn zu stellen. Daher sollte vonBerlin folgende Botschaft ausgehen: Wir wollen einfriedliches Miteinander. Wir wollen, daß die Völker die-ser Welt sich demokratisch entwickeln können. Wirwollen Armutsbekämpfung, Umwelterhalt und Um-weltsanierung. Es geht uns darum, daß sich keine Nationim Alleingang zum Schaden der anderen auf den Wegmacht. Wir wollen im Miteinander der Welt Zukunft ge-ben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wortder Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.
legen! In der nächsten Woche findet die 102. KonferenzDr. Rita Süssmuth
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der Interparlamentarischen Union hier in Berlin statt. DieIPU als größte parlamentarische Versammlung der Weltist ein zentraler Ort für Debatten über eine zukunftsfähigePolitik. Ihre Empfehlungen zum Internationalen Strafge-richtshof und die 1997 beschlossene Allgemeine Erklä-rung zur Demokratie sind weiterhin wegweisend.Ich erwarte mir von der Versammlung in der nächstenWoche die weitere Unterstützung der Ziele der De-mokratisierung, der Gleichstellung der Geschlechter,der Einhaltung der Menschenrechte und der Bear-beitung der Rahmenbedingungen der nachhaltigen Ent-wicklung. Dafür will ich mich als Mitglied der deut-schen Delegation einsetzen.Die Konferenz in Berlin bietet auch für uns eine her-vorragende Chance, sich mit Parlamentarierinnen undParlamentariern aus aller Welt in einer lang gewachse-nen und lebendigen Demokratie zu präsentieren. DerUmzug nach Berlin hatte bei manchen Kommentatorendie Hoffnung oder die Befürchtung – je nach dem – lautwerden lassen, es entstehe jetzt eine neue „Berliner Re-publik“. Ich halte davon überhaupt nichts. Ich denke,daß es uns gerade hier in Berlin gut anstehen würde, imInneren eine offene und selbstbewußte Demokratie zubleiben und auf internationalem Parkett verantwortungs-bewußt, aber bescheiden und sensibel aufzutreten.Neben der staatlichen Zusammenarbeit und denKontakten der Nichtregierungsorganisationen handelt essich bei den Kontakten zwischen Parlamentarierinnenund Parlamentariern aus über 130 Ländern um eine drit-te Säule der politischen Zusammenarbeit. Der Kolle-ge Schloten hat das „parlamentarische Diplomatie“ ge-nannt. Ich denke aber, daß diese Art von parlamentari-scher Diplomatie bisher nur ein Schattendasein geführthat. Während bei den großen internationalen Konferen-zen der Vereinten Nationen oder bei der Versammlungder WTO die Regierungen verhandeln, sind die Parla-mente am Verhandlungstisch meist nur marginal betei-ligt. Ihre Beteiligung reduziert sich oft auf die Zustim-mung zu oder Ablehnung von schon getroffenen Ent-scheidungen. Ich halte es für notwendig, Parlamentarie-rinnen und Parlamentarier besser und früher in die For-mulierung des Verhandlungsmandats und in den Ver-handlungsprozeß einzubinden.
Wie die Einbeziehung der Akteure der Zivilgesell-schaft – Nichtregierungsorganisationen – in die interna-tionalen Verhandlungsrunden sinnvoll und wichtig ist,ist auch unsere Einbindung wichtig. Wir als Abgeord-nete des Deutschen Bundestages sollten die Kontaktezwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern ausunterschiedlichen Ländern sehr ernst nehmen.Ein Schwerpunkt der IPU-Konferenz wird die Re-form der parlamentarischen Funktion im internatio-nalen Bereich sein. In diesem Zusammenhang finde iches außerordentlich gut, daß bei uns mit der 14. Legisla-turperiode endlich ein vollwertiger Ausschuß für Men-schenrechte und humanitäre Hilfe geschaffen wurde.Dort besteht für uns jetzt die Möglichkeit, menschen-rechtsrelevante Aspekte vor allem der internationalenPolitik, aber auch der nationalen Politik, der Situation inunserem Land, zu diskutieren. Das wird ein schwerwie-gender Punkt sein, den wir mit unseren Kolleginnen undKollegen diskutieren werden.Die Menschenrechtssituation ist in vielen Ländernweiterhin sehr besorgniserregend. Ein aktuelles und be-sonders grausames Beispiel ist die Lage in Osttimor.Dort wurden und werden nach wie vor die elementarstenMenschenrechte mit Füßen getreten. Gerade Deutsch-land, das in vielen Jahren sehr enge Beziehungen zu In-donesien aufgebaut hat, die bis zur engen Zusammenar-beit mit dem Suharto-Regime führten, muß das Mandatder Vereinten Nationen zum Schutz der Zivilbevölke-rung und für die friedliche Gestaltung des Unabhängig-keitsprozesses in Osttimor unterstützen.
Wenn wir die Menschenrechte in den Ländern desSüdens und des Nordens nachhaltig und dauerhaftsichern wollen, ist vor allem die Beseitigung der gro-ßen sozialen Ungerechtigkeiten nötig, die sich ausstrukturellen Ungleichheiten ergeben. Es wird in unse-rem Land zur Zeit viel von sozialer Gerechtigkeit ge-sprochen. Ich möchte aber auch an die weltweiten Fra-gen erinnern, die im nächsten Jahr – fünf Jahre nachdem Abschluß des Weltsozialgipfels in Kopenhagen –noch einmal auf die Tagesordnung kommen. Selbstver-ständlich sind hier in erster Linie die nationalen Staatenselbst gefordert. Aber auch wir Parlamentarierinnen undParlamentarier müssen ihnen in der Argumentation ge-gen Ungleichheit und Diskriminierung Hilfestellung lei-sten. Nur durch eine intensive und effiziente Kooperati-on mit Ländern des Südens wird es uns gelingen, in Zu-kunft wirksame Krisenprävention zu betreiben. Dazugehört auch der Abbau von Mißtrauen, das zwischen denLändern des Nordens und des Südens immer noch insehr großem Maße besteht. Ich glaube, daß die Inter-parlamentarische Union ein Rahmen ist, in dem diesesMißtrauen weiter abgebaut werden kann.
Der zweite Schwerpunkt der diesjährigen IPU-Konferenz ist die Überprüfung der derzeitigen globalwirksamen Finanz- und Wirtschaftsmodelle. Unterdem modischen Stichwort Globalisierung werden einer-seits real ablaufende Prozesse beschrieben, zum Beispieldie enorme Beschleunigung der internationalen Finanz-märkte. Auch die Medienentwicklung läßt die Welt im-mer weiter zusammenrücken. Andererseits wird der Be-griff der Globalisierung aber auch ideologisch verwen-det. Der Politik wird nahegelegt, sich möglichst aus derGestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungenherauszuhalten. Die Globalisierung ist jedoch kein na-turwüchsig ablaufender Prozeß; die Politik darf sich ih-rer Gestaltungsaufgabe nicht enthalten. Im Gegenteil;die Globalisierung muß politisch gestaltet werden.
Dr. Angelika Köster-Loßack
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Dazu sind Parlamentarierinnen und Parlamentarierer iminternationalen Maßstab besonders herausgefordert.Die schnelle Entwicklung der internationalen Fi-nanzmärkte und die wirtschaftliche und politischenMacht internationaler Konzerne bedürfen nicht weniger,sondern mehr politischer Gestaltung; denn der Markt istwie jeder Markt für viele Entwicklungen blind. Dasökonomische System braucht für seine Funktionsfähig-keit ausschließlich Rückmeldungen über Gewinn undVerlust. Andere Aspekte werden weitgehend ausgeblen-det. Dazu gehören die Durchsetzung der Menschen-rechte, die soziale Gerechtigkeit und der Schutz der na-türlichen Umwelt.Auch die Einführung von Umwelt- und Sozialstan-dards in das internationale Handelssystem bedarf derpolitischen Entscheidung und muß sehr gut vorbereitetwerden. Wir sind uns relativ schnell einig, wenn wirüber die Abschaffung von Kinderarbeit oder über dieNotwendigkeit grundlegender Umweltstandards reden.Der heftigste Widerstand gegen solche Regelungenkommt jedoch aus den ärmsten Ländern und aus denSchwellenländern, die darin – manchmal nicht ganz zuUnrecht – einen neuen Protektionismus der Industrie-länder sehen. Für uns wird es darauf ankommen, unsereKolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten des Sü-dens davon zu überzeugen, daß die Einhaltung elemen-tarer Sozial- und Umweltstandards auch in ihrem Inter-esse ist. Auch die Industrieländer müssen ihren Beitragdazu leisten, beispielsweise durch die Armutsbekämp-fung und durch den Aufbau von Bildungs- und Gesund-heitssystemen.Bei der IPU-Konferenz nächste Woche besteht diegroße Chance, uns mit unseren Kolleginnen und Kolle-gen aus Industrie- und Entwicklungsländern über dieseThemen auszutauschen und vielleicht auch Lösungswe-ge zu empfehlen, die weiterführen. In diesem Sinnewünsche ich uns eine erfolgreiche IPU-Konferenz undmöchte alle Anwesenden auffordern, sich soweit es gehtim Rahmen ihrer Möglichkeiten daran zu beteiligen. Eskann uns weiterbringen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident!Meine Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich dasGlück hatte, in den letzten Jahren – es sind genau zwölf– die Entwicklung der Interparlamentarischen Unionnicht nur zu verfolgen, sondern aktiv an ihr teilzuneh-men, der kann nicht umhin, einen gewissen Optimismuszu verspüren. Wenn ich vergleiche, wie die IPU vorzwölf Jahren zusammengesetzt war und wie sie sichheute darbietet, dann will ich meiner Überzeugung Aus-druck geben, die da lautet: Demokratie ist eine anstek-kende Gesundheit. Ich bin wirklich erfreut, zu sehen,daß heute die Länder, die keine vernünftigen parlamen-tarischen Systeme haben, weniger geworden sind.Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Parla-ment eines afrikanischen Landes. Das war architekto-nisch eine genaue Nachbildung des Westminster-Parlaments. Wir fragten: Wie sind denn hier die Sitzeverteilt? Daraufhin sagte man: Auf dieser Seite sitzendie Vertreter der Regierungspartei. Dann fragte ich: Wersitzt da gegenüber? Die Antwort war: Dort pflegte dieOpposition zu sitzen, als wir noch eine Opposition hat-ten. – Inzwischen sitzt da wieder eine Opposition, undich finde das großartig.
Ich habe auch einmal einen Inselstaat im FernenOsten besucht. Man zeigte uns – damals herrschte dortnoch eine stramme Diktatur – voller Stolz das Parla-mentsgebäude. Man war glücklich darüber, daß man unsetwas voraushatte: Man hatte nämlich eine elektronischeAbstimmungsanlage. Nur, bei näherem Hinsehen stelltesich heraus: Da gab es nur einen Knopf, nämlich den fürJa. Inzwischen gibt es auch dort mehrere Knöpfe, undich glaube, das ist ein Fortschritt.Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an dieIPU-Konferenz im Frühjahr 1989 in Budapest. Alswir dort unsere Konferenz abhielten, herrschte noch daskommunistische Regime, aber in den Straßen gab eseine machtvolle Demonstration, es wurde ein Fackelzugim Gedenken an den ermordeten MinisterpräsidentenImre Nagy und für die sich neu entwickelnde Demokra-tie durchgeführt.Ich erinnere an die IPU-Konferenz im Frühjahr1991 in Pjöngjang in Nordkorea, zu der wir erstmalsmit einer gesamtdeutschen Delegation gereist sind. Daswar nach der deutschen Einheit. Die Kollegen aus derfrüheren DDR waren noch viel stärker beeindruckt alswir, und sie sagten: Jetzt können wir uns ausmalen, wasuns erspart geblieben ist und wohin die Entwicklung inder DDR möglicherweise hätte führen können. Das Re-gime in Nordkorea ist für mich nie besser charakterisiertworden als durch den Stoßseufzer, den wir alle ausge-stoßen haben, als wir – zwei Jahre nach dem Massakeram Tiananmen – in Peking am Flughafen, von Pjöng-jang kommend, gelandet sind. Wir haben tief durchge-atmet und gesagt: Back to the free world again.Meine Damen und Herren, wir haben es erlebt, daßsich die Länder, die in der IPU vertreten sind, und dieParlamente wesentlich geändert haben. Vor zehn Jahrenwar noch die Delegation der Sowjetunion mit dabei;jetzt sitzen dort Delegationen zahlreicher unabhängigerStaaten, darunter auch die der baltischen Staaten. Wirsaßen noch mit einer Delegation aus der DDR Seite anSeite. Es gab immer Rivalitäten, und man sprach eigent-lich offiziell nicht miteinander. Abends, beim Rotwein,lockerten sich aber die Zungen. Wir bekamen allerdingsnoch im Jahre 1989 gesagt: Da sollen doch die Ungarn,die Polen und die Tschechen machen, was sie wollen;bei uns wird sich überhaupt nichts ändern. – Welch einIrrtum!Dr. Angelika Köster-Loßack
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5380 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Dieses alles verfolgt zu haben heißt auch, daß manmit den Vertretern unterschiedlichster Kulturen immerim Gespräch gewesen ist. Wir haben den Kollegen ausden anderen Ländern erklärt, daß wir Deutsche uns nachder Vereinigung nicht überheben werden, daß wir zu-verlässige, berechenbare, gute Partner und Nachbarnsein wollen, auch wenn unser Land größer und stärkergeworden sein sollte. Dies hat viel ausgemacht. Die IPUbietet nämlich auch ein Forum für die Begegnung zwi-schen unterschiedlichen Kulturen. Ich erinnere daran,daß wir jetzt mit dem Iran in nähere Kontakte tretenwollen, und das auch mit Respekt vor der anderen Kul-tur.Wir müssen uns klar sein, daß für unsere Länder dieparlamentarische Demokratie unseres Zuschnitts natür-lich das einzig richtige System ist. Wir sollten uns abernicht überheben und auch Respekt haben, wenn wir zumBeispiel bei afrikanischen Parlamenten erleben, daß mandort eher den Konsens sucht und nicht die Mehrheit, diesich gegenüber der Minderheit durchsetzt. Für die Staa-tenbildung, für das Zusammengehörigkeitsgefühl desLandes ist das durchaus ein Faktor, den man respektie-ren muß. Wir sollten das nicht nachahmen. Allerdingssind manche sogenannte Einparteiensysteme in anderenKulturen in Wahrheit keine Einparteiensysteme. Viel-mehr sind sie ein Resultat eines Konsenses, des Pala-vers, daß man sich zusammenfindet und den anderenüberzeugt. Auch wenn uns diese Methoden natürlichfremd sind, sollten wir Respekt haben und nicht vonvornherein davon ausgehen, daß unser Modell auf alleanderen zu übertragen sei.Insofern möchte ich über das hinaus, was die Kolle-gen richtigerweise gesagt haben, zu den Themen, mitdenen sich die IPU beschäftigt, und zu den Beschlüssen,die dort gefaßt werden, sagen: Ich glaube, daß diese Be-gegnungsstätte von Politikern – vor allem auch Politike-rinnen – aus allen Ländern der Welt, aus den unter-schiedlichsten Kulturen uns in unserem Bemühen wei-terhelfen kann, uns dafür einzusetzen, wofür die IPU inihrer Geschichte immer gestanden hat und auch in Zu-kunft stehen wird, nämlich Frieden, Freiheit und Men-schenrechte zu verbreiten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ja, Stellung und Rechte der Interpar-lamentarischen Union müssen gestärkt werden. Im Zeit-alter der Globalisierung sind politische Strukturen – da-zu gehört auch der weltweite Zusammenschluß vonParlamentarierinnen und Parlamentariern – stärker dennje gefordert. Für die weltweite Fortentwicklung vonDemokratie und die Kontrolle der Einhaltung der Men-schenrechte sind sie unverzichtbar. Insofern unterstütztdie PDS das Grundanliegen des vorliegenden interfrak-tionellen Antrags.Sie fordern mehr parlamentarische Kontrolle derinternationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanz-organisationen. Ja, die Programme der internationalenOrganisationen, der Weltbank, des Internationalen Wäh-rungsfonds, oder die Politik der Welthandelsorganisati-on entscheiden über Wohl und Wehe ganzer Völker.Doch wo, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., hat sich die alte Bundesregierung tat-sächlich dafür eingesetzt, sie stärker zu kontrollieren?Von der neuen rotgrünen Regierung ist in erster Linie zuhören, man dürfe der Wirtschaft keine Steine in denWeg legen; vermeintlich wirtschaftsfeindliche Politik seimit ihr nicht machbar.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die Fra-ge, ob die Politik wieder die Oberhand bekommt, um dieinternationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zugestalten. Wirtschaftliche Prozesse werden von Rah-menbedingungen bestimmt, die die Politik setzen muß.Wenn sie das nicht tut, wird die Globalisierung derWeltökonomie weiter dazu führen, daß immer mehrMenschen verelenden, aber einige noch reicher werden.
Dieser Prozeß vollzieht sich bekanntlich in erster Li-nie auf dem Rücken von Frauen. Die Internationale Ar-beitsorganisation hat diese Woche dazu interessanteZahlen veröffentlicht. Danach hat die Wirtschafts- undFinanzkrise in Asien dazu geführt, daß Frauen zuneh-mend vom Arbeitsmarkt verdrängt werden.Die Situation der Frauen in fast allen Krisenländernhat sich verschärft. Rund 70 Millionen Frauen aus asiati-schen Staaten sind ausgewandert. Viele sind in unge-schützte Arbeitsverhältnisse als Haushaltshilfen ge-drängt worden, in die Prostitution, etliche davon als Op-fer von Menschenhandel. Genau hier gibt es erheblichenHandlungsbedarf der Politik und der Parlamente, undzwar weltweit.Die Welternährungsorganisation hat gestern berichtet,daß Frauen den Löwenanteil an der Ernährung in densogenannten Entwicklungsländern produzieren. Abereinen Zugang zu Grund und Boden, zu Krediten odermodernen Techniken bekommen Frauen deshalb nochlange nicht. Die Globalisierung drängt die Frauen an denRand und verstärkt gleichzeitig ihre Ausbeutung undDiskriminierung. Die erstmals regulär stattfindende vor-geschaltete Frauenversammlung der Interparlamentari-schen Union muß und wird sich genau diesen Themenwidmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wichtig undangemessen der Kampf um die gleichberechtigte Teil-habe von Frauen auch und gerade auf dieser Ebene ist,zeigt übrigens die Tatsache, daß auch auf der bevorste-henden IPU-Tagung Frauen beschämend unterrepräsen-tiert sein werden. Ich habe heute morgen die neustenZahlen aus Genf erfahren: 520 Parlamentariern stehensage und schreibe gerade 142 Parlamentarierinnen ge-genüber. Ich begrüße es sehr, daß eine Frau den Vorsitzbekommen wird.Ulrich Irmer
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Mein Fraktionskollege Dr. Ilja Seifert hat sich in denletzten Jahren stark dafür eingesetzt, daß sich auch Ab-geordnete mit Behinderungen im Rahmen der IPUoder mit ihrer Unterstützung treffen können. Der UN-Sonderberichterstatter für Behindertenfragen, BengtLindquist, mit dem ich vor kurzem sprechen konnte, hatdiese Initiative sehr begrüßt. Ich denke, der DeutscheBundestag könnte ein wichtiges Signal setzen, wenn ergenau diese Idee aufgreift und sich für ihre Umsetzungstark macht.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Staatsminister Dr. Christoph Zöpel.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolle-
ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung freut sich
über diesen Antrag von vier Fraktionen dieses Hauses.
Der Antrag entspricht einer deutschen Außenpolitik, die
mehr und mehr zur internationalen Politik werden muß
und die im Rahmen der Staatengemeinschaft Verant-
wortung für globale Prozesse zu übernehmen hat. Die
Bundesregierung freut sich über Ihre Debattenbeiträge;
sie wird sie berücksichtigen. Besonders eindrucksvoll,
Herr Kollege Irmer, war Ihr Satz von Demokratie als an-
steckender Gesundheit. Ich werde ihn mir merken.
Der Antrag enthält drei konkrete Aufforderungen
an die Bundesregierung, zu denen ich in der gebotenen
Kürze etwas sagen möchte. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, die Bemühungen der IPU um Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu unterstützen
und nach Möglichkeit durchzusetzen. Dies zu tun ist für
die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit.
Die Bundesregierung wird ferner aufgefordert, die
Absicht, die IPU zur parlamentarischen Dimension der
Vereinten Nationen zu machen, zu unterstützen. Dies hat
die Bundesregierung seit 1996 getan, indem sie das Ko-
operationsabkommen zwischen der UNO und der IPU
unterstützt hat und seitdem die jährlichen Resolutionen
der Generalversammlung zur Unterstützung der IPU
mitträgt. Die Bundesregierung wird dies fortsetzen.
Die Bundesregierung hält es nicht für falsch, zu über-
prüfen, ob das, was unter dem Stichwort „parlamentari-
sche Dimension“ verstanden wird, weiterzuentwickeln
ist. Dies gehört in den Zusammenhang der Überlegun-
gen zur Stärkung und Reform der Vereinten Nationen.
Jede Anregung, die vom Bundestag wie auch von der
IPU generell auf diesem Gebiet erfolgt, wird von uns
gern aufgenommen, diskutiert und auf ihre Durchsetz-
barkeit vor allem gegenüber anderen Staaten geprüft.
Das interessanteste Begehren ist die dritte Aufforde-
rung, nämlich diejenige, mit dazu beizutragen, die de-
mokratische Kontrolle der internationalen Wirt-
schafts-, Handels- und Finanzorganisationen zu stär-
ken. Aus Sicht der Bundesregierung kann es keinen
Zweifel daran geben, daß globale wirtschaftliche Pro-
zesse genauso eines Ordnungsrahmens bedürfen wie na-
tionale wirtschaftliche Prozesse.
Ich glaube, der Beitrag, den die Wirtschaftsgeschichte
der Bundesrepublik Deutschland zur Formulierung eines
Rahmens oder – wie wir es oft sagen – einer Ordnung
geleistet hat, beginnend mit Ludwig Erhard und Alfred
Müller-Armack, fortgesetzt durch Karl Schiller, ist eine
Vorleistung, die Deutschland auf dem Gebiet, eine Ord-
nung für weltwirtschaftliche Prozesse zu schaffen, der
Welt bieten kann. Da es eine Selbstverständlichkeit war,
daß die gesetzlichen Grundlagen dieses Rahmens und
dieser Ordnung demokratisch legitimiert und kontrolliert
werden müssen, halte ich die Überlegung für richtig und
notwendig, wie auch der weltwirtschaftliche Ordnungs-
rahmen demokratisch legitimiert und kontrolliert werden
kann.
Dies geschieht selbstverständlich durch die Ratifizierung
entsprechender Gesetze durch die nationalen Parlamen-
te. Die Frage aber ist nicht falsch, ob auch interparla-
mentarische Einrichtungen daran beteiligt werden kön-
nen.
Ich schließe – wenn die Bundesregierung sich das ge-
genüber dem Parlament erlauben darf – diese Zusage der
Bundesregierung mit einer Anregung: Es dürfte viel
Sinn machen, wenn der Deutsche Bundestag zunächst
mit den Parlamenten der anderen G-7-Staaten – und vor
allem mit dem Senat und mit dem Repräsentantenhaus
der Vereinigten Staaten – hierüber sprechen würde. Falls
dazu organisatorische Hilfe seitens der Bundesregierung
notwendig ist, leistet sie diese gern.
Haben Sie herzlichen Dank.
Das Wort hat Kolle-
ge Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich miteinem Dank an unsere Leitung, Frau Professor Süssmuthund Herrn Schloten, beginnen, die uns hervorragend inall diesen internationalen Gremien vertreten. Lassen Siemich weiter den Mitarbeitern aus Ihrer Verwaltung, HerrPräsident, und vom Auswärtigen Amt danken, die wirk-lich bravourös auch diese internationale Tagung hier inBerlin vorbereitet haben.
Petra Bläss
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Das Thema lautet: „Die Rolle der IPU im Zeitalterder Globalisierung“. Ich möchte mich hier einigen mehrpraktischen Fragen zuwenden. Eigentlich diskutierenwir ein bißchen so, als wenn die IPU nicht schon ständigglobal gedacht und gehandelt hätte, als wenn sie nichtschon ständig die nationalen Parlamente zum Handelnveranlaßt hätte. Global zu denken ist eigentlich derselbstverständliche ständige Auftrag der IPU.Natürlich hat sich der Begriff „Globalisierung“ ge-wandelt. Heute bezeichnen wir damit vorrangig die Ent-stehung weltweiter Märkte für Produkte, Kapital undDienstleistungen. Dieser Begriff dient auch als neuerBösewicht, als Verursacher vieler Fehlentwicklungen,auf den alles abgeschoben werden kann. Stefan Baronunterstellt beispielsweise: Die Politiker gebrauchen dieGlobalisierung als Ausrede für ihr Nichtstun oder alsEntschuldigung für ihre Erfolglosigkeit, die Manager alsBegründung für den Abbau von Arbeitsplätzen im In-land, für das Einkassieren von Nebenleistungen und fürInvestitionen im Ausland. Altbundespräsident Herzogsieht das viel positiver. Er meint, daß hier auch einWeltmarkt für neue Ideen geschaffen worden sei. Ichmeine, wir sollten neben allen Gefährdungen, die vonder Globalisierung ausgehen, natürlich auch die Chan-cen sehen und sie nutzen.Die Frage ist also: Welche Rolle hat die IPU nun imZeitalter der Globalisierung zu spielen? Ich meine, siemuß noch mehr als bisher ein Forum für globale Fra-gen sein, um eine ständige Plattform für die umfassende,aber auch streitige Behandlung von globalen Fragen an-zubieten. Beim Auswärtigen Amt ist ein entsprechendesForum eingerichtet worden, das sich dieser Aufgabewidmet. Es geht hier um den Wettstreit zwischen Ideenund Traditionen oder – wenn ich es zusammenfassendarf – anders ausgedrückt: Weltökonomie braucht Welt-politik. Sie alle haben das in ihren Beiträgen schon be-schrieben.Die Aufgabenstellung lautet also, Ideen und Visionenfür die Zukunft zu entwickeln. Wir müssen Antwortengeben, die im neuen Jahrhundert Bestand haben. Hierbeigeht es nicht nur um Probleme, die durch den Globali-sierungsprozeß entstanden oder verschärft worden sind,sondern auch um Probleme bei seit langem bestehendenHerausforderungen in den Bereichen Umwelt und Ent-wicklung, Armutsbekämpfung, Menschenrechte, Migra-tion, Friedenssicherung oder Krisenprävention. Ihnenallen ist gemeinsam, daß sie von den Nationalstaatenallein nicht mehr bewältigt werden können. Ihre Lösungist aber trotzdem von entscheidender Bedeutung. Ichmeine, wir in der IPU haben jetzt die große Chance,Strategien und Lösungen für die globalen Problemezu erarbeiten, unterschiedliche Sichtweisen zusammen-zuführen und das Spannungsverhältnis von Wirtschaftund Politik aufzuhellen sowie länderübergreifendeInitiativen zu erarbeiten.Die Weltkonferenzen der vergangenen Jahre demon-strierten das Vorhandensein dieses Bewußtseins durch-aus. Ich erinnere hier nur an die Agenda 21. Doch – dasmeine ich selbstverständlich auch kritisch – die Institu-tionen und Regelwerke in der Weltgemeinschaft bliebenbisher in mancher Hinsicht Stückwerk. Die Ansätze,Weltpolitik zu gestalten, sind vielfach unverbunden undleisten noch keinen Beitrag zum Zusammenwirken derverschiedenen Ebenen. Die Entwicklung der Welt wirdnicht gesteuert. Vielmehr hat man den Eindruck, daß derZug zuweilen in die falsche Richtung driftet. Wir stehenalso vor der Herausforderung, ausgetretene Pfade zuverlassen und zukunftsfähige Reformen unserer Gesell-schaft einzuleiten.Natürlich ist diese Einsicht vorhanden, aber ich habemanchmal das Gefühl, daß sie vielfach durch Rückfällein das Denken und Handeln in den Kategorien der natio-nalstaatlichen Macht- und Interessenpolitik begleitetwird. Das Bestreben, hierfür internationale Regelungenzu finden – also das Stichwort „global governmance“ –,auszugestalten und zu praktizieren, hat ja nicht unbe-dingt Konjunktur.Meine Damen und Herren, wieder an die Adresse derIPU: Unsere hehren Gedanken und Vorschläge nützennichts, wenn sie nicht transportiert, einer breiten Öffent-lichkeit nachhaltig zugänglich gemacht und vermitteltwerden können. Deswegen rege ich an, daß bei einerinternen Reform auch der IPU von den Chancen durchInternet, Rundfunk und Fernsehen, von der weltweitenVerbreitung unserer Ideen mehr Gebrauch gemacht wirdals bisher. Ich meine, gerade hier in Berlin sollten wirdiese Chancen ergreifen. Natürlich ist das ein weitesFeld. Es gibt sicher viele Fragen, Herr Schloten undFrau Professor Süssmuth, und natürlich auch viele Fra-gezeichen.Gestatten Sie mir, ganz selbstkritisch zu sagen: dieIPU, das unbekannte Wesen. Die Parlamentarier kennendie IPU; draußen kennt keiner sie. Die Themen leidendarunter und verkümmern eben auch ein klein wenig,trotz ihrer unbestrittenen Wichtigkeit.Ich habe es schon erwähnt: Wir versuchen, miteinem Forum hier einiges zu erreichen. Wir versuchen,moderne Wege zu gehen, weil wir wissen, daß wir die-se Fragen nicht allein regeln können. Niemand besitztmehr ein Monopol auf Lösungskompetenz. Deswegenlenken wir unseren Blick auf die UNO, die gestärktwerden muß, die sich aber auch reorganisieren mußund die diese Fragen intensiver zu berücksichtigen hat.Dabei müssen nach meiner Einschätzung die starkenLänder die UNO nachhaltig unterstützen. Die armen,die schwachen Länder können es nicht. Wir sollteneine entsprechende Werbekampagne starten und dieChancen nützen.Der von uns formulierte fraktionsübergreifende An-trag bestätigt all diese Problemlagen, fordert entspre-chende Lösungen, neue Instrumente, neue Wege. Aber –das sage ich zum Schluß – wir müssen uns dabei durch-aus bewußt sein, meine Damen und Herren: In vielender Bereiche, die wir angesprochen haben und bei denenwir uns auch einig sind, müssen wir mit gutem Beispielvorangehen.Herzlichen Dank.
Hans Raidel
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Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1567 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5a und 5b, auf:
a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirt-
schaft
– Drucksachen 14/1516, 14/1669 –
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/1711 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
– Drucksache 14/1713 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermann
Jürgen Köppelin
Dr. Christa Luft
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozia-
lordnung zu dem Antrag der
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in
dieser Winterperiode
– Drucksachen 14/1215, 14/1711 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne
die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Kon-
rad Gilges, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Von der IPU zum Schlechtwettergeld – KarlMarx würde in dieser Situation sagen: vom ideologi-schen Überbau zur ökonomischen Realität.
Es geht also um das Gesetz zur Neuregelung der För-derung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirt-schaft. Das ist der Abschluß einer langen Debatte, derheute hier stattfindet und den wir begrüßen, einer langenDebatte, die schon Anfang der 90er Jahre begann. Des-wegen ein kurzer Rückblick: Die damalige Regierungvon CDU/CSU und F.D.P. hat eine Neuregelung desSchlechtwettergeldes vorgenommen, um 700 MillionenDM einzusparen. Aber diese Regelung hat dazu geführt,daß der Bundesanstalt für Arbeit in dem Winter, dernach der Abschaffung des Schlechtwettergeldes folgte,durch eine erhöhte Zahl von arbeitslosen Bauarbeiternzusätzliche Kosten von 1,5 Milliarden DM entstandensind. Die Regelung hat die Kosten in diesem Bereichverdoppelt. Deswegen war sie unsinnig und blödsinnig.Es ist daher notwendig, daß dieser Quatsch endlich ge-ändert wird.
Die Regelung hat auch deutlich gemacht, daß Sie nichtrechnen können. Sie weisen in Ihrem Bericht lediglichdarauf hin, daß sich diese Regelung insgesamt bewährthätte. Herr Schemken hat dies sehr schwammig formu-liert. Im Klartext heißt das, daß sich diese Regelungnicht bewährt hat.Ein weiterer Punkt. Sie wollten die Arbeitslosigkeitam Bau reduzieren. Dies ist Ihnen nicht gelungen. DieArbeitslosigkeit hat sich in den 90er Jahren verdoppelt.Einige Fachleute sagen sogar, daß sie sich mehr als ver-doppelt hat.Des weiteren haben Sie ein Chaos am Bau angerich-tet. Sie haben den sozialen Frieden zwischen Arbeitge-bern und Bauarbeitern in erheblichem Maße gestört.
Unsere Aufgabe im Rahmen der zweiten und drittenLesung ist es, in das Chaos und den Unfrieden, die zurZeit am Bau herrschen, endlich wieder Ordnung undFrieden hineinzubringen. Ich bin überzeugt, daß uns diessicherlich mit unserem Gesetz gelingen wird.
Wir Sozialdemokraten waren immer der Meinung,daß eine tarifvertragliche Regelung Vorrang vor jedergesetzlichen Regelung hat.
Ein neuer Tarifvertrag ist jetzt zwischen den Bauar-beitgebern und der Gewerkschaft BAU zustande ge-kommen. Ich hoffe, daß dieser Tarifvertrag lange trägt.Unsere Aufgabe ist es – wie auch in vielen anderen Be-reichen –, diesen Tarifvertrag durch Maßnahmen derGesetzgebung zu flankieren. Im Tarifvertrag wird zumBeispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verein-bart. Es ist üblich, daß wir anschließend für die notwen-digen gesetzlichen Maßnahmen sorgen.Die jetzige tarifvertragliche Regelung besteht darin,daß die Bauarbeiter 30 Stunden vorarbeiten müssen.Dieser Eigenbeitrag wird dann in Schlechtwetterzeiten
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angerechnet, also dann, wenn die Arbeit am Bau aufGrund von Frost und Regen nicht mehr fortgesetzt wer-den kann. Für die nächsten 70 Stunden zahlen die Ar-beitgeber das Winterausfallgeld aus der Winterbauumla-ge. Ich finde, daß das Verhältnis von 30 : 70 eine ge-rechte Verteilung der Lasten zwischen Bauarbeitern undArbeitgebern ist. Alle anderen vorherigen Regelungenwaren ungerecht. Diese Regelung, die die GewerkschaftBAU mit den Arbeitgebern ausgehandelt hat, ist gut.
Ab der 101. Stunde übernimmt die Bundesanstalt fürArbeit die Zahlung des Winterausfallgeldes. Diese Zah-lungen stammen aus einer Kasse, in die auch die Bauar-beiter zu einem erheblichen Teil eingezahlt haben. DieBauarbeiter bekommen also nichts geschenkt. DasWinterausfallgeld wird ab der 101. Stunde also auch ausBeitragszahlungen der Bauarbeiter finanziert.Wir begrüßen besonders das Verbot von witterungs-bedingten Kündigungen. Es ist wichtig, daß keinemBauarbeiter mehr gekündigt werden kann, weil aufGrund von Regen und Frost die Arbeiten auf dem Baunicht mehr fortgesetzt werden können.
Sie wissen ja, daß ich von Beruf Fliesenleger bin.Daher weiß ich: Man kann zwar seine Arbeit vermurk-sen, aber an den Witterungsverhältnissen ist man un-schuldig.
Ob eine Baustelle wetterfest gemacht wird, kann derBauarbeiter nicht beeinflussen. Deswegen kann es nichtrichtig sein, daß einem Bauarbeiter – wie in der Vergan-genheit – witterungsbedingt gekündigt werden kann.Dies ist jetzt verboten. Wenn der Arbeitgeber gegen die-ses Verbot verstößt, dann ist im Gesetz vorgesehen, daßer das von der Bundesanstalt für Arbeit gezahlte Winter-ausfallgeld zurückzahlen muß. Ich glaube, das ist einevernünftige, mit Sanktionen belegte Regelung.Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen– Herr Schemken und Abgeordnete der F.D.P. haben da-zu im Ausschuß schon etwas gesagt –: Die Kostenrech-nung stimmt schlicht und einfach nicht. Die Bauarbeit-geber und die Bauarbeitnehmer wissen mittlerweile, daßalle Ihre Regelungen in diesem Bereich immer teurer alsdie alten Regelungen und als die neue Regelung waren;Sie können nicht rechnen. Bauarbeiter können aberrechnen; das gehört zum Beruf. Bauarbeiter brauchenweder gut schreiben noch gut reden zu können; aberrechnen müssen sie als Grundvoraussetzung für diesenBeruf können. Das steht im Gegensatz zu dem, wasPolitiker können müssen. Sie müssen gut reden und gutschreiben können.
– Herr Kollege, das ist überhaupt kein Zielkonflikt. Ichbekenne mich dazu, besser rechnen als schreiben zukönnen.Alle Ihre Berechnungen waren und bleiben falsch. Ichbin froh, daß wir jetzt eine für die Bundesanstalt für Ar-beit, für die Bauarbeiter und für die Arbeitgeber kosten-günstige Regelung haben, wie man sie besser nicht ma-chen kann.Ich gehe davon aus, daß der Gesetzentwurf ein trag-fähiger Kompromiß ist und daß es am Bau wieder so-zialen Frieden gibt, wie es ihn vor der Abänderung derSchlechtwettergeldregelung durch Sie gab.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gilges,
ich freue mich, daß der soziale Frieden am Bau wieder
eintritt. Wir sind nicht nur für sozialen Frieden, sondern
auch für Arbeit am Bau. Das ist ganz wichtig.
Ich gehe davon aus, daß uns dieser Wunsch verbindet.
Diese Schlechtwettergeldregelung ist eine halbe Lö-
sung; da beißt keine Maus den Faden ab. Diese
Schlechtwetterregelung ist nicht nur eine halbe, sondern
auch eine schlechte Lösung. Sie ist deshalb eine
schlechte Lösung, zumindest ein fauler Kompromiß,
weil Sie den Bauarbeitern etwas völlig anderes verspro-
chen haben. Sie haben zugesagt, die Regelung wieder
herbeizuführen, die vor den Anpassungen der 90er Jahre
Gültigkeit hatte. Dieses Versprechen haben Sie nicht
gehalten.
Das paßt zu Ihrer Linie: versprochen und – diesmal nicht
ganz, aber halb – gebrochen.
Kollege Schemken,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ich habe zwar noch
gar nicht richtig angefangen, aber weil Herr Dreßen sehr
wahrscheinlich in weiser Voraussicht ahnt, was ich noch
sagen werde, gebe ich ihm schon jetzt die Möglichkeit
zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.
Ich möchte Sie etwas zu demfragen, was Sie gerade gesagt haben. Ist Ihnen nicht be-kannt, daß der Inhalt des Gesetzentwurfs Grundlageeiner Tarifauseinandersetzung – Arbeitgeber und Ar-beitnehmer haben sich verständigt – war? Wie könnenSie behaupten, es handele sich nur um eine halbe Lö-sung und wir hätten unser Versprechen nicht gehalten?Akzeptieren Sie nicht, daß beide Seiten mit dem Ergeb-nis der Tarifverhandlungen leben können?Konrad Gilges
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5385
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Bei mir ist immer
entscheidend, was unten herauskommt. Sie haben wäh-
rend des Wahlkampfes oben hineingegeben: Wir schaf-
fen die Regelung, die die Koalition in den 90er Jahren
fortgeschrieben hat, ab, und wir kommen wieder zu der
alten Schlechtwetterregelung.
Von Ihren Rednerinnen und Rednern ist sogar die Rege-
lung beschworen worden, die es unter Konrad Adenauer
gab. Dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. Man
muß darüber reden, ob heute noch mit den Regelungen
der damaligen Zeit Fragen der nationalen und internatio-
nalen Bauwirtschaft beantwortet werden können.
Ausgangslage ist die fortgeschriebene Regelung. Die-
se Regelung ist auf dem Weg des Kompromisses zwi-
schen Bauwirtschaft, Bauhandwerk und IG BAU zu-
stande gekommen. Grundlage dafür war die Gravenbru-
cher Erklärung vom 12. April 1997. Wir haben nicht an
den Sozialpartnern vorbei sozialen Unfrieden gesät;
vielmehr haben wir miteinander – das war notwendig –
die existierende Regelung fortgeschrieben. Die Zustim-
mung der IG BAU war vorhanden, und wir halten uns an
diese Regelung.
Auch nach diesem Gesetz der Regierungskoalition
hat im Grunde genommen der Kern dessen, was die Re-
gierung Kohl geschaffen hat, also das flexibilisierte
Dreisäulenmodell und auch die Frage der Kündigung
aus Witterungsgründen, nach wie vor Gültigkeit. Es ist
doch uns allen klar, Herr Gilges, daß man mit
Fausthandschuhen keine Fliesen auf dem Bau legen
kann. Insofern geht es nicht um diese Frage. Dieses Mo-
dell steht auch in dem von Ihnen vorgelegten und meiner
Meinung nach rückwärtsgewandten Gesetz.
Die erste Säule beinhaltete ja, daß während der Sai-
sonzeit am Bau über Arbeitszeitkonten die mehr gelei-
steten Arbeitsstunden erfaßt werden, die dann bei
Schlechtwetterzeiten im Winter als Ersatz für nicht ge-
leistete Stunden angerechnet werden. Zwei Drittel der
Baubetriebe – ich habe mir das gerade noch von einem
Kollegen sagen lassen – praktizieren dies im übrigen mit
großem Erfolg. Ein Kollege aus dem bayerischen Neu-
markt – dort herrschen nicht unbedingt die Witterungs-
verhältnisse, wie man sie in weiter südlich gelegenen
Gefilden vorfindet – sagte mir, daß niemandem von den
dort arbeitenden 4 000 Beschäftigten bei einer Firma im
Baubereich gekündigt werden mußte, da man teilweise
über 150 Stunden vorgearbeitet hatte.
Das entscheidende Ziel, Herr Ostertag – das haben die
Tarifpartner ja wiederholt angestrebt, aber es ist leider
nicht dazu gekommen –, war die Sicherstellung eines
auf 12 Monate verteilten Jahreseinkommens.
Die Sicherheit des Lohnes ist ja auch eine soziale Frage.
Ich komme nun zur zweiten Säule, die ganz wichtig
ist: Hier wird entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip
von einer zumutbaren flexiblen Eigenleistung ausge-
gangen. Die Unternehmen gleichen Lohneinbußen erst
dann durch Rückgriff auf einen Fond aus, wenn entspre-
chende Eigenleistungen nicht möglich waren. In diesen
Fonds wird die Winterbauumlage – die haben Sie, Herr
Gilges, ja eben schon angesprochen – eingezahlt, die als
solidarische Leistung das ausgleicht, was an Eigenlei-
stung nicht erbracht werden kann.
– Das ist schwierig, Frau Rennebach; aber wir können
nicht nur rechnen, sondern Sie müssen auch mit uns
rechnen.
Die dritte Säule stellt das Schlechtwettergeld dar. Es
wird dann gezahlt, wenn sowohl die erbrachten Eigen-
leistungen als auch die Winterbauumlage nicht mehr
greifen. Sie stellen das ganze System jetzt rückwärtsge-
wandt eigentlich wieder auf den Kopf, wenn Sie diese
von den Beitragszahlern aufzubringende ergänzende
Leistung erhöhen wollen.
– Ihr Vorhaben ist deshalb rückwärtsgewandt, weil Sie
bei Ihren Berechnungen von falschen Zahlen ausgehen.
Auf diese Weise muß nämlich die Bundesanstalt für Ar-
beit 50 Millionen DM mehr ausgeben. Ich glaube nicht,
daß das weniger wird. Sie belasten damit die Gemein-
schaft der Beitragszahler, die 50 Millionen DM mehr
aufzubringen hat.
Lassen Sie den Red-
ner doch einmal zu Wort kommen! Wenn Sie sich privat
unterhalten wollen, müssen Sie woanders hingehen.
Ich hoffe, daß esnicht von meiner Zeit abgezogen wird, wenn sich hierdas Plenum unterhält. Ich würde nämlich auch gernemitreden.
Der Beitragszahler wird also belastet. Dadurch trei-ben Sie die Lohnnebenkosten teilweise um 20 Prozent indie Höhe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt angesichtsder internationalen Konkurrenz auf den Baustellen undschafft im übrigen keine Arbeitsplätze im Binnenmarkt,
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weil die Bauwirtschaft von außen bedient wird. Dadurchwird die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir hier bit-ter nötig brauchen, nicht gefördert.
Sie verkomplizieren, statt zu vereinfachen. Das wäre dasGebot der Stunde. Sie reglementieren, statt zu flexibili-sieren.
Sie belasten gerade die Unternehmen aus der mittelstän-dischen Wirtschaft und aus dem Handwerk, die uns Ar-beits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.
Das wurde heute morgen in Gesprächen noch einmaldeutlich.Hinzu kommen die gravierenden Einschnitte imBundeshaushalt. Jetzt komme ich zu der angekündigtenRechnung, Herr Gilges. Ich würde dem Minister wün-schen, daß er den Weg, der eingeschlagen ist, jetzt kor-rigiert und das aufnimmt, was wir ihm ins Buch schrei-ben möchten: Die mittelfristige Finanzplanung im Woh-nungsbau der Bundesrepublik Deutschland betrug 19983,49 Milliarden DM und beträgt im Jahre 20032,15 Milliarden DM. Das sind bei zukünftiger Dynami-sierung präterpropter 1,3 Milliarden DM weniger fürden sozialen Wohnungsbau. Hiervon sind Arbeitsplätzebetroffen. Stocken Sie die Mittel auf! Dem Ministerkönnen wir zusagen: Wir machen mit.
Im gleichen Zeitraum passiert im Bereich des Städte-baus noch Gravierenderes: Die Mittel in diesem Bereichwerden von 700 Millionen auf 600 Millionen DM zu-rückgeführt. Über den von Ihnen eingeführten Titel „Diesoziale Stadt“ kann man sprechen. Nur, daß dieser Titelangesichts einer Kürzung der Mittel weitere 100 Millio-nen DM notwendig macht, zeigt, daß Sie nicht verstan-den haben, daß gerade beim Städtebau auf Grund derdortigen Komplementärleistungen durch die privateWirtschaft und die Kommunen und teilweise im Rah-men von Muskelhypotheken ein Vielfaches an Arbeits-plätzen geschaffen werden kann, als dies im Rahmeneines solchen Titels möglich ist.
Sie kürzen die Mittel für den Wohnungsbau um zirka1 Milliarde DM. Das ist der schlagende Beweis dafür,daß Sie nicht erkennen, daß es hier weniger auf Regle-mentierung und mehr auf Investitionen ankommt. DieMittel für Investitionen reduzieren Sie. Daß das beieinem Bundeskanzler passiert – ich sage das ausdrück-lich –, der unter den Stichworten Modernisierung, Her-ausforderungen und Antworten, die im internationalenKonzert gegeben werden müssen, antritt, ist kontrapro-duktiv.Ich sage Ihnen ganz offen: Sie sollten sich den inve-stiven und den Bau fördernden Arbeitsplätzen zuwendenund weniger reglementieren. Diesen Rat möchte ichIhnen geben. Damit eröffnen Sie Perspektiven für dieMenschen. Dann werden Sie draußen auch wieder ver-standen. Dann schaffen Sie Arbeitsplätze und sichern sieauch.Schönen Dank.
Das Wort hat nun
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Gil-ges hat uns auf ein wichtiges Problem aufmerksam ge-macht, als er beschrieben hat, daß die Kolleginnen undKollegen auf dem Bau nicht für Regen und schlechtesWetter verantwortlich sind. Herr Gilges, Sie und dieKollegen von der CDU/CSU stimmen mir sicher zu, daßnatürlich auch die Arbeitgeber und die Bundesregierungkeine Schuld an schlechten Witterungsbedingungen ha-ben. Insofern ist es besonders wichtig, daß alle drei zu-sammen, nämlich Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bun-desregierung, in diesem Bereich einen Kompromiß bzw.eine Regelung gefunden haben, die für den Bau imWinter und im Sommer quasi einen Regenschirm auf-spannt, um die aus schlechten Witterungsbedingungenfolgenden Probleme abfedern zu können.
Winterarbeitslosigkeit ist ein Thema, das wir nichtwegdiskutieren können. Es existiert. Es ist ein Thema,das in der gesamten Volkswirtschaft Probleme aufwirft:zum einen für die Betroffenen in Form von sozialerHärte, zum anderen für die Branche, die mit wirklichhohen Fluktuationen zu kämpfen hat, insbesondere fürdie kleinen und mittleren Betriebe, die unter diesen Be-dingungen besondere Schwierigkeiten haben, Fachar-beiter auch im Winter zu halten.Herr Schemken, Sie können ablenken, wie Sie wol-len: Es ist einfach so, daß die Regelung hinsichtlich desSchlechtwettergeldes, die Sie abgeschafft haben, dieSituation auf dem Bau im Winter bzw. die Winterar-beitslosigkeit verschärft hat. Das ist mit Zahlen zu bele-gen.
– Wir können uns über die Höhe dieser Zahlen streiten.Aber Fakt ist es. Fakt ist auch, daß Sie nicht Kosten ge-spart haben, sondern zusätzliche geschaffen haben.
Es ist so: Die Arbeitgeber im Baubereich, das Bau-gewerbe, können dieses Problem nicht in den Griff be-Heinz Schemken
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kommen. Zeit für das Finden einer Lösung war vorhan-den. Es ist nicht gelungen. Jedes Silvester gibt es zirka150 000 Arbeitslose auf dem Bau. Ich denke, wir allesind uns einig, daß das eine unhaltbare Situation ist.Deswegen war es nötig, nach Lösungen zu suchen.Herr Schemken, es ist wahr, es ist nur ein Kompro-miß gefunden worden. Aber es ist ein guter Kompromiß.
Er ist unter gleichgewichtiger Beteiligung von Arbeitge-bern, Arbeitnehmern und der Bundesregierung bei ganzunterschiedlichen Ausgangspositionen gefunden wor-den. Es handelt sich quasi um eine Art kleines Bündnisfür Arbeit.
Das Entscheidende ist, daß es sich dabei um einenKompromiß handelt, der eben nicht zu Lasten Drittergeht und der allen drei beteiligten Parteien in ihrem Be-reich Vorteile verschafft.Es ist auch wichtig – ich erwähne in diesem Zusam-menhang die Zustimmung des Bundesrates –, daß wirauch von seiten der rotgrünen Koalition im Hinblick aufdie Zukunft des Baugewerbes nichts verschleiern wol-len. Wir wollen vielmehr Sachverhalte offenlegen, dis-kutieren und Erfahrungsberichte über die Wirkung desGesetzentwurfes erstellen. Wir gehen allerdings davonaus, daß uns der Erfahrungsbericht in unseren Annah-men bestätigen wird, nämlich daß die Winterarbeitslo-sigkeit mit diesem Konzept nachhaltig und signifikantbekämpft werden kann. Das Konstruktive an der vorge-schlagenen Lösung ist, daß sie weiterhin auf dem Drei-säulenmodell beruht, was ich ausdrücklich begrüße.Die erste Säule betrifft die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Sie bringen 30 Überstunden, die sie imSommer erarbeitet haben, auf ein Arbeitszeitkonto ein.Daneben besteht die Möglichkeit, über die 30 Stundenhinaus etwas einzubringen, mit 2 DM Wintergeld unter-stützt. Diese Konstruktion ist für die Baubranche zu-kunftsweisend; der Aufbau von Arbeitszeitkonten wirdfür die Flexibilisierung in der Bauwirtschaft gebraucht.Diese Regelung ist ein guter Bestandteil dieses Gesetz-entwurfes.Die zweite Säule betrifft die Arbeitgeber. Auch die-ses Standbein ist positiv zu bewerten. Es stimmt nicht,daß Lohnnebenkosten erhöht werden, wie Sie gesagt ha-ben. Vielmehr wird mit Zahlung von 1,7 Prozent derBruttolohnsumme das Risiko für die Arbeitgeber abge-federt.
Kollegin Dückert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel-
burg?
Ich gestatte die Zwischenfrage, wenn ich über den
Komplex bezüglich der Arbeitgeber zu Ende gesprochen
habe.
In diesem Bereich ist für uns besonders wichtig, daß
die Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld ab der
30. Stunde für die Arbeitgeber auf Null gesetzt werden.
Diese Regelung ist deswegen besonders wichtig, weil
dadurch insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe
in der Zukunft entlastet werden. Wir können damit ver-
hindern – wir können das belegen; auch die kleinen und
mittleren Betriebe wollen das –, daß Arbeitskräfte im
Winter entlassen werden müssen. Das ist vorteilhaft für
die kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die
Arbeitskräfte.
Herr Meckelburg, ich freue mich auf Ihre Frage.
Bitte schön.
Frau Kollegin,
da Sie das Dreisäulenmodell so besonders herausgestellt
haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir bestäti-
gen, daß die Schlechtwettergeldregelung von Norbert
Blüm von 1997 ebenfalls ein Dreisäulenmodell bein-
haltete und daß Sie innerhalb dieses Modells zwanzig
Stunden nach unten verschoben haben? Es wäre viel
wichtiger in der jetzigen Situation, diese Verschiebung
nicht vorzunehmen, sondern bei den Investitionen im
Bereich der Wohnungsbau- und Städtebauförderung ei-
nen Akzent zu setzen, um damit über den Winter hinaus
Arbeit am Bau zu schaffen.
Herr Meckelburg, bei Ihrer Frage und bei der Rede desKollegen Schemken fällt eines auf: Sie versuchen mitden Verweisen auf die Regelungen von Blüm und aufdie Forderungen von Wiesehügel und durch Verschlei-ern, wie unter Ihrer Regierungsverantwortung die Bau-tätigkeit eingeschränkt wurde, nachträglich auf einenZug in Richtung einer zukünftigen guten Lösung derProbleme auf dem Bau aufzuspringen.
Es ist wirklich ein Armutszeugnis, wie Sie hier argu-mentieren. Sie können die Regelung nämlich nicht mehrschlechtreden. Deswegen verweisen Sie auf gute Rege-lungen, die Sie angeblich in der Vergangenheit geschaf-fen haben, und auf mögliche Versprechen der SPD. Siekönnen aber nicht auf Mängel in dieser Regelung ver-weisen, weil Sie sie nicht finden können.
Die dritte Säule – auch dieser Punkt wurde schon an-gesprochen – betrifft den Beitrag der Bundesanstalt fürArbeit. Natürlich wurden zusätzliche Kosten in Höhevon 55 Millionen DM beziffert. Sie wissen aber auch,daß allein die Verhinderung der Winterarbeitslosigkeitbei 7 500 Beschäftigen dazu führt, daß dieser Betragaufgebracht werden muß.Dr. Thea Dückert
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Ich gehe davon aus, daß mit diesem Gesetz mehr be-wirkt werden kann, als 7 500 Arbeitskräfte im Bauge-werbe vor der Winterarbeitslosigkeit zu bewahren. Dasist schon viel, weil es sich hier um lauter Schicksalehandelt. Es wird sich zeigen, daß dies für die dritte Säu-le, die Bundesanstalt für Arbeit, einen positiven Aspekthaben wird, weil sie nämlich mehr Arbeitslosengeldwird einsparen können, als sie an Winterbauförderungleisten muß.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Gesetzes ist dieWiedereinführung der Winterbauausschüsse bei derBundesanstalt für Arbeit. Eines ist doch klar – ichsprach dies eingangs bereits an –: Wir sind für das Wet-ter nicht verantwortlich und können es nicht beeinflus-sen. Aber weil dies so ist, ist es notwendig, alles zu tun,um die Kontinuität der Auftragsvergabe für den Winterim Baugewerbe zu sichern. Dafür bieten die Winterbau-ausschüsse eine Chance, die wir nicht verspielen sollten.Ich komme zum Schluß: Wir wollen die Problemenicht wegreden, sondern lösen. Dafür gibt es neue In-strumente, nämlich das Zusammenwirken aller drei Be-teiligter: der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und derBundesregierung, wie es auch im Bündnis für Arbeit ge-schieht. In konsensuellen Verfahren soll eine Lösung ge-funden werden, und ich bin ziemlich sicher, daß diesetragen werden. Insofern ist das, was hier vorgelegt wird,auch gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich einesinnvolle Lösung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun
Kollege Dirk Niebel, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Wir haben uns nun inkurzer Zeit zum dritten Mal mit dem Gesetzentwurf zurNeuregelung des Schlechtwettergeldes zu beschäftigen.Die gesamten Beratungen haben eines gezeigt: Bei die-sem Gesetzentwurf geht es noch immer um die Verlage-rung der Kosten und der Verantwortung auf die Allge-meinheit.
Er erfüllt einzig und allein einen Zweck: Er dient demGesichtslifting des Kollegen Wiesehügel, der heute lei-der nicht da sein kann.
Herr Wiesehügel ist im Wahlkampf durch die Gegendgerannt und hat seinen Gewerkschaftern gesagt: Wirdrehen alles zurück. Die Bundesanstalt für Arbeit wirdwieder ab der ersten Ausfallstunde in die Haftung ge-nommen. Noch im April hat er in den Reihen der Koali-tion Unterschriften für ebendiesen Antrag gesammelt, istaber, zum Glück der Allgemeinheit, von Ihrem Frak-tionsvorsitzenden Struck zurückgepfiffen worden.
55 Millionen DM Mehrbelastung für die Bundesanstaltfür Arbeit ist ein ziemlich hoher Preis für die Gesichts-operation von Herrn Wiesehügel.
Schönheitsoperationen dieser Art sollten nicht zu Lastender Allgemeinheit durchgeführt werden.
– Der Kollege Wiesehügel kann im Moment offenkun-dig nicht hier sein. Dies ist sicher begründbar: Vielleichtschämt er sich vor seinen Gewerkschaftern, denen ermehr versprochen hat. Vielleicht ist er auch in seinerHauptfunktion als Vorsitzender der IG BAU unterwegsund kann die Tätigkeit als Abgeordneter nicht so sehrwahrnehmen.
Was mich an diesem Gesetzentwurf außerordentlichirritiert, ist,
daß ein Vorsitzender einer Gewerkschaft sich quasiselbst entmündigt, indem er in seiner Zweitfunktion alsGesetzgeber Regelungen schafft, die ihn in seinerErstfunktion als Gewerkschaftsvorsitzender einschrän-ken.
Die Regelung, die bis heute Gültigkeit hat, ist dasDreisäulenmodell. Sie verkaufen die Beibehaltung die-ses Modells gegenüber Ihren Mitgliedern als den großenWurf. Das ist meines Erachtens ein ganz erheblichesStück weit unredlich, weil Sie nichts anderes getanhaben – das ist eben schon gesagt worden –, als denEigenbeitrag innerhalb dieses Modells um 20 Stundenzu verschieben, weil Sie dafür gesorgt haben, daß esweniger attraktiv wird, einen Beitrag zur Sicherung deseigenen Arbeitsplatzes zu leisten, und so die Lohn-nebenkosten wieder erhöht werden.
Dieses Gesetz fällt in der Konsequenz in die Reihe allder Gesetze, die Sie bisher beschlossen haben: dieRücknahme der Schwelle beim Kündigungsschutz, die630-Mark-Beschäftigung und die sogenannte Schein-selbständigkeit. Das paßt in die Bilanz Ihres ersten Jah-res, die die „Wirtschaftswoche“ gezogen hat: In einemJahr Schröder-Regierung 58 350 Arbeitslose mehr und367 000 Erwerbstätige weniger. Sie sind konsequent.Dr. Thea Dückert
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– Frau Kollegin Rennebach, wir werden nachher einHighlight der Parlamentsgeschichte dadurch erleben,daß Sie einmal nicht Gift verspritzen, sondern hier zurSache reden. Ich freue mich darauf, Ihnen nachher zu-zuhören.Wie sagte Gerhard Schröder? Der Bundeskanzler hatgesagt: Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken;daran werde ich mich messen lassen.Der „Tagesspiegel“ titelte in der gestrigen Ausgabeauf Seite 1: „Arbeitslosigkeit so hoch wie bei Kohl“. DieRegierung Schröder hat in ihrer Arbeitsmarktpolitik bis-her kein Bein auf den Boden bekommen. Sie ist kläglichgescheitert!
Dieses Gesetz ist in seiner Kontinuität konsequentrückwärtsgewandt. Sie werden auch dadurch Arbeits-plätze vernichten, daß Sie unsoziale Politik machen, in-dem Sie Politik für Arbeitsplatzbesitzer machen unddiejenigen, die draußen stehen, durch die höherenLohnnebenkosten weiterhin draußen halten.
Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 festgestellt, daßbei der jetzigen Regelung durchschnittlich 64 Stundenvorgearbeitet werden und 80 Prozent aller Betriebe mit20 Arbeitnehmern die Regelung in Anspruch nehmen.98 Prozent aller vorgearbeiteten Stunden werden zumAusgleich von Schlechtwetterzeiten in Anspruch ge-nommen. Sie hätten konsequent bleiben und gerade beidieser temporären Arbeitslosigkeit Flexibilisierung vor-antreiben müssen. Die Kollegin Wolf hat von den Grü-nen abgeschrieben.
– Entschuldigung, von den Liberalen; man weiß ja kaumnoch, ob Sie grün sind oder nicht. – Allerdings hat sienur abgeschrieben, ist aber nicht konsequent geblieben.Sie hätten die Entwicklung von Jahresarbeitszeitkontenund von Lebensarbeitszeitkonten fortführen müssen. Ge-rade in diesem Bereich wäre mehr Flexibilität durchausgut gewesen.
Dieses Gesetz ist auch im Sinne einer zukunftsorien-tierten Fortentwicklung der Arbeitsmarktpolitik rück-wärtsgewandt. Die Einführung der Winterbauaus-schüsse, die Sie jetzt wieder vorgenommen haben, istnichts anderes als das Ausgraben eines Relikts, das esbei uns schon gab. Die Winterbauausschüsse haben inder Vergangenheit keine sinnvolle Tätigkeit ausübenkönnen, und sie werden das auch in der Zukunft nichttun.
Was Sie machen, ist nichts anderes, als verdiente Mit-glieder von Verbänden der beiden Seiten des Arbeits-marktes zu beschäftigen.
– Ah, da kommt ja Herr Wiesehügel. Das freut mich. Esist schade, daß Sie nicht früher da waren. Aber Sie kön-nen meine Rede gerne nachlesen.
Die 97er Regelung hatte unter anderem das Ziel,Überstunden abzubauen, ein Ziel, das von der Gewerk-schaftsseite bisher immer als der Schlüssel, als Königs-weg zum Abbau von Arbeitslosigkeit proklamiert wor-den ist. Dadurch, daß Sie hier keinerlei Anreize für Vor-arbeit schaffen, konterkarieren Sie das Ziel der 97er Re-gelung.Ich finde es sehr schade, daß Sie bei den Beratungendieses Gesetzes derartig beratungsresistent waren. Siewerden damit Ihrem Ziel, dem Abbau der Arbeitslosig-keit, an dem sich diese Regierung jederzeit messen las-sen will, keinen Schritt näherkommen. Das ist gut füruns als Opposition, aber das ist schlecht für dieses Land,das ist schlecht für die Beschäftigten, und das ist keinezielführende Arbeitsmarktpolitik.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir beraten heute abschließend ein Ge-setz, welches populär „Schlechtwettergesetz“ genanntwird. Wir bräuchten darüber übrigens nicht zu beraten,hätten CDU/CSU und F.D.P. die bis dato geltende Re-gelung nicht zum 1. Januar 1996 abgeschafft. Ich darfSie daran erinnern – insbesondere Sie, Kollege Niebel –,daß dieser forsche Schnitt ins soziale Netz allein imWinter 1996/97 zu 4 000 fristlosen Entlassungen aufBerliner Baustellen geführt hat,
und das ausdrücklich mit der Begründung: schlechtesWetter.Mit anderen Worten: Die alte Regierungskoalition hatein Heuern und Feuern in Gang gesetzt, bei dem dasFeuern weit vor dem Heuern rangierte,
und das in einer Branche, die ohnehin von einer Ar-beitslosenquote um 30 Prozent, in den neuen Bundes-Dirk Niebel
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ländern gar um die 50 Prozent, gebeutelt wird. Dasheißt, jeder zweite Bauarbeiter in den neuen Bundeslän-dern ist ohne reguläre Arbeit und Erwerbschance. Ich
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sage dies auch vor dem Hintergrund, daß derzeit ver-meintliche Soziologen durch die Talkshows reisen undbehaupten, der „gelernte DDR-Arbeiter“ sei dumm, faulund gefräßig. Für derart unqualifizierte Beiträge zumZusammenwachsen können die Betroffenen nur fru-striert danken. Erst nimmt man ihnen durch Ihre unso-ziale Gesetzgebung die Arbeit, dann schreit man ihnennoch „Haltet den Dieb!“ hinterher.
Die abgeschaffte Schlechtwettergeldregelung ist nureines der Probleme, die sich im Bauwesen bündeln.Aber es gehört nun einmal zum Erbe der letzten Regie-rung, daß auch in diesem Fall die Arbeitslosigkeit beför-dert und eben nicht eingedämmt wurde. Wenn diesstimmt – offensichtlich teilen SPD und Grüne nach wievor unsere grundsätzliche Kritik an der damaligen Re-gierung –, dann folgt logisch die Frage, warum die neueRegierungskoalition auch noch den Winter 1998/99 ver-streichen lassen hat, anstatt sofort eine Schlechtwetter-geldregelung in Kraft zu setzen.
– Natürlich haben wir keine Diktatur. Aber Wahlver-sprechen sollten auch über den Wahltag hinaus gelten,Kollegin.
Die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes war einWahlversprechen, und daß der Winter kommt, warauch im Jahr 1998 nicht so ganz überraschend.
Entscheidend bleibt, daß von der Schlechtwettergeldre-gelung Tausende Bauarbeiter und ihre Familien betrof-fen sind.Nun hat meine Kollegin Heidi Knake-Werner schonin der ersten Lesung des Gesetzes darauf hingewiesen,daß hier kein CDU/CSU-Fehler 1 : 1 zurückgenommen,sondern ein Kompromiß verhandelt wird, der schlechterals die ursprüngliche Regelung ist. Sie, Kollege Wiese-hügel, riefen damals dazwischen: „So ist das Leben,Frau Kollegin!“ Ich antworte Ihnen: Das Leben spieltsich auf den Baustellen oder in den Arbeitsämtern ab.Das Leben auf den Baustellen bedeutet allzuoft Über-stunden und Unterbezahlung, das Leben auf den Ar-beitsämtern bedeutet allzuoft Hoffnungslosigkeit. Dasgilt auch für diese Stadt.Nun lese ich im Formblatt zum Gesetzentwurf unterder Rubrik Alternativen: „Keine“. Dabei wissen Sievon der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen sehrwohl, daß es Alternativen und hinreichend Fragezeichenzum vorgelegten Entwurf gibt. Völlig unklar bleibt zumBeispiel, wie illegale, also gesetzeswidrige Kündigun-gen aufgedeckt und wirksam geahndet werden sollen.Unbeachtet bleiben auch Forderungen, das Schlecht-wettergeld wieder ab der ersten Stunde einzuführen.Kurzum: Die Behauptung, die eigene Politik sei alterna-tivlos, ist ein typischer Ausfluß einer gern geleugnetenRegierungskrankheit, die offenbar inzwischen auch SPDund Bündnis 90/Die Grünen befallen hat.Gleichwohl ist das vorgelegte Gesetz eine Verbesse-rung gegenüber dem, was CDU/CSU und F.D.P. hinter-lassen haben.
Wir werden diesem Gesetzentwurf deshalb zustimmen,auch wenn wir wissen, daß es bessere Lösungen gäbe.
Betrachtet man nämlich die Regelungen ganz genau,liegen die Risiken des Gesetzes einseitig bei den am BauBeschäftigten. Insofern sind Sie dann allerdings konse-quent, da auch dies einem SPD-Wahlversprechen folgt.Vor einem Jahr plakatierten Sie in dieser Stadt: „Wirwerden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“
Das verhieß viel, versprach wenig, war also unverbind-lich, und führt zu solchen Halbheiten, wie wir sie heuteauf dem Tisch haben.
Ich erteile der Kolle-
gin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pau, ichweiß nicht, ob Ihr Gedächtnis nicht ganz in Ordnung ist.
Am 26. Oktober 1998 ist der Kanzler gewählt und ver-eidigt worden. Eine Schlechtwetter- und Winterbaure-gelung muß am 1. November in Kraft treten, damit sieihre Wirkung entfalten kann. Selbst wir haben es nichtgeschafft, so etwas in fünf Tagen auf die Beine zu stel-len.
Herr Niebel, ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht,
wenn ich kein Highlight abliefere. Aber ich würde Ihnengerne in aller Bescheidenheit sagen, daß die 96er undauch die 97er Regelung dafür gesorgt haben, daß Jahrfür Jahr 150 000 Bauarbeiter im Winter ihren Job verlo-ren haben.
Petra Pau
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Das wollten wir so schnell wie möglich ändern.
Eigentlich wollten das auch Kollegen aus Ihren Rei-hen ändern. Ich erinnere mich daran, daß, als im Okto-ber/November 1995 das Schlechtwettergeld abgeschafftwurde, am nächsten Tag der Kollege Eppelmann imFrühstücksfernsehen aufgetaucht ist und es wiederein-führen wollte. Ganz alleine können wir mit dieser Re-gelung nicht sein.
Wieder einmal in einer solchen Debatte verdrehen Siedie Tatsachen. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfeswar von der F.D.P. zu hören, die Zahl der Entlassungenam Bau sei im letzten Winter „dramatisch zurückgegan-gen“.
Bewußt gelogen oder keine Ahnung?
Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieArbeitslosigkeit am Bau im Winter 1998 wie in denVorjahren um fast 150 000 Menschen gestiegen.
Auch wenn die Arbeitslosenzahlen am Bau insgesamtzurückgehen, sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen,daß die Winterarbeitslosigkeit noch immer nicht gebanntist, wir aber das mit unserem Gesetzentwurf erreichenwerden.
Sie werden verstehen, daß ich Ihre Rechnung nichtwirklich nachvollziehen kann. Ich bin fest davon über-zeugt: Die Kollegen am Bau können es auch nicht. Es istmir ebenso unerklärlich, daß Sie wollen, daß wir derEntwicklung weiter tatenlos zusehen. Wie sagte HerrSchäuble? In der Bauwirtschaft sei „alles gut geregelt“.Keine Ahnung oder bewußt gelogen?
Ich finde, mit der Abschaffung des Schlechtwetter-geldes von 1996 wurde überhaupt nichts „gut geregelt“.Im Gegenteil: Es sind Probleme entstanden, die nachdrei Jahren natürlich nicht so einfach wieder eingefan-gen werden können.
Kollegin Rennebach,
der Kollege Niebel möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Nur wenn es der Erhel-
lung dient.
Frau Kollegin Rennebach, ich
bin bemüht, daß meine Fragen grundsätzlich der Erhel-
lung des Hohen Hauses dienen.
Sie haben gerade gesagt, mit der 96er Regelung sei
„überhaupt nichts gut geregelt“ worden. Sind Sie bereit,
sich daran zu erinnern, daß die 96er Regelung von Ihrer
Partei mitgetragen wurde?
Nein. Ich weiß, woge-gen ich heftig gestimmt und heftig gesprochen habe. Estut mir leid.
Gerne wäre ich Ihnen mit dieser Antwort hilfreich ge-wesen. Aber ich muß Ihnen sagen: Der einzige aus IhrenReihen, der mit uns zusammen nein gesagt hat – einenTag später, aber immerhin –, war Herr Eppelmann.
– Auch er ist nicht da.Übrigens begrüße ich den Kollegen Klaus Wiesehü-gel.
– Er hat jetzt diesen Gesetzentwurf unterschrieben. Waser 1996 unterschrieben hat, war ein Gesetz und kein Ta-rifvertrag. Herr Niebel, erhellen Sie uns doch bitte wo-anders, aber nicht hier.
Die F.D.P. spricht normalerweise von „Subventionie-rung“ und „Kostenerhöhung“ – Scheinargumente, dieleicht zu entkräften sind.
Doch dazu später.Sie unterstellen uns darüber hinaus die Beschneidungvon Eigenverantwortung und Tarifautonomie. Wie Siewissen, haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemein-sam mit der Bundesregierung eine Lösung zur Vermei-dung der Winterarbeitslosigkeit gefunden, wie wir heuteschon mehrfach gehört haben.Der Kompromiß ist auch nach meiner Meinung einausgewogener Interessenausgleich, der von allen Seitenbegrüßt wird. Warum also beschweren Sie sich eigent-Renate Rennebach
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lich? Ich will es Ihnen sagen: Weil es Ihnen nicht gelun-gen ist. Ich sage Ihnen auch, warum: weil Sie daranüberhaupt kein Interesse hatten.
Ihre Botschaft lautet im Klartext: Der Markt hat seineeigenen Regeln. Die hat er, meine Damen und Herrender Opposition. Aber dort, wo die Regeln nicht funktio-nieren, müssen wir eingreifen. Das ist soziale Markt-wirtschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,wenn wir vom Wetter reden,
ist unsere Antwort: Wir müssen und wir werden han-deln. Deshalb werden wir heute ein Gesetz beschließen,das hilft, die Winterarbeitslosigkeit am Bau zu beseiti-gen.
Wenn wir Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen wol-len
– das ist unser aller Aufgabe –, dann müssen wir neue,innovative Beschäftigungsfelder schaffen. Aber wirmüssen auch dafür sorgen, daß bestehende Arbeitsplätzeerhalten bleiben.
Wenn ich aber aus den Reihen der CDU/CSU höre, wirwürden ein sogenanntes Arbeitsplatzbesitzergesetz be-schließen, dann muß ich sagen: Das ist demagogisch undgemein.
Aber ich muß doch mal fragen, was falsch daran seinsoll, Arbeitsplätze – zumal unter den besonderen Bedin-gungen am Bau – zu erhalten. Sie behaupten weiter, dieNeuregelung des Schlechtwettergeldes würde Schwarz-arbeit fördern. Das ist eine dreiste Lüge. Das wissenSie.
Meine Damen und Herren, es ist jetzt nicht die Zeitfür solche Possen – auch nicht die Zeit des Herrn Niebel.Dafür ist die Situation auf unseren Baustellen nun wirk-lich schwierig genug. Als Berlinerin habe ich vieleKontrollen auf Baustellen begleitet und weiß um dasAusmaß von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung;ich würde mit solchen Begriffen nicht leichtfertig umge-hen. Nun stellen Sie sich bitte nicht hier hin und be-haupten wider besseres Wissen, unser Gesetz sei dafürverantwortlich. Es ist noch nicht einmal in Kraft. DieSchwarzarbeit aber haben wir gestern und heute. Undwarum? 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazu geführt,daß Rechtsverstöße und massiver Mißbrauch als Kava-liersdelikte gelten. 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazugeführt, daß Lohndumping und ungeregelte Arbeitsver-hältnisse an der Tagesordnung sind. Das Ergebnis ist,daß die Betriebe, die sich an Recht und Ordnung halten,das Nachsehen haben und zumachen müssen.
– Herr Meckelburg, wenn es Ihnen schwerfällt, inMecklenburg-Vorpommern oder in anderen Ländern zuregieren, dann tut mir das leid.
– Nicht? Ich denke, Sie sind Herr von Mecklenburg? –Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Diese Situation mußsich endlich wieder ändern.
Kollegin Rennebach,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel-
burg?
Aber gern.
Frau Kollegin,
können Sie mir bestätigen, daß ich aus Gelsenkirchen
komme,
wo wir vor zwei Wochen gerade die stärkste Fraktion
geworden sind – nach 53 Jahren – und wo jetzt die CDU
den Oberbürgermeister stellt, weil Sie so eine „gute“
Politik machen?
Herr Meckelburg, ichbestätige Ihnen gerne, daß Sie aus Recklinghausenkommen.
– Ich gebe zu, das war bewußt falsch verstanden. Gel-senkirchen ist auch schön.
– Aber Hertha ist im Moment besser.Renate Rennebach
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Also, meine Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ih-nen nur sehr empfehlen: Gehen Sie einmal raus und re-den Sie mit den Menschen am Bau.
Sie werden wenig Verständnis für Ihre absurden Unter-stellungen und auch für den Spaß, den Sie am Themahaben, finden.Unser Entwurf der Neuregelung des Schlechtwetter-geldes sieht das Dreisäulenmodell vor, bei dem dieVerantwortung für die Absicherung des witterungsbe-dingten Arbeitsausfalls im Winter auf Arbeitgeber, Ar-beitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit verbleibt.Arbeitnehmer – das ist unser Hauptziel – haben mit demVerbot der witterungsbedingten Kündigung endlichwieder die Aussicht, ohne Arbeitslosigkeit über diesenWinter zu kommen.
Sie profitieren von der Reduzierung des Eigenbetragesvon 50 auf 30 Stunden – um zum Gesetzentwurf zurück-zukommen – und können durch das besondere Winter-geld Ausfallzeiten über diese 30 Stunden zusätzlich aus-gleichen.
Nun noch zum letzten Punkt Ihrer Kritik. Sie spre-chen von der Politik der Opposition als einer Vertei-lungspolitik zu Lasten der Allgemeinheit. Sie sprechenvon einer Erhöhung der Lohnnebenkosten.
Das ist – das wissen Sie genausogut wie ich – komplet-ter Unsinn. Wir senken die Lohnnebenkosten. Sie,meine Damen und Herren von der CDU/CSU undF.D.P., haben sie erhöht. Das ist nun vorbei. Im Gegen-satz zur alten Bundesregierung machen wir eine Politikder Zielperspektive.
Frau
Kollegin Rennebach, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich möchte nur noch
einen Satz sagen.
Das erste Mal, daß ich in diesem Reichstag gesprochen
habe, war vor acht Jahren, 1991. Damals wurden von
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
zum erstenmal die Lohnnebenkosten erhöht.
Ich hoffe, in diesem Jahr wurde der Auftakt dazu ge-
macht, daß wir die Lohnnebenkosten endlich wieder
senken und Arbeitsplätze schaffen – das, was Sie nie er-
reicht haben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Michael Meister
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn mansich die jüngsten Arbeitsmarktdaten, die ja gerade indieser Woche präsentiert wurden, ansieht, wird man ein-deutige Hinweise finden, daß das zentrale Projekt dieserBundesregierung, nämlich die Senkung der Arbeitslo-sigkeit, gescheitert ist.
Es ist gerade ein Jahr her, daß sich ein Trend zum Bes-seren auf dem Arbeitsmarkt eingestellt hat. Der damali-ge niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schrödersprach im März und Mai vergangenen Jahres von „sei-nem Aufschwung“.
Das hat sich darin niedergeschlagen, daß wir im Januardiesen Jahres im Vergleich zum Vorjahresmonat300 000 Arbeitslose weniger hatten. Mittlerweile ist die-se Zahl auf 20 000 zurückgegangen. Das ist Ihre Ziel-perspektive, Frau Rennebach. Das ist Ihr Verdienst. Siehaben die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt zumNegativen in diesem Jahr geschafft.
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in diesem Monat imVergleich zum Vorjahresmonat ist rein konjunkturbe-dingt. Das zeigt etwa die Aussage der Bundesanstalt fürArbeit. Das Wirtschaftswachstum ist nach wie vor nichtstark genug. Wenn man auf die Zahl der Erwerbstätigenschaut, dann wird man finden, daß sie seit Regierungs-antritt um 350 000 zurückgegangen ist. 350 000 Arbeits-plätze haben Sie in diesem Jahr in Deutschland ver-nichtet; das ist etwa ein Prozent aller Arbeitsplätze. Dasist ein Skandal erster Ordnung.
Jetzt lenken wir den Blick auf den Baubereich. Dorthaben Sie vollkommen falsche Weichenstellungen vor-genommen. Sie kürzen zum Beispiel beim Ver-kehrshaushalt den investiven Bereich. Bei einer Milli-Renate Rennebach
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arde Kürzungen im Verkehrshaushalt bedeutet das, daßdadurch 12 000 Arbeitsplätze beseitigt werden.
Kollege Schemken hat die Änderungen im sozialenWohnungsbau angesprochen. Genauso haben Sie imfrei finanzierten Wohnungsbau zugeschlagen. Ichmöchte in diesem Zusammenhang Ihr sogenanntesSteuerentlastungsgesetz nennen. Dieses Steuerentla-stungsgesetz hat sich als Arbeitsmarktbelastungsgesetzerwiesen. Dort sind massive Verschlechterungen im Be-reich der Abschreibungen vorgesehen, die sich mittler-weile auch bei den Investitionen im freien Wohnungs-bau negativ bemerkbar machen.Jetzt gehen Sie mit Ihrem aktuellen Gesetzgebungs-vorhaben an die Eigenheimzulage und schlagen auchnoch die letzte Säule, den privaten Eigenheimbau, weg.So schafft man Arbeitslose und keine Arbeitsplätze.
Die Bauindustrie in Nordrhein-Westfalen hat ange-sichts der Belastungen
auf Grund der Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesre-gierung – –
– Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie ab und zu etwasErhellendes hören können – Sie haben ja so sehr etwashören wollen –, dann hören Sie auch einmal zu.
Die Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesregierunghaben das Bauhauptgewerbe nach Schätzungen derBauindustrie Nordrhein-Westfalens mit einem Anstiegder Lohnnebenkosten um mehr als zehn Prozent bela-stet. In den zurückliegenden Jahren sind die Lohnneben-kosten von 116 auf 97 Prozent zurückgegangen. Das warein Verdienst der alten Bundesregierung. Sie verschie-ben das jetzt wieder in die Gegenrichtung. Auch dieswird zu mehr Arbeitslosen am Bau führen.Jetzt zum Winterausfallgeld. Das setzt dem Ganzendie Krone auf. Hier wird wiederum in ein bestehendes,funktionierendes Gesetz eingegriffen
und ohne Not die Kostensituation der Arbeitgeber undder Beitragszahler verschlechtert.
Der bisher bestehende, faire Kompromiß, der das Risikodes – –
– Herr Präsident, ich möchte Sie bitten, vielleicht derFrau Kollegin Rennebach zu sagen, wer hier momentandas Wort hat.
Herr
Kollege, Sie haben das Mikrophon! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen, eine etwas farbige Diskussion ist durch-
aus wünschenswert;
allerdings muß der Redner auch konzentriert reden kön-
nen.
Besten Dank,Herr Präsident.Der bisher faire Kompromiß dahin gehend, daß Bau-arbeitgeber, Bauarbeitnehmer und die Bundesanstalt fürArbeit den Winterausfall finanziell tragen, wird von Ih-nen aufgekündigt. Es werden wieder den Sozialversiche-rungskassen und der Winterausfallkasse zusätzliche La-sten auferlegt. Wenn Sie in der Diskussion Vergleicheanführen, soll das nach außen den Schein erwecken, alssei die bestehende Regelung schlecht. Sie vergleichen hier ständig Ihre geplante Regelungmit der Regelung, die wir vor 1997 hatten. Das ist einunzulässiger Vergleich. Wir haben zum 1. November1997 absichtlich ein neues Dreisäulenmodell eingefügt,um die negativen Erfahrungen, die wir vorher gemachthaben, zu korrigieren. Bei all Ihren Zahlen, die Sie indieser Debatte nennen, unterschlagen Sie diese Korrek-tur. Sie vergleichen nicht mit der heutigen Regelung,sondern mit der vorhergehenden Regelung. Das ist eineTäuschung der Öffentlichkeit.
Ich darf das Dreisäulenmodell, das wir gegenwärtighaben, einmal darstellen: Die ersten 50 Stunden werdendurch Ansparen von Vorarbeit im Sommer geschaffen.Die 51. bis zur 120. Stunde werden durch das umlagefi-nanzierte Winterausfallgeld getragen. Dann greift dieBundesanstalt für Arbeit. Dieses Dreisäulenmodell hatdie Lasten fair auf die drei Beteiligten verteilt.Sie schränken nun die Flexibilität der Unternehmenein und siedeln zusätzliche Lasten bei den Unternehmenan,
indem Sie schon ab der 31. Stunde die Kassen der Un-ternehmen belasten. In den Berichten der Ausschüsse,Dr. Michael Meister
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5395
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die in zweiter Lesung beraten haben, stehen zwei ein-deutige Zahlen. Es wird dort konstatiert, daß sowohl fürdie Winterausfallgeldkasse als auch für die Bundesan-stalt für Arbeit jeweils über 50 Millionen DM als Zu-satzkosten entstehen. Das ist den Ausschußberichteneindeutig so festgestellt. Zu Ihrer Behauptung, wir hätten bei der Bundesan-stalt für Arbeit Einsparungen durch weniger Arbeitslose,sagt der Haushaltsausschuß, in dem SPD und Grüneebenfalls eine Mehrheit haben, in seiner Stellungnahme:Einsparungen durch angeblich weniger Arbeitslose sindnicht zu spezifizieren.
Die Regelung, die wir gegenwärtig haben, hat sichnicht nur in der grauen Theorie, sondern auch in derPraxis bewährt. In zwei Dritteln der Unternehmen wur-den auf der Grundlage der heute gültigen Vereinbarun-gen zur Führung flexibler Arbeitszeitkonten Flexibilisie-rungen von Arbeitszeiten vorgenommen und ein Mo-natslohn über das ganze Jahr gewährt. Das ist ein Erfolgder gegenwärtigen Gesetzeslage.
Die angesparten Guthabenstunden werden zum aller-größten Teil zum Ausgleich für die Schlechtwetterperi-oden verwendet.Auch auf dem Arbeitsmarkt, Frau Kollegin Renne-bach, macht sich diese Regelung positiv bemerkbar. ImVergleich zum Winterhalbjahr 1996/97, als noch die alteRegelung galt, also die Vorgängerregelung, die hier sosehr kritisiert wird, noch in Kraft war, hat es bei der ak-tuellen Regelung im Januar 1999 25 Prozent wenigerArbeitslose gegeben; im März waren es 20 Prozent we-niger, bedingt durch die Winterlage.Wenn man den vorletzten Winter und den letztenWinter miteinander vergleicht, als jeweils die jetzigeRegelung gültig war, sieht man, daß sich durch die neu-en Vereinbarungen, die getroffen worden sind und jetztgreifen, die Lage nochmals gebessert hat. Wir hatten imVerlaufe dieses Winters nochmals einen Rückgang zwi-schen 3 und 10 Prozent. Das muß der Objektivität halbereinmal gesagt werden. Dies sind Zahlen der Bundesan-stalt für Arbeit und keine Zahlen, die hier selber kon-struiert worden sind.
Ich darf auf einen letzten Punkt eingehen. Diese Re-gierung ist im Wahlkampf mit dem Slogan angetreten:„Innovation und Gerechtigkeit“. Der Kanzler wurdenicht müde, sich als großer Modernisierer dieses Landesdarzustellen. Was haben Sie denn in Richtung Moderni-sierung bisher getan?
Sie haben ein 630-DM-Gesetz verabschiedet, das kaumals Modernisierung dieses Landes angesehen werdenkann. Sie haben ein Scheinselbständigengesetz gemacht,das kaum als Modernisierung dieses Landes angesehenwerden kann. Was Sie gemacht haben, sind bürokrati-sche Monstren, die den Arbeitsmarkt nicht modernisie-ren, sondern konservieren und behindern.
Was Sie mit diesem Gesetz vorhaben, ist ein erneutesbürokratisches Monster und paßt konsequent in die Fort-setzung Ihrer Politik.
Es wird hier keine Innovation und keine Flexibilisierungbetrieben, sondern das genaue Gegenteil.
Ich möchte nun zur sozialen Gerechtigkeit kommen.Ich behaupte, dieses Gesetz, das Sie beschließen wollen,widerspricht auch in erheblichem Maße der sozialen Ge-rechtigkeit; denn zu Lasten der Mitglieder der Bundes-anstalt für Arbeit, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, dienicht am Verhandlungstisch saßen, also zu Lasten Drit-ter wurde hier ein Vertrag geschlossen.
Diese müssen nämlich mit ihren Beiträgen das finanzie-ren, was ihnen im Baubereich neu aufgebürdet wird.Wie Sie das gegenüber Arbeitnehmern in andern Bran-chen verantworten können, kann ich nicht nachvollzie-hen, und das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun.
Zum Schluß möchte ich noch die Stichworte grauerArbeitsmarkt und Schwarzarbeit aufgreifen. Es ist klar:Wenn Sie die Lohnnebenkosten nach oben treiben, dannwird das zu Ausweichbewegungen in die Schwarzarbeitund zu illegaler Beschäftigung führen.
Sie tragen – getrieben von Gewerkschaftslobbyisten,Herr Kollege Wiesehügel – mit Ihrer Politik die Ver-antwortung dafür, daß die Menschen, die in diesemLand in der Baubranche beschäftigt sind, in dieSchwarzarbeit und in den grauen Markt gedrängt wer-den. Das haben Sie, wenn Sie heute dieses Gesetz be-schließen, zu verantworten.Schönen Dank.
Als
nächster Redner hat das Wort der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres.
G
Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Bei aller falschen Argumenta-tion und bei allem Geschrei der Opposition – das allesDr. Michael Meister
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5396 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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habe ich mir über eine Stunde angehört – muß man amheutigen Tag folgendes festhalten: Erstens. Dieser Tagist ein guter Tag für die Beschäftigten in der deutschenBauwirtschaft.
Zweitens. Diese Koalition und diese Bundesregierunghaben Wort gehalten: Zum 1. November tritt eine neueSchlechtwetterregelung in Kraft.
– Sie können lachen, soviel Sie wollen.Ich will kurz erläutern, wovon wir uns haben leitenlassen – in diesem Punkt ist Ihre Argumentation anFalschheit nicht zu überbieten –: Trotz Schlechtwetter-geldregelung mußten wir im Februar diesen Jahres auchwegen der chaotischen Zustände, die unter Ihrer Ver-antwortung entstanden sind, bei den Bauberufen eineArbeitslosigkeit von über 25 Prozent feststellen. Das be-deutet, daß die Arbeitslosigkeit in diesen Berufen dop-pelt so hoch ist wie der Durchschnitt bei allen anderenBerufen und Branchen. Es war und ist uns bekannt, daßviele Baubetriebe trotz bestehender Schlechtwetter-geldregelung ihren Arbeitnehmern aus witterungsbe-dingten Gründen gekündigt haben.
Da die Bundesregierung die Sorgen und Nöte sowohlder Bauwirtschaft als auch der Beschäftigten in diesemBereich ernst nimmt, waren wir der Auffassung, daß wirin gemeinsamen Gesprächen mit den Sozialpartnern zuVeränderungen kommen müssen.Daran beißt die Maus keinen Faden ab – Sie könnensoviel schreien, wie Sie wollen –: Diese Regelung ist inÜbereinstimmung mit der Bauindustrie, mit dem Bau-handwerk, mit der Baugewerkschaft und mit der Bun-desregierung getroffen worden. Wir folgen damit einerLogik, der auch Sie gefolgt sind. Ihre Argumentation,man habe alles den Erfindungen von Norbert Blüm zuverdanken, ist insofern unrichtig, als Sie die Schlecht-wetterregelung ohne Not gestrichen und damit zu ver-antworten haben, daß im darauffolgenden Winter über360 000 Bauarbeiter arbeitslos wurden.
Die Tarifvertragsparteien haben sich zusammenge-funden und haben einen Kompromiß geschlossen. Mitdiesem Kompromiß sind sie zum Bundesarbeitsministermarschiert und haben gesagt: Wer nicht will, daß sichdiese katastrophale Entwicklung fortsetzt, der muß neuegesetzliche Regelungen schaffen; die Tarifvertragspar-teien fordern den Gesetzgeber dazu auf. Wir haben inFortsetzung dieser Logik mit den TarifvertragsparteienGespräche und Verhandlungen geführt – da ich dieseVerhandlungen über viele Monate geführt habe, weißich im Gegensatz zu vielen anderen Rednern, wovon ichhier rede – mit dem Ergebnis, daß am 6. Juni unter Lei-tung des Bundeskanzlers für eine wichtige Branche einewichtige neue gesetzliche Regelung geschaffen wurde,die ab dem 1. November 1999 in Kraft tritt. Das ist gutfür die Bauwirtschaft und gut für die Beschäftigten – dakönnen Sie soviel schreien, wie Sie wollen.
– Herr Niebel, ich habe in den Beratungen festgestellt,daß Sie der einzige waren, der beratungsresistent ist.
Ich möchte nun einige Eckpunkte ansprechen. Einwichtiger Eckpunkt war, daß nach der alten Regelungder Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge zuzahlen hatte. Das hat dazu geführt, daß viele kleine undmittlere Betriebe ihre Angestellten in der Schlechtwet-terperiode lieber entlassen haben, weil sie damit die So-zialversicherungsbeiträge einsparen konnten. Wir habennun geregelt – das ist ein wichtiges Element –, daß denArbeitgebern künftig die Sozialversicherungsbeiträgeaus der Wintergeldumlage erstattet werden, so daß denUnternehmern kleiner und mittlerer Betriebe das Motiventfällt, sich ihrer Mitarbeiter zu entledigen. Das ist einganz wichtiger Punkt, den man als Wirkungsmechanis-mus begreifen muß.Wir haben als zweites – das ist oft genug gesagt wor-den – das Dreisäulenmodell beibehalten und haben dieGewichte in den drei Säulen verändert. Das geschah üb-rigens einvernehmlich, auch wenn Sie sich wieder dar-über empören. Sie müssen den Widerspruch erklären,daß eine Regelung in Übereinstimmung mit den Ge-werkschaften, den Unternehmen und der Bundesregie-rung zustande gekommen ist, Sie aber sagen, es seienlauter Geschäfte zu Lasten von sonstwem gemacht wor-den.
Die Regelungen sind sozial gerecht verändert worden.Wir führen einen weiteren Mechanismus – Sach-kenntnis habe ich hier heute leider vermißt –, ein zu-sätzliches Wintergeld, ein, das dazu führt, daß der Ar-beitnehmer, der über 30 Stunden hinaus ein Arbeitszeit-guthaben hat, aus der Umlage besonders belohnt wird.Alle Beteiligten – Wirtschaft, Handwerk und Gewerk-schaften – waren der Meinung, daß das ein sinnvollesInstrument ist. Ich sage Ihnen: Dieses Instrument wirdwirken.Wir haben als drittes – hier kommen wir zu den Ge-schäften zu Lasten Dritter – geregelt, daß die Bundesan-stalt für Arbeit das Winterausfallgeld statt ab der 121.Stunde bereits ab der 101. Stunde finanziert. Die letzteVeränderung, die Sie als Koalition vorgenommen haben,führte für die Bundesanstalt für Arbeit dazu, daß sie dasWinterausfallgeld statt ab der 151. Stunde bereits ab der121. Stunde finanzieren mußte, und verursachte damalsKosten in Höhe von 70 Millionen DM.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5397
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Wir haben veranschlagt, daß dann, wenn alles so grei-fen würde, im worst case, also im schlimmsten Fall, aufdie Bundesanstalt für Arbeit Mehrkosten in Höhe von55 Millionen DM zukommen. Das würde aber bedeuten,daß alle Beschäftigten während dieser Zeit auch tatsäch-lich wegen schlechten Wetters nicht arbeiten. Wir gehendavon aus, daß diese Regelung greift und wir von denwinterbedingten Arbeitslosenzahlen herunterkommen.Dies ist also ein Wirkungsmechanismus, der in-einandergreift und außerordentlich vernünftig ist. Wirwerden die Neuregelung beschließen, und sie wird am1. November 1999 in Kraft treten.Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß der Bundesratdie Regelung so akzeptiert hat. Er bittet die Bundesre-gierung darum, in zwei Jahren Bericht zu erstatten. DenBericht geben wir gern. Ich bin sehr optimistisch, daßwir mit dieser neuen Regelung Erfolge erzielen werden.Wir sprechen uns dann hier wieder, Herr Niebel undHerr Schemken.Zu Herrn Schemken wollte ich noch sagen: Ich ken-ne ihn als langjährigen Sozialexperten und weiß, daß erviel Sachkenntnis auf diesem Gebiet besitzt. Er hatauch ein soziales Gewissen und ein soziales Herz. Lie-ber Kollege Schemken, du hättest zu dieser Regelungbesser geschwiegen. Du kennst die Materie, den gan-zen Ablauf. Du weißt, was ihr gemacht habt und wie esgewirkt hat.Ich sage noch einmal ganz ausdrücklich: Man mußhier den Sozialpartnern herzlich danken. Mein Dankgeht an Klaus Wiesehügel, den Vorsitzenden der IGBAU, der hier unter uns ist.
Mein Dank geht an die Wirtschaftsverbände der Bauin-dustrie und des Bauhandwerks. Ich möchte Sie daraufhinweisen, daß heute in Mainz der Tag des deutschenBauhandwerkes stattfindet, wo unter anderem über dieseRegelung diskutiert wird.Wir haben eine Regelung gefunden, die sozial gerechtund wirtschaftlich vernünftig ist und die die Lasten undmöglichen Konsequenzen so verteilt, daß alle beteiligtsind: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dieWirtschaft in zumutbarem Ausmaß und die Politik. DieWinterbauumlage so beizubehalten war ein wichtigerPunkt, den die Bundesregierung von vornherein zuge-sagt hat. In der Koalitionsvereinbarung steht: Wir wer-den notwendige Korrekturen bei der Schlechtwetter-geldregelung vornehmen; wir haben es getan. Mit demheutigen Tag haben wir Wort gehalten.Ich wiederhole: Das ist eine sinnvolle Regelung, einkleines Bündnis für Arbeit für eine bestimmte Branche.Darauf können diese Koalition, die Bundesregierung,aber insbesondere die Betroffenen in der Bauwirtschaftaußerordentlich stolz sein.Herzlichen Dank.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Schemken von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Da ich den guten
Rat des Staatssekretärs, zu schweigen, nicht annehme,
möchte ich einige Korrekturen anbringen, Herr Staatsse-
kretär. Wenn Sie das nicht gesagt hätten, hätte ich den
Beratungsverlauf hier nicht aufgehalten.
Es ist richtig, daß ich in meiner Rede festgestellt ha-
be, daß die im Etat Wohnungsbau und Städtebau von
3,49 Milliarden DM auf 2,15 Milliarden DM zurückzu-
führenden Mittel im Wohnungsbau und von 700 Millio-
nen DM auf 600 Millionen DM im Städtebau zwischen
1998 bis 2003 – das ist der Zeitraum der mittelfristigen
Finanzplanung – den Schluß zulassen, daß wir im Win-
ter in der Bauwirtschaft noch eine höhere Beschäftigung
als im zweiten Quartal hatten. Die Arbeitslosigkeit in
der Bauwirtschaft im Westen nahm nämlich vom ersten
Quartal, dem Winterquartal, zum zweiten Quartal, also
in die Frühjahrs- und Sommerzeit hinein, um 5,5 Pro-
zent zu. In den östlichen Bundesländern waren dies so-
gar über 10 Prozent.
Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, daß meine
Rede in diesem Sinne doch eine Aufklärung brachte und
damit auch diese Kurzintervention erforderlich war.
Herr
Staatssekretär Andres, Sie können gerne erwidern.
G
Herr KollegeSchemken, ich kann Ihnen jetzt aus dem Stand die Ein-zelzahlen nicht bestätigen, aber ich kann Ihnen bestäti-gen, daß wir auch im Etat des Bauministers Einsparun-gen vornehmen müssen. Das ist leider wahr.Die Ursache dafür ist, daß Sie dieses Land über 16Jahre in eine Staatsverschuldung von 1,5 Billionen DMgeführt haben.
Wenn wir in diesem Land handlungsfähig werden wol-len, dann müssen wir notwendige Einsparmaßnahmenvornehmen. Das trifft alle. Das trifft den Sozialetat, dastrifft den Wohnungsbauetat; daran führt leider kein Wegvorbei.Dieses Land muß sich damit auseinandersetzen, daßwir nur Dinge tun können, von denen wir auch sichersind, daß wir sie auf Dauer finanzieren können, weil wires uns nicht leisten können, die Verantwortung und dieFolgen auf künftige Generationen abzuschieben, so wieParl. Staatssekretär Gerd Andres
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5398 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Sie das gemacht haben. Das werden wir nicht tun, unddeswegen ist das notwendig.
Als zweites möchte ich Ihnen erwidern, Herr Schem-ken – Ihre Intervention gibt mir die Gelegenheit dazu –:Wir haben wieder Winterbauausschüsse eingerichtet,weil wir dringend daran arbeiten müssen, daß – wie inanderen Ländern auch – nicht ein bestimmter Teil derBauwirtschaft im Winter seine Tätigkeiten einstellt. Hierwerden wir entsprechend handeln und vorgehen und da-für Lösungen finden, damit wir wie etwa in den skandi-navischen Ländern, die dafür beispielhaft sind, zu Re-gelungen kommen, die gewährleisten, daß es Tätigkeitenam Bau eben nicht nur in den Frühjahrs-, Sommer- undHerbstmonaten gibt, sondern auch über den Winter hin-aus. Damit tun wir auch etwas, um die Baukonjunktur zuverstetigen, die natürlich auch etwas mit Beschäfti-gungslagen im Bausektor zu tun hat.Schönen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Bundesregierung eingebrachten gleichlauten-
den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Der
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf
Drucksache 14/1711 unter Buchstabe a, den Gesetzent-
wurf auf den Drucksachen 14/1516 und 14/1669 unver-
ändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Ich bitte um Gegenstimmen. – Ich bitte um Enthaltun-
gen. – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von
SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Ge-
setzentwurf in dritter Lesung mit gleichem Stimmenver-
hältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zur Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in dieser
Winterperiode, Drucksache 14/1711, Buchstabe b. Der
Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1215 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. an-
genommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die Sitzung des Bun-
destages für 45 Minuten zu unterbrechen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
LiebeKolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbroche-ne Sitzung wieder.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis 6h auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Nor-bert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Gesetzes über Fernmel-deanlagen– Drucksache 14/1315 –Überweisungsvorschlag:
bert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs, eines drittenGesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Än-derung des Strafgesetzbuches, der Strafpro-zeßordnung und des Versammlungsgesetzesund zur Einführung einer Kronzeugenrege-lung bei terroristischen Straftaten
– Drucksache 14/1107 –Überweisungsvorschlag:
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
267 StPO) – Gesetz zur Verbesserung desstrafrechtlichen Sanktionensystems –– Drucksache 14/761 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desStrafgesetzbuches , des Einfüh-
459k) – Gesetz zur Einführung der gemein-nützigen Arbeit als strafrechtliche Sanktion –– Drucksache 14/762 –Überweisungsvorschlag:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5399
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Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes– Sexueller Mißbrauch von Kindern –– Drucksache 14/1125 –Überweisungsvorschlag:
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung desStrafgesetzbuches und anderer Gesetze – Wi-derruf der Straf- und Strafrechtsaussetzung –
– Drucksache 14/1467 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desStrafvollzugsgesetzes– Drucksache 14/1519 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung und Ergänzung des Strafverfahrens-rechts – Strafverfahrensänderungsgesetz 1999
– Drucksache 14/1484 –Überweisungsvorschlag:
– Herr Hartenbach, wenn Sie etwas fragen möchten,dann stellen Sie eine Zwischenfrage. – Die Grünen for-derten eine Generalamnestie bar jeden rechtsstaatlichenBewußtseins, im Grunde nach der Manier absolutisti-scher Potentaten oder Diktatoren.
In unserem Rechtsstaat bedingen und beurteilen sichAmnestie und Straffreiheit ausschließlich nach denGrundsätzen von Abschreckung und Schutz der Allge-meinheit einerseits und individueller Verantwortlichkeit,individueller Schuld und individueller Resozialisierungdes einzelnen Straftäters andererseits. Das heißt, es kannkeine Pauschalamnestie in dieser Art geben, weil zufäl-lig das Jahr 2000 erreicht wird. Ich will die Debatte dar-über nicht wieder aufnehmen, sondern nur daran erin-nern, daß dies in diesem einen Jahr rotgrüner Koalitioneigentlich das einzige gewesen ist, was wir an – freilichabsurden – Vorschlägen gehört und gesehen haben.
Wir haben heute ein ganzes Bündel von Gesetzent-würfen zu beraten, das allerdings vor allem von derBundestagsfraktion der CDU/CSU und vom Bundesrateingebracht worden ist. Von der Bundesregierungkommt der Entwurf zum Strafverfahrensänderungsge-setz 1999. Wenn man sich diesen Gesetzentwurf an-schaut, dann erkennt man: Man bemüht sich um Verbes-serungen im Bereich der Fahndung, der Aufklärung unddes Datenschutzes. Ich fürchte allerdings – dies werdenwir im Rechtsausschuß sorgfältig zu beraten haben –,daß man, gemessen an dem Erfordernis rechtsstaatlichverantwortlicher, effektiver Kriminalitätsbekämpfung,wieder einmal ein Übermaß an Regulierung unter derFlagge des Datenschutzes zur Grundlage dieses Geset-zes gemacht hat. Datenschutz ist natürlich ein verfas-sungsrechtlich garantiertes Persönlichkeitsrecht, er darfaber nie, auch nicht faktisch, zu Tatenschutz oder Täter-schutz werden. Dieses Gesetz wird sehr sorgfältig zuüberprüfen sein.Wir haben die wichtigen Gesetze zum verbessertenSchutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch zu er-örtern. Gerade im Lichte der modernen Möglichkeitenvon Fernsehen, Internet und Telekommunikation ist eineentsprechende Gesetzgebung entscheidend und wichtig.Ich hoffe, daß dieses Gesetz von uns gemeinsam sehrrasch verabschiedet werden wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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5400 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Das gleiche gilt für mich auch für die Verlängerung derKronzeugenregelung.Gestatten Sie mir abschließend auch einige Bemer-kungen – meine Kollegen werden die Fragen im einzel-nen etwas vertiefen – zum Sanktionssystem und zumStrafvollzugsgesetz. Gemeinnützige Arbeit ist wichtigund kann nützlich sein. Ich glaube aber nicht, daß ge-meinnützige Arbeit in der hier gesetzlich empfohlenenForm zu einem wirklich wirksamen Sanktionsmittelwerden wird.Ich habe auch Zweifel, ob die Entziehung der Fahr-erlaubnis wirklich als allgemeines Sanktionsmittel fürStraftaten geeignet ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnisist empfindlich und kann schmerzhaft sein. Man mußaber immer den Zusammenhang mit den verletztenRechtsgütern wahren. Das heißt, die Entziehung derFahrerlaubnis kann meines Erachtens nur dort als wirk-sames, legitimes und im übrigen auch vor dem Gleich-heitsgrundsatz bestehendes Sanktionsmittel in Betrachtkommen, wo es zumindest im weiteren Kontext umStraftaten im Bereich des Verkehrs und öffentlicherVerkehrseinrichtungen – beispielsweise bei gewaltsa-men Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demon-strationen auf unseren öffentlichen Straßen – geht. Dakann diese Sanktion schlüssig und plausibel sein, abernicht darüber hinaus gegenüber einem Dieb, Betrügeroder einem sonstigen allgemein Kriminellen.Gestatten Sie mir auch noch eine Bemerkung zumüberwachten Hausarrest. Der Bundesrat hat diesenVorschlag eingebracht. Auch hier möchte ich Zweifelanmelden. Wir alle kennen die Situation unserer Länderim Bereich der Gefängnisse: Die Gefängnisse sindüberlastet, das Geld für den Ausbau oder zur Erweite-rung fehlt. Das ist richtig, ändert aber nichts daran, daßman ein strafrechtliches Sanktionssystem und den Straf-vollzug nicht vorrangig nach fiskalischen Kriterien be-urteilen und gestalten darf. Ich befürchte, daß der über-wachte Hausarrest vor allem aus fiskalischen Gründen– natürlich auch aus fiskalischer Not, das ist ganz unbe-streitbar – geboren wurde. Ich habe Zweifel – undmöchte das nur in dieser Form hier anmerken –, ob dasein wirklich wirksames Mittel ist, ob es vielleicht eherals ein Privileg empfunden wird und ob es der Allge-meinheit so zu vermitteln ist, daß der Kontext unseresStrafvollzugsrechtes im Gesamtrahmen unseres Straf-rechtes gewahrt bleibt.Insgesamt geht es – in diesem Sinne begrüße ich un-sere heutige Debatte – darum, daß wir uns wieder kon-zentrierter und verstärkt mit Fragen der Rechtspolitikund einer wirksamen Bekämpfung der Kriminalität be-fassen. Das ist ja eine der zentralen Aufgaben diesesHohen Hauses.
Möge diese Debatte heute dafür über allen Streit imDetail hinweg einen guten Auftakt darstellen.Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Alfred Hartenbach von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen im Rechtsfrieden! So unterschiedlich kön-nen Meinungen sein. Aber das ist Politik. Das sage ichvorweg. Wir diskutieren heute acht Gesetzesinitiativenaus sehr unterschiedlichen Bereichen des Strafrechts undvon sehr unterschiedlicher Qualität. Ich beginne mit dererfreulichsten Vorlage.Endlich liegt uns ein Entwurf vor, durch den die Vor-gaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr1983 umgesetzt werden. Endlich sind wir dabei, wievom Bundesverfassungsgericht vor 16 Jahren gefordert,im Bereich des Strafverfahrensrechts für die Erhebungund Verarbeitung von Daten, für die Verwendung per-sonenbezogener Informationen und für notwendige, aberbesonders schwere Eingriffe in Bürgerrechte spezifischegesetzliche Grundlagen zu schaffen. Mit der Vorlage desEntwurfs zur Änderung und Ergänzung des Strafver-fahrensänderungsgesetzes ist es der neuen Bundesre-gierung gelungen, ein umfassendes und schlüssigesKonzept vorzulegen, das den Anforderungen einesRechtsstaats an ein ausgefeiltes und abgestuftes Instru-mentarium Rechnung trägt.
Die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Ermittlungsbe-hörden in wesentlichen Fragen – rechtsstaatlich zweifel-haft – auf allgemein gehaltene Generalklauseln stützenmußten. Mein Kollege Professor Dr. Meyer wird nochsehr detailliert zu diesem Gesetzentwurf Stellung neh-men.Sie von der CDU/CSU-Fraktion haben zwei Gesetze-sinitiativen eingebracht. Sie haben es sich dabei denkbarleichtgemacht. Sie verlangen in wenigen Sätzen dieAufhebung der Befristung des § 12 des Fernmeldean-lagengesetzes und fordern im anderen Gesetzentwurfdie Verlängerung der Kronzeugenregelung um dreiJahre – und dies, obgleich beide Regelungen von Ihrerfrüheren Mehrheit in diesem Hause, also auch vonIhnen, mit gutem Grund befristet wurden. Es ging dochauch Ihnen darum, die Vertretbarkeit dieser Regelungenzu überprüfen und gegebenenfalls Korrekturen vorzu-nehmen. In Ihren jetzigen Gesetzesanträgen findet sichallerdings nicht mehr die Spur eines Problembewußt-seins.
Selbstverständlich entspricht es auch unserer Politik,zur Bekämpfung des Terrorismus und der organisiertenKriminalität alle Mittel einzusetzen, die rechtsstaatlichvertretbar, effizient und sinnvoll sind.
Die Kronzeugenregelung ist jedoch ein zweischneidigesSchwert. Diese Regelung führt zu einer Zusammenarbeitmit Straftätern aus Bereichen der Schwerstkriminalität.Dr. Rupert Scholz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5401
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(D)
Schließlich liegt es auf der Hand, daß diese Art von Zu-arbeitern der Justiz in sehr eigennütziger Weise moti-viert sind und somit die sehr reale Gefahr von Fal-schaussagen besteht.Dies alles müssen wir einer sehr exakten Überprü-fung unterziehen. Insbesondere ist der Nutzen des Art. 5der Kronzeugenregelung, wonach nach dem Willen derfrüheren Regierung auch aus dem Bereich der organi-sierten Kriminalität Täter in den Kreis der Begünstigteneinbezogen werden, nach Erkenntnissen aus der Praxissehr zweifelhaft.Auch § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes, wonach dieErmittlungsbehörden unter sehr allgemein gehaltenen Be-dingungen Auskunft über den Fernmeldeverkehr verlan-gen können, ist nicht ohne Probleme. Ich sagte es bereits:Früher haben Sie, die alte Regierung, und damit auch dieCDU/CSU-Fraktion dies genauso gesehen. Sie haben am30. Oktober 1997 sogar beschlossen, daß diese Vorschriftnur befristet gelten solle, weil Sie selbst der Meinung wa-ren, daß Ihr eigener Entwurf eines § 99a der Strafprozeß-ordnung aus Ihrer Sicht am Ende der Beratungen immernoch zu weit ging. Sie haben damals – das ist gerade zweiJahre her – Ihre eigene Regierung aufgefordert, binneneines halben Jahres einen neuen Entwurf vorzulegen, derden Anforderungen an einen Ausgleich zwischen den In-teressen der Strafverfolgungsbehörden einerseits und demSchutz von Berufsgeheimnissen andererseits gerechtwird. Dies ist – wie so vieles in Ihrer 16jährigen Regie-rungszeit – natürlich nicht geschehen.
Die neue Regierungskoalition wird zu einer Lösungkommen, die auf die Erfordernisse der Strafrechtspflege,aber auch auf die Anforderungen an die Bewahrungrechtsstaatlicher Freiheiten adäquat reagiert.Durch den heute gleichfalls zu beratenden Bundes-ratsentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzeswird den Ländern die Möglichkeit gegeben werden,kurzzeitige Freiheitsstrafen oder Restfreiheitsstrafen imWege des elektronisch überwachten Hausarrestes zuvollstrecken. Bekanntlich liegen die Positionen hierzuweit auseinander. Die einen sehen einen Angriff auf dieMenschenwürde; die anderen beklagen die Ersetzungdes Strafvollzugs durch einen Aufenthalt im gemütli-chen Heim bei Bier und Weißwurst.
Allein dieser Gegensatz zeigt, wie sehr die Wahr-nehmung der Realität durch ideologische Verzerrungenbedingt sein kann. Ein elektronisch überwachterHausarrest – ich betone: Arrest – ist keineswegs eineWohltat. Er bedeutet eine empfindliche Einschränkungder Bewegungsfreiheit. Er verlangt von den Betroffenenein hohes Maß an Disziplin. Ich sehe aber auch die Pro-blematik dieses Arrests, insbesondere für Familienange-hörige. Ich apelliere daher an alle, sich an einer vorur-teilsfreien Diskussion zu beteiligen.Es ist übrigens nicht im Sinn einer systematischenund in allen Einzelheiten überdachten Entwicklung desStrafrechts und des Strafprozeßrechts, durch zahlreiche,jeweils getrennt durchgeführte Einzelregelungen einenFlickenteppich zu erzeugen. Dies gilt insbesondere imHinblick auf die Vorschläge zur Änderung des Sanktio-nensystems. Warum warten wir nicht ab, bis die Kom-mission ihre Arbeit abgeschlossen hat und bis sie unsihre Ergebnisse vorlegt?
Das Ziel ist eine Gesamtreform des Sanktionensy-stems. Wir wollen uns nicht in Einzelheiten verzetteln;wir wollen eine Reform aus einem Guß. Es wird einegroße Aufgabe sein, uns 25 Jahre, nachdem der damali-ge sozialdemokratische Justizminister, Gerhard Jahn, ei-ne umfassende Reform des Straf- und Strafprozeßrechtsvorgelegt hatte, erneut mit dieser Aufgabe zu befassen.Wir sind dazu bereit.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Juristische Themen, so auch die, diewir heute im Bundestag beraten, erscheinen manchemNicht-Juristen und Nicht-Fachmann gelegentlich trok-ken. Aber ich glaube nicht, daß diese Themen so trockensind; denn heute stehen viele Fragen zur Entscheidungan, die den persönlichen Bereich des einzelnen betreffenkönnen. Deshalb will ich versuchen, zu dem buntenStrauß von Vorschlägen, die ja zum Teil von der Bun-desregierung, zum Teil aber auch vom Bundesrat undvon der Opposition kommen, unsere Auffassung darzu-legen. Ich kann aber nur einige Punkte herausgreifen, daich auf Grund der Kürze der Redezeit, die mir als Mit-glied der zweitkleinsten Oppositionsfraktion zusteht,nicht auf alle Einzelfragen eingehen kann.Ich denke, daß wir uns insbesondere um die Problemedes Strafvollzuges kümmern müssen. Wir alle wissen,daß unsere Gefängnisse voll sind, was zu ganz erhebli-chen Problemen im Strafvollzug führt. Insbesondere dieBeamten des Strafvollzuges bekommen diese Situationin voller Schärfe zu spüren. Die Überbelegung der Zel-len führt beispielsweise dazu, daß die Aggressivität derGefangenen häufig zunimmt. Es ist daher legitim, dar-über nachzudenken, wie man in diesem Bereich zu Ver-besserungen kommen kann.Der beste Schritt wäre natürlich – dieser Schritt istnotwendig –, neue Justizvollzugsanstalten zu bauen.Aber es zeigt sich immer wieder, daß ein Bau an zweiDingen scheitert. Zum einen wird das dafür notwendigeGeld nicht zur Verfügung gestellt. Zum anderen sagt dieBevölkerung des jeweiligen Ortes – wenn entsprechendePläne bekannt werden –: Es muß zwar neue Gefängnissegeben, aber nicht bei uns.
Alfred Hartenbach
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5402 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Ich habe für diese Haltung durchaus Verständnis.Viele wissen ja, daß in Orten, in denen diese Einrichtun-gen zu finden sind, Vorfälle passieren, die die Bevölke-rung zu Recht aufregen. In meiner unmittelbaren Umge-bung – ich komme aus Hamm in Westfalen – gibt es inEickelborn eine Einrichtung für psychisch gestörteStraftäter. Es kam über die Jahre immer wieder vor, daßvon dort untergebrachten Personen Kinder ermordetwurden. Deshalb muß man dafür Verständnis haben,wenn es außerordentlich schwierig ist, einen Neubau ineinem Ort zu errichten. Ich habe volles Verständnis fürdie Sorgen der dortigen Bevölkerung.Es ist deshalb wichtig, daß wir über Möglichkeitennachdenken, wie wir den Strafvollzug entlasten können.Ich glaube, daß die elektronische Fußfessel, also derelektronisch überwachte Hausarrest, eine Möglichkeitist, über die ernsthaft nachzudenken sich lohnt. Die Ein-führung des elektronisch überwachten Hausarresteswürde einen flexibleren und effektiveren Strafvollzugermöglichen, ohne dem Sicherheitsbedürfnis der Bevöl-kerung grundsätzlich entgegenzustehen. Der Begriff„Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung“ macht schondeutlich, daß wir zur Anwendung einer elektronischenFußfessel zum Beispiel bei Sexualstraftätern oder bei je-nen, die schwerste Straftaten begangen haben, ein klaresNein sagen.
Wir haben aber viele Gefangene in den Justizvoll-zugsanstalten, die eigentlich nach Meinung der Richterund der Staatsanwälte – zu denen ich gehöre – gar kei-ne Gefängnisstrafe hätten bekommen sollen. Wir wis-sen, daß mit der Festsetzung einer Geldstrafe immerauch feststeht, welche Ersatzfreiheitsstrafe verbüßtwerden muß, wenn man nicht in der Lage ist, die Geld-strafe zu zahlen. Unsere Justizvollzugsanstalten sindmit dem Vollzug dieser Ersatzfreiheitsstrafen in be-sonderer Weise belastet. Die elektronische Fußfesselwäre eine gute Möglichkeit, zumindest versuchsweisefestzustellen, ob es nicht möglich ist, so auf den Voll-zug einer Ersatzfreiheitsstrafe zu verzichten. In man-chen Bereichen könnte dies dem Täter ermöglichen,seiner Arbeit weiter nachzugehen. Gerade wenn Unter-haltspflichtverletzungen vorliegen, kommt es relativhäufig dazu, daß Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt wer-den. Mit Hilfe dieses Instruments könnte über das Geldverfügt und der Frau und den Kindern der notwendigeUnterhalt gezahlt werden. Das ist für uns außerordent-lich wichtig.Ich glaube, daß über diese elektronische Fußfessel ineinem weiteren Bereich ernsthaft diskutiert werdenkann. Wir wissen, daß Untersuchungshaft verhängtwerden muß, wenn Fluchtgefahr besteht, aber auch, umzu verhindern, daß Beweismittel beiseite geschafft wer-den. Es gibt immer wieder Fälle – ich kann mich ausmeiner Praxis sofort an einige erinnern –, wo es eigent-lich gar nicht erforderlich gewesen wäre, Untersu-chungshaft zu verhängen. Es hätte genügt sicherzustel-len, daß er sich an einem bestimmten Ort aufhält. Des-halb halte ich persönlich es für wert, darüber nachzu-denken, ob nicht im Bereich der Untersuchungshaft hierund da die elektronische Fußfessel zum Einsatz kommenkönnte.
Von daher begrüßen wir die Möglichkeit, über einMittel nachzudenken, das in vielen unserer Nachbarlän-der schon zu einem Erfolg geführt hat. Professor Meyerkommt von einem Institut, das uns häufig gute Anre-gungen geliefert hat, nämlich von dem Max-Planck-Institut für internationales Strafrecht in Freiburg. Wirtun gut daran, uns an den Erfahrungen anderer Länderzu orientieren.Bei der Ausdehnung der gemeinnützigen Arbeit– das wird immer wieder gefordert – bin ich eher skep-tisch. Es gibt schon jetzt einen breiten Strauß von Mög-lichkeiten, angemessen zu reagieren: die Einstellung desVerfahrens unter einer bestimmten Auflage, die Auflageder gemeinnützigen Arbeit bei der Strafaussetzung zurBewährung oder der Aussetzung einer Reststrafe zurBewährung. Wir haben also ganz ausgezeichnete Mög-lichkeiten, zur Anwendung von gemeinnütziger Arbeitzu kommen.Gerade im Bereich des Jugendstrafrechts ist diegemeinnützige Arbeit eine wirklich vorzügliche Ein-richtung, um den Jugendlichen vor Augen zu führen,daß, wenn sie gegen das Strafrecht verstoßen haben,eine Reaktion erfolgt, die sie spüren. Angesichts derwenigen zur Verfügung stehenden Stellen habe ich al-lerdings die Befürchtung, daß es zu einer Beeinträchti-gung im Jugendbereich kommen wird. Gerade in demBereich, den wir als Liberale gefördert sehen wollen– zum Beispiel sollen diejenigen, die vom Staat Sozial-hilfe bekommen, von ihm auch gebeten werden, etwasfür die Allgemeinheit zu tun, beispielsweise Parkanlagenzu pflegen –, wird es zu einer – wie soll ich sagen? –Konkurrenz kommen, die im Endeffekt nicht gewollt ist.Im übrigen darf nicht übersehen werden – das ist einGedanke, den ich in diesem Zusammenhang gerne an-sprechen möchte –, daß wegen des Verbotes derZwangsarbeit, das sich aus Art. 12 Abs. 3 des Grundge-setzes ergibt, eine solche Auflage gar nicht zwangsvoll-streckt werden könnte. Auch das macht deutlich, daß wiruns sehr sorgfältig darüber unterhalten müssen, ob daswirklich ein vernünftiger Vorschlag ist.Bayern hat wieder den Vorschlag geäußert, den Miß-brauch von Kindern zu einem Verbrechen hochzustu-fen. Wenn man diejenigen fragen würde, die uns auf derTribüne zuhören, ob der Mißbrauch von Kindern einVerbrechen ist, würden sie wahrscheinlich alle aus vol-lem Herzen sagen: Ja, es ist ein Verbrechen. – Es ist mitSicherheit ein Verbrechen an der Seele der Kinder.Trotzdem sind wir hier im Bundestag verpflichtet, zueiner vernünftigen und sorgfältigen Lösung zu kommen.Ich glaube, daß wir diese im letzten Jahr gefunden ha-ben. Wir haben uns sehr sorgfältig beraten. Wir habenfür erhebliche Strafverschärfungen gesorgt. Wir habenneue Straftatbestände eingeführt. Wir haben insbesonde-re dafür gesorgt, daß die Kinder, die Opfer eines Se-xualdeliktes geworden sind, vor Gericht besser behan-delt werden, daß mehr Rücksicht auf sie genommenJörg van Essen
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wird, zum Beispiel dadurch, daß sie in einem Neben-raum vernommen werden, oder dadurch, daß sie per Vi-deo vernommen werden, so daß sie dem Täter nichtwieder in die Augen sehen müssen. Wir haben für dieseund viele andere Dinge gesorgt, die dazu geführt haben,daß die Interessen der Kinder besser berücksichtigt wer-den.Wir haben damals auch diskutiert, ob wir zu einerallgemeinen Heraufstufung zum Verbrechen kommensollten. Wir haben das damals – mit der Zustimmung derKollegen aus der CSU – nicht getan, und ich hoffe, daßwir dabei bleiben. Denn für mich ist der Opferschutz indiesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit. Wennwir nämlich zu einer Heraufstufung zum Verbrechenkommen würden, dann hätten wir alle anderen Möglich-keiten der strafrechtlichen Sanktionierung – wir wissen,daß es hier schwere, aber auch leichte Fälle gibt – nichtmehr, zum Beispiel die Erledigung eines Falles imStrafbefehlsverfahren, das manchmal gewählt wird, umdem Kind ein Auftreten als Zeuge zu ersparen, bei demalles wieder hochkommt, bei dem das Kind alles wiederneu erlebt. Ich habe also die herzliche Bitte, daß wir beiden vernünftigen Regelungen, die wir im letzten undvorletzten Jahr beschlossen haben, bleiben. Ich glaube,daß das gerade im Interesse der Opfer wäre, das uns hierbesonders leiten muß.Einige andere Dinge, die immer wieder zu heftigenDiskussionen geführt haben, sind auch in den vorherge-henden Reden schon angesprochen worden, insbesonde-re die Kronzeugenregelung. Ich bekenne mich dazu,daß ich mich für die Kronzeugenregelung eingesetzt ha-be; denn ich finde, daß wir bei der Aufklärung vonschwersten Verbrechen auch über ungewöhnliche Wegenachdenken müssen. Aber ich tue mich ganz außeror-dentlich schwer, jetzt wieder einer Verlängerung zuzu-stimmen. Denn wir haben seinerzeit ganz bewußt einezeitliche Begrenzung vorgenommen,
weil wir nach einer bestimmten Zeit sehen wollten, wasdiese Regelung bringt bzw. nicht bringt. Deshalb könnenwir jetzt nicht einfach blind verlängern,
sondern müssen Bilanz ziehen.
Dann muß die Antwort ja oder nein lauten. Ein bloßesVerlängern zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht die richti-ge Antwort sein.
Das gleiche gilt für mich beim Fernmeldeanlagen-gesetz. Ich bin dafür, daß wir eine Möglichkeit haben,zum Beispiel wenn Frauen immer wieder beleidigendangerufen werden, nachzuverfolgen, von wem die Anru-fe kommen. Sie haben Anspruch darauf, daß sie von sol-chen Tätern nicht weiter belästigt werden. Deshalbbraucht man dieses Gesetz dringend. Aus diesem Grun-de bin ich dagegen, daß wir nun einfach wieder eineVerlängerungsregelung beschließen. Ich meine, alleAspekte sollten gesetzlich niedergelegt werden. Genaudies sollten wir uns als Aufgabe vornehmen.Herzlichen Dank.
Alsnächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbelevom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Kollegen! Was wir heute bei diesem Tagesordnungs-punkt hier vorhaben, ist in der Tat ein Ritt durch dasStrafprozeßrecht und das Strafrecht. Aber es zeigt auch,wie wenig bestellt uns die frühere Koalition den Ackerder Kriminal- und Justizpolitik hinterlassen hat.
Sie haben ganz einfach über 16 Jahre Ihre Hausaufgabennicht gemacht, Herr Geis.
Sie haben Aufträge des Bundesverfassungsgerichts ganzeinfach ignoriert, zum Beispiel bei der Änderung derStrafprozeßordnung, so daß das StVÄG, das Strafver-fahrensänderungsgesetz, von dieser Koalition, von die-ser Regierung jetzt endlich realisiert werden muß.
Herr Professor Scholz hat etwas von einem neuenGrundrecht erzählt. Ich schaue immer ins Grundgesetzund finde es dort nicht.
Was ich aber finde, Herr Professor, ist das Grundrechtauf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bun-desverfassungsgericht definiert hat.
Bereits 1983, also vor 16 Jahren, hat das höchste Gerichtdem Gesetzgeber aufgegeben, in allen Bereichen spezi-fisch zu regeln, daß der Datenschutz gewährleistet ist.Das haben Sie nicht gemacht; das haben Sie versäumt.
Das haben Sie solange hinausgezögert, daß die Europäi-sche Union Ihnen etwa beim Datenschutzgesetz Straf-Jörg van Essen
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gelder androhen mußte, um Sie in Bewegung zu brin-gen. Trotzdem haben Sie es nicht geschafft, und nun ha-ben wir diese Aufgabe zu erledigen.
Sie haben nicht nur die große Justizreform, die vonder F.D.P. immer angekündigt wurde, nicht geschafftund auch das Sanktionenrecht nicht reformiert,
sondern Sie haben auch und gerade im Bereich des Da-tenschutzes ganz einfach versagt. Wenn die Justizmi-nisterin heute in die Schubladen guckt, die Sie ihr hin-terlassen haben, dann findet sie dort alte Hüte und un-fertige Gesetzesvorhaben, die wir jetzt diskutieren, ver-bessern, vervollständigen und auf den Weg bringenmüssen. Das ist die Bilanz dessen, was Sie gemacht ha-ben. Sie hören es nicht gern; aber es ist ganz einfach so.Das erste Gesetz – es ist ein vollständiges Gesetz, dasauch in der letzten Legislaturperiode schon beraten wor-den ist – ist das StVÄG, in dem es um nicht wenigergeht, als eine Datenschutzregelung zu finden, die unteranderem definiert, unter welchen Voraussetzungen einRichter oder Staatsanwalt oder auch, wie Sie es prakti-ziert haben, die Polizei einen Bürger bzw. eine Bürgerinzur öffentlichen Fahndung freigibt, also deren Fotos undPersonenbeschreibungen ins Fernsehen oder in die Zei-tung geben darf, welche Beschränkungen vorhandensein müssen und – vor allen Dingen – wer darüber ent-scheiden muß. Das haben Sie offengelassen. Sie habendadurch die Bürger in diesem ganz wichtigen Bereichohne ausreichenden Schutz gelassen und das Persön-lichkeitsrecht sehr vieler Bürgerinnen und Bürger ver-letzt; denn wir alle wissen, daß man in solche Fahndun-gen auch hineinkommen kann, ohne daß es nachher zueiner Verurteilung kommt. Es kommen also auch Un-schuldige da hinein; insbesondere gilt dies für Zeugen.Die Bundesregierung hat nun einen umfangreichenGesetzentwurf vorgelegt, in dem all diese Fragen gere-gelt sind. In den Koalitionsfraktionen haben wir uns zu-sammengesetzt und zu dem Gesetzentwurf der Bundes-regierung noch eine Reihe zusätzlicher Verbesserungendes Schutzes und der Effektivität vereinbart, die wir imLaufe der Beratungen in dieses Strafrechtsänderungsge-setz einbringen wollen.Lassen Sie mich Ihnen an zwei Beispielen deutlichmachen, worum es dabei geht: Wir wollen, daß dann,wenn ein Zeuge in einem Strafverfahren gesucht wird,dafür nicht weniger rechtliche Voraussetzungen gegebensein müssen und nicht weniger Kontrolle vorhanden seindarf, als wenn ein Beschuldigter mittels öffentlicherFahndung gesucht wird. Selbstverständlich muß man beieinem Zeugen sehr viel zurückhaltender sein; denn erhat ja keine Straftat begangen und keine Schuld auf sichgeladen. Auch wollen wir dafür sorgen, daß das Akten-einsichtsrecht in Strafverfahren, im Rahmen deren Men-schen in Untersuchungshaft sind, dadurch verbessertwird, daß eine richterliche Überprüfung stattfindet,wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht verwei-gert.Insgesamt haben wir hier einen Gesetzentwurf vor-gelegt, der längst fällig war, der schon vor zehn Jahrenhätte kommen müssen. Wir hoffen, daß wir ihn in Kürzeverabschieden können und damit unserer Pflicht, diesich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts ergibt, nachkommen.
Sie haben des weiteren § 12 des Fernmeldeanlagen-gesetzes angesprochen. Das ist eine befristete Vorschrift– darauf hat die F.D.P. dankenswerterweise hingewie-sen –, die dem Richter die Möglichkeit geben soll – eskann durchaus Fälle geben, in denen das berechtigt ist –,festzustellen, wann wer mit wem telefoniert hat. Es gehtalso nicht darum, worüber am Telefon gesprochen wur-de, sondern nur um die Feststellung der Anschlüsse. Wirwissen aber spätestens seit der Volkszählungsentschei-dung des Bundesverfassungsgerichts, daß so etwas nichteinschränkungslos im Gesetz stehen darf; denn wenn derRichter so etwas macht, können auch Telefonanschlüssevon Unschuldigen erfaßt werden. Daher muß geregeltsein: Wann werden diese Daten gelöscht? Wer kontrol-liert das? Wie ist das mit den Berufsgeheimnisträgern?Wie ist das mit Rechtsanwälten, mit Journalisten, mitÄrzten, mit Geistlichen? Darf da so einfach festgestelltwerden, wann wer mit wem wie lange telefoniert hat?Ich denke einfach eine Verlängerung zu verlangen,wie Sie von der CDU/CSU es tun, geht auf gar keinenFall. Vielmehr müssen wir prüfen, ob die jeweiligendatenschutzrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind.Wir müssen uns das alles im Lichte des Grundgesetzessorgfältig ansehen und dann gegebenenfalls datenschutz-rechtliche Regelungen einführen.
Nun zur Kronzeugenregelung. Die Kronzeugenre-gelung ist 1989 während eines großen Fahndungsdefizits– „Fahndungsnotstand“ hat man damals gesagt – gebo-ren worden. Unserem Strafrecht ist es eigentlich völligfremd, daß selbst für einen Mörder, der selber zugibt,einen Mord begangen zu haben, die Freiheitsstrafe biszu drei Jahren heruntergesetzt werden kann. DiesesSondergesetz ist unserem Strafrecht völlig fremd, und esist damals von vielen kritisiert worden.Dieses Gesetz hatte allein den Zweck, dem seinerzei-tigen Fahndungsnotstand abzuhelfen. Es ist ein Gesetzaus der Zeit der Terroristengesetze. Jetzt wollen Sie eseinfach verlängern, ohne sich damit zu beschäftigen, obdieses Gesetz überhaupt den Zweck, zu dem es einmalerlassen wurde, erreicht hat. Ist damit auch nur in einemeinzigen Fall erreicht worden, daß Personen aus demengeren Kreis von terroristischen Vereinigungen her-ausgebrochen wurden,
daß sie zur Verhinderung oder zur Aufklärung vonschweren Straftaten oder zur Festnahme von anderenHans-Christian Ströbele
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Mitgliedern terroristischer Vereinigungen beigetragenhaben?
Ist dieser Zweck wirklich in Einzelfällen erreicht wor-den?Da wird immer wieder gesagt: Wir hatten doch An-fang der 90er Jahre die Beispiele der ehemaligen RAF-Angehörigen, die in der DDR angetroffen worden sind.– In all diesen Verfahren – das wird Ihnen der General-bundesanwalt bestätigen – haben die Leute, auf die dieKronzeugenregelung angewandt worden ist, gesagt: Wirhatten uns schon vor zehn Jahren von der RAF getrennt;wir wollten ohnehin einen Schlußstrich ziehen; für unsist die Kronzeugenregelung überhaupt nicht der Punkt,weswegen wir jetzt der Justiz helfen. Das muß man ein-fach feststellen. Das gleiche gilt für Straftaten im Be-reich des Ausländergesetzes, für Straftaten im Bereichvon ausländischen terroristischen Vereinigungen, etwader PKK – ich bestreite nicht, daß es zu allen möglichenAnwendungen gekommen ist – mit anderen Worten:auch das Gutachten, das noch von der letzten Regierungin Auftrag gegeben worden ist, stellt fest, daß nicht ineinem einzigen Fall wirklich der Zweck, zu dem diesesGesetz ursprünglich erlassen worden ist, erreicht wurde.Deshalb lassen Sie uns genau hingucken und überprü-fen, und lassen Sie uns dann feststellen, ob überhauptetwas erforderlich ist und, wenn ja, was. Diese Prüfungdürfen wir uns nicht ersparen. Wir können nicht einfachein Sondergesetz, das nicht ohne Grund befristet wordenist, immer wieder verlängern. Damit schenken wir auchdem früheren Gesetzgeber nicht die gebotene Beach-tung.
Nun komme ich zu den diversen Gesetzentwürfen,die vom Bundesrat eingebracht worden sind. Sie ent-halten eine ganze Reihe von sehr wichtigen, grundsätz-lich richtigen Gedanken.Die Einführung von gemeinnütziger Arbeit ist imGrunde etwas sehr Vernünftiges. Sie nützt nicht nur derPerson, die sich dadurch möglicherweise eine Haftstrafeoder eine Geldstrafe erspart; sie nützt nicht nur – wie derName schon sagt – der Allgemeinheit; vielmehr kann sieauch den Opfern, den Geschädigten zugute kommen.Deshalb ist es wichtig und richtig – das ist von dieserBundesregierung und von der Frau Ministerin schon invielen Diskussionsveranstaltungen gesagt worden –, daßim Bereich unterer und mittlerer Kriminalität eine weit-gehende Anwendung möglich gemacht werden soll.An der Initiative des Bundesrates kritisieren wir, daßsie die Anwendung dieser Sanktion auf den Ersatz fürnicht bezahlte Geldstrafen beschränkt und sie nicht alseigenständige Strafe einführt. Es bleibt das Problem, daßZwangsarbeit in Deutschland nach dem Grundgesetznicht zugelassen ist. Aber ich denke, es kann sich jedervorstellen, daß es für jeden Betroffenen wesentlich ein-facher und wesentlich besser hinnehmbar wäre, zu 100oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt zuwerden, als ins Gefängnis zu müssen, völlig von derAußenwelt abgeriegelt zu sein und dort in der Regelohne sinnvolle Tätigkeit und ohne Perspektive zu sitzen– was im übrigen das für die Gesellschaft erhebliche Ri-siko eines Rückfalls beinhaltet; denn 70 bis 80 Prozentall derer, die einmal im Gefängnis waren, kommen dortauch wieder hinein, werden rückfällig. Das müssen wirvermeiden. Es gibt eine ganze Reihe von guten Grün-den, nach Alternativen Ausschau zu halten.Weiterhin gibt es den Vorschlag des elektronischenHausarrestes. Das ist eine sehr einschneidende Maß-nahme, von der nicht nur der Betroffene, der Täter tan-giert und in seinen Freiheitsrechten erheblich einge-schränkt ist; vielmehr betrifft das die ganze Familie.Wenn in der Familie jemand mit einer elektronischenFußfessel sitzt, dann bekommen das die Kinder, dannbekommt das der Ehepartner oder sonstige Partner, dannbekommen das auch die Verwandten und Freunde mit.Ich denke, es muß genau überlegt werden, ob dieseMaßnahme grundsätzlich als alternative Strafe in Be-tracht kommt. Wenn dies der Fall ist, muß man die Fra-ge stellen: als Alternative zu welchen Strafen? Ist sie alsAlternative zu Geldstrafen, als Alternative zu Freiheits-strafen oder als Alternative zur weiteren Vollstreckungeiner Freiheitsstrafe, wie das auch schon vorgeschlagenworden ist, denkbar? Das bedarf einer genauen Aus-wertung der Erfahrungen, die in anderen Ländern, insbe-sondere in den USA, damit gemacht worden sind.Wir Bündnisgrünen haben da erhebliche Bedenkenund sehen das mit großer Skepsis. Wir wollen auf garkeinen Fall, daß das, was in den USA zu beobachten ist,auch hier Einzug hält: Da gibt es eine ganze Industriedie diese elektronischen Hausarrestapparate konstruiertund herstellt und die dadurch dazu beiträgt, daß dieÜberwachung privatisiert und somit die Aufgabe desStaates, für Strafverfolgung zu sorgen, auf die Industrieübertragen wird. Wir sind aber bereit, über diese Alter-native nachzudenken.Lassen Sie mich zum letzten Projekt vom Bundesrat– das hier auch schon angesprochen worden ist –, zurdrastischen Erhöhung der Freiheitsstrafen für den sexu-ellen Mißbrauch von Kindern noch ein paar Wortesagen. Auch in diesem Bereich – wie in so vielen ande-ren – sollte zunächst einmal untersucht werden, welcheStrafen in welcher Höhe für welche Fallkategorien inden letzten Jahren von deutschen Gerichten verhängtworden sind. Wir wollen doch nicht daran vorbeireden,daß es schon heute möglich ist, Freiheitsstrafen bis zuzehn Jahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindernzu verhängen. Um die Frage zu entscheiden, ob wirFreiheitsstrafen verhängen oder androhen wollen – odermüssen –, die über dieses Maß hinausgehen, sollte zu-nächst untersucht werden, in welchen Fällen bisher wel-ches Strafmaß erforderlich gewesen ist und ob die bisherverhängten Strafen überhaupt annähernd an das Straf-maß heranreichen, das heute möglich ist. Danach sollteman entscheiden, ob es erforderlich ist, die Strafen dra-stisch heraufzusetzen. Auch hier denken wir also eher aneinen Prüfauftrag, verschließen uns aber nicht der Dis-kussion.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die rotgrü-ne Regierung steht im Wort, bald ein durchdachtes, trag-fähiges Konzept für eine Sanktionenrechtsreform, fürHans-Christian Ströbele
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5406 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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eine Justizreform, für ein neues Datenschutzrecht vor-zulegen. Die Arbeiten haben begonnen. Ein erstes,wichtiges Gesetz dazu haben wir vorgelegt. Die Arbei-ten gehen weiter. Die Opposition versucht, uns alte Hüteaufs Haupt zu drücken, so wie es bei der Kronzeugenre-gelung der Fall ist. Der Bundesrat hat einige richtigeGedanken und prüfenswerte Einzelforderungen in denFlickenteppich der zahlreichen Gesetze hineinzuwebenversucht. Wir denken, eine Gesamtkonzeption ist erfor-derlich, und machen mit diesem Strafverfahrensände-rungsgesetz, dem StVÄG, einen ersten großen undwichtigen Schritt in die richtige Richtung. Darüber soll-ten wir weiter diskutieren und möglichst bald zu tragfä-higen Ergebnissen kommen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich stehe jetzt vor der schierunlösbaren Aufgabe, mich zu acht Gesetzentwürfen insiebeneinhalb Minuten äußern zu dürfen.
Das kommt angesichts des breiten Themenspektrumsder Quadratur des Kreises gleich. In der Kürze der Zeitkann ich deshalb nicht zu jedem Gesetz im einzelnenStellung nehmen, auch wenn Sie mir das freundlicher-weise zutrauen.Die Reform des bestehenden strafrechtlichen Sank-tionensystems und die Schaffung zeitgemäßer Sank-tionsformen sind nicht nur ein altes Anliegen der SPDund der in der vergangenen Legislaturperiode liegenge-bliebenen Bundesratsinitiativen. Auch die PDS hat inder 13. Wahlperiode einen Gesetzentwurf zu dieser Fra-ge und anderen Fragen, zum Beispiel zur Stärkung derOpferrechte, eingebracht. Wir sind uns offenbar überParteigrenzen hinweg weitgehend einig, daß das beste-hende Sanktionensystem den Gerichten zuwenig Ge-staltungsmöglichkeiten gibt, um ihrer kriminalpädagogi-schen Aufgabe gerecht zu werden. Die Alternativen„Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewäh-rung“ sind für die Praxis der Strafzumessung zuwenig.Eine weitere Ausdifferenzierung im Sanktionensystemist deshalb erforderlich.Bedauerlich ist, daß die vom Bundesjustizministe-rium eingesetzte Kommission zur Reform des straf-rechtlichen Sanktionensystems ihre Beratungen nochnicht abgeschlossen hat. So wünschenswert eine baldigeReform ist, bin ich doch dafür, diesen Bericht zunächstabzuwarten, bevor im Kernbereich des Sanktionensy-stems tiefgreifende Änderungen vorgenommen werden.Ohne Kenntnis entsprechender wissenschaftlicher Vor-arbeiten sollten keine voreiligen Entscheidungen getrof-fen werden. Allein der Verweis auf positive Erfahrungenanderer Staaten, die aber auch andere Rechtssystemehaben, reicht mir nicht aus. Auch möchte ich ein Ge-samtkonzept für die Reform des Sanktionensystems er-kennen können und nicht für ein Sammelsurium von so-genannten neuzeitlichen Sanktionen stimmen müssen,die dem Prinzip der Beliebigkeit folgen und vielleichtnur von der Straf-Wirkung getragen werden. Ein spekta-kuläres Beispiel dafür ist das Fahrverbot als Hauptstrafe,das manche nur deshalb ablehnen, weil nicht alle Straf-fälligen ein Kraftfahrzeug besitzen.Im Rahmen der Gesamtreform des strafrechtlichenSanktionensystems messe ich der Einführung der ge-meinnützigen Arbeit als eigenständiger Sanktion einewichtige Bedeutung zu. Für sie spricht insbesondere dieVerknüpfung verschiedener Zwecke; das wären etwa derEntzug von Freizeit, die Wiedergutmachung durch so-ziale Arbeit und nicht zuletzt eine Erleichterung der Re-sozialisierung des Täters durch Arbeit. Das Problemhierbei scheint mir eigentlich die praktische Umsetzungin den Ländern, die Schaffung von entsprechenden Ein-satzstellen zu sein.Das Für und Wider zur Einführung des elektronischüberwachten Hausarrests geht quer durch alle Partei-en. Entscheidendes Kriterium ist, ob der Hausarrest neueMöglichkeiten der sozialen Einbindung des Straffälligenbei Beachtung legitimer Sicherheitsinteressen der Bür-gerinnen und Bürger eröffnet. Unter Berücksichtigungdes Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der Menschen-würde und der Persönlichkeitsrechte des Straftäters ist ernur dort anzuwenden, wo ambulante Sanktionsformennicht ausreichen. Hier kann er eine Alternative zumhärteren stationären Sanktionsvollzug sein. Sinnvoll istdeshalb eine Erprobung in den Fällen, in denen anson-sten kurze Freiheitsstrafen ausgesprochen würden oderin denen Restfreiheitsstrafen bei bestimmten Tätergrup-pen noch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könn-ten. Das darf aber nicht den Weg für einen notwendigenAusbau der sogenannten ambulanten Hilfen wie Bewäh-rungs- oder Gerichtshilfe verstellen. Als Ersatzfreiheits-strafe taugt der Hausarrest jedoch nicht. Denn wer nichtzahlen kann, soll auch nicht eingesperrt werden, auchnicht zu Hause.
Die Veränderung des Umrechnungsmaßstabes – zweiTagessätze Geldstrafe sollen einem Tag Ersatzfreiheits-strafe entsprechen – begrüßen wir deshalb, halten sie je-doch insgesamt für inkonsequent.Für grundsätzlich wünschenswert halte ich, das Sy-stem der strafrechtlichen Sanktionen in Richtung Wie-dergutmachung auszubauen. Dabei denke ich nicht al-lein daran, die Wiedergutmachung als einen Einstel-lungsgrund anzusehen, sondern ich denke daran, sieauch bei mittlerer und schwerer Kriminalität neben einerStrafe vorzusehen. Die Kombination von Wiedergutma-chung und Strafe käme einer alternativen Strafe gleich.Dies wäre auch ein Schritt in Richtung einer opferorien-tierten Strafverfolgung.Unsere Zustimmung haben Sie also dort, wo Haft-vermeidung bei Wahrung des gesellschaftlichen Schutz-Hans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5407
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bedürfnisses zu erwarten ist, wo gemeinnützige Arbeitstatt Strafe möglich wird, wo es zu einem Täter-Opfer-Ausgleich, zu einer Wiedergutmachung durch den Täterkommen kann.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5407
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Nun zum Gesetzentwurf „Sexueller Mißbrauch vonKindern“: Hier sehe ich Regelungsbedarf, der insbe-sondere durch die Verbreitung des Internets entstandenist. Ich unterstütze deshalb jede Maßnahme, die geeignetist, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern entgegenzu-wirken.Ich denke aber nicht, daß allein höhere Strafen undder Zwang zur Therapie den Handel mit Kindern undKinderpornographie eindämmen werden. Wir brauchenmehr Rechtshilfeabkommen mit den Ländern, die vonKinderhändlern und Sextouristen aufgesucht, besser ge-sagt: heimgesucht werden. Außerdem benötigt die Poli-zei mehr Unterstützung für die personal- und sachinten-sive Recherche in den Netzen.Abschließend zu dem von der CDU/CSU einge-brachten Entwurf eines Dritten Kronzeugen-Verlänge-rungs-Gesetzes nur so viel: Erinnern wir uns: Die Kron-zeugenregelung für terroristische Straftaten mit be-grenzter Geltungsdauer ist 1989 bekanntlich als Experi-ment – trotz schwerwiegender rechtsstaatlicher Beden-ken und gegen die dringliche Warnung fast der gesam-ten Fachwelt – eingeführt und 1994 auf die organisierteKriminalität ausgedehnt worden. Sie durchbricht dasLegalitätsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Sie ver-letzt auch den Gleichheitsgrundsatz, da sie strafverdäch-tige und überführte Täter von der Bestrafung ganz oderteilweise ausnimmt. Der Anreiz, sich durch Bezichti-gung anderer Verdächtiger in den Genuß der zugesagtenVergünstigungen zu bringen, birgt die Gefahr in sich,den Zeugenbeweis zu entwerten, und kann im Extrem-fall sogar zur Bezichtigung Unschuldiger führen; dashaben wir heute schon gehört. Bei der Debatte zumZweiten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz hat selbstdie damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarren-berger schwere Bedenken geäußert und schließlich dafürplädiert, diese Regelung nach sechsjähriger Anwen-dungszeit auslaufen zu lassen.Durch die Kronzeugenregelung sind weder terroristi-sche Gewalttaten noch organisierte Kriminalität verhin-dert worden. Darauf hat auch schon mein Kollege Strö-bele hingewiesen. Jedenfalls bleibt der Gesetzentwurfeinen Nachweis über die Wirksamkeit dieser Regelungschuldig. Ich hätte mir auch dazu Ausführungen ge-wünscht.Manchmal ist ein Gesetz weniger ein Gewinn für denRechtsstaat.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Jürgen
Meyer von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein erster Blick aufdie heute in erster Lesung zu beratenden acht strafrecht-lichen Gesetzentwürfe kann den Eindruck hervorrufen,es handele sich um ein mehr oder weniger zufällig ent-standenes Sammelsurium. Bei näherem Hinsehen er-kennt man aber zumindest in der Mehrheit der Entwürfeeine klare politische Botschaft. Diese lautet: Der Re-formstau, der in 16 Jahren Kohl-Regierung auch in derKriminalpolitik entstanden ist, beginnt sich aufzulösen.
Ich will das mit zwei Hinweisen belegen: Mein ersterHinweis gilt den vier vom Bundesrat vorgelegten Ge-setzentwürfen, die sich mit dem strafrechtlichen Sank-tionensystem befassen. In den vier Legislaturperiodender Kohl-Regierung ist ein Reformbedarf stets geleugnetworden.
Dies geschah erstmals in der 10. Legislaturperiode An-fang der 80er Jahre. Damals war die Bundesregierungvon der Opposition aufgefordert worden, zu den Vor-schlägen Stellung zu nehmen, die gemeinnützige Arbeitals selbständige Sanktion einzuführen, den Anwen-dungsbereich der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu er-weitern, eine Aussetzung zur Bewährung auch für Geld-strafen vorzusehen sowie eine Verfahrenseinstellungauch dann zu ermöglichen, wenn der Täter den Schadenwiedergutmacht. Die damalige Bundesregierung ver-neinte jeglichen aktuellen Änderungsbedarf.
Sie blieb dabei auch nach dem 59. Deutschen Juristentag1992,
den meine Fraktion durch eine Große Anfrage zur Re-form des Sanktionensystems vorbereitet hatte.
Der von mir in der vorletzten und letzten Legislatur-periode jeweils ausführlich begründete Entwurf einesGesetzes zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktio-nensystems wurde von der Mehrheit stets abgelehnt,aber in der letzten Legislaturperiode erfreulicherweisevon der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt.
Die Bundesregierung konnte sich gegen Ende derletzten Legislaturperiode nur zur Einsetzung einerKommission durchringen.
Diese hat nun vor drei Monaten einen Zwischenberichtmit einer Reihe von Reformvorschlägen vorgelegt. Wasist die Ursache für dieses Umdenken? Nach meinemDr. Evelyn Kenzler
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5408 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Eindruck hat sich inzwischen die Erkenntnis durchge-setzt, daß die Vollstreckung von Freiheitsstrafen inmanchen Fällen mehr Schaden als Nutzen stiftet:
Sie reißt den Verurteilten aus seinen sozialen Bezügen;sie führt zum Verlust von Wohnung und Arbeit; ange-sichts der Überfüllung unserer Gefängnisse ist ein Be-mühen um Resozialisierung vielfach kaum noch mög-lich;
die Kosten des Strafvollzuges in Höhe von etwa200 DM pro Tag werden zunehmend kritisch beurteilt.Dies sind einige Gründe dafür, daß der Ruf nachalternativen Sanktionen neben Geld- und Freiheitsstra-fe immer lauter wird. Ich bin zuversichtlich, daß dieneue Bundesregierung demnächst einen auf den Vorar-beiten der Kommission aufbauenden Gesetzentwurfvorlegen wird, der ein Gesamtkonzept enthält
und der sinnvollerweise zusammen mit den teils mehrund teils weniger überzeugenden Einzelentwürfen desBundesrates beraten wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein zweiter Belegfür die Reformunfähigkeit der früheren Bundesregierungsowie der früheren Mehrheitskoalition und für die Re-formfähigkeit der neuen Bundesregierung ist der heutein erster Lesung zu beratende Entwurf eines Strafverfah-rensänderungsgesetzes, abgekürzt StVÄG.
– Herr Kollege Geis, Sie bekommen gleich die Meinunggesagt.
Der Verfassungsauftrag, das Grundrecht auf informa-tionelle Selbstbestimmung und die Grunderfordernissedes Datenschutzes – natürlich in Abwägung mit derNotwendigkeit effektiver Strafverfolgung – auch imStrafverfahren zu beachten, stammt aus dem Jahr 1983.Er ist dem bekannten Volkszählungsurteil des Bundes-verfassungsgerichts, ergangen im ersten Jahr der Kohl-Regierung, zu entnehmen. 16 Jahre haben nicht ausge-reicht, um das StVÄG zu verabschieden.
Die Fehlversuche der früheren Regierung sind be-kannt – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition, hören Sie aufmerksam zu –: Der Entwurf von1989 ist niemals Gesetz geworden. Im August des ver-gangenen Jahres schien endlich die Verabschiedung desüberfälligen Gesetzes gesichert zu sein.
Auf der Grundlage eines Bundesratsentwurfes undeines Entwurfes der Bundesregierung kam es im ver-gangenen Sommer zum sogenannten Flughafenkom-promiß; Herr Kollege Geis, Sie waren dabei. DerName erinnert daran, daß die Abschlußverhandlungenin einem Sitzungsraum eines Hotels im FrankfurterFlughafen stattfanden.
Alle Beteiligten, auch die Vertreter der A- und B-Ländersowie der CDU/CSU-Fraktion, hatten dem fertig aus-formulierten Gesetzestext zugestimmt. Die Hoffnungauf eine Verabschiedung noch vor der letzten Bundes-tagswahl zerschlug sich dann aber durch einen überra-schenden Brief des damaligen bayerischen Justizmi-nisters Leeb, der sich mit fadenscheiniger Begründungvon dem Kompromiß, dem er zuvor persönlich zuge-stimmt hatte, distanzierte.
16 Jahre haben der früheren Regierung also nicht ge-nügt, um dem klaren Auftrag des Volkszählungsurteilsgerecht zu werden. Ich zitiere aus diesem Urteil:Unter den Bedingungen der automatisierten Daten-verarbeitung gibt es kein belangloses Datum mehr.Wie weit Informationen sensibel sind, kann hier-nach nicht mehr allein davon abhängen, ob sie in-time Vorgänge betreffen. Vielmehr bedarf es zurFeststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeu-tung eines Datums der Kenntnis seines Verwen-dungszusammenhanges. Erst wenn Klarheit darüberbesteht, zu welchem Zweck Angaben verlangt wer-den und welche Verknüpfungsmöglichkeiten beste-hen, läßt sich die Frage einer zulässigen Beschrän-kung des Rechts auf informationelle Selbstbestim-mung beantworten.Bekanntlich ist das tief in die Persönlichkeitsrechteeingreifende Strafverfahren ganz wesentlich Datenver-arbeitung. Es kommt darauf an, die für das Strafverfah-ren entscheidungserheblichen Informationen zu erheben,zu erfassen, auszuwerten und zu speichern. Die Ver-wendung von Daten im Strafverfahren ist hoheitlicheInformationsverarbeitung. Man denke nur an die öf-fentliche Fahndung nach einem Beschuldigten, eventuellunter Verwendung seines Lichtbildes, oder auch nacheinem Zeugen zur Ermittlung seines Aufenthaltsortes.Auch Akteneinsicht ist Einsicht in Daten. Wenn dieZweckbestimmung der Daten erfüllt ist, muß man prü-fen, ob sie gelöscht werden können. All dies ist Sachedes Gesetzgebers. Er muß die wesentlichen Konkretisie-rungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbe-stimmung vornehmen. Er darf sich dieser Aufgabe nichtdurch die Schaffung von Generalklauseln entziehen.Dr. Jürgen Meyer
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Diesen Anforderungen wird der heute in erster Le-sung zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierunggerecht, die sich klugerweise eng an den bereits er-wähnten Flughafenkompromiß angeschlossen, aufGrund der Stellungnahme des Bundesrates aber bereitsverschiedene Konkretisierungen vorgeschlagen hat. InBerichterstattergesprächen im Rahmen der Koalition ha-ben wir unter Beteiligung des Bundesjustizministeriumseine Reihe weiterer Konkretisierungen vereinbart, diewir zum Gegenstand der Ausschußberatungen machenwollen.Die neue Bundesregierung und die Koalition weichender vom Gesetzgeber zu lösenden Aufgabe nicht längeraus, die notwendige praktische Konkordanz von allge-meinem Persönlichkeitsrecht einerseits und Strafverfol-gungsinteressen andererseits herzustellen. Damit been-den wir den 16 Jahre andauernden und verfassungs-rechtlich völlig inakzeptablen Reformstau in diesemwichtigen Bereich der Gesetzgebung.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Bayerische Staatsminister der Justiz, Dr. Manfred
Weiß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die aufgerufenen Tagesordnungspunkte enthalten eineganze Reihe wichtiger Vorhaben im Bereich des Straf-rechts und des Strafverfahrensrechts. Etliches davon istaus Ländersicht natürlich von essentieller Bedeutung.Aber ich habe dasselbe Problem wie meine Vorredne-rinnen und Vorredner: Die knapp bemessene Redezeitläßt es nicht zu, zu allen Punkten Stellung zu nehmen.Ich beschränke mich daher auf den Bundesratsentwurfzum Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch,wobei ich anmerken darf, daß der Bundesrat – leider –nicht von der CSU dominiert ist, sondern daß dort dieMehrheiten noch anders sind.Meine Damen und Herren, der Schutz von Kindernvor Sexualstraftaten zählt seit einigen Jahren zu denzentralen rechtspolitischen Anliegen. Das war leidernicht immer so. Ich erinnere daran, daß es bei der gro-ßen Strafrechtsreform vor rund 25 Jahren manchen ge-geben hat, der einvernehmliche Sexualkontakte mit Kin-dern nicht verwerflich fand und deswegen den Straf-rechtsschutz aufweichen wollte. Dazu ist es – was dieTatbestandsfassung anbelangt – glücklicherweise nichtgekommen. Allerdings wurde die Strafandrohung gra-vierend zurückgenommen. Aus einem Verbrechen istein bloßes Vergehen geworden. Um die vorhin ange-sprochenen Überlegungen, ob das Höchstmaß der Strafeacht oder zehn Jahre betragen soll, geht es doch garnicht.
Es geht darum, ob auch schon der Versuch der Anstif-tung und die Vorbereitung strafbar sind. Auch Sie wer-den gelernt haben, daß dies nur bei Verbrechen der Fallist und nicht bei Vergehen. Insoweit sind wir uns sichereinig.Die Aufweichungsbestrebungen fanden damit jedochleider kein Ende. In den 80er Jahren haben sich vorallem die Grünen – es ist gut, daß wir hier gerade inKontakt getreten sind – auf diesem Feld unrühmlichhervorgetan. Es hat in Ihren Reihen nicht wenige gege-ben, die vorgeblich gewaltfreie sexuelle Beziehungenzwischen Erwachsenen und Kindern straffrei stellenwollten.
Diese Forderungen haben Eingang in verschiedeneParteipapiere gefunden. Ob es Ihnen gefällt oder nicht:Sie müssen sich daran gewöhnen, daß das hier gesagtwird.Die nächste Etappe war ein Gesetzentwurf, mit demstrafrechtliche Jugendschutzvorschriften ersatzlos auf-gehoben werden sollten.
Der Entwurf verstand sich ausdrücklich als erster Schrittin Richtung einer Entkriminalisierung einvernehmlichgewünschter sexueller Handlungen. Ich sage Ihnendeutlich: Das sind für mich empörende Vorgänge. Wirwerden nicht aufhören, das hier entsprechend anzupran-gern.
Der kriminalpolitische Wind hat sich mittlerweile ge-dreht. Das ist richtig. Es ist aber auch eine traurige Tat-sache, daß erst schreckliche Sexualmorde an Kinderngeschehen mußten, ehe man hier reagiert hat.
Wesentlich auf diese furchtbaren Verbrechen ist es zu-rückzuführen, daß das 6. Strafrechtsreformgesetz,maßgeblich auf bayerische Initiative hin, drastischeStrafverschärfungen bei der Kinderschändung sowie beisexuellen Gewaltdelikten erbracht hat. Ein guter Teil derdurch die SPD/F.D.P.-Koalition getroffenen Fehlent-scheidungen ist damit korrigiert worden.In einigen Punkten allerdings ist der Gesetzgeber aufhalbem Wege stehengeblieben. Vor allem hat sich dieAuffassung nicht durchgesetzt, daß der Grundfall desKindesmißbrauchs wieder als das Verbrechen gebrand-markt werden muß, das er im Verständnis der Bürgerin-nen und Bürger seit jeher war. Ich wende mich einfachgegen die Arroganz zu sagen: Die Bürger draußen kön-nen so denken, wie sie wollen, und auch wenn es für dieBürger ein Verbrechen ist, sind wir hier ja viel geschei-ter und klassifizieren dies als Vergehen.
Dr. Jürgen Meyer
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5410 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Ich glaube, man sollte auch ein bißchen auf den Bürgerdraußen hören; denn wir haben die Aufgabe, die Interes-sen der Bürger entsprechend wahrzunehmen.
Statt dessen sind jetzt Regelungen geschaffen wor-den, die an Kompliziertheit nichts zu wünschen übriglassen und die auch zahlreiche Ungereimtheiten aufwei-sen. Das ließe sich vielfach belegen. Ich führe nur einBeispiel an. Es ist doch sicher unverständlich, daß ein18jähriger, der mit einem Kind einen Beischlaf voll-zieht, ein Verbrechen begeht, während ein Täter vonsiebzehneinhalb Jahren nur ein Vergehen begeht. Dassollte man mal demjenigen erklären, der dies miterlebthat. Wir müssen ja auch feststellen, daß gerade dieschlimmsten Mißbräuche in der letzten Zeit von jugend-lichen Straftätern verwirklicht wurden.
Der Bundesratsentwurf – ich sage das noch einmaldeutlich – schlägt deshalb vor, einen einheitlichen Ver-brechenstatbestand zu schaffen. Der hohe Stellenwertdes Schutzes der Kinder vor sexueller Ausbeutung wirdhierdurch in besonderem Maße verdeutlicht.Das zweite Kernstück unseres Bundesratsentwurfs istdie spezifische Strafvorschrift gegen das Anbieten vonKindern für sexuellen Mißbrauch. Der Anlaßfall hier-für ist damals über Bayern hinaus bekanntgeworden. EinSadistenpaar hat Kinder über die Datennetze für wider-wärtige Praktiken angeboten. Die Täter konnten nachAuffassung der Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshofinsoweit strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogenwerden, weil die Tat unter keinen Tatbestand des gel-tenden Rechts zu subsumieren war.Wenn ich eine solche Sicherheitslücke beziehungs-weise Strafbarkeitslücke habe, dann – so glaube ich – istes unsere Aufgabe, diesen Zustand zu beheben. Es darfnicht der Eindruck entstehen, daß unsere Kinder Frei-wild für Abartige jeglicher Couleur sind.Dringend erforderlich ist nach unserer Meinung aucheine Verbesserung des Ermittlungsinstrumentariums.Gegen mutmaßliche Kinderschänder und Kinderporno-händler muß die Überwachung der Telekommunikationzugelassen werden. Damit würde eine sichere Grundlagefür Recherchen in den Datennetzen geschaffen. Wichtigist dies unter anderem für Ermittlungen in geschlossenenNutzergruppen. Die Telefonüberwachung hat aber auchfür solche Fälle essentielle Bedeutung, in denen nur dieKontakte über die modernen Kommunikationstechnikengeknüpft werden, das Weitere aber dann mit herkömm-lichen Mitteln abgewickelt wird.Daß die Telefonüberwachung notwendig ist, ent-spricht auch der Haltung vieler SPD-geführter Landes-regierungen. Was die Bundesregierung allerdings bisherhierzu gesagt hat, muß vor diesem Hintergrund dochempören. Der Vorschlag des Bundesrates kümmert an-scheinend nicht im geringsten. Die Bundesregierungdenkt vielmehr sogar über eine weitere Begrenzung derTelefonüberwachung nach.
Das ist nach meiner Meinung eine schallende Ohrfeigefür alle SPD-geführten Länder, die ja den Entwurf, zudem ich Ihnen vortrage, mittragen.
Ich möchte es noch einmal deutlich sagen: Durch die-se Überlegungen stellt die Bundesregierung unverhohlendie Grundrechte mutmaßlicher Kinderschänder undKinderpornohändler über die Grundrechte unserer Kin-der.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie haben jetztdie Chance, die schlimme Entwicklung aufzuhalten,
zu korrigieren. Der Gesetzentwurf des Bundesrates liegtIhnen vor. Ich darf Sie um seriöse Beratung bitten.
Wir wären glücklich darüber, wenn Sie dem Gesetz-entwurf zustimmen könnten.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt unse-
re Kollegin Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Täglich werden in Deutsch-land Kinder sexuell mißbraucht, und wir fragen uns, wiewir das verhindern können. Sexueller Mißbrauch vonKindern, insbesondere ihr Mißbrauch zu pornographi-schen Zwecken, ist eine der abscheulichsten Straftaten,gegen die der Staat sicher mit aller Härte vorgehen muß.
Aus diesem Grunde haben wir im vergangenen Jahrdurch entsprechende Gesetze die Strafandrohung erheb-lich verschärft. Dies haben wir nach eingehender Dis-kussion getan. Herr Kollege van Essen hat dies ausge-führt. Ich kann mich dem nur anschließen. Wir solltenzunächst einmal abwarten, ehe wir nach kurzer Zeit ein-zelne Straftatbestände im Schnellschuß ändern.Staatsminister Dr. Manfred Weiß
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Übrigens, Herr Minister Weiß, Anstiftung ist auch beiVergehen strafbar. Deswegen müssen wir sicherlich kei-nen neuen Straftatbestand einführen.
Machen wir uns nichts vor: Mit dem Strafrecht kön-nen wir ohnedies nur einen geringen Teil von Gewaltgegen Kinder und sexuellem Mißbrauch von Kindernbekämpfen. Wenn sich durch Generalprävention Ver-brechen wirklich verhindern ließen, dann dürfte es inden Staaten, in denen auf Mord die Todesstrafe steht,keine Mörder mehr geben. Auch durch die in dem vor-liegenden Gesetzentwurf vorgesehenen härteren Strafenwerden wir die schrecklichen Straftaten des sexuellenMißbrauchs an Kindern nicht eindämmen, geschweigedenn verhindern können.Wir wissen doch, daß das größte Risiko, Opfer vonsexuellem Mißbrauch zu werden, den Kindern in derFamilie, im Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreisdroht. Dort werden sie oft in ihrem unlösbaren Konfliktzwischen Scham und Angst vor Entdeckung sowie vorbefürchtetem Liebesentzug allein gelassen. Experten ge-hen davon aus, daß auf jede angezeigte Sexualstraftat anKindern 20 bis 30 weitere kommen, von denen wirnichts erfahren.Die sexuell mißbrauchten Kinder leiden meist ihr Le-ben lang unter einem Trauma. Die schrecklichen Erleb-nisse ihrer Kindheit werden oft erst sehr spät im Leben– manchmal überhaupt nicht – verarbeitet. Die Erfahrun-gen von Frauenberatungsstellen zeigen, daß Frauen, die inihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind, Bezie-hungsprobleme haben, unter Eßstörungen leiden und zuDepressionen neigen. In den meisten Fällen wird die Ur-sache hierfür erst spät erkannt. Deshalb war es auch rich-tig, daß wir seinerzeit fraktionsübergreifend mit § 78bStGB eine Vorschrift geschaffen haben, die das Ruhender Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahresbei bestimmten Straftaten des sexuellen Mißbrauchs vonKindern beinhaltet. Dieser Paragraph wurde gegen denzunächst vorhandenen ausdrücklichen Widerspruch derdamaligen Regierungskoalition geschaffen. Oft kann sichdas Opfer erst dann zu einer Anzeige entschließen, wennes sich aus dem Kreis, dem der Täter angehört, lösenkonnte. Ob der Strafrechtskatalog erweitert werden muß,wird sicherlich im Rahmen einer umfassenden Straf-rechtsreform noch zu prüfen sein.Härtere Strafen anzudrohen ist nicht der alleinigeWeg, um das Problem zu lösen. Wir brauchen – dies hatdie jetzige Bundesjustizministerin bereits 1997 gefor-dert – ein Bündnis gegen Gewalt und gegen den sexu-ellen Mißbrauch von Kindern.
Zu diesem Bündnis gehört nicht zuletzt, Gewalt als Er-ziehungsmittel zu ächten und Kinderrechte zu stärken.Gewalt erzeugt oft Gewalt. Ein in der Kindheit erlerntesgewalttätiges Verhalten, insbesondere im sexuellen Be-reich, wird oft im späteren Leben weitergegeben. Ich bindeshalb nach wie vor der Meinung, daß die gewaltfreieErziehung von Kindern in die Verfassung gehört, nichtnur der Tierschutz.
Kindern zu ermöglichen, gewaltfrei aufwachsen zu kön-nen, sollte in unserer Gesellschaft eigentlich selbstver-ständlich sein.Wir wissen, daß die nationalen und internationalenDatenautobahnen völlig neue Möglichkeiten eröffnen,im Dunkel des anonymen Datennetzes die Anbahnungvon Kinderprostitution und die Verbreitung von kinder-pornographischen Schriften und schrecklichen Darstel-lungen wesentlich zu erleichtern. Die Anhörung derKinderkommission zu diesem Thema im November1995 hat uns dies in erschreckender Weise gezeigt.Mit dem Strafrecht kann man hier nur wenig errei-chen. Dringend notwendig ist der Aufbau eines interna-tionalen Netzes gegen Kinderpornographie. Lassen Sieuns gemeinsam daran arbeiten!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Die von unsererFraktion vorgelegten Gesetzentwürfe dienen alle einemZweck: der effektiven Bekämpfung der Kriminalität,insbesondere der organisierten Kriminalität. Ich möchtegerne konzedieren, daß auch Sie, Herr Kollege Harten-bach, mit Ihren Gesetzesvorschlägen diesem Ziel dienenwollen.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob Sie mit den vorge-legten Instrumenten richtig liegen.In der Debatte vorhin wurde von der gemeinnützi-gen Arbeit als einer Strafe gesprochen. Ich habe überviele Jahre hinweg im sozialen Bereich gearbeitet. Ichmöchte nicht, daß gemeinnützige Arbeit von Sozialhil-feempfängern, Jugendlichen oder vielen Ehrenamt-lichen auf das Niveau einer Strafe gestellt wird. Dieslehnen wir ab.
Herr Kollege Hartenbach, von einem solchen Vorgehengeht die Botschaft aus, daß das, was andere freiwilligehrenamtlich tun oder was von Jugendlichen getan wer-den muß, auf einmal von Menschen gemacht wird, dieeine Strafe absitzen müssen.
Anni Brandt-Elsweier
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5412 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bevölkerung inunserem Land diese Botschaft richtig versteht. Deswe-gen sage ich: Vorsicht mit einem solchen Instrument alsMittel der Strafe!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kau-
der, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meyer?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kau-
der, ist Ihnen bekannt, daß das geltende Strafrecht die
Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnüt-
zige Arbeit bereits vorsieht? Wollen Sie dies als logi-
sche Konsequenz Ihrer Ausführungen abschaffen?
Es geht nicht darum,daß wir etwas abschaffen wollen. Es geht vielmehrschlicht und ergreifend darum, daß wir Ihnen vorwerfen,ein Instrument weiter auszubauen und so den Eindruckzu erwecken, daß eine Ausnahmevorschrift mehr undmehr zur Regel werden könnte. Dagegen wehrt sich un-sere Fraktion.
Die Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere derorganisierten Kriminalität, bewegt die Menschen inunserem Land nicht nur; vielmehr betrifft es viele auchpersönlich. Es handelt sich um eine Kernaufgabe desStaates schlechthin. Da sich die Kriminalität in denletzten 25 Jahren fast verdoppelt hat und da auch Bun-desinnenminister Schily bei der Vorlage der polizeili-chen Kriminalstatistik im Mai hervorgehoben hat, daßvon einer Entspannung der Sicherheitslage nicht gespro-chen werden kann, müßten die von unserer Fraktionvorgelegten Gesetzentwürfe im Parlament eigentlicheine Mehrheit finden. So wie wir, sehr verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ver-nünftige Initiativen im Bundesrat nicht blockieren, soll-ten Sie richtige Initiativen der Opposition unterstützen.
Sie sprechen mit gespaltener Zunge. Sie sagen inRichtung Bundesrat: Helft uns, Initiativen voranzubrin-gen. Aber wenn wir hier gute Initiativen einbringen,dann machen Sie allein deswegen nicht mit, weil dieseInitiativen von der Opposition kommen. Dies paßt nichtzusammen.
Sie können mit gutem Gewissen kaum das Argumentvortragen, unsere Initiativen seien nicht ordentlich; denndie Justizministerkonferenz, die mehrheitlich nochimmer von Justizministern mit einer anderen Farbe alsder der CDU/CSU besetzt ist, hat im Juni in Baden-Baden in großer Einmütigkeit die Fortgeltung des § 12Fernmeldeanlagengesetz über den 31. Dezember 1999hinaus gefordert. Mit 16:0 Stimmen ist die Bundesju-stizministerin zu einer Verlängerung der jetzigen Rege-lung aufgefordert worden. Ich kann die Justizministerinnur ersuchen, diesem Beschluß der Justizministerkonfe-renz nachzukommen.Wenn Sie der Meinung sind, daß jetzt eine Bilanz ge-zogen werden muß und daß diese Regelung deswegennicht fortgelten kann, dann kann ich dem nur entgegnen:Von einer vierjährigen Regierungszeit haben Sie überein Jahr verstreichen lassen, um diese notwendige Bi-lanz zu ziehen und sich zu entscheiden, ob Sie diesenGesetzentwurf vorlegen wollen. Sie haben in diesemPunkt schwer versagt. Es gibt überhaupt keine Rechtfer-tigung für Ihr jetziges Verhalten.Wir könnten uns auf folgendes verständigen: Wirmüssen immer berücksichtigen, welche Botschaften vonunserem Handeln in die Öffentlichkeit gelangen. DieBotschaft, die davon ausgeht, wenn wir diese Vorschriftnicht verlängern, lautet doch: Es wird nun gar nichtsmehr gemacht, weil sie sich nicht bewährt hat.
Wir können sie doch fortgelten lassen und in der da-durch gewonnenen Zeit noch miteinander über weitereRegelungen sprechen. Aber wenn Sie jetzt sagen, Siewollen erst eine Überprüfung vornehmen, habe ich an-gesichts des Schneckentempos, das Sie im ersten Jahrbei ihren Aktivitäten an den Tag legten, die Befürch-tung, daß wir bis zum Ende der Legislaturperiode keineNeuregelung haben werden. Das wollen wir von derUnion auf gar keinen Fall. Deshalb halten wir uns an dasVotum der Fachminister aus den Ländern, die mit 16:0Stimmen dafür gestimmt haben, und beantragen im Inter-esse der Menschen, die von Kriminalität betroffen sind,die Verlängerung einer Regelung, die sich bewährt hat.
– Wenn Sie, Herr Ströbele, sprechen, habe ich immerden Eindruck, daß Sie weniger im Interesse derer spre-chen, die von Kriminalität betroffen sind, als im Interes-se derer, die Kriminalität begehen. Auch das ist eine fal-sche Botschaft.
Wir möchten sicherstellen, daß Kriminalität in unse-rem Land effektiv bekämpft werden kann. Ich bin derMeinung, daß sich auch die SPD diesem Anliegen nichtverschließen sollte.Wir sind doch alle miteinander der Überzeugung, daßsich die bisherigen Regelungen bewährt haben und dieVolker Kauder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5413
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Justiz in unserem Rechtsstaat durchaus in der Lage ist,diese Regelungen so zu handhaben, daß wir nicht be-fürchten müssen, daß eine solche Volksüberwachungstattfindet, wie sie in früheren Jahren in der DDR üblichwar. Deswegen weisen die von uns vorgelegten Anträgeden richtigen Weg und kommen so zeitgerecht, daß guteRegelungen nicht außer Kraft gesetzt werden müssen.Sie tragen, wenn Sie diesem Gesetz nicht zustimmen,die Verantwortung dafür, daß der Justiz ein wichtigesHandlungsinstrument aus der Hand genommen wird.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Erika
Simm, Sie haben für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beabsichtige, zuzwei der acht Gesetzesinitiativen zu sprechen, und zwarzum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung undzum Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeitals strafrechtliche Sanktion.Zum ersten Gesetz: Bei der Strafaussetzung zur Be-währung handelt es sich um ein scheinbar nicht allzubedeutendes Detail, was aber in der Praxis als sehr unbe-friedigend empfunden wird, weil es bei einer nachträgli-chen Strafaussetzung zur Bewährung im Gesetz in zweiFällen eine Lücke gibt: zum einen bei der nachträglichenGesamtstrafenbildung und zum anderen bei der Ausset-zung einer Reststrafe nach Teilverbüßung im Strafvoll-zug. Wenn eine Strafaussetzung erfolgt, obwohl der ver-urteilte Täter vor der Entscheidung über die Strafausset-zung eine neue Straftat begangen hatte, von der das Ge-richt aber entweder noch nichts wußte oder nur ein Tat-verdacht bekannt war, aber bis dahin kein hinreichenderTatnachweis geführt werden konnte, kann es nach dergeltenden Rechtslage zu der Konstellation kommen, daßkein Bewährungswiderruf möglich ist, wie es sonst derFall wäre, weil dieser nur auf eine neue Tat oder einneues Straffälligwerden während der Bewährungszeitgestützt werden kann, also nicht auf eines vor Beginnder Bewährungszeit.Es wird als sehr unbefriedigend empfunden, daß eineStrafaussetzung zur Bewährung, die unter Berück-sichtigung der neuen Tat nicht gewährt worden wäre,nicht zurückgenommen werden kann. Der Bundes-ratsentwurf hat zum Ziel, in solchen Fällen einen Be-währungswiderruf zu ermöglichen. Wir halten das in derSache für vernünftig, plädieren allerdings dafür, daßman daraus nicht ein Einzelgesetz macht, sondern es inden Komplex der Reform des Sanktionensystems einbe-zieht, um die Praxis nicht permanent mit einer Vielzahlvon Einzelgesetzen zum Strafrecht zu bombardieren.Das war ja in den letzten Jahren ein großes Problem.Der zweite Gesetzentwurf zur Einführung der ge-meinnützigen Arbeit als Sanktion ist ebenfalls eine Bun-desratsinitiative. Er wird im Grundsatz von der SPD-Fraktion unterstützt, wobei ich allerdings – da sage ichjetzt meine persönliche Meinung – meine, daß die Artund Weise, wie das Problem dort angegangen werdensoll, wenig praktikabel ist und in der Praxis erheblicheSchwierigkeiten aufwerfen wird. Man überlege nur ein-mal, wie eine Tenorierung eines solchen Urteils ausse-hen würde. Es würde in etwa lauten: Der Angeklagtewird zu einer Geldstrafe von soundso viel Tagessätzenund im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfrei-heitsstrafe von soundso viel Tagen verurteilt. Ihm wirdgestattet – wie auch immer das die Juristen formulie-ren –, statt dessen eine freiwillige Arbeitsleistung vonsoundso viel Stunden zu erbringen.Ich denke, für einen Angeklagten ist es schon schwie-rig genug, zu verstehen, wozu er verurteilt worden ist. Inder Vollstreckung wird es aber noch viel komplizierter.Vorrangig ist die gemeinnützige Arbeitsleistung zu voll-strecken. Wenn er diese nicht ableistet, dann kann dieVollstreckung der Geldstrafe angeordnet werden. Wenner nicht zahlt, dann kann die Vollstreckung der Ersatz-freiheitsstrafe angeordnet werden. Wenn er nachweist,daß er vermögenslos geworden ist, kann er statt derZahlung der Geldstrafe eine entsprechende gemeinnüt-zige Arbeitsleistung erbringen.Damit schließt sich der Kreis. Es entsteht ein endlo-ses Vollstreckungsverfahren, das durch jeweils anfecht-bare Entscheidungen unterbrochen wird. Ich denke, daskann nicht das Ziel einer effektiven Strafrechtspflegesein. Deswegen sollten wir uns etwas anderes überlegen.Ich weiß, daß es dazu in der diesbezüglichen Kommis-sion des Justizministeriums Überlegungen gibt – auchsolche, die verfassungsrechtlich unbedenklich sind, weilsie auf einem gewissen Freiwilligkeitsprinzip basieren.Dem sollten wir folgen.Wir sollten uns Zeit nehmen, über eine Lösung undall ihre Konsequenzen ordentlich nachzudenken. Ich ha-be ebenso Zweifel, ob der Entwurf des Bundesrates dieweiteren Folgewirkungen der geplanten Regelung, wiesie hier vorgeschlagen wird, ausreichend erfaßt und obzum Beispiel bedacht wurde, wie eine nicht ausgeführteArbeitsleistung auf die Dauer einer Freiheitsstrafe um-zurechnen ist. Das alles ist mir nicht ganz klar.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zumSchluß einen Appell an Sie richten, der sich auf eine Er-fahrung der letzten Legislaturperiode bezieht. Wir habenim Bereich des Strafrechts in einem zum Teil unange-messenen Tempo – um nicht zu sagen: im Schweinsga-lopp – eine Vielzahl von neuen Gesetzen beschlossen,die dazu geführt haben, daß unser Strafgesetzbuch zueinem Flickenteppich geworden ist, es eine Vielzahl vonrechtsdogmatischen bzw. rechtstechnischen Brüchengibt. Die Praxis versteht zum Teil nicht mehr, warumwir solche Gesetze beschließen, und kann sie nicht mehrnachvollziehen – und das nicht nur, weil ständig neueErgänzungslieferungen für die entsprechenden Lose-blattsammlungen kommen.
Wir müssen uns trotz der hier angemahnten Eile die fürdie Einbringung von Gesetzen nötige Zeit lassen.Volker Kauder
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5414 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Simm,
Sie haben das Stichwort Zeit schon gegeben.
Ich bin bereits dabei, zum
Schluß zu kommen. – Wir müssen wieder ein Strafge-
setzbuch aus einem Guß haben. Ich bitte Sie dabei um
Ihre Unterstützung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Simm,Sie haben in Ihrem Rückblick auf die letzte Legisla-turperiode davon gesprochen, daß die damalige Regie-rung bei der Reform des Strafgesetzbuchs ein unange-messenes Tempo vorgelegt habe und daß ein Gesetzes-antrag den anderen gejagt habe. Charmanter kann maneigentlich die Untätigkeit der neuen Regierung nicht be-schreiben, als auf diese Art und Weise den Eindruck zuerwecken, als sei das, was vorher gewesen ist, schädlichgewesen.
Ich will nur daran erinnern, daß Sie zum großen Teil zu-gestimmt haben.Es ist ganz amüsant, zu beobachten, wie die Rednerder Regierungskoalition die eigene Untätigkeit zu ver-decken suchen.
Wir haben ja mit Interesse zur Kenntnis genommen, daßder Bundeskanzler gesagt hat, Gründlichkeit solle jetztvor Schnelligkeit gehen. Aber: Wer langsam ist, ist nochlange nicht gründlich.
Ein wesentliches Beispiel dafür hat Kollege Kauder inseiner Rede geliefert. Der Punkt, zu dem ich jetzt etwassagen will, ist ebenfalls ein Beispiel für Ihre beeindruk-kende Langsamkeit: die Kronzeugenregelung. Sie tre-ten plötzlich dafür ein, daß sie einer Überprüfung, einerBilanzierung, unterzogen werden soll. Wenn wir jetztaber als Gesetzgeber das Gesetz auslaufen lassen wür-den, wäre die Folge, daß wir überhaupt nicht mehr zueiner vernünftigen Bilanzierung kommen können. EinJahr ist doch wirklich genug Zeit, um auf vernünftigeWeise Bilanz ziehen zu können.Vor diesem Hintergrund sollten wir die Frage disku-tieren, ob man nicht, wie der Kollege van Essen ange-regt hat, zu einer endgültigen Regelung kommen soll.Die Tatsache, daß Sie bisher diese Bilanzierung unter-lassen haben, erweckt bei uns den zutreffenden Ein-druck, daß Sie ein Interesse daran haben, die Kronzeu-genregelung auf diese Weise sang- und klanglos zu be-erdigen.
Sie sollten dann aber wenigstens den Mut haben, dazuzu stehen, anstatt dilatorischen Attentismus zu einemwesentlichen Merkmal Ihrer Rechtspolitik zu machen.Ich will einige Beispiele nennen. Weil diese Bilanzie-rung von Ihnen verweigert worden ist, haben wir uns vordem Einbringen dieses Verlängerungsgesetzes an die Ju-stizminister der Länder gewandt und haben sie um eineStellungnahme gebeten. Dabei ist herausgekommen, daßes eine ganze Reihe von positiven Wirkungen gegebenhat, die mit der Kronzeugenregelung verbunden sind.Sicherlich ist das Ziel, aktive Terroristen aus dem Kreisder RAF herauszubrechen, nicht erreicht worden. Mei-ner Meinung nach ist es aber auch dasjenige Ziel gewe-sen, das am unrealistischsten gewesen ist.
– Nein, das ist nicht wahr. Herr Kollege Ströbele, den-ken Sie an die organisierte Kriminalität, die einen ganzanderen Punkt berührt.
Ich will darauf hinweisen, daß die Schwächung terro-ristischer Vereinigungen und daß die Wiederaufnahmevon immerhin 23 Verfahren darauf zurückzuführen sind.Außerdem ist der Zusammenhang zwischen der Auf-lösung der RAF und der Einführung der Kronzeu-genregelung durchaus feststellbar.
Ich will das an einem Zitat deutlich machen. KollegeProfessor Meyer hat in der letzten Debatte, die wir zudiesem Thema geführt haben, die Aussage der ehemali-gen Palästinenserin Andrawes als Argument gegen dieKronzeugenregelung angeführt. Er hat in diesem Zu-sammenhang gesagt: Was die Aussage der Kronzeuginangeht, ist es ganz offensichtlich und für jeden nach-prüfbar, daß man von einem Erfolg der Kronzeugenre-gelung nicht sprechen könne. – Das haben Sie in derDebatte gesagt.Ich will Sie jetzt mit der Urteilsbegründung des Vor-sitzenden Richters konfrontieren. Die „Welt“ vom20. November 1996 schreibt dazu:Dennoch habe sich Andrawes bei der „arbeitsteili-gen Tötung des Flugkapitäns Jürgen Schumann“durch den Terroristenchef des gemeinschaftlichenMordes schuldig gemacht. Es sei dem Gericht nichtleichtgefallen, vom Mord-Strafmaß „lebensläng-lich“ abzuweichen.Weiter heißt es, das Gericht habe so entschieden, weil esin der Verhandlung festgestellt habe, daß Frau Andra-wes „nicht aus niedrigen Beweggründen“ gehandelt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5415
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habe, sondern auf die Lage des palästinensischen Volkeshabe hinweisen wollen.Die „Welt“ zitiert die Urteilsbegründung weiter:Durch „ausführliche Einlassungen“ zur Tatbeteili-gung von Monika Haas habe Andrawes jedoch dieVoraussetzungen der Kronzeugenregelung erfüllt.Das Beispiel, das Sie in Ihrer Rede von 1996 gegen dieKronzeugenregelung angeführt haben, ist durch denVorsitzenden Richter in der Urteilsbegründung also wi-derlegt worden.
Ich will darauf hinweisen, daß es noch eine ganzeReihe von Erfolgen im Kampf gegen die Camorra gibtund daß insbesondere im Kampf gegen die PKK auf dieKronzeugenregelung nicht verzichtet werden kann, weiles in diesem Bereich nur sehr schwer möglich ist, ver-deckte Ermittler einzuschleusen.
Ich darf Sie deswegen herzlich auffordern: FührenSie endlich die Überprüfung durch, die Sie angekündigthaben! Bilanzieren Sie! Dann wollen wir vor dem Hin-tergrund dieser Ergebnisse darüber diskutieren, ob dieKronzeugenregelung fortbestehen kann. VerschleppenSie nicht, tragen Sie nicht dazu bei, daß die wichtigenkriminalpolitischen Erfolge, die wir erreicht haben,sang- und klanglos untergehen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat dieBundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirbefinden uns heute in der ersten Lesung ganz unter-schiedlicher Einzelgesetze aus unterschiedlichen Berei-chen. Es wird – dieser Punkt ist schon ausgeführt wor-den – die Aufgabe sein, daß dieses Haus und derRechtsausschuß jedes einzelne Vorhaben nach seinemjeweiligen Eigenwert, der außerordentlich unterschied-lich sein kann, beraten und bewerten.Beim Zuhören der Diskussion amüsierte mich einesganz besonders, nämlich daß ausgerechnet eine Opposi-tion, die 16 Jahre lang an der Regierung war, ihre Rolleals Opposition nach noch nicht einmal 12 Monatenschon so gut gelernt hat, daß sie der Regierung bereitsUntätigkeit vorwirft.
– Das alles dürfen Sie tun, Herr Geis. Aber die Tatsache,daß Sie in 16 Jahren das, was wir schon eingebracht ha-ben, nicht erreicht haben, ist eines der hübschen Dinge,die Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen sollten.
– Herr Geis, Sie dürfen doch gleich reden.Das amüsiert mich auch deshalb so ungeheuer, weilSie so tun, als leide dieses Land an zuwenig Gesetzen.
Überlegen Sie doch einmal, was Sie damit sagen! Siesollten einmal die Praktiker fragen, was sie unter diesemAspekt von der Rechtspolitik der vergangenen vier Jahrehalten.
Dazu hätten Sie jetzt auch auf dem Deutschen Richter-tag Gelegenheit gehabt. Dort wurde nämlich gesagt,mehr Gesetze seien überhaupt nicht gut.
Recht haben sie. Es ist auch nicht unser Ehrgeiz, mehrGesetze zu machen – auch wenn Sie noch soviel dazwi-schenrufen –; wir wollen vielmehr gute und richtige.
– Herr Kauder, wenn Sie es nicht wissen, sage ich esIhnen: Die Praktiker haben in den vergangenen vier Jah-ren darunter gelitten, daß Sie immer wieder Einze-laspekte vorgezogen haben und sie die Gesetze nochnicht einmal zur Verfügung hatten, wenn sie sie anwen-den mußten, weil alles viel zu hektisch war.
Ich habe es hier schon vor einem dreiviertel Jahr ge-sagt und wiederhole es heute: Unser Ehrgeiz ist es, dieNeuregelungen in den Rechtsgebieten, die reformiertwerden müssen, zu bündeln und in Schwerpunkten ein-zubringen. Das tun wir auch. Eigentlich wissen auch Sie,daß das richtig ist.
Noch eines wissen wir aus der Praxis – das wissen imübrigen auch Sie; Herr von Klaeden weiß das ganz be-sonders gut –: Wenn man ein Rechtsgebiet nach sorg-fältiger und ausführlicher Diskussion reformiert hat,sollte man nicht schon nach einem Jahr die eine oderandere Ergänzung, mit der man, Herr Kollege Weiß,nicht durchgekommen ist, als neu präsentieren. Das istnicht gut und verärgert die Praxis.Ich nenne einen weiteren Punkt. Sie alle wissen ganzgenau, daß die Erweiterung des Sanktionensystems zuden Schwerpunkten der Politik dieser Bundesregierunggehört. Anfang des Jahres habe ich ständig auf Fragengeantwortet: Was ist denn eigentlich mit der von unsEckart von Klaeden
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5416 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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eingesetzten Kommission? Werdet ihr deren Überlegun-gen berücksichtigen? – Gerade Sie, Herr Kollege Geis,haben dies in schriftlichen und mündlichen Fragen, auchin persönlichen Gesprächen geäußert. Ich habe Ihnendamals gesagt: Jawohl, das tun wir. Das habe ich übri-gens nicht nur deswegen gesagt, weil ich der Meinungbin, daß auch dann, wenn die Regierung wechselt, dieKontinuität vernünftiger Vorhaben gewährleistet seinmuß, sondern auch, weil ich der Auffassung bin, daß essich gegenüber einem ehemaligen Kollegen und Mit-glied dieses Hauses, der den Vorsitz übernommen hat,einfach gehört, so zu verfahren. Zudem bin ich daraninteressiert, die Erkenntnisse, die sich aus den Diskus-sionen ergeben haben, in die Eckpunkte, die wir vorbe-reiten – das wissen Sie –, einfließen zu lassen.Das alles spricht nicht dagegen, daß die Länder, HerrKollege Weiß, oder auch die Oppositionsparteien Ge-setzentwürfe einbringen. Ich sage aber sehr deutlich, daßwir diese schwerpunktmäßig bündeln und unter Berück-sichtigung der Erfahrungen und Erkenntnisse diskutierenwerden. Danach werden wir sie diesem Haus zur weite-ren Behandlung und Diskussion präsentieren.Zu der Erweiterung des Sanktionensystems sind hiereinige Überlegungen geäußert worden, die ich teile, an-dere, die ich nicht teile. Ich will Ihnen sagen, warum wirder Meinung sind, daß wir wahrscheinlich neben derGeld- und Freiheitsstrafe noch andere Möglichkeitenvon Strafen brauchen, als sie das Erwachsenenstrafrechtderzeit zuläßt. Wir stellen fest, daß die heute nicht vor-handene Differenzierungsmöglichkeit insgesamt mehrSchwierigkeiten bringt, als sie Nutzen verschafft. Ichwill das anhand einiger Punkte belegen.Unsere Gefängnisse sind voll. Ich fange nicht deswe-gen mit diesem Beispiel an, weil es das wichtigste wäre,sondern weil es ein Problem ist, das uns drückt und hierauch schon angeführt wurde. Wir stellen fest, daß dieZahl der vollstreckbaren Freiheitsstrafen in den letz-ten Jahren drastisch angestiegen ist. Wir stellen weiterfest, daß der Anteil von Freiheitsstrafen unter sechs Mo-naten in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist. Erlag 1997 bereits bei 27 Prozent. Wir waren uns bisherimmer einig, daß eine so kurze Freiheitsstrafe kriminal-politisch nicht erwünscht ist; außerdem ist sie für denSteuerzahler ungewöhnlich teuer.
Darüber hinaus stellen wir fest, daß heute weniger Be-währungsstrafen ausgesprochen werden. Auch das führtzu den vollen Gefängnissen, die besonders die Länderdrücken. Außerdem ist die Zahl der Ersatzfreiheitsstra-fen alarmierend hoch.Warum sage ich das? Ich sage das, weil es gerade beider letzten Gruppe um Männer und Frauen geht, die zwarstraffällig geworden sind, aber von deutschen Gerichtenin einem rechtsstaatlichen Verfahren zu Geldstrafe undnicht etwa zu Haftstrafe verurteilt worden sind.
Sie können die Strafe aber nicht bezahlen, weil sie ar-beitslos oder aus anderen Gründen vermögens- undfinanzlos sind. Deshalb kann bei ihnen das Geld nichteingetrieben werden. Daß man hier den Weg wählt, eineErsatzfreiheitsstrafe zu verhängen, ist auch aus rechts-staatlichen Gründen problematisch.
Zudem ist es falsch, gerade bei Menschen, die nicht in-tegriert sind, und mit Rücksicht auf den Steuerzahler,weil wir ganz genau wissen, Herr Kollege Weiß, daß wiretwa 200 bis 250 DM pro Tag im Gefängnis ansetzenmüssen.
– Vielleicht macht Herr Geis auch das billiger.
– Herr Geis, ich kann Ihnen hier nur antworten. SchonCarlo Schmid hat gesagt: „Bitte schön, wenn Sie einenZwischenruf machen oder eine Frage stellen, müssen Siesich darauf einstellen, daß ich antworte.“ So ist das.
– Ich antworte so, wie es Ihre Frage oder Ihr Zwischen-ruf verlangt. Im übrigen sind Sie ja nachher dran, HerrGeis.Dieses alles werden wir berücksichtigen. Ich bin derMeinung, daß eigentlich nichts für Ersatzfreiheitsstrafen,aber viel für gemeinnützige Arbeit spricht. Lassen Siemich eines dazu sagen – das richtet sich auch an denKollegen Weiß und an diejenigen von der CDU/CSU,die hier Skepsis geäußert haben, weil wir zuwenig ge-meinnützige Arbeit hätten –: Ich habe den Eindruck, daßman noch gar nicht versucht hat, entsprechende Mög-lichkeiten zu schaffen und die Plätze dafür zur Verfü-gung zu stellen. Das wird eine der Aufgaben sein. Dasist auch eine Bitte und ein Ersuchen an die Länder, zuschauen, was hier geht. Eine solche Regelung wäre zumeinen unter Vernunftsgesichtspunkten, zum anderen aberauch unter Kostengesichtspunkten vorteilhaft.Von daher sollten wir gemeinsam darüber nachden-ken, wie man das am vernünftigsten organisiert und wiewir hier am schnellsten weiterkommen, übrigens nichtnur mit Blick auf diejenigen, die zu einer Geldstrafeverurteilt wurden und nicht bezahlen können. Es gibtebenso die andere Gruppe, die heute jede Strafe aus derHosentasche bezahlt und an der deshalb der Denkzet-telcharakter einer derartigen rechtsstaatlichen Strafe ab-prallt. Auch hier gibt es Notwendigkeiten, denen wir unsstellen müssen.Jetzt kommen wir zum Thema sexueller Mißbrauch.Hier haben wir einen Vorschlag der Bayerischen Staats-regierung, der über den Bundesrat eingebracht wordenist. Dieser Vorschlag ist in der Tat schon vor gut einemJahr diskutiert worden. Ich habe nicht den Eindruck,Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Herr Kollege Weiß, daß Sie den Kollegen van Essenrichtig verstanden haben. Ich glaube nicht, daß es Arro-ganz war, als er Ihnen hier die Gründe vorgetragen hat,warum dieser bayerische Vorschlag damals erwogen,aber abgelehnt wurde, und zwar von der Mehrheit desHauses über alle Parteien hinweg. Die Überlegung istdie, daß nicht genügend Gründe dafür sprechen, zumal– da hat Frau Brandt-Elsweier völlig recht – es hier nichtum die Frage der Anstiftung gehen kann.Es gibt eine andere Überlegung, die ich jetzt in denRaum stellen möchte. Das Ziel, der Schutz der Kinder,ist etwas, was uns verbindet. Das ist völlig klar und auchin vielen Diskussionen deutlich geworden. Die Frage ist:Wie können wir dieses Ziel am besten erreichen? Dasind alle gefordert.Wenn wir die Erfahrungen mit dem 6. Strafrechtsre-formgesetz vorliegen haben, werden wir das zu geeig-neter Zeit gebündelt im Bundestag einbringen. Sie wis-sen, ich bin immer in Kontakt mit den Ländern und ver-suche, die Erfahrungen zu bekommen. Wir haben jedochnoch keine Erfahrungen aus den Ländern – auch ausBayern nicht, um das einmal ganz klar zu sagen. Aberwenn es soweit ist, werden wir die Erfahrungen prüfenund gegebenenfalls Gesetzeslücken schließen.Meine Damen und Herren, der Schutz der Kinderinsbesondere vor Wiederholungstätern hängt aber auchvon der Anwendung der Gesetze ab. Das ist Sache derGerichte und der Strafverfolgungsorgane in der Verant-wortung der Länder. Hier sind wir es allen Eltern schul-dig, deren Kinder Opfer dieser schrecklichen Verbre-chen geworden sind, die Schwachstellen sorgfältig zudurchdenken. Das werden wir auch tun.
Deswegen habe ich die Bitte, daß niemand, der hiereinen Gesetzesvorschlag präsentiert, meint, damit vonmöglichen Schwachstellen in der Rechtsanwendung ab-lenken zu können. Das wäre falsch, und wir werden dasauch nicht zulassen; denn das bedeutete Steine statt Brotfür die Eltern gerade in einem Bereich, in dem sie alleauf uns vertrauen.Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir in die-sen elfeinhalb Monaten ein Gesetz erarbeitet haben – esist wirklich sorgfältig durchdacht –, an dessen Inhalt Siesich in 16 Jahren nie ernsthaft herangetraut haben, meineDamen und Herren von der Opposition, nämlich dasStrafverfahrensänderungsgesetz 1999.
Ich weiß, daß wir bei diesem Gesetz die Länder und de-ren Goodwill brauchen, wenn wir die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 umset-zen wollen. Anderenfalls können sie dieses Gesetz imBundesrat scheitern lassen. Ich sage das, damit jederweiß, was seine Verantwortung ist. Ich gebe die Hoff-nung nicht auf, daß man mit dem Bundesrat über dieNotwendigkeit der Umsetzung der Vorgaben des Bun-desverfassungsgerichts nicht nur reden kann, sonderndaß dieses Stück demokratischer Rechtskultur in unse-rem Lande erhalten und ausgebaut werden kann, ganzegal, welcher Parteizugehörigkeit die jeweils zuständi-gen Minister sind.Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen. Herr KollegeWeiß, Sie haben die Frage der Telefonkontrolle ange-sprochen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir werdendie Maßnahmen, die zur Verfolgung schwerster Verbre-chen eingesetzt werden müssen, zusammen mit denLändern immer wieder auf den Prüfstand stellen unddiskutieren und möglicherweise auch zu anderen Ergeb-nissen kommen. Die Bundesregierung – übrigens schondie alte – hat im Zusammenhang mit der Änderung desArt. 13 des Grundgesetzes den Auftrag übernommen,sehr sorgfältig zu überprüfen, ob die Vermutung stimmt,daß die Telefonkontrolle über das Maß des wirklichNotwendigen hinausgeht. Wir haben uns an die Ländergewandt – das konnten wir leider in den Schubladen derletzten Regierung nicht vorfinden – und sie gebeten, unsihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Wir werdendas dann aufbereiten und im Lichte dieser Erkenntnisseden gesamten Komplex – auch die Frage des Straftaten-katalogs – der Telefonkontrolle besprechen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung weißsehr genau, daß Bürgerrechte und Strafverfolgung kei-nen Gegensatz bilden, sondern zwei notwendige Seitenunseres Rechtsstaates sind. Dabei soll es auch bleiben.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner ist
der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie vonder Koalition müssen sich entscheiden: Entweder hat diealte Bundesregierung nichts geleistet; dann hat FrauSimm nicht recht. Oder aber es ist wahr, daß wir 1997und 1998 mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz eines dergrößten Gesetzgebungsvorhaben seit den 70er Jahrendurchgezogen haben, wie es die Fachwelt sagt.
Sie haben immer wieder versucht, uns bei diesem Vor-haben zu hindern, und wir mußten uns anstrengen, dieseBehinderung zu überwinden. Das ist uns aber auch ge-lungen.
Das StVÄG, das Sie, lieber Herr Meyer, mir so sehrvorgehalten haben, haben wir zu Ende beraten, und Sie,verehrte Frau Ministerin, haben das ja auch zugegeben.Wahr ist, daß dieses Gesetzgebungsvorhaben letztend-lich daran gescheitert ist,
daß wir keine Debatte im Bundestag mehr haben woll-ten. Das war nämlich die letzte Sitzung der letzten Le-Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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gislaturperiode, die wir noch im September hatten. Dakonnten nur Vorhaben verabschiedet werden, die ohneDebatte durchgezogen werden konnten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Geis, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte sehr, Herr Ströbele.
daß die Nichtverabschiedung dieses Strafverfahrensän-
derungsgesetzes bei Richtern und Staatsanwälten fak-
tisch dazu geführt hat, daß sie, wenn sie die Maßstäbe
des Bundesverfassungsgerichtes anlegen, in die Illega-
lität getrieben werden, weil sie ohne ausreichende ge-
setzliche Grundlage ihren Beruf ausüben müssen, wenn
sie beispielsweise Menschen zur Fahndung ausschrei-
ben, ob als Beschuldigte, als Verdächtigte oder als Zeu-
gen?
Herr Ströbele, Sie lä-cheln selber bei Ihrer Frage. Sie wissen, daß das nichtwahr ist. Seit diesem Urteil, seit 1982, bestätigen die dieUrteile, die bis zu Bundesgerichtshof und Bundesverfas-sungsgericht hinauf gelangen. Keinesfalls ist es irgend-einem Gericht eingefallen zu sagen: Weil nun diesesStrafverfahrensänderungsgesetz noch nicht alle Rege-lungen zusammenfaßt, die in einzelnen Gesetzen schonvorhanden sind, ist das Urteil ungültig oder rechtsfeh-lerhaft. Das kann ich nur mit Nein beantworten.Ich will Ihnen, lieber Herr Meyer, beantworten, war-um es letztendlich doch nicht zur Verabschiedung ge-kommen ist. Es ging um den mißliebigen Punkt, daßDaten, von der Polizei in einem bestimmten Strafverfah-ren rechtmäßig aufgenommen, nicht in einem anderenStrafverfahren verwendet werden können – so die Re-gelung des jetzt von Ihnen vorgelegten Gesetzes undauch die Regelung des ursprünglichen Gesetzes. Dazugibt es eine Bundesgerichtshofsentscheidung, die besagt,daß diese rechtmäßig aufgenommenen Daten auch ineinem anderen Strafverfahren ohne weiteres angewendetwerden können, ohne daß dies rechtsfehlerhaft wäre. IhrVorschlag geht im Grunde hinter die Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofes zurück. Das ist unser Problem.Deswegen haben wir das damals abgelehnt. Ich bitte,das so zu sehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrteFrau Ministerin, wir beschäftigen uns heute mit zweiGesetzen der Unionsparteien. Es geht, wie wir schongehört haben, um das Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz und um das Fernmeldeanlagengesetz. BeideVorschriften müssen verlängert werden, wenn sie überdas Jahr 1999 hinaus in das Jahr 2000 hinein Geltunghaben sollen. Wir sind der Auffassung, daß diese Geset-ze richtig sind und daß sie weiter gelten sollen. Deswe-gen müssen wir die Entwürfe jetzt einbringen. Darüberkann es doch keine Aufregung geben. Ob man die Ver-längerung will oder nicht, ist eine andere Frage.Der allergrößte Teil der Vorlagen, die heute beratenwerden, stammt vom Bundesrat. Der Bundesrat war, wieSie wissen, damals, als diese Vorhaben verabschiedetwurden, von der SPD dominiert. Die Mehrheit bestandaus SPD-Regierungen. Sie wollten die Änderungen ha-ben. Jetzt geht es darum, daß wir die vom Bundesratkommenden Änderungsvorschläge endlich beraten. Wassonst tun wir? Da kann man uns doch nicht vorwerfen,wir wollten einem Gesetzgebungsvorhaben vorgreifen,das Sie ständig – seit einem halben Jahr, seit einemDreivierteljahr – in der Presse ankündigen. Wir greifendem doch nicht vor. Wir setzen nur die Vorschläge desBundesrates auf die Tagesordnung. Das wollen wir be-raten. Die Vorschläge kommen vom damals SPD-dominierten Bundesrat; bleiben wir also bei der Wahrheit.Wir kommen zu den Vorhaben zur Erweiterung derSanktionsmöglichkeiten. Ich meine, daß wir bei derjetzt auf uns zukommenden Diskussion über Ihren „gro-ßen Wurf“ bestimmte Punkte zu berücksichtigen haben.Zunächst müssen wir dafür Sorge tragen, daß der beste-hende Strafrahmen ausgenutzt wird. Wir haben in derTat ein Süd-Nord-Gefälle in Deutschland. Der Strafrah-men wird, je weiter man nach Norden kommt, seltenerausgenutzt als in den südlichen Ländern. Das dient beider wachsenden Kriminalität nicht der Kriminalitätsbe-kämpfung; das ist geradezu ein Ergebnis der wachsen-den Kriminalität.
Ich will also dafür plädieren, unser erstes Augenmerkdarauf zu richten.Weiterhin geht es darum, daß wir die Generalprä-vention des Strafrechtes ernst nehmen. Es wird zwarimmer behauptet, das spiele für den Einzelstraftäter kei-ne Rolle, der Einzelstraftäter werde sich danach nichtrichten. Das Gegenteil ist aber richtig. Jeder Straftäterkalkuliert: Werde ich ertappt, was habe ich – wenn ichertappt werde – vor Gericht zu erwarten, und wie siehtder Strafvollzug aus? Diese Kalkulation des Straftätersbedingt und verursacht die Generalprävention des Straf-rechtes. Ich möchte die Generalprävention also nichtheruntergeredet wissen.Ein weiterer Punkt, den wir bei der Gesamtdiskussionberücksichtigen sollten, ist, daß es uns bei allen Sank-tionen, die wir ändern wollen, immer um den Schutzder Rechtsordnung gehen muß. Es dürfen bei einerStraftat nicht nur der Täter und nicht nur die Verletzungdes Opfers gesehen werden, sondern es muß auch gese-hen werden, daß bei jeder Straftat die Rechtsordnunginsgesamt verletzt wird. Das muß man, glaube ich, im-mer im Hinterkopf behalten.Der letzte Punkt in diesem Zusammenhang ist, daßwir nicht allzu viel vom Täter-Opfer-Ausgleich er-warten sollten. Ich will ihn nicht kleinreden. Wir habenden Täter-Opfer-Ausgleich 1994 im Verbrechensbe-kämpfungsgesetz zum erstenmal gesetzlich verankertNorbert Geis
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– ich bin auch sehr dafür. Nur, es muß immer wiederbedacht werden, daß es beim Täter-Opfer-Ausgleich nieum das Opfer allein geht. Vielmehr stehen neben demOpfer noch andere: die Verwandten, die Bekannten, dieFreunde. Diese kann man nicht erfassen. Darum muß beidieser Diskussion immer wieder bedacht werden, daß esbeim Strafverfahren auch und vor allem um die Wieder-herstellung des Rechtes geht. Das Recht muß sichdurchsetzen; nur dann kann Rechtsfrieden entstehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich noch zwei oder drei Sätze zu Einzelpunkten sagen.Aus dem Bundesrat kommt ein Vorschlag zum Straf-recht beim sexuellen Mißbrauch von Kindern. Ver-ehrter Herr Justizminister, wir haben uns in der damali-gen Debatte sehr genau überlegt, ob wir die Grundtatbe-stände beim Vergehen belassen und nur die schwererenStraftaten in die Ebene des Verbrechens hineinbringen.Das haben wir sehr lange diskutiert. Wir sind zumSchluß zu dem Ergebnis gekommen – es gab vieleGründe dafür, aber das war für mich der entscheidendeGrund, den ich vorzutragen versuche –: Wenn wir vonAnfang an alle solche Taten zu Verbrechen hochstufen,dann werden wir erleben, daß die StaatsanwaltschaftenVerfahren schneller einstellen. Solche Vergehen im un-teren Bereich, wenn sie zu Verbrechen hochgestuft wer-den, lassen der Staatsanwaltschaft keine andere Reak-tionsmöglichkeit als die der Anklage. Wenn wir es aberin diesem unteren Bereich bei Vergehen belassen, beste-hen eine ganze Reihe von Reaktionsmöglichkeiten –zum Beispiel Strafbefehl, in niedrigsten Fällen vielleichtauch die Einstellung des Verfahrens. Wir meinen, daßwir der Strafverfolgung damit besser dienen, weil wirauf diese Weise verhindern, daß Vergehen, die zu Ver-brechen hochgestuft werden, von der Staatsanwaltschaftnicht verfolgt und daß die Verfahren eingestellt werden,weil sie meint, es sei doch kein Verbrechen. Das warunsere Grundüberlegung. Wir werden diesen Vorschlagdes Bundesrates, der uns ja 16 zu 0 vorgelegt wird, aberwohl bedenken und auch wohl beraten.Lassen Sie mich noch einen Gedanken zur soge-nannten elektronischen Fußfessel einbringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Geis,
Sie müssen zum Schluß kommen.
Ein Gedanke noch, Frau
Präsidentin.
Die elektronische Fußfessel ist meiner Meinung
nach ein Thema, das man zu diskutieren hat. Wir sollten
es aber nicht unter fiskalischen Aspekten diskutieren,
wir sollten es nicht unter der Überschrift diskutieren:
Leeren wir damit unsere Gefängnisse? Das kann nicht
die Grundvoraussetzung für eine Einführung sein.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 14/1315, 14/1107, 14/761,14/762, 14/1125, 14/1467, 14/1519 und 14/1484 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 j auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reformder gesetzlichen Krankenversicherung ab demJahr 2000
– Drucksache 14/1721 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sanie-
– Drucksachen 14/1636, 14/1680 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berei-
– Drucksachen 14/1655, 14/1720 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 9. September 1998Norbert Geis
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zwischen der Regierung der BundesrepublikDeutschland, der Regierung der Französi-schen Republik, der Regierung der Italieni-schen Republik und der Regierung des Ver-einigten Königreichs Großbritannien undNordirland zur Gründung der Gemeinsamen
– Drucksache 14/1709 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieÄnderung währungsrechtlicher Vorschrifteninfolge der Einführung des Euro-Bargeldes
– Drucksache 14/1673 –Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs– Drucksache 14/1666 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demProtokoll zur Änderung des Übereinkommensvom 23. Juli 1990 über die Beseitigung derDoppelbesteuerung im Falle von Gewinnbe-richtigungen zwischen verbundenen Unter-nehmen– Drucksache 14/1653 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß h) Erste Beratung des von der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnungdes Berufsrechts der Rechtsanwälte und derPatentanwälte– Drucksache 14/1661 –Überweisungsvorschlag:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Umwandlung der Deutschen Siedlungs-und Landesrentenbank in eine Aktiengesell-
– Drucksache 14/1672 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß j) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Petra Pau, Dr. Ruth Fuchs und der Frak-tion der PDSEntkriminalisierung des Gebrauchs bislangillegaler Rauschmittel, Legalisierung vonCannabisprodukten, kontrollierte Abgabe so-genannter harter Drogen– Drucksache 14/1695 –Überweisungsvorschlag:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5421
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Deutsche Beteiligung an dem internationalenStreitkräfteverband in Osttimor zurWiederherstellung von Sicherheit und Friedenauf der Grundlage der Resolution 1264
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationenvom 15. September 1999– Drucksachen 14/1719, 14/1754 –Berichterstattung:Abgeordnete Gert Weisskirchen
Karl LamersDr. Helmut LippeltUlrich IrmerWolfgang GehrckeEs liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionder CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bun-desminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 16.September 1999 hat der Bundestag einen Antrag zurLage in Osttimor beschlossen. Dort heißt es:Der Deutsche Bundestag begrüßt die Entscheidungdes UN-Sicherheitsrates zu einem Mandat nachKapitel 7 der UN-Charta für eine internationaleFriedenstruppe für Osttimor. Mord, Terror undVertreibung in Osttimor durch die indonesischenMilizen müssen unverzüglich beendet werden …Die Aufgabe der Friedenstruppe ist es, die Men-schen zu schützen, Frieden und Sicherheit in Ostti-mor wiederherzustellen und das Ergebnis derVolksbefragung vom 30. August 1999 umzusetzen.Die entscheidende Frage, vor der die Bundesregie-rung demnach stand und vor der auch der DeutscheBundestag steht, ist, ob sich die BundesrepublikDeutschland daran beteiligen wird und, wenn ja, in wel-chem Umfang sie sich beteiligen wird.Wir sind der Meinung, daß die BundesrepublikDeutschland einer besonderen Verpflichtung unterliegt,dieses Thema sehr sorgfältig zu prüfen. Ich habe in derdamaligen Debatte bereits angekündigt, daß wir huma-nitäre Hilfe leisten wollen. Humanitäre Hilfe heißt indiesem Zusammenhang vor allen Dingen, daß wir unsam Wiederaufbau und an der unmittelbaren Katastro-phenhilfe beteiligen.Vizepräsidentin Petra Bläss
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5422 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Wir sind aber auch der Meinung, daß wir im Rahmenunserer Möglichkeiten einen Beitrag für Interfet, für dieinternationale Friedenstruppe, leisten sollten. DieserBeitrag soll nicht durch Kampftruppen und Kampfver-bände gestellt werden, sondern durch Sanitätssoldaten.
Die Bundesregierung hat beschlossen, Interfet bis zu100 Soldaten eines Sanitätskontingents zur Verfügungzu stellen. Wir haben darüber in den Ausschüssen aus-führlich beraten. Lassen Sie mich hier nochmals kurz dieGründe darstellen.Es war die Initiative der indonesischen Regierungvon Präsident Habibie, eine Volksabstimmung vorzu-schlagen und in einer Dreiparteienvereinbarung mitPortugal, Indonesien und dem UN-Generalsekretär zueiner solchen Volksabstimmung zu kommen.Diese Volksabstimmung führte zu einer fast achtzig-prozentigen Zustimmung der Bevölkerung zur Unab-hängigkeit. Bischof Belo hat mir letzte Woche persön-lich gesagt: Wir wollen keine Indonesier werden. Nach dieser Volksabstimmung unter Aufsicht derVereinten Nationen wurde eine Orgie der Gewalt losge-treten. Die Unabhängigkeit sollte gewaltsam unterdrücktwerden, respektive das Land sollte durch Zerstörung,durch Massenmord und Vertreibung zur Unabhängigkeitunfähig gemacht werden. Dieses war nicht hinnehmbar.Die internationale Staatengemeinschaft hat alle Mög-lichkeiten genutzt, die Zustimmung Indonesiens, dasseinen eigenen Demokratisierungsprozeß substantiellgefährdet hat, zu einer entsprechenden Sicherheitsratsre-solution herbeizuführen. Diese Sicherheitsratsresoluti-on 1264 ist dann bei Zustimmung aller Sicherheitsrats-mitglieder zustande gekommen. Die Volksrepublik Chi-na hat ebenfalls eine sehr konstruktive Rolle dabei ein-genommen. Die Konsequenz daraus ist, daß eine inter-nationale Friedenstruppe – keine Blauhelmtruppe – als„coalition of the willing“ aufgestellt wurde. Von Anfangan haben sich auch unsere wichtigsten europäischenPartner bereit erklärt, sich daran zu beteiligen: Frank-reich, Großbritannien, Portugal, Italien, aber auch Nor-wegen und Schweden.Die entscheidende Frage, die sich für uns stellte, war,ob wir uns bei diesem Thema abseits stellen könnenoder ob wir uns nicht im Rahmen unserer vertretbarenMöglichkeiten beteiligen müssen. Meine Damen undHerren, wenn wir uns hier nicht beteiligt hätten, wäreder Eindruck entstanden, daß sich die BundesrepublikDeutschland auf Europa zurückzieht, daß wir uns zwarim Kosovo mit allem, was wir haben, und bei jedem Ri-siko engagieren, daß wir aber nicht bereit sind, gemein-sam mit unseren europäischen Partnern für die VereintenNationen Solidarität zu zeigen und Verantwortung zuübernehmen. Dieses wäre eine falsche Entscheidunggewesen.
Wenn ich heute höre, daß dieses Prestigepolitik sei,dann möchte ich jenen, die so etwas sagen, nur entge-genhalten: Wir haben Interessen, und in der Welt vonmorgen werden die Vereinten Nationen als Plattformunserer Interessen eine wesentlich größere Rolle als inder Vergangenheit spielen.
– Was die Präsenz Deutschlands betrifft, was die Fähig-keit Deutschlands betrifft, den Kurs der Vereinten Na-tionen zum Beispiel auch in den Unterorganisationenaktiv mitzugestalten, so wird dies im Zeitalter der Glo-balisierung zukünftig verstärkt in unserem Interesse lie-gen. Weiterhin liegt es in unserem Interesse, daß dasGewaltmonopol der Zukunft in der Tat bei den Verein-ten Nationen im internationalen Staatensystem ist undnicht sonstwo.
Aus all diesen Gründen, aus VN-politischen Gründen,aus europapolitischen Gründen, können wir nicht übereine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, übereine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik spre-chen und uns dann, wenn es in der Tat unsere Partnerbetrifft – auch Portugal ist unser Partner –, ausklinken.Wir sind dafür in der Europäischen Union zu bedeutsam.Auf Deutschland wird in diesem Punkt zu sehr geschaut.Ich kann an dieser Stelle nur hinzufügen: Sowohl wasunser Engagement in den Vereinten Nationen als auchwas unser Engagement in Europa betrifft, ist dies nichtPrestigepolitik, sondern eine zukunftsorientierte, entlangunseren Interessen in den VN und in Europa orientiertePolitik.Wir leisten humanitäre Hilfe und werden sie auch inZukunft verstärkt leisten. Diese humanitäre Hilfe konnteaber auf Grund der Sicherheitslage nicht abfließen. Ichkann all denjenigen, die meinen, man könnte humanitäreHilfe im zivilen Bereich Interfet entgegensetzen, nurentgegenhalten, daß die Unterdrückung von Gewalt undvon Angriffen auf die zivile Bevölkerung durch diesemilitärische Intervention auf der Grundlage der Resolu-tion 1264 die Voraussetzung für die Arbeit ziviler Orga-nisationen ist.
– Es tut mir leid. Ohne Interfet wäre dort das Mordenweitergegangen; das müssen wir festhalten.
Deswegen bin ich mit allem Nachdruck für Interfetund habe mich dafür eingesetzt.Wir haben 1 Million DM für humanitäre Hilfe zurVerfügung gestellt, die nicht abfließen konnte; die Kol-legin Wieczorek hat unmittelbar 4 Millionen DM aus ih-rem Etat für Nahrungsmittelhilfe und für Anlagen zurWiederaufbereitung von Trinkwasser zur Verfügung ge-stellt. Wir werden weitere Wiederaufbauhilfen zur Ver-fügung stellen: Wir haben uns bereit erklärt, bis zu zehnJuristen für die zivile Verwaltung zu finanzieren, weildort die Zivilverwaltung faktisch völlig zusammenge-Bundesminister Joseph Fischer
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brochen ist. Das alles ist für die Entwicklung eines un-abhängigen Osttimors von entscheidender Bedeutung.Ich fasse all unsere Gründe noch einmal zusammen:Abwehr einer humanitären Katastrophe durch den Ein-satz von Interfet, Umsetzung eines freien Votums derbeeindruckenden Mehrheit dieser Bevölkerung, unsereSolidarität mit den Vereinten Nationen, unsere Solidari-tät mit unseren europäischen Partnern, unsere Interessenin Europa und in den Vereinten Nationen. Ich füge hinzu– hier sieht sich die Bundesrepublik in Kontinuität –:Wenn wir uns dort mit dem Beitrag, den wir heute hof-fentlich beschließen, zurückgehalten hätten, dann wür-den wir sofort gefragt, warum wir zu Zeiten von Suhar-tos Diktatur eine aktive Indonesien-Politik betrieben ha-ben, wir uns aber jetzt, wo es um die Umsetzung einesbeeindruckenden Votums der Bevölkerung dort unterder Aufsicht der Vereinten Nationen geht, im Gegensatzzu unseren europäischen Partnern zurückhalten. Diesenfalschen Eindruck dürfen wir nicht entstehen lassen.Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zu-stimmen. Wir tun das aus folgenden Gründen: Wir sehendarin eine im Kern unerläßliche humanitäre Aktion derVereinten Nationen: Wir haben natürlich ein Interessedaran, daß auch in Zukunft Interventionen, wenn sienotwendig werden, unter der Ägide der Vereinten Na-tionen stattfinden. Wir haben eine europäische Hinter-lassenschaft zu begleichen, für die wir alle mithaften sowie unsere europäischen Partner auch für unsere Ver-gangenheit. Die anderen Europäer beteiligen sich in zumTeil nennenswertem Maße. Die BundesrepublikDeutschland hat immer ein besonderes und aktives Ver-hältnis zu Indonesien gehabt. Wir tun das nicht zuletzt,weil wir – wie dieser Fall belegt – dringendst eine ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europabrauchen, die dieses Mal wieder nicht stattgefunden hat.
Herr Minister, die Regierung hat uns die Zustimmungnicht nur nicht leicht, sondern wirklich sehr schwer ge-macht. Es werden sich nicht alle Kollegen zu einem Jadurchringen, weil – wie dieser Fall zeigt – die Diskre-panz zwischen Ihren Haushaltsvorschlägen, vor allemden für den Verteidigungshaushalt, und dem, was Siehier vorschlagen, geradezu himmelschreiend ist. Sie sa-gen: Es gibt immer weniger Geld, aber mehr Aufgabenund damit höhere Ausgaben. Das kann doch nicht richtigsein.
Wir haben deswegen einen entsprechenden Ent-schließungsantrag eingebracht, der Sie, Herr MinisterScharping, unterstützt. Ich nehme an, daß Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von derSPD, unserem Antrag deswegen zustimmen werden.Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb Siees uns schwergemacht haben. Herr Minister, Sie habenzunächst vor dem Forum der Vereinten Nationen einedeutsche Beteiligung zugesagt und haben hinzugefügt:Ich bin sicher, daß der Deutsche Bundestag dem ingroßer Einmütigkeit zustimmen wird. Dann hat dieBundesregierung angekündigt, sie werde eine Beschluß-vorlage beschließen. Dann wurde dies verschoben, weiles keine Einigung über die Finanzierung gab. Dann ersthat man begonnen, mit den Fraktionen darüber zu reden.Das hat Ärger nicht nur bei uns, sondern selbstverständ-lich auch in Ihren Reihen hervorgerufen.Mir ist klar, daß gerade an diesem Beispiel eines be-scheidenen Beitrags zu den Interfet-Truppen in Osttimordie Problematik der Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts sehr deutlich wird. Es handelt sich umeinen wirklich sehr bescheidenen Beitrag, man könnteauch sagen: um einen symbolischen Beitrag. Ich bin un-bedingt dafür, daß wir ihn leisten. Aber daß sich hiermitder Deutsche Bundestag beschäftigen muß, ist eine Sa-che, über die man sehr wohl nachdenken muß. Ich habedarauf schon zu Beginn der Diskussion über das Urteildes Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Aber nunist es so, wie es ist. Weil Sie das wissen mußten, war esein wirklich grober Fehler, etwas zunächst öffentlich zu-zusagen und dann erst mit den Fraktionen über diesesThema zu reden. So geht es nicht, Herr Minister.
Ich sage wirklich mit allem Nachdruck: Das darf imInteresse der Politik unseres Landes nicht noch einmalvorkommen. Wir wissen doch, daß nach der keineswegsso übermäßig eindeutigen Entscheidung und den kei-neswegs erfreulichen Erfahrungen während des Kosovo-Krieges die Stimmung in allen Fraktionen für ein weite-res Engagement nicht gerade sehr glänzend war. Daswissen wir doch alle. Jedenfalls hätten Sie es wissenkönnen und müssen, Herr Minister.In der Debatte in meiner Fraktion hat es eine Reihevon guten Argumenten gegeben – es gab auch wenigergute Argumente, um das klar zu sagen –, die gegen einedeutsche Beteiligung gesprochen haben und sprechen.Welches ist eigentlich die tiefere Ursache für dieSkepsis, die allenthalben festzustellen ist? Ich glaube,daß das Gefühl, wir seien hier einem Druck und einemfast unwiderstehlichen Zwang ausgesetzt, bei den Kolle-gen eine große Rolle spielt. Verehrte Kolleginnen undKollegen, das müssen wir klar sagen: So ist es auch. Sieargumentieren – so habe ich auch argumentiert –: Unse-re europäischen Partner beteiligen sich, aber sie habenuns vorher nicht gefragt. Es hat in Europa keine gemein-same Beschlußfassung in der Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik stattgefunden. Wir haben nicht mit-wirken können, aber jetzt müssen wir uns beteiligen. Ichhalte es für richtig, daß wir uns beteiligen. Aber werwollte nicht verstehen, daß Kollegen, die sich nicht dau-ernd mit Außenpolitik beschäftigen, Bedenken undSchwierigkeiten haben? Es ist so, wie es ist. Dies müs-sen nicht nur die Außenpolitiker entscheiden, sondernBundesminister Joseph Fischer
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5424 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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das Parlament muß entscheiden. Ich habe Verständnisfür die Kollegen, die hier Schwierigkeiten haben.Nach meiner festen Überzeugung müssen wir natür-lich verschärft darüber nachdenken, welches die Voraus-setzungen sind, welche Kriterien wir anlegen. Ich weißauch – ich habe das selber einmal getan, übrigens zu-sammen mit dem Kollegen von Schmude seinerzeit –,daß dies im Einzelfall nur sehr begrenzt möglich ist. Ichgestehe ganz offen: Bei dem Kosovo-Entscheid habe ichgegen meine eigenen Kriterien entschieden. Die soge-nannte „exit strategy“, überhaupt die dahinter stehendepolitische Philosophie, fehlt bis heute, was ich auch im-mer wieder anmahne. Aber dennoch bestand ein Druck.Es ging nicht anders. Es war richtig, daß wir uns so ent-schieden haben. Wir haben Schlimmes verhindert,wenngleich auch einiges Schlimme eingetreten ist. Daswissen wir alle. Das Nachdenken über verschärfte Krite-rien wird allein nicht helfen.Was in der Zukunft entscheidend sein wird, ist, daßwir alles tun, um zu mehr Aktion statt zu Reaktion zukommen, zu mehr Prävention als Aktion. „Prävention“ist im Grunde nicht der richtige Ausdruck. Wir müsseneine wirklich umfassende und globale Strategie entwik-keln, die die Gefahr der Notwendigkeit des Einsatzesmilitärischer Mittel verringert.
Ich sage ganz nachdrücklich: Das vermisse ich.Ihre Rede vor den Vereinten Nationen, Herr Minister,beginnt damit, daß Sie darüber nachdenken, ob man dasVeto der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsratesnicht relativieren könne. Das ist richtig. Aber dann erstsagen Sie, wir müssen noch über mehr Prävention nach-denken. Das erstere führt zu Erleichterung der Interven-tion. Ich bin aber nachdrücklich dafür, daß wir sehr, sehrviel intensiver darüber nachdenken, wie wir Interventio-nen verhindern können.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt Kollege Volker Neumann.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage inOsttimor ist noch immer sehr unübersichtlich, und nichtjede Nachricht, die hier ankommt, ist verifizierbar. Wirhaben gemeinsam begrüßt, daß die internationale Frie-denstruppe unter Führung der Australier sehr schnell fürSicherheit in großen Gebieten in Osttimor gesorgt hat,und dafür gebührt diesen Soldaten und den Nationen, diedaran beteiligt sind, unser Dank.
Dem umsichtigen, aber konsequenten Einsatz dieserSoldaten ist es zu verdanken, daß Opfer bisher nicht zubeklagen sind. Die Milizen, die in Osttimor gewütet ha-ben, sind teilweise entwaffnet, teilweise in die Berge ge-flüchtet, teilweise nach Westtimor gegangen und teil-weise ganz außer Landes, das heißt nach Indonesien,abgezogen.Ob größere Angriffe in Zukunft zu erwarten sind, istungewiß. Wir hoffen, daß das nicht der Fall ist. DieFlüchtlinge kehren in Osttimor in die Städte und Dörferzurück, und aus Westtimor hat der Rücktransport nachOsttimor begonnen.Die Zahl der Toten ist ungewiß. Wahrscheinlich wirdman sie nie feststellen können, weil viele Menschen, dieweggegangen sind, nicht mehr in ihre Orte, in denen siegelebt haben, zurückkehren werden, und weil sicherviele Leichen unauffindbar bleiben.Zunehmend können Hilfsorganisationen ihre Arbeitaufnehmen. Es sind übrigens auch schon Mittel abgeflos-sen – für das Internationale Rote Kreuz, für die Ärzte fürdie Dritte Welt, für Terre des Hommes – und es sind Gel-der für Nahrungsmittelhilfe und für den Kauf von Medi-kamenten in Höhe von über 4 Millionen DM vom BMZzur Verfügung gestellt worden. Wir konnten alle im Fern-sehen beobachten, daß die Nahrungsmittel in Dili verteiltworden sind. Wir wissen, daß in Dili und in Baucau zu-mindest die medizinische Grundversorgung verbessertworden ist und daß entgegen vielen Meldungen das Kran-kenhaus in Dili funktioniert und nicht zerstört ist.Der Friedensnobelpreisträger Belo ist zurückgekehrtund steht wieder seinem Volk zur Seite. Wir erwartennun, daß nach der Wahl des indonesischen Präsidentenam 20. Oktober 1999 die Beratende Versammlung dieUnabhängigkeit von Osttimor erklärt und daß dann diezweite Phase einsetzt, nämlich die Blauhelmphase, wäh-rend der eine zivile Verwaltung aufgebaut wird und einfunktionierendes Staatswesen entsteht. Dazu wollen wirbeitragen; die Resolution vom 16. September 1999drückt das aus.Heute geht es um die Frage, ob wir uns noch an demEinsatz der Friedenstruppe beteiligen, die gemäß Ka-pitel VII der UNO-Charta angetreten ist. Dabei findetdas Verfahren, aber auch der Inhalt des Beschlusses be-sondere Beachtung. Das galt auch früher bei den Einsät-zen in Somalia und Kambodscha schon so – diese warenübrigens nicht eurozentriert, sondern außerhalb Euro-pas – und natürlich bei den Einsätzen in Bosnien und imKosovo.Am 16. September 1999 hat der Bundesaußenmini-ster zur Überraschung mancher Kollegen erklärt, nachBeratung mit den Fraktionen werde ein Kontingent derBundeswehr, eine Sanitätseinheit, entsandt werden. Bisdahin hieß es, Truppen würden nicht entsandt werden.Gemeint waren wohl Kampftruppen, aber das wurde nieso deutlich gesagt. Am Tag zuvor war die Resolution1264 beschlossen worden, in der die Vereinten Nationenum die Entsendung von Truppen gebeten hatten.Am 22. September 1999 hat der Außenminister inNew York erklärt, wir würden einen Beitrag mit Sani-Karl Lamers
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5425
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tätstruppen leisten; er sei sicher, daß der Bundestag zu-stimmt. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zum 4. Okto-ber dieses Jahres, waren weder die Fraktionen noch diezuständigen Ausschüsse über die Hintergründe infor-miert worden. Erst am Dienstag sind die Aufgabe undder genaue Umfang des Kontingents sowie die zu er-wartenden Kosten und deren haushaltsmäßige Bereit-stellung den Abgeordneten bekannt gemacht worden. Eshat also drei Wochen gedauert, bis das Parlament unter-richtet worden ist.
Dies haben wir gerügt. Der Außenminister hat dies be-dauert und erklärt, daß das Parlament demnächst recht-zeitig informiert wird. – Bundesminister Joseph Fischernicht – Er hat verstanden,
daß dies ein einmaliger und nicht wiederholbarer Vor-gang bleiben muß. Ich persönlich hoffe, daß wir nichtallzuhäufig über solche Vorgänge diskutieren müssenund daß die Entscheidung über den Einsatz der Bundes-wehr eine absolute Ausnahme in der Parlamentsge-schichte bleibt.
In meiner Fraktion gab es eine ganze Reihe von Ab-geordneten, die diese Entscheidung kritisiert haben. Ichmöchte nur vier Gründe beispielhaft auflisten: ErsterEinwand. Wir haben immer den Vorrang der regionalenKonfliktvermeidung und -bewältigung betont. DerAufbau regionaler Sicherheitsstrukturen ist – gemäß un-seren eigenen Erfahrungen in Europa – von uns in derganzen Welt gefördert worden. Deshalb waren wir froh,daß die Region um Osttimor die Verantwortung ange-nommen hat. Die Asean-Staaten, unter maßgeblicherBeteiligung von Thailand, den Philippinen, Singapur,Malaysia und Australien – Nachbarland von Osttimor –,aber natürlich auch Japan, Korea, Neuseeland und Chinaleisten Beiträge. Eine stärkere Beteiligung von Staatenaußerhalb der Region – dies sagen viele bei uns – wirkediesen positiven Entwicklungen entgegen. Deshalb wur-de aus Südostasien schon sehr viel Kritik an einer Betei-ligung von Staaten außerhalb der Region laut.Zweiter Einwand. Der Bedarf ist nicht nachvollzieh-bar. Die in Darwin stationierten Bundeswehrsoldatensollen Verletzte aus Osttimor ausfliegen. Nach der Lan-dung der Friedenstruppe, nach der Entwaffnung der Mi-lizen und noch in Anwesenheit des indonesischen Mili-tärs gab es – Gott sei Dank – keine Opfer. Es gab nachmeiner Kenntnis nur einen Menschen, der bei der Entla-dung eines Flugzeugs verletzt worden ist.Ich bin auch darüber informiert worden, daß Austra-lien die notwendigen Maßnahmen für die medizinischeVersorgung der eigenen Truppen getroffen hat. Außer-dem ist uns bekanntgemacht worden, daß ein Lazarett-schiff der USA nach Osttimor unterwegs ist. Im übrigenhaben sechs Staaten Sanitätseinheiten angeboten undzum Teil bereits stationiert. Neun Staaten haben Trans-portmittel angeboten.Der dritte Einwand bestand darin, daß bis zum14. September 1999, also einen Tag vor der Resolution,das Department of Peacekeeping Operations der Ver-einten Nationen uns um zivile Hilfe bei der Wiederauf-bauphase gebeten hat. Diese Bitte hat das Departmentspäter, am 23. September, wiederholt. Nach unsererKenntnis wurde bis zu diesem Zeitpunkt keine militäri-sche Hilfe angefordert. Es lagen ja auch genug Angebotevon Staaten aus der Region und darüber hinaus vor.Auf den vierten Einwand möchte ich nicht weitereingehen, nämlich auf die Frage der Kosten. Wir alleverstehen, daß der Verteidigungsminister schon häufigerdarauf hinweisen mußte, daß nicht immer mehr Anfor-derungen und Aufgaben an ihn herangetragen werdendürfen, wenn der Verteidigungshaushalt die gleiche Hö-he wie bisher behalten soll.
Aber es ist auch das Verhältnis zwischen den Aufwen-dungen für militärische Operationen und für humanitäreHilfe kritisiert worden. 5 Millionen DM werden jetzt fürhumanitäre Soforthilfe ausgegeben. Der Minister hatdarauf hingewiesen, daß dies die Kosten für einen ein-monatigen Einsatz der Sanitätseinheiten sind. Auch diesist kritisiert worden, insbesondere deshalb, weil wir dengesamten Ansatz für humanitäre Hilfe auf 58 Millio-nen DM kürzen mußten. Das ist fast so viel, wie ein hal-bes Jahr dauernder Einsatz der Bundeswehr in Osttimorkosten würde.Alle diese Einwände wurden von meiner Fraktion zu-rückgestellt. Sie haben nicht dazu geführt, daß wir denAntrag ablehnen werden. Im Gegenteil: Wir werden ihmzustimmen. Der Grund für unsere Zustimmung ist dievon uns allen immer wieder gestellte Forderung nachStärkung der Vereinten Nationen. Im konkreten Fallhatte es im Vorfeld Schwierigkeiten beim Einsatz vonUnamet, die das Referendum organisiert hat, gegeben.Aber danach haben die Vereinten Nationen mit Zustim-mung der Indonesier sehr schnell gehandelt. In diesemFall gab es für uns keine andere Möglichkeit, als sehrschnell der Aufforderung des Generalsekretärs der Ver-einten Nationen zu folgen und einen eigenen Beitrag zuleisten. Denn wir haben immer wieder gefordert, daß dieVereinten Nationen in Konfliktfällen schnell und effek-tiv tätig sein sollen. Es entsprach in diesem Fall denaußenpolitischen deutschen Interessen, einen Beitrag zuleisten. Wir wollen uns überhaupt auf allen Ebenen en-gagieren.Der Außenminister hat vor der Generalversamm-lung die Zusage erteilt, daß wir eine Bundeswehreinheitentsenden. Auf diese Zusage muß sich die Weltgemein-schaft verlassen können.
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit müssen Merkmaledeutscher Außenpolitik bleiben. Das bedeutet nicht injedem Fall, daß sich die Bundeswehr an solchen Missio-nen beteiligen kann und muß. Jeder Fall muß einzelnVolker Neumann
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beobachtet werden, und die Beteiligung muß gerechtfer-tigt sein. Zu Recht ist insbesondere von Ulrich Klosedarauf hingewiesen worden, daß wir miteinander disku-tieren müssen, wie wir in Zukunft mit solchen Anforde-rungen umgehen. Der Außenminister hat zugesagt, daßer die Diskussion mit dem Parlament beginnen will.Ein zweites wichtiges Argument, das dafür gespro-chen hat, zuzustimmen, ist, daß die europäischen Part-ner Leistungen erbringen und daß wir nicht erwartenkönnen, daß sich allein Italien, Frankreich, Schweden,Großbritannien und Portugal – auch aus Gründen derkolonialen Vergangenheit – der Verantwortung stellen,dort zu helfen. Es ist überlegenswert, daß wir die Lastender kolonialen Vergangenheit unserer europäischenPartner gemeinsam tragen sollten, so wie diese immerwieder unsere Lasten mittragen.In diesem Rahmen hat die Zusage des Außenmi-nisters trotz erheblicher Belastungen der Bundesrepublikfür Bosnien und für den Kosovo einen Sinn. Sie könnteein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen euro-päischen Außenpolitik sein. Allerdings müßten wir da-für einen Abstimmungsprozeß mit dem Parlament an-mahnen, der in diesem Fall nicht stattgefunden hat. DieSPD wird dem Antrag daher nach Abwägung allerAspekte zustimmen. Sie wird aus den Erfahrungen die-ser Debatte jedoch Schlußfolgerungen ziehen.Den Osttimoresen wünschen wir einen friedlichenWeg in die Zukunft, jedenfalls einen friedlicheren als inder Vergangenheit. Wir hoffen, daß die Weltgemein-schaft für den Wiederaufbau genauso schnell wie in derVergangenheit mit dem Militär zur Verfügung steht.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch dar-auf hinweisen, daß es nicht nur Osttimor, sondern auchWesttimor gibt. Wir müssen immer auch die Auswir-kungen unserer Handlungen auf Westtimor und auf ganzIndonesien betrachten. Wir müssen Indonesien auf demschwierigen Weg der Demokratisierung und der Stabili-sierung begleiten. Mit der Konstitutionierung des Parla-ments in Jakarta und mit der Erklärung, Osttimor in dieUnabhängigkeit zu entlassen, hat man in Indonesieneinen wichtigen Beitrag geleistet, einen langen Konfliktzu beenden –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Neumann,
denken Sie bitte an die Redezeit.
– und die Be-
ziehungen zur EU zu entkrampfen.
Unserer Bundeswehr und insbesondere ihren Sani-
tätseinheiten, die bereits in der Vergangenheit in Kam-
bodscha, in Bosnien und im Kosovo große Leistungen
erbracht haben, möchten wir Dank sagen. Wir wissen
um ihren schweren Dienst und um die auf sie zukom-
menden Belastungen. Wir wünschen den Soldatinnen
und Soldaten viel Glück bei der Bewältigung der Auf-
gabe und eine gesunde Rückkehr. Wir hoffen, daß ihr
Einsatz von kurzer Dauer ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Walter Hirche
für die F.D.P.-Fraktion das Wort erteile, möchte ich dar-
auf hinweisen, daß nunmehr auch ein Entschließungs-
antrag der Fraktion der F.D.P. zu diesem Antrag vor-
liegt. Er steht am Abschluß dieser Debatte genauso wie
die anderen vorliegenden Entschließungsanträge zur Ab-
stimmung.
Bitte, Herr Kollege Hirche.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion wird dem An-trag der Regierung zustimmen.
Wir stimmen dem Antrag zu, weil er auf der klarenRechtsgrundlage eines UN-Mandats basiert. Wir wollenin einer schwierigen Menschenrechtssituation und beimAufbau des Friedens helfen.Wir stimmen der Beurteilung des Außenministers zu,daß die Herstellung einer Sicherheitslage die Vorausset-zung zum friedlichen Aufbau ist. Herr Bundesaußenmi-nister, man muß trotzdem fragen, in welcher Form dieBundesrepublik Deutschland ihren Beitrag in optimalerWeise leisten sollte. Wir alle haben eben gehört, wie derKollege Neumann festgestellt hat, daß der Außenmi-nister vor den Vereinten Nationen eine Zusicherung füreinen Einsatz Deutschlands gegeben hat, der innerhalbder Bundesregierung nicht abgestimmt war und der– das sehen wir am Ergebnis heute – offenkundig auchmit den UN nicht abgestimmt war. Heute sagt die Regie-rung, daß die UN im Rahmen ihrer Maßnahmen genaudiesen Beitrag von Deutschland erbitten und für richtighalten. Wir nehmen zur Kenntnis, daß sich diese Ent-wicklung so ergeben hat.Wir gehen bei unserem Ja auch davon aus, daß wiruns im Rahmen der Aktionen unserer europäischenPartner bewegen. Das ist in diesem Zusammenhang einwichtiger Faktor, denn wir sollten uns, auch wenn wirDeutsche in einer bestimmten Situation Fragen haben,nicht auf einen nationalen Sonderweg zurückziehen,sondern immer den Dialog mit unseren europäischenPartnern suchen und im Rahmen der von der UN vorge-gebenen Rechtslage handeln.
Aber, meine Damen und Herren – das haben die Red-ner der beiden anderen Fraktionen auch deutlich ge-macht –, Zweifel und Unbehagen nicht wegen der Sacheselbst, sondern im Hinblick auf die Art und Weise, wieinsbesondere der Außenminister vorgegangen ist, blei-ben. Die Bedeutung und der Umfang der Aktion, für dieheute um Zustimmung des Bundestages gebeten wird,Volker Neumann
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ist geringer als der Kosovo-Einsatz. Es knüpfen sichaber viel mehr Fragen an diese Entscheidung; insbeson-dere stellen einige meiner Kollegen die bange Frage, obwir nicht durch die Art und Weise, wie die Bundesregie-rung hier vorgegangen ist, in einen Automatismus hin-einrutschen, wenn zwar formal daran festgehalten wird,daß wir von Fall zu Fall entscheiden, aber in Wirklich-keit dadurch, daß ein Minister innerhalb der Regierungeigenmächtig handelt, alle anderen in einen Sog hinein-geraten.
Deswegen will ich die kritischen Punkte noch einmalkurz benennen.Da war das unabgestimmte Vorpreschen des Au-ßenministers, das gutgemeint war – das will ich fest-halten –;
aber nicht immer ist das, was gutgemeint ist, schon inder Sache das Optimale und Hilfreichste. Der KollegeNeumann hat das für die SPD ja eben genauso deutlichgemacht wie vorher der Kollege Lamers.Auch den Zeitfaktor möchte ich noch einmal anspre-chen: Die Regierung streitet untereinander 21 Tage undverlangt dann vom Parlament, innerhalb von 24 Stundeneine Entscheidung zu treffen.
Das widerspricht dem Geist des Karlsruher Urteils.
Karlsruhe hat mit seinem Urteil deutlich gemacht, daß inso schwerwiegenden Fragen der Bundestag gefragt wer-den muß. Deswegen muß die Regierung dann auch demBundestag einen ausreichenden zeitlichen Rahmen er-öffnen und entsprechende Sachinformationen geben,damit er die Möglichkeit hat, in eine echte Beratung ein-zusteigen und zu einer echten Zustimmung zu kommen.Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht – dashaben wir im Ausschuß getan – allzuviel zu den schlam-pigen Formulierungen in der Antragsbegründung selbstsagen, die wir kritisieren. Herr Kollege Neumann hatdarauf hingewiesen, daß an einer Stelle im Zusammen-hang mit den Akten der indonesischen Regierung von„nationalistischen Bestrebungen“ die Rede ist; hier liegteine Verwechslung vor, da nationale Bestrebungen vonden Osttimoresen kommen und nicht umgekehrt.Lassen Sie mich auch noch auf den Finanzaspekt zusprechen kommen. Auch an diesem Punkt ist die Be-gründung im Antrag nicht so, wie man sie sich wün-schen würde. Angesichts des Beitrags von Norwegen,den Niederlanden und anderen klingt die Formulierungder Bundesregierung in ihrem Antrag, der deutsche Bei-trag entspreche der angespannten Haushaltslage, unpas-send. Ich würde doch im Interesse einer guten europäi-schen Zusammenarbeit und angesichts des Engagementsanderer europäischer Staaten darum bitten, daß unser ge-ringerer Beitrag nicht so hochgepustet und in den Zu-sammenhang mit der Haushaltslage gestellt wird.
Genauso wichtig ist es, sich einmal den Ausgabestanddes Kapitels anzuschauen, aus dem unser Beitrag finan-ziert werden soll. In dem Kapitel 14 03 sind als Gelderfür internationale Hilfen – das ist jetzt etwas technisch –50 Millionen DM veranschlagt. Mit Datum 18. August1999 waren 458 Millionen DM aus dem entsprechendenTitel ausgegeben worden; inzwischen sind es über500 Millionen DM.
Das bedeutet eine Überausschöpfung von über 1 000Prozent.Der gleiche Ansatz ist für das Jahr 2000 wieder ver-anschlagt worden, obwohl wir wissen, daß die Präsenzder Bundeswehr in Darwin über den 31. Dezember 1999hinausgeht. Ich freue mich deswegen, daß der Haus-haltsausschuß vor wenigen Stunden auf Antrag meinesKollegen Hoyer beschlossen hat, den Bundesrechnungs-hof aufzufordern, eine Auskunft darüber zu geben, wiein Zukunft mit einem solchen Haushaltstitel umgegan-gen werden soll. Denn die bisherige Weise entsprichtnicht den Prinzipien der Haushaltswahrheit und derHaushaltsklarheit, die wir hochhalten sollten.
Natürlich können und müssen wir fragen: Ist das diebeste Hilfe, die Deutschland geben kann? Deswegen ha-ben wir, die F.D.P.-Fraktion, einen Antrag eingebracht,der in Abs. 3 zum Ausdruck bringt, daß wir durchausakzeptieren, daß in diesem Zusammenhang die Entsen-dung von Sanitätern und von Transportmaschinen, sowie Sie das wollen, nur eine Möglichkeit ist. Insbeson-dere auf Grund dessen, was andere Kollegen festgestellthaben, haben wir an die Bundesregierung die dringendeBitte, innerhalb der nächsten acht Wochen zu prüfen– lassen Sie mich das präzise formulieren –, ob es nichtandere Formen der Hilfe gibt, die für den Aufbau- undFriedensprozeß viel effizienter sind, weil die Sicher-heitslage möglicherweise durch andere besser organi-siert wird.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion stelltalle von mir vorgetragenen Bedenken zurück. Denn wirglauben, daß am Ende eine Zustimmung weltweit imwohlverstandenen deutschen Interesse liegt – nicht nurim UN-Interesse, sondern auch im deutschen Interesse.Wir haben an die Bundesregierung die dringende Auf-forderung, das, was hier von allen Fraktionen moniertworden ist, in Zukunft zu beherzigen –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hirche, den-ken Sie bitte an Ihre Redezeit.Walter Hirche
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5428 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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– darf ich nur noch meinen
Gedanken zu Ende führen – und außerdem gemeinsam
mit dem Parlament eine Strategie zu entwickeln, wie
Deutschlands Interessen in einer neuen Weltordnung zu
definieren sind. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Das
können wir nicht im Zusammenhang mit einer anstehen-
den Aktion einmal so eben abhaken.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der Präsident
der Nationalversammlung des Königreichs Kambo-
dscha, Norodom Ranariddh, und seine Delegation Platz
genommen.
Königliche Hoheit, ich begrüße Sie und die Kolle-
ginnen und Kollegen aus dem kambodschanischen
Parlament im Namen aller Mitglieder des Deutschen
Bundestages sehr herzlich. Mit besonderer Aufmerk-
samkeit und Anteilnahme verfolgen wir die Bemühun-
gen Ihres Landes um politische Stabilisierung, innere
Aussöhnung und wirtschaftliches Wachstum. Hierzu
leistet die Nationalversammlung einen wesentlichen
Beitrag. Seien Sie versichert, daß der Deutsche Bun-
destag Ihr Parlament auf dem beschwerlichen Weg zur
Verankerung demokratischer Institutionen, Rechts-
staatlichkeit und Wohlstand nach besten Kräften unter-
stützen wird.
Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Car-
sten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege
Fischer! Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vorletzte
Woche die Möglichkeit gehabt, mir die Situation in Ost-
timor vor Ort anzusehen und einen direkten Eindruck
von den grauenvollen Verwüstungen und Vertreibungen
seit dem Tag des Unabhängigkeitsreferendums am
30. August 1999 zu bekommen. Glauben Sie mir, daß
ich allein deshalb jede denkbare Initiative unterstützen
werde, die den Menschen dort hilft,
die ihnen die Chance auf einen wirklichen Neuanfang
eröffnet und die – denn das ist die dringlichste Frage, die
sich momentan stellt – ihnen, vor allem den alten Men-
schen und Kindern, in den nächsten Wochen und Mo-
naten das Überleben sichert.
Denn die Regenzeit steht vor der Tür. Jede und jeder
von Ihnen kann sich ausmalen, was das bedeutet – was
es bedeutet, wenn ein Großteil der Häuser niederge-
brannt und ausgeplündert worden ist, wenn die Wasser-
und Abwasserversorgung systematisch zerstört wurden,
wenn die medizinische Versorgung in der Fläche, gerade
im ländlichen Raum, nicht mehr existiert und wenn es
besonders für die Flüchtlinge, die sich in den Bergen
aufhalten, noch immer große Probleme mit der Lebens-
mittelversorgung gibt.
Weil diese Situation so ist – meine Vorredner haben
sie ja ähnlich geschildert –, kann ich dem Antrag der
Bundesregierung nicht zustimmen, und genau deshalb
wird meine Fraktion den Antrag ablehnen.
Denn die von Ihnen anvisierte Entsendung von zwei
Transall-Maschinen mit bis zu 100 Sanitäts- und Be-
gleitsoldaten ist aus Sicht eines Entwicklungs- und Men-
schenrechtspolitikers und auch aus fachlicher Sicht
durch nichts zu begründen. Sie hilft weder den Men-
schen in Osttimor, noch besteht nach derzeitiger Ein-
schätzung der Lage seitens der internationalen Truppen
ein realer Bedarf. Das sehe ich nicht allein so, Herr Fi-
scher; das ist auch die Einschätzung vieler Fachpolitiker
in Ihren eigenen Reihen, wie unter anderem die Aus-
schußberatungen gezeigt haben.
Daß es heute dennoch zu einer mehrheitlichen Zu-
stimmung zu Ihrem Antrag kommen wird, verdanken
Sie deshalb allein der Disziplinierung Ihrer eigenen
Leute.
Wirklich überzeugen konnten Sie mit Ihrem Antrag und
den Erläuterungen Ihres Ministeriums in den Ausschüs-
sen meiner Einschätzung nach jedenfalls niemanden,
dem die möglichst zielgenaue und bedarfsgerechte Hilfe
für Osttimor mehr am Herzen liegt als uniformierte in-
ternationale Reputation,
deren Preis nicht nur hoch, sondern in diesem Fall zwei-
fellos auch die Sinnlosigkeit eigenen Handelns darstellt.
Sie wissen das selbst am besten.
– Zwischenfragen bitte am Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hübner, ge-
statten Sie die Zwischenfrage jetzt?
Am Ende.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das geht nur
jetzt oder gar nicht.
Nein, jetzt nicht. – Andersals von der Regierungsseite behauptet, gibt es seitens derVereinten Nationen keine spezielle Anforderung vonmilitärischer Unterstützung durch die Bundesrepublik,auch nicht im Sanitätsbereich. Zumindest konnte unsauch in den Ausschußberatungen, die erst gestern statt-fanden, nichts Diesbezügliches vorgelegt werden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5429
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Auch ist mir seitens der internationalen Truppe nichtbekannt, daß sie in den vergangenen Wochen Defiziteim Sanitätsbereich oder in Fragen des luftgestütztenKrankentransports beklagt und in Richtung Bundesrepu-blik entsprechende Forderungen aufgemacht hätte. Stattdessen ist festzustellen, daß dort, wo die Transall-Maschinen in Osttimor überhaupt nur landen können,die Krankenversorgung als gesichert gelten kann, weilerstens die dortigen Krankenhäuser glücklicherweiseintakt geblieben sind, die zumindest in der Hauptstadtihre Arbeit seit geraumer Zeit wieder aufgenommen ha-ben, und weil zweitens die an der internationalen Truppebeteiligten Kontingente dort zusätzliche Sanitätseinhei-ten bis hin zu Feldlazaretten stationiert haben.Sowohl meine Gesprächspartner der UNO als auchdie des Internationalen Roten Kreuzes haben diese Ein-schätzung der medizinischen Versorgungslage durchwegbestätigt und ausdrücklich darum gebeten, aus Deutsch-land nicht auch noch ein Feldlazarett oder militärischeSanitätseinheiten zu schicken.
Statt dessen gebe es großen Bedarf an Medikamenten,an medizinischem Gerät und an mobilen Ärzteteams, diein der Fläche, das heißt, die auf dem Lande und in denBergen die Versorgung der Menschen, zumal derFlüchtlinge, gewährleisten und darüber hinaus damit be-ginnen, eine flächendeckende Basisversorgung zu re-organisieren.
Das ist allemal die sinnvollere Variante, als für mehr als5 Millionen DM pro Monat ein Bundeswehrkontingentzu postieren,
das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zurTatenlosigkeit verdammt sein wird; denn bisher ist esglücklicherweise zu keinen schwerwiegenden Ausein-andersetzungen im Rahmen der Mission gekommen. Esgibt auch keine Informationen, daß diese Gefahr besteht.Ich frage Sie, Herr Fischer: Was sollen also dieseFlieger, die die internationale Truppe offenkundig nichtbraucht und die auch der Zivilbevölkerung nichts nüt-zen? Ich kann es Ihnen sagen: Die Flieger sind, nebendem Ansinnen, international zu einem selbstverständli-chen militärischen Akteur zu werden, der Holterdiepol-ter-Versuch, Ihre fachlich nicht untersetzte und vonniemandem geforderte New Yorker Ankündigung ir-gendwie mit Leben zu erfüllen. Dafür haben wir keinVerständnis.
Denn das Geld, das unser Sparkommissar, HerrEichel, ohne große Diskussion lockerzumachen bereitist, hätte er wohl leider niemals, schon gar nicht in die-ser Höhe, für Maßnahmen zur Verfügung gestellt, diereinen Soforthilfe- und Wiederaufbaucharakter trü-gen. Vergleichen Sie die Zahlen: Rund 6 Millionen DMgibt es insgesamt vom Auswärtigen Amt und vom BMZfür Lebensmittel, Wasser/Abwasser, flächendeckendemedizinische Versorgung und andere Maßnahmen derBasisversorgung, monatlich aber über 5 Millionen DMfür das Bundeswehr-Sanitätskontingent. Diese Zahlenoffenbaren eine Denkweise, Herr Fischer, die ich außer-ordentlich bedenklich finde.
Es hieß mehrfach, mit dem Sanitätskontingent wür-den wir unsere Verbundenheit mit und unsere Entschlos-senheit gegenüber der UNO und der Osttimor-Missionzum Ausdruck bringen. Dieses Signal trüge wesentlichzum Erfolg der Mission bei. Es wird also als wichtig ge-nug erachtet, um wahrscheinlich weit mehr als20 Millionen DM letztendlich sinnlos zu verpulvern. Ichsehe die Bedeutung dieses Signals anders. Ich bin näm-lich der Meinung, daß nur eine möglichst rasche und be-darfsgerechte humanitäre Hilfe der UNO-Mission inihrer Substanz zum Erfolg verhilft.
Dafür brauchen wir aber genau die finanziellen Mittel,die Sie gerade für Ihr Signal aus dem Fenster werfen.Meine Fraktion fordert deshalb, die für das militäri-sche Sanitätskontingent bereitgestellten Mittel gänzlichdem zuständigen Fachministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung zur Verfügung zustellen,
um sie für Maßnahmen verwenden zu können, die tat-sächlich die schlimmste Not lindern helfen und bereitsden Wiederaufbau zum Ziel haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hübner, Sie
müssen zum Schluß kommen.
Mein letzter Satz: Nach den
massiven Kürzungen im Haushalt des BMZ für UNO-
Organisationen würde das unserer Glaubwürdigkeit ge-
genüber den Vereinten Nationen sicher mehr helfen als
das, was Sie vorhaben – von den Menschen in Osttimor
einmal ganz abgesehen.
Außerdem: Sie haben beklagt, daß die Mittel nicht
abfließen. Wo ist denn Ihr Koordinationsbüro in Ost-
timor? Bislang habe ich davon nichts gehört. In Darwin,
wo die Möglichkeiten dafür bestünden, ist lediglich eine
Delegation gewesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hübner, Sie
müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist um.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-vention erteile ich dem Kollegen Christian Ströbele,Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Carsten Hübner
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5430 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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ne Zwischenfrage zugelassen. Ich möchte aber auf einenWiderspruch hinweisen, den ich in Ihrer Argumentationund auch in dem Antrag der PDS sehe.Sie beklagen einerseits, daß sich die Vereinten Natio-nen „spät – aber offenbar nicht zu spät – zu dieser Inter-vention“, der militärischen Intervention, entschlossenhaben. Das kann doch nur so interpretiert werden, daßSie dieser Intervention grundsätzlich positiv gegenüber-stehen. Wenn das so ist, dann frage ich mich: Wie ist eszu erklären, daß Sie trotzdem gegen deutsche Hilfe sind?In Ihrem Antrag stellen Sie gleichzeitig fest, daß seitensder Vereinten Nationen „ein allgemeines Hilfeersuchen“vorliegt. Wie steht es mit dem auch von der PDS hoch-gehaltenem Grundsatz der internationalen Solidarität,wenn sich Deutschland diesem Hilfeersuchen der Ver-einten Nationen verweigert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Kollege Hübner, bitte.
Kollege Ströbele, es tut mir
leid, daß ich Ihre Zwischenfrage nicht zugelassen habe,
aber es ging darum, im Kontext zu sprechen. Was mir
auch leid tut, ist, daß Sie ab dem Zeitpunkt, an dem Sie
Ihre Frage stellen wollten, meiner Rede offenbar nicht
mehr gefolgt sind; denn genau dazu habe ich gespro-
chen.
„Internationale Solidarität“, um es einmal bei diesem
Begriff bewenden zu lassen, drückt sich nicht darin aus,
daß ich Unsinniges tue, nur weil andere etwas tun –
Sinnvolles. Wenn das Interfet-Kontingent also im Mo-
ment gar keinen Bedarf an unserer Beteiligung hat, halte
ich es nicht für ein Zeichen internationaler Solidarität,
trotzdem mitzumachen. Wenn es aber großen Bedarf im
humanitären Bereich gibt, halte ich es für ein Zeichen
internationaler Solidarität, da aktiv zu werden. Genau
darum geht es uns.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß die
Argumentation deswegen zumindest eigenartig anmutet,
weil der Kollege Hübner in Darwin war und mehrere
Tage darauf warten mußte, daß Interfet bei der Schaf-
fung sicherer Bedingungen Erfolg hat, die ihm erst die
Reise nach Osttimor ermöglicht haben. Den Außenmi-
nister anzuklagen, er sei mit dem Koordinationsbüro
nicht vorangekommen, ist schon deswegen bemerkens-
wert, weil Sie, Herr Kollege Hübner, die Mitarbeiter des
Auswärtigen Amtes während der ganzen Zeit ziemlich
beschäftigt haben. Das wollte ich erwähnt haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hübner?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Im Gegensatz zu ihm und seiner Praxis: Gerne.
Kollege Scharping, ich be-
danke mich zunächst einmal für die äußerst persönliche
Ansprache. Ich weiß sie zu schätzen, obwohl ich den
Versuch der persönlichen Diskreditierung, der zumin-
dest mitschwang, im Zusammenhang mit dieser sachli-
chen Debatte für außerordentlich unangenehm halte. Wir
haben auch keine persönlichen Angriffe gegen Sie oder
den Außenminister geführt. – Das aber nur vorneweg.
Das zweite ist: Einem jeden Abgeordneten steht es
selbstverständlich zu, Dienstreisen zu unternehmen.
Diese Dienstreise ist ordnungsgemäß genehmigt wor-
den.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hübner,
stellen Sie bitte Ihre Frage an den Minister.
Die Frage ist: Habe ich zu-künftig immer solche außerordentlichen Erwähnungenzu erwarten, wenn ich Reisen unternehme, bei derenDurchführung mir im Zweifelsfall das Auswärtige Amtoder die Botschaft behilflich ist?
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Kollege Hübner, ich kann Ihnen jedenfallsversprechen, daß Sie solche – wie Sie es empfinden –außerordentlichen Erwähnungen immer dann erzielenwerden, wenn Sie zwiespältig, widersprüchlich und un-sachlich argumentieren. Dann müssen Sie sich damitschon auseinandersetzen. Das wird Ihnen häufiger pas-sieren.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5431
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Aber das war mir nicht das Wichtigste. Viel wesentli-cher ist, daß man nicht auf der einen Seite Interventio-nismus und das Fehlen eines Kontaktbüros beklagen undauf der anderen Seite genau die Menschen beanspruchenkann, deren Untätigkeit man hinterher beklagt. Das gehtnicht.Wichtiger allerdings ist, daß sich die internationaleStaatengemeinschaft in Osttimor nun tatsächlich, ähn-lich wie im Kosovo, einer humanitären Katastrophe ge-genübersah. Das wird auch durch die Ergebnisse einerFact-finding-Mission von Angehörigen der Bundeswehrbestätigt, die nach der Debatte des Deutschen Bundesta-ges am 16. September dort hingeschickt wurden, umherauszufinden, was denn überhaupt ein für die Bundes-republik Deutschland möglicher und in der Region sinn-voller Beitrag zur Bewältigung der Aufgaben seinkönnte, denen sich Interfet gegenübersieht.Es ist schon richtig – das hat der Kollege Neumann ineiner in vielerlei Hinsicht sehr differenzierten Rededeutlich gemacht –, daß angesichts dieser KatastropheUntätigkeit nicht verantwortbar wäre und daß man dieFrage stellen muß: Was ist in geeigneten Schritten auchunter deutscher Beteiligung sinnvollerweise zu tun?Über 400 000 Menschen sind vertrieben worden. Kei-ner kann genau sagen, wie viele von ihnen ermordetworden sind. Mit Blick auf den Kollegen Lamers willich, weil wir hier doch eher eine Debatte führen sollten,als Statements abzulesen – das ist kein Vorwurf an Sie,Herr Kollege Lamers, im Gegenteil –, sagen: Natürlichmuß man im Falle Osttimors im Zusammenhang mit derPrävention die durchaus kritische Frage stellen, ob dieDurchführung der Volksabstimmung nicht auch zu derErwägung hätte führen sollen, daß diese Volksabstim-mung ein bestimmtes Ergebnis mit entsprechenden Re-aktionen haben könnte. Sie wissen alle, wie schwierig esist, ein Land wie Indonesien dazu zu bewegen, gewis-sermaßen präventiv Sicherheitsmöglichkeiten für denFall zu schaffen, daß es zu einem Ausbruch von Gewaltkommt – aus vielerlei Gründen, die ich jetzt nicht dar-stellen kann. Wir werden uns allerdings für die Zukunftüberlegen müssen, ob die Prävention nicht auch ein-schließen müßte, daß man solche Dinge vorher etwasgenauer durchdenkt und dann auch die entsprechendenVorbereitungen trifft.Nach der Entscheidung über die Unabhängigkeit undnach der Entwicklung dort besteht jetzt Handlungsbe-darf. Es ist durchaus ein Fortschritt, daß sich die indone-sische Regierung mit dazu verpflichtet hat, die Sicher-heit und Unversehrtheit der Menschen in Osttimor zugewährleisten, und sogar selbst um die Resolution nachKapitel VII des Weltsicherheitsrates gebeten hat. DerKollege Fischer hat dazu einiges gesagt, was ich aus-drücklich unterstreiche.Jedenfalls ist der Einsatz dieser internationalen Frie-denstruppe die wesentliche Voraussetzung dafür, daß dieEntscheidung über die Unabhängigkeit Osttimors, dieRückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge und derWiederaufbau des Landes praktisch umgesetzt werdenkönnen. Der Einsatz ist bedauerlich, aber wir haben inden letzten Monaten in Europa und im übrigen in derinternationalen Politik häufiger leider die Erfahrung ge-macht, daß man oft genug nur noch mit diesem letzten,nämlich einem militärischen Mittel, die Voraussetzungdafür schaffen kann, daß die friedliche Entwicklung inGang gesetzt wird. Ich wage mir nicht vorzustellen, wasin Osttimor los wäre, wenn es zu dieser Bereitschaft In-donesiens, zu dieser Entscheidung des Weltsicherheits-rates, zu dieser Stationierung, zu diesem Engagementvon Interfet nicht gekommen wäre.Insofern war die Verabschiedung der Resolution 1264nicht nur ein Zeichen für die Geschlossenheit des Welt-sicherheitsrates, sondern sie ist auch vor dem Hinter-grund unserer Erfahrungen im Kosovo von Bedeutung.Es liegt im deutschen Interesse, die Vereinten Nationenund beispielsweise auch die OSZE oder die EuropäischeUnion zu stärken.
Die Stärkung internationaler Organisationen und ihrerMöglichkeiten ist wohlverstandenes eigenes Interesseder Bundesrepublik Deutschland.
Wenn das so ist, dann darf niemandem in Deutschlanddaran gelegen sein, daß fehlende Unterstützung dieseErkenntnis zur bloßen Rhetorik herabmindert. Vielmehrmuß man dann grundsätzlich bereit sein, nicht nur inWorten, sondern auch durch konkrete Beiträge die Stär-kung internationaler Organisationen zu betreiben undihre Möglichkeiten zu raschem Handeln gerade in kri-senhaften Situationen zu verbessern.Das hat dazu geführt, daß diese Bundesregierung ent-schieden hat, bei den Vereinten Nationen Fähigkeiten imRahmen der sogenannten Stand-by-Arrangements an-zumelden.
Dazu gehört übrigens auch die Fähigkeit zur sanitäts-dienstlichen Unterstützung. Das hilft den VereintenNationen, eine bessere Planungsgrundlage zu haben, eshilft, ihre Möglichkeiten zur schnellen Reaktion zu ver-bessern, und es stärkt die Handlungsfähigkeit des Gene-ralsekretärs der Vereinten Nationen. Gerade wenn wir inden internationalen Organisationen stärker auf Präven-tion setzen, wenn wir dafür argumentieren und anderedavon überzeugen wollen, dann wäre es höchst eigenar-tig, wenn wir angesichts der Ereignisse in Osttimor beieiner solchen Anfrage sagten, daß wir dafür nicht zurVerfügung stehen.Unsere Beteiligung in Osttimor untermauert also un-sere Bereitschaft, den Vereinten Nationen praktisch zuhelfen und ihre Fähigkeiten zu verbessern, genauso wieumgekehrt die Verweigerung einer Beteiligung unseregrundsätzliche Bereitschaft in Zweifel gezogen hätte.Das muß man nüchtern abwägen.Vor diesem Hintergrund kommt noch ein andererGedanke hinzu: Deutschland steht in internationaler undeuropäischer Solidarität, wenn es um Stabilität undSicherheit sowie darum geht, humanitäre Katastrophenzu verhindern. Diesen Gedanken füge ich an, weil sichBundesminister Rudolf Scharping
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5432 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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nicht nur aus der Region sehr viele Staaten mit etwa8 000 Menschen an Interfet beteiligen, sondern bei-spielsweise auch Brasilien und Argentinien, wie Siewissen, die USA und Kanada sowie eine größere Zahlvon Staaten aus Europa, so wie umgekehrt Staaten vonaußerhalb Europas auf dem Balkan – in Bosnien-Herzegowina wie auch im Kosovo – beteiligt sind. Esbekäme den Europäern vermutlich sehr schlecht, wennsie einerseits die Unterstützung außereuropäischer Staa-ten in einem solchen europäischen Engagement akzep-tieren und begrüßen, sich andererseits aber außerhalbEuropas nicht engagieren wollten, ganz abgesehen da-von, daß dann die Frage auftauchte, wie wir selbst inDeutschland es mit europäischer Zusammenarbeit hal-ten, wenn sich Frankreich, Großbritannien, Portugal,Italien, Finnland und andere Länder mit ganz unter-schiedlichen Möglichkeiten an Interfet beteiligen.Wenn man über diese Grundsätze Einigkeit herge-stellt hat, dann kann man die Frage stellen, ob die Ent-sendung von zwei Medevac-Transall hilfreich undnützlich ist. Die Fact-finding-Gruppe hat herausgefun-den, daß es mehrere Optionen gibt. Australien als die„lead nation“, die in der Verantwortung der VereintenNationen die Führung übernommen hat, hatte ursprüng-lich die Idee entwickelt, wir sollten, wie es KollegeNeumann für andere Staaten geschildert hat, ein Zeltla-zarett zur Verfügung stellen, was nicht nur bedeutethätte, auf die letzte Notfallreserve in Deutschland zuverzichten, sondern auch erfordert hätte, etwa400 Menschen nach Osttimor zu schicken. Das ist ausmehreren Gründen – nicht aus prinzipiellen Überlegun-gen, sondern aus sehr praktischen Gründen – zur Zeitnicht möglich. Es hat also eine Abwägung von Möglich-keiten und Fähigkeiten auf der Grundlage der prinzi-piellen Bereitschaft zu helfen stattgefunden.Genauso richtig ist aber, daß bei der Erörterung derverschiedenen Möglichkeiten Australien ausdrücklichgewünscht hat, daß die Transportkapazität, über die wirheute reden, zur Verfügung gestellt wird. Ich kann nochgar nicht sagen, in welchem Umfang sie beanspruchtwird. Aber wir werden das einzige Land sein, das diesespezielle Fähigkeit zur Verfügung stellt. Das macht es inmeinen Augen gut vertretbar, diesem Wunsch Austra-liens nachzukommen.Im übrigen kann es dem Deutschen Bundestag nichtneu sein, daß sich die Bundesrepublik Deutschland indieser Weise engagiert. Wenn man sagt, der Anspruchder Menschenrechte sei universell, wenn man hinzufügt,daß die Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung für einzel-ne Staaten wie für die Staatengemeinschaft begrenztsind, wenn man dann noch in Rechnung stellt, daß sichDeutschland an verschiedenen friedenserhaltendenMaßnahmen beteiligt – in Bosnien-Herzegowina, imKosovo, aber auch in Georgien, wie wir wissen –, dannwird schon aus dieser Erwägung, Herr Kollege Hirche,deutlich, daß es hier nicht um einen Automatismus geht.Es geht übrigens auch um weniger, als der DeutscheBundestag in den Jahren 1992 und 1993 in bezug aufKambodscha erörtert hat. In dieser Zeit waren wir – inder Verantwortung der heutigen Opposition, der damali-gen Regierungsparteien – mit einem wesentlich stärke-ren Sanitätskontingent in Kambodscha. Wir waren dortnicht wie jetzt im Falle Osttimor außerhalb des kon-fliktbeladenen Landes stationiert, sondern unmittelbar inKambodscha. Der damalige Verteidigungsminister hatin einem sehr konkreten Fall, wie Sie beispielsweisedem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 17. Juni1993 entnehmen können, deutsche Sanitätssoldaten zumSchutz französischer Soldaten aus Phnom Penh herausins Land geschickt und hier vor dem Deutschen Bun-destag ausdrücklich eingeräumt, das sei eine gefährlicheSache gewesen.Ich schildere das, um dem Eindruck entgegenzuwir-ken, für die Bundesrepublik Deutschland sei ein solchesEngagement außerhalb Europas in einer von Mord,Vertreibung und schrecklichen Greueltaten geprägtenRegion etwas wirklich Neues. Das war, wie gesagt,schon 1992/93 aus, wie ich denke, guten Überlegungenheraus der Fall.Ich habe von Anfang an sehr deutlich gesagt: DerBeitrag der Bundesrepublik Deutschland muß von der„lead nation“ gewünscht sein; das ist der Fall. Er mußfür die Bundesrepublik Deutschland zu leisten sein; dasist der Fall, wenn auch unter gewissen Schwierig-keiten. Er muß vorübergehend sein; denn anders alsvorübergehend sind jedenfalls zur Zeit solche Einsätzenicht möglich. Das ergibt sich nicht nur aus den Ko-sten. Das will ich Ihnen deutlich machen; mich wun-dert diese Argumentation ein bißchen. Kosten alleinkönnen es nicht sein; in diesem Fall sind es auch dieder Bundeswehr zur Verfügung stehenden Fähigkeiten,die das begrenzen.Ich habe in meiner Fraktion genauso deutlich gesagt,wie ich es hier im Deutschen Bundestag sage, daß es mirangesichts der Situation der Bundeswehr und angesichtsder Frage, wie man ein solches Engagement gestaltet,durchaus lieber wäre, wenn es eine zivile Nichtregie-rungsorganisation gäbe, die in sehr kurzer Zeit dieselbeLeistung mit denselben Fähigkeiten erbringen könnte.Das ist leider nicht der Fall. Wir werden uns in Zukunftnoch einmal darüber unterhalten müssen, ob wir inDeutschland nicht die Verpflichtung haben, die Fähig-keit von Nichtregierungsorganisationen zur Teilnahmean Maßnahmen der Prävention und des internationalenEngagements zu verbessern, wenn ihr Schutz gewährlei-stet werden kann.
Ich will jetzt nichts zu den Einzelheiten des Haushaltssagen, Sie aber doch darauf aufmerksam machen – ichhabe dazu einiges gelesen –, daß sich aus einer verfas-sungsrechtlichen Erwägung ergibt, daß das Notbewilli-gungsrecht des Bundesfinanzministers begrenzt ist undnicht mehr ausgeübt werden kann, wenn ein Titel imHaushalt zur Verfügung steht, an den man anknüpfenkann. Daraus kann man keine weiterreichenden Schluß-folgerungen ziehen, schon gar nicht mit Blick auf denAntrag der Bundesregierung, der ausdrücklich sagt, daßim Fall der Erschöpfung der Mittel, die im Einzelplan 14stehen, entsprechende Mittel zugeführt werden.
Bundesminister Rudolf Scharping
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5433
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Die rechtlichen Gründe dafür sind ebenso zwingend,wie die tatsächlichen Umstände klar sind, Herr KollegeBreuer. Denn von den Mitteln, die dort eingesetzt waren,waren – der Kollege Hirche hat die Zahlen etwas über-trieben –
bis Ende September 1999 nach den Feststellungen desBundesministeriums der Verteidigung schon 279 Mil-lionen DM ausgegeben, was bedeutet, daß 229 Millio-nen DM aus dem Einzelplan 14 erwirtschaftet werdensollten.
Insgesamt komme ich zu dem Ergebnis: Das ist einleistbarer, von der „lead nation“ für notwendig erachte-ter, im Interesse der internationalen Glaubwürdigkeitund Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutsch-land vernünftiger Beitrag, der in wahrscheinlich eherkürzerer als längerer Zeit geleistet wird und aus demsich weder dem Grundsatz noch der Form nach einAutomatismus für künftiges Engagement ergibt.
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul
Breuer.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSUstimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Australien bzw.Osttimor, so wie er in der Vorlage der Bundesregierungbeschrieben ist, zu.Aber wie es schon Herr Kollege Karl Lamers hat an-klingen lassen, möchte ich noch einmal betonen, daß esin unserer Fraktion nicht unerhebliche Bedenken gege-ben hat, die auch von anderen Fraktionen hier betontworden sind. Ich will sie noch einmal verdeutlichen:Einerseits wird zwar festgestellt, daß wir uns gegenMenschenrechtsverletzungen, egal, wo auf dieser Weltsie eintreten, entschieden wehren müssen; andererseitsmüssen wir aber auch erkennen, daß unsere Kraft nichtausreichen kann, sie überall hinreichend bekämpfen zukönnen. Viele Kollegen haben sich gefragt: Wo ist indiesem Zusammenhang unsere Verantwortung, wennwir auf der anderen Seite des Globus in Osttimor einenmilitärischen Beitrag leisten?Es ist richtig: Eine Chance, den Frieden in dieserWelt und die Einhaltung der Menschenrechte aufrecht-zuerhalten, haben wir nur, wenn wir internationale Or-ganisationen, insbesondere die UNO, stärken und nachdem Prinzip der regionalen Subsidiarität, der Verant-wortung der Nationen in der Region, vorgehen. Geradeda, denke ich, gibt es eine besondere Verantwortung füruns; denn wir müssen feststellen, daß sich Australiendieser Verantwortung in der Region stellt, obwohl sichdas viele australische Politiker noch vor wenigen Mo-naten gar nicht vorstellen konnten. Sie nehmen diese re-gionale Verantwortung wahr. Wenn insbesondere wirEuropäer die regionale Subsidiarität stärken wollen, istes notwendig, daß wir Australien bei dieser für dieseNation nicht leichten Aufgabe entsprechend unterstüt-zen. Daher ist es auch für uns Deutsche – gerade auseuropäischer Interessenlage – notwendig, bei dieser ab-wägenden Entscheidung unterstützend zu wirken.Aber viele Kollegen – ich will das noch einmal sagen,Herr Minister Fischer – haben sich durch den Schlamas-sel, den Sie angerichtet haben – das ist beim KollegenHirche und auch beim Kollegen Lamers angeklungen –,natürlich sehr beschwert gefühlt. Wer sich derart, ohnemit dem Parlament ein Wort zu reden, gegenüber derWeltöffentlichkeit festlegt, der muß in Kauf nehmen,daß sich viele Kollegen in diesem Hause beschwertfühlen, eine freie Entscheidung zu treffen.
Sie haben das ja auch innerhalb der Regierung – dasist ganz offensichtlich geworden – nicht hinreichend ab-gestimmt. Der Schlamassel ist natürlich durch die Artund Weise, wie das im Kabinett behandelt wurde – dortblieb es in der vergangenen Woche hängen –, noch ver-stärkt worden. Einmal hieß es: Es muß erst mit denFraktionen gesprochen werden. Das fiel Ihnen sehr frühein. Zum anderen hieß es, die Finanzierung sei nicht ge-sichert; Minister Scharping habe sich geweigert, diesenEinsatz aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Da hater recht. Es ist unmöglich, auch dies noch aus dem Ver-teidigungsetat zu bezahlen.
Es kann doch nicht angehen, daß diese Regierung denVerteidigungsetat in den kommenden vier Jahren um18,6, also fast 20 Milliarden DM schmälern will, damitdie Bundeswehr regelrecht an die Wand fährt, und ihrauf der anderen Seite immer mehr Aufgaben zukommenläßt.
Nun glaubt Minister Scharping, er habe jetzt die Lö-sung durch die Formulierung, die in Punkt 10 der Vorla-ge der Bundesregierung zu finden ist. Das hat er ebenvorgetragen. Er hat gesagt: Dort steht ja, daß die Gelderzur Deckung der Kosten, die im Verteidigungsetat unddort im Titel 547 01 nicht gedeckt sind, aus den allge-meinen Finanzmitteln zugeführt werden. Das mag aufden ersten Blick überzeugend sein. Auf den zweitenBlick wird sichtbar, Herr Kollege Scharping – das be-haupte ich –, daß Sie bis zum jetzigen Zeitpunkt nochgar nicht begriffen haben, wie sehr Herr Eichel Sie ge-leimt hat.Ich lese Ihnen einmal vor, was im Haushaltsgesetz1999 in diesem Titel verzeichnet ist.
Es ist zum einen klar, daß das stimmt, was der KollegeHirche sagte: 50 Millionen DM sind angesetzt, ausgege-Bundesminister Rudolf Scharping
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5434 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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ben sind – das haben Sie ja selbst gesagt – über500 Millionen DM.
Das zweite. Dort steht: Mehrausgaben dürfen bis zurHöhe der Einsparungen bei folgenden Titeln geleistetwerden. – Das ist eine übliche Formulierung. Und dannsteht da: Einzelplan 14.Herr Scharping, Sie haften mit Ihrem gesamten Ein-zelplan, mit der gesamten Bundeswehr für die Ausga-ben, die hier getätigt werden müssen, und Sie haben esbis zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht gemerkt, in welcherArt und Weise Sie dabei über den Tisch gezogen wordensind.
Wenn der grüne Kollege Metzger gestern gesagt hat,daß Sie wie Robin Hood auftreten – Sie wissen, in derSache unterstütze ich Sie, daß die Bundeswehr mehrGeld braucht –,
dann dürfen Sie eines nicht verkennen: Es gibt auchnoch den Sheriff von Nottingham.
In dieser Situation ist der Sheriff von Nottingham HerrSchröder, und sein Hilfssheriff ist Herr Eichel, der Siehier gnadenlos über den Tisch gezogen hat.
Deshalb haben wir von der CDU/CSU einen Ent-schließungsantrag gestellt, in dem eindeutig steht: Es gehtnicht an, daß ein Mehr an Engagement und deutscherVerantwortung in der Welt nur mit Mitteln des Einzel-plans 14 getragen wird, und dies vor allen Dingen deswe-gen nicht, weil dieser Einzelplan 14 durch das Spardiktatder rotgrünen Regierung so nach unten und gegen dieWand gefahren werden soll, wie das geplant ist.Ich bedanke mich.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort dem Kollegen Werner Hoyer
von der F.D.P.
Ich bedanke mich bei
Paul Breuer dafür, daß er die Zahlen schon etwas in das
rechte Licht gerückt hat. Sie, Herr Minister, haben dem
Kollegen Hirche vorgeworfen, er habe übertrieben. Im
Einzelplan 547 01, des Haushalts sind 50 Millionen DM
etatisiert. Ausgaben per 18. August 1999: 458 561 000
DM.
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erhält der Kollege Helmut
Wieczorek, SPD-Fraktion.
Herr Kollege
Breuer, die zutreffenden Zahlen sind eben genannt wor-
den. Die 500 Millionen DM, die hier angefallen sind,
sind die Folge der Fehlfinanzierung der Auslandseinsät-
ze der letzten Regierung.
Herr Kollege Breuer, Sie müssen zur Kenntnis neh-
men, daß wir in diesem Hause vier Jahre lang versucht
haben, mit Ihnen eine Lösung zu finden und eine Etati-
sierung der Auslandseinsätze zu erreichen. Dem haben
Sie sich stets entzogen und haben immer diese
50 Millionen DM im Einzelplan 14 als den Ansatz für
die Auslandseinsätze genommen. Sie haben seinerzeit
im Haushaltsausschuß immer wieder behauptet: Wenn
wir dort mehr ansetzen, dann geben die auch mehr aus.
Das war Ihre Linie, und so sehen auch die Finanzen aus,
die Sie uns hinterlassen haben.
Ich will ganz davon absehen, daß das, was Sie im
Augenblick vortragen, nicht mehr dem Kenntnisstand
entspricht, den Sie haben. Ich habe mir gestern erlaubt,
Ihnen eine Seminarstunde über Haushaltsrecht und das,
was damit zusammenhängt, zu geben.
Es tut mir leid, daß Sie das immer noch nicht verstanden
haben. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob das im
Einzelplan 14 steht. Vielmehr kommt es nur auf eine
ganz kleine Textziffer an, nämlich daß der Finanzmi-
nister an dieser Stelle einen Nachschuß ermöglicht, und
zwar außerhalb des Einzelplans 14.
Herr Kollege Breuer, das haben Sie doch gestern be-
schlossen. Ich gebe zwar zu, daß es etwas spät war, aber
für Sie sicherlich nicht zu spät.
Ich gebe das Wortdem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Schar-ping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Er-gänzung dessen, was der Kollege Wieczorek gesagt hat:Herr Kollege Hirche, Sie beziehen sich auf den Einzel-Paul Breuer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5435
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plan 14 und nennen die Zahl von 461,6 Millionen DM.Sie sollten hinzufügen, daß Ihnen diese Zahl als Ausga-beprognose zum 31. Dezember 1999 zugeleitet wordenist, nicht als bisherige Ausgabe. Sie sollten weiterhinhinzufügen, daß Ihnen diese Prognose am 7. Juni 1999vorgelegen hat. Deswegen sage ich Ihnen: Die Ist-Zahl– darauf habe ich mich bezogen – Ende September 1999war 279 Millionen DM. Daraus ergibt sich die Prognose,daß wir bis zum Jahresende in diesem Titel, der mit50 Millionen DM dotiert ist, weitere 116 Millionen DMaus dem Einzelplan 14 erwirtschaften müssen.Damit liegen wir unter der Prognose vom Juni 1999.Das hat einen sehr einfachen Grund: Wir haben uns überPersonalreduzierungen, über Rationalisierungen in derLogistik usw. bemüht, soviel wie möglich einzusparen,um nicht durch Ausgaben in Bosnien im Jahr 1999 fürdie übrigen Aufgaben der Bundeswehr mehr Geld ent-ziehen zu müssen, als unbedingt erforderlich ist. Sie da-gegen haben den Fehler gemacht, 50 Millionen DM be-reitzustellen, im Wissen darum, daß man ein Mehrfachesdes Betrages erwirtschaften muß.Insofern kehrt sich das doppelt um, was Sie hier ge-sagt haben. Ich erkenne darin den einfachen Versuch,aus den Komplikationen, mit denen man im Haushaltimmer zu tun hat, ganz billiges parteipolitisches Kapitalzu schlagen. Das sollten Sie besser lassen.
Es geht mit den
Kurzinterventionen weiter, aber ich bitte doch, darauf zu
achten, daß gleich die Reihenfolge der Redner wieder-
hergestellt wird.
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Walter Hirche,
F.D.P.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Kollege Scharping, ich hatte ein-
fach nur auf die Seite 29 Ihres Haushalts verwiesen und
die Zahlen daraus, die mir schriftlich zugegangen sind,
vorgelesen. Nach dem Beitrag des Kollegen Wieczorek
stelle ich fest, daß Sie trotz dieser Haushaltsentwicklung
für das Jahr 2000 auch nur 50 Millionen DM vorsehen.
Ich bringe darüber mein Bedauern zum Ausdruck und
möchte dazu beitragen, daß wir im Bundestag gemein-
sam an dieser Stelle in den laufenden Beratungen eine
realistische Zahl einsetzen.
Nun spricht für das
Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Helmut Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch meineFraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustim-men. Aber auch wir machen für uns geltend, daß wirmindestens so reiflich, mindestens so umfangreich wieSie beraten haben.Herr Kollege Neumann, bevor ich auf die einzelnenPunkte eingehe, sage ich vorweg, gerade weil Sie zumSchluß auf das Grundproblem zu sprechen gekommensind: Mit dem Grundproblem ist in den letzten 14 Tagenin unterschiedlicher Weise aus den verschiedenstenEcken Politik gemacht worden. Oft habe ich nicht ver-standen, was hinter der Politik stand, ob das parteipoli-tisch bedingt war, ob das persönlich bedingt war oder obdas besserwisserisch war.Ich spreche jetzt über das Grundproblem.
Ich erwähne das nochmals, weil von Ihrer Seite hiervielfach angesprochen worden ist, was der Bundesmi-nister in New York gesagt hat. In seiner Rede – ich habesie, und zwar aus ganz anderen Gründen als Sie, zwei-mal gelesen – hat er, wenn ich das richtig verstandenhabe, in allgemeiner Weise die Unterstützung Deutsch-lands für die UNO absolut klargemacht. In welcherForm, in welcher Weise diese Unterstützung an diesemspeziellen Punkt geleistet wird, darüber, so denke ich,diskutieren wir hier; darüber war in New York über-haupt nicht zu diskutieren.Jetzt zum Hauptproblem: Wir hatten, auch unter uns,folgende Bedenken: Erstens. Es darf keinen Folgezwangund keinen Automatismus geben. Es darf nicht sein, daßderjenige, der KFOR sagt, hinterher auch Interfet sagenmuß. Zweitens. Natürlich sind Konflikte in fernen Tei-len der Welt dort zu regeln und nicht unbedingt vonEuropa aus; das ist ganz klar. Drittens. Es stellt sich dieFrage, ob wir nicht mit ganz anderen Mitteln der be-drängten Bevölkerung helfen könnten als durch eineBeteiligung an einer militärischen Operation.Gegen diese Bedenken spricht folgendes ganz klar:Erstens. Es gibt kein „entweder oder“ in der Frage deut-scher Beteiligung. Das BMZ hat mit 4,4 Millionen DM,das Auswärtige Amt hat im Rahmen der humanitärenHilfe mit 1 Million DM sofort geholfen. Beides muß al-so nicht gegeneinander stehen. Zweitens. Wir wollen ei-ne fallweise Betrachtung und eine unvoreingenommeneEntscheidungsbildung zu jeder internationalen Krise.Was aber ergibt die fallweise Betrachtung in diesemFall? Wir haben es in Osttimor mit einer genozidalenVertreibungsaktion mit mindestens derselben Dimensionwie im Kosovo und mit einer Strafaktion gegen das UN-Referendum zu tun gehabt; das muß immer wieder ge-sagt werden.
Wir haben in politischer und anderer Form die soforti-ge politische Intervention beim indonesischen Staats-oberhaupt gefordert; wir haben eine UN-Resolution ge-fordert; wir haben auf eine baldige Landung australi-scher und asiatischer Truppen gehofft. – Wir habendarauf gedrängt und haben mit Freude die Zustimmungdes indonesischen Staatsoberhauptes zur UN-Reso-lution begrüßt.Bundesminister Rudolf Scharping
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Um die Deportationen und Massaker zu stoppen, hates auf der klaren Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrates eine Intervention unter australischerFührung gegeben. Dieser haben sich neben regionalenTruppenstellern wie den Philippinen, Malaysia und Neu-seeland auch Portugal – mit 1 000 Soldaten –, Schwe-den, Norwegen, Frankreich, England und Italien – mit600 Soldaten, davon 200 Fallschirmjäger, mit amphibi-schen Einheiten und mit Fregatte – angeschlossen. Ge-messen daran ist die Absicherung der medizinischenVersorgung von Schwerverwundeten, die sinnvollerwei-se ausgeflogen werden müssen, durch Deutschland einangemessener und notwendiger Beitrag.
Es ist ein Beitrag, der seinem Charakter nach hoffentlichnie in Anspruch genommen wird, für den aber trotzdemfür den Fall ernsthafter Kämpfe Vorsorge getroffen wer-den muß. Lieber junger Kollege, dies ist doch mit Inter-fet abgestimmt. Es geht nicht, daß die Interfet erst war-ten muß, bis dort Ruhe geschaffen ist und man sich dieMeinung bilden kann, daß man auch anders handelnkönnte. Da dies eine abgestimmte Aktion mit verschie-denen Truppenstellern ist, erledigt sich das alles.Wir begrüßen einen solchen Beitrag zur Interfet, weiler für die UN wichtig ist, weil er die gemeinsame euro-päische Außenpolitik stärkt, und vor allem, weil er einenBeitrag zur Verhinderung von Vertreibung und Völker-mord leistet.Der Kollege Lamers, der Kollege Breuer und derKollege Hirche hatten die Finanzfragen angesprochen.Dazu möchte ich nur soviel sagen: Meines Erachtens istder Haushalt 14 in den ganzen letzten Jahren durcheinen Verteidigungsminister besser geschützt gewesenals beispielsweise der Haushalt 05 oder gar der Haushalt60, der die allgemeine Finanzwirtschaft betrifft. DasProblem, vor dem wir stehen, liegt im Einzelplan60. Durch die allgemeine Misere und die allgemeineSchuldenwirtschaft wurde die Regierung gezwungen,einen Sparplan aufzustellen. Jetzt kommen Sie und zäh-len, wie wir eine jede Erbse zu verwenden hätten. Dasist Unsinn.Abschließend zwei politische Bemerkungen:Erstens. Es ist immer noch ein weitgehend men-schenleeres Land, das von Interfet beschützt wird. Mehrals ein Drittel der Bevölkerung ist deportiert, und wiralle müssen dringend auf deren Rückkehr drängen.
Zweitens. Ein souveränes Osttimor bedarf einesdemokratischen Indonesiens. Wir müssen die demokra-tische Entwicklung in Indonesien fördern. Wir müsseneinem solchen Land aber auch in finanzpolitischen Kri-sen stärker beistehen. Dies geschieht gerade nicht nichtdurch Rüstungslieferungen für das Militär. Ich denkedabei an die U-Boote, die in früheren Jahren geliefertwurden. Wenn ich es richtig sehe, sind in den letzten14 Jahren 10 Milliarden DM herübergeflossen. Es gehtvielmehr um den Export von Stabilität durch Unterstüt-zung der Demokraten in Indonesien.
Nun hat der Kollege
Dr. Wolfgang Bötsch für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeLippelt, ich verstehe Ihre Erregung bei Ihren Eingangs-worten. Sie haben natürlich Anlaß gehabt, das Verhaltendes Bundesaußenministers bei der UNO zu verteidigen;er gehört ja zu Ihrer Fraktion.
Ich hatte einen ganz anderen Einstieg vor: Ich wollteihn dafür mit der mir sicherlich zur Verfügung stehen-den Wortwahl – jedenfalls unterhalb der Rügensgrenzedes Präsidenten – erheblich kritisieren. Ich werde dasnicht tun,
denn ich glaube, der Kollege Neumann hat das Nötigedazu gesagt, und ich möchte die Kritik aus den eigenenKoalitionsreihen so stehenlassen. Ich glaube, daß siedann besser wirkt. Sonst kommt man leicht in den Ver-dacht, es rein parteipolitisch gemeint zu haben.
Da es aber aus der Koalition gekommen ist, sollten Siees vielleicht auch ernster nehmen.
Ich habe mich nur nach dem Motiv gefragt, warumsich der Herr Bundesaußenminister bei der UNO sostark festgelegt hat. Sollte das ein Blick oder eine Fluchtzurück nur zum UN-Mandat sein?
Ich will das nach der Kosovo-Entscheidung, wo er seineSchwierigkeiten in den eigenen Reihen hatte, hier nurandeuten.Meine Damen und Herren, wir behalten uns vor, inZukunft jede Entscheidung auch im Einzelfall zu über-prüfen, gleichgültig, von wem das Mandat kommt.
Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, es gebekeinen Automatismus. Dem stimme ich ausdrücklich zu.Ich will ergänzen: Die Entscheidung, die wir heute zutreffen haben, hat auch keine präjudizielle Wirkung.Was die Haushaltsfragen anbelangt, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren Kollegen, spielt die Regie-rung etwas Ball paradox.
Dr. Helmut Lippelt
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Denn ihr Verantwortungsgefühl für die Notwendigkeit,genügend Haushaltsmittel für die Bundeswehr und ihreSoldaten bereitzustellen, ist doch umgekehrt proportio-nal zu ihrer Großzügigkeit, der Bundeswehr neue Ein-sätze zu verschreiben oder – wie es der Verteidigungs-minister heute bezeichnet hat – ihre Fähigkeiten anzu-melden. Das war ein neuer Begriff, den wir heute gehörthaben.Ich will auf die Einzelheiten dieser Haushaltsproble-matik nicht mehr eingehen. Herr Scharping muß sich nurfragen lassen, warum er noch letzte Woche gesagt hat,die Finanzierung solle nicht aus dem Einzelplan 14 er-folgen. Die Damen und Herren, die nicht dem Haus-haltsausschuß angehören, müssen sich doch fragen las-sen, warum der Haushaltsausschuß eigentlich diesen Be-schluß gefaßt hat, daß der Rechnungshof die Finanzie-rung solcher Einsätze überprüfen soll.
– Mit den Stimmen der Koalition, sonst gäbe es ja keineMehrheit.Meine Damen und Herren, das sind zweifellos Mana-gementfehler. Trotzdem: Die Mehrheit meiner Fraktionund auch ich werden dem Antrag der Bundesregierungaus sachlichen Gründen zustimmen.
Wir haben ein Jahrhundert hinter uns, das gezeichnetist von Kriegen, von Vertreibung, von Genozid, vonMassenvernichtung jeder Art. Eine Chance, dann Hilfezu geben, um Auswüchse solcher Maßnahmen zu ver-hindern, dürfen wir nicht vorbeigehen lassen.
Meine Damen und Herren, wir Europäer und auchwir Deutsche dürfen uns in diesem Fall der Verantwor-tung nicht entziehen.
Die Geschichte Osttimors wird den meisten, die sichdamit beschäftigt haben, bekannt sein. Vielleicht könnteder eine oder andere fragen: Was haben wir Deutschedamit zu tun? Das ist nicht unsere Kolonialgeschichte.Das ist im Ablauf der Ereignisse sicherlich richtig.Nur, meine Damen und Herren, wenn wir europäischeAußenpolitik für die Zukunft haben wollen, wenn wirsie mitgestalten wollen, dann müssen wir auch gesamt-europäische Verantwortung mit übernehmen,
insbesondere dann, wenn sie jetzt in diesem doch relativkleinen Ausmaß von uns verlangt wird.
Wenn diese gesamteuropäische Verantwortung imKonsens mit vielen Ländern, insbesondere solchen ausder Region um Osttimor, wahrgenommen wird, dann, soglaube ich, gibt es gute Gründe, daß wir uns dieser Ver-antwortung nicht entziehen. Ich bitte deshalb auch die-jenigen insbesondere aus unseren Reihen, die aus wohl-erwogenen Gründen das Management der Regierungkritisiert haben – ich gehöre dazu –, sich dieser Verant-wortung trotzdem nicht zu entziehen und diesem Antragzuzustimmen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe dieAussprache.Es liegen vier Erklärungen zur Abstimmung nach§ 31 der Geschäftsordnung vor. Es handelt sich umeine Erklärung des Kollegen Rudolf Bindig1), SPD-Fraktion, eine Erklärung des Kollegen Dr. Karl A.Lamers2) , CDU/CSU-Fraktion, eine Er-klärung der Kollegen Christian Simmert, Hans-Christian Ströbele, Claudia Roth, Irmingard Schewe-Gerigk und Sylvia Voß, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN3), und eine Erklärung des Kollegen Dr. FriedbertPflüger und23 weiterer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion4). Diese Erklärungen werden zu Proto-koll genommen.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung„Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streit-kräfteverband in Osttimor zur Wiederherstellung vonSicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolutiondes Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15.September 1999“, Drucksache 14/1754. Der Ausschußempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1719 anzu-nehmen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Die Be-schlußempfehlung ist mit der großen Mehrheit des Hau-ses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion, bei verein-zelten Gegenstimmen aus den Fraktionen derCDU/CSU, der F.D.P. und der SPD und bei wenigenEnthaltungen aus den Fraktionen der CDU/CSU und derF.D.P. angenommen5).Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache14/1755. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
––––––––––––1) Anlage 22) Anlage 33) Anlage 44) Anlage 5Dr. Wolfgang Bötsch
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5) siehe Seite 5453 CWir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache14/1770.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegen-probe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist mit demgleichen Stimmenverhältnis wie der vorherige Ent-schließungsantrag abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/1756. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?– Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Der Antrag istmit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen derPDS und bei zwei Enthaltungen aus der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Vereinbarte DebatteAuswirkungen und Konsequenzen des Unfallsin der Atomanlage in Tokaimura, JapanNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Letzten Donnerstag ereignete sichin der japanischen Brennelementefabrik Tokaimura einschwerer Störfall. Es war der schwerste Unfall in eineratomaren Anlage seit der Reaktorkatastrophe vonTschernobyl. Bei der Handhabung von hochangerei-chertem Uran wurden statt 2,3 versehentlich 16 Kilo-gramm in einen Behälter mit Salpetersäure eingefüllt.Dies war das Achtfache der zulässigen Menge. AufGrund dieses Vorganges kam es zu einer kritischen Re-aktion. Mehrere Arbeiter wurden verletzt, drei von ihnensehr schwer.Unser Mitgefühl gilt den Opfern dieser Katastrophe,insbesondere jenen, die noch immer in Lebensgefahrschweben. Ich finde, es ist eine besondere Tragik, daßheute ausgerechnet in Japan, dem Land von Hiroshimaund Nagasaki, erneut Menschen mit dem Strahlentodringen.Der Unfall von Tokaimura hat uns allen erneut vorAugen geführt, welches menschliche, welches ökologi-sche und auch welches finanzielle Risiko das Betreibenvon Atomanlagen mit sich bringt. Dieses Risiko be-schränkt sich nicht auf die bloße Betriebssicherheit vonReaktoren. Wir alle müssen uns die Frage stellen: Isteine Technik, bei deren Betreiben menschliches Versa-gen solch katastrophale Folgen haben kann, eine men-schenadäquate Technik? Oder anders gefragt: Ist dasRestrisiko eigentlich mit dem Allgemeinwohl verein-bar?Ich weiß, daß dieser Unfall viele Menschen sehr be-unruhigt hat. Die Bundesregierung hat unmittelbar nachBekanntwerden des Störfalls auf umfassende Aufklä-rung gesetzt. Im Bundesamt für Strahlenschutz und imBundesumweltministerium wurden alle Informationenzentral gesammelt. Wir haben noch in der Nacht, alssich der Störfall ereignete, ein Bürgertelefon eingerich-tet. Dieses war auch über das Wochenende in Betrieb.Wir wollten damit eines erreichen: Wir wollten Aufklä-rung sicherstellen, und zwar Aufklärung – ich betonedies – über die tatsächlichen Gefahren. Wir wollen keineDramatisierung, aber wir können auch keine Verharmlo-sung hinnehmen.
Wir haben klargestellt, daß auf Grund des Störfallskeine Gefahr für Europa bestand. Es wurde immer wie-der die Frage gestellt, ob ein solcher Unfall auch in einerdeutschen Anlage möglich sei. Ich möchte an dieserStelle klar darauf hinweisen: Ein solcher Unfall kannsich bei uns weder in Lingen noch in Hanau und auchnicht in Gronau, wo es vergleichbare Anlagen wie inTokaimura gibt, ereignen. In keiner deutschen Anlagewird nämlich wie in Tokaimura mit hochangereichertemUran gearbeitet, das auch noch naß verarbeitet wird.Das heißt aber nicht, daß Störfälle bei uns vollstän-dig ausgeschlossen werden können. Deshalb habe ichaus Anlaß dieses Unfalls darum gebeten, die inDeutschland bestehenden vergleichbaren Anlagen über-prüfen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Prüfung sollenbis zum 29. Oktober 1999 vorliegen. Bei Bedarf werdendiese Ergebnisse in der Reaktorsicherheits- und Strah-lenschutzkommission beraten werden müssen.Manche meinen schon vor der Prüfung zu wissen,was dabei herauskommt. Ich habe in einer Publikationdes Deutschen Atomforums gelesen, ein Atomunfall indeutschen Anlagen sei so gut wie ausgeschlossen. Ichfürchte: Wenn man die Betreiber von Tokaimura vordem Unfall gefragt hätte, dann hätten auch sie gesagt, inihrer Anlage sei ein Unfall nahezu ausgeschlossen.Ich will es einmal anders ausdrücken. Die Worte „sogut wie“, „nahezu“ und „weitgehend ausgeschlossen“kann man mit „Tschernobyl“, „Harrisburg“ oder „Wind-scale“ übersetzen.
Hinter diesen Worten verbirgt sich jenes Restrisiko, das,wenn es eintritt, tödliche Folgen haben kann. Tokaimuralehrt uns, daß gerade der in solchen Anlagen immer gege-bene Zufall einfallsreicher als alle Sicherheitsexperten ist.Wir sollten aber nicht mit dem Finger auf Japan zei-gen. Es ist nach meiner Beobachtung immer das gleiche:Vor einem Unfall wird betont, es gälten überall interna-Vizepräsident Rudolf Seiters
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tionale Standards. Nach einem Unfall kehrt sich dieseArgumentation um, und es wird eilfertig betont, bei unsgälten ganz andere Standards. Meine Damen und Her-ren, in aller Sachlichkeit: Das ist falsch. Für den Um-gang mit angereichertem Uran gibt es eine internationaleNorm, die ISO 1709. Sie gilt bei uns wie in Japan.Internationale Standards wurden nicht nur in Japannicht beachtet. Sie wissen sehr wohl, daß mit Wissen derBetreiber von Atomanlagen in Deutschland und inEuropa weit über den Grenzwerten liegende Atommüll-behälter über Jahre hinweg hin- und hergeschickt wor-den sind. Ich sage all denjenigen, die heute leichtfertigfordern, die Bundesregierung solle mal eben Transpor-te genehmigen, mit Nachdruck: Wir dürfen und wirwerden keine Transporte genehmigen, bei denen die in-ternationalen Grenzwerte nicht eingehalten werden kön-nen.
Dies ist keine Verstopfungsstrategie,
sondern die Anwendung von Recht und Gesetz im Inter-esse der Sicherheit der Menschen.
Ich füge hinzu: Keiner, auch nicht die Betreiber, willTransporte um ihrer selbst willen. Niemand hat ein In-teresse, den Konflikt um die Atomenergie auf dem Rük-ken von Polizeibeamten auszutragen. Es gibt Möglich-keiten, Transporte zu vermeiden. Wir haben Angebotegemacht, weil wir wissen, daß die Menschen solchenTransporten nur dann zustimmen, wenn es eine verbind-liche Perspektive für die Beendigung dieser hochgefähr-lichen Technologie gibt. An dieser Stelle sei an die Be-treiber gerichtet: Es ist an der Zeit, sich auf dieses An-gebot konstruktiv einzulassen.
Einen Tag vor der Katastrophe von Tokaimura be-scheinigten einige hundert Professoren – einige sindMitglieder einer süddeutschen Reaktorsicherheitskom-mission – der Atomenergie Unbedenklichkeit. Die Her-ren entblödeten sich nicht – ich sage das in dieser Deut-lichkeit –, die gesundheitlichen Risiken der Atomkraftmit denen von Windrädern zu vergleichen. Einen Tagspäter erfuhr diese professorale Leichtfertigkeit ein bit-teres Dementi. Es gibt eben keine hundertprozentige Si-cherheit!Ich will in Richtung dieser Professoren sagen: IhrAngebot zu einem offenen Dialog habe ich zur Kenntnisgenommen. Aber ich betone: Wir sollten diese Diskus-sion nicht mit Argumenten führen, deren Haltbarkeits-datum keine 48 Stunden beträgt.
Ich möchte abschließend unterstreichen: Eine Tech-nologie, bei deren Versagen Gesundheit und Leben vonMenschen solch unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt ist,ist mit dem Allgemeinwohl nach meiner Überzeugungnicht zu vereinbaren. Das ist der Grund, warum wir denAtomausstieg umsetzen werden.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Paul Laufs.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Nach den uns vorliegenden Infor-mationen ist der Atomunfall in Tokaimura einer derschwersten von den 59 weltweit seit 1945 bekannt ge-wordenen Kritikalitätsstörfällen, denen bisher insgesamtneun Menschen durch Strahleneinwirkung zum Opfergefallen sind. In dieser japanischen Brennelementefabrikwar ohne behördliche Genehmigung mit hochangerei-chertem Uran gearbeitet und unglaublich fahrlässig han-tiert worden.Nach diesem Unglück richtet sich unser besorgterBlick natürlich auf die deutschen Anlagen der Uranver-arbeitung. Heute steht außer Zweifel fest: In den deut-schen Anlagen in Gronau, Hanau und Lingen hätte sichdieser Unfall nicht ereignen können, nicht nur, wie derMinister gerade betont hat, weil dort nicht mit hochan-gereichertem Uran gearbeitet wird, sondern darüber hin-aus auch, weil dort mindestens zwei voneinander unab-hängige technische Sicherheitsvorkehrungen bestehen,die jede für sich unabhängig von der anderen die Ein-haltung der Kritikalitätssicherheit gewährleisten.
Diese Maßnahmen sind: Abwesenheit eines Neutronen-moderators, kritikalitätssichere Gefäße durch entspre-chende geometrische Konfiguration, Konzentrations-und Mengenbegrenzung. In Tokaimura war laut Be-triebshandbuch allein die maximale Uranmenge bei dermanuellen Handhabung begrenzt. Die vor Ort in Gronauund Lingen beobachtete Anti-Atomkraft-Agitation, dieUnruhe in die Bevölkerung hineinträgt, hat also über-haupt keine sachliche Grundlage. Sie ist schlimm undverantwortungslos.
Die Frage, mit der wir uns eigentlich ständig undnach dem Vorfall in Tokaimura mit neuer Intensität be-schäftigen müssen, ist die Frage nach der Sicherheits-kultur in unserer technischen Zivilisation. Die techni-sche Zivilisation breitet sich über die ganze Welt aus.Es gibt keine andere Grundlage für eine menschenwür-dige Existenz von 6 Milliarden Menschen. Es geht umeine Sicherheitskultur, die weltweit auf ein hohes Ni-veau gebracht und immer weiter verbessert werden muß.Wir wissen, es gibt keine Technik ohne Störungen undBundesminister Jürgen Trittin
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keine Menschen, die frei von Fehlhandlungen sind. Beikerntechnischen Anlagen ist deshalb die Frage entschei-dend, wie unvermeidliche Störungen und Fehlhandlun-gen abgefangen und behoben werden können, bevorSchaden entsteht. Hierfür sind automatische und manu-elle Steuerungsmechanismen, aktive technische Sicher-heitsmaßnahmen und passive Schutzbarrieren sowie einBetriebspersonal, das durch ständiges Training auf Stö-rungen gut vorbereitet ist, erforderlich. Je größer dasGefahrenpotential einer Technik ist, um so umfänglicherund vielfältiger sind die Sicherheitssysteme anzulegen.Dieser Tage haben in der Tat, Herr Minister, 569 Pro-fessoren von deutschen wissenschaftlichen Hochschulenin einem öffentlichen Memorandum festgestellt, daß inDeutschland während der vergangenen JahrzehnteHöchstleistungen im Bereich der Weiterentwicklung nu-klearer Sicherheit erbracht worden sind. Die deutschenAnlagen sind mit hohem Milliardenaufwand nachgerü-stet und verbessert worden. Wer die vierteljährlichenBerichte der Bundesregierung über meldepflichtige Er-eignisse in deutschen Atomanlagen über die Jahre ver-folgt hat, sieht, daß auch hier tatsächlich große Fort-schritte stattgefunden haben. Wir wünschen uns, daßauch Minister Trittin dies zur Kenntnis nimmt.
Die deutschen Wissenschaftler haben mit keinem ein-zigen Wort behauptet, in ausländischen oder deutschenAnlagen könnten keine Störfälle mehr auftreten. Sie wie-sen aber ruhig und sachlich darauf hin, daß die heute fürdie deutschen Anlagen vorliegenden Erkenntnisse weitüber den Kenntnisstand über nukleare Sicherheit und Ent-sorgungstechnik der 70er und 80er Jahre hinausgehen.Fragen der Energieversorgung der Zukunft müssenumfassend – auch im Hinblick auf ihre globale Nach-haltigkeit – geprüft werden. So erörtern die Professorenauch das Klimaproblem und betrachten unter der Vor-aussetzung der Erfahrungen mit deutscher Sicherheits-kultur und mit den in Deutschland sorgfältig beachtetenSicherheitsstandards die gesamten Umweltauswirkun-gen der verschiedenen Energiesysteme. Dabei kann dieKernenergie bemerkenswert gut bewertet werden. Diedeutschen Professoren bieten der Politik den Dialog überdiese Fragen an und fordern eine ernsthafte Neubewer-tung der Energiepolitik.Minister Trittin sagt dazu – Sie haben es gerade ge-hört –, der Unfall in Japan sei ein bitteres Dementi derprofessoralen Leichtfertigkeit.
Er und offenbar auch Sie, die Sie das vorliegende Me-morandum mit Sicherheit nicht gelesen haben,
unterstellen den Wissenschaftlern, sie hätten das Sicher-heitsrisiko von Windanlagen höher bewertet als das derKernkraftwerke. Wer das Memorandum wirklich liest,findet darin solche Aussagen nicht und ist empört überdie verbale Infamie des Ministers.
Zur Ausstiegsideologie gehören offenbar auch die Ver-achtung und Schmähung der strengen, sachlichen Wis-senschaft. Die beschämenden Vorgänge um die Reaktor-Sicherheitskommission lassen grüßen.Meine Damen und Herren, welche Forderungen sindaus dem Tokaimura-Unfall zu ziehen? Wir brauchen aufnationaler und internationaler Ebene eine neue Diskus-sion über die technische Sicherheitskultur. Die deutscheWissenschaft bietet diesen Dialog an. Wir sollten ihnannehmen. Der Wissenschaftliche Beirat für Fragen derGlobalen Umweltveränderungen hat schon vor Jahres-frist ein Gutachten über Strategien zur Bewältigung glo-baler Umweltrisiken vorgelegt. Wir sollten darüber in-tensiv diskutieren.Rings um Deutschland werden – vielfach in unmit-telbarer Grenznähe – kerntechnische Anlagen betrie-ben, um deren Sicherheitsstandards wir die gleicheSorge haben müssen wie um die der eigenen. Ohne je-de Überheblichkeit können wir feststellen, daß nichtüberall der gleichen Sicherheitsphilosophie gefolgt unddie Verbesserung der Sicherheitstechnik sowie dieder Betriebsweisen als ständige, äußerst wichtige Auf-gabe gesehen wird, so wie das in unserem Land derFall ist.Wer aussteigt, scheidet als Ratgeber und Schrittma-cher aus.
Wer aussteigt, verringert das Risiko der deutschen Bun-desbürger nicht. Nicht der Ausstieg dient unserem Land,sondern die Verbesserung der technischen Sicherheits-kultur weltweit. Daran sollten wir nach Kräften mitwir-ken.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat nun der Kollege Horst Kubatschka.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Anteil-nahme gehört den Betroffenen und ihren Angehörigen.
Ein Argument hört man immer wieder, nämlich, daß derAusstieg aus der Kernenergie eine Ideologie sei. EineBefürwortung der Kernenergie ist dann aber genausoeine Ideologie; darauf möchte ich hinweisen.
Hätte ich vor einer Woche vor dem Deutschen Bun-destag den Vorgang geschildert, daß in einer Brennele-mentefabrik kritische Massen mit einem Eimer – ich ge-Dr. Paul Laufs
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be zu, es war ein Stahleimer – zusammengeführt wer-den, hätten mich alle für verrückt erklärt. Mit Recht! DieGegner und ebenso die Befürworter der Kernenergiehätten laut gelacht.Aber das Lachen ist uns vergangen. Im Grunde ge-nommen ist etwas Unvollstellbares passiert – und diesnach Jahrzehnten der Kernenergienutzung. KritischeMassen wurden zusammengeführt; eine Kettenreaktionwurde ausgelöst, und das Ganze geschah in Japan undnicht etwa in einem Entwicklungsland bzw. in einemLand ohne Kernenergieerfahrung. – Herr Laufs, wennich Ihre Gedanken zu Ende führe, muß ich feststellen:Sie werden uns Japan, das dafür bekannt ist, daß es vollauf Kernenergie setzt, wohl nicht als Berater empfehlen.– Japan ist ein hochindustrialisiertes Land, das seineEnergieprobleme über die Atomenergie lösen will. Es istsozusagen das Paradies der Befürworter der Atomener-gie. Japan glaubt noch an den Schnellen Brüter. Wirhaben uns längst aus der Brütertechnologie verabschie-det. Japan hat dagegen voll auf Kernenergie gesetzt– und tut dies noch immer.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab natürlichauch eine Reaktion an der Börse. Der Kurs des Kon-zerns, dem der Komplex Tokaimura gehört, ist stark ge-fallen; daraufhin ist der Handel mit der Aktie ausgesetztworden. Jetzt wird es etwas sarkastisch: Es gab aberauch gegenläufige Kursbewegungen. Die Kurse der Her-steller von Jodtabletten sind in die Höhe geschnellt. DieBefürworter der Atomenergie könnten sagen: Das habenwir ja schon immer gewußt. In Japan wird mit Kern-energie leichtsinnig umgegangen. Eine Reihe von Un-fällen sind geschehen. Trotzdem sind nicht die notwen-digen Konsequenzen gezogen worden. – Dieses Argu-ment der Befürworter habe ich aber bisher in bezug aufJapan nicht gehört.Der japanische Regierungssprecher hat von einemUnfall der 50er Jahre gesprochen. Das ist richtig. In den40er und 50er Jahren wurden des öfteren Kettenreaktio-nen – man spricht von 59 – ausgelöst, weil damals derUmgang mit der Kernenergie noch nicht so eingeübtwar, weil die Verfahren fehlten und weil man im Expe-rimentierzustand war. Aber am Ende unseres Jahrtau-sends, im Jahre 1999, führt ein einfacher Fehler zu einerKettenreaktion. Gott sei Dank ist daraus keine Katastro-phe entstanden. Eine Verpuffung hätte dazu geführt. DerVorgang in Tokaimura bestätigt aber, daß Atomenergienicht beherrschbar ist. Dieser Unfall war zwar noch lo-kal beherrschbar; er hätte aber auch lokale Auswirkun-gen und unter Umständen sogar globale Auswirkungennach sich ziehen können.Die Befürworter der Kernenergie sagen jetzt: DieserUnfall ist in Deutschland nicht vorstellbar. – Auch ichhabe das bis gestern gedacht. Aber als ich heute die„Süddeutsche Zeitung“ aufgeschlagen und von dem Falldes Herrn Weber gelesen habe – „Ich war von Kopf bisFuß voll Uran“ –, ist es mir kalt den Rücken runterge-laufen. 1971 ist in Deutschland also genauso leichtsinnigverfahren worden. Es stimmt, daß ein solcher Fehler wiein Japan hier nicht passieren kann. Man muß aber zuge-ben, daß der von Arbeitern in Japan verursachte Fehler,kritische Massen in einem Eimer zusammenzuführen,ebenfalls nicht vorstellbar war.Ein Blick zurück: Auch Tschernobyl und Harris-burg waren nicht vorstellbar. Es war damals nicht vor-stellbar, daß in Tschernobyl das Personal Versuche amkonventionellen Teil der Anlage durchführen könnte.Durch diese Versuche ist die Anlage außer Kontrolle ge-raten, und der GAU ist eingetreten. In Harrisburg war esnicht vorstellbar, daß die geistigen Väter des Reaktorsübersehen haben, daß es bei hohen Temperaturen zuchemischen Reaktionen kommt, die zur Knallgasbildungführen. Das Problem der Knallgasbildung ist übrigensnach Harrisburg in keinem der deutschen Reaktoren ge-löst worden. Diese einfache chemische Reaktion wirdbereits im ersten Semester anorganische Chemie gelehrt.Trotzdem ist sie übersehen worden.In Japan war nicht vorstellbar, daß Arbeiter kritischeMassen in einem Eimer zusammenschütten. Dabei hattedie Betreiberfirma schon vorher die staatlichen Vor-schriften geändert, um zu schnelleren Produktionsabläu-fen zu kommen. Die beteiligten Arbeiter wiederum ver-kürzten das Verfahren, und die Kettenreaktion wurdeausgelöst. Allen drei Fällen liegen menschliches Versa-gen und menschliche Fehler zugrunde.Wir können uns eine Technik, die keinen Fehler ver-zeiht, nicht leisten. Bei der Atomenergienutzung passie-ren die unvorstellbaren Fehler. 1 000 000 Fehlermög-lichkeiten werden durchgespielt. Aber der 1 000 001.Fehler tritt ein, und die Katastrophe geschieht.Die zwei Vorredner haben diesen Punkt schon ange-sprochen: Einen Tag vor dem Unglück haben mehrerehundert Professoren aus Deutschland ein Memorandumzum geplanten Atomenergieausstieg veröffentlicht.Sie sind schnell von der Wirklichkeit eingeholt worden.Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition: Wenn dieser undenkbare Unfall in Japannicht geschehen wäre, hätten Sie zu diesem Thema eineAktuelle Stunde beantragt, in der wir dieses Memoran-dum diskutiert hätten. Deswegen möchte ich die Chanceergreifen, kurz darauf einzugehen.Das Memorandum ist eine einseitige Parteinahme fürdie Atomenergie. Natürlich haben deutsche Wissen-schaftler das Recht, einseitig Partei zu ergreifen und ihreInteressen zu vertreten. Das Memorandum wertet sichaber auf zweierlei Art ab: Erstens enthält es unwissen-schaftliche Unterstellungen, zweitens werden die Pro-bleme der Atomkraft einseitig dargestellt.
Zunächst zu den unwissenschaftlichen Unterstellun-gen: Es ist unwahr, daß Parteitagsbeschlüsse der 70erund 80er Jahre ohne Überprüfung vollzogen werdensollen. Die SPD – ich nehme an: auch die Grünen –setzte sich laufend mit dem Thema Kernkraft auseinan-der. Die Entwicklungen werden genau beobachtet undsachgerecht und kritisch diskutiert. Durch einfachesZeitunglesen hätten die Herren Wissenschaftler dieseAussage nachvollziehen können.Horst Kubatschka
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Durch Zeitunglesen und zum Beispiel durch das Verfol-gen der Bundestagsdebatten hätte man wissen müssen:Für die Koalition ist der Ausstieg aus der Kernenergieein Einstieg in eine andere Energiepolitik.
– „In welche?“ Herr Kollege, Sie haben hier im Plenumschlicht und einfach geschlafen. Wir haben es oft genugdargestellt.
Wir brauchen eine andere Struktur der Energieversor-gung, und zwar eine dezentrale.Die Verfasser des Memorandums schreiben auch vonFortschritten bei der Entsorgung. Natürlich hat es daFortschritte gegeben, zum Beispiel die volumenmäßigeVerringerung der radioaktiven Abfälle. Aber schon beimTransport fangen die Schwierigkeiten an. Deswegen hatvor einem Jahr die damalige Umweltministerin Merkelein Transportverbot ausgesprochen. Entscheidend beidieser Frage ist aber, daß es weltweit kein Endlager fürhochradioaktive Abfälle gibt.
Die Wissenschaft ist sich immer noch nicht einig, wel-che Anforderungen an ein solches Endlager gestelltwerden sollen. Auch die Frage, in welchen Formationendie hochradioaktiven Abfälle gelagert werden sollen, istnicht gelöst. Davon steht nichts im Memorandum. Dasist einseitige Parteinahme.
Für die Verfasser und Unterzeichner des Memoran-dums scheint unsere wichtigste Energieart unbekannt zusein. Energiesparen, Energieeffizienz, rationelle Ener-gienutzung – auch über dieses Thema verliert man keinWort, obwohl ungeheure Forschungsmittel dafür aufge-wendet wurden. Das Thema der regenerativen Energi-en ist sehr einseitig unter dem Gesichtspunkt der Wirt-schaftlichkeit betrachtet worden. Die Verfasser verlierenaber kein Wort dar über, daß für die Kernenergie Mil-liarden D-Mark an Subventionen benötigt wurden. Nurüber diese Subventionen war es möglich, die Kernener-gie wirtschaftlich zu gestalten. Noch erstaunlicher ist,daß das Thema „Restrisiko der Kernenergie“ völlig un-erwähnt bleibt. Das Papier weist erhebliche Mängel auf.Es ist einseitig und unseriös.Ich möchte deswegen die Unterzeichner – nicht dieVerfasser – des Papiers auf eine Meldung des „Tages-spiegel“ vom 30. September hinweisen, wonach HerrProfessor Voß gesagt haben soll, daß die gesundheitli-chen Risiken der Atomkraft nicht höher seien als die derWindenergie. Dies ist eine unglaubliche Äußerung,
genauso unglaublich wie der Unfall in Japan. Allein die-se Äußerung müßte den Unterzeichnern des Memoran-dums klarmachen, daß sie mißbraucht wurden. Ich for-dere daher die Unterzeichner auf, sich von diesem Me-morandum zu distanzieren und ihre Unterschrift zurück-zuziehen. Sonst leidet ihre Glaubwürdigkeit darunter.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht nunmehr die Kollegin Birgit Hombur-
ger.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Vor einer Woche, am 30. Sep-tember, hat sich in Japan ein Unglücksfall ereignet, derin Deutschland ein ungewöhnlich starkes Echo in Poli-tik, Presse und Öffentlichkeit gefunden hat, paßt erdoch, zumindest scheinbar, in die aktuelle Debatte überden Atomausstieg, die bei uns geführt wird.Bei näherem Hinsehen stellt sich das aber anders dar:In Tokaimura wurde mit einer Technik, die in Deutsch-land nicht angewandt wird, nämlich dem Naßverfahren,und einem Ausgangsmaterial, das in Deutschland wedervorkommt noch verwendet wird, ein Verfahrensschrittzur Herstellung von Kernreaktorbrennstäben durchge-führt. In Deutschland werden Reaktorbrennstäbe in einerFabrik in Lingen/Ems aus Uran mit einem Anreiche-rungsgrad von 3 bis maximal 5 Prozent hergestellt. InTokaimura dagegen wurde am vergangenen DonnerstagUran mit einem Anreicherungsgrad von 18,8 ProzentU 235 eingesetzt. Man muß einfach festhalten, daß der-art hoch angereicherter Kernbrennstoff in Deutschlandweder hergestellt noch eingesetzt wird.In der japanischen Fabrik ist nun etwas passiert, wasmit menschlichem Versagen erklärt wird. Statt der er-laubten und für diesen Arbeitsgang vorgesehenen Men-ge von 2,3 Kilo Uranoxidpulver mit einem Anreiche-rungsgrad von über 18 Prozent wurden in einem Gefäßsage und schreibe 16 bis 17 Kilo in Salpetersäure auf-gelöst. Dadurch wurde, wie schon beschrieben, eine kri-tische Masse überschritten und in dem Gefäß eine nu-kleare Kettenreaktion ausgelöst.Es ist ernüchternd und, wie ich finde, auch unerträg-lich, daß das Sicherheitskonzept einer solchen Fabrikdem menschlichen Versagen eines oder mehrerer Mitar-beiter, die entweder Material oder Mengen verwechseln,keinen technischen Sicherheitsriegel vorschiebt. Wirkönnen das von hier aus kritisieren; sorgfältig analysie-ren werden es die japanische Regierung und die Interna-tionale Atomenergie-Organisation. Durch die Entzie-hung der Betriebsgenehmigung hat die japanische Re-gierung allerdings unmißverständlich reagiert und klar-gemacht, daß Sicherheitsvorschriften, die dort gelten,nicht eingehalten wurden.Herr Minister Trittin, ich finde es ziemlich unerträg-lich – das gilt auch für den Kollegen Kubatschka –, daßHorst Kubatschka
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Sie in Ihren Reden gleichzeitig immer das ThemaCastor-Transporte anschneiden und dieses auf ein unddieselbe Ebene stellen.
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– Doch, das haben Sie. Sie suggerieren damit, daß dieseTransporte genauso gefährlich sind. Auch wenn Sie dasnicht ausdrücklich auf eine Ebene gestellt haben, feststeht: Das hat nichts miteinander zu tun, und wenn dasnichts miteinander zu tun hat, braucht man es hier auchnicht zu erwähnen. Wenn man es dennoch tut, verfolgtman damit einen bestimmten Grund.
Nach allen inzwischen vorliegenden Informationendeutet nichts darauf hin, daß dieser Unfall zusätzlicheErkenntnisse auf dem Gebiet der Sicherheitstechnikvermittelt oder bei uns geltende Sicherheitskonzepteauf den Kopf stellen wird. Der Betreiber der einzigenvergleichbaren Anlage in Deutschland, der Brennele-mentefabrik in Lingen, hat jedenfalls dargelegt und auchmit technischen Daten untermauert, daß ein Kritikalitäts-unfall in seiner Anlage technisch ausgeschlossen ist, undzwar unabhängig von menschlichem Versagen.
– Das stimmt nun nicht. Wenn Sie die Vorgänge in Ja-pan entsprechend verfolgt hätten, Herr Kollege Ku-batschka, hätten Sie mitbekommen, daß der Betreiberder Anlage dort zugegeben hat, daß er Sicherheitsvor-schriften, sogar die eigenen Sicherheitsvorschriften,nicht eingehalten hat.
Sie können nicht unterstellen, daß das in deutschen An-lagen genauso passiert.
Wir haben hier auch eine ganz andere Überprüfungspra-xis als in Japan. Das wurde im übrigen schon an der er-sten Reaktion der japanischen Regierung deutlich.Jetzt noch ein paar Worte zu der regierungsamtlichenPublizität und dem Presseecho. Solange nicht klar war,ob die nukleare Kettenreaktion gestoppt werden kann,war es, trotz der großen Entfernung vom Unfallort, rich-tig, diese Situation zu beobachten sowie vorsorgendeund planende Maßnahmen im deutschen Umweltmi-nisterium zu ergreifen. Das war mit Sicherheit gerecht-fertigt. Insofern hat sich Herr BundesumweltministerTrittin richtig verhalten. Ich begrüße auch, daß er sichöffentlich – das will ich an dieser Stelle schon einmalsagen – bis zu der heutigen Debatte im wesentlichen zu-rückhaltend geäußert hat. Aber gerade weil Sie sich sozurückhaltend geäußert haben, war die Presseerklärungunverantwortlich, die Sie abgegeben haben, nämlich dieBevölkerung in Deutschland werde über Auswirkungendes Unfalls, die sich in Deutschland innerhalb einer Wo-che oder später bemerkbar machen würden, rechtzeitigunterrichtet.
Ihre Presserklärung ist deshalb unverantwortlich, weilbei diesem Unfall praktisch kein radioaktives Material indie Umwelt ausgetreten ist. Es gab keine Explosion undkeinen Brand. Die gefährliche Mischung, um die esgeht, ist in dem Behälter geblieben.
– Ja, natürlich. Entschuldigung, aber das war wirklichein dummer Zuruf, den Sie da gemacht haben.
Denn wenn kein radioaktives Material aus dem Behälteraustritt, kann es sich auch nicht über die Erdatmosphäreausbreiten.
– Entschuldigung, Sie verwechseln hier die Reaktion mitder Strahlung. Dazwischen besteht ein großer Unter-schied. Die Strahlung wird in die unmittelbare Umge-bung abgegeben, aber sie kann nicht durch Wind bisnach Deutschland getragen werden. Das ist der Unter-schied, Herr Kollege.
– Das sagen Sie! Ich möchte jetzt nicht bewerten, wel-che naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Sie schon ver-breitet haben. Diese Bewertung überlasse ich den Na-turwissenschaftlern.
Von fragwürdigem politischen Stil des Umweltmi-nisters zeugt die Abrechnung mit den 570 deutschenWissenschaftlern, die ein Memorandum zum geplan-ten Kernenergieausstieg veröffentlicht haben. Thema-tisch haben dieses Memorandum – das habe ich darzule-gen versucht – und der Unfall in Japan nichts, aber auchgar nichts miteinander zu tun. Vielmehr sollte diesesMemorandum sorgfältig gelesen und auch als wertvollerDiskussionsbeitrag berücksichtigt werden,
ob es Ihnen nun paßt oder nicht, Herr Trittin.
Dieses Memorandum unter Ausnutzung von Ängsten inder Bevölkerung als „Dokument professoraler Leicht-fertigkeit“ zu bezeichnen ist ein unnötiger persönlicherAngriff auf Menschen, die sich fachkundig, intensiv undwie ich finde, auch differenziert mit dem Thema ausein-andersetzen.
Gerade Sie, Herr Minister Trittin, der sich bereits durchwirklich leichtfertige Äußerungen im In- und AuslandBirgit Homburger
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einen Namen gemacht hat, sollten einen solchen Angriffjedenfalls nicht starten.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter, PDS-
Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tokaimura ist nur einvorläufiger Höhepunkt. Allein in den letzten drei Tagengab es Unfälle in Finnland, Südkorea und Rußland. InSüdkorea sind wiederum 22 Menschen verstrahlt wor-den; in Finnland trat hochexplosiver Wasserstoff aus.Gerade in der letzten Woche habe ich wieder über-rascht feststellen müssen, wie durch scheinbar simpelsteFehler teuerste Technik einfach zu Schrott wird. Eine125 Millionen Dollar teure NASA-Raumsonde zer-schellte auf dem Mars. Sie wurde – so dürfen wir an-nehmen – mit vergleichbarem Sicherheitsaufwand undvergleichbar großer Sorgfalt wie Atomkraftwerke kon-struiert, die über eine aufwendige und hochgezüchteteSicherheitstechnik verfügen. Diese Sorgfalt hat abernicht verhindern können, daß den Bahnkorrekturbefeh-len Rechnungen zugrunde gelegt wurden, die auf ver-schiedenen Maßeinheiten beruhten.Ist das nicht verrückt? Wer ist jetzt schuld? Die Men-schen, die – wie die Ingenieure und Arbeiter in Tokai-mura – versagt haben, oder die Technik, die solchesVersagen zuließ? Oder vielleicht die Politik, die unsimmer wieder weismachen will, technisch seien Unfälledieser Art zu verhindern?
„Bei uns doch nicht“, tönt es aus vielen Lagern, „ausge-schlossen, die Sicherheitsstandards sind hier viel höher“.Doch das glauben immer weniger Menschen; denn nunsind es nicht mehr nur die GUS-Staaten, die im allge-meinen Wirtschaftschaos vermeintlich zum Herum-schlampen neigen, wie uns die Atomlobby immer weis-machen wollte. Nein, auch die Japaner mischen einmalein paar Kilogramm Uran zu viel in die Pampe, ausge-rechnet diejenigen, die immer die winzigen Computerund Roboter konstruieren und so tolle Autos bauen.Schade irgendwie, darf man denn an nichts mehr glau-ben?Ohne weiter lange Reden zu halten: Ein Unfall mitunkontrollierter Kettenreaktion ist auch in jedemdeutschen Atomkraftwerk möglich, sofern die Kühlungversagt. Die Auswirkungen eines solchen Kernschmel-zunfalls in einem Atomkraftwerk überstiegen das Scha-densmaß des Tokaimura-Unfalls noch bei weitem; dasdürfte klar sein.Wenn man neueste Informationen der InternationalenÄrzte für die Verhütung eines Atomkrieges zur Kenntnisnimmt, wird deutlich, daß auch in Deutschland Unfälleeher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher werden. Inihrem Bericht heißt es nämlich: Im Zuge des Preiskamp-fes der Energieversorger werden die Revisionszeitenvon Atomanlagen immer weiter gekürzt, in Neckar-westheim 2 in den letzten fünf Jahren von 33 auf 17 Ta-ge. Bei der Prüfung der rund 20 000 Armaturen einesAtomkraftwerkes will Siemens künftig zur sogenanntenzustandsorientierten Instandhaltung übergehen, um län-gere Serviceintervalle zu erreichen und seltener Über-prüfungen vornehmen zu müssen. Außerdem soll beiArmaturen und Kühlpumpen nur noch der Zustand ein-zelner Komponenten überprüft und von diesen auf dieübrigen geschlossen werden. Weiter heißt es in diesemBericht, 40 Prozent der Servicemannschaften von Sie-mens bestünden aus Hilfskräften, die die Firma zuneh-mend in Zehnstundenschichten der Strahlenbelastungaussetze. Sie wechselten unter anderem Steuerelementeaus, die im Notfall den Reaktor abschalten sollen.Da wundert es natürlich nicht, daß keine private Ver-sicherungsgesellschaft heute bereit ist, ein Atomkraft-werk gegen einen Unfall zu versichern. Ich glaube, auchdie hier erschienenen Vertreter der Bundesregierungwerden keine Garantie dafür abgeben, daß ein Kritikali-tätsunfall wie in Tokaimura in britischen oder französi-schen Wiederaufarbeitungsanlagen technisch ausge-schlossen ist. Dennoch weigert sich die Bundesregierungbisher beharrlich, ein Verbot der Wiederaufarbeitunggesetzlich zu regeln.
Selbst wenn rein theoretisch ein GAU ausgeschlos-sen wäre, bliebe noch das Problem der Entsorgung.Doch schon der Begriff ist fraglich; denn das strahlen-de Material läßt sich nicht einfach beseitigen. Esbraucht Hunderttausende von Jahren, bis die radioakti-ven Brennstäbe oder der Abfall von Wiederaufarbei-tungsanlagen zu harmloseren Elementen zerfallen ist– „Zeit genug für eine Reihe von Eiszeiten, die Ober-fläche der Erde ordentlich umzupflügen“, wie die„Taz“ einmal schrieb.Meine Kolleginnen und Kollegen, fassen wir Harris-burg, Tschernobyl und Tokaimura zusammen, so bleibtdie Gewißheit: Nach dem GAU ist vor dem GAU. DieKonsequenz, die zu ziehen ist, muß lauten: Nur derschnellstmögliche Ausstieg kann solche Katastrophenausschließen. „Schnellstmöglich“ heißt für uns: nicht25 Jahre, sondern maximal 5 Jahre.
Wir haben dazu eine Änderung des Atomgesetzes be-antragt. Die Debatte dazu wird zufällig heute statt-finden, allerdings wieder einmal – logisch, es ist einPDS-Tagesordnungspunkt – erst am späten Abend,wenn die Medien alle schon eingepackt haben. Das istsehr schade. Aber ich denke, es geht mit Ihrem Demo-kratieverständnis konform, daß solche wichtigen Dingenicht vormittags zur Fernsehzeit diskutiert werden,sondern um 20 Uhr oder später, wenn fast niemandmehr da ist.Danke.
Birgit Homburger
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Das Wort hat die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Hom-burger, von wegen „Radioaktivität hat die Anlage nichtverlassen“: Die Werte, die am Zaun gemessen wurden,waren zum Teil 40 000mal so hoch wie der Normalwert.Soviel zu Ihrer „objektiven“ Informationspolitik.
– Auch das.Es geht nicht darum, diesen Einzelfall zu analysieren.Dieser Einzelfall ist eine Mahnung, daß wir es hier miteiner Technik zu tun haben, die nicht fehlerfreundlichist. Sie, Herr Laufs, diskutieren über neue Sicherheits-philosophien. Unser Grundgedanke ist, Techniken ein-zusetzen, die im Falle eines Fehlers nicht so radikaleAuswirkungen haben, wenn es solche Alternativen gibt– und solche Alternativen gibt es. Deswegen wollen wirden Atomausstieg als Konsequenz aus solchen Unfällen.
Man muß feststellen: Ein Restrisiko bleibt auf jedenFall. Menschliches Versagen ist auch in deutschenAnlagen jederzeit möglich. Der Mensch ist eben nur einMensch. Siemens zum Beispiel setzt jetzt bei Wartungs-arbeiten 40 Prozent ungeschultes Personal ein. 1998kam es an der Unterweser zu einem Druckanstieg imDampferzeuger. Als die Ventile geöffnet werden sollten,waren sie nicht zu öffnen, weil ein Arbeiter den Schlüs-sel falsch aufgehängt hat. Das ist ein typisches Beispiel,wie Menschen auch in Deutschland versagen. Das hat zueinem Störfall der Stufe 2 geführt; Tokaimura war Stufe4. Also, menschliches Versagen gibt es fast jährlichauch in Deutschland. Da sagt man dazu: Wir sichern dasdurch Technik ab. Aber auch die Technik kann versa-gen; das wissen auch Sie. 1983 kam es in Philippsburgzu Lecks in den Brennelementen und zu erhöhter Radio-aktivität. Da sich unvorhergesehene chemische Verbin-dungen bildeten, konnte der Jodfilter nicht mehr funk-tionieren – technisches Versagen. Oder auch 1985: imGrunde wiederum technisches Versagen, weil kleineLecks in Kühlkreisläufen aufgetreten sind.
– Das braucht mir das Ministerium nicht aufzuschreiben,Herr Grill, das weiß ich selbst.Jetzt sagen Sie: Ja, aber in Japan werden Sicherheits-standards bewußt unterlaufen. Dazu sage ich Ihnen: Dasgibt es auch in Deutschland. Jürgen Trittin hat auf denTransportunfall hingewiesen. Ich nenne Ihnen zweiweitere Störfälle in Deutschland, bei denen Sicherheits-standards von den Betreibern bewußt außer Kraft ge-setzt wurden: 1978 in Brunsbüttel: Nachdem ein Leckentdeckt worden war, wurde der Reaktor vorschriftswid-rig erst nach Stunden heruntergefahren. Dieser Störfallhätte wahrscheinlich die Einstufung 1 bis 2 bekommen,wenn es das damals schon gegeben hätte. 1987 in Biblis:Ein Reaktor wurde trotz offener Ventile hochgefahren.Daß die Ventile noch offen waren, wurde nicht bemerkt,obwohl die Kontrollampe leuchtete. Als es entdecktwurde, wurde gegen die Vorschriften – weil man keineZeit verlieren wollte – versucht, das zweite Ventil zuschließen, und noch mehr Kühlmittel ist ausgeflossen.Das sind Beispiele für ein bewußtes Unterlaufen von Si-cherheitsstandards auch in Deutschland. Es gibt in unse-ren AKWs also menschliches Versagen, es gibt techni-sches Versagen und es gibt das bewußte Unterlaufenvon Sicherheitsstandards. Das ist auch in Deutschlandder Normalfall beim Betreiben von Atomkraftwerken.
Deswegen ist für mich Japan auch eine Mahnung, mitunserem Atomausstieg wirklich einmal voranzukom-men. Ich glaube, daß wir als rotgrüne Koalition viel zuhäufig den Fehler machen, über die Instrumente zu re-den, und daß wir viel zu wenig – auch mit der Bevölke-rung – darüber sprechen, warum wir etwas tun. DieserStörfall hat noch einmal deutlich gemacht, daß man,wenn man mit einer solchen Technologie arbeitet, jedenTag mit dem Risiko lebt. Das ist auch ein Stück weiteine Begründung für etwas, das von außen ein bißchenunerquicklich und zäh aussieht, weil es sehr schwer ist,in einem hochentwickelten Industrieland eine gesamteTechnologie zu beenden. Das ist für uns aber nicht ein-fach ein Spiel, sondern hat einen ernsten Hintergrund.Wir halten es nicht für verantwortbar, der jetzigen Gene-ration das Restrisiko und der zukünftigen Generationden Atommüll aufzubürden, der über Zehntausende vonJahren strahlen wird und für den es weltweit kein End-lager gibt, so daß man Zehntausende von Jahren langnicht weiß, wohin mit diesem hochgefährlichen Müll.Es gibt noch andere Gründe; wir als Grüne brauchtendiesen Störfall also in keinster Weise. Ich glaube aber,es wird Zeit, daß wir uns als rotgrüne Koalition einmalentscheiden – nachdem wir über ein Jahr lang versuchthaben, mit den Stromkonzernen Gespräche zu führenund einen Kompromiß zu finden –, wie wir jetzt end-gültig mit dem Atomausstieg weiterkommen. Obwohl esden aus meiner Sicht hochintelligenten Vorschlag vonJürgen Trittin und Joschka Fischer gegeben hat,
um Sicherheit und betriebswirtschaftliche Interessen zueinem flexiblen Kompromiß zusammenzubinden, be-fürchte ich leider, daß die Kompromißbereitschaft aufseiten der Stromkonzerne eher sinkt als steigt, weil siejetzt zunehmend im Wettbewerb miteinander stehen undzum Beispiel von EdF aufgekauft werden.Dennoch müssen wir als rotgrüne Regierung – wirhaben uns das Ziel Atomausstieg vorgenommen – innächster Zeit entscheiden – ich finde, in diesem Jahr –,
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5446 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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ob wir, wenn es bedauerlicherweise nicht zu einemKompromiß kommt – den wir immer noch wollen –, denAtomausstieg dann auch im Dissens durchziehen. Ichhoffe, daß wir dann gleichzeitig auch ein umfassendesKonzept für den Energieeinstieg vorstellen können. Wirhaben erste Maßnahmen – zum Beispiel das 100 000-Dächer-Programm und das Programm zur Förderungerneuerbarer Energien – eingeleitet. Wir werdennachlegen mit der Novellierung des Stromeinspargeset-zes und der Hilfestellung für die Kraft-Wärme-Koppelung im Wettbewerb. Wir werden auch beimThema Energieeinsparung im Baubereich und in ande-ren Bereichen und bei der Energieeinsparberatungnachlegen. Das muß mit dem Atomausstieg zu einemschlüssigen Gesamtkonzept verbunden werden. Ichglaube, daß wir dann auch die Zustimmung der Bevölke-rung für beide Teile – für den Ausstieg und für den Ein-stieg – bekommen werden.
Das
Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Hom-
burger.
Frau Kollegin Hustedt,
ich möchte auf Ihre zu Beginn Ihrer Rede gemachte
Bemerkung eingehen und stelle fest, daß Sie offensicht-
lich eine mangelnde Fähigkeit haben, zuzuhören. Ich
habe hier nicht gesagt, daß keine Strahlung ausgetreten
ist. Ich habe hier vielmehr gesagt: Es ist kein radioakti-
ves Material ausgetreten. Das ist ein erheblicher Unter-
schied. Das radioaktive Material ist im Behälter, ist in-
nerhalb der Anlage geblieben.
Herr Trittin hat gesagt, es würde unter Umständen auch
hier in Deutschland eine Gefährdung geben, weil näm-
lich der Wind Material hierhertragen könne. Diese Aus-
sage ist schlichtweg falsch. Wenn kein radioaktives
Material aus der Anlage austritt, dann kann es auch nicht
hierherkommen.
– Das hat mir keiner aufgeschrieben, Frau Kollegin; das
habe ich eben selber noch notiert.
Es ist also kein radioaktives Material ausgetreten, das zu
einer Gefährdung in Deutschland führen könnte. Herr
Kollege, es hätten nämlich die Häuser in der unmittelba-
ren Umgebung nicht wieder bezogen werden können –
die direkte Strahlung, die Neutronenstrahlung, ist zwi-
schenzeitlich zurückgegangen –, und auch die Gemüse-
felder
hätten nicht freigegeben werden können, wenn wirklich
radioaktives Material ausgetreten und auf die Erde her-
untergekommen wäre. Das ist der Unterschied, und
deswegen bitte ich Sie dringend, das entsprechend zu
unterscheiden.
Das Wort zu einer
Entgegnung hat die Kollegin Hustedt.
Frau Homburger, man muß unterscheiden. In der Tat
sind keine Feststoffe ausgetreten. Aber die GRS sagt,
daß davon auszugehen sei, daß kurzlebige Edelgase und
Jod-Isotope emittiert worden seien.
Ich weiß nicht, ob Sie auch das unter Material fassen
oder ob Sie nur Feststoffe als Material definieren.
– Ja, gut. Dann muß ich aber ehrlich sagen: Das ist die
Art der irreführenden Informationspolitik, die die alte
Bundesregierung immer betrieben hat.
Es wurden Radioaktivität und radioaktive Stoffe emit-
tiert. Das ist ein Fakt. Die Meßdaten sprechen auch da-
für. Was wohl stimmt, ist, daß Edelgase sich relativ
leicht verflüchtigen und sich nicht festsetzen. Aber Ihre
Aussage ist eindeutig falsch.
Ich muß sagen: Zum erstenmal, seit ich Politik ma-
che, fühle ich mich tatsächlich ausreichend informiert
und habe Vertrauen darin, daß die Bundesregierung, die
GRS und das Umweltministerium hier nicht irgendwie
mauscheln und verharmlosen, sondern daß sie sachlich
informieren. Das finde ich angemessen und gut, und das
ist ein großer Fortschritt im Vergleich zur Vergangen-
heit.
Der Kollege Klin-
kert hat das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Jede Technik – ichbetone ausdrücklich: jede Technik –, mit der verant-wortungslos umgegangen wird, stellt eine Gefahr fürden Menschen und die Umwelt dar. Das trifft natürlichin besonderer Weise auf kerntechnische Anlagen zu. InTokaimura ist besonders schlampig und verantwor-tungslos mit hochsensibler Technik umgegangen worden– ein Vorwurf, der nicht die Arbeiter trifft, die ja durchihre falsche Handlungsweise selbst zu bedauernswertenMichaele Hustedt
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Opfern wurden, ein Vorwurf, der aber uneingeschränkteinen offensichtlich unfähigen Betreiber trifft.Wir wissen: Tokaimura, eine Anlage zur Uranverar-beitung, hatte kein ausreichendes Sicherheitskonzept,unzureichend geschultes Personal, fehlende Kontrollme-chanismen und nicht einmal Havarie- und Notfallpläne.Natürlich drängt sich verständlicherweise jedem Men-schen die Frage auf: Ist eine solche, eine ähnliche Hava-rie zum Beispiel auch bei uns in Deutschland möglich?Eine Frage, für deren Beantwortung es in Deutschlandfachlich zuständige Behörden gibt, nämlich die Gesell-schaft für Reaktorsicherheit oder zum Beispiel das Bun-desamt für Strahlenschutz, die, wie wir wissen, vonHerrn Trittin personell umstrukturiert und mit Leutenbesetzt wurden, die man nicht unbedingt als kernener-giefreundlich bezeichnen könnte. Aber beide, GRS undBfS, haben übereinstimmend festgestellt. Erstens. Esgibt keine vergleichbaren Anlagen in Deutschland.Zweitens. Deutsche Anlagen haben eine andere, einewesentlich bessere Sicherheitskultur. Fazit daraus: Japanund nicht Deutschland muß seine Sicherheitsmaßnah-men bei kerntechnischen Anlagen verbessern.
Diese sachliche Aussage hindert natürlich nicht be-stimmte rote und grüne Politiker daran, Horrorszenarienzu entwerfen und die Bevölkerung zu verunsichern. HerrTrittin, deutsche Anlagen in die Nähe von Tschernobylzu rücken, wie Sie das in Ihrer Rede eben getan haben,das ist verantwortungslose Panikmache.
Man hat überhaupt den Eindruck, daß Sie, die rotgrü-ne Koalition, Ihren eigenen Horrorszenarien nicht richtigglauben. Das wird durch die Tatsache bewiesen, daß dieBundesregierung zur Zeit mit den Kernkraftwerksbetrei-bern über Ausstiegsszenarien von bis zu 35 Jahren ver-handelt. Wenn deutsche Kernkraftwerke unsicher wären– sie sind es nicht, das wissen Sie; das Gegenteil ist derFall; sie sind die sichersten der Welt –, dann müßten sieohne Wenn und Aber sofort und nicht erst in 35 Jahrenabgeschaltet werden. Wenn Sie, Herr Trittin, Ihren eige-nen Worten über die Unsicherheit deutscher Anlagenund die Gefahren, die von diesen Anlagen ausgehen,glauben würden, dann müßten Sie, da Sie sich in die-ser Regierung offensichtlich nicht durchsetzen können,diese Regierung verlassen.
Es ist bemerkenswert, daß Sie Ihre offensichtlich vor-handenen Überzeugungen Ihrem Ministersessel opfern– oder Sie haben diese Überzeugung nicht.
Meine Damen und Herren, wie in fast allen Fragen istdiese Bundesregierung geprägt von Konzeptionslosig-keit und Widersprüchlichkeit.
Ein nach meinem Eindruck übrigens immer kleiner wer-dender Anteil möchte einen sofortigen und unumkehrba-ren Ausstieg.
Herr Kollege Klin-
kert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig?
Bitte.
recht, daß die deutschen Anlagen anders konstruiert sind
als die in Tokaimura. Trotzdem möchte ich Sie fragen,
woher Sie die Sicherheit nehmen, daß in deutschen An-
lagen kein Atomunglück passieren kann, und welche
Rede Sie halten würden, wenn es zufällig in Deutsch-
land passiert wäre und nicht in Japan.
Das ist das Typischebei der rotgrünen Koalition: Sie unterstellen ein Szena-rio, das für Deutschland nicht vorstellbar ist,
und fragen danach, was wir dazu sagen würden, wodoch so ein Fall durch die deutsche Sicherheitskulturnach menschlichem Ermessen vermieden werden kann.Ich kann und werde Ihnen diese Frage nicht beantwor-ten, weil es eine sogenannte Suggestivfrage ist.Meine Damen und Herren, ich war dabei, auseinan-derzudividieren, welche Ansicht die Bundesregierungund die rotgrüne Koalition im Moment zur Kernenergiehaben. Ich sagte, daß es einen immer kleiner werden-den Anteil gibt, der noch offen über einen sofortigenund unumkehrbaren Ausstieg spricht, und daß andereden Ausstieg eher als geordneten Auslauf sehen wol-len. Sei es, wie es sei: Die widersprüchliche Diskus-sion in der Koalition und das Erschweren von Ent-scheidungen in Deutschland führen insgesamt zurVerunsicherung in bezug auf den EnergiestandortDeutschland. Das führt zu einer Vertreibung von For-schung und zur Verhinderung einer Entwicklung vonKernkraftwerken einer neuen Generation, auch einerneuen Sicherheitsgeneration.
Das führt weiterhin dazu, daß der Standort Deutschlandder Zukunftstechniken beraubt wird.
Eins steht doch fest: Niemand auf der Welt, am we-nigsten unsere auf dem Energiemarkt mit uns konkurrie-renden Nachbarn, schert sich um deutsche Ausstiegsi-deologie. Nicht ein Kernkraftwerk würde abgeschaltet,wenn es auch nur zu einem teilweisen Ausstieg aus derNutzung der Kernenergie in Deutschland käme.Ulrich Klinkert
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5448 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Herr Kollege Klin-
kert, es gibt eine weitere Zusatzfrage von der Kollegin
Hustedt.
Gern.
Herr Kollege Klinkert, können Sie mir sagen, wieviel
AKWs in Deutschland während Ihrer Regierungszeit
geplant waren?
Frau Kollegin Hustedt,
da nicht ganz auszuschließen war, daß es in Deutschland
einmal einen Regierungswechsel gibt,
und da dieser Regierungswechsel dazu führen würde,
daß der sogenannte ausstiegsorientierte Vollzug, den
rotgrüne Länderregierungen bis dahin schon praktiziert
haben – womit sie das Arbeiten mit und an deutschen
Kernkraftwerken erschwert haben –,
auch dazu führt, daß man jede vernünftige Entwicklung
auf diesem Gebiet nach Kräften erschweren würde, hat
sich niemand getraut, eine ernsthafte Planung von neuen
Kernkraftwerken auf den Weg zu bringen.
Meine Damen und Herren, sollte es zu einem auch
nur teilweisen Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung
der Kernenergie kommen, würde der internationale
Wettbewerb dazu führen, daß trotzdem an deutschen
Steckdosen weiterhin Atomstrom anläge. Dann wäre es
eben Atomstrom aus Frankreich, Belgien oder Großbri-
tannien. Einige Zeit später würden wir Deutschen dieje-
nigen Technologien, deren Entwicklung im eigenen
Land zu Zeiten rotgrüner Desorientierung verhindert
wurde, teuer zurückkaufen.
Vielen Dank.
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Hermann
Scheer.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich möchte einige Bemerkungenzum bisherigen Verlauf der Debatte machen:Die heutige Diskussion ist gemessen an der Diskus-sion des Jahres 1986 ein großer Rückschritt. 1986 gab esja nicht nur den Beschluß der SPD über einen Ausstiegim Zeitraum von zehn Jahren, der in bezug auf die Rea-lisierungsmöglichkeit innerhalb des genannten Zeit-raums vielleicht etwas übermütig war, es gab nicht nurden Beschluß der Grünen über einen sofortigen Aus-stieg, sondern auch die folgende Formulierung des da-maligen Bundeskanzlers Kohl: Die Atomenergie ist füruns eine Übergangstechnologie für 30 Jahre.
Gemessen am Jahr 1986 würde dies bedeuten, daß sichder Altbundeskanzler vorgestellt hat, daß die Nutzungder Atomenergie bis zum Jahr 2016 – das ist ein kürze-rer Zeitraum als der, über den gegenwärtig in bezug aufden Ausstieg aus der Atomenergie diskutiert wird – beiuns beendet sein könnte.
Dies war eine Chance für eine andere Art von Debatte.Sie ist aber leider nicht genutzt worden, weder heutenoch in der Vergangenheit.Meine nächste Bemerkung: Die Debatte wird sehr un-redlich geführt, und zwar auch seitens der Stromkon-zerne. Herr Kollege Klinkert, wenn Sie von der deut-schen Sicherheitskultur sprechen und diese so stark her-vorheben, dann meinen Sie nicht nur die Technik, son-dern auch die Einstellung und die Schulung des Perso-nals. Von daher gesehen ist es in besonderer Weise ab-surd, daß es immer noch politische Fürsprecher dafürgibt, daß im Zusammenhang mit dem Neubau von Re-aktoren Atomtechnikexporte in die Ukraine und nachRußland stattfinden, obwohl dort schon auf Grund derbestehenden Verhältnisse von einer Sicherheitskultur garkeine Rede sein kann. Besonders widersprüchlich sei-tens der Atomwirtschaft ist, daß sie hier die Sicherheithervorhebt, gleichzeitig aber dabei ist, Verträge hin-sichtlich des Imports von russischem Atomstrom in un-seren offenen Markt abzuschließen. All dies ist unred-lich und widerlegt die eigene Argumentation.
Man könnte das noch fortführen. Wenn Sie dieAtomkraftwerke wirklich für absolut sicher halten, dannlade ich Sie ein: Führen Sie mit uns eine Gesetzesände-rung in bezug auf die Deckungsvorsorge in der Atom-haftpflicht durch. Hier ist gegenwärtig eine weitgehen-de Haftungsfreistellung gegeben. Wenn die Atomener-gie so sicher ist, wie sie Ihrer Meinung nach ist, dannkann die Atomwirtschhaft doch jeder Versicherungsge-sellschaft eigentlich mühelos beweisen, daß keine Pro-bleme bestehen. Dann würde sie günstige Versiche-rungsprämien bezahlen, und die Haftung wäre unbe-grenzt. Aber dagegen wehrt sie sich mit all ihren politi-schen Schirmherren mit Händen und Füßen.
Es ist unredlich, davon zu sprechen, daß es hier kein Ri-siko gibt. Experten und Betreiber selber widerlegen die-se Behauptung vielfach durch ihr eigenes Tun.
Eine andere Anmerkung: Wir können nicht daranvorbeigehen, daß es in einem Land wie etwa den Verei-nigten Staaten von Amerika, wo es weder eine SPD
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noch Grüne gibt und wo verhältnismäßig geringe Prote-ste gegen Atomtransporte geäußert werden, seit 1973keinen einzigen Reaktorneubau gegeben hat. Das heißt,in dem Ursprungsland der Atomtechnik – zusammen mitRußland – läuft der Ausstieg aus der Atomenergie. Sieist zu Ende. Gäbe es nicht noch militärische Gründe– die ein besonderes Thema sind –, daran festzuhalten,wäre das mit Sicherheit auch schon längst offiziell ver-kündet worden.Die Gründe dafür sind wirtschaftlicher Art. Wir ha-ben es mit einer Wirtschaftlichkeitslegende zu tun,
nicht nur wegen der – nach heutigem Währungswert –über 100 Milliarden DM, die in Forschung und Ent-wicklung bei der Atomtechnik geflossen sind. Es wur-den schon 20 Milliarden DM für die Forschung im Be-reich der Atomenergie und die Entwicklung der Atom-technik ausgegeben, bevor überhaupt eine einzige Kilo-wattstunde Atomstrom produziert worden war.
– Doch, das ist richtig. Dies ist die nach heutigem Wäh-rungswert exakte Summe.
Herr Laufs, Sie haben das nie widerlegen können; aberlassen wir das auf sich beruhen.Es ist doch nicht zu übersehen, daß in Großbritan-nien die Atomkraftwerke im Zuge der Privatisierungs-politik – ich bringe doch hier nur Fakten vor und machekeine vordergründige Polemik – von Frau Thatcher un-verkäuflich waren. Niemand wollte diese Atomkraftan-lagen haben, und zwar wegen der unübersehbaren Fol-gekosten, die dann nicht mehr vom Staat hätten getragenwerden können.Es ist unübersehbar, daß es – auch noch aktuell – er-hebliche wirtschaftliche Privilegien der Atomindustrienicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern, wieetwa in Frankreich, gibt, wo die Entsorgung – unausge-sprochen – als Staatsaufgabe wahrgenommen wird, wäh-rend bei uns die Entsorgungsrückstellungen – das istvon Ihnen im vorletzten Jahr auch schon einmal kritischdiskutiert worden – praktisch eine steuerfreie Investi-tionsmasse von inzwischen 70 Milliarden DM ausma-chen, mit denen man frei hantieren kann. Deswegen be-steht ein wirtschaftliches Interesse an der Atomenergie;denn mit dem Geld können andere Aktivitäten, wie etwadie Fusionspolitik, vorangetrieben werden.Es ist unübersehbar, daß die Weltbank schon mehr-fach deutlich gemacht hat – etwa wenn es um Reaktor-pläne in Rußland geht –, daß das Investitionsaufkommenfür Alternativen, zum Beispiel GuD-Kraftwerke, sogarniedriger wäre als die Kosten für die technische Aufbes-serung vorhandener Atomkraftwerke, geschweige dennfür den Neubau von Atomkraftwerken.Wir kommen nicht daran vorbei – je schneller dasallgemein begriffen wird, desto besser –, neue Prioritä-ten zu setzen. Die Atomenergie ist Teil einer sterbendenTechnologie, und dies Gott sei Dank. Es ist ein falscherWeg gewesen, den in den 50er Jahren eine allzu tech-nikgläubige Generation eingeschlagen hat, darunter auchviele Sozialdemokraten,
darunter sehr viele Professoren, eine ganze Generationvon Physikern, die die Kernphysik für den Königswegder physikalischen Wissenschaft gehalten haben. Diesehaben es jetzt, nach einem Leben wissenschaftlicherForschungsarbeit auf diesem Gebiet sowie nach so vielGeld, das dort hineingeflossen ist, schwer, zu begreifen,daß das ein Holzweg in der technologischen Entwick-lung gewesen ist.
Das ist das psychologische Problem, vor dem man steht.Man kann es zwar verstehen; aber dies kann nicht dieRichtschnur für politisches Handeln sein.Max Planck hat in seiner wissenschaftlichen Auto-biographie 1922 gesagt – er sprach nur von Physikern –:Zu denken, daß die Repräsentanten der alten Er-kenntnisse, wenn neue Erkenntnisse auftreten, da-zulernen und sich diese neuen Erkenntnisse aneig-nen, ist in aller Regel ein Irrtum. Eine neue Er-kenntnis setzt sich in der Regel nur durch, indemdie Repräsentanten der alten Erkenntnisse allmäh-lich aussterben.Wir müssen aber jetzt politisch handeln. Dieses poli-tische Handeln muß sich auf die Alternative beziehen.Es ist doch völlig klar, daß ein Ausstieg aus der Atom-energienutzung nicht dazu führen darf, daß der Ver-brauch fossiler Energien steigt oder auch nur so bleibendürfte. Das ist völlig klar. Das zeigen auch die Diskus-sionen in der Enquetekommission.Weil das angeblich nicht geht, wird die Unverzicht-barkeitslegende gestreut. Ich will an zwei Beispielenzeigen, wie verfehlt diese Unverzichtbarkeitslegende ist.Wir haben in Deutschland 8 Prozent Stromerzeugungaus Kraft-Wärme-Kopplung. Wir haben in Holland– das ist ja nun kein industrielles Entwicklungsland,sondern ein hochindustrialisiertes Land – 50 ProzentStromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung. Würdenwir nur den holländischen Anteil durch eine entspre-chende Energierahmengesetzgebung realisieren können– zumal Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung relativrasch installierbar sind –, dann könnten wir statt der jetztnur 40 Milliarden Kilowattstunden 250 Milliarden Ki-lowattstunden von den 500 Milliarden Kilowattstunden,die den gegenwärtigen Verbrauch darstellen, aus Kraft-Wärme-Kopplung, also mit doppelter Effizienz, erzeu-gen. Wir haben etwa 150 Milliarden KilowattstundenAtomstrom. Wir könnten allein auf diesem Weg aufAtomenergie verzichten und würden – in diesem Falldann allerdings im Wärmesektor – geringere Emissionenhaben.Dr. Hermann Scheer
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5450 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Wir dürfen nicht in den alten Bahnen denken, daßman nur Strom durch Strom substituieren kann. Es gehtum ein Energieproblem insgesamt, und dieses Gesamt-problem bedeutet, daß auch Strom durch Wärme, Wär-me durch Strom, Treibstoff durch Elektrizität usw. sub-stituiert wird. Sonst kommen wir nicht zu neuen Mög-lichkeiten.
Würden wir – das ist das letzte Beispiel, dann bin ichfertig – allein die sich abzeichnende Ausbaurate des Jah-res 1999 in bezug auf neue Windkraftanlagen – die im-mer besser werden – mit einer Leistung von 800 Mega-watt – jetzt kommt der Off-Shore-Bereich an die Reihe –nur für die nächsten 12 Jahre fortsetzen, dann würdenwir im Jahr 2010 allein 15 000 Megawatt Strom ausWindkraft erzeugen. Sie haben doch beim Zustande-kommen des Gesetzes konstruktiv mitgewirkt.
Das sind jetzt nur zwei Alternativen von vielen ande-ren, die ergriffen werden könnten, von denen einige kür-zere und andere längere Fristen brauchen, um einenbreiten Beitrag zur Energieversorgung leisten zu kön-nen.
Diese Debatte ist das eigentlich Fruchtbare. Das mußuns interessieren, und das interessiert die Menschen.Danke schön.
Ich habe den Kolle-
gen Grill zwar noch nicht aufgerufen, aber er steht schon
am Pult. Herr Kollege Grill von der CDU/CSU-Fraktion,
Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe um michherum eine Reihe von Kollegen, die gern eine Steuerde-batte führen wollen. Deswegen habe ich gedacht, ich bineinmal so rechtzeitig hier, daß sie mir vielleicht noch einStück ihrer Aufmerksamkeit schenken.Herr Scheer, ich fange einmal damit an, daß ich Ihnenentgegenrufe: Weltmeister in installierter Windenergie-leistung auf diesem Globus sind wir in Deutschlandwährend der Regierungszeit von Helmut Kohl gewor-den.
Gerade als Sozialdemokrat sollten Sie etwas bescheide-ner auftreten. Wenn Sie einmal die Haushalte der Jahrevon 1970 bis 1983 und von 1983 bis 1998 unter demAspekt betrachten, wer wann wieviel Geld für Kern-energieforschung und wer wieviel Geld für die Einfüh-rung erneuerbarer Energien wie Solarenergie undWindenergie und die diesbezügliche Forschung ausge-geben hat, dann sehen Sie in dieser Debatte alt aus; dannhaben Sie keine gute Bilanz vorzulegen.
Der zweite Punkt: Wenn man Herrn Scheer, HerrnKubatschka, Herrn Trittin und Frau Hustedt hier hört,sowie die Stichworte Tschernobyl und Harrisburg, dannkommt man zu der Erkenntnis, daß es Ihnen heute nichtum Tokaimura und die Probleme der Arbeiter und derMenschen in Japan gegangen ist, sondern um die In-strumentalisierung des japanischen Unglücks für Ihreinnenpolitischen Zwecke und Ziele. Gerade der Beitragvon Herrn Scheer hat das noch einmal deutlich gemacht.Ihre Sorge um Japan ist eigentlich nicht glaubwürdig.Herr Kubatschka, ich weiß, daß Sie eigentlich ein se-riöser Mensch sind. Aber Ihr Versuch, hier und heute570 hochangesehene Wissenschaftler der Bundesrepu-blik Deutschland mit einem Satz in die Ecke der Un-glaubwürdigkeit und der Unwissenheit zu stellen, suchtseinesgleichen. Ihre simple Geisteshaltung versperrt Ih-nen den Zugang zu der Komplexität des Ratschlags, denIhnen diese Wissenschaftler gegeben haben.
Herr Scheer, Ihnen gebe ich mit auf den Weg – Siehaben es selber angesprochen –, noch einmal über dieVerminderung der CO2-Emissionen nachzudenken. Esgibt bis zum heutigen Tag kein Konzept der Bundesre-gierung für einen klimaneutralen Ausstieg aus der Kern-energie. Ein solches Konzept hat es bisher in Deutsch-land auch nicht gegeben. Im Rahmen der Enquete-Kommission des schleswig-holsteinischen Landtagszum Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb von zehnJahren hat Ihre eigene Partei festgestellt, daß ein solcherAusstieg in zehn Jahren nicht möglich ist und daß dieserAusstieg vor allem nicht ohne eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes möglich ist.
Schweden weist nach dem Ausstieg aus der Kern-energie ein Plus von 5 Prozent an CO2-Emissionen auf.Die Niederlande sind das schlechteste Beispiel für eineerfolgreiche Verminderung der CO2-Emissionen. Dieniedrigsten CO2-Emissionen pro Kopf haben die euro-päischen Länder, die über einen hohen Anteil der Ener-giegewinnung aus Kernkraft und Wasserkraft verfügen.Dänemark und die Niederlande liegen mit ihren CO2-Emissionen pro Kopf an der Spitze. Dies können Sienicht leugnen.Ich bitte Sie, bei Ihrer simplen Argumentation, mehrin Gaskraftwerke zu investieren, die Brennstoffkostennicht zu vergessen, die mometan drastisch steigen. DerÖlpreis liegt mittlerweile bei 25 Dollar pro Barrel. Siewissen, daß die Gaspreise nachziehen. GuD-Kraftwerke,deren Errichtung Sie gebetsmühlenartig fordern, bedeu-ten nichts anderes als ein Plus bei den CO2-Emissionen.Mit diesen Anlagen ist kein klimaverträglicher AusstiegDr. Hermann Scheer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5451
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aus der Kernenergie möglich. Sie bedeuten ein unkalku-lierbares politisches und ökonomisches Risiko.
Sie, Herr Trittin, haben versucht – mit diesem Ver-such sind Sie auch schon innerhalb der Bundesregierunggescheitert –, das Risiko der Kernenergie in Gegensatzzum Allgemeinwohl zu bringen.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns doch mit einem Teilder 570 Wissenschaftler und mit einem Teil der Mitglie-der des Beirats „Globale Veränderungen“, die eine Risi-kostudie ausgearbeitet haben, diskutieren, wie das Risi-ko der Kernenergie langfristig einzuschätzen ist. Ichtrete jeden Tag gegen Ihre simple Risikobetrachtung an.Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie den Menschenglauben machen, nach der Beseitigung des Risikos derKernenergie gebe es eine Energieversorgung, die keinelangfristigen und schweren Risiken für den Menschenbeinhaltet. Damit belügen Sie das deutsche Volk.
Es geht weder um Verharmlosung noch um Dramatisie-rung. Aber Sie haben den Unfall in Japan heute wiederfür die innenpolitische Debatte genutzt.Ich kann Sie, Herr Scheer, nur fragen: Was hindertSie daran, mit uns gemeinsam die Bundesregierung auf-zufordern, unsere Große Anfrage vom März dieses Jah-res, wie die Energiepolitik der Bundesregierung aus-sieht, endlich zu beantworten? Wir haben diese GroßeAnfrage im März gestellt. Bis heute, den 7. Oktober, hates keine Antwort gegeben. Die Bundesregierung hat sichnoch nicht einmal bei uns entschuldigt, daß sie keineAntwort auf unsere Frage nach ihrer Energiepolitik ge-geben hat. Solange Sie uns nicht faktisch beweisen, daßSie ein Energiekonzept haben, das den Ansprüchen ge-nügt, die Sie hier permanent stellen, so lange rate ichIhnen eindringlich, etwas bescheidener aufzutreten. Siehaben kein Konzept für den Einstieg in eine neue Ener-giepolitik.Uns unterscheidet insofern gar nichts von Herrn Trit-tin: Er möchte genauso wie wir die Verdoppelung desAnteils der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 er-reichen. Legen Sie doch ein Konzept vor, aus dem er-sichtlich wird, wie dies möglich sein soll! Sie tun esnicht. Sie haben sich in der Energiepolitik bisher nichtbewährt.Zum Schluß möchte ich Ihnen zwei Dinge vortragen,die ich mir für die heutige Debatte aufgehoben habe.Herr Trittin, Sie haben vorhin etwas zu den Atomtrans-porten gesagt. Wir haben lange über das Für und Widerder Castor-Behälter diskutiert. Bis zum Regierungs-wechsel galten diese Behälter bei Ihnen als sehr gefähr-lich. Nun hat Ihre Kollegin Frau Hustedt vor wenigenTagen in Bonn gesagt, der Castor-Behälter sei in sich si-cher, er könne ohne Halle als Zwischenlager dienen.Weil Sie Transporte vermeiden wollen, wird nach IhrerSicherheitsargumentation aus dem unsicheren Castor-Behälter, der gestern nach Gorleben transportiert wordenist, auf einmal ein todsicheres Ding, das man ohne Halle– Frau Griefahn hat noch vor wenigen Jahren von einerbesseren Tennishalle gesprochen – ins Freie stellenkann.Gleiches gilt für die Erkenntnis der SPD und dieserKoalition, daß Gorleben nicht geeignet ist. Auch dieseErkenntnis galt nur bis zum 27. September 1998. Im Julisind Frau Mehl und zehn andere Bundestagsabgeordneteder SPD in den Salzstock eingefahren. Im Dunkeln kamihnen die Erleuchtung. Nachdem sie hochgekommenwaren, waren sie der Meinung: Der Salzstock in Gorle-ben muß weiter untersucht werden.Wer seine Argumente in fundamentalen Fragen zurSicherheit der Kernenergie an tagespolitischen Opportu-nitäten ausrichtet, der sollte sich nicht zum Weltmeisterin Fragen der Sicherheit der Kernenergie aufspielen. Siesind dabei, eklatant zu versagen. Sie sind in Deutschlanddie schlechtesten Ratgeber in Sachen Sicherheit derKernenergie.
Das Wort hat Bun-desminister Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich möchte eine Vorbemerkung undzwei Bemerkungen machen.Die Vorbemerkung richtet sich an Herrn Grill. HerrGrill, das, was Sie hier abgeliefert haben, war genau das,was wir in unserer Informationsarbeit zu vermeiden ver-sucht haben, nämlich das tragische Schicksal der Men-schen in Tokaimura dafür zu instrumentalisieren, hiereinen Glaubenskrieg zu veranstalten.
In aller Ruhe und Sachlichkeit: Liebe Frau Hombur-ger, Sie haben uns vorgehalten, in einer Pressemittei-lung versucht zu haben, die Menschen zu verunsichern.Ich habe mir die Pressemitteilung extra herausgeholt.Ich weise Ihre Unterstellung mit allem Nachdruck zu-rück. Wir haben bereits am 30. September ausweislichder auch Ihnen vorliegenden Pressemitteilung erklärt:Über Ursachen und genaues Ausmaß des Störfallsherrscht derzeit noch Unklarheit. Nach jetzigemKenntnisstand sind die Auswirkungen des Störfallsauf die Region um die Anlage beschränkt. Zur Zeitgibt es noch keine Hinweise darauf, daß eine Ge-fährdung außerhalb des betroffenen Gebietes zu be-fürchten ist.Ich sage das mit allem Nachdruck, weil ich mir vor demHintergrund dieser seriösen Informationsarbeit vonIhnen keine Panikmache vorwerfen lassen möchte.
Lieber Herr Kollege Laufs, es ist keine Infamie, wennwir den Sprecher, den sich diese 570 ProfessorinnenKurt-Dieter Grill
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5452 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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– auch Frauen gehören dazu – und Professoren gewählthaben, zitieren, der öffentlich erklärt hat: „Bei einer Ge-samtbilanzierung sind die Risiken, die mit der Kernkraftverbunden sind, mit denen der Windkraftenergiegewin-nung gleichzusetzen.“ So wörtlich Professor Dr. Voß,den sich diese altehrwürdige Professorinnen- und Pro-fessorengemeinschaft zum Sprecher gewählt hat. Ich sa-ge mit Nachdruck: Solange sich diejenigen, die diesesMemorandum unterschrieben haben, von diesen Äuße-rungen nicht distanzieren, so lange werden sie mit demVorwurf des professoralen Leichtsinns leben müssen.
Wortmeldungen zu
einer Kurzintervention liegen von dem Kollegen Loske,
von der Kollegin Mehl, von der CDU/CSU, von der
F.D.P. und von der PDS vor. Nach diesen Kurzinterven-
tionen werde ich die Debatte beenden.
Herr Loske, Sie fangen mit der Runde der Kurzinter-
ventionen an.
gen! Heute war viel von dem Memorandum der
570 Professoren die Rede. In dem Zusammenhang wur-
de von professoralen Leichtfertigkeiten gesprochen. Das
hat mich als langjährigen Hochschullehrer sehr traurig
gemacht. Nachdem ich es mir durchgelesen habe, muß
ich sagen: Es stimmt.
– Völlig richtig, dann bin ich noch trauriger geworden.
Ich will einmal kleine Kostproben geben.
Erstens ist manches schlicht und einfach falsch. Im
ersten Satz unter Punkt 3 heißt es zur Entwicklung der
Kernenergie:
In vielen Teilen der Welt wird die Kernenergie
weiter ausgebaut.
Heute haben wir mehrfach gehört, daß die Kernenergie
in keinem Industrieland der Welt mehr weiter ausgebaut
wird.
Das ist die Wahrheit; man kann nicht einfach die Fakten
auf den Kopf stellen.
Zweiter Punkt – hören Sie gut zu –:
Die Akzeptanzkrise der Kernenergie in den siebzi-
ger und achtziger Jahren hat Teile der Politik in die
Resignation getrieben
Könnte es nicht auch sein, daß man schlicht und einfach
der Meinung war, daß die Atomenergie nicht zukunfts-
fähig ist, und nicht aus einer resignativen Haltung her-
aus, sondern aus der Haltung heraus, daß der Energie-
sektor in Richtung Ökologie umgebaut werden muß, ge-
handelt hat? Ich halte diese Aussage für Ideologie pur.
Dritter und letzter Punkt:
Dabei hat sich gezeigt, daß das System „Kernener-
gie“ im Vergleich
– eben im ökologischen Vergleich –
gut abschneidet. Es wäre paradox, ein solches Sy-
stem … aufzugeben.
Auch das ist sehr stark ideologisch aufgeladen.
Nun noch einmal zu Ihren Worten, Herr Kollege
Laufs. Sie sehen, daß es durchaus Kollegen gibt, die das
gelesen haben. Dem, der hier sagt, es sei ein Armuts-
zeugnis, wenn man fordert, aus der Atomenergie auszu-
steigen, kann ich nur entgegenhalten, daß die Äußerung
von Minister Trittin, es handele sich um professorale
Leichtfertigkeit, eine sehr freundliche Antwort auf die-
sen Unfug ist.
Danke schön.
Frau Kollegin Mehl.
Sehr geehrter Herr Grill, ichwollte kurz auf Ihre Äußerung eingehen, ich hätte an-läßlich eines Besuches in Gorleben gesagt, daß ich fürdie weitere Erkundung von Gorleben zum Zwecke derNutzung als Atommüllager sei.
Dazu ist folgendes festzuhalten:Erstens. Sie entnehmen Ihre Informationen offenbarvöllig kritiklos der Presse. Sie sollten vielleicht vorhereinmal diejenigen, die etwas gesagt haben sollen, direktfragen, ob das stimmt.Zweitens. Sie sagten, ich sei von unten aus demdunklen Schacht wieder hochgekommen und hätte danndie Erleuchtung gehabt. Sie waren offenbar nicht dort,denn unten ist es ebensowenig dunkel wie oben, und dieErleuchtung hatten wir schon vorher.Drittens ist festzuhalten: Wir haben bei diesem Ge-spräch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß wir derAuffassung sind, daß Gorleben nach bisherigen Er-kenntnissen nicht für die Lagerung von hochradioakti-vem Müll geeignet ist. Wir sind aber sehr wohl der Mei-nung, daß insbesondere die Bundesländer, die seit vielenJahren unkritisch den weiteren Ausbau der Kernenergieverfolgen, einmal schauen sollten, ob es in ihrem Landenicht wesentlich besser geeignete geologische Formatio-nen für ein Endlager gibt. Diese weigern sich aber. Die-se Haltung muß weiterhin hinterfragt werden, weil dasProblem nach wie vor nicht gelöst ist.
Bundesminister Jürgen Trittin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5453
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Da es sich um Kur-
zinterventionen handelt, bitte ich auch Sie, Kollege
Laufs, vom Platz aus zu sprechen.
Frau Präsidentin! Mei-
ne Damen und Herren! Das Memorandum als Ganzes,
Kollege Loske und Herr Minister, ist in verschiedene
Aspekte untergliedert.
Der erste Unteraspekt lautet: „Fortschritte der Sicher-
heitstechnik“. Was da geschrieben worden ist, läßt sich
an Hand wissenschaftlicher Publikationen und der
Vierteljahresberichte über meldepflichtige Vorkomm-
nisse in deutschen Atomanlagen – vorhin habe ich ja
diesen Hinweis gegeben – nachvollziehen.
Unter Punkt 6 wird über den „ökologischen Ruck-
sack“ der verschiedenen Energiesysteme gesprochen.
Wenn Sie sich die Arbeiten, die in großem Umfang am
Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energiean-
wendung unter der Leitung von Professor Voß an der
Universität Stuttgart durchgeführt worden sind,
ansähen, dann würden Sie feststellen, daß der ökologi-
sche Rucksack, den jedes Energiesystem mit sich trägt
– ich bitte Sie, sich einmal diese Arbeiten anzusehen –,
wissenschaftlich, sehr umfangreich und ins Detail ge-
hend für die verschiedenen Energiesysteme berechnet
worden ist. Wenn Sie diese Lasten vergleichen, dann
stellen Sie fest, daß die Kernenergie bemerkenswert gut
abschneidet.
Die Infamie besteht darin, festzustellen, daß wir nach
der Tschernobyl-Katastrophe wissen, daß es Techniken
gibt, die verheerende Katastrophen zur Folge haben
können, und dann Aussagen über den ökologischen
Rucksack mit Fragen der Sicherheitstechnik in der öf-
fentlichen Diskussion undifferenziert zu vermengen.
Deshalb schlage ich vor – ich bitte Sie wirklich, diesen
Vorschlag aufzugreifen –, das Dialogangebot der ge-
nannten Professoren anzunehmen und in eine ernsthafte
Risikodiskussion einzutreten.
– Sie wissen ja alles besser. Sie haben Ihre Glaubens-
überzeugungen. Deshalb benötigen Sie solche Diskus-
sionen offensichtlich nicht.
Wir wollen diese Diskussionen führen. Wir wären
dankbar, wenn Sie sich uns anschließen würden.
Die Fraktionen der
F.D.P. und der PDS sind klug und verzichten auf eine
Kurzintervention. Dafür bedanken wir uns.
– Herr Kollege Grill, wir hatten gemäß § 44 Abs. 2 der
Geschäftsordnung vereinbart, daß wir, nachdem der Mi-
nister nach Ablauf der ursprünglich für die Fraktionen
beschlossenen Redezeit noch einmal das Wort ergriffen
hat, nur noch bestimmte Kurzinterventionen zulassen.
Deswegen ist es, so glaube ich, richtig, wenn ich jetzt
sage: Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
schließe die Aussprache.
Folgendes möchte ich bekanntgeben: Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen möchte zu Protokoll geben, daß es
bei der Abstimmung im Rahmen des Zusatzpunktes 3, also
bei der Abstimmung über die Beschlußempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/1754, neben
den bereits vermerkten Enthaltungen auch zwei Enthaltun-
gen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben hat.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Steuervorschlägen, insbesondere unter den
Gesichtspunkten sozialer Ausgewogenheit,
Haushaltssolidität und Verfassungsmäßigkeit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Man sieht, Herrn Merz fällt nichtsmehr ein. Immer wenn er mich hier vorne sieht, sagt erdas gleiche. So phantasielos sind inzwischen auch dieneu aufgekochten Steuerpläne der Union.
Herr Merz ist offensichtlich die Personifizierung steuer-politischer Phantasielosigkeit.Der Inhalt der in den letzten Tagen von der CDU undCSU vorgestellten steuerpolitischen Eckpunkte sowiedie bayerische Steuerinitiative des MöchtegernkanzlersStoiber lohnt der Sache nach eigentlich keine Debatte imDeutschen Bundestag.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Aktuelle Stundeaber beantragt, um es CDU und CSU nicht durchgehenzu lassen, daß sie so tut, als habe sie wirkliche Alterna-tiven zur Steuerpolitik der Regierungskoalition. Das istnämlich nach wie vor nicht der Fall.
Vielmehr ist in den letzten Tagen eines deutlich gewor-den, nämlich daß sich CDU und CSU ohne Skrupelweiterhin als Schuldenparteien aufführen.
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5454 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Die jetzt präsentierten Eckpunkte sind nichts anderesals Schall und Rauch. Sie können die große Rat- undHilflosigkeit der Unionsparteien in der Steuerpolitiknicht verschleiern. CDU und CSU haben mittlerweilegemerkt, daß die Wählerinnen und Wähler von der Op-position mehr erwarten als Wegtauchen oder Totalkritik.Die alten Rezepte, die bereits in der vergangenen Le-gislaturperiode gescheitert sind, sind auch heute nochuntauglich. Die Wählerinnen und Wähler haben Ihnendarauf am 27. September des letzten Jahres eine klareund eindeutige Absage erteilt.Wir erinnern uns: Bundeskanzler Kohl sprach davon,daß die Bundestagswahl eine Volksabstimmung über dieSteuerreformvorschläge der CDU/CSU und F.D.P. aufder einen und der SPD auf der anderen Seite werde. Die-se Volksabstimmung hat stattgefunden. Das Volk hateindeutig gesprochen. Es hat Ihre Rezepte verworfen.
Wie kann man sich selber vormachen, daß eine Steu-erreform sozial gerecht ist, die die Senkung des Spitzen-steuersatzes auf 35 Prozent in den Vordergrund stelltund die Steuerentlastung zudem auf Pump finanzierenwill? Wer zahlt denn die Zinsen für die Schulden, dieder Staat für die Steuerentlastung machen soll? Das sinddiejenigen, die in den 16 Jahren der Kohl/Waigel-Regierung ohnehin genug geschröpft worden sind.
Das sind in der Masse Arbeitnehmer und Familien mitKindern. Und wer erhält die Zinsen, damit er die vonCDU und CSU geforderten Steuergeschenke für Ein-kommensmillionäre finanzieren kann? Das sind diejeni-gen, die genug Geld haben, um es dem Staat leihen zukönnen – es sei denn, sie haben es vorher nach Luxem-burg oder woandershin geschafft.Diese Politik der Umverteilung von unten nach oben,die der bayerische Finanzminister Faltlhauser offen ein-räumt, wenn er von Kreditaufnahmen zur Finanzierungder Steuersenkung spricht, ist bei den Wählern geschei-tert. Die Wachstums- und Selbstfinanzierungserwartun-gen werden illusionär überzeichnet. Eine solche Politikist verantwortungslos, ungerecht und unseriös.
Dies wird auch daran deutlich, daß Sie den alten § 34des Einkommensteuergesetzes wieder in der ursprüngli-chen Fassung haben wollen. Dabei weiß doch jeder, daߧ 34 die Grundlage aller Steuersparmodelle war
und dazu geführt hat, daß die Einnahmen aus der veran-lagten Einkommensteuer immer neue Tiefstände er-reichten. Diesen verhängnisvollen Trend haben erst wirumgedreht – nicht Sie!
Wir haben dieses riesige Steuerschlupfloch gestopft, dasdazu geführt hat, daß gutverdienende Abschreibungs-künstler oftmals keinerlei Steuern mehr gezahlt haben.Es ist doch an den Haaren herbeigezogen, zu behaupten,die Änderung von § 34 gefährde die Alterssicherung derMittelständler. Die von uns eingeführte Fünftel-Rege-lung ist geradezu mittelstandsfreundlich.Der CSU-Oberbürgermeister Josef Deimer stellt fest:Er sei skeptisch; ihm fehle eine Gegenrechnung, anson-sten handele es sich um eben die Luftbuchungen, dieman sonst immer anderen vorwerfe; im Grunde sei dasjetzt von Stoiber vorgelegte Modell nicht besonders neu;er könne nicht von dem Prinzip Hoffnung leben, da diein den letzten Jahren erfolgten Steuerentlastungen fürdie Wirtschaft an der Arbeitslosigkeit nichts geänderthätten. Soweit der CSU-Oberbürgermeister Deimer.Ungeachtet dieser steuerpolitischen Geisterfahrt mußnoch eine Tatsache erwähnt werden: Ihr Selbstverständ-nis als Partei bedenkenlosen Verschuldens wird dadurchdeutlich, daß die von CDU und CSU angekündigtenSteuersenkungen auf Pump wegen Verstoßes gegenArt. 115 des Grundgesetzes verfassungswidrig wären.Aber die Verfassung spielt bei Ihnen offensichtlichüberhaupt keine Rolle mehr.
Ihre Steuersenkungen auf Pump kollidieren doch mitdem von dem Kollegen Waigel durchgesetzten europäi-schen Stabilitätspakt. Aber auch das interessiert Sienicht mehr.Wir haben aber noch einen anderen abstrusen Vor-gang erlebt: Herr Stoiber hält eine Nettoentlastung von50 Milliarden DM für möglich, am selben Tag sprichtHerr Schäuble aber von einer Entlastung von30 Milliarden DM. Man muß sich diesen „kleinen“ Un-terschied von 20 Milliarden DM einmal vorstellen! Dar-an wird deutlich, daß Ihre Vorschläge unseriös sind.
Die Öffentlichkeit müßte eigentlich aufschreien. DerSPD würde man nie durchgehen lassen, daß der eine voneiner Nettoentlastung von 50 Milliarden DM und amselben Tag, wie es der CDU-Vorsitzende Schäuble getanhat, ein anderer von einer Entlastung von 30 MilliardenDM spricht.
Daran wird deutlich, wie gedankenlos Sie Politik betrei-ben. Das ist nicht unser Weg und kann auch nicht derrichtige Weg sein.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Es liegt nicht im Interesse zu-künftiger Generationen, daß Herr Stoiber steuerpoliti-sche Schnellschüsse produziert, um von seiner dubiosenRolle im Bauskandal oder von seiner völligen außen-Joachim Poß
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politischen Verirrung abzulenken, indem er sich alsSteigbügelhalter für Ultrarechte aufspielt.
Nein, so wird Herr Stoiber nie Bundeskanzler. Er istwahrlich ein Möchtegernkandidat und hat sich als sol-cher entlarvt.
Sie wissen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, daß die Redezeit in der Ak-
tuellen Stunde fünf Minuten beträgt. Ich möchte daran
erinnern.
Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Lieber Herr Poß, ich weißgar nicht, warum Sie so geschrien haben.
Der Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, der aufdem Tisch liegt, ist kein Grund für Empörung und Auf-regung, so wie Sie sie zum Ausdruck gebracht haben. Esist vielmehr ein hervorragender Vorschlag, den wir be-grüßen. Er stellt eine mutige Konzeption für die Schaf-fung eines wettbewerbsfähigen Steuerrechts dar.
In diesem Vorschlag sind genau die beiden Elementeenthalten,
die für die weitere positive wirtschaftliche Entwicklungund für die Verbesserung am Arbeitsmarkt von ent-scheidender Bedeutung sind. Zum einen geht es um einedeutliche Senkung der Steuersätze. Die Steuersätze sol-len für alle Steuerpflichtigen gesenkt werden: für dieArbeitnehmer und für die Arbeitgeber, für die Menschenmit geringerem Einkommen und für die mit höheremEinkommen, für die Kapitalgesellschaften und für diePersonengesellschaften. Das ist die erste Botschaft, diemit diesem Konzept verbunden ist.
Die zweite Botschaft ist eine deutlich spürbare Netto-entlastung der Steuerpflichtigen; denn nur so bekommenSie den nötigen Impuls für Wachstum und Beschäfti-gung. Sie müssen durch eine Nettoentlastung einen Frei-raum für Investitionen schaffen.
Das ist in der Tat etwas ganz anderes als das, was Siebisher gemacht haben und noch vorhaben. Sie haben mitIhrem sogenannten Steuerentlastungsgesetz nur eineganz geringfügige Absenkung der Steuersätze vorge-nommen, dafür aber eine enorme Verbreiterung der Be-messungsgrundlage. Das bedeutet in der Konsequenzeine Belastung gerade derjenigen, die für die Schaffungvon Arbeitsplätzen verantwortlich sind, nämlich derUnternehmen und der Betriebe. Zudem ist es gespicktmit einer ganzen Fülle von nicht anwendbaren, sich ander Grenze des verfassungs- und europarechtlich Zuläs-sigen bewegenden Vorschriften. Ihre Vorschläge ma-chen das Steuersystem noch komplizierter. Dies alles istuns erst gestern in der Anhörung von den Fachleuten be-stätigt worden.
Das, was Sie gemacht haben, war keine Steuerentla-stung, sondern eine Steuerbelastung; ich nenne bei-spielsweise die Ökosteuer. Auch das, was Sie den Leu-ten im Rahmen der Unternehmensteuerreform verspre-chen, ist keine Entlastung und gibt keinen Impuls fürweitere Beschäftigung.
Sie stochern nach wie vor im Nebel, insbesondere beider Besteuerung der Personengesellschaften. Mittler-weile hat sich sogar Herr Schlauch schon davon distan-ziert. Ich bin nur gespannt, welche Vorschläge von sei-ten der Grünen kommen werden. Distanzieren und Pro-blematisieren allein, wie Sie es an anderer Stelle ge-macht haben, reichen hier nicht. Wir wollen schon kon-kret wissen, wie Sie dies angehen wollen.
Im übrigen hat mich verwundert, daß der Bundes-kanzler wie schon vor einigen Wochen bei einer Veran-staltung in Frankfurt auch gestern beim Gewerkschafts-tag gesagt hat: Uns interessieren die Unternehmen, abernicht die Unternehmer. Meine Damen und Herren, wolebt dieser Bundeskanzler eigentlich? Weiß er nicht, daßer so die Arbeit der wirtschaftlichen Leistungsträger inDeutschland – fast 90 Prozent unserer Unternehmen sindPersonengesellschaften – diskreditiert und ignoriert?
Nun zu der Frage, ob wir uns diese deutliche Netto-entlastung leisten können. Wir haben immer gesagt: Ja,wir wollen sparen. Waigel hat dies vorgemacht.
– Natürlich, in den letzten Jahren wurden die Ausgabendeutlich zurückgefahren, aber nicht nach der Buchhalter-oder der Rasenmähermethode. Dies geschah auch nicht,wie Sie es getan haben, mit Hilfe eines gewaltigen Ver-schiebebahnhofs, auch nicht durch Steuererhöhungen –vor allem nicht allein dadurch.
Joachim Poß
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5456 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Das Gebot der Stunde heißt „Sparen und Steuern sen-ken“ – beides gehört zusammen.
Ich wünsche mir sehr, daß Sie die volkswirtschaftli-chen Zusammenhänge erkennen. Es gibt doch Beispieleaus Neuseeland, Großbritannien und einer Fülle von an-deren Ländern, wo ähnliches gemacht wurde: deutlicheSenkung der Steuersätze und Nettoentlastung. Die Stol-tenbergsche Reform Ende der 80er Jahre, die deutlicheNettoentlastung, hat doch zu zusätzlichen Steuerein-nahmen und in der Konsequenz
– das war vor der Wiedervereinigung, liebe Kollegin –zu mehr Beschäftigung geführt.Sie sollten deshalb endlich die volkswirtschaftlichenZusammenhänge zur Kenntnis nehmen anstatt ein klein-kariertes, buchhalterisches Denken an den Tag zu legen.Sie sollten endlich einmal den Rat von Experten ernstnehmen und die Erfahrungen im Ausland in Ihre Über-legungen einbeziehen. Sie sollten Ihre ideologischenScheuklappen ablegen und sich mit uns gemeinsam aufden Weg begeben, über eine Steuerreform, die diesenNamen wirklich verdient, zu einer positiven Entwick-lung der Beschäftigung und zu einer Förderung der In-vestitionen zu gelangen.
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon interessant, was so alles in letzter Zeit ausBayern zu hören ist. Ich glaube, daß die Vermutung, diegeäußert wird, daß Herr Stoiber von einigen Skandalen,die Bayern betreffen, ablenken will, durchaus zutrifft.Denn wie sonst käme er auf die Idee, sich zum einen inÖsterreich einzumischen, mit wem dort Koalitionen ge-schlossen werden – es wäre katastrophal, wenn er dies inder gleichen Situation in der Bundesrepublik Deutsch-land tun würde –,
und zum zweiten die CDU/CSU-Fraktion zum Verfas-sungsbruch aufzurufen? Das darf man, verehrte Kolle-gen und Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion und vorallem der F.D.P., nicht unterschätzen.
Das, was an steuerlichen Entwicklungen hier vorgelegtworden ist, ist eine Ablenkungsaktion, die nur dazu die-nen soll, von den Skandalen abzulenken, bei denen sichHerr Stoiber wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat.
Ich verstehe auch den Familienbund der DeutschenKatholiken in diesem Punkt sehr gut. Da gibt es einePressemitteilung: „Verfassungswidrige Ideen aus Mün-chen“. Es ist sehr schön, auch einmal von dieser Seiteklar zu hören, wie sie die Vorschläge des bayerischenSteuermodells einschätzt.Zum Inhalt. Was hier vorgeschlagen worden ist, isteigentlich überhaupt nichts Neues. Das ist das, was dieCDU/CSU-Fraktion bereits in der letzten Legislaturpe-riode vorgeschlagen hat. Da war allerdings auch dieMehrwertsteuererhöhung vorgesehen. Davon ist jetztüberhaupt nicht mehr die Rede. Statt dessen spricht manvon einer höheren Nettoneuverschuldung.
Deswegen ist das, was hier vorgeschlagen worden ist,auch verfassungswidrig. Denn es geht nicht, daß die hö-here Neuverschuldung das Investitionsvolumen über-steigt. Dies wäre aber hier eindeutig der Fall. Das wissenSie sehr gut. Sie mogeln sich darum herum, ohne zu sa-gen, daß die CSU in Wahrheit – das betrifft Ihre nettenPresseerklärungen der letzten Tage, Frau Hasselfeldt –die Mehrwertsteuererhöhung will.
Der zweite Punkt ist, daß Herr Stoiber des öfterenauch außerhalb Deutschlands unterwegs ist und andereneuropäischen Ländern mehr oder weniger nahelegt, deneuropäischen Stabilitätspakt einzuhalten. Das macht erbesonders gern bei unserem Partner Italien. Er mahnt dieLänder, dafür zu sorgen, daß ihre Haushaltsneuver-schuldung nicht in der Form stattfindet, daß sie deneuropäischen Stabilitätspakt und somit die Finanzlageim Kontext Euro gefährdet. Auf der anderen Seite machter in der Bundesrepublik Deutschland einen Vorschlag,der genau zu dieser Gefährdung beiträgt.Ich kann dazu, daß er sich als Oberhüter des Stabili-tätspaktes aufspielt und die Länder in dieser Hinsichtmaßregelt, nur sagen: Das ist scheinheilig, es ist verräte-risch, und es ist ein ungeheuerlicher Populismus, derhier von einem bayerischen Ministerpräsidenten zumSchaden dieses Landes und auch zum Schaden deseuropäischen Stabilitätspaktes geboten wird.
Wenn wir uns das Konzept genau anschauen, stellenwir interessanterweise fest, daß beim Eingangssteuersatzvor dem Komma genau die Zahl steht, die wir von Rot-grün in unserem Steuerkonzept, verantwortlich Herr Mi-nister Eichel, bis zum Jahr 2002 beschlossen haben. Wirhaben einen Eingangssteuersatz von 19,9 Prozent be-schlossen, die CSU fordert 19 Prozent.Gerda Hasselfeldt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5457
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Die CSU schlägt hinsichtlich der Unternehmensbe-steuerung einen Körperschaftsteuersatz für ausgeschüt-tete Gewinne in der zweiten Stufe – nicht in der ersten –von 25 Prozent vor. Das wollen wir nächstes Jahr ent-scheiden. Wir wollen den Steuersatz von 25 Prozent inder ersten Stufe beschließen.Deswegen meine ich, daß diese rotgrüne Koalition inFragen der Steuerpolitik wesentlich weiter geht und we-sentlich solidarischer ist,
auch was die Gestaltung des Tarifs hinsichtlich der klei-nen und mittleren Einkommen betrifft, als dies die CDUund die CSU machen.
Die Konsequenz Ihres Konzeptes wäre nämlich, daß diekleinen und mittleren Einkommen mehr belastet werdenwürden. Das sehen wir sehr gut daran, wie der Tarif inden Petersberger Beschlüssen ausgestaltet war.Über die Aussage von Herrn Faltlhauser – er sitzt ge-rade zu meiner Linken auf der Bundesratsbank –, daßdie Senkung des Eingangssteuersatzes auf 19 Prozentdie kleinen und mittleren Einkommen entlasten würde,brauchen wir gar nicht zu reden; das wissen auch wir.Das ist ein wunderbarer Vorschlag, der identisch mitdem ist, was die Regierung macht. Aber zu sagen, beider Unternehmensteuerreform würden Steuersatzsen-kungen in dieser Form die kleinen und mittleren Ein-kommen entlasten, ist schlichtweg eine Lüge.
Es ist nämlich vollkommen klar, daß die ganz kleinenGewerbetreibenden nur von der Senkung des Eingangs-steuersatzes profitieren. Sie sind in der Regel nicht kör-perschaftsteuerpflichtig; das wissen wir doch. Wenn hierso getan wird, als würde im Bereich der Unternehmen-steuer von der CDU/CSU-Fraktion ein neuer Vorschlaggemacht – eigentlich ist es nur ein CSU-Vorschlag, derin der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag heftig um-stritten ist und im bayerischen Kabinett auch nicht gera-de auf viel Freude gestoßen ist –, dann kann ich nur sa-gen: Gute Nacht, kleine und mittlere Unternehmen!
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme sofort zum Schluß, Frau Präsidentin.
Die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen sollten sich
von einem solchen Vorschlag nicht in die Irre führen
lassen. Klar ist, daß wir mit der Unternehmensteuerre-
form eine Nettoentlastung in Höhe von etwa 30 Milliar-
den DM herbeiführen, die auch noch solide finanziert
ist.
Jetzt hat Herr Kolle-
ge Dr. Solms, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habeden Eindruck, je radikaler die Ausdrücke werden, destogrößer ist die innere Unsicherheit.
Wenn wir heute im „Handelsblatt“ lesen, daß sich derKollege Schlauch – wir nehmen zur Kenntnis, daß erheute nicht anwesend sein kann – von den Plänen derrotgrünen Regierung schon vorab distanziert
– das steht schwarz auf weiß im „Handelsblatt“ –, dannsehen wir ja, wie die innere Unsicherheit um sich greift.Wer im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages dieExpertenanhörungen mit verfolgt hat, der weiß, wie un-geheuer groß auch die Verunsicherung bei den Betroffe-nen über das ist, was geschehen ist und weiterhin ge-schehen soll, falls den rotgrünen Plänen gefolgt wird.Herr Eichel, Sie haben in der Haushaltspolitik einevernünftige Richtungsänderung vorgenommen.
Was Sie dann inhaltlich getan haben, wird dieser Rich-tungsänderung zwar nicht gerecht; aber die Rich-tungsänderung als solche war richtig. In der Steuerpoli-tik hingegen, Herr Bundesfinanzminister, bewegen Siesich leider immer noch auf den Pfaden von Herrn La-fontaine.
Sie haben kein bißchen davon korrigiert, obwohl Siedoch heute schon erkennen müssen, daß das die falschePolitik war.
Die Steuergeschenke, die Lafontaine im letzten Jahrverteilt hat, haben bei der Bevölkerung nichts bewirkt,weil Sie mit der Ökosteuer gleich wieder neuen Verdrußausgelöst haben.
Die Unternehmen haben Sie mit 30 Milliarden DM mehrbelastet und wundern sich nun, daß die Investitionennicht angesprungen sind und die Arbeitslosigkeit nichtausreichend bekämpft werden konnte.Jetzt geht es auf diesem Weg weiter. Wann kommenSie zur Besinnung?
Die Anmeldung der heutigen Aktuellen Stunde zeigt jaauch die Betroffenheit und Unsicherheit, die bei Ihnen indiesen Fragen herrschen.Christine Scheel
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5458 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Ich habe voller Interesse darauf geschaut, was sichHerr Staatsminister Faltlhauser, den wir von früher ausgemeinsamer Arbeit im Finanzausschuß kennen, Neuesausgedacht hat. Nun muß ich allerdings sagen, daß dasnicht neu, sondern altbekannt, neu geschminkt
und etwas frischer gestaltet ist. In Wirklichkeit ist dasnicht viel anders als die Petersberger Beschlüsse; diepaar kleinen Änderungen sind kaum bemerkbar. Dasfinde ich nicht gut, weil der frühere Vorsitzende derCSU, Theo Waigel, für die Petersberger Beschlüsse dieHauptverantwortung getragen hat. Dann sollte man ihmdas Urheberrecht überlassen und nicht so tun, als bringeman jetzt etwas Neues.
– Deswegen sage ich es ja. Ich finde es grundsätzlichnicht in Ordnung, daß es in der Politik üblich ist, dieIdeen von anderen zu übernehmen, ohne auf das Urhe-berrecht hinzuweisen.
– Der Steuersatz von 35 Prozent stammt aus unseremStufentarif, dem ja auch Herr Struck so sehr anhängt,weil dieser Tarif vernünftig ist.
Eine neue Umfrage unter tausend mittelständischenUnternehmen hat ergeben, daß die Mehrheit dieser Un-ternehmen dies für den besten Vorschlag hält. Weitere25 Prozent halten die Petersberger Beschlüsse für einenguten Vorschlag.
Nur eine verschwindend kleine Mehrheit hält andereVorschläge überhaupt für diskutabel. Das zeigt doch,wie die Betroffenen darüber denken.Daher bitte ich darum, daß wir in einen vernünftigenWettstreit um die beste Steuerpolitik eintreten und ver-suchen, das Beste daraus zu machen. Voraussetzung da-für wäre allerdings, Herr Poß, daß die Fehler, die in demsogenannten Steuerentlastungsgesetz gemacht wordensind, schnellstens korrigiert werden,
daß die Besteuerung der Lebensversicherungen zurück-genommen wird,
daß bei den 630-Mark-Arbeitsverträgen und bei denScheinselbständigen die Fehler als solche akzeptiert unddann korrigiert werden – am besten sollten Sie Ihre Ge-setzesänderungen zurücknehmen – und daß wir dannvielleicht auch gemeinsam oder im Wettstreit versuchen,das Optimale für den Standort Deutschland herauszu-holen. Das heißt in unseren Augen, in den Augen derF.D.P., ganz einfach: Die Steuersätze müssen gesenktwerden, mindestens auf das international günstigste Ni-veau.
Das Steuerrecht muß dramatisch vereinfacht werden,weil das komplizierte deutsche Steuerrecht von nieman-dem mehr verstanden wird. Die Steuerpflichtigen fühlensich dem Steuerrecht und der Steuerverwaltung ausge-liefert.
Sie sind verunsichert. Deswegen strengen sie sich mehran, die Steuer zu vermeiden, als sich um ihre Leistungzu kümmern.
Wir brauchen ein Steuerrecht mit niedrigen Sätzenund mit einfachen und gerechten Regeln. Nur einfachgeht es auch gerecht; das muß man wissen. Die kompli-zierten Bestimmungen, die Sie eingeführt haben, bei-spielsweise die Mindestbesteuerung und die Verrech-nungsbeschränkungen,
führen alle zu mehr Ungerechtigkeit und nicht zu mehrGerechtigkeit. Wenn wir ein einfaches System bekom-men, dann werden wir auch Akzeptanz bei den Bürgernfinden. Das wird sich zum Wohle aller auswirken. Dazurufe ich Sie auf. Bis jetzt ist die Erkenntnis nicht einge-treten. Aber wir hoffen weiter.
Das Wort hat nun
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Steuerpolitik, Renten-reform, Gesundheitsreform: drei große Themen, in de-nen es den demokratischen Sozialistinnen und Soziali-sten darum geht, soziale Gerechtigkeit zu erhalten. Wirringen um den Erhalt der Sozialstaatlichkeit.Allein in dieser Woche gab es zwei Aktuelle Stundenzu diesen Themen – platter Wahlkampf. Der inhaltlicheHintergrund: CDU/CSU und F.D.P. halten einmütig anihren Steuerkonzepten fest, präsentieren den Bürgerin-nen und Bürgern ungeniert alten Staub auf alten Hüten.Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5459
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Nichts anderes sind die Vorschläge, die der Herr Kolle-ge Merz kürzlich der Öffentlichkeit vorstellte, aber auchdie Steuerinitiative „Bayern 2001“.Gemeinsam ist allen diesen Plänen eine massiveSteuersenkung für Besserverdienende und Unternehmenund der alte Aberglaube, daß allein dadurch Arbeitsplät-ze geschaffen werden. Dabei haben gerade in den 90erJahren ältere Menschen, insbesondere Frauen, aber auchkatastrophal viele Jugendliche schmerzlich erfahrenmüssen, daß die einfache Formel „Steuersenkung = Ar-beitsplätze“ nicht funktioniert.
Aber CDU/CSU und F.D.P. zeigen sich unbelehrbar.Nun kommt Bayern und will die gesamte Republik be-glücken. Herr Faltlhauser bringt ein Konzept, welcheswir wirklich schon zur Genüge kennen. Dabei muß ichsagen, daß ich ihm sogar in einem Punkt zustimme: beider Spreizung der Steuersätze. Das, was Frau Scheel unseben geboten hat, ist meiner Überzeugung nach nichtrichtig. Sie selbst haben widersprüchlich argumentiert.Auch wir sehen die Gefahr eines Bruches des Grundsat-zes der Gleichbesteuerung. Wir haben das auch an denaktuellen Vorschlägen des Finanzministers kritisiert.Wenn es auch richtig ist, daß diese Gefahr besteht, sogibt es doch wahrlich verschiedene Wege, dieser Gefahrauszuweichen, sie zu beseitigen. Die PDS fordert dieBeibehaltung des Spitzensteuersatzes bei allen Ein-kunftsarten, auf alle Fälle bei dieser Haushaltslage. Wirsind dafür, das steuerfreie Existenzminimum massiv an-zuheben und den Eingangssteuersatz auf unter 20 Pro-zent zu senken.
Dies trägt auch zu einer nachhaltigen Entlastung vonkleinen und mittleren Einkommen bei, darunter auchvon kleinen und mittleren Personenunternehmen. Eswerden damit auch Hochverdienende entlastet.Aber die Vergabe von Steuergeschenken an Besser-verdienende und wirklich Vermögende muß endlich be-endet werden.
Einkommensstarke sollen sich unserer Meinung nachendlich wieder an der Finanzierung der öffentlichenAufgaben beteiligen. Ich sage hier klipp und klar: DiePDS wird es nicht zulassen, daß die Sozialbindung desEigentums, wie sie im Grundgesetz steht, zur leerenWorthülse verkommt.Die CSU wählt dagegen einen anderen, altbekanntenWeg. Sie will die Spitzeneinkommen entlasten. DerSpitzensteuersatz soll um mindestens 15 Prozent, derEingangssteuersatz um 5 Prozent gesenkt werden. War-um sollen überhaupt die wirklich Vermögenden entlastetwerden? Das sehen wir nicht ein. 50 Milliarden DM sollIhr Paket die Bürgerinnen und Bürger des Staates ko-sten. Nicht umsonst erfolgt daraufhin erwartungsgemäßLob von der „Frankfurter Allgemeinen“ und von der„Welt“; sie heben hervor, wie gut die CSU von den USAgelernt hat.Damit sind wir wieder einmal beim Mythos USA;Steuersenkung auf Pump – da hat Herr Poß natürlichvöllig recht – soll sich durch einsetzendes Wirtschafts-wachstum selbst finanzieren. Die konservativen Parteiensind hier aber einem wirklichen Irrtum aufgesessen.Massive Steuersenkungen fanden eben in den USA von1982 bis Mitte der 80er Jahre statt. Präsident Clinton hatden Spitzensteuersatz bei der Bundeseinkommensteuersogar wieder angehoben. Das sollte man vielleicht nichtvergessen.
– Hören Sie doch bitte zu. Der Haushaltsüberschuß wur-de erstmals 1998 erzielt. Er hat aber andere Quellen alsdie, die Sie uns weiszumachen versuchen, und zwarauch einen massiven Abbau des Rüstungsetats, aberauch massive Einschnitte in die Sozialstandards. Interes-sant ist, wie das amerikanische Wunder dann in derRealität aussieht: 15 Prozent der arbeitslosen Bürger undBürgerinnen der USA sind in überhaupt keiner Arbeits-losenstatistik erfaßt – das zur Glaubwürdigkeit der Zah-len, die Sie immer nennen.
Pro Jahr verlieren 40 Prozent der Menschen ihren Job.Die Löhne im Dienstleistungssektor, in der sogenanntenZukunftsbranche, sind mit 6 bis 8 Dollar pro Stunde dieniedrigsten. Rund 15 bis 20 Prozent weniger Schüler alsvor 20 Jahren besuchen heute die High-School. Die Ge-werkschaften sind mittlerweile praktisch ohne Einfluß.
Damit Sie sich beruhigen: Das sind keine Zahlen derPDS, sondern das sind die Auskünfte, die wir am Randeder Jahrestagung des IWF in Washington erfahrenkonnten, unter anderem von einem der Chefökonomen,Herrn Holzer, aber auch von Vertretern des Congressio-nal Budget Office. Das sollte Ihnen doch wirklich zudenken geben.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit!
Ein derartiger Abbau ge-sellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit,wie dort realisiert, ist nicht unsere Zielstellung. Wirwerden keine Politik für Spezis am Starnberger See, fürMillionäre, machen, sondern wir wollen Politik für dieMasse der Bevölkerung machen und werden deshalbmassiv gegen Ihre Pläne auftreten.Ich bedanke mich.
Dr. Barbara Höll
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5460 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Das Wort hat nun
für den Bundesrat Herr Staatsminister Kurt Faltlhauser.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe FrauScheel, Herr Poß: Wer so laut schreit, hat unrecht.
Wer so um sich schlägt, hat kein Konzept. Die Bürgerwollen Argumente hören, keine schrillen Töne. Ich habemir hier über Minuten hinweg Diffamierungen des bay-rischen Ministerpräsidenten anhören müssen, eines Mi-nisterpräsidenten, der bei den Bürgern in Bayern einedoppelt so hohe Zustimmung hat wie SPD und Grünezusammengenommen.
Er ist, Frau Kollegin von der PDS, nicht nur von denSpezis am Starnberger See gewählt worden, sondern vonden Arbeitnehmern draußen; sonst hätte er keine 53 Pro-zent bekommen.
Um was geht es uns in unserem Steuerkonzept? Mei-ne Damen und Herren, es geht um die massive Förde-rung von Wachstum. Es geht um die Schaffung vonArbeitsplätzen mit dem Instrument der Steuerpolitik.Lafontaine – Ihr Vorgänger, Herr Eichel – hat im Bun-destag in Bonn im März noch ausdrücklich gesagt, erhalte die Steuerpolitik für die Schaffung von Arbeits-plätzen nur sehr wenig geeignet. Genau dies ist unserAnsatz. Wir sagen: Die Steuerpolitik ist ein zentralesInstrument, um tatsächlich Wachstum und Arbeitsplätzezu schaffen.
Herr Eichel, Sie werden mit Ihren Vorstellungen, dieSie bisher vorgelegt haben, keine Wachstumseffekte er-zielen. Im Gegenteil: Wir spüren Attentismus, weil dieLeute überall sagen: Was wollen die nun eigentlich?Das, was Sie bisher gemacht haben, waren millimeter-weise Senkungen ohne Mut und ohne Konzeption. Beider Unternehmensteuerreform begehen Sie einen Sy-stembruch, veranstalten Chaos und Planspielchen. Keineklare Konzeption, keine klare Senkung: Ich denke, dasist genau das Gegenteil von dem, was man im Unter-nehmensbereich braucht.
Die Grünen, Frau Scheel, sind ja schon sichtbar aufder Flucht vor diesem Chaos. Ich kann nur sagen: HerrSchlauch, willkommen im Klub der Sachverständigen!
In allem Ernst: Die Leute wollen sich doch die Fetzerei-en gar nicht mehr anhören. Dieses Land braucht einsteuerpolitisches Gesamtkonzept – wie Frau KolleginHasselfeldt es schon dargestellt hat – mit deutlichenSenkungen sowohl für die Unternehmen- als auch beider Einkommensteuer. Das muß zusammenpassen. Dasgilt insbesondere für die Personenunternehmen. Es paßteben nicht zusammen, was Sie gegenwärtig in Plan-spielchen probieren. Wir brauchen eine klare Grund-linie; einen steuerpolitischen Befreiungsschlag brauchtdieses Land, sonst nichts.
Daß, Herr Kollege Solms, die Steuerpolitik keineNovitätenschau ist, das ist wohl wahr. Aber bei genauemHinschauen werden Sie sehr wohl die wohldurchdachtenFortentwicklungen der bisherigen Vorstellungen derUnion und der CSU erkennen können. Eine Novität, diemit Stufen aufwartet, halten wir nicht für besonders sen-sationell.
Die Vereinfachung, die Sie jetzt Ihrerseits anmahnen,wird nicht durch einen Stufentarif, der sehr simpel aus-sieht, hergestellt. Vielmehr kann man eine Vereinfa-chung nur bei der Bemessungsgrundlage herstellen; dasist das Entscheidende.
Der Vorschlag, den ich vorgelegt habe, wird sichweitgehend selbst finanzieren, und zwar durch dreierleiEffekte: Der Effekt Numero eins ist der Wachstumsef-fekt.
– Der Herr Finanzminister hat noch gar nichts gehört,aber er ist schon sehr lustig.
Der zweite Effekt ist der Ehrlichkeitseffekt, wenn Sieso wollen,
und der dritte ist der unmittelbare Haushaltseffekt.Durch die durchgängige 30prozentige Steuerentlastungin der zweiten Stufe werden wir in massiver Weise einenInvestitionszuwachs bekommen,
der seinerseits noch einmal durch eine massive Nachfra-gestärkung gefestigt wird. Die Wissenschaftler nennendas Akzelerationseffekt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5461
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Das stärkt dann auch noch die Investitionen. DieserWachstumseffekt – das nehme ich persönlich an – be-trägt im ersten Jahr
– jetzt achten Sie einmal auf die Zahlen, Herr Poß –einen halben Prozentpunkt zusätzliches Bruttosozialpro-dukt und wird in den Jahren 2002 und 2003 etwa einenProzentpunkt betragen. Das ist sehr niedrig angesetztangesichts anderer Erfahrungen. Bei einer Steuerelasti-zität von 1,3 Prozent – das kann üblicherweise ange-nommen werden – hat das zum Ergebnis, daß auf Grunddes Wachstumseffektes schon fast 50 Prozent der ge-samten Ausfälle abgedeckt sind.Ein Weiteres. Die Steuervermeidung wird beendetwerden. Personen, die ihr Kapital ins Ausland gebrachthaben, werden in dieses Land zurückkehren.
Die Leute werden wieder aus der Schwarzarbeit auftau-chen, und diejenigen, die viel Geld haben, werden end-lich aufhören, akrobatische Steuervermeidungsstrategienzu fahren, weil es sich einfach nicht mehr lohnt.
Wenn man alle Effekte zusammennimmt, muß man sa-gen: Dieses Paket wird sich weitgehend selbst finanzie-ren.
Das ist auch die Erkenntnis aller vernünftigen Experten,etwa des Ifo-Instituts.Dieses Konzept baut auf den Erfahrungen von Groß-britannien, wo es funktioniert hat, und von Neuseelandauf, wo man eben von 48 Prozent – sehr vergleichbarmit den Sätzen in unserem Land –
auf 28 Prozent heruntergegangen ist und wo man
auf einen Eingangssteuersatz von 21 Prozent herunter-gegangen ist.
Das hat dort zu einer radikalen Reduzierung der Ar-beitslosigkeit geführt. Die Wirtschaft dort ist gesund,und bei uns ist sie nicht gesund, Herr Eichel. Es ist IhreAufgabe, hier etwas zu tun.
Der Zwischenruf von Herrn Poß zielt auf die Ver-schuldungsgrenze. Ich lese in den Zeitungen, daß wir dieGrenzen des Maastrichter Vertrages überschreiten. Werdie Grundlagen und Zahlen in dem schönen dicken rotenBuch des Finanzministers liest, wird feststellen, daß wirweit weg davon sind. Selbst wenn Sie die Ausfälle, dievon uns bei diesem Vorschlag unterstellt werden,
hinzurechnen, kommen Sie nicht über 2 Prozent hinaus,und im Jahr 2002 sind Sie bei 1,5 Prozent und im Jahre2003 noch einmal bei 1,5 Prozent. Das ist weit weg vondem 3-Prozent-Kriterium.
Ich glaube, das ist ein Argument der Ahnungslosen.
Dann kommt der Art. 115. Danke für das Stichwort,Herr Kollege. Ich habe mich schon damit befaßt, weildas natürlich auch die Länder angeht. Ich habe ja gele-sen, die neuen Bundesländer seien betroffen. Dazu sageich: Kein neues Bundesland ist in der Gefahr, daß esüber die in Art. 115 festgelegte Grenze – er besagt, daßdie Summe der Investitionen gleich der Verschuldungsein muß – hinausgeht. Es gibt kleine Probleme beiBremen und Hamburg, erstaunlicherweise nicht beiBerlin. Die einzige Ebene, wo man im Anfangsstadiumtatsächlich über die Grenze hinauskommen kann, ist derBund. Aber, meine Damen und Herren, schauen Sie sichdie Zahlen an: Das hat der Finanzminister selbst in derHand. Sein Vorgänger hat massiv die konsumtiven Aus-gaben nach oben getrieben zu Lasten der Investitions-quote. Und der jetzige Finanzminister
drückt die Investitionsquote, die Investitionen diesesHaushaltes, nach unten. Er kann durch kleine Schräub-chendrehungen natürlich sicherstellen, daß der Art. 115eingehalten wird.
– Auch ich mache einen Haushalt, ich weiß genau, wiedas geht.
Mit Sicherheit können Sie so die Investitionen nachoben treiben. – Ich sage mit Stolz: Ich habe eine Investi-tionsquote von 15,7 Prozent, was sehr schwer einzuhal-ten ist, und der Bund hat eine Investitionsquote vonknapp über 10 Prozent. Und jetzt drücken Sie sie nochweiter nach unten.Sie haben es mit Ihrer Haushaltspolitik selbst in derHand, Herr Eichel, die Investitionsquote zu steuern unddamit Art. 115 zu entsprechen. Dies als Argument gegeneine Steuerkonzeption zu nehmen ist nichts anderes alseine Argumentationsflucht.
Gehen Sie doch auf dieses Steuerkonzept ein, und gehenSie nicht auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze!Staatsminister Kurt Faltlhauser
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5462 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Noch etwas zum Unsozialen: Wir senken den Ein-gangssteuersatz weiter als diese Bundesregierung.Außerdem setzen wir den Grundfreibetrag früher hinauf,als es diese Bundesregierung geplant hat. Wir senken
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5462 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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dabei die Steuerlast für alle um rund 30 Prozent. Vorallem schaffen wir mit diesem Konzept Arbeitsplätze.Und sozial ist heute, was Arbeitsplätze schafft.
Herr Minister, Sie
dürfen so lange reden, wie Sie wollen. Aber es wäre
ganz nett – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich
hätte gerne noch eine halbe Minute, weil ich mich insbe-
sondere noch von Herrn Eichel verabschieden will.
Herr Eichel, Sie werden den Bundesrat brauchen. Jetzt
gibt es noch eine Merz-Konzeption und einen Faltlhau-
ser-Tarif. Es wird innerhalb kürzester Zeit einen abge-
stimmten Unionstarif geben.
Ich kann Ihnen nur raten: Befassen Sie sich möglichst
frühzeitig mit diesen Vorstellungen; denn ohne uns
kommen Sie nicht über die Runden. Wenn Sie unsere
Vorstellungen wenigstens einigermaßen aufnehmen,
wird es Ihnen Deutschland danken.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie binich froh darüber, daß die CSU und auch die CDU anfan-gen, den Anschein zu erwecken, sich konzeptionell andeutscher Politik wieder zu beteiligen. Denn für uns wares schon schwierig, immer nur auf fundamentale Sprü-che zu hören, von wegen, es sei ungerecht, es gehenicht. Man hatte den Eindruck, Sie hätten Petersbergvergessen.Jetzt liegen dankenswerterweise Papiere von Ihnenvor, Herr Faltlhauser. Da lohnt sich wieder der politi-sche Vergleich. Wir haben auf der einen Seite Peters-berg pur und auf der anderen Seite das Konzept der rot-grünen Koalition bzw. der Bundesregierung, und dieserVergleich lohnt sich tatsächlich.Die Bayerische Staatsregierung, Herr Faltlhauser,fordert unter dem Strich über die von der Koalition be-reits im Steuerentlastungsgesetz 1999 beschlosseneEntlastung von 12 Milliarden DM hinaus eine Nettoent-lastung für alle bis zum Jahr 2003 in Höhe von 50 Mil-liarden DM. Allein für den Bundeshaushalt bedeutetdies eine zusätzliche Belastung von jährlich 20 Milliar-den DM.Die Nettoneuverschuldung, die wir mit dem Haushalt2000 auf 45 Milliarden DM zurückgefahren haben, stie-ge wieder auf 65 Milliarden DM an. Die Einhaltung derMaastricht-Kriterien wäre gefährdet. In diesem Jahr kä-men wir mit den 3 Prozent noch hin. Aber wir redenvom Jahr 2003. Da gelten ganz andere Grundsätze. Wirhaben uns verpflichtet, uns in Richtung eines ausgegli-chenen Haushaltes zu bewegen. Das wäre beim bestenWillen nicht mehr zu erreichen.Geringste Zinsbewegungen nach oben – die würdenSie mit einer solchen zusätzlichen Verschuldung natür-lich provozieren – würden die Zinslastquote für denBund und für alle anderen Gebietskörperschaften nochweiter durch die Decke schießen lassen, als wir es be-reits jetzt haben.
Die CSU hätte das erreicht, was sie sich bereits mit denPetersberger Beschlüssen in der eigenen Regierungszeitvorgenommen hatte: Der Staat wäre endgültig reform-und handlungsunfähig.Eine solche nur durch den CSU-Parteitag erklärlichegroßmäulige und unverantwortliche Politik machen wirnicht mit. Wir setzen auf Konsolidierung des Staats-haushaltes und zugleich auf soziale Gerechtigkeit aus-weislich der Steuerpolitik.
– Wir arbeiten sehr konzentriert daran, wie wir Besitzergroßer Vermögen dazu heranziehen können, sich an derFinanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Sie allewerden sich noch wundern und vielleicht auch freuen,was möglicherweise gegen Ende des Jahres dabei her-auskommt. Alles braucht seine Zeit. Das Ergebnis zählt.
Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002,mit den zwei Stufen des Familienentlastungsgesetzesund mit der Unternehmensteuerreform erreicht die Ko-alition eine Nettoentlastung von wenigstens 40 Milliar-den DM: 20 Milliarden DM 1999, 2000, 2002 Netto-entlastung, etwa 10 Milliarden DM durch beide Stufendes Familienentlastungsausgleichs und etwa 10 Milliar-den DM durch die Unternehmensteuerreform ist dieGrößenordnung, die wir als Eckdaten haben. Das sindnach Adam Riese 40 Milliarden DM an Entlastung.Das kann sich sehen lassen, wenn wir gleichzeitig inder Lage sind, den Haushalt zu konsolidieren und diesesalles ohne zusätzliche Neuverschuldung zu finanzieren.
Das ist realistisch. Außerdem ist es deutlich weniger alsin die hohle Hand geschissen,
sondern ist für alle – insbesondere für die Familien, aberauch für die Unternehmen – eine ganz gewaltige Entla-Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5463
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stung, die nicht mit Zukunftsunfähigkeit bezahlt werdenmuß.Gegenüber dem bereits beschlossenen Reformpaketunserer Regierung würde der Bayerntarif den Eingangs-steuersatz um weitere 0,9 Prozentpunkte auf 19 Prozentsenken – allerdings erst im Jahr 2003, also deutlich spä-ter, als wir das vorhaben. Gleichzeitig würde der Spit-zensteuersatz über die von uns vorgesehene Senkung auf48,5 Prozent hieraus um weitere 13,5 Prozentpunkte auf35 Prozent reduziert werden. Allein die Symmetrie zwi-schen dem, wie man unten nachgibt, und dem, wie mannach oben nachgibt, zeigt, daß dieses Bayernkonzeptgenauso wie das Petersberger Konzept Schlagseite hatteund deswegen als ungerecht abgelehnt werden muß.
Nach dem Bayerntarif würden Einkommen, die über110 000 DM bzw. bei Verheirateten über 220 000 DMliegen, linear mit 35 Prozent besteuert werden. Da kannvon Steuergerechtigkeit und von Besteuerung nach Lei-stungsfähigkeit überhaupt keine Rede mehr sein.
Daran ändert auch die geforderte Abflachung des Ta-rifs und des Durchschnittssteuersatzes nichts. Die unterKohl und Waigel in Gang gesetzte Maschinerie der öf-fentlichen Verarmung und der privaten Bereicherungwürde auf zweifache Art und Weise wieder angeworfenwerden: sowohl über die Tarife als auch über die stei-genden Zinsen. Das führte auf den Geldmärkten dazu,daß diejenigen, die viel Geld haben, noch mehr verdie-nen. Dieser doppelte Effekt, Kennzeichen der 16 JahreKohl und Waigel, würde wieder entstehen, und zwar mitdemselben Ergebnis.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Das Ergeb-
nis wäre eine riesige Gerechtigkeitskluft, wie sie uns die
alte Regierung hinterlassen hat und die wir mit großer
Mühe Schritt für Schritt schließen.
Ein letztes Wort zur Unternehmensteuer. Es ist inter-
essant, was Sie zu diesem Thema vorschlagen: Sie be-
günstigen weiterhin die entnommenen Gewinne und be-
handeln die thesaurierten Gewinne deutlich schlechter.
Unter dem Strich gesehen werden die Unternehmen
deutlich höher belastet, als es nach unserem Unterneh-
mensteuerkonzept der Fall ist. Das, was im Unterneh-
men bleibt und was zu Investitionen führen soll und was
ausländisches Geld im Lande halten soll, weil es sich
lohnt, Substanz in einer Tochtergesellschaft ausländi-
scher Konzerne aufzubauen, alles das stellen Sie in Fra-
ge. Alles das, was Sie selbst eingeleitet haben, nämlich
den Rückbau von Konzerntöchtern, von Aktiengesell-
schaften zu 50 000-DM-GmbHs, die nur noch über
Darlehen ihrer Mütter finanziert werde, wollen Sie wie-
derherstellen. Das führt zu einem totalen Ausbluten gro-
ßer Gesellschaften, wie wir das in den letzten Jahren in
einer Größenordnung von Hunderten von Milliarden
DM hatten, die ins Ausland abgeflossen sind.
Ihre Redezeit ist nun
endgültig um; Sie hatten anderthalb Minuten mehr.
Gut.
Vielen Dank.
Ich muß auf Ge-
rechtigkeit achten, ich bitte sehr um Nachsicht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Kollegin!Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so, wie derHerr Faltlhauser gesagt hat: Es wird bei Ihnen fast nurnoch geschrien. Es gibt keinen ruhigen Vortrag, keineklare Aussage zu einem Thema mehr, das relativ leichtverständlich ist, wenn man in die Historie schaut.Es kann jeder alle Behauptungen dazu aufstellen, wiesich mancher Steuersatz von heute in der Zukunft ent-wickeln wird. Der Finanzminister macht das jeden Tag.Ich bin der Meinung, man sollte sich an Beispielen ausder Vergangenheit orientieren. Die Beispiele zeigen, daßes Jahre gegeben hat, in denen wir die Steuern inDeutschland drastisch gesenkt haben und gleichwohl –soviel zu Art. 115 des Grundgesetzes – die Steuerein-nahmen des Staates gesprudelt sind.Die große Steuerreform der Jahre 1986, 1988 und1990 unter Gerhard Stoltenberg, die mit dem Konzeptvon Minister Waigel fortgeführt werden sollte, führte zueiner Nettoentlastung von 43,5 Milliarden DM. Damalsgab es die gleichen Bedenken der Angsthasen aus derSPD. Auch die Länder hatten Bedenken. Sie fürchteten,daß ihre Kassen austrocknen würden, daß die Gemein-den kein Geld mehr hätten. Sie behaupteten, das Ganzesei nicht sozial gerecht und nicht in Ordnung. Die glei-chen Bedenken, die heute von Herrn Eichel – Griff indie Mottenkiste – vorgetragen werden, gab es damalsauch.
– Das Ergebnis dieser dreistufigen Regelung – in zweiJahren praktisch beschlossen – war, daß die Steuerein-nahmen um sage und schreibe das Dreifache dessen ge-stiegen sind, was die Nettoentlastung ausgemacht hat,nämlich um rund 125 Milliarden DM. Dies kann manleicht nachvollziehen, indem man sich ansieht, wie hochdie Steuereinnahmen 1986, 1988, 1990 und 1991, warenund dann den entsprechenden Beitrag für die neuenLänder abzieht. Die dreifache Summe dessen, was dieNettoentlastung ausgemacht hat, was also bei den Bür-gern und Betrieben angekommen ist, ist eingenommenworden.Der zweite Effekt, den man dann, wenn man in dieHistorie schaut, nachvollziehen kann, ist der für den Ar-beitsmarkt. Sie haben sicher noch die gestern oder vor-Reinhard Schultz
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5464 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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gestern vorgelegte Statistik zum Arbeitsmarkt im Kopf.Wir haben saisonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslo-sigkeit. Die Zahl der Beschäftigten sinkt. Dies ist dieWirkung der ersten Steuermaßnahmen, die Sie im Laufedieses Jahres getroffen haben.
Man kann wohl nicht annehmen, daß die Unterneh-men jetzt in großem Umfang auf Grund Ihres erst fürdas Jahr 2000 versprochenen und dann auf das Jahr 2001verschobenen gewaltigen Konzeptes investieren.
Tatsache ist, daß Sie all die entscheidenden Faktorenfür Wirtschaft und Staat, nämlich das wirtschaftlicheWachstum und die Beschäftigung, negativ beeinflußthaben und daß die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigtin diesem Jahr gestiegen ist. Das ist die Wirkung IhrerSteuerpolitik.
Ich habe gestern abend mit einem Steuerfachmannzusammengesessen und ihm gesagt, daß ich heute in derAktuellen Stunde zur Steuerpolitik reden soll. Ich habeihn um eine Bewertung gebeten. Daraufhin sagte er zumir: Die steuerlichen Vorschriften, die wir in den letztenzehn Monaten bekommen haben, sind der Tiefpunktsteuerlicher Gesetzgebungskultur.
Es gibt kaum noch eine Vorschrift, die man versteht. Ichnenne hier zum Beispiel die §§ 2 b, 4 a oder 3 b desEinkommensteuergesetzes. Sie können irgendeine Vor-schrift nehmen.
Auf jeden Fall muß man Zweifel daran haben, ob das,was dort vorgelegt worden ist, verfassungsrechtlich inOrdnung ist.
Es ist wichtig, ob die von Ihnen hier mit Mehrheit be-schlossenen Gesetze verfassungsmäßig sind oder nicht.
Sie müssen Ihre Vorschläge darauf überprüfen, welcheWirkung sie auf den Arbeitsmarkt und auf die Wirt-schaftskraft des Landes haben.Nun sehe ich mir die Situation zu Beginn deskommenden Jahres an. Die offizielle Auskunft ausdem Finanzministerium lautet: gewaltige Steuerreform.Durch die jetzt beschlossene Steuerreform wird der Bür-ger im nächsten Jahr in der Summe um 2,7 MilliardenDM entlastet. Das trifft Bund, Länder und Gemeinden.Sie haben durch das, was diese Regierung hier beschlos-sen hat, weniger Steuereinnahmen in Höhe von 2,7 Mil-liarden DM. Wer erwartet denn daraus einen gewaltigenzusätzlichen Impuls, einen Schub für die Wirtschaft oderfür den Arbeitsmarkt? Ich sage es noch einmal: DurchIhre Steuerreform wird es im nächsten Jahr Steueraus-fälle in Höhe von 2,7 Milliarden DM geben.
– Wir erwarten, daß sich der gleiche Effekt vollzieht,den wir 1986, 1988 und 1990 hatten. Das war nämlicheine Zunahme der Beschäftigtenzahl um drei Millionen.Genau das ist der entscheidende Punkt.
Wir hatten den Tiefstpunkt bei der Arbeitslosigkeit imJahr 1992; das war die Wirkung aus dieser großartigenReform.Dann überlegen Sie, ob das Ganze noch sozial ge-recht ist. Ich habe mit großem Interesse gehört, daß Sienun wieder die Vermögensteuerarbeitsgruppe IhrerFraktion oder des Ministeriums arbeiten lassen. Ichdachte, das Ganze soll heute zur Ablenkung dienen. DerKollege Poß hat im Juni gesagt, man müsse darübereinmal im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit nachden-ken. Jetzt hört man, Sie setzen eine Arbeitsgruppe ein.Erst ist Herr Eichel dagegen, dann ist er ein bißchen da-für, dann sagt er, ja, da arbeitet eine Arbeitsgruppe, dasErgebnis warten wir ab.
Trotzdem ist Ihre
Redezeit zu Ende.
Herr Poß sagtevor kurzem, das Ding ist tot,
und Sie haben jetzt eben gerade die Arbeitsgruppe wie-der eingesetzt.Die Folgerung, die der Bürger daraus ziehen kann:Mit Griffen in die Mottenkiste, mit Neidargumenten inder Steuerpolitik, mit einer Politik, die Beschäftigungunterdrückt und nicht fördert, werden Sie die Zukunftnicht gewinnen.
Wir brauchen keine Angsthasensteuerpolitik, sonderneine Politik für Wachstum und Beschäftigung.Herzlichen Dank.
Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5465
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Das Wort hat jetztder Kollege Klaus Müller, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es fällt ja schon auf, daß sowohl die KolleginHasselfeldt als auch der Kollege Austermann nach denersten zwei Sätzen gar nicht mehr über das bayerischeSteuermodell geredet haben. Ich glaube, denen ist dasziemlich peinlich, was da gekommen ist. Dann reden Sieviel lieber über andere Dinge, aber nicht über das Themader Aktuellen Stunde.
Herr Austermann, wenn Sie schon so viel mit Zahlenumgehen, dann sollten Sie mit ein bißchen mehr Ehr-lichkeit herangehen.Natürlich haben Sie eine Steuerreform gemacht. Na-türlich hatten Sie Probleme mit der deutschen Einheit.Aber sagen Sie, wie Sie das finanziert haben. Sie habensie zum ersten durch mehr Schulden finanziert, jedeMenge Schulden, die wir zur Zeit abtragen müssen, undzum zweiten haben Sie sie über mehr Lohnnebenkostenfinanziert.
Die Lohnnebenkosten sind in Ihrer Regierungszeit lau-fend erhöht worden.
Da liegt das Problem. So haben Sie diese Aufgabenfinanziert, versteckt und klammheimlich, aber nichtoffen und ehrlich.Wir wollen aber statt dessen lieber über Bayern re-den. Wir reden über Bayern, weil allmählich die Alter-native zu Rotgrün deutlich wird.
Das muß man in einem Kontext sehen. Bayern odervielmehr die CDU/CSU bescheren uns interessante Vor-schläge.Erstens sollen wir im ersten Monat Arbeitslosigkeitdas Arbeitslosengeld streichen. Zweitens sollen 20 DMfür jeden Krankenbesuch bezahlt werden. Drittensschlagen Sie eine unsoziale Steuerreform auf Pump vor.Viertens geben Sie noch Empfehlungen zur Koalitionmit dem Rassisten Haider, wie Ihr Kollege Friedman zuRecht gesagt hat, von Ihrer Personalpolitik in Bayerneinmal ganz zu schweigen.Die Politik, die Sie von der CSU betreiben, ist dop-pelzüngig.Erstens ist Ihre Politik doppelzüngig, weil Sie jedemalles versprechen. Auf der einen Seite versprechen Siemehr Geld für den Straßenbau, so gestern geschehen– „CSU will mehr Geld für Straßenbau“ –, machen sichSorgen um die Bundeswehr, und gleichzeitig wollen Sieeine Steuerreform auf Pump.
Jedem alles zu versprechen, Mehrausgaben und immernoch mehr Steuergeschenke – dieses ist unseriös.
Zweitens. Diese Steuerpolitik der CSU ist unsozial.Sie stellen sich hin und sagen, überall würde der Tarifeinheitlich gesenkt werden. Ich empfehle Ihnen einenBlick ins „Handelsblatt“, die das für diejenigen, dieZahlen nicht lesen können, sondern nur Graphiken,schön aufbereitet haben, einen Blick in die Entlastungs-tabellen. Ein niedriges Einkommen von 48 000 DM ent-lasten Sie um 900 DM. Das sind 15 Prozent Entlastung.Ein Einkommen, das bei 360 000 DM liegt, entlasten Sieum 45 000 DM. Der Taschenrechner, meiner wie Ihrer,wird Ihnen da 30 Prozent Steuerentlastung anzeigen.Gehen wir in Ihre Details. Wenn Sie Ihre Steuerkurvenangucken, werden Sie sehen, daß Sie oben kräftig entla-sten und unten praktisch gar nicht.Weiter versprechen Sie eine Erhöhung der Freibeträ-ge für die Kinder. Darüber reden wir doch die ganzeZeit, und Ihre Abgeordneten waren es, die zu Rechtnachgefragt haben, wo denn die soziale Komponente ist.Das ist das Kindergeld. Das Wort Kindergeld taucht inIhrer Steuerpolitik nirgendwo auf. Die Kollegin Hassel-feldt hat Anfang des Jahres, bevor die Entscheidung ausKarlsruhe kam, noch gesagt, es wäre ein unnötigerLuxus.
– Natürlich haben Sie das gesagt. Insofern stelle ichauch hier eine soziale Schieflage fest.Betrachten wir weitere Details Ihres Konzepts. EinSteuertarif von 19 bis 35 Prozent ist unanständig,schlicht unanständig. Hätten Sie Mut gehabt, wie ihn dieCDU bewiesen hat, die in der Tat noch weiter unten an-gefangen hat, dann hätten wir wenigstens darüber redenkönnen, abgesehen von den Steuerausfällen. Aber einSteuertarif von 19 Prozent bis 35 Prozent ist unanstän-dig.Ich möchte jetzt auf Ihre Gegenfinanzierungsvor-schläge eingehen. Sie fordern einen Körperschaftsteuer-satz für einbehaltene Gewinne von 35 Prozent. Hier sindwir mutiger. In unserem Konzept ist ein Körper-schaftsteuersatz von 25 Prozent vorgesehen. Ich mußIhnen an dieser Stelle ehrlich sagen: Sie haben Wirt-schaftspolitik schlicht nicht verstanden.Sie wollen die Nutzungsdauer von beweglichen Wirt-schaftsgütern verlängern. Für diese Maßnahme habenSie 3 Milliarden DM angesetzt. Dies ist viel zu hoch,2,2 Milliarden DM wären viel ehrlicher gewesen.Das gilt auch für die Senkung der linearen AfA.
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5466 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Sie wollen außerdem die degressive AfA für privateMietwohnungen abschaffen. Fragen Sie einmal IhreWohnungspolitiker, wie sich die Mieten entwickelnwerden, wenn diese wegfällt.Sie wollen die Veräußerungsgewinne aus Investi-tionsfonds besteuern. Wie geht dies mit der Sicherungder Altersvorsorge zusammen? Sie beschimpfen uns,weil wir die Subventionierung von Kapitallebensversi-cherungen diskutieren. Aber Sie wollen Aktienfonds, dieder privaten Altersvorsorge dienen, besteuern. Dies istschlicht unsozial und unvernünftig.
Des weiteren fordern Sie die Wiedereinführung deshalben Steuersatzes bei Gewinnen von Betriebsvermögen.Dies ist eine Mogelpackung. Gleichzeitig behaupten Sie,diese Maßnahme entlaste die KMUs. Durch die Fünfte-lungsregel, die in unserem Konzept vorgesehen ist, wirderwiesenermaßen eine Altersvorsorge bis zu 500 000 DMentlastet. Durch Ihr altes Konzept wurden die bevorzugt,die über dieser Grenze lagen. Durch das CSU-Konzept– rechnen Sie es nach, Herr Michelbach – werden die ho-hen Einkommen entlastet. Durch das rotgrüne Konzeptwerden die mittleren und unteren Einkommen entlastet.Dies ist unser Konzept. Dafür stehen wir.Jetzt kündigt die CDU/CSU ein eigenes Steuerkon-zept an. Auf dieses bin ich gespannt. Sie verfahren nachdem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' icheinen Arbeitskreis. Sie stehen für eine Steuerreform aufPump. Dies ist unseriös, unsozial und unsolide.Sie sind die Partei der Fußnoten und der Mehrwert-steuer. Wenn man die steuerlichen Maßnahmen desCDU- und des CSU-Konzepts addiert, dann stellt manfest, daß die Steuerausfälle 74 Milliarden DM betragen.Diese Summe entspricht genau einer Erhöhung derMehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte. Ich bin ge-spannt, wann Sie die Katze aus dem Sack lassen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Schild, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Wenn man Vorschläge für eine Steuer-reform macht, dann muß man sich auch den finanziellenZustand dieser Republik anschauen. Wenn man dies tut,dann erweisen sich die von der CSU vorgeschlagenenSteuerpläne sehr schnell als ein durchsichtiges politi-sches Manöver. Die dort gemachten Versprechungenbedeuten den Abschied von finanzpolitischer Seriösitätund Disziplin.
Diese Regierung hat nicht nur Versprechungen gemacht.Sie hat in der zweiten Stufe ihrer Steuerreform Bürge-rinnen und Bürger sowie mittelständische Betriebe um20 Milliarden DM entlastet.
Statt mit unseriösen Vorschlägen auf Stimmenfang zugehen, wäre es notwendig gewesen, sich mit den hartenFakten finanzpolitischer Rahmenbedingungen auseinan-derzusetzen, auch wenn unbequeme Wahrheiten ausge-sprochen werden müssen. Die Bürgerinnen und Bürgerin diesem Lande sind bereit, die Staatsverschuldung alsein zentrales Problem der Politik wahrzunehmen. Seriö-se Finanzpolitik kann angesichts der hohen Staatsver-schuldung dem Ziel der Steuerentlastung nur in vertret-baren Schritten näherkommen. Dies haben wir getan.Die Verschuldung des Bundes hat eine Geschichte.Sie ist die größte Erblast der Regierung Kohl und ihresFinanzministers Waigel. Mit den neuen CSU-Vor-schlägen wird in die gleiche Kerbe geschlagen. Die dortvorgeschlagene irrwitzige Nettoentlastung von über50 Milliarden würde die Verschuldung der öffentlichenHände noch viel stärker und bedrückender werden las-sen. Die Schulden des Bundes – darauf ist in den letztenTagen im Deutschen Bundestag mehrfach hingewiesenworden – sind auf 1,5 Billionen DM gestiegen. Wir allewissen, daß 82 Milliarden DM aus dem Bundeshaushaltaufgewendet werden müssen, um Zinsen für bereits aus-gegebenes Geld zu zahlen.Die wachsende Schuldenlast erdrückt die Handlungs-fähigkeit des Staates. Die CSU-Vorschläge würden nichtnur die Handlungsfähigkeit des Bundes, sondern auchdiejenige der Länder und Gemeinden weitestgehend rui-nieren.
Herr Faltlhauser, Sie haben einen Wechsel auf die Zu-kunft ausgestellt. Nach unseren Berechnungen kommenallein in der ersten Stufe im Jahr 2001 bei Ländern undGemeinden Einnahmeausfälle in Höhe von 18 Milliar-den DM zusammen.Zur Stimmigkeit des Konzepts möchte ich folgendessagen: Die Gewerbeertragsteuer soll abgesenkt werden;dafür sollen die Kommunen durch eine Erhöhung desUmsatzsteueranteils entschädigt werden. Gleichzeitigwird von der CDU/CSU eine Reduzierung der Umsatz-steuer für bestimmte Wirtschaftsbereiche gefordert, diezu weiteren Steuerausfällen in Milliardenhöhe führt.
Da paßt einiges nicht zusammen.Die Fadenscheinigkeit dieses Vorschlags wird sichsehr schnell daran erweisen, daß der Freistaat Bayernkaum eine Gesetzesinitiative durch den Bundesrat an-stoßen wird. Die CSU weiß sehr wohl, daß die übrigenBundesländer, auch die CDU-geführten, diesen Vor-schlag bereits im Hinblick auf die Einnahmeausfälle inder Luft zerreißen würden.
Klaus Wolfgang Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5467
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Dieser Vorschlag weist auch eine groteske sozialeSchieflage auf. Für die Bezieher hoher und höchsterEinkommen bringt die Umsetzung des Vorschlags Ent-lastungen im Umfang von 27 Milliarden DM, aber we-niger als 5 Milliarden DM für die Bezieher unterer undmittlerer Einkommen.
– Das können wir gern einmal ausrechnen lassen, wenndiese Vorschläge – einiges ist angedeutet worden – imRahmen der Beratungen des Steuerbereinigungsgesetzesunterbreitet werden.Wir Sozialdemokraten müssen auch das Wohl der ge-samten Bevölkerung im Auge haben. Wir können dasSozialstaatsprinzip nicht unter die Räder kommen las-sen. Diese Gesellschaft braucht das notwendige Geld fürForschung, Entwicklung, Bildung, Infrastrukturmaß-nahmen, Investitionen und vieles andere mehr. Die Um-setzung Ihrer Vorschläge würde zweifellos zu einer Ge-waltkur in anderen Politikbereichen führen.Wenn man einmal davon ausgeht, daß die dort unter-breiteten Vorschläge zwischen CDU und CSU, zwischenHerrn Schäuble und Herrn Stoiber, noch keineswegs ab-gestimmt sind,
dann ist doch so viel klar: Die Union will Steuern aufPump senken.
Damit würde der Weg in die Staatsverschuldung weiterbeschritten werden. Das ist ein „beklemmendes Szena-rio“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ titelte. Diesen Wegwerden wir nicht mitgehen. Wir sind zuversichtlich, daßunser Konzept in den nächsten Jahren aufgeht. Wir wer-den dann auf anderem Wege Steuern in die Kassen be-kommen, aber auf dem von uns vorgeschlagenen Weg.
Das Wort hat nun
die Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Mitschrei-ben zwei Worte zu Herrn Müller und zu Herrn Schuld,Entschuldigung, zu Herrn Schild sagen.
– Nicht so ganz, aber ähnlich dämlich.
– Danke, gleichfalls.Stoltenbergscher Selbstfinanzierungseffekt:
1985 bis 1990 43 Milliarden DM Entlastung für die Bür-ger,
130 Milliarden DM Mehreinnahmen im Haushalt. Dannkam die deutsche Einheit. Sie wollen uns doch in diesemHause nicht vorwerfen, daß wir für die deutsche EinheitSchulden machen mußten.
Diese Zahlen sind im Finanzbericht des FinanzministersEichel nachzulesen.„Wir brauchen eine Steuerreform, die diesen Namenwirklich verdient“ – das ist nicht von mir, sondern vonHerrn Struck. Wo er recht hat, hat er recht.
Sie waren von diesen Worten damals zwar nicht so beein-druckt, aber das beschreibt nur die Zerrissenheit von SPDund Grünen, die man heute wieder beobachten kann.
Vor allen Dingen wird dadurch die Ignoranz der SPDgegenüber den tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen inDeutschland beschrieben.
Wir haben damals im vorauseilenden Gehorsam die Auf-forderung Ihres Fraktionsvorsitzenden ernstgenommen.Sie wissen das ja: Lafontaine hat die rote Bundesrats-mehrheit benutzt und gegen unsere Vorschläge in Stel-lung gebracht. Dadurch haben wir drei Jahre verloren,
in denen man Arbeitsplätze hätte schaffen können,wenn Sie von der SPD und von den Grünen es gewollthätten.
Obwohl wir in der Opposition sind, haben wir unsselbstverständlich Gedanken gemacht; ich nenne stellver-tretend sowohl Herrn Merz, der gleich noch reden wird,
wie auch unseren Freund Faltlhauser aus Bayern. Wirdürfen Ihnen einfach nicht die Schaffung von Arbeits-plätzen überlassen, weil diese Frage bei Ihnen schlechtaufgehoben ist.
Horst Schild
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5468 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Genau das hat Ihnen die OECD inzwischen attestiert.Eine Weiterentwicklung der Steuerreform auf der Basisder Petersberger Beschlüsse wäre in dieser Republiknotwendig und nicht das, was Sie vorschlagen.Sie konnten es doch heute lesen: Der DIHT hat Ihnengesagt, was die Mittelständler von Ihrer sogenanntenBetriebs- oder Unternehmensteuerreform halten: nichtsnämlich,
weil sie darin gar nicht vorkommen.
Gerade für den Mittelstand müßten Sie vorher Planspieledurchführen. Eines muß nach dem anderen kommen,sonst kommt nichts dabei herum. Ich sage Ihnen des-halb, Herr Eichel: Diese Betriebsteuer ist tot. Ich höre,daß jedenfalls Herr Zitzelsberger das genauso sieht. Sieist anscheinend tot – ganz abgesehen davon, daß Sie of-fensichtlich nicht mit dem rechnen, was inzwischen imBundesrat passiert ist: Auf Grund Ihrer schlechten Poli-tik, für die Sie bei den Landtagswahlen die Quittung be-kommen haben, gibt es dort nun ein anderes Quorum.
Nun müssen Sie einmal schauen, wie Sie da weiter-kommen.
Ich fordere Sie auf, geben Sie sich einmal einenRuck, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Bundes-kanzler Schröder, der sich dafür entschuldigt hat, daß ersich bei den Renten geirrt hat, und geben Sie zu, daß Siesich bei der Betriebsteuer geirrt haben.
Geben Sie sich einen Ruck, entschuldigen Sie sich, sa-gen Sie, es war ein Irrtum, und denken Sie gemeinsammit uns darüber nach, wie man eine vernünftige Ein-kommensteuerreform auf den Weg bringen kann.
Einen Vorschlag zu einer vernünftigen Einkommensteu-erreform haben die beiden Herren Faltlhauser und Merzauf den Tisch gelegt.Selbstverständlich ist es richtig, daß wir alle Bürgerentlasten wollen. Aber was machen Sie?
Sie machen eine Unternehmensteuerreform, die zwarden großen Unternehmen, aber nicht den Bürgern zugutekommt. An die Entlastung der Bürger und der mittel-ständischen Unternehmer denken Sie überhaupt nicht.
Für diese tun Sie überhaupt nichts.
Wir sind dafür, alle Einkommensteuersätze von ganzunten bis ganz oben herunterzusetzen. StoltenbergsSteuerreform hat gezeigt, daß das drei Millionen Ar-beitsplätze bringen kann. Dagegen ist die Schaffung vonneuen Arbeitsplätzen bei Ihnen schlecht aufgehoben.Überlassen Sie sie lieber uns, denn da ist sie besser auf-gehoben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die bayerischen Vorschläge gehen nach dem Motto vor:Wer bietet noch höhere Steuereinnahmeausfälle undnoch niedrigere Sätze? Mit einer soliden Finanzpolitik,in die diese Vorschläge eingebettet werden müßten, hatdas aber überhaupt nichts zu tun.
Das wundert mich auch nicht, weil solide Finanzpolitikin der Tat zu keiner Zeit Ihr Markenzeichen gewesen ist.
Wer seriöse Steuerpolitik betreiben und über Arbeits-plätze reden will, muß über den ganzen Datenkranz re-den, den es in der Volkswirtschaft gibt: Er muß selbst-verständlich über Steuern, über Lohnnebenkosten undüber die Fragen reden, wie Investitionen, vor allem Zu-kunftsinvestitionen, angekurbelt und wie die öffentli-chen Finanzen in Ordnung gehalten werden sollen. Ge-rade der letzte Punkt stellt den größten Pferdefuß IhrerFinanzpolitik dar.
Sie, Herr Kollege Solms, haben recht, daß viele alteBekannte grüßen. Es gibt nur einen Unterschied: NachIhren Berechnungen hätte die Umsetzung der Petersber-ger Beschlüsse zu einem Einnahmeausfall in Höhe von30 Milliarden DM geführt, tatsächlich wären es40 Milliarden DM. Außerdem wollten Sie die Mehr-wertsteuer erhöhen. Jetzt handeln Sie nach dem Motto:Wir sind nicht mehr an der Regierung und müssen nichtbefürchten, daß unsere Vorschläge irgendwann Geset-zeskraft erhielten,
Elke Wülfing
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5469
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also kommt es auf 10, 20 oder 30 Milliarden DM mehrEinnahmeausfall auch nicht mehr an. Deshalb bieten Siejetzt 50 Milliarden DM; wir haben nachgerechnet: Tat-sächlich wären es mindestens 65 Milliarden DM. Sienehmen das alles ja gar nicht so genau. Das führt dann,anders als Sie, Herr Faltlhauser, es gesagt haben, dazu,daß nicht nur der Bundeshaushalt, sondern auch die mei-sten Länderhaushalte verfassungswidrig wären.Sie können es ja auch. Ich möchte nicht darüber spre-chen, was die genannten 65 Milliarden DM alleine fürBayern bedeuten. Das sollten Sie mit Herrn Deimerausmachen, der Ihnen dazu schon das Richtige gesagthat, nämlich daß auch die bayerischen Kommunen dieseMehrbelastungen nicht verkraften können.Verehrter Herr Kollege Faltlhauser, wir erhalten jasehr viel Post aus München. Kürzlich habe ich von Ih-nen einen Brief bekommen. Darin steht folgendes:Auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsge-richts vom 1. Juli 1998 hat der Bundesgesetzgeberlängstens bis zum 31. Dezember 2000 das Entgeltfür die Pflichtarbeit von Gefangenen neu zu regeln.Bei einer generellen Erhöhung des finanziellen Ar-beitsentgelts drohen erhebliche Mehrausgaben fürdie Länder.
Alleine für Bayern seien das 16,2 Millionen DM.
Sie führen weiterhin aus, daß dies ein Vorschlag sei, derdie Länder vor erhebliche Probleme stelle.Mehrausgaben von 16,2 Millionen DM stellen Bay-ern vor große Probleme, aber ein Steuerkonzept – ichwill es gar nicht bewerten –, das für Bayern einen Ein-nahmeausfall von 3 bis 4 Milliarden DM pro Jahr be-deutet, macht kein Problem. Das ist die Qualität IhrerDiskussionsbeiträge.
Das alles ist nicht ernst zu nehmen.Es ist viel schlimmer – darüber sollten Sie einmalnachdenken; denn Sie besitzen in der Europapolitik einegute Tradition –: Ich erinnere mich daran, welche Bei-träge die CDU und CSU gemacht haben, als die Italienerin diesem Jahr, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, einDefizit von 2 Prozent im öffentlichen Gesamthaus-halt angemeldet hatten und dieses Defizit auf 2,4 Pro-zent hochzugehen drohte. Wir alle wissen, welche euro-paweite Diskussion dadurch zu Recht ausgelöst wordenist.Das Weiterbestehen der Situation, so wie sie bisherwar, würde bedeuten, daß wir sofort nach Brüssel meldenmüßten: Alle Verpflichtungen, die wir im Rahmen des eu-ropäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingegan-gen sind, können wir nicht mehr einhalten; ein Defizit von1 Prozent ist im Jahre 2002 nicht mehr einzuhalten; wirliegen dann bei einem Defizit von – um nur ein Beispielzu nennen – 2 Prozent. Daraus würde eine wunderbareDebatte entstehen, und dann könnten Sie über den Euround dessen Geldwert diskutieren. Vielleicht haben Sieaber – anders als Herr Waigel – zu diesem Thema keinVerhältnis. So etwas kann man nicht tun, wenn man dieLeitwirtschaft Europas zu vertreten hat.
Die Begründung lautet Wachstumsschub. Wer daswill, der muß alle zur Verfügung stehenden Instrumentein die Hand nehmen. Sie tun ja so, als ob es keine Steu-erreform gegeben hätte. Im Gesetzblatt ist eine Ein-kommensteuerreform festgeschrieben – das alles ver-schweigen Sie ja –, die im Laufe einer Wahlperiode denEingangssteuersatz um 6 Prozentpunkte absenkt. Sie ha-ben 16 Jahre lang regiert. Wissen Sie, was Sie fertigge-bracht haben? Einmal 3 Prozentpunkte hinunter, einmal3 Prozentpunkte hinauf. Mehr haben Sie nicht fertigge-bracht.
Eine Kürzung des Eingangssteuersatzes um 6 Prozent-punkte in einer Wahlperiode haben Sie noch nie fertig-gebracht.
– Dieser Zuruf ist schön. Sie haben die Mineralölsteuervon 1989 bis 1994 um 50 Pfennig erhöht. Wir erhöhensie gerade einmal um 30 Pfennig. Wir senken die Lohn-nebenkosten um den gleichen Betrag. Sie aber haben dieLohnnebenkosten angehoben.
Angesichts dessen sprechen Sie von der Absenkungdes Spitzensteuersatzes. Dazu hatten Sie in den16 Jahren Ihrer Regierung eine wunderbare Gelegenheit.Was haben Sie statt dessen fertiggebracht? Eine Redu-zierung von 56 auf 53 Prozent!
Wir senken den Spitzensteuersatz in einer Wahlperiodevon 53 auf 48,5 Prozent. Sie haben 3 Prozentpunkte zu-wege gebracht, wir 4,5. Auf die bayerischen Vorschlägein diesem Zusammenhang komme ich gleich noch zusprechen.Wir sind die ersten, die die Erhöhung der Lohnne-benkosten nicht nur angehalten, sondern sie auch ge-senkt haben. Das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Re-gierung nie zuwege gebracht.
Über die Unternehmensteuerreform sprechen wir nochan anderer Stelle.Bundesminister Hans Eichel
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5470 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Diese Reformen betten wir in das ein – dazu habenSie sich einmal auf Grund Ihrer europapolitischen Vor-stellungen bekannt; denn Sie haben den Stabilitäts- undWachstumspakt herbeigeführt –, was wir auf europäi-scher Ebene verabredet haben, nämlich in eine Politikder Haushaltskonsolidierung bzw. der Rückführung derNettoneuverschuldung. Wir könnten uns auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verabschieden, wenn wir das sodurchführen würden, wie Sie das wollen.
Unsere Politik führt in eine andere Richtung.Schauen Sie sich einmal die Auftragseingänge imverarbeitenden Gewerbe an. Sie gehen steil nach oben.Schauen Sie sich einmal die Einbrüche im Export an:Ohne die Stärkung der Binnennachfrage, die wir auf derBasis unseres Konzeptes zu Beginn dieses Jahres durch-gesetzt haben, wäre der Export in diesem Jahr vielschlechter verlaufen, weil bei uns – wie Sie genau wis-sen – die Asien-Krise, die Lateinamerika-Krise und dieRußland-Krise zu sehr heftigen Auswirkungen geführthaben.
Jetzt geht die Entwicklung steil nach oben. Alle Wirt-schaftsforschungsinstitute, der Internationale Währungs-fonds, die Deutsche Bundesbank, die Deutsche BankResearch und die Dresdner Bank sagen: Ihr seid auf demrichtigen Wege. Alle Wachstumsprognosen werden nachoben korrigiert. Ich bleibe in dieser Hinsicht noch einbißchen zurückhaltend, aber es gibt im Moment keineWachstumsprognose für das nächste Jahr, die unter2,5 Prozent liegt. Eine Fülle von Instituten sagt inzwi-schen ein Wachstum von 3 Prozent voraus. Das Deut-sche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, das zuden größten Pessimisten gehört, hat seine Wachstum-sprognose von ehedem 2 auf nunmehr 3 Prozent totalverändert.
Das erstemal seit vielen Jahren treffen die Steuer-schätzungen wieder zu. Teilweise liegen die Einnahmensogar über den Steuerschätzungen. Das ist ein riesigerFortschritt. Die Situation sah zu Ihrer Zeit ganz andersaus.
Auf das Beispiel USA kann ich wegen der Kürze derZeit nicht eingehen.Ein weiterer Punkt. Ihr Konzept hat eine groteske so-ziale Schieflage. Gegenüber der Regelung, die wir in dasGesetz geschrieben haben, wollen Sie beim Eingangs-steuersatz gerade einmal 0,9 Prozentpunkte herunterge-hen. 5 Milliarden DM haben Sie noch für das untere En-de übrig. Den Spitzensteuersatz wollen Sie um 13,5 Pro-zentpunkte senken. Das entspricht einer Entlastung von27 Milliarden DM am oberen Ende. Und Sie wollen unshinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit im Zusammen-hang mit unserem Sparpaket einen Vorwurf machen!Das fehlt gerade noch.
Im übrigen ist Ihr Vorschlag wirtschaftspolitisch totalkontraproduktiv, denn es gilt: Wer so sehr auf die Chef-ärzte, auf die gut verdienenden Anwälte und Architektensetzt, der hat natürlich nicht das Geld, um die Unter-nehmensteuern deutlich zu senken.
Darin liegt der große Unterschied: Bei unserem Konzeptkönnen schon im Jahr 2001 die Gewinne reinvestiertwerden, weil der entsprechende Steuersatz auf 37,5 bis38 Prozent sinkt. Sie bleiben aber bei einem Satz von44,5 Prozent stehen. Sie müssen über diesen Punkt nocheinmal genau nachdenken.Die Ideologie, daß der Einkommenspitzensteuersatzgenauso sinken müsse wie der Körperschaftsteuersatz,ist in der Tat typisch deutsch. Die Diskussion darüberhat erst angefangen, als wir unser Konzept auf den Tischgelegt hatten, und keinen Moment früher. In keinem In-dustrieland der Welt sind der private Spitzensteuersatzund der Körperschaftsteuersatz identisch. Nach unsererReform ist die Spreizung in Deutschland niedriger als inden meisten europäischen Ländern. Zum Beispiel habendie hochgelobten Niederlande einen Körperschaftsteuer-satz von zur Zeit 35 Prozent und einen privaten Spitzen-steuersatz von 60 Prozent. Die Spreizung beträgt also 25Prozentpunkte. Der Spitzensteuersatz sinkt zwar auf 52Prozent. Aber es bleibt noch eine Spreizung von17 Prozentpunkten. Bei uns werden es am Schluß nurnoch 10 Prozentpunkte sein.Sie können doch nur so lange von Ihrer Propagandagegen unser angebliches Unternehmensteuerkonzept le-ben – Rezzo Schlauch muß uns in diesem Punkt garnicht ermahnen, weil wir eine gemeinsame Beschlußfas-sung haben –, bis unser Konzept auf dem Tisch liegt. Siereden doch jetzt über etwas, was es noch gar nicht gibt.
Was es aber am Ende des Jahres genau geben wird, sinddie von uns im Kabinett beschlossenen Eckwerte. Dasheißt 25 Prozent Körperschaftsteuersatz. Die Personen-gesellschaften werden steuerlich genauso behandelt. Dasheißt auch, daß wir die kleinen und mittleren Unterneh-men entlasten werden. Genauso, wie wir es beschlossenhaben, werden diese Maßnahmen umgesetzt. Ihre Pole-mik ist also allein deswegen schon abstrus, weil über-haupt noch kein Konzept vorliegt und nur die Eckpunktebeschlossen worden sind die wir aber umsetzen werden.
Herr Minister, ichmuß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.Bundesminister Hans Eichel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5471
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin
sofort am Schluß.
Was soll also die ganze Aufregung? Der einfache
Grund für Ihre Aufregung ist, daß Sie einen Themen-
wechsel wollen. Ihnen ist es unangenehm, daß wir die
von Ihnen angerichtete Staatsverschuldung zurückfah-
ren. Ich sage noch einmal, daß ich nichts gegen die Ko-
sten der Einheit habe.
Ich habe aber etwas gegen die Art, wie Sie die deutsche
Einheit finanziert haben.
Sie machen jetzt genau das, was Sie schon 1990 ge-
macht haben. Damals haben Sie nämlich den Menschen
erzählt, die deutsche Einheit werde nichts kosten und die
notwendigen Anstrengungen werde niemand spüren.
Jetzt versuchen Sie, den Menschen weiszumachen, daß
man die Staatsschulden abbauen könne, indem man al-
len viel Geld in die Tasche steckt. Wenn das doch nur so
einfach ginge! Auch die Haushaltskonsolidierung ist
nicht zu machen, ohne daß spürbare Anstrengungen
notwendig sind, ohne daß das jemand merkt. Dieses
Thema ist Ihnen unangenehm, weil es um Ihre Schulden
geht, mit denen wir es jetzt zu tun haben.
Ihre Politik erinnert mich an das Motto eines be-
kannten Karnevalsvereins: „Allen wohl und niemand
weh, Fassenacht beim MCC“. So ist Ihre Finanzpolitik,
meine Damen und Herren.
Aber Steuerpolitik findet nicht in der fünften Jahreszeit
statt, sondern in den vier Jahreszeiten. Deswegen fordere
ich Sie auf: Bringen Sie das, was Sie vorgelegt haben,
als Gesetzentwurf im Bundestag und im Bundesrat ein!
Ich will wissen, ob die Hände der Ministerpräsidenten
oben sind, ob dies wirklich jemand mit beschließen
würde. Ich sehe schon die Bittbriefe auf mich zukom-
men mit dem, was sie noch alles von mir haben wollen.
Wir sollten dies im einzelnen richtig austragen.
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, wirsind zur ständigen Wiederholung mindestens ebenso inder Lage wie Sie. Deswegen sage ich noch einmal: DieProbleme bezüglich der Haushaltslage des Bundes, dieSie gerade beschrieben haben, hat Ihnen allein IhrAmtsvorgänger Oskar Lafontaine hinterlassen.
Dafür die Opposition verantwortlich zu machen istwirklich etwas zu billig.Sie bzw. Ihr Bundeskanzler haben die Wahlen mitdem Motto der sogenannten Neuen Mitte gewonnen.Kurz nach gewonnener Wahl aber kommen die altenKlassenkampfparolen wieder zum Vorschein. Deswegenwill ich Ihnen an dieser Stelle eine Zahl vorhalten, diedeutlich macht, wie die Steuerbelastungen in Deutsch-land verteilt sind. 10 Prozent der Steuerpflichtigen, dieBezieher der oberen und obersten Einkommen, zahlenfast 50 Prozent des Steueraufkommens in der Bundesre-publik Deutschland. Deswegen ist das, was Sie hier be-treiben, einfach Klassenkampf. Es ist eine alte sozia-listische Neidtradition, die Sie hier zum Leben erwek-ken.
Uns geht es darum, gemeinsam mit Ihnen eine Steu-erreform mit einer Nettoentlastung zur Förderung vonInvestitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen in derBundesrepublik Deutschland zu ermöglichen.
Sie werden das alte Wort des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion in diesem Zusammenhang nichtwiederholen können. Er hat gesagt: Wir brauchen dieOpposition nicht. Die Wahlen im Laufe des Jahres1999 haben deutlich gezeigt, daß Sie die Opposi-tion spätestens im Vermittlungsausschuß brauchenwerden.Grundvoraussetzung dafür, daß eine solche Steuerre-form in der Bundesrepublik Deutschland jemals Wirk-lichkeit wird, sind zwei unveränderbare Eckpfeiler. Dererste Eckpfeiler lautet: Wir brauchen eine Steuerreformmit einer wirklichen Nettoentlastung.
Eine reine Verschiebung zwischen verschiedenen Ein-kunftsarten zu Lasten der mittelständischen Betriebe,wie Sie es offensichtlich planen, werden wir unter kei-nen Umständen mitmachen.
Eine solche Nettoentlastung ist möglich.
Die mittelfristige Finanzplanung dieser Bundesregierungzeigt, daß von 1999 bis zum Jahr 2003 – das ist der Fi-nanzplanungszeitraum – die Steuermehreinnahmen Jahr
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für Jahr höher sein werden als die Rückführung derNettoneuverschuldung.
Tatsächlich gibt diese Bundesregierung Jahr für Jahrmehr Geld aus. Wahrscheinlich steigen die Ausgabensogar stärker, als das nominale Bruttoinlandsproduktwächst. Das heißt, Sie haben die Wahl, die Staatsquotezu erhöhen oder eine Steuerreform mit einer wirklichenNettoentlastung durchzuführen. Das ist die Alternative,vor der wir stehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nochetwas zu den Größenordnungen sagen. Wir haben inDeutschland Steuereinnahmen bei Bund, Ländern undGemeinden von insgesamt rund 900 Milliarden DM.Wir sprechen über eine Nettoentlastung in einer Grö-ßenordnung von 30 bis 50 Milliarden DM. Wenn sichdiese Bundesregierung nicht mehr zutraut, 3 bis maxi-mal 5 Prozent des Steueraufkommens in der Bundes-republik Deutschland für eine der wichtigsten ökonomi-schen Entscheidungen einzusetzen, nämlich dafür, eineSteuerreform zur Förderung der Investitionen und zurSchaffung von Arbeitsplätzen zu machen, dann hat siebereits jeden politischen Gestaltungswillen aufgegeben.
Nun reden Sie über eine Vermögensabgabe. HerrEichel, ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie diesemTreiben in Ihren eigenen Reihen endlich einmal ein En-de bereiten. Die Vermögensabgabe, die jetzt innerhalbder SPD-Bundestagsfraktion diskutiert wird – wir habenerneut einen Beweis dafür bekommen –, ist einmal zurBeseitigung von Kriegsfolgen zulässig gewesen. Siewerden doch wohl nicht so weit gehen, daß die Beseiti-gung des Chaos, das Sie bereits im ersten Jahr ange-richtet haben, der Beseitigung der Kriegsfolgen gleich-kommt! So weit gehen noch nicht einmal wir in der Be-schreibung dessen, was Sie angerichtet haben.
Eine solche Vermögensabgabe ist verfassungswidrig.Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, klarzustellen, daßsie nicht kommt. Aber Sie haben diese Gelegenheit of-fensichtlich bewußt verstreichen lassen.Ich sage Ihnen noch einmal: Wir sind bereit, auchüber viele Details miteinander zu reden. Aber Sie wer-den die Zustimmung der Union, und zwar sowohl imBundestag als auch im Bundesrat – da sind wir uns völ-lig einig –, für eine Steuerreform ohne Nettoentlastung
und für eine Steuerreform, die nicht gleichmäßig dieSätze der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuersenkt, nicht bekommen. Sparen Sie sich jede Arbeit andem, was Sie gegenwärtig planen!
Als letzter Redner in
der Aktuellen Stunde hat der Kollege Detlev von Lar-
cher das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich hätte wenigstens von HerrnMerz erwartet, daß er zu der Differenz zwischen 30 und50 Milliarden DM Stellung nimmt. Wir haben erlebt,daß die CSU vorgeprescht ist und Herr Schäuble ge-bremst hat. Das heißt, wir wissen eigentlich noch garnicht, über welches Konzept wir hier sprechen. Stattdessen mußten wir uns Märchen von Herrn Merz anhö-ren. Sie hätten wirklich besser daran getan, etwas zumKonzept zu sagen.Ich wundere mich noch immer, obwohl ich nun schonim neunten Jahr im Bundestag sitze, über die Chuzpeder CDU/CSU und der F.D.P. Da höre ich das Glau-bensbekenntnis von Herrn Minister Faltlhauser, der sagt:Die Steuerpolitik ist das Instrument zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit. Ich glaube, Sie waren nicht mehr imBundestag, als die Wissenschaftler in einer Anhörungeiner nach dem anderen gesagt haben: Mit Steuerentla-stungen könnt ihr auf den Arbeitsmarkt, wenn über-haupt, nur mittelfristig und in ganz geringem Umfangeinwirken. Wenn ihr die Arbeitslosigkeit bekämpfenwollt, dann müßt ihr ein Bündel von Maßnahmen ergrei-fen. Ihr könnt nicht allein auf das Instrument Steuerpoli-tik vertrauen.Jetzt höre ich diesen Hinweis schon wieder. Man hörtja in Anhörungen oft sehr viel Lobbyismus statt Sach-verstand. Aber manchmal werden doch sachliche Aus-künfte gegeben, und auf diese sollten auch Sie hören,Herr Dr. Faltlhauser.Dann haben Sie Neuseeland erwähnt. Wir kennendieses Beispiel. Ich sage Ihnen: Fahren Sie jetzt einmalhin, und schauen Sie sich die Entwicklung dort an! Dannwerden Sie sehen, daß Neuseeland schon lange keinVorbild mehr ist.Schließlich höre ich, wir sollten zusammen mit derCDU/CSU deren Weg gehen.
Was ist das denn für ein Weg? Das ist der Weg in diehöchste Staatsverschuldung, in die höchste Arbeitslosig-keit und in die höchste Steuer- und Abgabenbelastung.Herr Poß hat mit Recht gesagt, daß der Wettbewerb be-züglich der Steuerreform bei der letzten Bundestagswahlstattgefunden hat. Bundeskanzler a.D. Helmut Kohlhat ihn ausgerufen, und die Wähler haben entschieden.Wir haben dann unsere Steuerreform durchgeführt, die– entgegen dem, was Sie immer sagen – den MenschenFriedrich Merz
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zugute kommt, den Arbeitnehmern und den Familienmit Kindern.
– Und dem Mittelstand. – Das ist doch längst entschie-den. Also werden wir uns doch nicht auf Ihren Weg be-geben, der völlig unseriös und völlig unernst gemeint ist.Ich habe Ihnen schon damals, als Sie Ihr Steuer-reformkonzept mit Ihrer Mehrheit in der vorigen Wahl-periode eingebracht haben,
vom Rednerpult in Bonn aus gesagt: Ich bin ganz sicher,daß Sie nicht wollen, daß das Konzept in Kraft tritt.Denn auch damals war es nicht finanzierbar. Ich erinne-re nur an die Diskussion über die Fußnote. Sie habensich darauf verlassen, habe ich damals gesagt – ichglaube noch immer, daß das richtig war –, daß dieseSteuerreform im Bundesrat nicht durchkommt, denn Siewollten sie eigentlich nicht haben. Jetzt sind Sie in derOpposition und können völlig verantwortungslos Hirn-gespinste in die Luft malen
und sagen: Das ist unser Steuervorschlag, der die Ar-beitsplätze, die wir brauchen, bringen würde.Ich finde es eigentlich schade, daß Herr Waigel nichtda ist. Denn im Grunde genommen zeigt dieser Vor-schlag eine gewisse Konsistenz. Herr Waigel hat sich alsVater des Stabilitätspakts feiern lassen. Er hat immerbetont, er mache eine stabile Haushaltspolitik und einestabile Steuerpolitik. In Wirklichkeit hat er seine Haus-halte durch Tricks, Täuschungen, Luftbuchungen undden Ausverkauf des Eigentums der Bundesrepublik sa-niert. Uns hat er Schulden hinterlassen, die dazu führen,daß wir minütlich 150 000 DM an Zinsen zahlen müs-sen. Das ist die Solidität des Herrn Waigel.Jetzt schlagen Sie eine Steuerreform vor nach demMotto: Macht ruhig noch weitere Schulden, denn wirhaben es ja! Ihre Propaganda gegen die SPD, in der esimmer heißt, wir seien die Partei der Schuldenmacher,verkehrt sich ins Gegenteil. Die Parteien der Schulden-macher sind Sie auf der rechten Seite des Hauses.Nein, meine Damen und Herren, wir werden Ihnennicht folgen. Wir haben eine gute Einkommensteuer-reform gemacht,
die sich in dem kleinen Maßstab, in dem sie es über-haupt kann, auch auf die Arbeitsplätze auswirken wirdund sich schon auf die Steuereinnahmen auswirkt – seitdem Schließen der Steuerschlupflöcher steigen sie be-reits –, und wir werden eine Unternehmensteuerreformmachen, die dem Mittelstand, den kleinen und mittlerenBetrieben, dient. Wir denken nicht daran, auf Ihren Wegeinzuschwenken. Unser Weg ist besser. Es wird keinJahr mehr dauern, und dann werden auch Sie es zugebenmüssen.Wo sind im übrigen die veröffentlichten Meinungen,die Ihren Steuervorschlag loben? Ich habe sie in derPresse und in sonstigen Medien gesucht, aber immer nurKritik gefunden. Das sollte Ihnen eigentlich zu denkengeben.Ich danke Ihnen.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Sicherung der Pressefreiheit
– Drucksache 14/1602 –
Überweisungsvorschlag:
Die Beschlagnahme von redaktionellem Material ist da-bei nur in Fällen schwerster Kriminalität zu vertreten,wenn ein Verbrechen anders nicht aufgeklärt werdenkann.Ich darf uns alle daran erinnern, welcher Aufschrei inden vergangenen Jahren zu Recht immer wieder sowohldurch die Politik als auch durch die Medien ging, wennsich Strafverfolgungsorgane nicht an den Schutz derPressefreiheit gehalten haben. Von dem durch die da-malige SPD-Regierung unter dem MinisterpräsidentenOskar Lafontaine geänderten saarländischen Presserechtüber die Überwachung von Journalisten der Redaktionenvon „Focus“ und „ZDF Frontal“ durch die FrankfurterStaatsanwaltschaft bis hin zu der Durchsuchung vonBremer Redaktionen war in den letzten Jahren ein steti-Detlev von Larcher
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ges Aufweichen bislang anerkannter Rechtsgrundsätzeerkennbar.Im Informationszeitalter, das durch einen enormenFluß von Daten und Informationen bestimmt wird, ist esbesonders wichtig, daß die Presse ihre Kontrollfunktion,insbesondere in heiklen Bereichen, ausüben kann. AufGrund der vielen verschiedenen Quellen, aus denenheutzutage Informationen erlangt werden können, er-scheint die Unterscheidung zwischen selbst- und frem-drecherchiertem Material immer schwieriger. Wo sinddie Abgrenzungen, wenn etwa Informationen über denWeg der neuen Medien erarbeitet und zugesandt wer-den? Aus genau diesem Grunde wird das Zeugnisver-weigerungsrecht in unserem Gesetzentwurf auch aufdie modernen Kommunikationsdienste erweitert.Wir wollen mit dem Gesetzentwurf aber auch errei-chen, daß im Bereich der Beschlagnahme des durch dieZeugnisverweigerungsrechte geschützten Materials end-lich die Präzisierung erfolgt, die es zukünftig weitestge-hend vermeidet, daß es zu falschen Entscheidungen beider Durchsuchung von Redaktionsräumen und Journali-stenwohnungen und Beschlagnahme von Gegenständenkommt.Parallel zur Sicherung der Pressefreiheit muß aberauch das legitime Interesse der Gesellschaft an einerwirksamen Verbrechensbekämpfung beachtet werden.Ein Oberstaatsanwalt wie ich ist natürlich auch daranbesonders interessiert. Der Zugriff auf selbsterarbeitetesMaterial wird durch unseren Gesetzentwurf nicht voll-ständig versperrt. Aus verfassungsrechtlichen Gründenwird dieser Grundsatz bei besonders schweren Straftatendurchbrochen. Die in diesem Zusammenhang immerwieder auftauchende Erwägung, es bei einer allgemei-nen Formel zu belassen, die von einer zu erwartendenStrafhöhe ausgeht, halten wir für eines der Schlupflö-cher, die gebotene Schranken im Bereich von staatlichenZwangsmaßnahmen immer wieder aufheben.Mit Sicherheit wird man über den von uns ausge-wählten Katalog von Straftaten streiten können. Ich bittejedoch zu bedenken, daß es im Gegensatz zu manch an-deren Straftatenkatalogen – etwa dem des § 100 a StPO– hier nicht um die Frage geht, wann der Staat eingreifenkann, sondern um die Frage, wann den Journalisten dasRecht nicht zusteht, von ihrem Zeugnisverweigerungs-recht Gebrauch zu machen.
Die Schutz- und Zielrichtung des Kataloges ist alsonicht mit der vergleichbar, die bei Eingriffsmaßnahmenwie etwa dem Abhören von Telefonen besteht.Ich bin mir sicher, daß wir über die Frage des Ver-dachtsgrades und über die Frage der Beschränkung derBeschlagnahme noch erhebliche Auseinandersetzungenführen werden und führen müssen.Ich habe mit Interesse die Ausführungen der Justiz-ministerin im Rahmen der Haushaltsdebatte gelesen, inwelcher diese den Gesetzentwurf im Grundsatz begrüßt,wie das im übrigen die IG Medien und auch der Presse-rat mit Nachdruck getan haben. Sie hat ihn als Basis un-serer Diskussion angesehen. Deshalb freuen wir uns aufdie Diskussion. Wir erwarten natürlich insbesondere,daß auch die Bundesregierung sehr bald ihre Vorstellun-gen zu diesem Punkt einbringt. Sie sind überfällig.
Ich glaube, wir sind uns einig, daß das so ist. Deshalberwarten wir von unserem Entwurf – auch deshalb ha-ben wir ihn eingebracht –, daß er Druck ausübt, weil wirhier sehr schnell zu einer Entscheidung kommen müs-sen.Wir müssen abwägen zwischen dem notwendigenInteresse des Staates an der Strafverfolgung und derSicherung der Pressefreiheit, die eine der Säulen derDemokratie ist. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurfdazu beitragen, Grauzonen abzubauen, die von meinenstaatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wieder genutztworden sind. Ich hoffe darauf, daß wir sehr schnell zueiner großen Übereinstimmung hier im Hause kommenwerden. Die F.D.P. ist zu dieser Diskussion bereit undauf die Vorschläge der anderen gespannt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt
Kollege Professor Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rundfunk- und Pres-sefreiheit sind nach der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts bekanntlich konstitutives Elementeiner freiheitlichen Demokratie. So ist es nicht ver-wunderlich, daß die Verbesserung des Schutzes derPressefreiheit durch eine Erweiterung des Zeugnisver-weigerungsrechts für Journalisten und entsprechendeBeschlagnahmeverbote den Bundestag schon mehrfachbeschäftigt hat.Den Gesetzentwürfen der SPD-Fraktion aus der vor-letzten Legislaturperiode und des Bundesrates und vonBündnis 90/Die Grünen aus der letzten Legislaturperi-ode sowie einem Entwurf verschiedener Medienorgani-sationen, den ich sehr interessant finde, hat nunmehr dieF.D.P.-Fraktion einen weiteren Entwurf hinzugefügt.Möglicherweise, Herr Kollege van Essen, hatte sichauch herumgesprochen, daß ein im Bundesjustizministe-rium erarbeiteter Referentenentwurf kurz vor dem Ab-schluß des notwendigen Abstimmungsverfahrens stehtund demnächst als Regierungsentwurf in das Gesetzge-bungsverfahren gelangen wird.
Eine kleine Fraktion, die zudem in der Opposition ist,kann ihre Gesetzentwürfe offensichtlich ohne die füreine Regierung und eine Regierungskoalition notwendi-gen Abstimmungen schneller erstellen und ins Verfah-ren bringen.
Jörg van Essen
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Dabei, Herr Kollege, muß natürlich der Frage nachge-gangen werden, ob die Schnelligkeit nicht hier und da zuLasten der Qualität gegangen ist.
Vorweg will ich aber feststellen, daß alle bisher ein-gebrachten Gesetzentwürfe in einer grundsätzlichenForderung übereinstimmen. Danach soll der bisherschon geltende Schutz des Redaktionsgeheimnisses,der sowohl die Anonymität der Informationsquellendurch Quellenschutz als auch die Vertraulichkeit ge-machter Mitteilungen durch Inhaltsschutz für anver-trautes Material gewährleistet, grundsätzlich erweitertwerden: Er soll auch auf selbst recherchiertes Materialerstreckt werden. Bekanntlich geht es dabei beispiels-weise um den Schutz von Filmmaterial, das ohne Zu-sammenwirken mit den gefilmten Personen gewonnenworden ist. Wir erinnern uns an den bekanntenBrokdorf-Fall von 1986. Damals sind Aufnahmen desZDF von einer Demonstration gegen das AtomkraftwerkBrokdorf beschlagnahmt worden, nachdem es bei derDemonstration zu schweren Ausschreitungen mit zahl-reichen Straftaten gekommen war.In der letzten Debatte über unser Thema im Dezem-ber 1996 habe ich für meine Fraktion ausgeführt, daßder dem Bundestag in der letzten Legislaturperiode zu-geleitete Entwurf des Bundesrates der verfassungsrecht-lichen Konfliktlage Rechnung trage. Denn es könnenicht zweifelhaft sein, daß es etwa bei der Beschlag-nahme oder Nichtbeschlagnahme selbst recherchiertenMaterials um die Abwägung zwischen zwei hohen Ver-fassungsrechtsgütern geht. Für die Nichtbeschlagnahmeund ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrechtkann die Rundfunk- und Pressefreiheit als konstitutivesElement der freiheitlichen Demokratie sprechen. Für diegegenteilige Entscheidung kann die rechtsstaatlichePflicht des Staates zur Aufklärung von Straftaten spre-chen. Die Effektivität der Strafrechtspflege ist bekannt-lich wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit.Letztlich handelt es sich dabei um das dialektischeSpannungsverhältnis zwischen Demokratie undRechtstaat.Dieses, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auchheute wieder unser Thema. Ich will zunächst gerne an-erkennen, Herr Kollege van Essen, daß sich die F.D.P.den beschriebenen Abwägungsprozeß keineswegsleicht gemacht, sondern ausdrücklich anerkannt hat, daßdas journalistische Zeugnisverweigerungsrecht und einentsprechendes Beschlagnahmeverbot dort ihre Grenzenfinden, wo es um die Aufklärung schwerster Verbrechengeht. Gleichwohl muß ich – das wird Sie nicht überra-schen – beispielhaft auf drei Mängel des Entwurfes hin-weisen, die – wie ich Ihnen versichern kann – der dem-nächst dem Bundestag zugehende Regierungsentwurfvermeiden wird.
Der erste Schwachpunkt – Sie sind schon kurz daraufeingegangen – ist der umfangreiche Deliktskatalog, deran sich durchaus erforderlich ist, um die Fälle zu benen-nen, in denen das Zeugnisverweigerungsrecht entfallensoll. Zum einen ist Ihr Katalog schon optisch so umfang-reich, daß sich mancher Journalist fragen wird, worineigentlich die Verbesserung der gegenwärtigen Rechts-lage bestehen soll.
Ich will zwar anerkennen, daß Sie sich dem Bundesrats-vorschlag, ergänzend zum Katalog noch auf eine kon-krete Straferwartung abzustellen, nicht angeschlossenhaben. Diesen Vorschlag habe ich auch in der früherenDebatte ausdrücklich abgelehnt. Aber warum das eineoder andere Delikt aufgeführt oder auch nicht aufgeführtist, ist nicht leicht zu erkennen. Es wäre sicher bessergewesen, im System des geltenden Strafverfahrensrechtszu bleiben und sich einem der dort bereits gesetzlich ge-regelten Kataloge anzuschließen. Sie haben zwei ge-nannt, aber nicht den interessantesten.Hinsichtlich der nicht aufgeführten Delikte ist aufder anderen Seite schwer nachvollziehbar, daß bei-spielsweise die schwere Körperverletzung oder dieKörperverletzung mit Todesfolge, die selbst im Ent-wurf verschiedener Medienorganisationen enthaltensind, in Ihrem Entwurf fehlen. Soll das Zeugnisverwei-gerungsrecht stärker geschützt werden, als selbst vonjournalistischer Seite gefordert wird? Kurioserweisefehlt auch die Vergewaltigung mit Todesfolge, dieselbstverständlich im Entwurf der Medienorganisatio-nen aufgeführt ist.Ein zweiter Mangel Ihres Entwurfes besteht darin,daß er in der Begründung mehr verspricht, als der Ge-setzestext hält. Ich beziehe mich hier auf das Problemder Gemengelage, also der Vermischung von anver-trautem Material einerseits und selbst recherchiertemMaterial andererseits. Die Behauptung, der Entwurf lö-se diese Schwierigkeit durch die grundsätzliche Gleich-stellung beider Materialien, ist wegen der vorgesehenenEinschränkungen beim selbst recherchierten Material of-fensichtlich unzutreffend. Warum haben Sie nicht denVorschlag übernommen, den ich bereits in der Debattevom Dezember 1996 gemacht habe und der bekanntlichauch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ent-spricht? Ich hatte seinerzeit darauf hingewiesen, daßman das Problem der Trennbarkeit von anvertrautem, al-so vollständig geschütztem, und selbst recherchiertemMaterial beachten muß; denn es kann beispielsweise imkonkreten Fall nicht aufzuklären sein, ob Filmmaterialdem Journalisten übergeben wurde, also anvertraut ist,oder von ihm selbst aufgenommen wurde, also selbst re-cherchiertes Material ist. Deshalb hatte ich vorgeschla-gen, in das Gesetz zu schreiben, daß in einem solchenFall der Grundsatz „im Zweifel für die Pressefreiheit“gilt. Ich bin enttäuscht, daß Sie diesem Vorschlag, demHerr Westerwelle in der früheren Debatte zuzustimmenschien, nun nicht nähergetreten sind.Ich nenne noch einen dritten Mangel. Dies ist diekonkrete Ausgestaltung des an sich richtigen Gedan-kens, daß das Zeugnisverweigerungsrecht nicht umgan-gen werden darf, indem Aussagen aus anderen als straf-Dr. Jürgen Meyer
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gerichtlichen Verfahren verwertet werden. Im F.D.P.-Entwurf heißt es dazu:Soweit die … genannten Personen von ihrem Rechtzur Verweigerung des Zeugnisses über den Inhaltselbst erarbeiteter Materialien Gebrauch machen,darf Beweis über Aussagen, die diese Personen inanderen als strafgerichtlichen Verfahren gemachthaben, nicht erhoben werden.Durch diese reichlich pauschale Formulierung werdenvöllig unterschiedliche Fallgestaltungen in einen Topfgeworfen; denn es macht doch offensichtlich einen Un-terschied, ob in dem außerstrafrechtlichen Verfahrenebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht bestand und obder Journalist in jenem Verfahren von seinem Zeugnis-verweigerungsrecht ausdrücklich nicht Gebrauch ge-macht, also ausgesagt hat. In diesem Fall bedarf dasBeweiserhebungsverbot, das Sie vorschlagen, jeden-falls noch einer eigenständigen Begründung, die inIhrem Entwurf fehlt.
Ich möchte Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, an dieser Stelle nicht durch weitere Hinweiseauf die so gern genannten handwerklichen Mängel irri-tieren.
Wir sind uns darüber einig: Beckmesserei hilft uns beider Problemlösung nicht weiter.Statt dessen kündige ich an, daß der demnächst in er-ster Lesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf derBundesregierung so evident besser sein wird, daß wirihn gemeinsam zur Beratungsgrundlage machen können.
Der F.D.P. bleibt dann das Verdienst – das sage ich ehr-lich und ohne Ironie –, einen Impuls zur Beschleunigungdes fälligen Gesetzgebungsverfahrens geleistet zu ha-ben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurfzur Sicherung der Pressefreiheit will die F.D.P.-Fraktiondas seit Jahren in der Rechtspolitik diskutierte Themader Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes fürJournalisten, welches zugleich die Durchsuchungs- undBeschlagnahmebefugnis von Strafverfolgungsbehördeneinschränken würde, in der 14. Wahlperiode aufgreifen.
In der 13. Wahlperiode vom Bundesrat und vonBündnis 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzentwürfeunterfielen der Diskontinuität. In dieser Zeit wurde einvom BMJ vorbereiteter Gesetzentwurf seinerzeit nichtmehr in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der hiervorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am damaligenvorbereiteten Entwurf des BMJ – ich stimme der Ein-schätzung des Kollegen Meyer zu –, greift aber nachmeiner Überzeugung zusätzlich Elemente der Gesetz-entwürfe vom Bundesrat und Bündnis 90/Die Grünenauf und geht in seinen Beschränkungen für die Straf-verfolgungsbehörden in Teilen noch weiter.Bereits die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zurSicherung der Pressefreiheit“ ist eine provokante For-mulierung, suggeriert sie doch, daß die Pressefreiheit inDeutschland durch die Strafverfolgungsbehörden ge-fährdet sei. Einer solchen Einschätzung möchte ich hierim Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus-drücklich widersprechen. Weder aus dem Gesetzentwurfder F.D.P. noch aus einer anderen offiziellen Materialiegeht hervor, wie viele unrechtmäßige Übergriffe derStrafverfolgungsbehörden es in Deutschland überhauptgibt.In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf dieJustizministerkonferenz vom November 1997 zu-rückkommen. Diese Justizministerkonferenz hatte ex-tra einen Strafrechtsausschuß gegründet, der sich mitder Frage der Erweiterung der Beschlagnahme beiJournalisten zu befassen hatte. Die Beschlußvorschlägemöchte ich hier gerne vortragen. Als erstes wird fest-gestellt:Die Justizministerinnen und -minister haben denBericht des Strafrechtsausschusses „Erweiterungdes Beschlagnahmeverbots bei Journalisten“ zurKenntnis genommen.Das Votum betrug hier 16 : 0 : 0.
– Herr Hartenbach, darauf komme ich gleich noch zu-rück.Der zweite Vorschlag lautete – ich meine, der Deut-sche Bundestag müßte das zur Kenntnis nehmen –:Sie halten diesbezüglich eine Anregung zu gesetz-geberischen Maßnahmen nicht für geboten.Auch dieses Votum wurde von den Ländern recht ein-deutig getroffen, nämlich mit 11 zu 5 zu 0 Stimmen.Das dritte Votum war – auch das möchte ich hiervortragen -:Sie– also die Justizministerinnen und -minister –erachten es für zweckmäßig, die Richtlinien für dasStrafverfahren und das Bußgeldverfahren
um eine Regelung zu ergänzen, die durch eine Ver-deutlichung des Verhältnismäßigkeitsprinzips des-sen Beachtung insbesondere bei einer in Betrachtkommenden Pressebeschlagnahme in Verfahrenwegen Geheimnisverrats sicherstellt.Dr. Jürgen Meyer
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Dieses Votum war wieder einstimmig, nämlich 16 zu 0zu 0.Zwischenzeitlich ist die RiStBV geändert worden.Dort ist die Nr. 73 a neu formuliert worden. Wir sind derAuffassung, daß mit dieser Formulierung im Kern das,was Sie wollen, Herr van Essen, Berücksichtigung ge-funden hat, neben den anderen Rechtsstaatsprinzipien,auf die ich gleich noch eingehen werde. In der RiStBVheißt es nämlich in Nr. 73 a:Durchsuchung und Beschlagnahme stellen erhebli-che Eingriffe in die Rechte des Betroffenen dar undbedürfen daher im Hinblick auf den Verhältnismä-ßigkeitsgrundsatz einer sorgfältigen Abwägung.Jetzt kommt ein Satz, der nach unserer Überzeugungeigentlich alles klarstellt:Bei der Prüfung, ob bei einem Zeugnisverweige-rungsberechtigten die Voraussetzungen für einesolche Maßnahme vorliegen …, ist ein strengerMaßstab anzulegen.Wir stellen hier offen die Frage – im Rahmen der Be-ratungen in der zweiten und dritten Lesung müssen wiruns darüber, meine ich, näher unterhalten –, ob es über-haupt eine Notwendigkeit für gesetzgeberisches Handelngibt oder ob nicht tatsächlich die vorhandenen rechtli-chen Rahmen ausreichen.Weder Herr van Essen noch Herr Meyer haben hierstatistisch-empirisches Material vortragen können. Siehaben auf Einzelfälle verwiesen, die aber keine Rück-schlüsse zulassen. Jetzt komme ich zu den Ergebnissender Justizministerkonferenz und des dortigen Fachaus-schusses: Es gibt überhaupt keine empirischen Erhebun-gen darüber, auf welcher Grundlage wir hier Überlegun-gen anstellen, gesetzgeberisch tätig zu werden.Ich möchte in diesem Zusammenhang den Straf-rechtsausschuß der Justizministerkonferenz zitieren:Eine Änderung des Gesetzes ist letztlich aber auchdeshalb nicht angezeigt, weil sachgerechte Ergeb-nisse im Einzelfall über das Verhältnismäßigkeit-sprinzip erreicht werden können. Dieses Prinziperlaubt – wie übrigens auch die Praxis zeigt – ins-besondere wegen seiner Flexibilität eine jeweilsfein abstimmbare Abwägung zwischen dem Inter-esse an der Tataufklärung einerseits und demGrundrecht der Pressefreiheit andererseits.Herr Meyer, Sie haben gerade angekündigt, daß es inabsehbarer Zeit einen Regierungsentwurf geben wird;jetzt ist bereits ein Jahr verstrichen.
Ich meine, irgendwann müßte es mit der Sorgfältigkeit,Herr Hartenbach, zu Ende sein.
Wenn Gründlichkeit quasi zu einem Stillstand derRechtspflege in Deutschland führt, weil es – bis aufkleine Ausnahmen – nicht einmal zu Fragen von wirk-lich grundsätzlicher Bedeutung Gesetzentwürfe derBundesregierung gibt,
dann muß man sich doch, wenn Sie empirisch nichteinmal beweisen können, daß es hier einen Handlungs-bedarf gibt, fragen,
warum sich diese Bundesregierung mit einem solchenBereich, der nach unserer Auffassung ein Randbereichist, auseinandersetzt und versucht, dort zu arbeiten.Ich möchte im folgenden deutlich machen, welcheKritikpunkte wir in dem Gesetzentwurf der F.D.P. se-hen. Aber ich möchte auch deutlich sagen: Wir sind imRahmen der zu führenden Gespräche – wahrscheinlichauch der Anhörungen – bereit, nach einem Kompromißzu suchen, und verschließen uns einer Lösung nicht.Aber der jetzt vorgelegte Entwurf findet in Kernberei-chen nicht unsere Zustimmung. Ich will versuchen, daszu erklären.Zum ersten möchte ich allgemeine Gründe vortragen.Nach geltendem Recht ist durch die §§ 53 und 97 StPOsowie durch die Abwägung nach dem verfassungsrecht-lichen Gebot der Verhältnismäßigkeit nach unsererÜberzeugung sichergestellt, daß die Interessen der Me-dien einerseits und die Interessen der Strafrechtspflegeandererseits angemessen berücksichtigt werden.
Der Vorschlag der F.D.P. verschiebt dieses Gleich-gewicht nach unserer Auffassung erheblich zu Lastender Strafverfolgung. Bereits das geltende Recht läßt imRahmen der jeweils gebotenen Verhältnismäßigkeitsprü-fung sachgerechte und differenzierte Lösungen zu.
Ich möchte zum zweiten auf den Bereich eingehen,den die F.D.P. in ihrem Entwurf mit den Formulierun-gen „nicht periodische Druckwerke“ und „Filmberichte“bezeichnet hat. Die im geltenden Recht enthaltene Be-schränkung auf periodische Druckwerke ist sachge-recht; sie umschreibt den schutzwürdigen Bereich zu-treffend. Bei einer Erweiterung auf nicht periodischeDruckwerke und Filmberichte ist eine sachgerechte Ab-grenzung des Kreises der Zeugnisverweigerungsberech-tigten nur noch schwer möglich. Es ist damit zu rechnen,daß Personen, die mit der Presse nichts zu tun haben,mit der Behauptung, ein Buch zu schreiben oder einenFilm zu drehen, das Zeugnisverweigerungsrecht für sichin Anspruch nehmen können. Auch könnte zum Beispieldie Erstellung von Flugblättern in den Schutzbereichfallen, wenn der Autor die kaum widerlegbare Behaup-tung aufstellt, die Tätigkeit erfolge berufsmäßig. Ausrei-chend ist hier schon jetzt eine nur nebenberufliche, nichtgewerbsmäßige Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsab-sicht.Ronald Pofalla
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Zum dritten möchte ich auf die Katalogtaten einge-hen. Ich stimme im wesentlichen den Überlegungen zu,die Herr Meyer hier zum Gesetzentwurf der F.D.P. vor-getragen hat. Zunächst könnte man darüber streiten, obein solcher Katalogtatbestand in diesem Gesetz über-haupt richtig angesiedelt ist. Wenn man aber einen sol-chen Katalog aufnimmt, dann muß die Frage beantwor-tet werden, warum bestimmte Tatbestände nicht aufge-nommen worden sind. Herr Kollege Meyer hat einigegenannt, die ich um die Tatbestände Geld- und Wertpa-pierfälschungen, Bandendiebstahl oder schwerer Ban-dendiebstahl oder auch Erpressung ergänzen möchte.Man müßte also, wenn man einen Katalog erstellt, dar-über reden, ob die Katalogtaten nicht um diese Tatbe-standsmerkmale bzw. um diese Delikte ergänzt werden.Ich möchte zum vierten auf das Beweiserhebungs-verbot eingehen, das der Gesetzentwurf vorsieht. Das indem neuen § 53 Abs. 3 StPO vorgesehene Beweiserhe-bungsverbot über Aussagen in anderen gerichtlichenVerfahren wäre – so glaube ich – im deutschen Strafpro-zeßrecht ohne Vorbild. Es ist nicht überschaubar, welcheRückwirkungen eine solche Neuregelung auf die Be-weiserhebung im Strafprozeß hätte. Sie wäre nach unse-rer Auffassung ein weiterer Schritt zu einem praxisfer-nen und schon auf Grund seiner Ausdifferenzierungletztlich unanwendbaren Recht.Ich könnte hier weitere Kritikpunkte vortragen, willaber an dieser Stelle darauf verzichten, weil wir dieMöglichkeit haben, im Rahmen der Berichterstatterge-spräche und der zweiten und dritten Lesung darauf zu-rückzukommen. Ich biete für unsere Fraktion nochmalseine offene Beratung an, glaube allerdings, daß auf derBasis des F.D.P.-Entwurfes – so wie er jetzt vorgelegtworden ist – ein Einvernehmen nicht herstellbar ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/
Die Grünen.
Kollegen! Ich beginne mit einem Kompliment: Ich finde
es prima, daß die F.D.P. die Pressefreiheit wiederent-
deckt und diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß das schon vor
einem oder vor zwei Jahren geschehen wäre, als ich
nämlich noch nicht Abgeordneter, sondern Rechtsanwalt
war. Damals wurde ich als Rechtsanwalt von einer be-
rühmten Tageszeitung, die nur wenige Meter von hier
ihr Büro hat, zu Hilfe gerufen, als dort die Staatsanwalt-
schaft angerückt war, um die Redaktionsräume zu
durchsuchen und Material mitzunehmen. Da habe ich
ein solches Gesetz bzw. einen solchen Gesetzentwurf
vermißt. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß
sich die F.D.P. dafür starkgemacht hat, ein solches Ge-
setz mit einer solchen Erweiterung des Schutzes der
Pressefreiheit durchzusetzen. Das hätte ich sehr begrüßt.
Was aber damals nicht war, ist jetzt vorgelegt worden.
Das finde ich gut.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?
Herr Kollege, ich habe
nur die Frage: Was hat Ihre Fraktion vorgelegt?
Ich komme gleich dar-auf. – Darf ich Sie weiter fragen – da wir hier zum The-ma Pressefreiheit diskutieren –, wie Sie damals reagierthaben, als Herr Lafontaine als Ministerpräsident desSaarlandes dort seine Pressegesetze eingebracht hat?
weil der damalige Ministerpräsident die Pressefreiheitnicht erweitert hat, sondern etwas anderes getan hat,während dieses Gesetz, das Sie jetzt vorgelegt haben, of-fensichtlich und ausdrücklich dem Zweck dient, dieJournalisten in ihrer Arbeit zu unterstützen.Es ist weder für Journalisten noch für Informantenoder das Publikum verständlich, warum Journalisten ihrZeugnis bezüglich Informationen, die sie von Infor-manten bekommen haben, verweigern dürfen und dies-bezüglich auch ein Beschlagnahmeverbot besteht, dasheißt, daß Unterlagen, die sie von anderen bekommenhaben, nicht beschlagnahmt werden dürfen, währendaber Unterlagen, die sie durch eigenes Hinschauen ge-sammelt und aufgeschrieben haben, die in ihremSchreibtisch liegen, der Staatsanwaltschaft preisgegebenwerden. Das versteht kein Journalist und kein Publikum.Das soll jetzt mit Ihrem Gesetzentwurf geändert werden.
Das finde ich hervorragend.Aber – hier haben Sie, Herr Kollege, nicht recht –Pressefreiheit kann nur existieren – und die Pressefrei-heit ist ein konstituierendes Gut für diese Gesellschaft,die Presse ist die vierte Gewalt – und funktionieren,wenn nicht nur die Informanten sicher sind, daß dasMaterial oder die Information, die sie geben, secret blei-ben, daß sie nicht an die Staatsanwaltschaft weitergege-ben werden, sondern wenn dies auch für das Materialgilt, das der Journalist durch Gespräche, durch eigeneBeobachtung, durch Filmen oder auf andere Art undRonald Pofalla
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Weise sammelt oder sich selbst beschafft. Nur dann,wenn der Journalist sicher sein kann, daß er seine In-formationen in seinem Schreibtisch, auf seiner Video-cassette oder auf seinem Tonband behalten kann, wird erein wirksames Korrektiv für uns Politiker, für die Regie-rung und für die Opposition, sein können. Er wird Skan-dale aufdecken können, wie das in der Vergangenheitsehr viel häufiger durch Presseartikel in berühmten Ma-gazinen, aber auch von anderen, als etwa durch parla-mentarische Untersuchungsausschüsse geschehen ist.Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode einenGesetzentwurf vorgelegt, der wesentlich weiter ging alsIhrer.Auch ich habe an den Diskussionen und Gesprächeninnerhalb der Regierungskoalition teilgenommen. DerGesetzentwurf ist noch nicht fertig. – Er wird hoffentlichbald auch Ihnen zugeleitet werden können, damit wirdarüber diskutieren können.Jetzt komme ich zu Ihrem Entwurf: Ich sehe achtPunkte als problematisch an. Den ersten Punkt will ichkurz abhandeln. Das Gesetz soll nur für Journalistengelten, die hauptberuflich tätig sind. Dies gibt Probleme,wie wir gesehen haben. Gott sei Dank hat die Recht-sprechung gesagt, daß auch dann, wenn ein Journalistnebenberuflich unterwegs ist, das Zeugnisverweige-rungsrecht gilt.Zweiter Punkt: Sie wollen die Möglichkeit für Jour-nalisten, das Zeugnis zu verweigern, auf Medien,Druckwerke, Rundfunksendungen und moderne Kom-munikationsmedien beschränken, aber nur, soweit sieder Berichterstattung und Meinungsbildung dienen oderInformationsangebote enthalten.Liebe Herren von der F.D.P., wie wollen Sie dasauseinanderhalten? Nehmen wir Konsalik, nehmen wirArtikel in der Regenbogenpresse: Was ist dabei Infor-mation, was dient der Meinungsbildung und was nicht?Wo wollen Sie die Grenze ziehen? Ich denke, eine sol-che Unterscheidung ist nicht möglich. Die Regelungensollten deshalb unbeschränkt gelten.Dritter Punkt – hierauf ist bereits hingewiesen wor-den –: Mir ist Ihr Ausnahmekatalog viel zu umfangreich.Machen Sie den Journalisten einmal klar, daß das Mate-rial, das sie in den wirklich wichtigen Fällen, in denen esum Spionage, um kriminelle Vereinigungen oder umschwerere Straftaten geht, erarbeitet und in ihremSchreibtisch liegen haben, nicht frei von Beschlagnahmeist und sie deshalb nicht das Zeugnis verweigern dürfen.Ich denke, daß sie gerade in diesen Fällen geschütztwerden müssen.Wenn wir heute wissen, in wie vielen Fällen dieStaatsanwaltschaften quer durch die Bundesrepublik et-wa im Bereich des Werbens für eine kriminelle oder ter-roristische Vereinigung vorgegangen sind, etwa gegenZeitungen, die nichts anderes getan haben, als eine Er-klärung, zum Beispiel eine Hungerstreikerklärung, zuveröffentlichen, und daß dies bereits ausreichte, einensolchen Verdacht zu rechtfertigen, dann wissen wirauch, daß dieser Katalog viel zu ausführlich ist. Er mußeingeschränkt werden; das kann so nicht gehen.Meine Zeit ist schon um. Deshalb will ich nur diePunkte nennen, die weiterhin problematisch sind. DenVerdachtsgrad bei Ermittlungsverfahren halte ich fürproblematisch. Sie haben überhaupt keinen Verdachts-grad vorgesehen, sondern wollen das bei allen Ermitt-lungsverfahren.Sie nehmen keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.Sie beurteilen also nicht, ob die Aussage des Journali-sten für ein Strafverfahren von entscheidender Bedeu-tung ist, möglicherweise für die Überprüfung des Täters,sondern Sie sagen, er müsse immer dann aussagen,wenn eine in diesem Ausnahmekatalog aufgeführteschwere Straftat vorliegt.Sie wollen das Zeugnisverweigerungsrecht bei selbstrecherchiertem Material nicht zubilligen, –
Ich möchte
doch noch einmal auf die Zeit hinweisen. Sie können
nicht mehr argumentieren, sondern nur noch aufzählen.
ergeben.
Verehrte Präsidentin, ich beende diesen Katalog. Wir
haben noch genügend Gelegenheit, darüber in den Aus-
schüssen und hier im Plenum zu diskutieren.
Wir sind auf dem richtigen Wege. Wir sollten ge-
meinsam dafür sorgen, daß die vierte Gewalt uns besser
auf die Finger gucken kann. Das ist richtig und wichtig
und für diese Gesellschaft und für diesen Staat Bundes-
republik Deutschland konstitutiv.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Kollege Ströbele, ichkann Sie so gut verstehen. Ich habe noch weniger Zeit.Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die PDS begrüßt ausdrücklich jede Erweiterung desZeugnisverweigerungsrechts für Journalistinnen undJournalisten. Bevor Sie mir, obwohl Sie heute sehr ruhigsind, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von derCDU, eingedenk der letzten Rede wieder mit DDR undSED kommen, sage ich: Gerade weil der SED derartiggravierende Versäumnisse vorzuwerfen sind bzw. siesolche Fehler in puncto Zensur und Pressekontrolle ge-macht hat, denke ich, daß die Pressefreiheit wirklich einsehr schützenswertes Gut gerade auch in dieser Gesell-schaft ist und man sehr viel Wert darauf legen sollte.
Die Initiative der F.D.P., das Zeugnisverweigerungs-recht auf Internetautorinnen und -autoren sowie auf denSchutz des selbst recherchierten Materials auszuweiten,
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ist richtig. Wie wir gehört haben, gibt es einen entspre-chenden Gesetzentwurf nun auch von der Bundesregie-rung. Wir haben ihn zu erwarten, und schließlich hat sieeine solche Reform auch in ihrem Koalitionsvertrag an-gekündigt und versprochen, und auch von der Bundes-justizministerin ist in vielen Zeitungen mehrmals betontworden, wie wichtig das ist.
– Ich hoffe, daß sie nicht nur ankündigt, sondern daßdieser Gesetzentwurf auch kommt.Es ist in der Tat völlig willkürlich, Recherchemate-rialien von Journalistinnen und Journalisten in selbst re-cherchierte und zugetragene zu unterscheiden. Ein Jour-nalist, der sich die Fakten nicht selbst ausdenkt – dasdürfen wir ja wohl alle erwarten –, hat für seine Infor-mationen immer eine Quelle. Sie sind also in der Regelimmer zugetragen worden und dennoch selbst recher-chiert. Journalistinnen und Journalisten dürfen aber inmeinen Augen nicht unfreiwillig zu Hilfsermittlern ge-macht werden, und die von den Strafverfolgungsbehör-den immer wieder vollzogene Umgehung des Zeugnis-verweigerungsrechts muß endlich gestoppt werden.
Leider bringt uns an dieser Stelle, liebe Kolleginnenund Kollegen von der F.D.P., Ihr Antrag nicht viel wei-ter. Es ist hier auch schon gesagt worden: Ihr Ausnah-mekatalog ist derart umfangreich, daß sich Ihr Entwurfleider selbst ad absurdum führt.Was den einen zu wenig ist, ist den anderen zu viel.Das hat man natürlich häufiger. Da gibt es kaum eineStraftat, die nicht aufgeführt ist. Journalistische Nach-forschungen im Zusammenhang mit solchen Straftatensind nach ihren Vorstellungen vom Zeugnisverweige-rungsrecht aber ausgenommen.Selbst recherchierte Materialien können also weiter-hin von Ermittlungsbehörden beschlagnahmt werden,und das ist in meinen Augen wirklich völlig abwegig,denn zu Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen, jaüberhaupt zu polizeilichen Ermittlungen kommt es oh-nehin nur bei strafrechtlich relevanten Fällen. In der Re-gel sammeln Journalisten nicht über einen Eierdiebstahloder über eine Schwarzfahrt entsprechende Materialien,
sondern natürlich geht es meistens in den brisanterenFällen dann doch um Strafmaße, die höher sind.Deswegen tut es mir sehr leid, daß dieser Gesetzent-wurf untauglich ist, die notwendigen Reformen zugun-sten der Pressefreiheit anzuschieben. So ist die Bundes-regierung jetzt ihr Koalitionsversprechen umsetzt, wassie heute angekündigt hat, wird sie hoffentlich einenbesseren Entwurf vorlegen. Dazu wünsche ich schoneinmal von dieser Stelle sehr viel Erfolg. Mehr kannman leider in drei Minuten nicht sagen.Schönen Dank.
Ich schließedamit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 14/1602 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibtes anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Anpassung von Dienst- und Versor-
– Drucksache 14/1088 –
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/1727 –Berichterstattung:Abgeordnete Dieter WiefelspützMeinrad BelleCem ÖzdemirDr. Max StadlerUlla Jelpke b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/1730 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KoppelinGünter WeißgerberFrhr. Carl-Detlev v. HammersteinOswald MetzgerDr. Christa LuftIch kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen,daß die Abgeordneten Kemper, Belle, Özdemir, Funke,Ehlert und Staatssekretär Körper darum gebeten haben,ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Siedamit einverstanden? – Dann verfahren wir so.Wir kommen gleich zur Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bun-desbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes1999, Drucksachen 14/1088 und 14/1727. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti-onsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDSbei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimm-verhältnis wie zuvor angenommen.––––––––––––*) Anlage 6
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzunghier: „Entwicklung und Folgen des Tourismus“Bericht zum Abschluß der Phase II– Drucksache 14/1100 –Überweisungsvorschlag:
Ich gebe unumwunden zu: Es hat Belastungen für dieTourismusbranche gegeben, zum Beispiel durch dieÖkosteuer. Wir müssen aber auch die andere Seite derMedaille sehen. Weshalb ist die Ökosteuer denn ge-kommen? Man hat den Faktor Energie zugunsten desFaktors Arbeit verteuert. Damit schaffen wir es, dieLohnnebenkosten und damit die Arbeit billiger zu ma-chen. Genau in diese Bresche ist die Ökosteuer gesprun-gen. Wir haben es geschafft, die Lohnnebenkosten um0,8 Prozentpunkte zu senken. Für jeden Arbeitgeber inder Touristikbranche heißt das, daß die Lohnkosten ge-sunken sind. Und ich bitte in Rechnung zu stellen – ichhalte das für ganz entscheidend –, daß wir nächstes Jahrdie Unternehmenssteuerreform planen. Vorgesehen istein Höchststeuersatz für Unternehmen von 35 Prozent.Ich halte das für sehr zukunftsweisend.
Der Abschlußbericht des TAB-Büros geht ebenfallsauf den Punkt Tourismus und Umwelt ein. Hier ist inerster Linie der Flugverkehr – sprich: Klimabelastungen,
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Schadstoffemissionen, zunehmender Flächenverbrauch,Energie- und Ressourcenverbrauch – anzusprechen.Diese Regierung steht für eine nachhaltige Wirtschafts-und Umweltpolitik. In diese Richtung gehen auch diepolitischen Entscheidungen des Klimagipfels von Kiotooder von Rio. Wirtschaftsminister Müller hat es auf derITB wirklich hervorragend auf den Punkt gebracht, in-dem er sagte: Darum müssen im Interesse der Reisendenwie der Zielländer die Freude am Reisen sowie die wirt-schaftliche, ökologische und soziale Entwicklung beitourismuspolitischen Entscheidungen gleichwertigeZiele sein.Der nächste Punkt des Abschlußberichtes beschäftigtsich mit Globalisierung und Tourismus. Die Zahl derAuslandsreisen, insbesondere die der Fernreisen, hat beiuns stark zugenommen. Entscheidend ist jedoch, wassich bei uns in der Bundesrepublik getan hat: Die Ange-botsstruktur hat sich verändert. Im Prinzip sind alle Stu-fen der Wertschöpfungskette davon betroffen, angefan-gen von den Reisemittlern über die Veranstalter, die Ga-stronomie und die Hotellerie bis hin zu den Transport-unternehmen. Auf Grund der Globalisierung unterliegensie ganz klar einem zunehmenden Konkurrenzdruck.Massive Konzentrationstendenzen sind nicht zu überse-hen. Denken Sie daran, was für ein Tourismusriese ge-rade mit Preussag entsteht. 1996 haben die Top ten desdeutschen Reisevertriebs 50 Prozent des Umsatzes aus-gemacht.Ich möchte ein kurzes Wort zu den Herausforde-rungen an den Tourismusstandort Deutschland sa-gen. Der TAB-Bericht sagt sehr klar, daß es bei uns imGrunde genommen bundesweit noch kein einheitliches,umfassendes Reservierungssystem gibt, obwohl auchmit finanziellen Mitteln der Bundesregierung, die DIRGunterstützt wurde. Wir müssen aber feststellen, daß zumBeispiel die EXPO 2000, die nächstes Jahr im Juni statt-finden wird, auf ein anderes Reservierungssystem zu-rückgegriffen hat. Es wird sehr spannend sein, zu sehen,welche Entwicklungen wir bezüglich des Datenbanksy-stems in der Bundesrepublik haben werden.Die Bundesrepublik ist ein Hochpreisland. Wir wer-den durch Dumpingangebote keinen Blumentopf gewin-nen können – ganz im Gegenteil. Ziel des Tourismus inder Bundesrepublik wird es sein, ein Markenimage auf-zubauen. Wir wollen es schaffen im Tourismus eine sehrhohe Qualität zu halten und, vom Personal her, entspre-chende Qualifikationen anzubieten.
Gerade in den einzelnen Tourismusbereichen, die ange-boten werden, sei es der Wellness-Bereich, der Gesund-heitstourismus, sei es der Bildungs-, Kultur- und Natur-tourismus, muß das Personal entsprechend qualifiziertsein, damit wir in der Bundesrepublik eine Unique-selling-Position erreichen.Spannend finde ich im Augenblick auch den Trendzur Inszenierung. Damit einher geht eigentlich eine Ab-lösung von klimatischen und naturräumlichen Gegeben-heiten. Mittlerweile können Sie ja selbst in Japan mittenim Sommer in der Halle Ski fahren. Ich will das jetztnicht unter Umweltgesichtspunkten werten. Wir müssenuns aber sicherlich auf diese Entwicklung einstellen.Das halte ich für entscheidend.Ebenfalls sehr wichtig für die Tourismusbranche istdie IuK-Technologie; sie muß die Herausforderungdurch Internet und E-Commerce annehmen. Wir könnendavon ausgehen, daß sich auf absehbare Zeit sowohl dieAngebotsstrukturen als auch die Vertriebsstrukturen imBereich Tourismus massiv verändern werden. Davon,wie man sich darauf einstellt, hängt ganz entscheidenddie Wettbewerbsfähigkeit der Akteure und der Destina-tionen ab. Bedenken Sie, daß sich beispielsweise 1998der Online-Umsatz in den USA verdreifacht hat. In derBundesrepublik werden wir ganz klar eine ähnlicheEntwicklung erleben. Stellen wir uns darauf ein. Wirsind ja gerade dabei, durch eine EU-Richtlinie für eineHarmonisierung der elektronischen Signaturen zu sor-gen.Zum Schluß nenne ich die zentrale These, die auchder Abschlußbericht formuliert: Kann der Tourismus dieLeitökonomie für das 21. Jahrhundert sein? Das Ent-scheidende dafür ist, daß sich alle am Tourismus Betei-ligten zusammenraufen und eine funktionierende undvor allem auch effektive Zusammenarbeit zustandebringen, die von staatlicher, aber sicherlich auch vonprivater Seite und den NGOs, also den Non Govern-mental Organizations, getragen werden muß. Je besserdiese Verzahnung gelingt, desto eher wird sich auchbeim Tourismus der Erfolg einstellen.Wir sollten jetzt keine Diskussionen darüber führen,ob wir mehr Staat oder mehr Markt wollen, sondern wirsollten ein Modell der Kooperation entwickeln, sprich:einfach eine Verbundpolitik verfolgen, bei der Staat undWirtschaft Hand in Hand arbeiten, so daß ein Netzwerkaufgebaut werden kann. Damit könnte es dem Touris-mus gelingen, zur Leitökonomie der Moderne zu wer-den, denn bei den Bedürfnissen der Bundesbürgerinnenund Bundesbürgern steht Reisen bekanntlich an ersteroder zweiter Stelle. Einiges von dem Geld aus der Milli-ardenentlastung, zu der die Steuerreform gerade bei denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und bei den Fa-milien geführt hat, kommt der Tourismuswirtschaft si-cherlich zugute.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Heute diskutieren wir denBericht des Büros für Technikfolgenabschätzung überdie Entwicklung und Folgen des Tourismus. Dieser aufeine Initiative der Obleute des Tourismusausschusseszurückgehende Bericht ist der Abschlußbericht zurzweiten Phase einer Untersuchung, die prüfen sollte, wieund mit welchen Konzepten und Instrumenten die Poli-tik auf die Herausforderungen durch den Tourismus aufnationaler und internationaler Ebene antworten kann.
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Nachdem im Bericht zum Abschluß der ersten Phasevom Dezember 1997 vor allem der aktuelle Forschungs-stand zum Tourismus in Deutschland dokumentiert wur-de, widmet sich der jetzt vorliegende Bericht insbeson-dere den Rahmenbedingungen und den Folgen der Glo-balisierung im Tourismus. Tourismus ist nicht nur dieLeitökonomie des 21. Jahrhunderts, wie Fachleute im-mer wieder betonen, sondern auch weltweit der wichtig-ste Devisenbringer: Mit einem Gesamtumsatz in Höhevon umgerechnet 958 Milliarden DM lag der internatio-nale Fremdenverkehr nach Angaben des InternationalenWährungsfonds noch weit vor den nachfolgenden Bran-chen: In der Automobilindustrie betrug er 942 Mil-liarden DM, in der Chemieindustrie 931 Milliarden DMund in der Nahrungsmittelbranche 870 Milliarden DM.Angesichts der vorhergesagten hohen Wachstumsra-ten und der zu erwartenden Expansion im Wirtschaftsbe-reich Tourismus ergeben sich in dieser personalintensi-ven Branche enorme Chancen für zusätzliche Arbeits-plätze.
Ich verweise hier darauf, daß in Deutschland nur38,5 Prozent der Arbeitnehmer im Dienstleistungssektortätig sind, während dieser Prozentsatz in anderen euro-päischen Staaten mit deutlich niedrigerer Arbeitslosig-keit zirka 50 Prozent beträgt. Als positives Beispiel kannhier Irland angesehen werden. Es stellt sich also für unsdie Frage: Wie kann die Politik auf Bundes-, Landes-und Kommunalebene die Rahmenbedingungen verän-dern, um von dieser positiven Wirtschaftsentwicklungzu profitieren und zusätzliche Lehrstellen sowie Ar-beitsplätze zu schaffen? Grundsätzlich sind in der Wirt-schaftspolitik neue Denkansätze notwendig:Erstens. Die Industriegläubigkeit in Deutschland mußüberwunden werden. Die Automatisierungsreserven inder industriellen Fertigung sind weiterhin enorm undsorgen eher noch für zusätzliche Freisetzungen von Ar-beitskräften. Dagegen erwartet das Prognos-Institut inseiner IAB-Projektion 1999 bis zum Jahre 2010 auf demTourismussektor in Deutschland einen Anstieg der Zahlder Beschäftigten um 7,3 Prozent, das heißt einen An-stieg von 19 auf 26,3 Prozent, gemessen am Gesamtan-teil der Beschäftigten. Voraussetzungen dafür sind aller-dings die richtigen politischen Rahmenbedingungen.Eine umfassende Reform mit nachhaltiger Wirkung aufdie Hauptthemen Gesundheit, Soziales, Renten, Steuernund Finanzen ist in Deutschland dringend erforderlich.Wie die Aktuelle Stunde heute gezeigt hat, hat die Uni-on in diesem Zusammenhang wichtige Diskussionsbei-träge geleistet.Zweitens. Der Staat hat die Aufgabe, die ihm zurVerfügung stehenden Steuermittel intelligent in Zu-kunftsprojekte zu investieren. Es ist einfach nicht ak-zeptabel, daß die deutsche Steinkohle als unrentablerWirtschaftszweig ohne langfristige Zukunft jedes Jahrmehrere Milliarden DM an Subventionen erhält, wäh-rend ein Zukunftsprojekt mit Markt- und Exportchancenwie der Transrapid kaputtgerechnet wird.
Dies zeigt mehr denn je: Wir sind in der Vergangenheitgefangen und haben den Blick immer noch nicht frei fürdie wirklichen Zukunftsherausforderungen.Drittens. Die Marktzugangsmöglichkeiten für klei-ne und mittlere Unternehmen sind durch die öffentlicheHand konsequent zu fördern. Ein gelungenes Beispielfür eine solche Initiative war die Messe zur Förderungdes Absatzes ostdeutscher Produkte in Düsseldorf.Mittlerweile werden viele ostdeutsche mittelständischeBetriebe, die aus eigener Kraft kein aufwendiges Mar-ketingkonzept finanzieren können, bei großen Einkaufs-ketten gelistet.Für die Tourismusbranche gibt der TAB-Bericht eini-ge wichtige und richtige Anregungen, wie die politi-schen Rahmenbedingungen gesetzt werden müssen, umdie deutsche Tourismusbranche auch in Zeiten der Glo-balisierung zu einem wichtigen Faktor bei der Schaffungneuer Arbeitsplätze werden zu lassen.Exemplarisch möchte ich hier einige Anregungen desTAB-Berichtes ansprechen:Erstens. Die Diskussion über die touristische Ver-marktung der EXPO-Weltausstellung im Jahre 2000 hateines der vorrangigen Probleme im Bereich Tourismus-marketing verdeutlicht: Deutschland benötigt dringendein bundesweites, kompatibles Informations- und Re-servierungssystem sowie eine touristische Datenbank,die dem Endverbraucher umfassende Informationen überalle touristischen Angebote in Deutschland und eine un-komplizierte Buchung ermöglichen. Mit der DIRG, derDeutschen Informations- und Reservierungsgesellschaft,hat der Tourismusausschuß vor vier Jahren eine solcheInitiative in die Wege geleitet, die auch erste Erfolgezeigt. Mittlerweile sind in verstärktem Maße auch Bu-chungen von Inlandsreisen über Reisebüros zu verzeich-nen. Über den für das Ende des Jahres 2000 geplantenAusstieg der Bundesregierung aus der Förderung derDIRG sollten die Kollegen aller Fraktionen im Touris-musausschuß noch einmal diskutieren. Die Verlagerungdieser Arbeit auf die Deutsche Zentrale für Tourismus,DZT, bzw. auf den Deutschen Tourismusverband, DTV,ohne zusätzliche finanzielle Zuwendungen des Bundesüberfordert beide Organisationen.In diesem Zusammenhang müssen auch die Sparpläneder Bundesregierung, die zu Schließungen bzw. zu Kür-zungen im Bereich der Botschaften, bei Inter Nationes,den Goethe-Instituten und der „Deutschen Welle“ füh-ren, überdacht werden. Wie soll jemand zu einer Reisenach Deutschland animiert werden, wenn nicht nur zu-wenig Geld für das touristische Auslandmarketing beider DZT zur Verfügung steht, sondern auch im Auslanddie Repräsentanzen und Träger deutscher Kultur nichtmehr vor Ort aktiv sind? Auf Grund dieser Situationplädiert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Recht füreine spürbare Aufstockung der Bundesmittel für dieDeutsche Zentrale für Tourismus.
Zweitens. Die Probleme der deutschen Tourismus-wirtschaft mit der Globalisierung zeigen sich besonders
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deutlich in den hohen Personal- und Servicekosten.Deutschland besitzt daher ein ausgesprochenes Hoch-preisimage. Selbst Reformen unseres Sozialsystems, diedeutliche Zurückführung der Arbeitslosigkeit und Lohn-zurückhaltung werden in der Zukunft kaum dafür sor-gen, daß dieser Wettbewerbsnachteil umgekehrt werdenkann.Was Deutschland braucht, ist eine Qualitäts- undLeistungsverbesserung, die gewährleistet, daß der Ur-lauber bereit ist, für eine hochwertige und einzigartigeLeistung einen höheren Preis zu zahlen. Die Deviseheißt: Das Produkt „Urlaub in Deutschland“ muß nichtpreiswert, sondern preiswürdig sein. Grundvorausset-zung dafür ist, daß in unserer Gesellschaft eine positiveGrundeinstellung zur Dienstleistung vermittelt wird.Drittens. Diese Qualitäts- und Leistungsverbesserungkann nur mit einem klaren Bekenntnis zur beruflichenAus- und Weiterbildung auf hohem Niveau einherge-hen. Wer sich als Unternehmer im Hotel- und Gaststät-tengewerbe, als Mitarbeiter eines kommunalen Frem-denverkehrsbüros oder als Mitarbeiter im Gaststätten-gewerbe auf dem Markt behaupten will, muß sich stän-dig fortbilden. Der Aufbau eines Qualitätsmanagementsist der sicherste Weg, die ständig wechselnden Ansprü-che und Wünsche der Konsumenten frühzeitig zu erken-nen und die damit bisher erzielte Marktposition zu si-chern bzw. in Zukunft weiter auszubauen. Insofern be-grüße ich ausdrücklich, daß die Bundesregierung diegute Arbeit des Deutschen Seminars für Fremdenver-kehr in Berlin anerkennt und diese Einrichtung vonMittelkürzungen bisher ausspart.Viertens. Eine wichtige Aufgabe sieht der TAB-Bericht in der Entwicklung von übergreifenden Regio-nalkonzepten. Hier haben gerade die neuen Bundeslän-der hervorragende Beispiele zu bieten. Die SächsischeSchweiz war die erste deutsche Ferienregion,
in der bereits 1995 ein tourismuspolitisches Leitbildentwickelt wurde. Die touristischen Fachverbände, diezuständigen Fachministerien des Freistaates Sachsen,das Landratsamt, die Städte und Kommunen des Land-kreises und die Nationalparkverwaltung haben sich indiesem Leitbildprozeß zu einem Gespräch am rundenTisch zusammengefunden und sich darüber Gedankengemacht, wie der Tourismus als ein wichtiger Arbeitge-ber weiter vorangetrieben werden kann, ohne dabei dieInteressen der höchst sensiblen Umwelt in unserer Na-tionalparkregion zu gefährden.
In der Fortführung dieses Leitbildprozesses kam es1996 zur Gründung der Touristischen Arbeitsgemein-schaft Elbe. In dieser Allianz haben sich die Landesbüh-nen Sachsen, die Sächsische Dampfschiffahrtsgesell-schaft, die drei regionalen Tourismusverbände der StadtDresden, Sächsisches Elbland und Sächsische Schweizzu einer überregionalen Kooperation bei der Vermark-tung zusammengeschlossen. Fünf touristische und wirt-schaftliche Partner geben einen Teil ihrer Kompetenzenab, um der Nachfrageseite, den Kundenwünschen, stär-ker Rechnung zu tragen. Die Schwerpunkte, die wir dortgemeinsam angehen, sind die Bündelung der Kräfte, dieAusgestaltung aller Synergieeffekte, der intelligenteEinsatz der knapper werdenden Finanzressourcen, ge-meinsame Messeauftritte und die Entwicklung von ver-bandsübergreifenden, marktfähigen Zukunftsprodukten.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?
Ja, bitte.
Herr Brähmig, das
Thema dieser Debatte ist ja der TAB-Bericht über
„Entwicklung und Folgen des Tourismus“. Ich habe in
diesem sehr umfangreichen Bericht keinerlei Hinweise
auf die Sächsische Schweiz gefunden. Können Sie mir
bitte erklären, wie Sie in diesem Zusammenhang auf die
Sächsische Schweiz kommen?
Ich habe noch eine weitere Frage. Sie haben vorhin
gesagt, daß man für die Realisation von DIRG zirka vier
Jahre gebraucht habe. Es ist mir einfach nicht verständ-
lich, wie man vier Jahre dazu brauchen kann, um in der
Bundesrepublik ein Datenbanksystem zu realisieren. Ich
halte diese Zeit schlicht und ergreifend für zu lang.
Könnten Sie vielleicht kurz darauf eingehen?
Am Anfang Ihrer Rede haben Sie gesagt – ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie auch darauf eingehen könn-
ten –, ein Unternehmen ohne Marketingkonzept würde
aufgekauft werden. Es gibt aber kein Unternehmen ohne
Marketingkonzept; jedes Unternehmen hat ein Marke-
tingkonzept.
Liebe Kollegin Roth,ich will versuchen, ganz kurz auf Ihre Fragen einzuge-hen. Die Problematik hinsichtlich DIRG sollten wir imAusschuß beraten. Ich denke, daß wir bei dem Ziel nichtsehr weit auseinanderliegen.Was die Marketingkonzeption angeht, so muß mansagen, daß da in der Wirtschaftsstruktur der neuen Bun-desländer unzweifelhaft ein Schwachpunkt vorhandenist. Dieser Sachverhalt wird von jeder Bundesregierungbestätigt. In diesem Bereich muß Unterstützung erfol-gen.Daß ich hier die Sächsische Schweiz beispielhaft ge-nannt habe, hängt damit zusammen, daß wir im FreistaatSachsen in den letzten Jahren eine tolle Umweltpolitikgemacht haben. Ich freue mich ganz besonders, daß un-ser ehemaliger Umweltminister, Arnold Vaatz, heutehier anwesend ist. Von den 14 Nationalparks inDeutschland kann sich dieser Nationalpark jederzeit se-hen lassen. Frau Voß unternimmt im Augenblick eineBereisung aller deutschen Nationalparks. Wenn Sie da-mit fertig ist, werden wir uns zusammensetzen. Dannwird sie uns einmal berichten, von welchen deutschenNationalparks sie von der Struktur, vom Marketing und
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auch von der Einstellung der Menschen her am meistenbegeistert ist.Zur Frage der regionalen Leitbilder: Das ist ein ganzwichtiger Ansatz des zweiten Berichts. Darauf bin ich inaller Kürze eingegangen. – Das wäre – in Kurzform –alles zu den Fragen, die Sie gestellt haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nunfortfahren: Der europäische und weltweite Wettbewerb,wie im Bericht ausgeführt – –
Herr Kollege,
Ihre Zeit ist um, um nicht zu sagen: überschritten. Ich
gebe Ihnen noch Zeit für ein Schlußwort.
Ich darf zum Abschluß
den Mitarbeitern des Büros für Technikfolgenabschät-
zung ganz herzlich den Dank unserer Fraktion ausspre-
chen. Der Bericht ist sehr wertvoll und wichtig. Er wird
uns in der politischen Tagesarbeit in den nächsten Wo-
chen und Monaten begleiten.
Ich hoffe, daß die Tourismusbranche in Deutschland zu
der Jobmaschine wird, wie sie es in anderen Ländern der
Europäischen Union bzw. weltweit schon ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sylvia Voß.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Zum Skifahren in der Halle nach Japan zu reisenfinde ich mehr als schlimm. Das ist fast so wie Tiefsee-tauchen in der Spree im Winter. Aber ich will es werten:Das ist eindeutig der falsche Weg.Wenn wir Antworten auf die Fragen finden wollen,die mit der Globalisierung der Tourismuswirtschaftan uns gestellt werden, so kann uns das nur gelingen,wenn wir Tourismus als ein komplexes Problemfeld be-trachten, wenn wir begreifen, daß wir nicht nur Ant-worten auf wirtschaftliche Fragestellungen finden, son-dern zugleich ökologische, soziale und kulturelle Ver-träglichkeitskriterien für Tourismus entwickeln müssen.Ich will in einer ersten Auswertung des vorliegendensehr guten und auch sehr kritischen Berichts meine Re-dezeit nutzen, um die Aufmerksamkeit auf einigeAspekte zu lenken, die in aller Regel in den dochsehr wirtschaftsgeprägten tourismuspolitischen Debatten– noch! – zu kurz kommen. Frei nach Goethe: Es istnicht genug, zu wissen; man muß auch anwenden. Es istnicht genug, zu wollen; man muß auch tun.
Ich möchte noch einmal sehr eindringlich den Zu-sammenhang von Tourismus und Naturschutz darstellen,einen Zusammenhang, den man gar nicht oft genug her-ausstellen kann, ja muß. Ein intakter Naturhaushalt,schöne, vielfältige und damit reich strukturierte Land-schaften sind die zentrale Grundlage für Tourismus.
Schutz und Pflege von Natur und Landschaft bedeutenauch Schutz und Pflege der wichtigsten touristischenAngebotspotentiale. Wer dagegen der Natur und derUmwelt schadet, schädigt zugleich den Tourismus. Erentzieht uns allen Lebensgrundlage.Eine systematische Integration von Naturschutzund Tourismus aber findet trotz zahlreicher wissen-schaftlicher Studien, die genau dies fordern, noch immernicht statt. Im Rahmen der gegenwärtigen Erweiterungder Konvention zur Biodiversität, also zur biologischenVielfalt, sollten daher die Belastungen der Ökosystemeund Lebensräume durch Tourismus bewertet und inter-nationale Leitlinien für einen nachhaltigen Tourismusentwickelt werden. Ein entsprechendes Tourismusproto-koll zur Konvention würde für die Tourismuswirtschaftdie notwendige rechtliche Bindewirkung entfalten. DieBundesrepublik Deutschland sollte hier Vorkämpferinwerden. Mehr Naturschutz ist letztlich Garant für einenbewahrend-sanften Tourismus, der allein Zukunft habenkann.Zu den touristisch am meisten übernutzten Regionenzählen weltweit unsere Berge, unsere Gewässer und un-sere Küsten. Für die Konvention zum Schutz der Alpenliegt das Tourismusprotokoll inzwischen erfreulicher-weise vor; wir werden es demnächst ratifizieren. Dietragischen Lawinenkatastrophen des letzten Winters ha-ben uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt,daß die nationalen und europäischen Anstrengungenzum Schutz der Alpen unbedingt verstärkt werden müs-sen.Leider müssen wir feststellen, daß gerade auch natu-rorientierte touristische Aktivitäten wie Skifahren,Sporttauchen, Bootsfahren, Bergwandern und TrekkingNaturräume und die darin lebenden Tiere und Pflanzenbelasten. Oftmals verursacht oder verschärft gerade einsolch naturorientierter Tourismus, der leider auch bis-lang völlig unerschlossene Naturräume neu erschließt– hier bekommt das Wort „Erschließung“ einen sehr ne-gativen Klang –, ökologische Schäden. Hier muß dieErhaltung der ökologischen Tragfähigkeit unbedingt ge-sichert werden. Wo der Druck auf die Natur zu starkwird, muß im Interesse der Allgemeinheit und des Le-bens auf eine Expansion touristischer Angebote ver-zichtet werden.
Hans Magnus Enzensberger hat vor schon über40 Jahren den legendären Satz geprägt: Der Tourismuszerstört, was er sucht, indem er es findet. – Im Übersee-Museum Bern steht noch viel drastischer: Touristen sindKlaus Brähmig
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wie Heuschrecken; sie fressen alles kahl und ziehenweiter.Für viele Tourismuszentren in der Welt ist diese Aus-sage inzwischen bittere Realität geworden. Die Expan-sion des Tourismus geht mit enormem Flächenbedarfeinher. Allzuoft erfolgt der flächenintensive Ausbau vonHotel- und Ferienanlagen, Campingplätzen undSportanlagen oder der tourismusorientierten Verkehrsin-frastruktur getrennt von der vorhandenen Infrastrukturund Landnutzung sowie unabhängig von den Bedürfnis-sen der Bevölkerung, der Bereisten. So entstehen seltenpositive Effekte für die Einheimischen. Oft genug abersind sie die Opfer des Tourismusbooms. Denn wenn Kü-stengebiete eingedeicht, Sümpfe drainiert, Trockenge-biete bewässert, Wälder gerodet oder Korallenriffe ge-sprengt werden, entstehen enorme Umweltschäden vorOrt. Ökosysteme erleiden weiterhin Schäden, wenn zumBeispiel Bausand von den Badestränden, Kalkstein vonden Korallenriffen und Bauholz von den Wäldern derMeeresküsten in großem Umfang entnommen werden.Tourismus produziert zudem massiv Abfall. Zentrenmit einem stark erhöhten Aufkommen an Abfall undAbwasser und sehr hohem Trinkwasserverbrauch weisenbereits ernsthafte ökologische Schäden und Gesund-heitsrisiken – nicht nur für Touristen – auf. Die durchTourismus verursachten Umweltschäden können so weitgehen, daß die betroffene Region ihre Attraktivität alsReiseziel völlig einbüßt. Ich denke, wir sind uns abereinig darüber, daß eine Expansion des Tourismus, dienoch immer stattfindet – diese Branche boomt ja weiter-hin –, sich nicht an dem Motto orientieren darf: Findees, benutze es, und wirf es weg. Anstreben müssen wireinen Tourismus nach dem Motto „Klasse statt Masse“,der zur sozioökonomischen Entwicklung der Länderbeiträgt, den kulturellen Austausch entwickelt und unserBewußtsein für die Vielfalt der Kulturen und Lebens-weisen in der Welt schärft sowie die touristischen Re-gionen vor umweltschädlicher Nutzung bewahrt.Als positives Beispiel ist hier die ZusammenarbeitDeutschlands mit Kirgistan zu nennen, durch die 1998um den Issyk-Kul-See ein Biosphärenreservat entstan-den ist, in dem zusammen mit den Einheimischen, diedort ihre Lebensweise beibehalten können, ein sehr be-grenzter Tourismus durchgeführt wird, der der Natursowie den Einheimischen nicht schadet, sondern ihnensogar Nutzen bringt – eine Winner-Winner-Strategie.Leider verbindet sich mit dem internationalen Tou-rismus unter anderem das Problem des Jagens, Sam-melns und Handelns bedrohter Tier- und Pflanzenartenoder von Produkten davon. In einer Anhörung wird sichder Tourismusausschuß auf unseren Vorschlag hin dem-nächst vertieft mit diesem öffentlich bisher wenig prä-senten Aspekt des internationalen Tourismus auseinan-dersetzen.Ich habe eingangs festgestellt, daß den Fragen desZusammenhangs von Naturschutz und Tourismusnoch immer zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.Zum Beispiel wird zuwenig beachtet, wie sehr Groß-schutzgebiete, unsere eigenen wunderschönen National-parke, Naturparke, Biosphärenreservate, eine regionaleEntwicklung und auch den sanften Tourismus begünsti-gen, so daß die Leute davon leben können, währendgleichzeitig die Natur für alle erhalten bleibt.Ich möchte deshalb an dieser Stelle sehr positiv wür-digen – und mich ausdrücklich bei allen Mitgliedern desTourismusausschusses dafür bedanken –, daß der Tou-rismusausschuß auf Vorschlag meiner Fraktion ein-stimmig beschlossen hat, durch das Büro für Technik-folgenabschätzung die Thematik der Wechselwirkungenund Kooperationsmöglichkeiten von Naturschutz undregionalem Tourismus bearbeiten zu lassen. Ich bin si-cher, daß wir auch mit den Ergebnissen dieser Studiewertvolle Hinweise für unsere politische Arbeit erhaltenwerden.
Abschließend möchte ich den Aspekt der ethischenund kulturellen Nachhaltigkeit des Tourismus etwasnäher beleuchten. Auch dieser Aspekt kommt oft zukurz.Wir begrüßen es, daß der Bericht hinsichtlich derAusführungen zu einer Agenda für eine zukünftige deut-sche internationale Tourismuspolitik endlich auchÜberlegungen alternativer Tourismusverbände aufge-nommen hat. So finden sich im vorliegenden Berichtnunmehr auch Aussagen zur Problematik der ethischenund kulturellen Nachhaltigkeit. Hier geht es um diewirklich schwerwiegenden Fragen der Menschenrechtein den touristischen Zielländern und der demokratischenTeilhabe der dortigen Bevölkerung an der Entwicklungdes Tourismus.Rund ein Drittel der Deviseneinnahmen durch Fern-tourismus entfallen im Durchschnitt auf die etwa 120Entwicklungsländer. Aber die Menschen in den berei-sten Ländern profitieren häufig am wenigsten von denTourismuseinnahmen. Nur ein Teil bleibt dort, der Restgeht an die internationalen Reiseanbieter und Hotelket-ten. Es muß gesichert werden – im übrigen auch in unse-rem eigenen Interesse –, daß der Nutzen aus dem Tou-rismus für die Entwicklungsländer deutlich größer wirdund daß das Einkommen lokaler Bevölkerungsgruppenstärker an den touristischen Entwicklungen partizipiert.
Wir wollen menschliche Arbeitsbedingungen in allentouristischen Regionen der Welt. Wir wollen aber keineKinderarbeit und keinen Sextourismus.
Eine Verdrängung einheimischer Kultur dürfen wir nichtmehr zulassen, schon gar nicht zugunsten eines mas-sentouristischen Rummels der Peinlichkeiten.Auch der Verkümmerung einheimischer Kultur durchihre Inszenierung als Spektakel müssen wir einen Riegelvorschieben. Die Verletzung der kulturellen Identitätganzer Bevölkerungsgruppen kann im übrigen zuschwerwiegenden Konsequenzen für die AkzeptanzFremder führen. Der Ausschluß Einheimischer von derSylvia Voß
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Nutzung touristischer Leistungen und Orte ist nichtmehr länger hinnehmbar. Er war schon immer ein Feh-ler.Aufgebaut werden müssen Mechanismen und Struk-turen, die die gleichberechtigte Beteiligung der lokalenBevölkerung an Planungs-, Umsetzungs-, Beobach-tungs- und Bewertungsprozessen von Tourismuspolitik,-programmen und -projekten sichern. Positive Beispieleeines entsprechenden deutschen Engagements findensich in vielen kleinen alternativen Tourismusprojekten,ob in Nepal, Kamerun, Kolumbien oder auch in Kirgi-stan.Ich wünsche uns allen, daß wir viele der zahlreichenAnregungen des vorliegenden, wirklich guten Berichtesaufgreifen – wir sollten nicht nur über diese Anregungendiskutieren, sondern versuchen, deren Umsetzung zu-stande zu bringen – und daß wir im Interesse einer wirt-schaftlich, sozial und kulturell nachhaltigen Entwick-lung des Tourismus sowie eines verbesserten Schutzesunserer Natur weltweit vieles an positiven Veränderun-gen auf den Weg bringen.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Ge-fühl, daß wir etwas falsch machen: Wir reden hier überReisen, und die anderen reisen offenbar schon.
Tourismus im Zeitalter der Globalisierung – sohieß der Auftrag für den vorliegenden Bericht. Es reiztmich, das einmal umzudrehen und von Tourismus alsVoraussetzung für die Globalisierung zu sprechen: Ohneden Drang der Menschheit zu reisen, ohne den Ur-wunsch der Menschheit, die Welt zu entdecken, sprä-chen wir heute wahrscheinlich überhaupt nicht überGlobalisierung. Daß viele Menschen heute reisen kön-nen und in der Lage sind, die Welt zu entdecken, halteich zuallererst als positives Zeichen fest.Der Bericht analysiert, zeigt Entwicklungen auf,schreibt diese in die Zukunft fort und zieht darausSchlüsse für die Politik. Ich halte den Analyseteil desBerichts für ungeheuer wertvoll, und er wird uns in derArbeit im Tourismus-Ausschuß auch sehr viel helfen.Allerdings scheinen mir die Konsequenzen, die dann fürdie Politik geschildert werden, in Teilen sehr starkideologisch gefärbt und politisch wertend zu sein. Nachunserem Verständnis gehört das eigentlich nicht zumAuftrag des Büros für Technikfolgenabschätzung.
Der Bericht bezeichnet den Tourismus als Leitöko-nomie der Moderne, und er hebt ab auf – so wird es ge-nannt – einen kommunikativen und kooperativen Poli-tikstil. Die F.D.P. hat wie alle anderen auch im Rahmender parlamentarischen Arbeit in diesem Hause immereine kommunikative Politik zwischen Betroffenen undParlament sichergestellt. Der Tourismus-Ausschuß istein lebendiges Beispiel dafür, wie eine solche kommu-nikative Politik gemacht wird. Der kooperative Ansatzbirgt aber die Gefahr, unsere Verfassung zu konterkarie-ren. Nebenparlamente wie die zahlreichen runden Ti-sche, der „Energiedialog“ oder das Bündnis für Arbeitbeschneiden die Rechte des Parlaments oder bergen zu-mindest die Gefahr in sich, dies zu tun. Wir als Politikermüssen unsere Aufgaben wahrnehmen, und die im Tou-rismus tätigen Unternehmen haben sich dem Wettbe-werb zu stellen. Da sehe ich die Aufgabe.
Meine Damen und Herren, der Bericht zeichnet dasLeitbild eines nachhaltigen Tourismus. Dieses Leitbildist, denke ich, unumstritten und wird von vielen interna-tionalen Organisationen verfolgt. Genauso weiß aber dieTourismuswirtschaft selbst – zumindest der größte Teilder Tourismuswirtschaft –, daß allein nachhaltiger Tou-rismus in die Zukunft weist.Tourismus und Landwirtschaft sind die beiden Bran-chen, die auf eine intakte Natur und Landschaft ange-wiesen sind, für die ökologische Erfordernisse direkterBestandteil ihrer ökonomischen Interessen sind. Des-halb, Frau Voß, kann und muß man sicher darüber re-den, welche Bedeutung die intakte Natur hat und welcheBedeutung der Erhalt von Kulturen hat; aber man solltenicht vergessen, daß der Tourismus gerade für die dritteWelt eine enorme Chance darstellt. Auch das gilt es zunutzen. Deshalb sage ich: Wir brauchen einerseits diestarke Einbindung der Tourismuspolitik in die interna-tionale Politik; wir brauchen aber andererseits auchweltweit eine Entschlackung nationaler Politik von wirt-schaftshemmenden Faktoren.
Ich kann in der Kürze der Zeit nur auf einige wenigezentrale Punkte der Analyse eingehen. Ich will dabei dieFrage nach der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, al-so nach dem vielzitierten Jobmotor Tourismus, in denMittelpunkt stellen. Die dem Tourismus vorhergesagtenWachstumsraten sind, so der Bericht, von bestimmtenRahmenbedingungen abhängig, insbesondere von einerprosperierenden Weltökonomie, niedrigen Energieprei-sen und weltweit abnehmenden Konflikten. Wenn wirdiese Rahmenbedingungen verbessern – zumindest beider prosperierenden Weltökonomie und bei den niedri-gen Energiepreisen gehört die Bundesregierung sichernicht zu den Verbesserern –, dann ist dies eine Chancegerade für die Länder der dritten Welt.In der starken Zunahme der Auslandsreisen, der Fern-reisen, in der weiteren Diversifizierung der Nachfrage,wie sie der Bericht sehr ausführlich schildert, liegt fürviele Länder die wirtschaftliche Zukunftshoffnung über-haupt. Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen,bedarf es auch – aber nicht in erster Linie – staatlicherLenkung. Vor allem bedarf es eines vorausschauendenVerhaltens der Tourismuswirtschaft insgesamt.Sylvia Voß
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Der Jobmotor Tourismus in Deutschland wird im Be-richt eher kritisch gesehen. Ein relativer Bedeutungs-verlust für Deutschland als touristisches Zielland wirdvorausgesagt. Dabei bedeuten andere prognostizierteEntwicklungen eher Chancen. Die Veränderung der Al-terspyramide mit immer mehr älteren Menschen, wie siebeschrieben wird, ist eigentlich eine Chance für dasTourismusland Deutschland. Die Diversifizierung desFreizeitverhaltens erfordert eine Diversifizierung desAngebots – eine Chance für uns.Nur wird all dies doch nicht mit diesem kooperativenPolitikansatz geleistet, sondern in erster Linie durch ge-eignete Rahmenbedingungen begünstigt.
Wer mit 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit, Öko-steuer die Kosten und die Bürokratie erhöht
– aber selbstverständlich, Frau Irber, kommt das; dasmuß ja kommen –, der verschlechtert die Angebotsbe-dingungen.
Was wir brauchen, ist mehr Spielraum am Markt, einegünstigere Kostenstruktur, eine bessere Dienstlei-stungsmentalität. Deshalb hat die F.D.P.-Fraktion in die-ser Woche zum Beispiel einen Gesetzentwurf zur Ab-schaffung der Trinkgeldbesteuerung eingebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen aucheine stärkere Einbindung des Tourismus in die Politikder Europäischen Union. Dabei geht es nicht um Fi-nanzhilfen – das festzustellen, darauf legen wir großenWert –, sondern um gemeinsame Standards, um statisti-sche Daten und um das, was in der Fachsprache heute„best practices“ genannt wird. Vorrangig ist allerdingseine einheitliche europäische Flugkontrolle, ohne die einleistungsfähiger Flugverkehr nicht aufrechterhalten wer-den kann. Ich fordere die Bundesregierung auf, in derEU durchzusetzen, daß wir hier sehr schnell Fortschrittemachen.Lassen Sie mich zum Schluß einen Ratschlag an dieRegierung und an Rotgrün geben: Gehen Sie auf Reisen!Besuchen Sie die USA, Großbritannien, Neuseeland unddie skandinavischen Länder. Lernen Sie dort vor Ort,wie man erfolgreiche Steuer- und Wirtschaftspolitikmacht. Sie fördern damit persönlich die Tourismuswirt-schaft.
– Lieber Herr Kubatschka, Sie fördern die Tourismus-wirtschaft, wenn Sie sich das anschauen. Wenn Sie nichtreisen wollen, gebe ich Ihnen einen anderen Rat: Schau-en Sie in das Programm der F.D.P.; stimmen Sie unserenAnträgen zu!Ich danke Ihnen.
Ich gebe jetzt
der Abgeordneten Rosel Neuhäuser das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der vorliegende TAB-Bericht gehtauf das Jahr 1998 zurück und leistet eine Bestandsauf-nahme der wesentlichen Dimensionen des Tourismus.Besonders die ökonomischen und ökologischen Folgenim Zuge einer weiter fortschreitenden Globalisierungvon Ökonomie und Gesellschaft finden darin einenbreiten Raum. In der weiteren Behandlung dieses Be-richtes ist nun zu prüfen: Was hat sich bisher gegenüberden Daten, die in der damaligen Zeit erfaßt worden sind,grundlegend verändert? Welche neue Herangehensweisean die Entwicklung des Tourismus verfolgt die neueBundesregierung? Wird es ein eigenes Konzept für dienachhaltige Entwicklung des Tourismus in Deutschlandgeben?Vor gut einer Woche ging der dritte Tourismusgipfelin Berlin zu Ende. Auf diesem zentralen Begegnungs-punkt der Tourismusbranche wurde deutlich, daß dienationale und internationale Tourismuswirtschaft aufWachstumskurs ist. Deshalb findet der Tourismus in derwirtschaftswissenschaftlichen Literatur und in denFachdebatten eine nicht unwesentliche Aufmerksamkeit.Es gibt Untersuchungen und beeindruckende Zahlen,beispielsweise zum Beitrag der Tourismusbranche zumBruttosozialprodukt, zur Wertschöpfung, zur Beschäfti-gungs- und Ausbildungssituation – dazu sind ja schonZahlen genannt worden –, zur Umsatzentwicklung undzur Situation im Hotel- und Gaststättenwesen. Genaudiese Daten sind aber – so die Meinung der Wissen-schaftler – nicht wirklich tragfähig und bei Prognosen,die auf eine perspektivische Betrachtung der Zukunftdes Tourismus abzielen, mit Vorsicht zu benutzen.Wenn man in der Forschungs- und Datenlage mit wider-sprüchlichen Zahlen und Belegen arbeiten muß, dannläßt sich in der Politik nur unzureichend über die Be-deutung des Tourismus in der Wirtschaft kommunizie-ren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebenso wieWachstumspotentiale nur unzureichend darstellen, undsind angemessene Instrumente und Maßnahmen schwie-rig zu wählen.Konsequenterweise heißt das dann für mich, daß diePolitik auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene so-wie die gesamte Tourismusbranche Rahmenbedingun-gen zu erwirken haben, die verändernd auf die darge-stellte Situation Einfluß nehmen und auch Verbesserungherbeiführen. Ich denke dabei besonders an den Ausbauder Tourismusbranche als Dienstleistungsbranche,Ernst Burgbacher
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weil wir nicht umhinkommen, den Gast und seine Wün-sche als Maß aller Dinge zu akzeptieren.
Ich denke weiter an attraktive Arbeitsbedingungen, bes-sere Entlohnung und vorbeugenden Arbeitsschutz –auch das wurde schon genannt. Ich denke an eine weite-re notwendige Harmonisierung der Steuersysteme, andie Modernisierung der touristischen Infrastruktur – be-sonders auch in den neuen Bundesländern –, an eineverbesserte Ausbildung und Qualifizierung und an Um-gestaltungsprogramme zur Entwicklung eines nachhalti-gen Tourismus.
Ich denke aber auch an eine Verbesserung der amtlichenStatistik und die Schaffung ausreichender Vorausset-zungen für eine problemorientierte, interdisziplinäre undanwendungsorientierte Forschung.Meine Damen und Herren, wer in den zurückliegen-den Wochen verfolgt hat, welche Themen in der breitenÖffentlichkeit diskutiert werden, gewinnt leicht denEindruck, daß der Umgang mit der Umwelt und ihrSchutz in der Rangreihe der Themen auch im Bereichdes Tourismus ins Hintertreffen geraten ist. Bedenktman beispielsweise, daß der Tourismus von der Bundes-forschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsöko-logie als drittwichtigster Verursacherbereich für dasArtensterben in der Bundesrepublik benannt wird unddaß 55 Prozent des PKW-Verkehrs auf Urlaubs- undFreizeitnutzung entfällt, dann wird das Ausmaß der ver-ursachten Umweltbelastungen schnell ersichtlich.In diesem Zusammenhang sind die Vorschläge desTAB-Büros zu Optionen einer deutschen Tourismu-saußenpolitik recht halbherzig und auch teilweise in-konsequent. Auswege aus dem Dilemma bedürfen kon-kreter Maßnahmen und verbindlicher gesetzlicher Re-gelungen für die Tourismusindustrie.Aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktionwerden im Rahmen einer innenpolitischen Tourismus-konzeption im Sinne von Nachhaltigkeit neue touristi-sche Leitbilder, neue Zielgruppenarbeit, eine Weiter-entwicklung touristischer Konsummuster, stimmigePreis-Leistungs-Konzepte und die Erarbeitung eines na-tionalen Umweltplanes dringend notwendig.
Auch wenn in den Urlaubsregionen zunehmend Kon-zepte des Naturschutzes entwickelt werden und großeTeile der Bevölkerung Anteil und Einfluß auf nachhalti-ge Formen des Umgangs mit der Natur nehmen, täuschtdas nicht darüber hinweg, daß, solange die Geschwin-digkeit der touristischen Entwicklung anhält, Wege ge-funden werden müssen, die das Naturkapital des Tou-rismus sichern.Für die weitere Beratung wünsche ich uns im Tou-rismusausschuß viele gute Ideen und gute Vorschlägefür eine nachhaltige Tourismuswirtschaft in der Bundes-republik Deutschland.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Reisen verbindet. Daswußte auch der derzeit vielzitierte Goethe, als er Freun-den riet: Geben Sie Ihren Körpern Bewegung. Durch-wandern Sie zu Fuß und zu Pferde das schöne Land.
Der Einheimische wird sich an dem Gewohnten erfreu-en, und dem Fremden wird es neue Eindrücke geben undeine angenehme Erinnerung zurücklassen.
Daß Reisen nicht nur Reisende und Einheimischeverbindet, sondern auch die Akteure der Tourismuspoli-tik, macht der zweite uns vorliegende Projektberichtdeutlich. Ein herzliches Dankeschön an die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter, die diesen Bericht erstellt haben.
Er spricht unter anderem davon, daß eine internatio-nal nachhaltige Tourismuspolitik eine wirkungsvolleIntegration von Tourismus- und Umweltpolitik beför-dern und einen internationalen Erfahrungs- und Wis-sensaustausch anstoßen kann. Für viele Problemstellun-gen seien rein nationale Lösungen unzureichend; sie be-nötigten internationale Absprachen und Aktivitäten.Durch die Ausweitung des Untersuchungsspektrumsauf die internationale Ebene unter der Überschrift: „Tou-rismus und Globalisierung“ in dem nun vorgelegtenzweiten Projektbericht verfügt der Bundestag über einenumfassenden Gesamtüberblick über die Entwicklungs-perspektiven des Tourismus und die damit verbundenenChancen, aber auch Risiken.Weltweit wird der Tourismus als Branche mit über-proportionalen Wachstumsraten und als ein Garant fürbereits bestehende, aber auch zu schaffende Arbeitsplät-ze angesehen. Dies gilt für die Industrieländer wieDeutschland, aber auch für die weniger entwickeltenLänder, die sich eine Erhöhung des Lebensstandards er-hoffen. Ob die Hoffnung immer in Erfüllung geht undwie sie in Erfüllung geht, ist, denke ich, ein zweiterPunkt.Deshalb sollte bei künftigen Entwicklungen folgen-des im Vordergrund stehen: Nachhaltiger Tourismusbietet bedeutende ökonomische Chancen und kann sichzudem positiv auf die Umwelt auswirken.
Die Frage der Bewertung und des Umgangs mit demTourismus stellt sich auch auf EU-Ebene. Zur Zeit ar-beiten EU-weit zirka neun Millionen Menschen im Tou-rismussektor. Das sind stolze sechs Prozent der Be-schäftigten insgesamt. Prognosen zufolge soll der Anteilbis zum Jahre 2010 sogar auf neun Prozent der Beschäf-Rosel Neuhäuser
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tigten ansteigen. Nicht zu vergessen sind die Auswir-kungen auf die anderen Dienstleistungsbereiche und dieWirtschaft insgesamt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Brähmig?
Ja.
Liebe Kollegin Faße,
ich bin kritisiert worden, daß ich in meinem Vortrag auf
die Bedeutung von intelligenten Verkehrsträgern auch
für die Beförderung von Touristen hingewiesen habe.
Es ging um schienengebundene Verkehrsmittel, aber ich
habe auch den Transrapid genannt.
Jetzt ist die Frage, die ich an Sie stellen möchte: Sind
Sie mit mir der Meinung, daß der Transrapid für den
Standort Deutschland eine große Chance wäre, wenn er
denn vor allem zwischen zwei großen deutschen Bal-
lungsräumen, nämlich Hamburg und Berlin, zügig reali-
siert würde?
Die Touristikfachleute in diesen beiden Städten sind üb-
rigens durch die Bank für die Projektrealisierung; sie se-
hen dadurch einen unendlich großen Imagegewinn für
diese beiden Tourismusdestinationen, Berlin und Ham-
burg. Sind Sie in diesem Sachverhalt mit mir einer Mei-
nung?
Herr Brähmig, wenn Sie dasManagement übernähmen – ich kenne Sie von IhremEinsatz um die Sächsische Schweiz –, hätte ich keineProbleme, den Transrapid als Event, als besonderes Er-eignis, zu verkaufen.
Tourismus spielt in Europa eine bedeutende wirt-schaftliche Rolle und trägt zum Zusammenwachsen derheutigen und zukünftigen Mitgliedsländer der Europäi-schen Union bei.89 Prozent der EU-Bürger bevorzugen Europa alsReiseziel, und auch die Zahl der internationalen Gäste-ankünfte nimmt zu.Noch ein Wort zur DZT: Wir haben höhere Bezu-schussungen vorgesehen, als sie die alte Regierung je-mals vorgenommen hatte. Das möchte ich hier einmalsagen.
Meine Damen und Herren, durch die direkte Begeg-nung mit Land und Leuten leistet der Tourismus einenwichtigen Beitrag für die Verständigung und das Zu-sammengehörigkeitsgefühl der europäischen Bürger.Dies wird in besonderem Maße für die östlichen Nach-barn von Bedeutung sein, die neue Mitglieder der Ge-meinschaft werden wollen.Das heißt nicht, die mit dem Tourismus verbundenenKehrseiten zu übersehen: Saisoncharakter, ungesicherte,teilweise unqualifizierte Beschäftigung, Konzentrationzu bestimmten Zeiten und an bestimmten Plätzen, mög-liche negative Auswirkungen auf die kulturelle Identität,die spezielle Raumentwicklung und den Umweltbereichverursachen Probleme, die sich auf Gemeinschaftsebenewie auf nationaler Ebene stellen.Es gilt, die grundsätzliche Frage der politischen Ent-scheidungskompetenz bzw. des Anwendungsgrades desSubsidiaritätsprinzips zu klären. Der Grundsatz der Sub-sidiarität, der heute in der Union fest verankert ist, istgeeignet, die regionalen Eigenheiten zu fördern. Es istdie Vielfalt der Regionen, die Europa – auch touristisch– so attraktiv macht.
Ich spreche mich deshalb nachdrücklich dagegen aus,Europa immer mehr Kompetenzen im Tourismus zuzu-gestehen. Ich denke, mit den entsprechenden Aussagenim TAB-Bericht müssen wir uns kritisch auseinander-setzen.Die Einführung einer gemeinsamen Währung ist dienotwendige Antwort auf die Globalisierung der Märkteund ein zentrales Element Europas. Sie ist die logischeKonsequenz des Einigungsprozesses. Der Wegfall derWährungsvielfalt heißt, daß die Markttransparenz durchden Euro sich vergrößert und der Wettbewerb in Europaschärfer wird. Jeder einzelne Tourismusbetrieb muß sichfrühzeitig und individuell dieser Herausforderung stel-len;
denn sie betrifft fast alle Betriebsfelder: von Rech-nungswesen über EDV und Logistik bis zum Personal-wesen.Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses isteine stärkere Angleichung der Wettbewerbsbedin-gungen unabdingbar.
Dies erfordert – dazu stehe ich auch – eine weitgehendeHarmonisierung im Bereich der direkten und indirektenSteuern.Meine Damen und Herren, ich möchte gerne auf dieZielgruppe der Kinder und der Jugendlichen beson-ders eingehen. Bisher ist der Widerspruch zwischen derhohen Zahl reisefreudiger junger Menschen einerseitsund der fast völligen Preisgabe dieses Marktsegmentsgerade durch die großen deutschen Anbieter andererseitsbemerkenswert groß.Jugendliche erwarten im Urlaub einen Dreiklang ausErlernen, Erleben, Erholen. Sie erwarten Gruppenerleb-Annette Faße
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nis, Geselligkeit und zugleich Rückzugsmöglichkeiten.Sie sind aber weniger an bestimmten Zielen als an einembestimmten Erlebnis orientiert. Ich denke, es ist eineAufgabe des Fremdenverkehrsgewerbes, sich diesen An-forderungen besonders zu stellen.Der Jugendaustausch mit den osteuropäischen Staa-ten, aber auch in unserem eigenen Land zwischen Ostund West sollte erweitert werden.
Gerade mit Blick auf diese junge Zielgruppe solltenwir uns verstärkt vor Augen führen, daß die natürlicheUmwelt unsere Lebensgrundlage ist. Da die Umweltnicht unbegrenzt belastbar ist, haben alle die Verant-wortung und die Verpflichtung, mit den natürlichenRessourcen sorgsam umzugehen.Eine intakte Umwelt ist das wichtigste Kapital derTourismusbranche.
Tourismusregionen müssen Gebiete mit überdurch-schnittlicher Umweltqualität sein. Das Dilemma – daswar in den Ausführungen schon zu hören – besteht wei-ter: Reisende gefährden das, was sie eigentlich suchen,nämlich die intakte Natur.
Neben der Förderung naturverbundener Angebote mußdas Ziel deshalb sein, auch den Massentourismus inumweltverträgliche Bahnen zu lenken.Die Mobilität ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.Das Auto hat wie kaum eine andere technische Ent-wicklung unsere moderne Gesellschaft geprägt. Auch inder Freizeit dominiert das Auto. Über 60 Prozent derBundesdeutschen nutzen das Auto für die Fahrt in denUrlaub oder für Fahrten ins Urlaubsgebiet. Mit einemAnstieg dieses Prozentsatzes ist zu rechnen. Wir dürfenuns deswegen mit den Themen ÖPNV und Bahn nichtnur nebenbei befassen; die Anbindung unserer Ferienre-gionen gerade durch die Bahn muß uns sehr wichtigsein. Das haben wir gemeinsam oft thematisiert.
Auch die Ferienbusse haben im Vergleich zum Pkw einesehr viel günstigere Umweltbilanz und sind gerade fürGruppenreisende oder ältere Touristen von größter Be-deutung.
Die Mobilität der Gäste muß auch in den Ferienre-gionen gesichert sein – ob mit dem ÖPNV, mit demFahrrad oder auch zu Fuß. Man muß deutlich sehen: Dasregionale Verkehrsangebot beeinflußt die Wahl des An-reisemittels. Es besteht ein Zusammenhang, der eindeu-tig belegbar ist: Der Wunsch nach Mobilität in den Feri-enregionen in Verbindung mit unzureichenden Ver-kehrsverbindungen begünstigt die Anreise mit demAuto. Hier ist es Pflicht der Regionen, möglichst um-weltverträgliche Angebote zur Mobilität zu machen.Die Regierungsfraktionen sehen durch die Ergebnis-se der TAB-Untersuchung ihre tourismuspolitischenZielsetzungen in weiten Teilen bestätigt. Der Tourismusmuß endlich als bedeutender Wirtschaftsfaktor begriffenwerden.
Zugleich dürfen die mit dem Wachstum verbundenenRisiken ökologischer, sozialer und kultureller Art nichtaus dem Blick geraten. National und international isteine nachhaltige Tourismuspolitik notwendig, die dafürsorgt, daß Natur und soziale Lebenswelten nicht zu denLeidtragenden des Tourismus werden.Wir sehen: Reisen verbindet – oder um es nochmalsmit den Worten Goethes zu sagen:Genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, ...denn die beste Bildung findet ein gescheiterMensch auf Reisen.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tou-rismusbranche in der Bundesrepublik hat als Wirt-schaftsfaktor nach wie vor große Bedeutung, geradeauch in den neuen Bundesländern und in der Bundes-hauptstadt Berlin. Sie gibt in Deutschland fast drei Mil-lionen Menschen Arbeit und bildet außerdem 80 000junge Menschen aus. Es besteht die berechtigte Hoff-nung, daß sich diese erfreulichen Zahlen in Zukunftnoch erheblich steigern lassen.Der Technikfolgenabschätzungsbericht, über den wirheute debattieren, untersucht vor allem die Ursachenund die Folgen der fortschreitenden weltwirtschaftli-chen Globalisierung für den Tourismusbereich. Dabeiwird deutlich, daß es sehr von den Rahmenbedingungenabhängen wird, ob der Tourismusstandort Deutschlanddie Chancen dieser Entwicklung nutzen und sein Poten-tial für mehr Arbeitsplätze und Einkommen ausschöpfenkann.Es ist zwar zu erwarten, daß die Besucherzahlen in dennächsten Jahren weltweit kontinuierlich um 4,3 Prozentim Jahr steigen und sich bis zum Jahr 2020 insgesamtverdreifachen. Zu denken geben muß uns aber, daß demReiseziel Europa eine unterdurchschnittliche Zuwachs-rate und ein sinkender Anteil am Weltmarkt und damitein relativer Bedeutungsverlust prognostiziert wird. DasWachstum soll sich innerhalb Europas auf die Mittel-meerländer und die Länder Osteuropas konzentrieren.Der Anteil ausländischer Gäste an den Übernachtun-gen in Deutschland lag 1998 bei nur 11,8 Prozent, wäh-rend er in den südeuropäischen Ländern weitaus höherAnnette Faße
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5492 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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ist. Unser Nachbarland Österreich hat sogar einen Anteilausländischer Gäste von 74 Prozent erreicht.Das deutsche touristische Angebot muß im Auslandwesentlich intensiver vermarktet werden.
Wir müssen die mit diesem Auslandsmarketing beauf-tragte Deutsche Zentrale für Tourismus stärken, die aus-gesprochen gute Arbeit leistet, und vor allem die finan-zielle Unterstützung von seiten des Bundes erhöhen undnicht – wie im Bundeshaushalt für das Jahr 2000 vorge-sehen – kürzen. Schon jetzt geben wichtige Konkur-renzländer wie Spanien, Frankreich oder Irland erheb-lich mehr für touristische Auslandswerbung aus als wirund steigern ihre Werbeetats weiter, weil man dort dieChancen dieses Dienstleistungsbereichs erkennt undkonsequent nutzt.Durch die gezielte Förderung der besonders arbeits-platzintensiven Tourismuswirtschaft können wir vieleneue Arbeitsplätze schaffen.
Dafür ist es aber auch wichtig, den Abbau von Wettbe-werbsverzerrungen auf europäischer Ebene in Angriff zunehmen.
Dabei ist besonders die von uns vorgeschlagene Harmo-nisierung bzw. Reduzierung der Mehrwertsteuersätze imBeherbergungsbereich zu nennen.Die Städtereisen in Deutschland sind für die aus-ländischen Gäste von großer Bedeutung. Hier sind wirauch in besonderem Maße konkurrenzfähig, nicht zuletztauf Grund des vielfältigen und einzigartigen kulturellenAngebots. Meine Heimatstadt Berlin ist mit ihren über80 Millionen Besuchern pro Jahr ein gutes Beispiel da-für.Die große Bedeutung des Städtetourismus gerade fürden Besuch ausländischer Gäste wird in dem vorliegen-dem Bericht klar angesprochen. Demnach liegt der An-teil der Reisenden aus dem Ausland in deutschen Groß-städten bei 48 Prozent der Übernachtungen. Trotz Stei-gerungen in den letzten Jahren liegt Berlin im übrigenmit knapp unter 30 Prozent allerdings noch weit unterdem bundesdeutschen Durchschnitt.Es läßt sich leicht erahnen, daß allein in unserer Bun-deshauptstadt Millionen zusätzlicher Gästeübernachtun-gen möglich werden, wenn wir mit dem künftigenGroßflughafen Berlin/Brandenburg in Schönefeldendlich eine bessere internationale Luftverkehrsanbin-dung haben.
Im internationalen Wettbewerb können wir uns nachMeinung der Branchenexperten nur behaupten, wennausreichende Flughafenkapazitäten und attraktive Flug-häfen geschaffen werden. Wegen der Bedeutung Berlinsals Bundeshauptstadt und Metropole im Zentrum Euro-pas muß hier die bestehende Planung im gesamtstaatli-chen Interesse zügig umgesetzt werden. Nur so kannBerlin zu einem wichtigen touristischen Verkehrsdreh-kreuz in Europa im Schienen-, Straßen- und Luftverkehrwerden und nicht zuletzt auch als Tor für die expan-dierenden Märkte in Mittel- und Osteuropa fungieren;denn die Wachstumsquellenmärkte für das ReiselandDeutschland werden mittelfristig in Osteuropa liegen.
Zur Sicherung des Tourismusstandortes Deutschlandplädieren wir grundsätzlich für eine zügige Realisierungder beschlossenen Bundesverkehrswegeplanung sowiewichtiger Großprojekte im Verkehrsbereich. Hierzu istes unbedingt erforderlich, im Bundeshaushalt die ent-sprechenden Mittel für die Investitionen in ausreichen-der Höhe bereitzustellen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, lassen Sie mich noch auf den Transrapid eingehen.Sie sollten sich bei der Entscheidung über den Transra-pid auch einmal überlegen, was für ein Besuchermagnet,was für eine Attraktion dieses einmalige Verkehrsmittelfür ausländische Besucher wäre, von dem nicht nur dieEndhaltepunkte Berlin und Hamburg oder die Landes-hauptstadt Schwerin, sondern auch Deutschland als Rei-seziel insgesamt und damit mittelständische Dienstlei-stungsanbieter in allen touristischen Regionen unseresLandes profitieren würden. Er könnte zu einem Besu-chermagnet werden, wie es der Reichstag schon nachwenigen Monaten geworden ist. Das zeigen die tägli-chen Warteschlangen und die Besucherzahlen.Lassen Sie uns also gemeinsam die Weichen richtigstellen und die notwendigen Maßnahmen für den Tou-rismusstandort Deutschland treffen.Vielen Dank.
Frau Kollegin,
das war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen im
Namen des Hauses.
Jetzt hat die Abgeordnete Anita Schäfer das Wort.
Sehr verehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Touris-mus stellt in Deutschland einen bedeutenden Wirt-schaftsfaktor dar. Mit einem Umsatzvolumen von zirka300 Milliarden DM hat er einen Anteil von mehr als8 Prozent an der Bruttowertschöpfung in Deutschland.Durch die Vielfalt großer und mittelständischer Unter-nehmen ist er auch arbeitsmarktpolitisch von größterBedeutung.Im Zeitalter der Globalisierung unterliegt gerade auchder Tourismus dem weltweiten Wandel in Politik, Wirt-schaft und Gesellschaft. Um von diesen Entwicklungennicht abgeschnitten zu werden, ist es unsere dringendsteEdeltraud Töpfer
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Aufgabe, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zuverbessern. Meine Kollegin Frau Töpfer nannte bereitsdie Rahmenbedingungen, aber man kann sie nicht oftgenug wiederholen – ich tue das hiermit –: Vonnötensind der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in derEU, die Angleichung der Mehrwertsteuersätze im Be-herbergungsgewerbe sowie eine umfassende Deregulie-rung der Bürokratie, die gerade den Mittelstand in gro-ßem Maße belastet.
Der vorliegende Bericht des Büros für Technikfol-genabschätzung zeigt auf, wie in den fortgeschrittenenIndustrieländern insgesamt und im besonderen inDeutschland die überragende Bedeutung der Arbeit fürdie Lebensführung der Menschen zugunsten der freienZeit abgenommen hat. Dieses veränderte Konsumbe-wußtsein prägt das Freizeitverhalten in unserer Ge-sellschaft in erheblichem Maße. Die Folge dieses Wer-tewandels ist, daß sich die deutsche Tourismuswirtschaftmit ihren Angeboten auf die wachsenden Ansprücheeiner immer flexibler werdenden Kundschaft einstellenmuß.Das Angebot richtet sich bekanntlich nach der Nach-frage, doch läßt sich auch die Nachfrage durch ein kon-sumorientiertes Angebot erheblich lenken und damitauch noch steigern. In zunehmendem Maße sind hier in-dividuelle und erlebnisorientierte Angebote nötig, umunsere Tourismuswirtschaft auf das Freizeitverhalten derMenschen abzustimmen.Besonders möchte ich Ihren Blick auf die additiveWirkung des Seminar-, Gesundheits- und naturschüt-zenden Tourismus lenken. Als Standort zahlreicherWeltleitmessen ist Deutschland für den Kongreß-, Kon-ferenz- und Seminartourismus geradezu prädestiniert.Mit der Ausrichtung weltweit interessanter Messen wieder Hannover-Messe, der CeBIT, der InternationalenAutomobilausstellung, der Funkausstellung und derEXPO 2000, um nur einige zu nennen, besitzt unserLand eine hervorragende Ausgangssituation, um Gästeaus dem In- und Ausland für einen anschließenden Ur-laub in Deutschland zu gewinnen.
Die Erfahrungen aus meinem Wahlkreis zeigen, daßzum Beispiel auch die internationale Schuh- und Leder-messe in Pirmasens für beachtliche Umsätze im örtli-chen und regionalen Hotel- und Gaststättengewerbesorgt.Als Kongreß- und Tagungsziel verfügt Deutschlandim internationalen Vergleich über ein hohes Ansehen,welches wir auch entsprechend nutzen sollten. Nichtzuletzt sorgen die gute Tagungs- und Verkehrsinfra-struktur Deutschlands, die Professionalität der Dienstlei-ster, attraktive Städte und Regionen sowie interessantekulturelle Angebote dafür, daß Deutschland internatio-nal an vierter Stelle des weltweiten Kongreßtourismussteht. Jährlich über 600 000 Tagungsveranstaltungen, dievon rund 50 Millionen in- und ausländischen Teilneh-merinnen und Teilnehmern besucht werden, sind hierfürein sehr guter Beleg.Als eine spezielle Reiseform hat der Kongreß- undTagungstourismus auch heute schon mit 43 MilliardenDM einen gewichtigen Anteil am Gesamterfolg derdeutschen Tourismusbranche. Den Kongressen und Ta-gungen kommt damit also eine erhebliche gesamtwirt-schaftliche Bedeutung zu.
Daneben kommt auch dem Gesundheits- und Well-nesstourismus gerade unter Berücksichtigung geringe-rer finanzieller Mittel im Gesundheitswesen ein neuerStellenwert zu. Neben dem traditionellen Kur- und Bä-dertourismus entwickelt sich hier ein bedeutender touri-stischer Wachstumsmarkt. Ältere wie jüngere Menschennehmen – bedingt durch ein gestiegenes Gesundheits-bewußtsein – immer mehr alternative Heilmethoden so-wie das Angebot, sanfter Sportausübung im Sinne vonWellness wahr. Trotz des häufig deutlich höheren Prei-ses verspricht diese Art von Urlaub zugunsten der Ge-sundheit und der körperlichen Fitneß große Zuwachsra-ten. Dies zeigt, daß Deutschland ein hervorragenderStandort für diesen Tourismuszweig sein kann. DieseChance dürfen wir nicht durch einen enggesetzten Para-graphenrahmen verspielen.In vielen Teilen unseres Landes finden sich großeNaturparks, wie zum Beispiel in meiner Heimat derNaturpark Pfälzer Wald. Die Nachfrage nach naturnahenErholungsformen ist nach wie vor ungebrochen. Dasallgemein gestiegene Umweltbewußtsein und das Be-dürfnis nach Naturerfahrung in weiten Teilen der Bevöl-kerung sind hierfür triftige Indikatoren. Bereits jetzt lie-fern die touristischen Angebote der National- undNaturparks einen erheblichen Beitrag zur Stärkung desBinnentourismus. Aber es gilt gerade auch hier,einen akzeptablen Kompromiß zwischen Ökologie undÖkonomie zu finden.Ich fordere die Tourismuswirtschaft auf, Marktlückenzu schließen. Ich bin überzeugt, daß der Verbindung vonSeminar-, Wellness- und naturschützendem Tourismuszukünftig eine immer größere Bedeutung zukommt.Aber bei der Umsetzung solcher tourismuspolitischerZiele sind wir – leider – nach wie vor durch den im in-ternationalen Vergleich zu hohen Mehrwertsteuersatzim Gastgewerbe benachteiligt. Hier dürfen wir nichtaufhören, nach Lösungen zu suchen.
Im Technikfolgenabschätzungsbericht werden dieEntwicklung und die Folgen des Tourismus zu Beginndes neuen Jahrhunderts aufgezeigt. Die Globalisierungder Weltmärkte geht einher mit einem geänderten An-spruchsdenken des gesundheits- und konsumorientiertenTouristen. Verschlafen wir nicht die Zukunft! Schaffenwir die Voraussetzungen für einen innovativen Touris-mus!Herzlichen Dank.
Anita Schäfer
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5494 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1100 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva-
Maria Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Diet-
mar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
– Drucksache 14/841 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit(federführend)Ausschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die PDS-
Fraktion soll fünf Minuten Redezeit erhalten. – Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Augen derÖffentlichkeit ist der von der Bundesregierung ange-strebte konsensuale Ausstieg aus der Atomkraft ge-scheitert. Kritiker haben vor dieser Entwicklung bereitsfrühzeitig gewarnt. Sie haben mit ihren Warnungenrecht behalten. Die im Bundestag vertretenen Parteiensind nun gefordert, parlamentarische Initiativen zur Be-endigung der Nutzung der Atomkraft einzuleiten.
Unser Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgeset-zes zielt auf folgende Regelungen ab: Erstens. Dieschnellstmögliche Abschaltung der Atomanlagen wirdals neues Ziel im Atomgesetz aufgenommen. DiesesZiel sollte zwischen uns und der Regierung unstrittigsein, weil SPD und Grüne den Bundestagswahlkampfmit dieser Forderung geführt und seinerzeit auch ge-wonnen haben. Wir definieren den Zeitraum für denschnellstmöglichen Ausstieg mit maximal fünf Jahren.Zweitens. Die Wiederaufarbeitung abgebrannterBrennelemente erfolgt bekanntlich nicht schadlos. Siemuß deshalb verboten werden. Die Skandale um dieVerdünnungsentsorgung radioaktiver Abfälle aus denatomaren Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague,Sellafield und Dounreay sprechen für sich. Mittlerweilestammen über 90 Prozent der gesamten radioaktivenBelastung der Nordsee aus diesen drei Atomfabriken.Die Nuklide lassen sich auch in der Ostsee und sogar inder Barentssee zwischen Sibirien und der Arktis nach-weisen.Drittens. Die Entsorgung und das alte Konzept derEndlagerung sind gescheitert. Der Bund muß deshalbein Endlager für alle radioaktiven Abfälle in Deutsch-land finden und einrichten. Leider haben SPD und Grü-ne durch ihr Abstimmungsverhalten zum Bundeshaus-halt im Umweltausschuß klargemacht, daß sie Gorlebenund Konrad als Endlagerstandorte im Spiel halten wol-len.
Wir dagegen plädieren dafür, einen Schlußstrich unterdie Konzeptionen für diese ungeeigneten Standorte zuziehen und mit der Suche nach Endlagern von vorne zubeginnen.
Wir fordern ein neues Endlagerauswahlverfahren. Esmuß sich auf wissenschaftliche Kriterien stützen und derbetroffenen Bevölkerung am Standort eine möglichstfrühzeitig einsetzende und kontinuierliche Wahrneh-mung ihrer Rechte garantieren.
Ein befriedigendes Endlagerauswahlverfahren istjedoch mit den bestehenden Regelungen des § 9 desAtomgesetzes nicht denkbar. Diese wurden von seitender Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. noch in denletzten Monaten ihrer Amtszeit in das Gesetz eingefügt.Die aus der Pflicht des Bundes erwachsende Aufgabe,Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle einzu-richten, soll mit den dafür erforderlichen hoheitlichenBefugnissen ganz oder teilweise auf Dritte übertragenwerden können. Wir sind strikt gegen die Privatisierungderart sensibler Bereiche.
Die Rücknahme der Änderung des neuen Abs. 3 in § 9 aist deshalb geboten.1998 wurden auch Möglichkeiten zur Enteignung undzur Verhängung von Veränderungssperren über Grund-stücke an Endlagerstandorten eingefügt. Damit wird dasVertrauen der Bevölkerung in eine sachgerechte Lösungdes Endlagerproblems gänzlich verspielt. Diese Ände-rungen müssen zurückgenommen werden. Hier muß derRechtszustand, der vor der Verabschiedung des achtenGesetzes zur Änderung des Atomgesetzes galt, wieder-hergestellt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte überden Atomausstieg ist immer mehr zu einer Kosten- undEntschädigungsdiskussion verkommen. Der Bundes-kanzler hat diesen Wandel schon im Wahlkampf einge-leitet, indem er für den sogenannten entschädigungsfrei-en Ausstieg plädierte. Dies haben sich die Atommanagerzunutze gemacht. Sie spielen auf Zeit, und die Koalitionläßt sich an der Nase herumführen.Die Risiken der Atomwirtschaft lassen sich aber nichtmit Geldbeträgen neutralisieren. Wie der Unfall in Japan
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5495
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gezeigt hat, ist Atomkraft nicht zu beherrschen – auch inHigh-Tech-Ländern nicht, wie schon vorhin im Rahmender Tokaimura-Debatte deutlich gemacht wurde.Das Risiko eines GAUs in der Bundesrepublik inner-halb der nächsten 20 Jahre liegt, umgerechnet auf die 19deutschen Reaktoren, zwischen 1 : 25 und 1 : 2 500. DerVorschlag der Grünen, die Betriebszeiten auf 25 Jahrezu begrenzen, nimmt das erhebliche Risiko einer unbe-herrschbaren Kernschmelze also billigend in Kauf. Ichweiß, daß dies keine leichtfertige Verantwortungslosig-keit ist, sondern ein Zugeständnis an das Kräfteverhält-nis im Lande. Dieses Kräfteverhältnis ist aber nicht vomHimmel gefallen. Diese Regierung hat es durch ihr Her-umlavieren in der Atompolitik mitbestimmt. Daran be-steht kein Zweifel. Dafür gibt es keine Entschuldigung.Danke.
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Kubatschka.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD lehntden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Atomge-setzes der PDS ab. Das heißt aber nicht, daß wir denAusstieg aus der Kernenergie nicht weiterverfolgen. Wirsetzen uns weiterhin für einen entschädigungsfreienAusstieg aus der Atomenergie ein. Die Koalition wirddieses Ziel erreichen.
In diesem Gesetzentwurf sind auch Vorschläge ent-halten, die wir für richtig erachten. Dies möchte ich amBeispiel des Förderzwecks aufzeigen. Bei der Diskussi-on über die Kernenergie wird immer wieder übersehen,daß die Atomenergie hoch subventioniert war. Steuer-mittel in Milliardenhöhe – in der Größenordnung vonetwa 50 Milliarden DM – wurden aufgewendet.In den 50er Jahren gab es in der Bundesrepublik einAtomministerium. Wenn ich mich richtig erinnere, hießder erste Atomminister Franz Josef Strauß. Es gab einProgramm „Atome für den Frieden“. In den 50er und60er Jahren hat uns die Wissenschaft vorgegaukelt, mitHilfe der Atomenergie könnten alle Energieproblemegelöst werden. Versprochen und mit leuchtenden Farbenan die Wand gemalt wurde eine Welt ohne Energiepro-bleme. Damals, Anfang der 60er Jahre, saßen wir mitleuchtenden Augen in den Vorlesungen und hörten dieseVersionen. Eine Art Perpetuum mobile wurde uns vonden Wissenschaftlern beschrieben. Die Realität sah aberleider ganz anders aus. Die Wissenschaft hat uns in eineSackgasse geführt. Ich kann mich noch erinnern: DieWörter „Entsorgung“ und „Risiko“ kamen bei den Vor-lesungen nicht vor. Sie wurden einfach übergangen odertotgeschwiegen. Wenn wir die vielen Steuermilliardendafür aufgewendet hätten, um erneuerbare Energien zufördern, hätten wir unsere Energieversorgungen zu-kunftsfähiger gemaht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt für uns zweigewichtige Gründe, den vorliegenden Gesetzentwurf ab-zulehnen. Laut Entwurf soll der Ausstieg aus der Wie-deraufbereitung bis zum 1. Januar 2000 vollzogenwerden. So schnell geht es nicht; nicht in einem Drei-vierteljahr, wenn ich vom Datum Ihrer Antragstellungausgehe. Auch wir haben das lernen müssen. Ich möchteaber betonen, daß die Wiederaufbereitung von Bren-nelementen der falsche Weg ist. Aus diesem Grunde be-treiben wir in der Bundesrepublik ja auch keine Wieder-aufbereitungsanlage. Deutschland ist aus dieser Tech-nologie ausgestiegen. Wir werden aber auch die Wie-deraufbereitung von deutschen Brennelementen mittel-fristig einstellen. Die direkte Endlagerung ist die billige-re Lösung. Nachdem in Deutschland die Brüter-Technologie aufgegeben wurde, ist es nicht sinnvoll, dieWiederaufbereitung weiterzubetreiben.Die im Entwurf des PDS-Gesetzes vorgesehenen Re-gelungen passen nicht zu unserem Zeitplan. Die Koaliti-on hat verabredet, einen entschädigungsfreien Ausstiegerreichen zu wollen. Diesen wollen wir nach Möglich-keit im Konsens mit den Betreibern der Atomkraftwerkeanstreben, aber dieses Vorhaben gestaltet sich schwierig.Bisher konnte bei den Verhandlungen immer noch keinDurchbruch erreicht werden. Wir haben uns vorgenom-men, bis Ende des Jahres einen Konsens zu erzielen.
Sollte dies nicht möglich sein, werden wir den Ausstiegper Gesetz regeln. Man kann eigentlich den Betreibernder Atomkraftwerke nur raten, einen Konsens anzustre-ben. Sie wären damit wirklich gut beraten. Konsens be-dingt aber auch Kompromisse; es geht nicht, die Atom-kraftwerke bis zu ihrem technischen Ende zu betreiben.Die Vorstellungen der Betreiber liegen bei 35 Vol-lastjahren; das entspricht einer Betriebsdauer von 50 bis60 Kalenderjahren. Man muß sich einmal vorstellen, wieüberaltert dann die technischen Anlagen sind.Konsens bedeutet aber auch, den Stromproduktions-standort Deutschland zu erhalten. Wir werden es nichtakzeptieren, daß die Betreiber in den goldenen Endbe-triebsjahren der Atomkraftwerke, wenn diese praktischabgeschrieben sind, große Kasse machen. Mit dem beiuns verdienten Geld würden dann in mittel- und osteu-ropäischen Staaten Atomkraftwerke ausgebaut. ÜberFernleitungen und Koppelanlagen würde dann die dortproduzierte Energie zu uns importiert werden; die Kon-zerne wären nur noch Stromhändler. Den Produktions-standort Deutschland zu erhalten heißt aber auch, daßwir andere Strukturen brauchen. Zukunftsfähig sind de-zentrale Versorgungsstrukturen.
Konsens heißt aber auch, in einem überschaubarenRahmen aus der Kernenergie auszusteigen. Überschau-barer Rahmen heißt aber auch überschaubare Mengen anatomarem Abfall und überschaubare Zeiträume für dieZwischenlagerung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten sich die Be-treiber der Atomkraftwerke dem Konsens verweigern,
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5496 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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werden wir den Ausstieg durch ein Gesetz herbeiführen.Das Deutsche Atomforum hat zwar erst vor kurzemverkündet, die Stillegung von Atomkraftwerken per Ge-setz sei verfassungswidrig. Ich muß dazu sagen: Jedeandere Stellungnahme des Deutschen Atomforums hättemich verwundert und erstaunt. Dieses Lobby-Argumentkann ich nicht ernst nehmen.
Die Befürworter der Kernenergie behaupten immer,die Forderung nach Ausstieg sei ideologische begründet.
Auch heute nachmittag kam ja dieser Vorwurf. DerHinweis auf die Ideologie ist ein herrliches Totschlagar-gument. Hierauf müssen Sie zurückgreifen, weil Siesonst keine Argumente haben. Wenn dieses Argumentstimmen würde, wäre auch die Befürwortung der Atom-energie eine ideologische Forderung. Es ist nur ein sehrkomischer Schluß: Wir verteilen Ideologie, weil wiraussteigen wollen. Dagegen betreiben Sie keine Ideolo-gie, weil sie dabei bleiben wollen. Das müssen Sie ein-mal einem normal und einigermaßen rational denkendenMenschen erklären. Mir können Sie das nicht erklären.Wahrscheinlich können Sie sich das selber nicht erklä-ren.
Was nützt dieser Ideologievorwurf? Er bringt unsnicht weiter. Es gibt sehr rationale Gründe, aus derKernenergie auszusteigen. Ich möchte sie in aller Kürzenoch einmal aufzählen:Erstens. Es besteht immer ein Restrisiko. Die Si-cherheit läßt sich zwar steigern. Damit werden aber dieAtomkraftwerke unbezahlbar. Das Restrisiko ist unswieder einmal durch den Atomunfall in Japan bestätigtworden. Auch in Korea und in Rußland ist etwas pas-siert. Drei Unfälle und zwei Abschaltungen in einer Wo-che, das ist wirklich sehr viel.Zweitens. Für mich ist es erstaunlich, daß die End-lichkeit der Uranvorräte bei der Diskussion über dieKernenergie keine Rolle spielt. Nachdem der Traumvom Schnellen Brüter ausgeträumt ist, ist das Ende derUranvorräte absehbar.Drittens. Die Kernenergie ist keine weltweit einsetz-bare Energieform. Es ist unvorstellbar, daß Kernkraft-werke in Krisengebieten errichtet werden.
– Genau. – Stellen Sie sich einmal vor, in Osttimor wür-de ein Kernkraftwerk stehen.
Viertens. Durch den Betrieb von Kernkraftwerkenwird auch atomwaffenfähiges Material hergestellt.Wieder eine Horrorvorstellung: Stellen Sie sich vor, imIrak würde ein Atomkraftwerk betrieben werden.Es sind also ganz rationale Gründe, aus der Atom-energie auszusteigen. Dies hat nichts mit Ideologie zutun. Eine Technik, die keinerlei menschliche Fehler undkeinerlei menschliches Versagen zuläßt, ja diese absolutausschließen muß, ist nicht zukunftsfähig.
– Herr Kollege, wenn Sie sagen, daß das nicht wahr ist,dann sollten Sie einmal nach Japan schauen. Haben Siees immer noch nicht kapiert? Mit einem Stahleimermischt man dort kritische Massen. Dies ist unvorstell-bar; dies ist ein Horror. Und es ist so passiert.
– Nein, das ist nicht unser Standard. Sie sollten aber inder „Süddeutschen Zeitung“ den Artikel über den Unfallin Hanau nachlesen. Sie werden dann verstehen, was1971 passiert ist. Ich muß sagen, ich hätte so etwas nichtfür möglich gehalten.
Wenn menschliches Versagen bzw. menschlicheFehler eintreten, kann deren Auswirkung überregionalund auch global sein. Das unterscheidet die Kernenergievon allen anderen Techniken.
Diese überregionale und globale Auswirkung, die es inkeiner anderen Technik gibt, zwingt uns dazu, aus derKernenergie auszusteigen.
In der Diskussion wird dann immer wieder auf dasAusland verwiesen, nämlich darauf, daß es wenig hilf-reich sei, bei uns auszusteigen, während dort die Kern-energie weiterbetrieben wird. Genau umgekehrt ist es:Wir als Hochtechnologieland müssen beweisen, daß einAusstieg aus der Kernenergie möglich ist.
Wir müssen beweisen, daß die Energieversorgung ohneKernenergie möglich ist. Dies ist eine Herausforderungan die Zukunft, der wir uns stellen müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vergangeneWoche hat uns das Risiko der Kernenergie deutlich vorAugen geführt. Zuerst passierte der Unfall in Japan: Beider Brennelementeproduktion wurde eine Kettenreak-tion ausgelöst. Dann folgte die Nachricht aus Korea, daß22 Menschen verstrahlt wurden, und zum Schluß kamdie Nachricht, daß wieder einmal ein Atomkraftwerk in
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Rußland abgeschaltet wurde. Wahrscheinlich kam esdort zu einem Turbinenbrand.Wenn man die lange Liste der Unfälle kennt, weißman: Der nächste Unfall kommt bestimmt. Hoffen wir,daß wir wieder einmal glimpflich davonkommen. Wennman aber bedenkt, daß in der Ukraine die Atomkraft-werke auf Verschleiß gefahren werden und daß dieRBMK-Reaktoren sowie die erste Baureihe der WWER-Reaktoren als ausgesprochene Risikoreaktoren gelten, soweiß man: Das Image der Kernkraft wird nicht besser.Die Reihe der Hiobsbotschaften wird in Zukunft nichtabreißen.Zum Interview der Konzernherren Hartmann undSimson im „Spiegel“ vom 4. Oktober 1999 möchte ichfolgendes sagen: Vielleicht heißt es einmal in nicht allzuferner Zukunft, es sei geradezu provinziell, nicht aus derKernenergie auszusteigen. Für die deutschen Konzern-leitungen sei diese Kurzsichtigkeit schon sehr erstaun-lich gewesen. Es sei unglaublicher Unfug, sich mit demBetrieb von Kernkraftwerken auseinanderzusetzen.Wenn das einmal bei den Managern der großen Ener-giekonzerne ankommt, wird es aber für das Image derKonzerne bereits zu spät sein. Es ist vorstellbar, daß dieKernenergie so viel an Image verliert, daß es für dieKonzerne ein Risiko wird, Atomkraftwerke zu betrei-ben. Kernkraftwerke würden dann bei den Anlegernnicht als Pluspunkt, sondern als Negativposten angese-hen werden. Das würde die Kurse in Bewegung bringen– und zwar nach unten. Dann könnte man sagen, dieKonzernherren haben den Konsens verschlafen.Zum Schluß: Wir werden den Ausstieg aus der Kern-energie weiter energisch betreiben; denn die Kernener-gie ist nur eine Übergangsenergie. Wir müssen uns vonihr verabschieden. Es wäre vernünftig, diesen Abschiedaus der Kernenergie in Deutschland im Konsens zu be-treiben. Wenn dies nicht gelingt, werden wir den Aus-stieg per Gesetz schaffen.Ich danke für das Zuhören.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Laufs.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Der vorliegende PDS-Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes greiftdas rotgrüne Ausstiegsvorhaben auf. Er übernimmt dieseit Jahrzehnten von ausstiegsorientierten Aktivistenständig wiederholten Schlagworte. Er spricht von inak-zeptablen Risiken, von der ungelösten Endlagerung, vondem illegalen Abzweigen waffenfähigen Plutoniums undvon den technisch unbeherrschten Risiken eines Kern-schmelzunfalls.
Diese Behauptungen werden wie unantastbare Glau-benswahrheiten vorangestellt. Daran hat sich seit den70er und 80er Jahren bei der Anti-Atomkraft-Bewegungnichts geändert. Die in Deutschland stattgefundeneenorme Weiterentwicklung der Reaktorsicherheit undder nuklearen Entsorgung wird einfach nicht zur Kennt-nis genommen. Bei uns, Kollege Tauss, laufen dieKernkraftwerke seit über 30 Jahren und liefern ein Drit-tel unseres Stroms. Es gab noch nicht einen Toten – Gottsei Dank.
– Damit befinden wir uns in Deutschland im Gegensatzzu anderen Ländern. Diese Tatsache muß man docheinmal feststellen dürfen.Auch in dieser Debatte muß darauf hingewiesen wer-den: Viele deutsche Wissenschaftler sahen sich veran-laßt, einen neuen Energiedialog anzustoßen, der zu einerNeubewertung der Energiepolitik führen sollte. Dabeigeht es auch um die Risiken – es handelt sich nicht umkleine Risiken – einer schleichend zunehmenden, irre-versiblen Veränderung der Erdatmosphäre durch offeneFeuerungsprozesse.Von großer Bedeutung ist ebenfalls der liberalisierteeuropäische Energiemarkt, der auf nationale Alleingän-ge in einer Weise reagieren wird, die die Ausstiegsab-sichten konterkariert. Es wäre ja der Gipfel der Absur-dität, wenn man in Deutschland die sichersten Kern-kraftwerke abschaltete und dann den Atomstrom ausFrankreich oder aus Osteuropa importieren würde.
In der Atomdebatte heute nachmittag wurde von denausstiegsorientierten Fraktionen der Tokaimura-Unfallals Beweis für unkalkulierbare Gefahren und inakzepta-ble Restrisiken bemüht.
Ich rate zu einer realistischen und differenzierten Be-trachtung. Es ist ja wahr: Wir in Deutschland sind nichtwenig verwundert und verblüfft, in welchem Ausmaßmenschliche Fahrlässigkeit bei der Handhabung hochge-fährlicher Stoffe, welche Hilflosigkeit bei der Gefahren-abwehr und wieviel Fehlverhalten der Unternehmens-leitung bei der Schadensbegrenzung im hochindustriali-sierten Japan möglich sind.
Dies gilt übrigens nicht nur für den Bereich der Kern-energie, sondern auch für Naturkatastrophen, wie wirnach dem Erdbeben bei Kobe wissen.Ich bin überzeugt: Nirgendwo ist das Problembe-wußtsein beim Umgang mit technischen Gefahren-potentialen so hoch entwickelt wie in Deutschland.
Diese Wachheit und Empfindlichkeit – man kann ruhigsagen: Ängstlichkeit – haben zu einer hochentwickelten
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5498 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999
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Sicherheitskultur in Deutschland gerade in der kern-technischen Industrie geführt.Nun bestreitet kein vernünftiger Mensch, daß es auchhier in Deutschland tagtäglich menschliches Versagen,technische Fehlleistungen und Störungen gibt. Wer inseiner pessimistischen Weltsicht glaubt, daß es dagegenkeine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen geben kön-ne, gleichgültig, wieviel man auch immer unternehme,den kann in der Tat nur der Ausstieg aus gefährlicherTechnik zufriedenstellen. Wenn er redlich ist, muß eraber bei gleichen Maßstäben nicht nur aus der Kern-technik, sondern auch aus der Chemie, den Gefahrgut-transporten,
der Luftfahrt oder auch der Wasserkraft mit großenStaudämmen aussteigen, wozu man sich jeweils eben-falls verheerende Katastrophenszenarien ausdenkenkann.
– Wenn zum Beispiel der Assuan-Staudamm bricht,wird ganz Ägypten ins Meer geschwemmt.Ich möchte wiederholen, was ich bereits heute nach-mittag betont habe: Es kann doch niemand ernsthaftvorhaben, aus unserer technischen Zivilisation auszu-steigen. Es geht doch vielmehr um die Weiterentwick-lung einer weltweit auf hohem Niveau erforderlichentechnischen Sicherheitskultur.
Die in Deutschland eingesetzten aktiv und passiv wir-kenden Mehrfachsicherungssysteme und die sorgfältige,ständig verbesserte Schulung des Betriebspersonals ha-ben sich bestens bewährt.Der politische Wille hinter dem zur Debatte stehen-den Gesetzentwurf ist klar: Zweck ist die schnellstmög-liche, in spätestens fünf Jahren abgeschlossene Ab-schaltung der Atomanlagen. Die wichtigsten Fragen indiesem Zusammenhang werden allerdings nicht disku-tiert. Es wird zwar auf die Kosten der Ersatzbeschaffungfür die Stromversorgung hingewiesen. Ein Konzept füreine sichere, im europäischen Binnenmarkt wettbe-werbsfähige und ökologisch akzeptable Energieversor-gung ohne Kernkraft gibt es aber nicht – auch nicht vonder rotgrünen Regierung, die nun schon ein Jahr lang imAmt ist. Es ist nichts in Sicht.Der heutzutage übliche stolze Hinweis auf das100 000-Dächer-Solarprogramm ist nun wirklich nichtausreichend. Von 100 000 Photovoltaik-Anlagen kannman maximal 300 Millionen Kilowattstunden Strom proJahr ernten; das entspricht knapp 3 Prozent der Leistungeines modernen Kernkraftblocks.Von großer Tragweite im energiepolitischen Zusam-menhang ist der Klimaschutz. Wir erleben gegenwärtigin Schweden die Unvereinbarkeit von Atomausstieg undZielen der CO2-Minderung. Für Deutschlands Reduk-tionsziel von 25 Prozent bis zum Jahr 2005 ist überhauptnicht sichtbar, wie es ohne Atomkraft erreicht werdenkann. Schon mit Kernenergie ist dies eine äußerst ehr-geizige Absicht.Der Gesetzentwurf sieht vor, die Wiederaufarbeitungvon Brennelementen zum 1. Januar 2000 zu verbietenund damit den auf diese Weise gesicherten Entsor-gungsnachweis aufzuheben. Kraftwerke müßten wegenihrer mit abgebrannten Brennelementen gefüllten Zwi-schenlager deshalb schon bald vom Netz genommenwerden. Für die Befristung der Betriebsgenehmigungenwird trotzdem ein eigenes Gesetz gefordert. Fragen dernotwendigen Entschädigungsregelungen werden nichtangesprochen. Sie lehnen es grundsätzlich ab, darüberzu diskutieren, wie Sie gerade ausgeführt haben. Aberauch die PDS steht nicht außerhalb unserer Rechtsord-nung, auch nicht die Regierung, Herr Kubatschka.
Die Vorschriften der Achten Atomnovelle vom6. April 1989 sollen rückgängig gemacht werden. Damitwürden die Erleichterungen für Erkundungsarbeiten imInteresse einer möglichst bald verfügbaren Endlagerungradioaktiver Abfälle wieder aufgehoben. Es ist einer dereklatanten Widersprüche der Anti-Atom-Politik, die so-genannte ungelöste Entsorgungsfrage unablässig alsAusstiegsargument zu thematisieren und zugleich dieErkundungsarbeiten in Gorleben und das Genehmi-gungsverfahren für Konrad nach Kräften zu erschwerenund zu stoppen. Dabei weiß jeder, auch jeder in den Re-gierungsfraktionen und in der PDS, daß Deutschland mitoder ohne Atomausstieg eine sichere Entsorgung undEndlagerung von radioaktiven Reststoffen unabdingbarbraucht.Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf derPDS zur Änderung des Atomgesetzes ist voller Wider-sprüche und ungeklärter Fragen. Die CDU/CSU lehntseine Zielsetzung und seine Vorschriften im einzelnenentschieden ab.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Wir hatten heute schon, wie ich finde, eine ernsthafteDebatte über den Atomausstieg. Ehrlich gesagt, HerrLaufs, haben Sie Ihre Rede eben eigentlich noch einmalabgelesen? Ich finde, Wiederholungen langweilen aufDauer.
– Mein Eindruck war, das war haargenau dasselbe, undich fand das relativ langweilig.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 61. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 1999 5499
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– Das würde ich doch bezweifeln. Da kenne ich michbesser als Sie mich.
Ich höre grundsätzlich zu, und ich finde, Sie haben ge-nau dasselbe gesagt wie heute nachmittag.Ich nehme die Debatte heute abend ehrlich gesagtnicht ganz ernst. Damit meine ich nicht den Beitrag vonHerrn Kubatschka; den fand ich wirklich hervorragend.[Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]:Der hat auch dasselbe erzählt!)Das war eine gute Zusammenfassung unserer Beweg-gründe für den Atomausstieg und die Ablehnung diesesGesetzentwurfs. Aber das Anliegen der PDS ist mir wirk-lich ein bißchen zu durchsichtig. Daß dies ein taktischerAntrag ist, steht doch völlig klar im Raum. Ich verstehedas ja; ich würde es als Opposition genauso machen.
Die Frage ist doch nicht: Wie erreichen wir es, Forde-rungen für den Atomausstieg aufzustellen? Das ist leichtzu beantworten; das haben wir auch immer getan. Auchdie SPD hat einen Ausstieg innerhalb von zehn Jahrenbeschlossen. Aber Sie müssen lernen und verstehen– wie auch wir das tun –, daß die Abschaffung eines ge-samten Technologiezweiges in einer Industriegesell-schaft kein einfaches Unterfangen ist und daß man dabeiviele Gesichtspunkte bedenken muß. Herr Kubatschkahat darauf schon hingewiesen.Ich glaube, daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf demAnliegen, den Atomausstieg voranzubringen, in keinerWeise nützen. Sie nützen sich vielleicht selbst, indemSie sich als die großen Atomaussteiger, die Einpeitscherund dergleichen mehr darstellen. Aber bringen Sie auchden politischen Prozeß voran, dieses gesellschaftlichmehrheitsfähig durchzusetzen? Das bezweifle ich.
Denn Politik bedeutet auch – Herr Kubatschka hat es ge-sagt –, zum richtigen Zeitpunkt etwas zu sagen oder zumachen. Da sage ich einmal folgendes: Es war völligrichtig, daß sich diese Bundesregierung auf die Suchenach einem Kompromiß mit den Stromkonzerneneingelassen hat. Ich glaube, nur dann können wir in derBevölkerung Akzeptanz dafür bekommen, daß wir imNotfall, wenn die Stromkonzerne nicht kompromißfähigsind, den Ausstieg im Dissens durchziehen.
Es war deswegen richtig, daß wir uns die Zeit ge-nommen haben. Wir werden diesen Prozeß zu gegebenerZeit beenden, wenn sich die Stromkonzerne als nichtkompromißfähig erweisen. Das heißt, hier auf die Tubezu drücken ist aus meiner Sicht völlig politikunfähig. Ichkann da nur Gysi und Bisky ernst nehmen, die Sie alsPartei immer auffordern, politikfähiger zu werden undnicht immer Märchenprogramme und dergleichen mehrzu beschließen.
Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich ansprechenmöchte. Ich nehme auch Ihre Rolle als Einpeitscher fürden Atomausstieg nicht ganz ernst.
Ich habe einmal versucht, Zitate von Gysi oder Modrow,der damals noch in der Politik war, aus der Zeit desTschernobyl-Atomunfalls zu finden. Wissen Sie was?In der DDR wurde Tschernobyl totgeschwiegen. Es gabkeinen Fallout. Die Position der SED, bei der viele IhrerGenossen an der Basis noch immer tätig sind
– ich weiß, Frau Bulling-Schröter nicht, aber sie tritt jafür ihre gesamte Partei auf –, war damals: AKWs imKapitalismus sind unsicher, weil sie unter Gewinnge-sichtspunkten betrieben werden, aber sozialistischeAKWs sind sicher, weil sozusagen die Arbeiterklasse siebetreibt. Das waren die AKWs, die selbst die CDU ab-geschaltet hat; das muß man einmal sagen.
Nun kann man ja sagen, daß man lernfähig ist. In derTat, auch die SPD hat nach Tschernobyl gelernt.
– Gut, vor Tschernobyl. Egal, sie hat gelernt. – Zwi-schen der Position von Helmut Schmidt und der heuti-gen Position besteht ein Unterschied. Aber dazu war einintensiver Diskussionsprozeß notwendig. Dabei ging esnicht darum, daß man taktisch sagt: Welche Rolle spie-len wir im neuen Parteiengefüge? Wir wollen die Linkenablösen, und deshalb müssen wir den Atomausstieg for-dern. – Haben Sie die Auseinandersetzung über die Fra-ge Atomausstieg mit Ihrer Basis geführt? Nein!
Zum Beispiel hat der Kreisverband Greifswald ein-deutig Position bezogen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Was sagen denn all Ihre Schwesterorganisationen, diefranzösischen Kommunisten, die tschechischen Kom-munisten?
Wissen Sie das?
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Ihre Schwesterorganisationen haben unisono immernoch das alte Schema drauf: Das ist eine tolle Technolo-gie, weil es eine Großtechnologie ist und weil die Ar-beiterklasse damit stark und groß wird.
– Ich verstehe ja, was Sie hier machen. Aber ich nehmediese Debatte nicht ernst.
Die Grünen haben eine lückenlose authentische Ge-schichte in der Frage des Atomausstiegs. Wir haben unsnie für die Atomtechnik stark gemacht. Der Atomaus-stieg ist nun ein schwieriger Prozeß, und ich akzeptiereSie schlicht und einfach nicht als Einpeitscher für diesenProzeß. Das mußte einmal gesagt werden.Danke.
Die Rede der
Abgeordneten Birgit Homburger nehmen wir zu Proto-
koll.*)
Damit sind wir am Schluß der heutigen Debatte. Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/841 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 27. Oktober 1999,
13.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolle-
ginnen und Kollegen einen schönen Abend.