Gesamtes Protokol
Guten
Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist er-
öffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettsitzung mitgeteilt: Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland an der humanitären Hilfe für Osttimor. Das
Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der
Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen Dr.
Christoph Zöpel.
D
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Das Bundeskabinett hat sich heute wie in den
vergangenen Sitzungen mit der Situation in Osttimor be-
schäftigt. Ich gehe davon aus, daß Ihnen die Ereignisse
dort und die Politik der Vereinten Nationen, die von der
Bundesregierung eingefordert wurde und unterstützt
wird, bekannt sind. Von Bedeutung ist die Frage, wel-
chen Beitrag die Bundesrepublik Deutschland leisten
kann, um die humanitäre Katastrophe, die durch die Ge-
walttätigkeiten von Milizen und Nationalisten entstanden
ist, zu bewältigen.
Die Bundesregierung beteiligt sich in finanzieller
Hinsicht an der Verbesserung der humanitären Situation.
Das Auswärtige Amt hat bislang 1 Million DM zur Ver-
fügung gestellt, davon gingen 500 000 DM an das Inter-
nationale Rote Kreuz und 265 000 DM an die „Ärzte für
die Dritte Welt“. Um die Situation im Blick zu haben
und um die Vergabe dieser Mittel beobachten zu können,
ist ein Sonderkoordinator des Auswärtigen Amts nach
Indonesien entsandt worden, der dort am 22. September
oder am Tag danach eingetroffen ist. Das Bundesmini-
sterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat die Hilfe
für Indonesien bzw. Osttimor auf 4,5 Millionen DM auf-
gestockt. Das Geld soll überwiegend für die Wiederher-
stellung der Wasserversorgung und für die medizinische
Grundversorgung eingesetzt werden.
Darüber hinaus hat das Kabinett heute darüber disku-
tiert, ob auch im Bereich der Sicherheit mit militärischer
Komponente im weiteren Sinne ein Beitrag geleistet
werden kann. Das wesentliche, was ich Ihnen dazu
sagen möchte, ist: Das Kabinett wird seine Beratung
darüber erst fortsetzen, wenn es – wie von einigen ge-
wünscht – mit allen Fraktionen dieses Hauses in Kon-
sultationen eingetreten ist. Falls die Konsultationen
zu einem entsprechenden Ergebnis führen, wird das
Kabinett in der nächsten Woche gegebenenfalls einen
Beschluß fassen. Die sich stellende Beschlußlage ist
dabei von mehreren unterschiedlichen Zielen und Not-
wendigkeiten bestimmt: Seitens der Vereinten Nationen
ist die Bundesregierung gefragt worden, inwieweit sie
sich beteiligen könnte. Fast alle größeren europäischen
Länder beteiligen sich. Die Bundesregierung vertritt
prinzipiell die Auffassung, daß die Menschenrechte auf
der ganzen Welt, in allen Regionen, also nicht nur
– was manchmal unterstellt wird – in Europa, son-
dern auch in Asien, zu gelten haben und zu verteidigen
sind. Es sind aber auch Überlegungen anzustellen, in-
wieweit das starke regionale Engagement betont wird,
indem Europa sich zurückhält. Schließlich ist die Haus-
haltslage der Bundesrepublik Deutschland zu berück-
sichtigen.
Im Rahmen der bisher angestellten Überlegungen,
welche Maßnahmen in der Region möglich sind, haben
Beauftragte des Verteidigungsministeriums vorgeschla-
gen, im Bereich der medizinischen Evakuierung tätig zu
werden, also Kranke auszufliegen. Auf der Grundlage
dieser Überlegungen möchte die Bundesregierung ab
heute mit Ihnen Gespräche führen. Bei erfolgreichem
Verlauf dieser Gespräche könnte am Ende der Antrag
auf ein konstitutives Votum angenommen werden. Wir
sind darauf bedacht, hierzu die Meinungen aller Fraktio-
nen einzuholen.
Herzlichen Dank.
Vielen
Dank.
Wir kommen nun zu Fragen zu dem Themenbereich,
über den berichtet worden ist. Der erste Fragesteller ist
der Kollege von Klaeden.
5074 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
Herr Staatsmi-
nister, wie schätzt die Bundesregierung die aktuelle Lage
in Osttimor ein, insbesondere vor dem Hintergrund der
Arbeit der Interfet? Sie haben heute sicherlich die Kritik
von Bischof Belo in der „FAZ“ gelesen. Wie steht die
Bundesregierung zu diesen Äußerungen?
D
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Sitzung mit
der Kritik von Bischof Belo nicht befaßt. Soweit ich in-
formiert bin, steht ein Gespräch von Bundesaußenmi-
nister Fischer mit Herrn Belo an. Möglicherweise wird
man danach Näheres wissen. Ich möchte an dieser Stelle
aber generell darauf hinweisen, daß nach den wenigen
Tagen, die Interfet in der Region tätig ist, ein Urteil der
Bundesregierung über die Effizienz der dort geleisteten
Arbeit – vor allem auch vor dem Hintergrund, daß die
Bundesrepublik Deutschland bisher an dieser internatio-
nalen Schutztruppe nicht beteiligt ist und daß es auch
noch offen ist, ob eine Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland überhaupt sinnvoll ist – nicht sonderlich
nützlich ist.
Eine
weitere Frage, Herr von Klaeden. Bitte schön.
In diesem Zu-
sammenhang möchte ich fragen, wie die Bundesregie-
rung die Versorgungslage der Flüchtlinge in Westtimor
einschätzt.
Herr
Staatsminister, bitte sehr.
D
Nach unserer Kenntnis sind in Westtimor über
215 000 Flüchtlinge registriert. Diese Flüchtlinge sind
dort – soweit uns bekannt – bisher unbehelligt geblieben.
Aber es besteht weiterhin die Möglichkeit, daß Milizen
ihre Aktivitäten nach Westtimor verlegen, um auch dort
Flüchtlinge zu terrorisieren. Es ist daher ratsam, daß die
Flüchtlingslager regelmäßig von internationalen Beob-
achtern besucht werden.
Die hygienischen Verhältnisse und die medizinische
Versorgung sind – Sie haben es in Ihrer Frage bereits
angedeutet – nach unseren Erkenntnissen unzulänglich.
Dieses Problem kann sich noch verschärfen, wenn – wie
üblich – die Regenzeit in vier bis sechs Wochen beginnt.
Aber auch die humanitäre Hilfe für Westtimor ist inzwi-
schen angelaufen. Zusammen mit der Staatengemein-
schaft ist die Bundesregierung der Hoffnung, daß die
humanitäre Katastrophe, die bestimmt nicht auszuschlie-
ßen ist, wenn nichts getan wird, abgewendet werden
kann. Entsandte der Botschaft in Indonesien und auch
der von mir entsandte Sonderkoordinator sorgen als Be-
obachter dafür, daß wir trotz sonstiger relativer perso-
neller Abstinenz zumindest voll informiert sind.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr von Klaeden.
Herr Staatsmi-
nister, wie schätzen Sie die Ergebnisse der Sondersit-
zung der Menschenrechtskommission der Vereinten Na-
tionen und insbesondere die Haltung der anderen asiati-
schen Staaten gegenüber der Situation in Osttimor ein?
D
Wie Sie wissen, hat sich die Bundesregierung für
die Sondersitzung der Menschenrechtskommission ein-
gesetzt. Die etwas reservierte Haltung der asiatischen
Staaten ist uns bekannt. Es spricht aber einiges dafür,
daß die europäischen Staaten die asiatischen Länder
nicht zu früh moralisch verurteilen sollten. Es macht
Sinn, mit allen asiatischen Regierungen, die in diesem
Konflikt involviert sind, Gespräche zu führen und in die-
sen auf unsere Vorstellungen von Menschenrechten und
Humanität hinzuweisen. Aber auch vor dem Hintergrund
der tragischen Ereignisse in Osttimor lassen sich die in
der Vergangenheit entstandenen Urteile der Asiaten über
europäische Doppelstandards nicht innerhalb weniger
Tage ausräumen. Dies müssen wir realistisch sehen,
wenn wir nicht überheblich erscheinen wollen.
Ich wür-
de gern anderen Kollegen Gelegenheit geben, eine Frage
zu stellen. Als nächster hat sich der Kollege Norbert
Blüm von der CDU/CSU-Fraktion gemeldet. Bitte
schön, Herr Blüm.
Herr Staatsminister,ich teile die Ansicht der Dringlichkeit humanitärer Hil-fen. Doch noch dringlicher als die humanitären Hilfenist, daß die Schlächtereien aufhören. Um es zynisch zusagen: Je länger die Schlächtereien dauern, um so gerin-ger ist der Bedarf an humanitärer Hilfe. Erste Aufgabesollte also sein, die Schlächtereien zu beenden.Wenn ich es richtig sehe: Die Milizen sind die Hand-langer der Militärs. Die Milizen sind nur vorgeschickt.Mit eiskalter Kalkulation sollen sie ein abschreckendesBeispiel für den Widerstand der Militärs gegen Autono-miebestrebungen innerhalb Indonesiens statuieren. Wastun wir beispielsweise vor dem Internationalen Gerichts-hof für Menschenrechte? Ich meine, wir müssen dasganze Drohpotential – bis hin zur Sperrung der Konten –aufbieten. Die Militärs verstehen nur eine Sprache.Aus meiner Sicht handelt es sich um keine Frage derDiplomatie. Es geht nicht allein um Habibie. SeineNachfolgerin steht den Militärs möglicherweise näher.Es geht um die Fragen: Wie legen wir den Schlächtern,also den Militärs, das Handwerk? Welche Instrumentekönnen wir vorweisen? Ich sage das nicht, weil ich ge-gen humanitäre Hilfe bin, sondern weil ich glaube, daßes fast zynisch ist, große Programme zu diskutieren,während täglich Tausende abgeschlachtet werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5075
(C)
(D)
Herr
Staatsminister, Ihre Antwort, bitte schön.
D
Herr Kollege Blüm, die Staatengemeinschaft rea-
giert aus meiner Sicht, verglichen mit der Reaktion Eu-
ropas beim Krieg auf dem Balkan – sie hat sich trotz der
Nähe relativ viel Zeit gelassen –, verhältnismäßig zügig.
Gemessen an dem Datum des UNO-Beschlusses ist die
Stationierung im Rahmen der UNO-Mission vor allem
von Soldaten aus der Region relativ zügig vorangekom-
men. Nach unserem Kenntnisstand ist in Osttimor die
Ihnen aus den vorhergehenden Tagen bekannte
Schlächterei beendet.
Die Einschaltung von UNO-Gerichtshöfen analog
zum Balkan läuft. Die Bundesregierung hat in bezug auf
Indonesien dieselbe Position, wie sie sie bei vergleich-
baren Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan
eingenommen hat. Die Konzentration auf die humanitä-
ren Maßnahmen, die ich Ihnen vortragen konnte, liegt
im Rahmen der Arbeitsteilung innerhalb der Staatenge-
meinschaft begründet. Diese Arbeitsteilung wurde sehr
bewußt so gewählt, daß überwiegend Australien, Por-
tugal, die frühere Kolonialmacht dieser Region, und
asiatische Nachbarstaaten die Militärkontingente stellen
sollen.
Hinsichtlich der Einstellung zur indonesischen Regie-
rung stehen wir vor einer Situation, die, wie in ver-
gleichbaren Fällen, nicht einfach ist. Der indonesische
Außenminister hat in seiner Rede vor den Vereinten Na-
tionen völlig zufriedenstellende Erklärungen hinsichtlich
der Einstellung seiner Regierung abgegeben. Uns ist be-
kannt, daß viele Beobachter die reale Situation etwas an-
ders sehen. Aber wann der Punkt gekommen ist, eine
Regierung, die sich in ihren formellen Erklärungen eini-
germaßen so verhält, wie es unter Menschenrechtsge-
sichtspunkten zu erwarten wäre, zu verurteilen, ist eine
schwierige Sache. Im Augenblick sind die Handlungs-
möglichkeiten auf die Diskussion und auf die Einleitung
von möglichen Menschenrechtsprozessen vor UNO-
Gerichten beschränkt.
Der
nächste Fragesteller ist der Kollege Wolfgang Gehrcke
von der PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, ge-
statten Sie mir, Ihnen für Ihren ersten Beitrag, den Sie
nicht als Abgeordneter, sondern wegen Ihrer Berufung
zum Staatsminister von der Regierungsbank aus leisten,
Glückwünsche auszusprechen.
Stimmen Sie mir zu, daß der Bundesaußenminister
mit seinem Vorpreschen im Plenum dieses Hauses hin-
sichtlich der Entsendung von Sanitätssoldaten sich
selbst, die Bundesregierung und das ganze Haus in eine
mißliche Situation gebracht hat, nachdem er vorformu-
liert hat, daß deutsche Soldaten nicht in Frage kommen?
Denn jetzt besteht ein Begründungszwang, wenn man
sich anders entscheidet.
Würden Sie mir zustimmen, daß die jetzt im Raum
stehende Summe von 10 Millionen DM für den Einsatz
von Sanitätssoldaten inklusive der Kräfte, die diesen
Einsatz in Osttimor sichern müssen, in keinem Verhält-
nis zu den notwendigen humanitären Aktionen steht?
Herr
Staatsminister, bitte schön.
D
Herr Kollege Gehrcke, ich beginne mit der Beant-
wortung des zweiten Teiles Ihrer Frage. Es macht keinen
Sinn, eine bestimmte Zahl, nämlich diese 10 Millionen
DM für eine noch nicht entschiedene Beteiligung im
medizinisch-militärischen Bereich, unter dem Gesichts-
punkt des Zuviel oder des Zuwenig zu beurteilen. Diese
Zahl mag im Raum stehen, sie hat aber keinen Bezug zu
möglichen realen Beschlüssen. Die Kosten hängen vor
allem von der Dauer eines Einsatzes, wenn er denn be-
schlossen würde, ab. Je länger er nämlich dauert, um so
teurer wird er.
Ihre damit verbundene Frage, ob der Aufwand für
einen Einsatz, den ich durchaus als humanitär bewerten
würde, nämlich Kranke auszufliegen, im Vergleich zu
im engeren Sinne klassischen humanitären Maßnahmen
zu groß ist, hat auch die Bundesregierung sehr inten-
siv diskutiert. Es gibt bei einem Einsatz im Rahmen der
Vereinten Nationen angesichts der fiskalischen Situa-
tion zweifellos Zielkonflikte für die deutsche Politik.
Ihren Bedenken muß man aber entgegenhalten, daß
der Wunsch nach einer Beteiligung Deutschlands von
den Vereinten Nationen selber ausgesprochen wurde.
Eine sozusagen undiskutierte Ablehnung des Wun-
sches des UNO-Generalsekretärs, sich hier zu beteili-
gen und sich so wie die meisten Mitgliedstaaten der
Europäischen Union zu verhalten, wäre problematisch
und wäre vermutlich auch von diesem Hause kritisiert
worden.
Hinsichtlich der vor allem durch Herrn Bundes-
außenminister Fischer vorgenommenen Positionsbe-
stimmung der Bundesregierung halte ich es für notwen-
dig, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung der
Auffassung ist und daran auch unstreitig festhält, daß
Menschenrechte in allen Teilen der Welt prinzipiell
gleichermaßen zu achten und zu verteidigen sind und
der Schutz unter Hinzuziehung militärischer Kom-
ponenten nirgendwo grundsätzlich ausgeschlossen wer-
den kann. Ein zunächst einmal positives Eingehen auf
eine entsprechende Anforderung des UNO-General-
sekretärs war aus unserer Sicht unumgänglich. Daß an-
gesichts des auch von uns gesehenen Konflikts auf
Grund unterschiedlicher Ziele und Bewertungen eine
Beratung mit den Fraktionen dieses Hauses notwendig
ist, sehen alle Mitglieder der Bundesregierung als eine
demokratische Selbstverständlichkeit an. Dieses interna-
tional zu vermitteln wirkt sich demokratiefördernd aus.
Aus unserer Sicht wäre es auch vertretbar, wenn die Be-
ratungen zu einer Modifizierung der Meinungen des
Bundesaußenministers führten. Sie verlieren deshalb
nicht an Wert.
5076 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
Eine
weitere Frage, Herr Gehrcke? – Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir erscheint die Summe
eher zu niedrig als zu hoch. Wir beziehen uns dabei an-
scheinend auf andere Bezugsgrößen.
Ich möchte als weitere Frage anschließen, wie die
Bundesregierung die im Beschluß des Bundestages zu
Osttimor enthaltenen Komponenten, den Druck gerade
auf die Militärs in Osttimor nicht nur aufrechtzuerhalten,
sondern zu vergrößern, umgesetzt hat. Im Beschluß sind
ja konkrete Maßnahmen angesprochen worden wie das
Unterbrechen der Militärhilfe und eine Verringerung der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ich glaube, daß in der
jetzigen Situation der Druck nicht nachlassen darf, son-
dern vergrößert werden muß. Ich wäre dankbar, wenn
die Bundesregierung auch aktuelle Ereignisse zum Anlaß
nimmt, ihre diesbezügliche Position unmißverständlich
deutlich zu machen.
Herr
Staatsminister.
D
Herr Kollege Gehrcke, Sie haben meine Antwort
schon richtig verstanden: Natürlich sind 10 Millionen
DM zuwenig, wenn ein möglicherweise stattfindender
Einsatz lange dauert. Das kann man so festhalten; heute
schon weiterzugehen, würde den Beratungen mit den
Fraktionen des Hauses vorgreifen. Das dürfte auch nicht
in Ihrem Interesse liegen.
Hinsichtlich des notwendigen Druckes auf Indonesien
teilt die Bundesregierung voll die Position, die der Bun-
destag in seiner Resolution festgehalten hat: Der Druck
steht immer in Relation zu dem, was passiert. In Ostti-
mor wird die entsprechende Resolution des VN-
Sicherheitsrates offensichtlich umgesetzt und ihre Im-
plementierung von den Militärs nicht behindert. Das
scheint mir im Augenblick der Punkt zu sein, dem bei
der Beurteilung vorrangig unser Augenmerk gelten soll-
te. Die Lage in Westtimor dagegen ist ungeklärt. Hier
mag Druck sinnvoll sein, hier mag aber auch punktuell
forcierte Hilfe an Indonesien notwendig sein, um das
unter indonesischer Hoheit stehende Gebiet Westtimor
nicht in eine humanitäre Katastrophe schlittern zu lassen.
Hier ist tagtägliche Abwägung notwendig. Dabei dürfen
wir uns – das möchte ich hinzufügen – nicht überneh-
men. Ich glaube, wir alle haben gelernt, daß ein isolierter
Druck der Bundesregierung nicht zu den gewünschten
Ergebnissen führt. Das wird dort noch viel weniger als in
Europa der Fall sein.
Als
nächsten Fragesteller rufe ich den Kollegen Volker
Neumann, Bramsche, auf. Herr Neumann, bitte schön.
Herr Staatsmi-
nister, wer sich nicht erst jetzt, sondern seit nahezu
zwanzig Jahren mit Osttimor beschäftigt, der weiß, daß
das Selbstbestimmungsrecht durch die Kirchen geför-
dert, ja vielleicht letztlich durchgesetzt worden ist. Ich
frage daher die Bundesregierung, ob sie die Erfahrungen
beider Kirchen, insbesondere aber der katholischen Kir-
che, im Hinblick darauf abfragt, was in Osttimor not-
wendig ist.
Ich weiß, daß heute ein Gespräch mit Bischof Belo
stattfindet. Ich möchte zu bedenken geben, was er ge-
stern in Aachen gesagt hat: Keine militärische Präsenz
der Deutschen sei nötig; aber für ein humanitäres Hilfs-
team wären seine Gesprächspartner und er sehr dankbar.
Wird das in Ihre Beratungen einbezogen?
D
Sie selber, Herr Kollege Neumann, haben – worauf
auch ich hingewiesen habe – aufgezeigt, daß Minister
Fischer mit Bischof Belo spricht. Da Gespräche der
Bundesregierung grundsätzlich dazu dienen, die Argu-
mente des Gesprächspartners aufzunehmen, beantwortet
sich damit Ihre Frage weitestgehend.
– Ja, das ist alles Zeitverschwendung, Herr Kollege. Das
sollte man nicht tun.
Die Frage, ob ein Einsatz von deutschen Menschen –
so formuliere ich es einmal –, von der Bundesregierung
finanziert, anders aussehen könnte, als im Augenblick
hauptsächlich angedacht – Hilfe durch militärische
Kräfte bei Evakuierung aus medizinischen Gründen –,
würde ich schon wegen der Offenheit der Gespräche mit
den Bundestagsfraktionen mit Ja beantworten.
Eine
weitere Frage. Herr Kollege Neumann, bitte schön.
Ich möchte
noch eine Frage stellen, die in eine etwas andere Rich-
tung zielt. Wird die Bundesregierung ihre Maßnahmen,
Osttimor betreffend – ich meine jetzt nicht die rein hu-
manitären Maßnahmen, sondern die von Ihnen ange-
deuteten Maßnahmen –, mit der indonesischen Regie-
rung besprechen, und wird sie die Folgerungen, die sich
daraus zum einen für den Demokratisierungsprozeß, zum
anderen aber auch für das Verhältnis zu den anderen
asiatischen Staaten ergeben, beachten und uns mitteilen?
D
Die Bundesregierung wird dies tun und selbstver-
ständlich die Ergebnisse mitteilen.
Als
nächsten Fragesteller rufe ich den Kollegen Reinhold
Robbe von der SPD-Fraktion auf.
Herr Staatsminister, in derÖffentlichkeit besteht allgemeine Unkenntnis über dieVerteilung der finanziellen Lasten von UN-Einsätzen,natürlich auch bezogen auf das, was jetzt in Osttimor an-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5077
(C)
(D)
steht. Können Sie ungefähr beziffern, wie hoch der deut-sche Anteil ist?Auch aus dem Topf der wirtschaftlichen Zusammen-arbeit und aus Mitteln der Europäischen Union fließteiniges. Kann man ungefähr sagen, wie hoch der deut-sche Anteil ist?D
Herr Kollege, die derzeit geleisteten oder beab-
sichtigten Zahlungen der Bundesregierung habe ich ge-
nannt: 4,5 Millionen DM aus dem Etat des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit; 1 Milli-
on DM – mit der Möglichkeit der Aufstockung auf bis zu
2 Millionen DM – aus dem Etat des Auswärtigen Amtes.
Ich gebe zu, daß ich auf die Frage, wie hoch die EU-
Beiträge sind, jetzt nicht anworten kann, bin aber gerne
bereit, in schriftlicher oder einer anderen von Ihnen ge-
wünschten Form Auskunft zu geben.
Als
nächsten Fragesteller – –
D
Ich merke, wie sinnvoll es ist, die Bundesregierung
im Parlament zu befragen.
Herr
Staatsminister, die Frage war beantwortet.
Als nächsten Fragesteller rufe ich den Kollegen Car-
sten Hübner von der PDS-Fraktion auf.
Ich möchte auf den Bereich
der medizinischen Hilfe zurückkommen. Bis heute ist
ein Kontingent der Bundeswehr im Gespräch gewesen.
Dabei ging es weniger um die Evakuierung von Kranken
und Verwundeten als vielmehr um die Errichtung eines
Feldlazarettes durch ein Sanitätsbataillon.
Ich selber hatte die Möglichkeit, am Freitag in Ostti-
mor mit Mitarbeitern von Ocha und des Internationalen
Roten Kreuzes zu sprechen, die im Moment versuchen,
die Koordination in diesem Bereich dort zu leisten. Von
beiden Seiten ist deutlich gemacht worden, daß es auf
der Insel selber keinerlei Bedarf für ein zusätzliches
Feldlazarett oder für militärisches Sanitätspersonal in
Bataillonsstärke gibt. Es wird vielmehr darum gebeten,
die Basisversorgung sicherzustellen, das heißt, Medika-
mente für dezentrale Krankenstationen zu beschaffen,
Ausrüstungsgegenstände und mobile Teams zur Verfü-
gung zu stellen. Ihren Äußerungen kann ich entnehmen,
daß dieser Wunsch durchaus zur Kenntnis genommen
wurde.
Mir geht es um folgende Fragen: Erstens. Ist das
Feldlazarett und damit der Einsatz des Sanitätsbataillons
wirklich vom Tisch? Zweitens. Woraus ergibt sich die
Zielbestimmung im Rahmen der aktuellen Diskussion
mit den Vereinten Nationen über die Notwendigkeit von
Evakuierungen im medizinischen Bereich? Zumindest
bei meinen Gesprächen war dieser Bedarf niemals ein
Thema. Ich kann aber in diesem Punkt Informationslük-
ken haben. Drittens. Wenn es nicht die Notwendigkeit
eines Sanitätsbataillons gibt und damit möglicherweise
nicht die Notwendigkeit von Einheiten, die für eine Eva-
kuierung verantwortlich sind: Wäre die Bundesregierung
bereit, die dafür vorgesehenen Mittel dem BMZ und dem
Auswärtigen Amt zur Aufstockung ihrer Mittel zur Ver-
fügung zu stellen?
Herr
Staatsminister, bitte schön.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. Zunächst möchte ich
mich über meinen spontanen Freudenausbruch gegen-
über dem Kollegen Bindig entschuldigen. Ich möchte
aber wiederholen: Herzlichen Dank an den Bundestag
für diesen profunden Ratschlag an die Bundesregierung.
Diesen Dank, Herr Kollege Hübner, möchte ich auf
Sie erstrecken. Das Auswärtige Amt war über Ihren Be-
such in Dili, der von der Deutschen Botschaft begleitet
wurde und der der Bundesregierung zusätzliche Infor-
mationen gebracht hat, erfreut.
Ihre erste Frage, ob noch ein größeres Sanitätskontin-
gent in Rede sei, kann ich so beantworten: Dieses Thema
stand heute bei der Erörterung im Bundeskabinett nicht
in Rede.
– Im Raum steht immer viel; das ist bekannt.
Ich persönlich – zu den früheren Sitzungen hat mir
liebenswürdigerweise meine Kollegin aus dem Bundes-
verteidigungsministerium assistiert – kann sagen: In die-
ser und in der vorigen Kabinettsitzung ist dieses Thema
nicht erörtert worden. Das kann ich Ihnen präzise mit-
teilen.
Das Diskussionsthema heute, nämlich die Evakuie-
rungsmöglichkeit im medizinischen Bereich, ist unter
anderem das Ergebnis der Erkundungen, die Beauftragte
des Bundesverteidigungsministeriums in Osttimor und in
Australien vorgenommen haben.
Die letzte Frage beantworte ich so, wie ich eine ver-
gleichbare Frage des Herrn Kollegen Neumann beant-
wortet habe: Die Offenheit der Diskussion mit den Bun-
destagsfraktionen schließt derzeit keine Lösung von
vornherein aus.
Als
nächste Fragestellerin rufe ich die Kollegin Adelheid
Tröscher von der SPD-Fraktion auf.
Sie haben schon eine
sehr positive Antwort gegeben, Herr Staatsminister. Wir
Reinhold Robbe
5078 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
sind hier alle bemüht, zur Lösung des Konflikts in Ost-
timor beizutragen und darüber nachzudenken, wie diese
Konflikte in Zukunft von uns – und nicht nur von uns
alleine – sehr viel früher wahrgenommen werden kön-
nen.
Heute findet in Washington im Rahmen der Jahresta-
gung von IWF und Weltbank eine große Osttimor-
Konferenz statt. Ich hätte gerne gewußt: Wie beteiligen
wir uns an dieser Konferenz? In welchem Rahmen brin-
gen wir uns in die internationale Gemeinschaft ein?
D
An dieser Stelle muß ich zum zweiten Mal mein
Bedauern äußern. Ich kann Ihnen in diesem Moment
keine konkreten Informationen über den Grad der deut-
schen Beteiligung an dieser Konferenz geben. Ich be-
antworte Ihre Frage gerne in jeder anderen von Ihnen
gewünschten Form.
Es
verbleiben jetzt noch gut fünf Minuten für die Regie-
rungsbefragung. Als nächsten Fragesteller rufe ich den
Kollegen Hermann Gröhe von der CDU/CSU-Fraktion
auf.
Herr Staatsminister,
auch meine Frage bezieht sich auf den Umfang einer
möglichen deutschen Beteiligung. Sie sprachen im Hin-
blick auf den festgestellten Bedarf von dem Ausfliegen
von Kranken und Verletzten. Gleichzeitig sprachen Sie
von der Diskussion mit den Fraktionen – das ist zunächst
erfreulich – in bezug auf einen konstitutiven Beschluß.
Muß daraus geschlossen werden, daß Sie der Auffassung
sind, daß es auch bei einem in diesem Bedarfsumfang
vorzunehmenden Einsatz für das Ausfliegen Sicherungs-
gruppen geben müßte, das heißt, würde es sich um einen
militärischen Einsatz handeln, der der konstitutiven Be-
schlußfassung durch das Parlament bedarf?
Zweite Frage. Sie sprachen die Anforderung der UNO
und das Verhalten der anderen europäischen größeren
Nationen an. Zugleich wiesen Sie auf Haushaltszwänge
– sicher auch durch die Belastungen, die der Bundes-
wehr durch andere Einsätze bereits auferlegt sind – und
anderes hin. Ist im Zusammenhang mit solchen Anforde-
rungen zukünftig an den Versuch eines Rahmenkonzep-
tes für deutsche Beteiligungen an Friedensmissionen ge-
dacht? Wenn ja, wann gedenken Sie hier erste Überle-
gungen vorzutragen?
D
Bei den heute – nicht in diesem Raum, sondern im
Kabinett – stattfindenden Erörterungen war in der Tat an
eine Maßnahme gedacht, die in die Aktion nach Kap.
VII der UNO-Charta einzubeziehen ist. Sie würde damit
im Rahmen der Interfet-Mission stattfinden und somit
eine Integration in die mit Interfet generell verbundenen
Kommando- und Sicherungsstrukturen bedeuten. Da für
eine derartige Maßnahme ein konstitutiver Beschluß
notwendig ist, hat die Bundesregierung diese Möglich-
keit für den Eventualfall vorgesehen; das ist eine Selbst-
verständlichkeit.
Hinsichtlich der finanziellen Enge auch in diesem Be-
reich, weil es in den letzten Jahren viele Einsätze der
Bundeswehr außerhalb Deutschlands gab, müssen diese
Maßnahmen in den Gesamtzusammenhang der deut-
schen Leistungen für UNO- und internationale Maßnah-
men aller Art gestellt werden. Dies hat die Bundesregie-
rung heute ebenfalls erörtert. Der Bundesfinanzminister
hat im Kabinett gesagt, er arbeite an einer entsprechen-
den Übersicht. Ich will nicht sagen: Konzept; manchmal
ist eine Übersicht schon erhellend genug. Er hat kein
Datum genannt, wann er die Überlegungen abgeschlos-
sen haben würde, so daß ich Ihnen das an dieser Stelle
nicht sagen kann. Aber die Bundesregierung nimmt
durch Ihre Frage das Interesse des Parlaments daran zur
Kenntnis.
Ich kann Ihnen aber, um die Diskussion mit einer
auch im internationalen Rahmen zu gebrauchenden
Komponente zu belegen, folgendes sagen: Überpropor-
tional, auch im Vergleich zu vielen anderen Staaten Eu-
ropas und den hochentwickelten Staaten darüber hinaus,
ist das finanzielle Engagement der Bundesrepublik
Deutschland in Rußland und einigen anderen osteuropäi-
schen Staaten, was man sicherlich in einem Gesamtbud-
get – darauf hat der Finanzminister hingewiesen – bei
einer Betrachtung, die sich alleine auf UNO-
Institutionen bezieht, gegenrechnen muß.
Herr
Gröhe, ich gebe Ihnen noch einmal das Wort zu einer
letzten Frage im Rahmen der Befragung der Bundesre-
gierung.
Eine Nachfrage. Sie
sprachen davon, daß im Rahmen einer Übersicht mögli-
cherweise der Kern eines Konzeptes beinhaltet sei. Des-
wegen meine Frage, ob an diesen Überlegungen außer
dem Finanzminister auch das Verteidigungsministerium
und das Auswärtige Amt beteiligt sind.
D
Das ergibt sich fast aus der Sache.
– Nein. Diese Regierung vollzieht ihr Handeln ganzgrundsätzlich in dem Rahmen, der durch Verfassung,Recht und Gesetz vorgegeben ist. Da eine Übersicht desFinanzministers über Ausgaben von Einzeletats die be-treffenden Ressorts berührt und der Finanzminister beider Aufstellung derselben mit den Betroffenen redet, er-gibt sich das fast von selbst.
Adelheid Tröscher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5079
(C)
(D)
Ich be-
ende nun den Themenbereich der heutigen Kabinettsit-
zung. Vielen Dank, Herr Staatsminister Dr. Zöpel.
Gibt es darüber hinaus Fragen an die Bundesregie-
rung? – Bitte schön, Herr Kollege Niebel.
Herr Präsident! Ich entnehme
einer Tickermeldung der dpa von 11:51 Uhr, daß sich die
Bundesregierung heute auch mit dem Schlechtwetter-
geld befaßt hat. Dieser Tickermeldung ist zu entnehmen,
daß das Kabinett entschieden hat, daß die Schlechtwet-
tergeldregelung nach zwei Jahren überprüft werden soll.
Da Frau Staatssekretärin Mascher in der heutigen De-
batte des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung die
Eventualität einer derartigen Überprüfung mit keinem
Wort erwähnt hat, weil sie vielleicht auch nicht darüber
informiert war, daß das Kabinett darüber berät, würde
mich interessieren, wie denn diese Überprüfung tatsäch-
lich aussehen soll und ob wir noch mit Änderungsanträ-
gen zu rechnen haben.
Zur
Antwort steht zur Verfügung die Parlamentarische
Staatssekretärin Frau Mascher.
U
Herr Niebel,
ich habe mich inzwischen informiert. Das Bundeskabi-
nett hat sich heute mit einer Gegenäußerung zur Stel-
lungnahme des Bundesrates beschäftigt. Der Bundesrat
hat gewünscht, daß nach zwei Jahren ein Bericht der
Bundesregierung über die Entwicklungen im Bereich des
Schlechtwettergeldes vorgelegt wird. Die Bundesregie-
rung hat diesem Wunsch des Bundesrates in ihrer Ge-
genäußerung Rechnung getragen. Ein solcher Bericht
wird in zwei Jahren vorgelegt werden.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege Niebel.
Frau Staatssekretärin, mich
würde die Abwicklung dieses Berichts interessieren;
denn der Tickermeldung ist nur zu entnehmen, daß die
Bundesregierung etwas Derartiges zugesagt hat. Ist denn
tatsächlich bis zur abschließenden Beratung am nächsten
Dienstag noch mit einem Änderungsantrag der Bundes-
regierung oder der Regierungsfraktionen zu rechnen,
oder ist diese Zusage mehr als allgemeines Versprechen
zu verstehen?
U
Das ist eine
Zusage, die die Bundesregierung auf einen Wunsch des
Bundesrates hin gemacht hat. Das muß im Gesetz nicht
festgelegt werden.
Damit
sind wir am Ende der Regierungsbefragung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 14/1649
Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz auf. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick zur
Verfügung.
Wir kommen zur Frage 1 des Abgeordneten Dr. Hein-
rich Fink:
Ist mein Eindruck richtig, daß die Bundesregierung in derFrage des Künstlergemeinschaftsrechts im Umdenken begriffenist, wenn in der „Agenda 1999“ des Beauftragten der Bundesre-gierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien zu lesenist, daß die Schaffung eines solchen Rechts „erwogen“ wird,während es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Frak-tion vom 1. Juni 1999 noch rundweg ab-gelehnt wurde?
D
Herr Präsident! Ich darf die
Frage des Kollegen Dr. Fink wie folgt beantworten:
Die Bundesregierung ist hier nicht im Umdenken be-
griffen. Sie hat vielmehr in diesem Jahr in ihren öffentli-
chen Stellungnahmen stets mitgeteilt, sie prüfe den Ge-
setzgebungsbedarf. Gegenwärtig beabsichtige sie aber
nicht, einen solchen Gesetzentwurf einzubringen. An
diesen Passagen aus der Antwort der Bundesregierung in
der Bundestagsdrucksache 14/1106 vom 1. Juni 1999,
die unter Federführung des Bundesministeriums der Ju-
stiz in Abstimmung mit dem Beauftragten der Bundesre-
gierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien,
dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem Bun-
desministerium der Finanzen erteilt wurde, hält die Bun-
desregierung auch weiterhin fest.
Die von Ihnen angesprochenen Sätze in der Agenda
1999 des Beauftragten der Bundesregierung für Angele-
genheiten der Kultur und der Medien stehen hierzu nicht
im Widerspruch. In der Agenda 1999 heißt es nämlich
ebenfalls, nach Prüfung des Gesetzgebungsbedarfs solle
gegebenenfalls – mit anderen Worten: bei positivem
Ausgang der Prüfung des Gesetzgebungsbedarfs – die
Schaffung eines sogenannten Künstlergemeinschafts-
rechts, auch Urhebernachfolgevergütung oder „Goethe-
groschen“ genannt, geregelt werden.
Zu den rechtspolitischen und rechtlichen Gründen, die
derzeit gegen ein solches Vorhaben sprechen, darf ich
Sie auf die Bundestagsdrucksache 14/1106 verweisen.
Wollen
Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege Fink?
Ich bedanke mich sehr
herzlich für die ausführliche Antwort. Aber mich würde
doch interessieren: Was heißt „gegebenenfalls, bei posi-
tivem Ausgang der Prüfung“?
D
Herr Kollege, die Bundesregie-
5080 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
rung wird – wie bei jedem Gesetzgebungsvorhaben –
sorgfältig prüfen, ob ein Regelungsbedarf besteht und,
wenn sie das bejaht, wie dieser Regelungsbedarf auszu-
füllen ist. Aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre
Kleine Anfrage, die ich hier zitiert habe, geht hervor, daß
die Bundesregierung derzeit einen gesetzgeberischen
Handlungsbedarf nicht erkennt.
Wollen
Sie eine weitere Zusatzfrage stellen? – Bitte schön.
Können Künstler damit
rechnen, gegebenenfalls, bei positivem Ausfall der Prü-
fung, auch eine Einzelfallprüfung zugestanden zu be-
kommen?
D
Herr Kollege, die Bundesregie-
rung ist mit den Problemen der bildenden Künstlerinnen
und Künstler und auch der übrigen Künstlerinnen und
Künstler sehr genau vertraut. Sie ist im Gespräch mit den
Interessenverbänden, und sie wird auf Grund dieser Ge-
spräche dann entscheiden, ob sie über das hinaus, was
bisher vorgesehen ist und was auch in dieser Antwort
steht, nämlich daß wir durchaus Handlungsbedarf im
Urheberrecht und auch im Urhebervertragsrecht, aber
auch auf anderen – steuerrechtlichen und wirtschafts-
rechtlichen – Gebieten sehen, aktiv werden wird. Wir
haben also die gesamte soziale Situation der Künstlerin-
nen und Künstler im Auge. Nach dieser Prüfung und
nach den Gesprächen wird die Bundesregierung ent-
scheiden, ob sie gesetzgeberisch tätig wird oder nicht.
Vielen
Dank. – Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen aus den Geschäftsbereichen des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie und des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend sollen schriftlich beantwortet werden. Das sind
die Fragen 2 und 3.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 4 des Kollegen Klaus Hof-
bauer von der CDU/CSU-Fraktion:
Was hat die Bundesregierung bei der Sitzung der deutsch-tschechischen Umweltkommission am 20./21. September 1999 inDresden erreicht, um die geplante Hühneraufzuchtstation in Vse-ruby unmittelbar an der Grenze zu Deutschland zu verhindern?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
G
Danke schön, Herr Vorsitzender. – Herr Hofbauer, die
Antwort lautet folgendermaßen:
Die tschechische Delegation zur Sitzung der Umwelt-
kommission am 20./21. September 1999, die unter der
Leitung des Umweltministeriums stand, bestätigte, daß
die Hühneraufzuchtstation bei Vseruby bereits geneh-
migt sei. In einem ersten Schritt soll eine Anlage für
200 000 Aufzuchthennen errichtet werden. Gegen diese
Anlage können aus Sicht des Tierschutzes in bezug auf
die Käfiggröße keine zwingenden Einwände erhoben
werden, da derartige Anlagen von der neuen EU-
Richtlinie nicht erfaßt sind.
Um die grenzüberschreitenden Umweltauswirkungen,
die nach bayerischen Berechnungen unterhalb der nach
gängiger Genehmigungspraxis zulässigen Werte liegen
sollen, zu überwachen, wurde die Durchführung eines
gemeinsamen Imissionsmeßprogramms vereinbart. Das
Luftmeßprogramm wird vom Bayerischen Landesamt
für Umweltschutz durchgeführt. Grundwassermessungen
sind von der Betreiberfirma Česka dzubež vorgesehen.
Die Meßergebnisse sollen gemeinsam ausgewertet wer-
den.
Die tschechische und die deutsche Seite gaben ihrer
Erwartung Ausdruck, daß in den Genehmigungsverfah-
ren für zwei weitere geplante Anlagen für Legehennen
EU-Normen als Maßstab angelegt werden.
Zusatz-
frage, Herr Kollege. – Bitte schön.
Frau Staatssekretärin.
Sie geben ja selbst zu, daß diese Anlage, die unmittelbar
an der Grenze errichtet wird, Auswirkungen auf die
deutsche Seite hat. Es besteht seit Januar dieses Jahres
ein Umweltabkommen. In diesem Umweltabkommen ist
zum Beispiel festgehalten, daß bei relevanten Anlagen
oder Entscheidungen auch unsere Seite rechtzeitig und
frühzeitig eingeschaltet wird.
Sie wissen, Frau Staatssekretärin, daß Ihr Haus nichts
gewußt hat. Erst auf Grund unserer Initiativen ist Ihr
Haus überhaupt über die Anlage informiert worden.
Welche Bedeutung hat dieses Umweltabkommen über-
haupt, wenn in solchen ganz konkreten Fällen diese Ver-
einbarung bzw. dieses Abkommen nicht greift?
G
Zu Ihrer letzten Anmerkung: Was die Bekanntmachungauf Bundesebene angeht, so kann ich Ihnen leider nursagen, daß die Genehmigungspraxis vorangeschrittenwar, bevor die neue Bundesregierung tätig werdenkonnte. Das heißt, der Antrag war bereits 1997 gestelltworden, und die Genehmigung war dann auf tschechi-scher Seite im Jahre 1998 erteilt worden. Die BayerischeStaatsregierung hat ja selbst auch erst im Februar 1999davon Kenntnis erhalten.Insofern ist die Bundesregierung sofort tätig gewor-den, nachdem sie davon Kenntnis hatte. Der alten Bun-desregierung war ja vorher die Möglichkeit verwehrt,schon vorher tätig zu werden. Daher ist es sehr schwie-rig, jetzt noch auf das Projekt, das in Vseruby realisiertwerden soll, Einfluß zu nehmen. Wir haben eine Verrin-Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5081
(C)
(D)
gerung erreicht: Es war geplant, dort 600 000 Kükenaufzuziehen. Jetzt sind es 200 000.Nach Einschätzung des Bayerischen Landesamtes fürUmweltschutz geht man davon aus, daß, was die Immis-sionen angeht, überhaupt keine Gefährdungen für diedeutsche Seite zu erwarten sind. Bei den noch zu ge-nehmigenden Anlagen, auf die auch noch Einfluß ge-nommen werden sollte, werden für die deutsche Seitenoch weniger grenzüberschreitende Immissionen erwar-tet, da sich diese Anlagen 20 bis 30 Kilometer von derGrenze entfernt befinden.
Eine
weitere Zusatzfrage, Herr Hofbauer? – Bitte.
Meine Zusatzfrage
geht in Richtung der Verbindlichkeit der Vereinbarung,
die in Dresden getroffen wurde. Ist es verbindlich, daß
die Aufzuchtstation nicht für 600 000 Hühner, sondern
für nur 200 000 Hühner gebaut werden soll, und welche
Bedeutung hat diese Vereinbarung?
G
Es heißt – ich beziehe mich dabei auf einen Bericht der
Bayerischen Staatsregierung –, daß es am Standort Vse-
ruby zunächst um die Errichtung von nur einer Halle für
die Aufzucht von 200 000 Junghennen geht. Dazu ist
noch zu sagen, daß der Betrieb davon abhängt, ob die
beiden anderen Hallen gebaut werden, die für die Unter-
bringung von Großhühnern, die zur Eierproduktion vor-
gesehen sind – das sind ja noch einmal 1,2 Millionen
Hühner –, geplant sind. Wenn nämlich der Bau dieser
Hallen nicht genehmigungsfähig ist, dann wäre der Bau
einer Aufzuchtstation für 200 000 Junghennen in Frage
gestellt.
Insofern besteht hier Handlungsbedarf, wobei sich das
Bundesumweltministerium im Rahmen seiner Kompe-
tenzen einbringt. Zum Beispiel könnte auf den deutschen
Investor Einfluß genommen werden, wenn wir ihn denn
kennen würden. Leider ist die bisherige Sachlage derge-
stalt, daß die tschechische Betreiberseite den Namen des
deutschen Investors bzw. Betreibers erst dann bekannt-
geben will, wenn die beiden genannten Großhallen ge-
nehmigt sind. Es bedarf, so denke ich, gemeinsamer An-
strengungen, hier tätig zu werden und zu einer anderen
Reihenfolge zu kommen. Für jede Hilfe und alle Hin-
weise in diesem Zusammenhang sind wir dankbar.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Girisch. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin,
Sie können also nicht verbindlich zusagen, daß kein Er-
weiterungsbau über die 200 000 Küken hinaus mehr
vorgesehen ist?
G
Wir können der tschechischen Regierung schlecht ihre
Genehmigungspraxis vorschreiben. Was wir tun können,
ist, im Rahmen des bestehenden Twinning-Projektes und
im Rahmen unserer politischen Möglichkeiten im Vor-
griff auf den EU-Beitritt von Tschechien dahin gehend
zu wirken, daß die in den EU-Richtlinien enthaltenen
Rahmenbedingungen verwirklicht werden. Bestandteil
der Vereinbarung ist, daß bei den geplanten Anlagen zur
Eierproduktion die Einhaltung der neuen EU-
Anforderung zur Käfighaltung erfolgen muß.
Eine
weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Können wir davon aus-
gehen, daß die Bundesregierung ihrerseits alles unter-
nimmt, damit keine weitere Käfighaltung mehr stattfin-
det?
G
Die neue Bundesregierung hätte schon früher all ihre
Möglichkeiten ausgeschöpft. Ich denke, das hätte auch
die alte Bundesregierung getan, wenn sie es gewußt hät-
te. Die neue Bundesregierung hat in dem Augenblick
eingegriffen, als das Projekt auf deutscher Seite bekannt
wurde. Im Protokoll der Sitzung der Umweltkommission
am 20./21. September steht, daß beide Seiten, die tsche-
chische und die deutsche, ihrer Erwartung Ausdruck
verliehen haben, daß in den Genehmigungsverfahren für
zwei weitere geplante Anlagen – da haben wir noch die
Möglichkeit, tätig zu werden – die EU-Normen als Maß-
stab festgelegt werden.
Ich kann Ihnen nur noch einmal bestätigen, daß wir
im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun werden, da-
mit das, was auf EU-Ebene bereits geregelt ist, auch für
die neuen Anwärter Gültigkeit haben soll.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Lippmann von der PDS-Fraktion.
– Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, ent-
spricht die neue EU-Richtlinie zur Käfighaltung den Er-
klärungen, die die rotgrüne Bundesregierung im Vorfeld
ihres Amtsantrittes abgegeben hat? Inwieweit hat die
deutsche Seite dieser EU-Richtlinie zugestimmt?
G
Die Umsetzung der EU-Richtlinie, die im Jahr 2000 in
Kraft treten soll? Ist es richtig, daß Sie sich darauf be-
ziehen? – Also: Ja, ich gehe davon aus.
Das war keine Antwort auf
meine Frage.
Parl. Staatssekretärin Gila Altmann
5082 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
Wollen
Sie eine weitere Frage stellen? Das können Sie gerne
tun. – Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie
haben meine Frage nicht beantwortet. Ich habe nach der
deutschen Position zu dieser EU-Richtlinie gefragt.
G
Ja, Sie haben gefragt, ob sie den rotgrünen Befindlich-
keiten entspricht. Darauf habe ich gesagt: Davon gehe
ich einmal aus.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Beide Fragen, die Fragen 5 und 6, werden
jedoch schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amtes, und zwar zunächst zur Frage 7 des Ab-
geordneten Christian Schmidt:
Wie beurteilt die Bundesregierung angesichts der zahlreichenbevorstehenden Schließungen deutscher Auslandsvertretungendie seit Jahren auf dem Tisch liegenden Vorschläge zur Schaf-fung gemeinsamer Botschaften der EU in Drittländern „unter ei-nem Dach“?
Zur Beantwortung steht Staatsminister Dr. Ludger
Volmer zur Verfügung.
D
Herr Kollege Schmidt, Sie fragten nach den Be-
mühungen der Bundesregierung, gemeinsame Botschaf-
ten oder Kanzleien mit anderen EU-Staaten zu errichten.
Diese Frage beantworte ich wie folgt:
Sie beziehen sich in Ihrer Frage auf die Rahmenver-
einbarung über die gemeinsame Unterbringung diplo-
matischer und konsularischer Vertretungen, mit der die
EU-Mitgliedstaaten im Februar 1996 „Leitlinien für die
gemeinsame Nutzung von Gebäuden und unterstützen-
den Diensten“ verabschiedeten. Ziel war es, die Zusam-
menarbeit in Drittländern zu fördern und Synergieeffekte
bei der Verwaltung des Netzes der Auslandsvertretungen
zu erreichen.
Wir haben uns stets für die Stärkung eines gemein-
schaftlichen Handelns und Auftretens eingesetzt und ver-
folgen dabei neben dem politischen Ziel auch einen wirt-
schaftlicheren Einsatz der Mittel. Das Auswärtige Amt
hat sich in bilateralen Kontakten und in der Ratsarbeits-
gruppe für Verwaltungsfragen intensiv dafür eingesetzt.
Auch vor Ort werden von unseren Auslandsvertretungen
die Möglichkeiten von Gemeinschaftsvorhaben geprüft.
Mit Großbritannien und Frankreich nutzen wir bereits
gemeinsame Kanzleiräume in Almaty. In Reykjavik sind
die Botschaften Großbritanniens und Deutschlands ge-
meinsam untergebracht, in Lima die beiden Visastellen.
Soeben wurden die Räumlichkeiten der deutsch-
britischen Gemeinschaftskanzlei in Quito bezogen. Wir
sind am Projekt einer EU-Gemeinschaftskanzlei in Dar-
essalam mit Großbritannien, den Niederlanden und der
Kommission beteiligt. Mit Frankreich gibt es eine ent-
sprechende Zusammenarbeit in Chisiman und Praia, wo
wir die Infrastruktur der französischen Botschaft nutzen.
In Abuja wird das bisher anspruchsvollste Gemein-
schaftsvorhaben verfolgt, nämlich eine Gemeinschafts-
kanzlei mit Frankreich, Italien, Österreich, den Nieder-
landen, Griechenland und der Kommission. Die ge-
nannten Vertretungen sind jedoch auf politischer Ebene
getrennt und haben auch im völkerrechtlichen Sinne ei-
nen eigenen Status.
Unser Ziel bleibt – über die gegenwärtigen Formen
der Zusammenarbeit hinaus –, weitere Schritte auf dem
Weg hin zu vollständig integrierten Gemeinschaftsbot-
schaften zu tun. Hier gibt es jedoch noch völkerrechtli-
che sowie nationale rechtliche Hindernisse.
Innerstaatlich haben wir jetzt erneut die Initiative er-
griffen, um die verfassungsrechtliche Lage zu klären und
im Dialog mit EU-Staaten nach Möglichkeiten der Aus-
weitung und Vertiefung der Zusammenarbeit der Aus-
landsvertretungen in Drittländern zu suchen.
Zusatz-
frage, Herr Schmidt.
Herr
Staatsminister, im Hinblick auf die soeben in der Sitzung
des Auswärtigen Ausschusses von Herrn Minister Fi-
scher angedeutete Notwendigkeit weiterer Schließungen
von Auslandsvertretungen in den kommenden Jahren
möchte ich die Frage stellen: Wie groß schätzen Sie das
Einsparpotential für den Haushalt in den nächsten Jahren
durch die Synergieeffekte auf Grund der Einrichtung
solcher Botschaften oder Kanzleien unter einem gemein-
samen Dach ein? An welche weiteren, über die von Ih-
nen genannten Projekte hinaus denkt man, etwa auch
daran, größere Botschaften zusammenzulegen?
D
Ich kann Ihnen keine Zahl nennen. Wir verfolgendiesen Ansatz, weil wir davon ausgehen, daß die Ein-sparpotentiale nennenswert sind. Sie brauchen nur zu be-rücksichtigen, daß Doppelstrukturen bei Gemeinschafts-einrichtungen vermieden werden können. Dabei geht esnicht so sehr um die eigene Belegschaft, sondern eherum den Bereich der Ortskräfte. Hier kann eine großeZahl von Kräften eingespart werden. Man braucht zumBeispiel nur eine Pforte, nur ein Büro, in dem die Nutzerder Botschaft eingewiesen werden, also nur eine Infor-mationsstelle; man braucht möglicherweise nur einenWagenpark. Man kann die Sachmittel aufteilen, die inden Büros benötigt werden.Wir verfolgen diesen Weg. Wir stoßen dabei aber aufpraktische Hindernisse von der Art, wie ich sie gerade
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5083
(C)
(D)
geschildert habe. Wir haben die Erfahrung gemacht, daßetwa Planungen, die wir mit der französischen Seite vor-genommen hatten, auf Grund höchstrichterlicher Ent-scheidungen in Frankreich zurückgenommen werdenmußten. Deshalb bleiben, unabhängig von unserem gu-ten Willen, in dieser Richtung weiter zu planen, einfachobjektive Hindernisse bestehen. Wir arbeiten aber daran.
Herr
Schmidt, eine weitere Zusatzfrage? – Das ist nicht der
Fall.
Dann eine Zusatzfrage des Kollegen Wiese von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Staatsmi-
nister, wir haben in der letzten Sitzungswoche anläßlich
der Haushaltsdebatte hier im Plenum darüber gesprochen
– der Kollege Schmidt genauso wie ich –, daß es nach
den Ausführungen von Außenminister Joschka
Fischer aus der Sicht der Bundesregierung notwendig
sei, mehrere Botschaften zu schließen. Ich nannte bei-
spielsweise das Generalkonsulat in Temeswar in Rumä-
nien und weitere Konsulate in anderen osteuropäischen
Staaten. Wir sind aber davon ausgegangen, daß gerade
den osteuropäischen Staaten und den deutschen Minder-
heiten dort im Hinblick auf die Osterweiterung der EU
eine große Bedeutung zukommt. Ist die Bundesregierung
nicht der Ansicht, daß, wie in der Anfrage des Kollegen
Schmidt deutlich geworden ist, trotz der Synergie- und
Einsparungseffekte durch Zusammenlegung von Bot-
schaften die Schließung von Konsulaten in Staaten, die
der Europäischen Union beitreten sollen, vermieden
werden sollte?
D
Sie haben das Beispiel Temesvar angesprochen.
Ich war selber letzte Woche als Begleiter des Bundes-
kanzlers in Rumänien und hatte Gelegenheit, dort mit
Vertretern der deutschen Minderheiten zu sprechen. Die
Schließung von Generalkonsulaten ist sicherlich ein
Schritt, der bitter ist. Wir tun das auch überhaupt nicht
gerne. Sie wissen, daß es keine politischen Hintergründe
gibt, sondern ausschließlich haushaltstechnische. Wir
versuchen, dies aufzufangen, indem wir Parallelstruktu-
ren entwickeln, so daß andere die Arbeit mit überneh-
men können. So versuchen wir, die Arbeit der Konsulate
entweder auf andere Konsulate, die in dem Land noch
existieren, oder auf die Botschaften zu verlagern. Eine
weitere Möglichkeit, zu Synergieeffekten zu kommen,
liegt in der Suche nach gemeinsamen europäischen Lö-
sungen. Es ist vernünftig, darüber nachzudenken, daß
man gemeinsame Auslandsvertretungen in dem Maße
betreibt, wie sich die Gemeinsame Europäische Außen-
und Sicherheitspolitik entwickelt.
Eine
weitere Zusatzfrage der Kollegin Lippmann. Übrigens,
Frau Lippmann, die Sie betreffende Namensänderung ist
noch nicht im Handbuch enthalten. Ich möchte Sie bit-
ten, das dem Bundestag offiziell mitzuteilen.
Herr Staatsminister, soweit
mir bekannt ist, ist die Schließung der Botschaft in Ru-
anda geplant. Es ist bekannt, daß Ruanda seit vielen Jah-
ren ein starkes Konfliktpotential aufweist. Inwieweit er-
achten Sie angesichts dieses Konfliktpotentials eine
Schließung für sinnvoll, gerade auch im Hinblick auf die
frühzeitige Konflikterkennung und Krisenvorbeugung?
D
Ich möchte zunächst darauf aufmerksam machen,
daß diese Frage eigentlich keine Zusatzfrage zu dem be-
handelten Komplex der EU-Botschaften ist, weil es hier
generell um Botschaftsfragen geht. Ich will dennoch sa-
gen: Soweit ich informiert bin, steht die Schließung der
Botschaft in Ruanda nicht an; wahrscheinlich meinen Sie
Burundi. Auch in diesem Fall gilt, was gerade gesagt
wurde: Das ist ein bitterer Schritt, so er denn endgültig
getan werden müßte. Zu rechtfertigen ist er nicht aus der
Regionalpolitik, sondern nur aus der Haushaltsproble-
matik heraus, in die diese Regierung, wie Sie wissen,
ohne eigene Schuld geraten ist.
Eine
weitere Zusatzfrage? – Bitte schön.
Vielen Dank, daß Sie so
freundlich waren, meine Zusatzfrage zu beantworten,
auch wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang
zur Ausgangsfrage stand.
Gibt es aus Ihrer Sicht Möglichkeiten, die Schließung
in Burundi zu verhindern?
D
Wir haben das Problem, daß wir zirka 20 Aus-
landsvertretungen schließen müssen; hinzu kommen
noch mehrere Goethe-Institute. Der Titel des Auswärti-
gen Amtes ist nun einmal so beschaffen, daß dort nur
relativ wenige Mittel für politische Projekte, für Pro-
gramme, die man kürzen könnte, vorhanden sind. Fast
zwei Drittel aller Mittel des Auswärtigen Amtes sind
Strukturmittel. Wenn wir den Kürzungsvorgaben nach-
kommen wollen – das müssen und das wollen wir –,
dann bleibt uns nichts anderes übrig, als auch im Bereich
der Infrastruktur zu kürzen. Daß dies mit manchmal be-
denklichen Nachteilen verbunden ist, liegt auf der Hand.
Wir wollen auch nichts schönreden.
Die Fra-
ge 8 wird schriftlich beantwortet. Vielen Dank, Herr
Staatsminister Volmer.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
5084 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mitwoch, den 29. September 1999
(C)
Verfügung. Als erste Frage die Frage Nummer 9 des
Abgeordneten Dietmar Schlee:
In welchem Umfang und in welchen zeitlichen Abschnittenplant die Bundesregierung die Kürzung bzw. den Ausstieg ausder finanziellen Beteiligung des Bundes an der Beschaffung vonFührungs- und Einsatzmitteln für die Bereitschaftspolizeien derLänder?
F
Herr Kollege Schlee, folgende
Antwort: Der Regierungsentwurf zum Haushalt 2000
sieht für das Kapitel 0624, das den Titel „Beschaffungen
für die Bereitschaftspolizeien der Länder“ trägt, eine
Kürzung von 35 auf 32 Millionen DM vor. Im Haus-
haltsjahr 2001 verringert sich der Ansatz auf 6 Millionen
DM; für die Folgejahre 2002 und 2003 sind in der
Finanzplanung derzeit keine Mittel für die Beschaffung
von Führungs- und Einsatzmitteln in Ansatz gebracht
worden.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Schlee.
Herr Staatssekretär,
Sie kennen die Position der Innenministerkonferenz, die
Position aller Bundesländer, die diese Pläne einheitlich
ablehnen. Nachdem Sie das wissen, wollen Sie wirklich
– anders werden Sie das nicht bewerkstelligen können –
das Verwaltungsabkommen zwischen dem Bund und den
Ländern bezüglich der Bereitschaftspolizeien kündigen?
Das wäre wohl die Konsequenz. Haben Sie sich das ge-
nau überlegt? Wann würden Sie gegebenenfalls kündi-
gen? Für den Fall, daß Sie nicht kündigen: Wie wollen
Sie sich in Zukunft in diesen Fragen vertrauensvoll mit
den Ländern auseinandersetzen?
F
Wir haben über diese Fragen
vertrauensvoll mit den Ländervertretern geredet. Es gab
dazu sehr differenzierte Stellungnahmen. Es ist völlig
klar: Wenn es um Einsparungen geht, ist keiner Begei-
stert; das liegt in der Natur der Sache. Was das Verwal-
tungsabkommen anbelangt, haben wir derzeit nicht die
Absicht, dies zu kündigen. Deswegen wollte ich auch
sehr deutlich machen, daß wir diese Mittel in den Jahren
2002 und 2003 aussetzen.
Eine
weitere Zusatzfrage gibt es nicht.
Wir kommen zur Frage 10 des Kollegen Schlee:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß bei erhebli-chen Mittelstreichungen in diesem Bereich die Einsatzfähigkeitder Bereitschaftspolizeien der Länder im bisherigen Umfang undin bisheriger Qualität nicht mehr geleistet werden kann sowie er-hebliche Einbußen im Bereich der Inneren Sicherheit zu erwartensind, da für komplexe Einsatzlagen wie z. B. Castor-Transporte,bundesweite demonstrative Aktionen oderGroßveranstaltungen wie die EXPO 2000 nicht mehr wie bisherausreichend und kompatibel ausgestattete Einsatzeinheiten zurVerfügung stehen werden?
F
Diese Auffassung wird von der
Bundesregierung – das überrascht Sie wohl nicht – nicht
geteilt, weil die Einsatzfähigkeit und Kompatibilität der
Bereitschaftspolizeien der Länder in bisherigem Umfang
und damit die Qualität ein gemeinsames Anliegen der
Länder und des Bundes sind und sich auf die von allen
vereinbarten Inhalte der Verwaltungsabkommen begrün-
det. Danach beschafft der Bund Führungs- und Einsatz-
mittel für die Bereitschaftspolizeien im Rahmen der zur
Verfügung stehenden Haushaltsmittel. Das bedeutet, daß
auch die Länder eigene Beschaffungen durchführen
müssen.
So wünschenswert eine von den Ländern geforderte
Bereitstellung von Finanzmitteln für die Bereitschafts-
polizeien ist, so müssen dennoch in diesem Bereich im
Rahmen der Konsolidierungsbemühungen Mittelkürzun-
gen vorgesehen werden. Die beabsichtigten Reduzierun-
gen stellen zunächst einen Planungsrahmen dar, der un-
ter dem Vorbehalt einer erneuten haushalts- und sicher-
heitspolitischen Prioritätensetzung steht.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Schlee. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist
Ihnen bekannt, daß es in einer ganzen Reihe von Län-
dern unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung
als Folge dessen, was Sie planen, Überlegungen gibt, ge-
schlossene Einheiten der Bereitschaftspolizei stillzule-
gen? Wie schätzen Sie die Konsequenzen ein? Sie haben
vorhin davon gesprochen, daß das Verwaltungsabkom-
men ausgesetzt würde. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie
noch einen Satz dazu sagen würden, wie man ein Ver-
waltungsabkommen einseitig aussetzt.
F
Ob wir es einseitig aussetzenoder nicht – an unseren Planungen gibt es derzeit nichtszu diskutieren. Sie sind Ihnen von mir zur Kenntnis ge-bracht worden.Herr Schlee, ich habe fast geahnt, daß Sie fragenkönnten: Welche Konsequenzen könnte das für die Be-reitschaftspolizeien der Länder haben? Ich will Ihnenfolgendes zu Gemüte führen: Wir hatten imEinzelplan 06 Kapitel 24 beispielsweise im Jahre 1995einen Ansatz von 38,97 Millionen DM. Beschaffungenwurden allerdings nur für 23,5 Millionen DM vorge-nommen. Im Jahre 1996 waren sogar 39 Millionen DMim Haushalt eingestellt. Abgerufen wurden aber nur12,6 Millionen DM. Im Jahre 1997 waren 34 Millio-nen DM im Haushalt vorgesehen und abgerufen wur-den lediglich 14,259 Millionen DM. Wenn man alsobetrachtet, wie in der Vergangenheit Beschaffungenvorgenommen und Haushaltsmittel ausgeschöpft wor-den sind, kann der Aufholbedarf im Grunde genommennicht so groß sein. Deswegen bin ich der Auffas-sung, daß wir mit unserer Planung für diese vier Jahreauf einem guten, vernünftigen Wege sind. Ich gehe da-von aus, daß auch die Ländervertreter dies einsehenwerden.Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5085
(C)
(D)
Weitere
Zusatzfrage, Herr Schlee?
Herr Staatssekretär,
ich habe natürlich erwartet, daß Sie diese Zahlen vortra-
gen werden, deren Aussagewert nahe Null ist. Ich frage
Sie, ob Sie bereit sind, mit mir nachzuvollziehen, daß
solche Investitionen natürlich nicht Jahr für Jahr in glei-
cher Höhe gemacht werden, daß aber das Gesamtbudget,
der Gesamtrahmen stimmen muß, weil alles andere in
höchstem Maße unsachgerecht wäre. Herr Staatssekre-
tär, ich darf Sie fragen, ob Sie das nachvollziehen kön-
nen.
F
Wenn man das Gesamtbudget
sieht, erkennt man eine große Differenz zwischen Soll
und Ist. Man muß darüber spekulieren, welches die
Gründe dafür sind. Herr Kollege Schlee, ich sage Ihnen:
Ich hätte diese Zahlenreihe noch für die Jahre 1994 und
1993 fortsetzen können. Ich wollte Sie aber nicht lang-
weilen. Deswegen habe ich mich auf diese drei Jahre
konzentriert. Ich bin der Auffassung und möchte das
auch noch einmal deutlich machen, daß wir diese Maß-
nahme nicht aus irgendeiner Beliebigkeit heraus vollzie-
hen, sondern daß auch wir verpflichtet sind, einen Ein-
sparbeitrag zu erbringen. Diesen müssen wir nicht nur
aus Lust und Laune heraus erbringen, sondern weil die
Finanzsituation so ist, wie sie ist. Deswegen ist dies eine
vertretbare Planung.
Zusatz-
frage des Kollegen Fuhrmann, bitte schön.
Herr Staatssekretär, inter-
pretiere ich Sie auf Grund Ihrer Antworten richtig, daß –
so meine ganz persönliche Hoffnung – möglicherweise
bis zu einer politischen Klärung der Endlagerfragen, die
auch etwas mit den Castor-Transporten zu tun haben,
deshalb kein Castor-Transport stattfindet, weil die not-
wendige Ausrüstung von Polizei und BGS durch das In-
nenministerium nicht gewährleistet sein könnte?
F
Herr Kollege Fuhrmann, ich
muß Sie leider enttäuschen. Ich glaube, daß diese Haus-
haltsplanungen und Haushaltsansätze mit der von Ihnen
aufgeworfenen Sachfrage nicht im Zusammenhang ste-
hen.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht
die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hen-
dricks zur Verfügung.
Die Fragen 11 und 12 des Kollegen Hinsken sollen
schriftlich beantwortet werden.
Die Fragen 13 und 14 sollen ebenfalls schriftlich be-
antwortet werden.
– Ja, der Kollege ist nicht anwesend. Das wird mir gera-
de gesagt. Es wird verfahren wie in der Geschäftsord-
nung vorgesehen.
Damit haben Sie sich, Frau Staatssekretärin, umsonst
herbemüht. Ich bedanke mich dafür. Es tut mir leid, daß
uns dies so spät zur Kunde gekommen ist.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Be-
antwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin
Ulrike Mascher zur Verfügung.
Die Frage 18 soll schriftlich beantwortet werden.
Die Frage 19 des Kollegen Thomas Dörflinger – er ist
anwesend – kommt jetzt zur Beantwortung:
Wie hoch beziffert die Bundesregierung den Fehlbetrag in dergesetzlichen Rentenversicherung, der durch die vorgeseheneAbsenkung der durch den Bund zu leistenden Versicherungs-beiträge der Zivildienstleistenden entsteht, und ist eine analogeRegelung auch für die Rentenversicherungsbeiträge der Wehr-pflichtigen in Planung?
U
Herr Dörflin-
ger, in Art. 29 Nr. 2a des Entwurfs des Haushaltssanie-
rungsgesetzes ist die Herabsetzung der Bemessungs-
grundlage für die Rentenversicherungsbeiträge sowohl
für Wehrdienstleistende als auch für Zivildienstleistende
von 80 Prozent auf 60 Prozent der Bezugsgröße vorge-
sehen. Das Beitragsaufkommen zur gesetzlichen Ren-
tenversicherung vermindert sich durch diese Änderung
nach den vorliegenden Schätzungen um rund 500 Mil-
lionen DM jährlich.
Zusatz-
frage, Herr Kollege?
Frau Staatssekre-
tärin, können Sie Angaben darüber machen, ob dieser
Fehlbetrag in der gesetzlichen Rentenversicherung
Auswirkungen auf den Bundeszuschuß an die gesetzli-
che Rentenversicherung hat?
U
Er hat keine
Auswirkungen auf den gesetzlich geregelten Bundeszu-
schuß.
Zweite
Zusatzfrage, bitte schön.
Verstehe ich Sierichtig, daß die gesetzliche Rentenversicherung diesen
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5086 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999
(C)
Fehlbetrag von 500 Millionen DM selbst zu erwirt-schaften hat?U
Nein. Die
Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung fließen
aus zwei Quellen: einmal aus dem Beitragsaufkommen,
das entweder von den abhängig Beschäftigten und ihren
Arbeitgebern gezahlt wird oder – für die Gruppen, die
wir hier angesprochen haben – auch aus Steuermitteln
finanziert wird, und darüber hinaus aus dem allgemeinen
Bundeszuschuß, dem besonderen Bundeszuschuß und
dem Bundeszuschuß, den wir aus dem Aufkommen der
Ökosteuerreform haben. Von daher muß in der Renten-
versicherung nicht etwas zusätzlich – zum Beispiel
durch Beitragssatzanhebung – erwirtschaftet werden;
vielmehr wird das aus den steuerfinanzierten Bundeszu-
schüssen aufgebracht.
Zusatz-
frage des Kollegen Seifert von der PDS-Fraktion.
Frau Staatssekretärin, können
Sie uns auch sagen, welche Auswirkungen die Senkung
der Versicherungsbeiträge für Zivildienstleistende auf
die Zivildienstleistenden selber hat, wenn diese eines
Tages in Rente gehen? Ich frage das insbesondere in
Anbetracht der Tatsache, daß viele von ihnen nach Be-
endigung ihrer Dienstzeit eine Zeitlang keine Arbeit ha-
ben, bevor sie zum Beispiel studieren.
U
Das kann ich
Ihnen nicht sagen. Sie selbst haben in Ihrer Frage ja
deutlich gemacht, daß es, je nach dem, was sich an die
Zivildienstzeit anschließt, sehr unterschiedliche Renten-
biographien gibt.
Weitere
Zusatzfrage des Kollegen Fuhrmann.
Frau Staatssekretärin, kön-
nen Sie mir die Frage beantworten, welche fiktive Höhe
als Berechnungsgrundlage für die 80 Prozent bzw. 60
Prozent für die Rentenversicherung der ZEL angenom-
men wird?
U
Herr Fuhr-
mann, das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Ich möchte
Ihnen das gerne präzise schriftlich beantworten.
Vielen
Dank.
Die Fragen 20 bis 23 werden schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zur Frage 24 der Kollegin Gudrun
Kopp von der F.D.P.-Fraktion:
Wie viele Strafverfahren und Verurteilungen hat es nachKenntnis der Bundesregierung in den letzten 10 Jahren nach§ 25 Ladenschlußgesetz gegeben?
U
Frau Kollegin
Kopp! Sie haben nach der Zahl der Strafverfahren und
Verurteilungen wegen eines Verstoßes gegen § 25 des
Ladenschlußgesetzes gefragt. Die Bundesregierung hat
keine Erkenntnisse über die Zahl der Strafverfahren und
Verurteilungen nach § 25 des Ladenschlußgesetzes. Ent-
sprechende kriminalstatistische Daten liegen der Bun-
desregierung nicht vor. Allerdings dürfte die Anzahl der
Strafverfahren und Verurteilungen nach § 25 des Laden-
schlußgesetzes gering sein. Verstößen gegen Bestim-
mungen des Ladenschlußgesetzes kann in der Regel mit
aufsichtsbehördlichen Mitteln begegnet werden. Die
Aufsichtsbehörden in den Bundesländern haben nach
§ 25 des Ladenschlußgesetzes insbesondere die Mög-
lichkeit, Verstöße als Ordnungswidrigkeiten zu verfol-
gen. Der Straftatbestand des § 25 des Ladenschlußgeset-
zes dürfte nur in besonderen Ausnahmefällen erfüllt
sein.
Zusatz-
frage, Frau Kopp.
Vielen Dank für die Beant-
wortung, Frau Staatssekretärin. Sind Sie angesichts die-
ser Antwort mit mir der Meinung, daß § 25 des Laden-
schlußgesetzes dann wegfallen könnte? Von Verstößen
bei regelrechten Straftaten einmal abgesehen: Wir haben
doch die einschlägigen Arbeitnehmerschutzgesetze und
das Strafgesetzbuch. Denken Sie nicht auch, dieses Ge-
setz brauchen wir nicht länger?
U
Wenn ich Sierichtig verstanden habe, sind Sie der Meinung, daß dasLadenschlußgesetz insgesamt wegfallen soll. Habe ichSie da richtig verstanden?
– Dazu ist anzumerken, daß wir – wie Sie wissen – an-läßlich der Beratungen am 1. November 1996 festgelegthaben, daß von der Bundesregierung ein Erfahrungsbe-richt im Zusammenhang mit dem Ladenschlußgesetzvorgelegt werden soll. In diesem Zusammenhang sindzwei Gutachten in Auftrag gegeben worden: eines andas Ifo-Institut, ein anderes an die Sozialforschungs-stelle Dortmund. Diese Erfahrungsberichte werden derÖffentlichkeit voraussichtlich im Oktober vorgestellt.Ich denke, wir sollten – wie das in diesem Hause, nochmit den alten Mehrheitsverhältnissen, vereinbart war –im Lichte dieser Erfahrungsberichte die Fragen, wie wirmit dem Ladenschluß umgehen und wie wir mit demLadenschlußgesetz umgehen, gemeinsam beraten und sozu einem Ergebnis kommen.Thomas Dörflinger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5087
(C)
(D)
Zweite
Zusatzfrage, Frau Kopp.
Eine kurze Zusatzfrage. Wir
beziehen uns heute ausschließlich auf § 25 des Laden-
schlußgesetzes. Insofern stelle ich Ihnen die Frage, ob
Sie aus den Gutachten, die in Auftrag gegeben wurden,
auch Erkenntnisse speziell zu diesem Paragraphen er-
warten. Wenn Sie bisher keinerlei Unterlagen zu Ver-
stößen oder Straftaten haben, dann erwarte ich eigentlich
auch aus diesen Gutachten keine neuen Erkenntnisse.
Insofern habe ich eben die Frage gestellt, ob man dann
nicht auf diesen Paragraphen verzichten kann. Im Rah-
men der Diskussion über das gesamte Gesetzeswerk
werden wir mit Sicherheit noch darüber reden. Aber
heute geht es mir speziell um § 25 des Ladenschlußge-
setzes.
U
Frau Kopp,
wir haben uns im Bundesarbeitsministerium und auch
zusammen mit dem Wirtschaftsministerium darauf ver-
ständigt, daß wir die Veröffentlichung der beiden in
Auftrag gegebenen Gutachten abwarten, bevor wir zu
einzelnen Punkten des Ladenschlußgesetzes Stellung
nehmen. Die wenigen Wochen bis zur Veröffentlichung
dieser Gutachten sollten wir noch warten.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin.
Der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Verteidigung wird übergangen, weil alle Fragen schrift-
lich beantwortet werden.
Wir kommen damit zum Bereich des Bundesministe-
riums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Par-
lamentarische Staatssekretärin Christa Nickels zur Ver-
fügung.
Ist nach den Erkenntnissen der Bundesregierung mittlerweilewieder eine reibungslose Praxis bei der Versorgung Pflegebe-dürftiger in Heimen mit Hilfsmitteln nach § 33 Fünftes BuchSozialgesetzbuch – vor dem Hintergrund der unveränderten Gesetzeslage –gegeben, oder zieht sie eine klarstellende Gesetzesänderung inErwägung?
C
Herr Kollege Weiß, der
Bundesregierung ist bekannt, daß in der Vergangenheit
Probleme bei der Versorgung von Versicherten der ge-
setzlichen Krankenversicherung mit Hilfsmitteln in
Pflegeheimen aufgetreten sind. Die Spitzenverbände ha-
ben ausdrücklich bestätigt, daß ein Anspruch auf indivi-
duelle Versorgung mit Hilfsmitteln im Sinne der gesetz-
lichen Krankenversicherung auch bei den in Pflegeein-
richtungen lebenden Versicherten zweifelsfrei besteht.
Das heißt, daß sich die aus § 33 Fünftes Buch Sozialge-
setzbuch ergebenden Rechtsansprüche auch uneinge-
schränkt für die in Pflegeeinrichtungen lebenden Versi-
cherten gelten. Im Rahmen der gesetzlichen Kranken-
versicherung ist die medizinische Notwendigkeit durch
eine ärztliche Verordnung zu bestätigen.
Ob Anspruch auf Übernahme der Kosten für ein
Hilfsmittel durch die gesetzliche Krankenversicherung
besteht, entscheiden die Krankenkassen nach Prüfung
der Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalls. Die
Spitzenverbände der Krankenkassen und die Pflegekas-
sen stimmen darin überein, daß die Übernahme der Ko-
sten für die Hilfsmittel, die zur notwendigen allgemei-
nen Ausstattung der Pflegeheime zu rechnen sind, nicht
zur Leistungspflicht der Krankenkassen gehört.
Eine Gesetzesänderung ist aus Sicht der Bundesregie-
rung nicht erforderlich. Das Bundesministerium für Ge-
sundheit hat allerdings Hinweise erhalten, daß Mißstän-
de – viele sind abgestellt worden; Ihre Frage war des-
halb gerechtfertigt – teilweise noch immer bestehen.
Deshalb hat mein Haus die Spitzenverbände der Kran-
kenkassen erneut um Sachstandsmitteilung gebeten.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Weiß?
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau
Staatssekretärin, es ist trotz Ihrer Klarstellung zutref-
fend, daß es offenkundig weiterhin Mißhelligkeiten gibt,
nämlich daß schwerkranke Menschen die Übernahme
der Kosten für von ihnen benötigte medizinische Hilfs-
mittel durch die Krankenkassen vor den Sozialgerichten
einklagen müssen. Wenn es nicht anders als auf dem
Klageweg möglich ist, daß die Kosten übernommen
werden, ist dann eine klarstellende Gesetzesänderung
vielleicht doch erwägenswert?
C
Herr Kollege Weiß, wennes wirklich nicht anders möglich wäre, würde ich Ihnenbeipflichten. Aber Sie kennen den Grundsatz, daß unter-gesetzliche Regelungen Vorrang vor gesetzlichen Re-gelungen haben. Dies ist auch deshalb sinnvoll, weilnicht alle Einzelfälle gesetzlich geregelt werden können.Wir sind sehr zuversichtlich, daß bei der Versorgungvon Pflegebedürftigen in Heimen weitere grundsätzlicheVerbesserungen möglich sind. Daran arbeiten wir imAugenblick. Ich denke, dies ist Ihnen auch bekannt.Die Spitzenverbände der Pflegekassen sind Endeletzten Jahres gebeten worden, sich in einer Arbeits-gruppe mit den für Investitionsförderung zuständigenLändern darauf zu verständigen, was zur Grundausstat-tung eines Pflegeheimes gehört. Die Arbeiten an einemAbgrenzungskatalog, in dem die Zuordnung der einzel-nen Hilfsmittel geregelt ist und mit dem den bisherigenAbgrenzungsstreitigkeiten ein Ende gesetzt werden soll– dies haben Sie im Interesse der Betroffenen zu Rechtgefordert –, sind kürzlich abgeschlossen worden. DieserAbgrenzungskatalog könnte entweder über die Rahmen-empfehlungen nach § 75 SGB XI oder die Vereinbarungzur Qualitätssicherung nach § 80 SGB XI verbindlichenCharakter für die Beteiligten erlangen. Die dazu not-
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5088 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999
(C)
wendigen Abstimmungsprozesse laufen im Augenblicknoch. Die Bemühungen der Selbstverwaltung und derLänder, hier zu einer durchgreifenden und dauerhaftenProblemlösung zu gelangen, werden – wie ich schondargelegt habe – von uns auch aus den von Ihnen schondargelegten Gründen nachdrücklich unterstützt. Wir sindzuversichtlich, daß wir über diesen Abgrenzungskatalogauf untergesetzlichem Wege zu einer eindeutigen Re-gelung mit eindeutigen Ansprüchen entweder gegenüberdem Heim bzw. gegenüber den in der Pflicht stehendenLändern oder aber gegenüber der gesetzlichen Kranken-versicherung kommen.
Zweite
Zusatzfrage, Herr Kollege Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau
Staatssekretärin, die Bemühungen um diesen Abgren-
zungskatalog sind, wenn ich es richtig sehe, anderthalb
Jahre alt. Vielleicht umfassen sie auch noch größere
Zeiträume. Warum wird bei einem so sensiblen Gegen-
stand nicht Druck gemacht, damit endlich etwas zustan-
de kommt, was tragfähige Entscheidungen möglich
macht? Warum dauert so etwas so lange?
C
Herr Kollege Weiß, Sie
haben zu Recht angesprochen, daß diese Bemühungen
schon seit anderthalb Jahren im Gange sind. Die Vor-
gängerregierung hat sich erheblich bemüht, und sie hat
ziemlich große Schwierigkeiten gehabt. Ihnen als ehe-
maligem Staatssekretär in einem Bundesland ist sicher-
lich bekannt, daß der besonders sensible Bereich der In-
vestitionsförderung der Länder immer eine große Rolle
spielt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an die vergeb-
lichen Versuche der alten Bundesregierung erinnern, auf
der Basis des § 83 Abs. 1 Nr. 5 SGB XI eine Abgren-
zungsverordnung zu erlassen. Es ging unter anderem
darum, die für den Betrieb der Pflegeeinrichtung not-
wendigen abschreibungsfähigen Anlagegüter aufzuli-
sten, die als Investitionsaufwendungen nicht in der Pfle-
gevergütung und in den Entgelten für Unterkunft und
Verpflegung berücksichtigt werden können. Sie wissen,
daß diese Versuche leider gescheitert sind. Ich bin der
Auffassung, daß sie sehr lohnend waren.
Wir als neue Bundesregierung sind erst ein Jahr im
Amt. Wir haben Ende letzten Jahres eine Arbeitsgruppe
einberufen. Der Abgrenzungskatalog ist fertig. Wir be-
finden uns in der Phase der Abstimmung. Ich habe Ihnen
schon dargelegt, wo unseres Erachtens die Möglichkeit
besteht, diesem Abgrenzungskatalog Verbindlichkeit zu
verleihen. Wir sind wirklich einen entscheidenden
Schritt weitergekommen. Ich glaube, diejenigen, die sich
in der Problematik auskennen, ziehen alle an einem
Strang. Wir hoffen, zügig zu einem Ergebnis zu kom-
men. Ich bin zuversichtlich, daß uns das gelingt.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Ilja Seifert.
Frau Staatssekretärin, Sie
räumten ein, daß es bei der Versorgung mit Hilfsmitteln
Mißstände gibt. Außerdem haben Sie angekündigt, die
Spitzenverbände der Kassen zu fragen, wo solche Miß-
stände noch vorhanden sind. Haben Sie vor, entweder
eigene Befragungen bei den Betroffenen in den Ein-
richtungen durchzuführen oder gegebenenfalls Behin-
dertenorganisationen zu bitten, für Sie diese Befragun-
gen zu vorzunehmen, damit auch die Sicht der anderen
Seite dargestellt wird? Es ist klar, daß die befragten
Kassen ein gewisses Eigeninteresse an der Antwort ha-
ben.
C
Herr Kollege Dr. Seifert,
die Bundesregierung ist nicht einäugig, wenn es darum
geht, Sachverhalte abzufragen, die in ganz fundamenta-
lem Interesse von betroffenen Menschen stehen. Sie
wissen, daß wir im Deutschen Bundestag einen Petiti-
onsausschuß haben, bei dem entsprechende Petitionen in
sehr großer Zahl eingegangen sind. Einiges ist verbes-
sert worden.
Durch den Petitionsausschuß bekommen auch die
Ministerien viele konkrete Einzelbeispiele. Sie können
sicher sein, daß die Petitionen gelesen werden. Ich bin
früher Vorsitzende des Petitionsausschusses gewesen.
Mir ist sehr wichtig, daß die Petitionen gelesen werden.
Ich bin froh, wenn unser Haus auf diesem Weg eine
Fülle von Beispielen erhält.
Darüber hinaus steht unser Haus mit allen Fachver-
bänden und vor allen Dingen mit den Behindertenver-
bänden in intensivem Austausch. Selbstverständlich ist
uns daran gelegen, deren Erfahrungen zu hören. Daß
diese Verbände zu unserem Haus Zugang haben, ist
gängige Praxis. Die Erfahrungen dieser Verbände wer-
den dauernd einbezogen. Aus diesem Grund haben wir
festgestellt: Es bestehen noch immer einige Mißstände,
obwohl es erheblich besser geworden ist. Wir müssen an
der Verbesserung der Mißstände weiterarbeiten, und das
tun wir auch.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Dr. Michael Meister.
Frau Staatsse-kretärin, Sie haben in Ihrer letzten Antwort die Vielzahlder Einzelfälle angesprochen, die auch dem Petitions-ausschuß des Deutschen Bundestages vorliegen. In derPraxis sieht es leider so aus, daß viele Krankenkassen,zumindest auf der Bearbeitungsebene, die Ansprücheder Pflegebedürftigen keineswegs in der von Ihnen be-schriebenen Weise einordnen; vielmehr weisen dieKrankenkassen die Einordnung der Ansprüche der Pfle-gebedürftigen an die Träger der Pflegeheime und deranderen Einrichtungen zurück. Wenn die einzelnenPflegebedürftigen dagegen vorgehen wollen, dann stehtihnen nur der Rechtsweg offen. Deshalb kommt es wohlauch zu dieser Vielzahl von anhängigen Petitionen undRechtswegeverfahren.Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5089
(C)
(D)
Darf ich auf Grund Ihrer bisherigen Aussagen un-terstellen, daß die Bundesregierung die seitherige Praxis,die pflegebedürftigen Menschen sozusagen auf denRechtsweg zu verweisen, nicht akzeptiert und eine Än-derung befürwortet?C
Herr Kollege, natürlich
ermöglicht es die Rechtswegegarantie den Betroffenen,
sachgerecht Beschwerde zu führen und die Aufsichtsbe-
hörden einzuschalten. Die Krankenkassen müssen den
Betroffenen ja auch die Adressen nennen. Ich finde, man
darf auf dieses Recht nicht verzichten. Es herrscht na-
türlich ein Mißstand vor, wenn verhältnismäßig viele
Pflegebedürftige diesen Weg gehen müssen. Das war
der Grund für die alte Regierung gewesen, sich auf
einen, so wie es Ihr Kollege Weiß beschrieben hat, müh-
samen Weg zu begeben. Wir haben diesen alten Weg
weiterverfolgt und auf der Basis der Ergebnisse der Ar-
beitsgruppe noch einen neuen Weg beschritten. Wir sind
sehr zuversichtlich, daß durch eine eindeutige Abgren-
zung dem Pingpongspiel ein Stück weit ein Riegel vor-
geschoben wird.
Trotzdem kann man den Betroffenen aber nicht raten,
auf ihre Möglichkeiten, sich bei den Aufsichtsbehörden
zu beschweren oder den Rechtsweg einzuschlagen, zu
verzichten. Das wäre falsch. Von Bundesseite aus tun
wir alles, was getan werden kann. Wir erleichtern dieses
durch eindeutige Abgrenzungskataloge und schaffen
klare Zuständigkeiten. Der Abgrenzungskatalog ist, wie
gesagt, fertig. Wir hoffen, ihn so bald wie möglich ver-
bindlich machen zu können.
Zwei
Zusatzfragen hat immer nur der Fragesteller. Ich war
vorhin etwas großzügig. Aber pro Person darf jeweils
nur eine weitere Fragen gestellt werden.
Wir kommen jetzt zur Frage 31 des Kollegen Gerald
Weiß:
Welche dauerhafte Regelung mit Blick auf die Leistungs-pflicht bei Behandlungspflege in Heimen strebt die Bundesregie-rung nach Auslaufen der jetzt noch geltenden, aber bis Jahresen-de befristeten Regelung an?
C
Herr Kollege Weiß, die
Pflegekassen übernehmen zur Zeit im Rahmen einer
Übergangsregelung bei stationärer Pflege neben den
Aufwendungen für die Grundpflege und die soziale Be-
treuung auch die Kosten der medizinischen Behand-
lungspflege, allerdings nur im Rahmen der gedeckelten
leistungsrechtlichen Höchstbeträge. Die Übergangsre-
gelung – darauf stellen Sie ja mit Ihrer Frage ab – läuft
am 31. Dezember 1999 aus. Das heißt, es muß für den
Zeitraum ab 1. Januar 2000 eine Anschlußregelung ge-
funden werden.
Aus sach- und ordnungspolitischen Gründen könnte
daran gedacht werden, die Kostenverantwortung für die
stationäre Behandlungspflege der gesetzlichen Kranken-
versicherung zu übertragen und damit sowohl die häus-
liche wie auch die stationäre Behandlungspflege bei ein
und demselben Kostenträger anzubinden. Allerdings
kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß der gesetzli-
chen Krankenversicherung bei einer vollen Übernahme
der Kosten der medizinischen Behandlungspflege in
Pflegeheimen erhebliche Mehrkosten auferlegt würden.
Darum haben sich die Koalitionspartner darauf verstän-
digt, die derzeitige Übergangsregelung um weitere zwei
Jahre zu verlängern. Wir wollen diesen Zeitraum auch
zu einer Verbesserung der Datenlage nutzen.
Zusatz-
frage, Herr Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau
Staatssekretärin, Sie haben es im Grunde angedeutet,
daß man aus ordnungspolitischen Gründen anders ent-
scheiden könnte. Wäre es in der Sache nicht richtig,
wenn die Krankenkassen für medizinische Behand-
lungspflege zu bezahlen hätten, da sich die Übergangs-
regelung in der Praxis nicht bewährt hat? Schließen Sie
sich dieser Bewertung an?
C
Herr Kollege Weiß, ich
möchte Sie bei der Beantwortung der Frage daran erin-
nern, welche Motive die damalige Bundesregierung be-
wogen haben – 1996 wurden ja erstmals Leistungen ge-
zahlt –, diese Übergangsregelung zu treffen. Die Kran-
kenversicherungen sind ja unstreitig durch diesen statio-
nären Zweig der Pflegeversicherung stark entlastet wor-
den. Man ging davon aus, daß man erproben müsse, wie
diese Abgrenzung funktioniert, ohne daß es zu einer ein-
seitigen Entlastung der Krankenversicherung bei gleich-
zeitiger Belastung der Pflegeversicherung kommt. Des-
halb hat man diese Regelung für einen Übergangszeit-
raum ermöglicht. Allerdings reicht die Datenlage des
bisherigen Zeitraums noch nicht aus.
Die Krankenversicherung ist ja nicht etwas ganz an-
deres als die Pflegeversicherung, sondern beide stellen
Säulen der bewährten gesetzlichen Versicherungssyste-
me dar. Man muß Abgrenzungen vornehmen, um beide
auf Dauer zu sichern, und vorrangig das tun, was im In-
teresse der Betroffenen liegt. Darum haben wir uns ent-
schlossen, diese Übergangsregelung um zwei Jahre zu
verlängern. Wir haben damit keine bleibende Regelung
konzipiert, sondern wir verlängern sie ausdrücklich aus
dem Grund, um die Datenlage zu verbessern, und nicht
etwa, weil wir sagen: Kommt Zeit, kommt Rat. Wir ha-
ben bisher keine ausreichenden Daten zur Abgrenzung
von Behandlungspflege und anderer Pflege.
ZweiteZusatzfrage, Herr Weiß.Gerald Weiß (CDU/CSU): FrauStaatssekretärin, welchen Umfang hat die Kostenlast,um die es hier geht?Dr. Michael Meister
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5090 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999
(C)
C
Die Angaben differieren
sehr stark; auch deshalb brauchen wir eine verbesserte
Datenlage. Der AOK-Bundesverband geht von einer
Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung
bei Übernahme der Kosten von 3 Milliarden DM jähr-
lich aus. Andere Schätzungen gehen von rund 1,5 Milli-
arden DM jährlich aus. Beide Berechnungen sind durch
entsprechende Annahmen abgesichert. Bei einer so gro-
ßen Differenz brauchen wir mehr Daten, um sachgerecht
entscheiden zu können. Denn gerade in der Pflege – ich
glaube, Herr Kollege, da sind wir uns einig – vertragen
die Betroffenen kein kurzfristiges Hin und Her. Das muß
man sorgfältig und kreuzsolide angehen.
Zusatz-
frage des Kollegen Dr. Ilja Seifert.
Frau Staatssekretärin, wenn
ich Sie richtig verstanden habe, verlängern Sie die
Übergangsregelung deshalb, weil Sie vermuten, daß die
Pflegeversicherung etwas mehr Geld als die gesetzliche
Krankenversicherung hat. Denn sachlich und ordnungs-
politisch tendieren Sie – so habe ich den Eindruck – eher
dazu, daß es so wie vor der Einführung der Pflegeversi-
cherung sein soll, nämlich daß die Krankenversicherung
diese Leistungen finanziert.
C
Herr Kollege Dr. Seifert,
da haben Sie mich nicht richtig verstanden, oder ich ha-
be mich nicht ausreichend klar ausgedrückt. Wir wollen
diese Übergangsregelung deshalb verlängern, weil wir
der Auffassung sind, daß wir ausreichende Datentrans-
parenz brauchen. Bisher konnten die Träger der Ein-
richtungen die Abgrenzung nicht mit ausreichender
Klarheit auf den Tisch legen.
Das ist nicht nur aus Kostengesichtspunkten, sondern
auch aus generellen Gesichtspunkten wichtig. Denn wir
wollen die Pflegeversicherung und auch die gesetzliche
Krankenversicherung dauerhaft stabilisieren und dafür
sorgen, daß die zu Pflegenden eine vernünftige und ver-
läßliche Basis haben.
Zusatz-
frage des Kollegen Dr. Meister.
Frau Staatsse-
kretärin, können wir davon ausgehen, daß die Bundesre-
gierung nach der Übergangsfrist von zwei Jahren, die
Sie jetzt angesprochen haben, wenn die Daten erhoben
sind, eine Ungleichbehandlung von stationärer und am-
bulanter Versorgung nicht dauerhaft zementieren wird?
Sonst würden diejenigen Pflegefälle, die in stationären
Einrichtungen behandelt werden, unter Umständen
durch die dortige Vorhaltung von Heilmitteln, die ge-
setzlich vorgeschrieben ist, zusätzlich belastet.
C
Herr Kollege, ich bin
nicht die Buchela von Bonn, die in den 50er Jahren im
Kaffeesatz rührte und den Politikern sagte, was in nähe-
rer oder fernerer Zukunft passiert. In zwei Jahren kann
sehr viel passieren. Ich habe dargelegt, daß wir die
Übergangsfrist nicht deshalb im Rahmen der GKV-
Strukturreform um zwei Jahre verlängern, weil wir dann
nichts tun wollen. Vielmehr wollen wir eine größere
Datentransparenz. Dann wird gründlich ausgewertet.
Das, was diese Auswertung vernünftig erscheinen läßt,
ausdrücklich auch im Sinne der Betroffenen, werden wir
dann tun. Ich kann Ihnen aber jetzt noch nicht sagen,
wie das aussehen wird. Ich spekuliere auch nicht gerne;
das vertragen die Betroffenen und diejenigen, die die
Arbeit in den Pflegeeinrichtungen tun, nicht.
Vielen
Dank.
Dann kommen wir zur Frage 32 des Kollegen Dr.
Michael Meister:
Sind die Krankenkassen nach der Klarstellung in der „ge-meinsamen Verlautbarung“ vom 26. Mai 1998, daß die sich aus§ 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch ergebenden Rechtsansprü-che uneingeschränkt auch für die in Pflegeeinrichtungen leben-den Versicherten gelten, insgesamt gesehen wieder zu der Be-willigungspraxis zurückgekehrt, die vor der Einführung der sta-tionären Leistungen der Pflegeversicherung selbstverständlichwar, dahingehend, daß alle Versicherten mit Hilfsmitteln gleichzu versorgen sind, egal wo sie wohnen?
C
Herr Kollege Dr. Meister,wir haben schon einiges von dem, was Sie in Ihrer Frageangesprochen haben, in Zusatzfragen und Zusatzant-worten angesprochen.Generell haben die Spitzenverbände der gesetzlichenKrankenversicherung ausdrücklich bestätigt, daß einAnspruch auf individuelle Versorgung mit Hilfsmittelnim Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung auch beiden in Pflegeeinrichtungen lebenden Versicherten be-steht. Sie haben in Ihrer Frage ausdrücklich auf dieKlarstellung hingewiesen, die wir dankenswerterweisebekommen haben.Das heißt, daß die aus § 33 des Fünften Buches desSozialgesetzbuches sich ergebenen Rechtsansprücheauch uneingeschränkt für die in Pflegeeinrichtungen le-benden Versicherten gelten. Im Rahmen der gesetzli-chen Krankenversicherung ist die medizinische Not-wendigkeit durch eine ärztliche Verordnung zu bestäti-gen. Ob Anspruch auf die Übernahme der Kosten einesHilfsmittels durch die gesetzliche Krankenversicherungbesteht, entscheiden die Krankenkassen nach Prüfungder Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalles. Sosieht es auch § 33 SGB V vor.Die Spitzenverbände der Kranken- und Pflegekassenstimmen darin überein, daß bestimmte Hilfsmittel, diezu den notwendigen allgemeinen Ausstattungen derPflegeheime gerechnet werden, nicht zur Leistungs-pflicht der Krankenkassen gehören. Dazu zählen – die-sen Punkt hat Ihr Kollege Weiß eben angesprochen –beispielsweise Rollstühle, die nicht individuell angepaßt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5091
(C)
(D)
werden und die dazu benötigt werden, um zu Pflegendeins Bad zu fahren. Dies gehört zur allgemeinen Infra-struktur und hat nichts mit Hilfsmitteln im Einzelfall zutun. Anders verhält es sich natürlich, wenn es um einenmaßgeschneiderten Rollstuhl geht. Dieser gehört nach §33 SGB V ohne jeden Zweifel zu den Hilfsmitteln, diedie gesetzlichen Krankenversicherungen zahlen müssen.Gegen die Entscheidung der Krankenkassen kannWiderspruch eingelegt werden. Darüber hinaus könnendie Entscheidungen der Krankenkassen von der zustän-digen Aufsichtsbehörde überprüft werden. Wenn dieVersicherten eine solche Überprüfung vornehmen lassenwollen, muß ihnen die Krankenkasse die Anschrift derjeweiligen Aufsichtsbehörde mitteilen. Unser Ministeri-um kann darauf zwar keinen Einfluß nehmen; wir tunaber das uns Mögliche. Ich habe eben schon dargelegt,daß wir in der Arbeitsgruppe den Abgrenzungskatalogerarbeitet haben und nun versuchen, ihn verbindlich ein-zusetzen.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Meister.
Frau Staatsse-
kretärin, ich habe eine Nachfrage. Sie haben sowohl in
Ihrer Antwort auf die letzte Frage als auch in den Ant-
worten auf die Fragen des Kollegen Weiß Ihre Gesprä-
che mit den Spitzenverbänden der Kassen angesprochen.
Wird von der Bundesregierung verfolgt, inwieweit die
Ergebnisse der Spitzengespräche in die Praxis der Kas-
sen umgesetzt werden? Wenn dies nicht der Fall ist:
Wird von seiten der Bundesregierung versucht – ich ha-
be in meiner Zusatzfrage diesen Fall schon angespro-
chen –, im Einzelfall im Sinne der Betroffenen Druck
auszuüben, damit in der täglichen Praxis diese Vereinba-
rung eingehalten wird?
C
Herr Kollege, in meiner
Antwort auf die Frage von Herrn Dr. Seifert habe ich
schon ausgeführt, daß uns diese Einzelfälle bekannt
sind. Betroffene schreiben das Ministerium an und be-
kommen eine vernünftige Antwort und – soweit es in
unserer Kompetenz liegt – auch Hilfestellung. Die Auf-
sichtsgremien sind aber Ländersache; der entsprechende
Rechtsweg muß beachtet werden. Soweit die Bundesre-
gierung aber helfen kann, tut sie es.
Daß diese Gespräche nicht ungehört verhallen, mö-
gen Sie daran erkennen, daß auch die Bemühungen der
Vorgängerregierung gezeigt haben, daß man durch
Nachfassen und durch Abfragen eine erhöhte Sensibili-
tät bei den Krankenkassen erzeugen kann. Man kann so
einen positiven Druck im Interesse der zu Pflegenden
ausüben. Es hat schon eine gewisse Bedeutung, wenn
die Bundesgesundheitsministerin abfragt. Obwohl die
Situation schon erheblich besser geworden ist, bestehen
in einigen Bereichen noch Mißstände, weshalb wir eine
weitere Abfrage durchgeführt haben.
Dies ist aber nicht alles. Wir haben nämlich, wie
schon erwähnt, den Abgrenzungskatalog festgelegt.
Wenn er eindeutig verbindlich festgelegt ist, dann wird
die Situation für die Betroffenen viel einfacher werden.
Zusatz-
frage des Kollegen Weiß.
Gerald Weiß (CDU/CSU): Frau
Staatssekretärin, ich habe eine Frage zu dem wiederholt
von Ihnen erwähnten Abgrenzungskatalog, der in einer
Arbeitsgruppe erarbeitet worden ist: Ist dieser Abgren-
zungskatalog im Konsens zwischen Heimträgern auf der
einen Seite und den Kassen auf der anderen Seite ge-
schaffen worden? Andersherum gefragt: Waren die
Heimträger in dem Arbeitskreis bei der Erarbeitung ver-
treten?
C
Die Träger waren daran
beteiligt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen zur genauen
Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe eine schriftliche
Mitteilung zukommen lassen.
Vielen
Dank. Damit kommen wir zur Frage 33 der Kollegin
Gudrun Kopp:
In welcher Art und mit welchen konkreten Haushaltsansät-zen plant die Bundesregierung die Finanzierung eines neutralenPatientenberatungsnetzwerks?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
C
Frau Kollegin Kopp, dieBundesregierung hat sich in ihrer Koalititionsvereinba-rung vom 20. Oktober 1998 auch für eine Stärkung derPatienten- und Patientinnenrechte und des Patienten-schutzes sowie für eine Verbesserung der Verbraucher-beratung ausgesprochen. Zur Umsetzung dieses Punktesdes Koalitionsvertrages hat die Bundesregierung imRahmen ihres Entwurfes eines Gesetzes zur Reform dergesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000vom 23. Juni 1999 auch Verbesserungen der Beratungder Versicherten durch folgende neue Vorschriften desFünften Buches des Sozialgesetzbuches vorgeschlagen:Erstens. Die Krankenkassen sollen danach künftig in§ 66 Sozialgesetzbuch V verpflichtet werden, die Versi-cherten bei der Verfolgung von Behandlungsfehleran-sprüchen, die nicht auf die Krankenkassen übergeleitetworden sind, das heißt vor allen Dingen von Ansprüchenauf Schmerzensgeld, zu unterstützen. Das Nähere hierzuist in den Satzungen der Krankenkassen zu regeln. Zuder Unterstützung des Patienten oder der Patientin durchdie Krankenkasse gehört selbstverständlich eine einge-hende Beratung.Zweitens sieht der Gesetzentwurf darüber hinauseinen neuen § 65 b Sozialgesetzbuch V vor, in dem eineFörderung von Einrichtungen zur Verbraucher- und Pa-tientenberatung durch die Krankenkasse im Wege vonModellvorhaben festgeschrieben werden soll. Die För-derungsfähigkeit dieser Einrichtung soll den Nachweisüber ihre Neutralität und Unabhängigkeit voraussetzen.Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
Metadaten/Kopzeile:
5092 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999
(C)
– Neutralität und Unabhängigkeit der Verbraucherbera-tungen waren ein Bestandteil Ihrer Frage.Eine dritte Verbesserung im Rahmen der Novelle zurGKV-Gesundheitsreform 2000 soll das Recht der Versi-cherten umfassen, sich im Rahmen bestimmter Bera-tungsfelder unmittelbar vom Medizinischen Dienst derKrankenkassen beraten zu lassen.
Zusatz-
frage, Frau Kopp.
Frau Staatssekretärin, ich
möchte gerne präziser wissen, was Sie unter einer „un-
abhängigen Patientenberatung“ verstehen. Ist Ihnen bei-
spielsweise das Bremer Modell bekannt, bei dem sich
vier Institutionen zusammengeschlossen haben, nämlich
die Ärztekammer, die Gesundheitssenatorin, die Kran-
kenhausgesellschaft und die örtlichen Krankenkassen?
C
Frau Kollegin Kopp, uns
ist dieses Modell bekannt. Die gerade von mir skizzier-
ten Ansätze in dem neuen Gesetzentwurf, den wir gera-
de erarbeiten, sind ein erster Schritt. Das ist natürlich
nicht alles, aber es ist ein wichtiger Schritt. Wir freuen
uns, wenn wir das durchsetzen können.
Wir haben über den von uns vorgelegten Gesetzent-
wurf zur Gesundheitsstrukturreform hinaus mit den von
mir genannten Elementen, die in diese Richtung gehen,
weitere Verbesserungen geplant. Wir beziehen da auch
die Erfahrungen ein, die in den verschiedenen Bundes-
ländern in vielfältiger Weise vor Ort gemacht werden. In
dem Zusammenhang denkt unser Haus an mögliche
Verbesserungen der Patienteninformation, der Patien-
tenbeteiligung sowie der Patientenrechte. Im Rahmen
einer verbesserten Information des Patienten wird es
auch um die Verbesserung seiner Beratung im Einzelfall
gehen.
Weil die Zuständigkeiten für solche weiteren Verbes-
serungen des Patientenschutzes und der Patientenrechte
in dem vielfältig gegliederten System der gesundheitli-
chen Versorgung ganz unterschiedlich verteilt sind, wie
Sie es gerade schon angedeutet haben, bereitet unser
Haus gegenwärtig die Einsetzung einer Bund-Länder-
Arbeitsgruppe vor, welche die Erfahrungen einbeziehen
und die unterschiedlichsten Vorschläge prüfen und auf-
bereiten soll. An dieser Arbeitsgruppe, die wir im Okto-
ber dieses Jahres, also im nächsten Monat, einrichten
wollen, werden unter der Leitung des Bundesgesund-
heitsministeriums Vertreter der anderen zuständigen
Ressorts, der obersten Landesgesundheitsbehörden, der
Krankenkassen, der Ärzteschaft und natürlich nicht zu-
letzt, Herr Dr. Seifert, von Patientenorganisationen teil-
nehmen. Bei den Beratungen dieser Arbeitsgruppe wird
dann auch zu prüfen sein, wie die unterschiedlichen Be-
ratungsmöglichkeiten verstärkt und untereinander ver-
netzt werden können.
Zweite
Zusatzfrage, Frau Kopp.
Frau Staatssekretärin, ich
bitte Sie, noch auf die Kostensituation Bezug zu neh-
men. Auch danach habe ich gefragt. Wenn Sie eine un-
abhängige Patientenberatung ins Leben rufen wollen,
dann verursacht das Kosten. In welchem Umfang haben
Sie diese eingeplant, und wie wollen Sie sie darstellen?
Denn wir wollen keine weitere Erhöhung der Lohnne-
benkosten verursachen. Siedeln Sie eine Patientenbera-
tung eher bei Verbraucherzentralen an, wobei das Pro-
blem bestünde, daß völlig neue Strukturen geschaffen
werden müßten, wahrscheinlich verbunden mit sehr ho-
hen Kosten?
C
Frau Kollegin, ich habeschon bei der Beantwortung Ihrer Eingangsfrage darge-stellt, daß wir solche Möglichkeiten im Rahmen der Ge-sundheitsstrukturreform im Wege von Modellvorhaben,die nach § 65 b Sozialgesetzbuch V eingeführt werdensollen, erproben lassen wollen. Alle Erfahrungen vonSelbsthilfeorganisationen – wir konnten auf Grund die-ser Erfahrungen auch die Soziotherapie einführen – zei-gen, daß Prävention oder auch Gesundheitsförderungentgegen der oft beschworenen Meinung, daß diese ko-stensteigernd sei, kostendämpfend ist und der Gesund-heit dient, wenn sie nach Qualitätskriterien erfolgt.Indem wir das im Wege von Modellvorhaben ermög-lichen, glauben wir, daß wir hier einen Schritt in dierichtige Richtung gehen, ohne Kosten und bestimmteMuster im Vorfeld festzuschreiben. Ich glaube, das istein ganz guter Ansatz. Die Kostenfrage war heiß um-stritten; das wissen Sie. Sie hat auch bei den ThemenPrävention und Förderung der Selbsthilfe eine Rolle ge-spielt. Da haben wir, glaube ich, mit der Regelung einenganz guten Weg gefunden.Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß wir darüberhinaus im Rahmen von bestehenden Initiativen beimEinsatz elektronischer Informationstechnologien bereitsunter der Vorgängerregierung sehr viel getan haben, umdie konzeptionellen Rahmenbedingungen für die Nut-zung von elektronischen Kommunikations- und Infor-mationssystemen zu verbessern, gerade auch für die Be-troffenen, für die Selbsthilfeorganisationen.Ich kann Ihnen ankündigen, daß wir dazu, anknüp-fend an das, was jetzt schon besteht, für den 9. Novem-ber 1999 in Bonn einen Initiativkongreß planen, auf demdie Bildung eines offenen Aktionsforums angestoßenwerden soll, mit dem Ziel, eine kontinuierliche Weiter-entwicklung der Informationssysteme, die wir schon ha-ben, hin zu einem modellhaften Gesundheitsinformati-onssystem in Gang zu setzen. Es ist nicht so, daß wir beiNull anfangen. Es gibt eine Menge Vorarbeit. Natürlichknüpfen wir an das, was an guten Vorarbeiten da ist, an.Ich glaube, die Tatsache, daß wir bereits im Novemberdiesen Kongreß durchführen, zeigt Ihnen, daß wir indem einen Jahr gerade im Bereich Verbraucherberatung,Verbraucherschutz, Vernetzung sehr intensiv gearbeitethaben. Das ist auch ein großes Herzensanliegen vonFrau Fischer, die diesen Bereich immer als sehr vorran-gig und wichtig betrachtet hat und die Bemühungen aufdiesem Gebiet als Ministerin weiter vorantreibt.Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
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Zusatz-
frage des Kollegen Dr. Seifert.
Frau Staatssekretärin, ich be-
danke mich zunächst einmal, daß Sie in Ihrer Antwort
auf die erste Nachfrage der Kollegin Kopp schon eine
potentielle Frage von mir mit beantwortet haben. Daher
kann ich jetzt eine andere Frage stellen, nämlich eine
Verständnisfrage zu einer Bemerkung in Ihrer Ein-
gangsantwort.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie gegebe-
nenfalls den MDK als direkten Ansprechpartner für die
Patientenberatung ansehen? Wenn das der Fall ist,
muß ich allerdings sagen, daß ich das nicht in Ein-
klang bringe mit Ihrem Postulat, daß Sie eine un-
abhängige Beratung wollen; denn der Medizinische
Dienst der Krankenkassen ist alles andere als unabhän-
gig.
C
Herr Kollege Dr. Seifert,
die Förderung und Unterstützung der Patienteninteressen
und der Verbraucherinteressen ist keine Einbahnstraße,
sondern ist im Prinzip ein Mosaik mit vielen verschie-
denen Bausteinen. Unser Ministerium ist der Meinung,
man sollte überall da, wo Sachverstand vorhanden ist
und ohne Aufblähung des Apparates oder sehr bürokra-
tische Hürden für die Betroffenen verfügbar gemacht
werden kann, diesen auch zugänglich machen. Dazu ge-
hört die Möglichkeit, auf das Wissen des MDK zurück-
zugreifen.
Ich habe im Rahmen der Beantwortung der Frage der
Kollegin drei Bausteine genannt und auch das kurz an-
gerissen, was sonst noch an Aktivitäten läuft. Das ist
keine Einbahnstraße. Ich weiß nicht, warum man den
Betroffenen den Zugang zum MDK vorenthalten sollte.
Ich finde das nicht gut. Ich meine, da ist ein ganz spezi-
fischer Sachverstand vorhanden, der für die Patientinnen
und Patienten sehr nützlich ist.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin.
Die Fragen 34 bis einschließlich 43 sollen schriftlich
beantwortet werden. Die Fragen 44 bis 46 sind zurück-
gezogen worden. Damit sind wir am Ende der Frage-
stunde.
Der Zusatzpunkt 1, die Aktuelle Stunde, ist nach
einer interfraktionellen Vereinbarung auf 15:35 Uhr
festgelegt, so daß ich die Sitzung jetzt unterbreche
und Sie bitte, um 15:35 Uhr wieder hier zu erschei-
nen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die unterbrochene
Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
nach einer Jahrtausendamnestie
Die Fraktion der F.D.P. hat diese Aktuelle Stunde
verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Frak-
tion der F.D.P. hat unser Kollege Dr. Guido Wester-
welle.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn führen-de Repräsentanten der grünen Regierungspartei eineJubelamnestie fordern, dann haben die Öffentlichkeitund das Parlament ein Recht darauf, zu erfahren, wie dieBundesregierung dazu offiziell steht. Ich hätte mir, da essich dabei nicht um irgendwelche nachrangigen Größender Grünen handelt, sondern diese Repräsentanten im-merhin von der Vizepräsidentin des Deutschen Bundes-tages, von unserer Kollegin Frau Vollmer, und vomrechtspolitischen Sprecher, von unserem Kollegen HerrnBeck, angeführt werden, gewünscht, daß in diesem Fallauch die Justizministerin nicht nur durch ihren Presse-sprecher öffentlich erklärt hätte, was sie darüber denkt,sondern daß sie auch persönlich, am besten in dieserDebatte – bei allem Respekt, Herr Professor Pick –, dasWort ergriffen hätte.Ich glaube, daß sich hier eine traurige Entwicklungfortsetzt, die wir in den letzten Jahren immer wiederfeststellen konnten.
– Frau Kollegin Vollmer, da Sie mehrfach das Wortliberal dazwischenrufen, möchte ich Ihnen gerne gleichzu Beginn sagen: Nachgiebigkeit gegenüber verurteiltenStraftätern ist nicht liberal, sondern gefährlich für dieLiberalität unseres Landes.
Ausdruck des Rechtsstaates ist das demokratisch le-gitimierte staatliche Gewaltmonopol. Ohne Sicherheitgibt es für die Bürger keine Freiheit. Setzt der Staat dasGewaltmonopol nicht durch, wird der Respekt vor demRecht ausgehöhlt, und das Rechtsbewußtsein wird dannuntergraben.Schienenblockaden, zu denen die Abgeordneten derGrünen aufrufen, Entkriminalisierung des Schwarzfah-rens und Straffreiheit für Ladendiebstähle, das ist dierechtsstaatliche Tradition der Grünen. Der nun von füh-renden Grünen vorgelegte Plan für eine Generalamnestie
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für bestimmte Straftäter legt die Axt an die Wurzeln desRechtsstaates.
Die Begründung für die Amnestie, die Gefängnisse sei-en zu voll und die Freiheitsstrafen seien zu teuer, muß inden Ohren der Opfer wie Zynismus klingen.
Der Rechtsstaat ist in Deutschland seit Jahren einerschleichenden Erosion ausgesetzt, und die Politik trägtdaran eine gehörige Portion Mitschuld.
Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, die of-fizielle Haltung der Bundesregierung und der sie tragen-den Regierungsparteien zu erfahren. Deswegen denkenwir, es wäre richtig, wenn hier auch die Bundesregie-rung ihrer Aufgabe eindeutig gerecht würde und nichtparteipolitische Rücksichtnahme gegenüber ihrem grü-nen Koalitionspartner übte.
Mit dem Versuch, ein solches Thema niedrig zu halten,wird man der rechtsstaatlichen Verantwortung jedenfallsnicht gerecht.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion erteilt dieser soge-nannten Amnestie eine Absage. Amnestie ist stets eineDurchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips. Die Ge-setzgebung versucht dadurch, nachträglich Korrekturenan Entscheidungen der Rechtsprechung vorzunehmen.Eine solche Korrektur, egal auf welcher Ebene unsererGesetzgebung, muß wohlabgewogen und begründetsein.
Sie mit dem Jahrtausendwechsel zu begründen entbehrtjeder rechtsstaatlichen Grundlage.
Der Aufruf zur Amnestie 2000 sieht äußerlich nacheinem Schnellschuß aus. Die Details zeigen, daß er nichtdurchdacht ist. Nicht die Täter müssen vor Strafe ge-schützt werden, sondern die Opfer vor den Tätern. DieVerurteilung zu einer Freiheitsstrafe ist die Feststellungindividueller Schuld, und zwar nach einem rechtsstaatli-chen Verfahren.
Eine Generalamnestie würde niemals diese individuelleSchuld berücksichtigen.
Eine pauschalierte Amnestie widerspricht fast allenZielen unseres Strafrechts. Dieser Vorschlag der Grünenist nichts anderes als ein pauschalierter Rückzug desRechtsstaates aus der Strafverfolgung.
Wenn führende Repräsentanten der grünen Regie-rungspartei auch in dieser Debatte dies augenscheinlichfür richtig halten, dann zeigt das, daß die heutige Aktu-elle Stunde durchaus ihren Sinn hat.
Deutschland verfügt über ein funktionierendes Gna-denrecht. Das brauchen wir auch. Dieses Gnadenrechtder Ministerpräsidenten und des Bundespräsidenten istdas geeignete rechtsstaatliche Mittel, um unter Berück-sichtigung der individuellen Schuld und der nachträgli-chen Einsichten Gnade vor Recht walten zu lassen. EinAmnestiegesetz zum Jahr 2000 setzt aber nicht Gnadevor Recht, sondern Zufall vor Recht. Das kann nichtrichtig sein.
Bezeichnend für diesen Beitrag der Grünen zurRechtspolitik ist die vollkommene Außerachtlassung derInteressen und Schutzbedürfnisse der Opfer.
Wer in der Bundesrepublik eine Freiheitsstrafe verbüßt,hat entweder eine schwere Straftat begangen
oder ist, wenn wir zum Beispiel den Bereich der Klein-kriminalität betrachten, mehrfacher Wiederholungstäter.
Wenn wir von Straftaten bzw. von zu FreiheitsstrafenVerurteilten sprechen, meinen wir nicht irgendwelcheKavaliersdelikte bzw. Schwarzfahrer, sondern diejeni-gen, die mehrfach vorbestraft sind oder eine schwerekapitale Straftat begangen haben. Deswegen bekommensie eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
Es ist ein Fehler, daß Sie von den Grünen die Opfer ge-fährden, indem Sie pauschal und ruck, zuck alle TäterDr. Guido Westerwelle
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wieder auf die Öffentlichkeit loslassen wollen. Das istnicht sinnvoll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Westerwel-
le, kommen Sie bitte zum Schluß.
Das war es. Ich
danke Ihnen sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Bundesregie-
rung spricht jetzt der Herr Parlamentarische Staatsse-
kretär Eckhart Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Herr Westerwelle, ich denke, es istAusdruck des Respekts vor der Meinung einzelner Bun-destagsabgeordneter, daß sich die Bundesregierung nichtimmer veranlaßt fühlt, zu einzelnen Vorschlägen Stel-lung zu nehmen. Da wir dies heute aber im Rahmen die-ser Aktuellen Stunde tun müssen, werde ich die Auffas-sung der Bundesregierung hier sehr deutlich zum Aus-druck bringen.Heute haben wir eine andere Situation, als es etwafrüher zu Zeiten des Absolutismus der Fall war, als derKönig oder der Fürst Großmut in Form einer Amnestiehat walten lassen. Das ist sicher richtig. Schon in derWeimarer Reichsverfassung sind dieser früher unbe-grenzten Macht dadurch Zügel angelegt worden, daß füreine Amnestie eine Gesetzesform verlangt wurde.Für die rechtsstaatlich verfaßte Bundesrepublik be-stehen im Hinblick auf Amnestien noch engere Grenzen.Der Rechtsstaat kann nach unserem heutigen Verständ-nis nur verwirklicht und von den Bürgern als solcherauch anerkannt werden, wenn sichergestellt ist, daßStraftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt,abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführtwerden. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates,eine funktionstüchtige Rechtspflege zu gewährleisten,umfaßt deshalb auch die Pflicht, die Durchführung ein-geleiteter Strafverfahren und die Vollstreckung rechts-kräftiger Strafen sicherzustellen.Als eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat dasBundesverfassungsgericht auch die Amnestie anerkannt.Ein Amnestiegesetz bedarf aber in einem Rechtsstaatstets einer besonderen Legitimation. Denn durch denErlaß bzw. die Milderung rechtskräftig anerkannter Stra-fen stellt ein solches Gesetz einen Eingriff in die unab-hängige Rechtspflege durch den Gesetzgeber dar. EineAmnestie hat nach bundesdeutschem Rechtsverständnisausnahmsweise dann ihren Platz, wenn andere rechtlicheMittel zur Wiederherstellung des gestörten Rechtsfrie-dens nicht zur Verfügung stehen, nicht durchgreifenoder wenn im Zuge von Rechtsänderungen, etwa desStrafrechts, Strafen, die nach altem Recht verhängt wor-den waren, ermäßigt oder erlassen werden sollen.Es überrascht nicht, daß die Bundesrepublik von Am-nestien bisher nur sehr sparsam Gebrauch gemacht hat.Große Bundesamnestien beinhalten nur die Straffrei-heitsgesetze aus den Jahren 1949 und 1954 sowie 1968und 1970,
und diese waren jeweils den besonderen Situationen an-gemessen.Die Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954 warenvon dem Gedanken bestimmt, nach außergewöhnlichenLebensumständen einen Schlußstrich zu ziehen. DieseLebensumstände haben ein ganzes Volk oder zumindestgroße Teile davon betroffen und die Menschen derartbeeinflußt, daß sie Straftaten begingen, die sie ohne die-se Umstände nicht begangen hätten. Es war die Zeit desMangels; diese Straftaten haben damals auch der Siche-rung des Überlebens gedient.Die beiden anderen Straffreiheitsgesetze – von 1968und 1970 waren Rechtskorrekturamnestien. Diese amne-stierten Straftaten, die nach dem neuen Recht nicht mehrstrafbar waren. Bei diesen Amnestien hat der Gedankeder Befriedung die ausschlaggebende Rolle gespielt.Neben diesen großen Amnestien gab es im Zuge vonStrafrechtsänderungsgesetzen immer wieder auch kleineAmnestien. Dabei wurde der Grundgedanke des § 2Abs. 3 des Strafgesetzbuchs, der Richter habe das milde-re Recht anzuwenden, wenn das Recht vor der Entschei-dung geändert wurde, auch auf rechtskräftig verhängte,aber noch nicht vollstreckte Strafen ausgedehnt.In diesen Rahmen paßt eine Amnestie aus Anlaß desJahrtausendwechsels nicht hinein.
Die Feier eines Jubiläums, eines wiederkehrenden Ge-denktages oder ähnliches vermag nach bundesdeutschemRechtsverständnis gerade keine Amnestie zu tragen.Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur PraxisPreußens im Kaiserreich oder auch zur Praxis der DDR.Auf Grund unterschiedlicher nationaler Rechtskulturenist auch die Amnestiepraxis anderer Länder nicht ein-fach auf unsere Staatspraxis zu übertragen.
Daneben besteht aber auch ein weiterer Grund für Zu-rückhaltung bei der Amnestierung von Strafgefangenen:Unser modernes Strafrecht und unser Strafverfahrens-recht geben den Strafverfolgungsbehörden ein umfas-sendes Instrumentarium an die Hand, dem einzelnen Fallgerecht zu werden. Das fängt mit den Einstellungsmög-lichkeiten der Staatsanwaltschaft an und setzt sich ineiner breiten Palette fort, bis zur Möglichkeit einer vor-zeitigen Entlassung nach §§ 57, 57a des Strafgesetz-buchs. Mir scheint, daß damit der Gerechtigkeit mehrDr. Guido Westerwelle
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gedient ist als mit einer Amnestie, die sich als generelleRegelung – bei allem Bemühen um eine Ausdifferenzie-rung – auf einzelne Verurteilte sicherlich auch ungerechtauswirken könnte.
Auch angesichts der maßvollen Strafzumessungspra-xis bundesdeutscher Gerichte ist ein Grund für einebreite Amnestierung von zu Freiheitsstrafen Verurteiltennicht zu erkennen. Nach bundesdeutscher Rechtspraxiswerden Freiheitsstrafen nämlich nur als Ultima ratioverhängt. Wer daher von einem bundesdeutschen Ge-richt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, hat dieRechtsordnung in vorwerfbarer Weise mißachtet.Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrundwerden Sie sicher verstehen, daß das Bundesministeriumder Justiz dem Vorschlag für eine Jahrtausendamnestieablehnend gegenübersteht.Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Der Staat hat diePflicht, Rechtsgüter zu schützen. Dazu stehen ihm vieleMöglichkeiten zur Verfügung. Ein Mittel ist das Straf-recht. Aber das geschriebene Gesetz hat keine Wirkung,wenn es nicht durch Urteile und auch durch Strafvoll-streckung umgesetzt wird. Der Täter muß wissen, wohindie Reise geht; der Dieb, der Brandstifter, der Betrügermüssen für ihre Tat einstehen. Nur so wird das Rechtdurchgesetzt, und nur so entsteht auch Rechtsfrieden.Deshalb ist es nicht richtig, ohne Not ein Gesetz zuerlassen, das generell und pauschal – so wie das ebenvom Parlamentarischen Staatssekretär geschildert wor-den ist – Strafen aufhebt. Eine Amnestie widersprichtunserem System. Durch eine lasche Justiz, durch laschenStrafvollzug,
durch die Diskussion um eine Entkriminalisierung ge-wisser Tatbestände und – ich reihe das hier ein – auchdurch eine Amnestie wird die Wirkung des Strafrechtesunterlaufen. Am Ende verliert die Bevölkerung dasVertrauen in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates.
Insbesondere aber sind die Opfer betroffen. Sie müssenerleben, daß ihre Peiniger straflos und frei davonkom-men.Es gibt wichtige Persönlichkeiten in unserem Land,die vor einer solchen Amnestie warnen. Generalstaats-anwalt Schaefgen, der insbesondere das SED-Unrechtverfolgt hat, sagt, daß die Opfer einen legitimen An-spruch auf Sühne haben und daß dies der Staat im Rah-men seiner Möglichkeiten auch gewährleisten muß. JuttaLimbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerich-tes, sagt, daß jedes Straffreiheits- oder Strafbefreiungs-gesetz letztendlich die Erklärung einer staatlich verord-neten Teilnahmslosigkeit gegenüber den Opfern ist.Steffen Heitmann sagt, daß ein solches Straffreiheitsge-setz mit Blick auf das SED-Unrecht eine erneute Diffa-mierung der Opfer darstellen würde. Ich schließe michdem an.Wie verhalten sich die Täter? Ist zu erwarten, daß siestaatstreue Bürger werden, oder ist es nicht vielmehr so,daß beispielsweise ein Dieb die Straffreiheit natürlichgern mitnimmt, aber bei nächster Gelegenheit wiederstraffällig wird? Wie ist es denn bei den Terroristen ge-wesen? Sie waren nicht einsichtig. Wir haben auch nichtden Eindruck, daß viele Täter im Bereich des SED-Unrechts einsichtig sind; oft haben wir den Eindruck,daß man hier auf Beton trifft.Die Grünen verweisen auf den christlichen Gedankender Versöhnung zwischen Täter und Opfer. Das machtsich ja gut und ist eigentlich ein vernünftiger Gedanke.Aber eine solche Versöhnung kann nicht von Staats we-gen verordnet werden. Vielmehr muß sie freiwillig er-folgen. Der Staat kann nicht befehlen, daß sich das Op-fer mit seinem Peiniger versöhnt. Das schafft im Grundenur neuen Unfrieden. Eine Amnestie hilft deshalb demTäter, nicht aber dem Opfer; sie hilft auch nicht demStaat und dient nicht der Befriedung.Deshalb haben wir in den zurückliegenden Jahren –der Versuch ist ja oft genug unternommen worden – eineAmnestie im Bereich des SED-Unrechts abgelehnt. Dasging quer durch alle Parteien. Es gab ja den Versuch da-zu am Anfang, 1990. Es wäre denkbar gewesen – dashaben wir vorhin von dem Herrn Staatssekretär gehört –,bei einer solchen Gelegenheit – nicht, weil wir über dieWiedervereinigung gejubelt hätten, sondern weil manden Versuch hätte unternehmen können, einen Aus-gleich zwischen Taten im Osten und Taten im Westenherzustellen – so etwas zu machen. Aber wir sind da-mals davon abgekommen, und zwar mit Blick auf dasUnrecht, das vielen Bürgerinnen und Bürgern drübengeschehen ist und das einem ordentlichen Strafverfahrenunterzogen werden sollte. Das war oft genug mühsam.Es ist ja schwierig, in einem Strafprozeß die Wahrheitan das Licht zu bringen und damit das Unrecht zu mar-kieren. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, undich bin der Meinung – wie mühsam es gewesen ist, undwie unbefriedigend es im Einzelfall auch gewesen seinmag –, daß dieser Weg richtig gewesen ist. Das gilt auchfür alle anderen Straftaten.Eine solche Jubelamnestie – wir unterscheiden jamehrere Formen von Amnestie – lehnen wir ab. Wirmeinen, daß wir uns in dieser Frage nicht nach anderenStaaten zu richten haben. Manche Staaten kommen mitsolchen Amnestiegesetzen ganz gut zurecht. England istschon immer
ohne ein solches Amnestiegesetz zurechtgekommen,und auch wir kommen, wie ich meine, gut zurecht, ohneParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5097
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(D)
daß wir allzusehr von dem Instrument der Amnestie Ge-brauch machen. Das kann in bestimmten historischenSituationen richtig sein. Aber ganz gewiß ist die Jahrtau-sendwende dazu ein ungeeigneter Zeitpunkt.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Volker
Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Ihnen,Herr Westerwelle: Ich glaube, Herr Hirsch und HerrBaum hätten sich heute angesichts dessen, was Sie hierheute aufgeführt haben, für die F.D.P. geschämt.
Gemeinsam haben wir, einige Innenpolitiker derGrünen, eine maßvolle Amnestie zur Jahrtausendwendeund zum Jubiläum von 50 Jahren Demokratie vorge-schlagen. Wir können uns vorstellen, daß unter be-stimmten Voraussetzungen rechtskräftig verhängte undnoch nicht vollstreckte kürzere Freiheitsstrafen undReststrafen erlassen werden, wenn sichergestellt ist, daßvon den Verurteilten keine Bedrohung mehr für die Ge-sellschaft ausgeht. Die Strafvollstreckungsbehörde solldie Amnestie nur für solche Straftäter gewähren, bei de-nen feststeht, daß sie in Zukunft das Recht auf Leben,sexuelle Selbstbestimmung, Gesundheit und die Men-schenwürde anderer nicht verletzen.Der Widerhall unseres Vorschlags zeigt: Wir habenoffensichtlich an einem Tabu gerüttelt. Was wurde unsnicht alles entgegengehalten: Die Grünen würden Straf-taten bagatellisieren oder sogar – wie der Kollege Rütt-gers, der heute gar nicht da ist, meint – den Rechtsstaatgezielt schädigen. Meine Damen und Herren, wie kön-nen Sie sich über andere Länder so arrogant erheben?Woher nehmen Sie eigentlich den Hochmut, einem Landwie Frankreich, das schon länger ein Rechtsstaat ist, alsdiese Republik überhaupt besteht, zu unterstellen, eswürde rechtsstaatunwürdig handeln, nur weil es in allerRegelmäßigkeit Amnestien erläßt?
Herr Kollege Westerwelle, werfen Sie dem österrei-chischen Justizminister allen Ernstes vor, er sei irre-geleitet und wolle sein Land mutwillig schwächen, wieSie uns das vorwerfen?
Über den Amnestiegedanken kann man sicherlich strei-ten. Das wollen wir auch, aber sachlich. Also bleibenSie bitte auf dem Teppich!Unser Vorschlag ist kein Beschluß der Koalition, esist kein Beschluß der Fraktion. Es ist eine Initiative vonmehreren Abgeordneten, die eine Frage gemeinsam mitder Gesellschaft debattieren wollen. Warum sollte einesolche Diskussion nicht erlaubt sein?„Gnade vor Recht oder gnadenlos gerecht?“, so über-schrieb Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“seinen Kommentar zu unserer Initiative. Er warf dieFrage auf, ob eine maßvolle Amnestie als kollektiverGnadenakt in unserem Land tatsächlich so abwegig wä-re. Der ehemalige Oberstaatsanwalt Prantl kommt zudem Ergebnis – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –:Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Län-dern ist die Haftdauer in Deutschland relativ lang.Von einer besonderen Milde der deutschen Justizkann entgegen landläufiger Meinung nicht die Redesein.Und:Entlastung durch eine kleine Amnestie könnte einBeitrag sein, um die Summen für den Ausbau derGefängnisse in den nächsten Jahren in Grenzen zuhalten.Wir, Herr Westerwelle, wollen keine Klientelamne-stie, wie es von Ihnen, von der F.D.P., bereits ein um dasandere Mal gefordert wurde.
Ich erinnere nur an Ihren kläglich gescheiterten Gesetz-entwurf aus dem Jahre 1984. Da wollten Sie allen Ern-stes Straffreiheit in eigener Sache. Sie wollten Straferlaßim Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre, die vorallem auch eine F.D.P.-Affäre war.
Oder der ebenso gescheiterte Versuch, 1990 eine Amne-stie für politische Straftäter aus der DDR zu erreichen.Nein, Herr Kollege Westerwelle, wer wie Ihre ParteiGnade immer nur für eine ausgesuchte Klientel – IhreKlientel – will, der sollte sich in dieser Amnestiediskus-sion etwas mehr zurückhalten.
Gnade und Verzeihen fußen auf dem christlichenVersöhnungsgedanken. Sie sind unserem Rechtssystemauch nicht fremd: So haben wir Gnadenordnungen derLänder und das Gnadenrecht des Bundespräsidenten. Dawird jeder Einzelfall eingehend geprüft. Und genau diesmüßten auch die Strafvollstreckungsbehörden bei dervon uns vorgeschlagenen Amnestie tun.Zu Ihnen, Herr Geis: Keiner der begnadigten Terrori-sten ist rückfällig, ist straffällig geworden. Gnade kannauch Rechtsfrieden auf Dauer herstellen und Menscheneine zweite Chance geben.Norbert Geis
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5098 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999
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Trotz stagnierender Kriminalität steigt die Zahl derGefangenen bei uns kontinuierlich an, da die Justiz dieStrafzumessungsmaßstäbe verschärft hat. Die Folge: DieResozialisierung bleibt im Strafvollzug auf der Strecke,und steigende Kosten für den Gefängnisbau fressen dieMittel für die Opferhilfe auf. Ein einmaliger Gnadenaktdurch eine maßvolle Amnestie könnte hier für Entla-stung sorgen.Langfristig wollen wir Alternativen zur Freiheits- undGeldstrafe stärken, beispielsweise durch gemeinnützigeArbeit als selbständige Sanktion. Diese notwendige Re-form und die Verbesserung der Situation der Opferhilfehaben in den letzten Jahren nicht wir, sondern Genera-tionen von F.D.P.-Justizministern, liberale Lichtgestal-ten wie Herr Schmidt-Jortzig, versäumt. Denen habenSie in Ihrer Rede bescheinigt, die Schlußbilanz derF.D.P.-Rechtspolitik in den letzten Jahren sei die Erosi-on des Rechtsstaats.
Da haben Sie sich selbst richtigerweise ein schlechtesZeugnis ausgestellt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man darüber nach-denkt, warum die F.D.P. ausgerechnet heute diese Aktu-elle Stunde beantragt hat, muß man keine besondereWeisheit an den Tag legen, um das mit zwei Worten be-schreiben zu können: Berliner Wahlkampf.
Ich glaube, das ist der eigentliche Hintergrund für dieTonlage, die heute hier angeschlagen worden ist. Nunhalte ich das nicht für illegitim. Ich weiß, wie oft vonhier vorn Wahlkampf geführt wird. Ich muß ehrlich sa-gen: Beim Nachdenken darüber, warum der Vorschlagvon den Grünen in dieser personellen Zusammensetzungzu diesem Zeitpunkt gekommen ist, liegt auch die Ver-mutung „Wahlkampf“ nicht allzu fern.Ich will dazu nur ein Argument nennen. Ich halte die-ses Thema nicht für wahlkampffähig.
Ich glaube, daß man gerade bei Wahlkämpfen ein sosensibles Thema nur schlecht behandeln kann und ihmdaher eher Schaden zufügt.
Man muß bei den Bürgerinnen und Bürgern um Ver-ständnis für solche Gedanken werben, und man mußeine solche Debatte sachlich und öffentlich führen. Dazubraucht man längere Vorläufe. Meine Fraktion und ichhaben eine Menge Erfahrung damit gesammelt, was pas-sieren kann, wenn man den Amnestiegedanken ohne ei-ne öffentliche Debatte und ohne Vorläufe in die Weltsetzt.Wenn ich das jetzt zusammenfasse, könnte ich zu denKolleginnen und Kollegen von den Grünen bestenfallssagen: Gute Absicht ist oftmals das Gegenteil von guterTat. In diesem Fall bedauere ich das außerordentlich. Zuden Kollegen von der F.D.P. möchte ich sagen: Wennich in früheren Jahren – es ist immer schlecht, wenn ein68er von früher spricht – einen solchen Vorschlag ge-hört hätte, hätte ich blind auf F.D.P. getippt. Das ver-bietet sich heute.
Kollege Westerwelle, ich habe Ihre Rede verfolgt. Siehatte den Tenor: Das Abendland ist ob des sehr einge-schränkten – ich will nicht sagen: beschränkten – Vor-schlags der Grünen-Kollegen in Gefahr. Ich will Ihnenprognostizieren: Sie schneiden sich, wenn Sie sich alsLaw-and-order-Partei profilieren wollen, ins eigeneFleisch.
Nutznießer werden ganz andere sein, zum Beispiel dieKollegen von der CDU.Schauen Sie sich doch die Plakate im Berliner Wahl-kampf an. Dort werben die Kollegen von der CDU mitdem Spruch „Null Toleranz für Kriminelle“, danebensind Handschellen zu sehen. Es geht überhaupt nichtdarum, Kriminellen Toleranz entgegenzubringen, son-dern es geht darum, ein sachliches Klima zu schaffenund Debatten darüber zu führen, wie die Kriminalität ambesten bekämpft werden kann,
wie man auch Kriminellen Versöhnung entgegenbringtund Rechtsstaatlichkeit durchsetzt. Dabei dürfen sozialeKomponenten nicht ausgeklammert werden.Ich weiß nicht, ob es den Kollegen von der CDUnicht aufgefallen ist, daß das Thema der Kriminalität inWahlkämpfen mit dem plakativen Herausstellen vonHandschellen nur von drei politischen Kräften angepacktwird: von der CDU, der DVU und den Republikanern.
Volker Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. September 1999 5099
(C)
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In dieser Art und Weise mit dem Thema umzugehen,das schafft den rechten Sumpf, aus dem die Wahlerfolgeder DVU hervorgehen. Dagegen sollten wir uns gemein-sam wehren.
Herr Westerwelle, eigentlich sind Sie eine rheinischeFrohnatur, wenn ich das so sagen darf. Sie sollten sichnicht in diesem Ton und in dieser Art und Weise ein-bringen. Das schadet Ihrer Partei mehr, als es ihr nützt.
Aus meiner Sicht müssen die Ängste der Bürgerinnenund Bürger vor Kriminalität ernst genommen werden.Ich glaube nicht, daß eine Amnestie, die in anderen eu-ropäischen Ländern normal ist, Kriminalität fördert oderdaß durch eine Amnestie die Gefahr der Kriminalitätzunimmt. Aber das Gefühl der Unsicherheit belastetviele Bürgerinnen und Bürger. Wir sollten ihnen in ihrerNot und ihrer Unsicherheit durch vernünftige Debattenund durch eine vernünftige Argumentation helfen.Ich will einen letzten Gedanken nennen. Ich finde denVorschlag, dies an die Jahrtausendwende zu koppeln,nicht besonders überlegt; das ist mir zu sehr von oben,zu sehr nach Gutsherrenart. Ich wäre für ein vernünfti-ges, sachliches Amnestiegesetz. Im Rahmen eines sol-chen Amnestiegesetzes muß auch Raum für einen sinn-vollen Umgang mit politisch motivierten Straftaten undmit politischer Verfolgung geschaffen werden, die es inWest wie in Ost gegeben hat, muß auch über Versöh-nung und Aussöhnung nachgedacht werden, zumal diesmit einer abgeschlossenen Entwicklung der jeweiligenStaatlichkeit zu tun hat. Das wäre mir ein wichtiges An-liegen. Ich glaube, das sollten wir aus dieser Debattenicht verdrängen.An einem solchen Amnestiegesetz mitzuarbeiten, wä-re meiner Fraktion – auch mir persönlich – ein Bedürf-nis, weil ich glaube, daß es wirklich eine Aussöhnungbewirken kann. Ich möchte auch für mich persönlich sa-gen: Ich bin Nutznießer der 68er Amnestie. Sie hat mirfünf Monate erspart. Für diese fünf Monate war ich da-mals außerordentlich dankbar. Es gibt verschiedene We-ge, Irrungen und Wendungen im Leben jedes einzelnen,wo Amnestie etwas Hilfreiches sein kann.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Joachim Stünker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Daß wir uns heute in einer AktuellenStunde mit der Frage einer Jahrtausendamnestie alseines allgemeinen Gnadenerweises für eine unbestimmteZahl von rechtskräftig verhängten, noch nicht voll-streckten Freiheitsstrafen befassen, überzeugt wenig,Herr Westerwelle. Der rechtspolitische Sinn dieser Ak-tuellen Stunde erschließt sich mir auch nach Ihrem Re-debeitrag nicht. Vielleicht ist es kein Zufall, daß geradeIhre Fraktionskollegen aus dem Rechtsausschuß heutewährend dieser Aktuellen Stunde nicht anwesend sind.Rechtspolitisch kann diese Frage keine Priorität ha-ben. Es ist vielmehr die Frage zu stellen: Haben wir vor-ausschauend beim Übergang in das neue Jahrtausendnicht ganz andere Probleme zu lösen und Antworten aufganz andere gesellschaftliche Fragen in der Rechtspoli-tik zu geben? Eine Massenamnestie, meine Damen undHerren, paßt weder in das rechtsstaatliche Selbstver-ständnis unserer 50 Jahre alten Republik noch zu Theo-rie und Praxis unseres Strafrechtssystems und der Aus-gestaltung des Strafvollzuges im Strafvollzugsgesetz,das eine der großen Errungenschaften der sozialliberalenKoalition am Ende der 70er Jahre war.Nach deutschem Recht kann eine Amnestie nur inAusnahmefällen durch ein vom Parlament beschlossenesGesetz gewährt werden. Solche Ausnahmefälle bedürfeneines sachlichen Grundes wie etwa einer nachträglichenGesetzesänderung oder einer nachträglichen Änderungder Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes oder desBundesverfassungsgerichtes. Zweck ist dann jeweils dieHerstellung von Rechtsfrieden und/oder Rechtssicher-heit; so geschehen – Staatssekretär Pick hat darauf hin-gewiesen – mit den Straffreiheitsgesetzen 1949 und1954 für Straftaten, die in der schweren Zeit der Kriegs-und Nachkriegswirren begangen worden waren, sowie1968 und 1970 zur Anpassung an geändertes Recht oder– wie vor kurzem – nachdem das Bundesverfassungsge-richt seine Rechtsprechung zum Gewaltbegriff im Rah-men des Nötigungstatbestandes geändert hatte, so daßeine ganze Reihe von Urteilen im Gnadenwege kassiertwerden mußte. Ein vergleichbarer Anlaß ist meines Er-achtens mit dem Datum 1. Januar 2000 nicht gegeben.Zur Rechtsdogmatik lassen Sie mich folgendes sagen.Der oberste Grundsatz unseres Strafrechts lautet: Strafesetzt Schuld voraus. Deshalb ist bei jeder einzelnen Ver-urteilung die subjektive Schuld des Täters festzustellenund die Sanktion im gesetzlich vorgegebenen Strafrah-men, abgestuft nach Maß und Schwere der persönlichvorwerfbaren Schuld, im Urteil festzusetzen. DieserGrundsatz setzt sich im Strafvollzugsgesetz fort. ImStrafvollzug ist wiederum in jedem Einzelfall subjektivzu beurteilen, ob eine vorzeitige Entlassung zu verant-worten ist oder gar ein Gnadenerweis in Betrachtkommt. Ich habe in meiner langjährigen Praxis immergesagt: Ein gutes Strafurteil ist ein Urteil, in dem dieGrundlagen für die Entscheidungen über Maßnahmenim Strafvollzug und danach für die Zweidrittelentschei-dung oder für Halbstrafengesuche gleich mit gelegt wer-den. Diese Einzelfallprüfungen, die, wie ich meine, Ver-fassungsrang haben, sind im Interesse der Resozialisie-rung jedes einzelnen Verurteilten, im Interesse derGleichbehandlung jedes einzelnen Verurteilten und imInteresse des Schutzes der Bevölkerung vor Straftatenund vor Straftätern unerläßlich. Eine Massenamnestieals „Jubelamnestie“ vermag diese Ziele meines Erach-tens nicht zu gewährleisten. Wann würde die nächste er-Wolfgang Gehrcke
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folgen? Wieder in 1000 Jahren? In 10 Jahren? In 20 Jah-ren? Wo ist der sachliche Grund?
Noch eine Anmerkung zur praktischen Umsetzungsolch einer Amnestie: Die deutsche Strafgerichtsbarkeitarbeitet seit Jahren an der Grenze – ich möchte behaup-ten: an der Obergrenze – ihrer Belastbarkeit. Neue, zu-sätzliche Belastungen sind nicht mehr verkraftbar; dieGerichte würden das nicht leisten können. Der Vor-schlag einer deliktsbezogenen Teilamnestie für kürzereFreiheits- und Restfreiheitsstrafen mit einer Entschei-dung der Vollzugsstelle im Einzelfall – wer soll dassein? – und der Möglichkeit der gerichtlichen Überprü-fung dieser Entscheidung – so habe ich den Vorschlagverstanden – würde eine Flut von neuen Verfahren aus-lösen und damit weitere Belastungen der Gerichte mitsich bringen. Die Strafvollstreckungskammern wärendafür zuständig. Die Praxis würde, glaube ich, für einesolche gesetzliche Regelung wenig Verständnis haben.Der Gesetzgeber ist daher gut beraten, diesen Weg nichtzu gehen. Für den Gedanken einer Jahrtausendamnestiewürde der Satz gelten: „Wenig Recht, viel Politik!“
Meine Damen und Herren, schauen wir deshalb liebernach vorne! Schauen wir auf das, was im Bereich derStrafrechtspflege rechtspolitisch notwendig ist, um denRechtsgüterschutz der Menschen in unserem Land undum den Schutz der Gesellschaft vor Straftaten undStraftätern zu gewährleisten! Ich meine damit die not-wendige Reform des Sanktionensystems, die wir noch indieser Legislaturperiode auf den Weg bringen werden,um die Verhängung von kurzfristigen Freiheitsstrafen zuverhindern, die Reform des Rechtsmittelsystems mitmehr Bürgernähe, Transparenz und Effizienz des Straf-prozesses, einen verbesserten Opferschutz und Zeugen-schutz im Strafprozeß, ein Untersuchungshaftvollzugs-gesetz, auf das wir seit Jahrzehnten warten, und diewirksamere Bekämpfung der organisierten Kriminalität.Das sind große Aufgaben; an ihrer Lösung sollten wir,liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam arbeitenund uns nicht mit solchen Pseudodebatten wie heute be-schäftigen.Für mich stellt sich deshalb zum Abschluß noch ein-mal die Frage: Welchen Sinn sollte die heutige AktuelleStunde haben, Herr Westerwelle? Sollte vielleicht dochrichtig sein, was gestern in der „FAZ“ zu lesen war:Kopfloser Aktionismus der F.D.P. Muß sie solcheScheingefechte führen, um überhaupt noch wahr-genommen zu werden?Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für den Bundesrat
spricht jetzt der Senator für Inneres der Stadt Berlin, Dr.
Eckart Werthebach.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ha-rald Schmidt glaubt, daß die Grünen mit ihrem Vor-schlag einer Jubiläumsamnestie etwas für ihre Stamm-wähler tun wollen. Das ist natürlich falsch. Ich denkeaber schon, daß dieses Thema jedenfalls derzeit besserin einer Satire zu behandeln ist.Meine Damen und Herren, heute steht nicht mehr dieSicherheit vor dem Staat, sondern die Sicherheit imStaat ganz oben auf der Tagesordnung unserer Gesell-schaft. Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Ge-waltenteilung hängen heute in Deutschland und in Euro-pa unauflöslich zusammen. Dies gilt uneingeschränktgerade auch für den Bereich unserer Justiz. Vor diesemHintergrund ist es mir unverständlich, wenn die Grünenanläßlich der Jahrtausendwende eine Jubiläumsamnestiefür eine bestimmte Gruppe von Strafgefangenen fordern.Wir leben nicht in einer Bananenrepublik, die anläß-lich des Millenniums eben einmal gönnerhaft die staatli-che Macht für kurze Zeit vermindert, um hinterher wie-der die Zähne der Staatsmacht zu zeigen. Deutschlandist ein in fünf Jahrzehnten gereifter Rechtsstaat, dessenJustiz und Strafvollstreckung auch sozialen Hintergrün-den Rechnung tragen und auf die Schuld des einzelnenabstellen. Es gibt daher nicht den geringsten Anlaß, dieGewaltenteilung zu durchbrechen und eine Fülle von ge-richtlichen Entscheidungen auf willkürliche Weise außerKraft zu setzen.Wir brauchen keine Erosion des Rechtsbewußtseins,sondern das Gegenteil: eine moralische und wertbezo-gene Orientierung an rechtsstaatlichen Grundprinzipien,und dazu gehört vor allem auch, daß kleinere Straftatengenauso verfolgt und geahndet werden wie große. Inso-weit stimme ich Herrn Westerwelle ausdrücklich zu.
Niemals darf die Tatsache, daß ein bestimmtes Deliktmassenweise begangen wird, dazu führen, daß der Staatdavor zurückschreckt, eine entsprechende Anzahl vonStrafverfahren durchzuführen und die Taten zu ahnden.Wenn dies geschähe, wäre das eine Ermunterung allderjenigen, die es für selbstverständlich halten, zu steh-len, fremde Sachen zu zerstören oder andere Menschenkörperlich zu attackieren.
Das deutsche Strafrecht knüpft an die individuelleSchuld des Täters an und verfügt über ein überaus mo-dernes und liberales Vollzugssystem, welches im Be-reich der Rechtsfolgen eine Vielzahl von Möglichkeiteneröffnet, nicht nur die Persönlichkeitsstruktur des Täters,sondern auch die Prognose seines sozialen Verhaltensangemessen zu berücksichtigen. Dies ist in einemRechtsstaat selbstverständlich. Genauso selbstverständ-lich muß es jedoch in einem Rechtsstaat sein, daß überdie Folgen strafbaren Tuns auch nur im Einzelfall ent-Joachim Stünker
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schieden wird. Dieser Aspekt der Generalprävention istin den 70er Jahren und bis zum Beginn der 80er Jahreoft schmählich vernachlässigt und insbesondere von denGrünen massiv angegriffen worden. Sie haben genaudeshalb jetzt eine Amnestiedebatte losgetreten, um zuverhindern, daß im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichseine Verschiebung zu Lasten des Täters erfolgt. Keines-falls kann es richtig sein, mit einer Amnestie Signale zusetzen, die das Strafen im unteren Bereich als überflüs-sig erscheinen läßt. Dies ist eine Rechtspolitik, dieglücklicherweise von der überwiegenden Mehrheit unse-rer Mitbürger nicht geteilt wird; denn unsere Bürger er-warten, daß ihr Eigentum genauso wie ihre körperlicheIntegrität geschützt wird.
Eine Amnestie ist deshalb ein denkbar ungeeignetesMittel, um Verbrechensbekämpfung wirksam voranzu-treiben. Sie würde auf keinerlei Verständnis in unsererBevölkerung stoßen. Mit einer Jubelamnestie wird dasOpfer verhöhnt. Nur im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichs kann Versöhnung, also Gnade und Verzei-hen, stattfinden. Niemals kann Versöhnung jedoch zwi-schen Staat und Täter erfolgen, wie es die Grünen for-dern.
Unser Staat spricht Recht auf der Basis der geltendenGesetze. Durch Amnestien wird einseitig und pauschalder Täter privilegiert. Dies ist keine verantwortungsvolleRechtspolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege ChristianStröbele das Wort.
Kollegen! Ich möchte sehen, wie die Connection Wer-thebach/Westerwelle/Geis
gemeinsam nach Frankreich reist
und dem französischen Staatspräsidenten in einem per-sönlichen Gespräch klarmacht, daß das, was in Frank-reich alle sieben Jahre praktiziert wird, einer „Bananen-republik“ – so haben Sie, Herr Werthebach, es genannt –würdig sei und daß dies ein Rückfall in vordemokrati-sche Usancen sei. Ich wäre gern bei diesem Gespräch, indem Sie dies vermitteln wollen, dabei.
Herr Westerwelle, Sie müssen sich doch darüber imklaren sein, daß Sie nur dann europäisch sein können,wenn Sie auch die Gepflogenheiten in den anderen Län-dern berücksichtigen. Österreich hat zum Beispiel einähnliches Rechtssystem und weist eine ähnliche Rechts-entwicklung wie die Bundesrepublik Deutschland auf.Dort gibt es alle zehn Jahre nicht eine „Jubelamnestie“,wie Sie es hier diffamierend bezeichnet haben, sonderneine Jubiläumsamnestie. Anläßlich der Feierlichkeitenzur 10jährigen, 20jährigen und 30jährigen Unabhängig-keit Österreichs wurden Amnestien verkündet. SolcheAmnestien gibt es auch in Italien, in Frankreich und invielen anderen demokratisch verfaßten Ländern Euro-pas.Es ist vorstellbar, Herr Geis – dazu liegen entspre-chende Berichte bereits vor –, daß das bevorstehendechristliche Jahrtausendjubiläum auch in anderen Län-dern Anlaß sein könnte, eine Amnestie am 1. Januar2000 durchzuführen. Wollen Sie diesen Ländern mit Ih-rer Begründung kommen und sagen: „Wir haben aberein viel gerechteres System; wir machen das ganz an-ders“? Gehen Sie doch einmal nach Frankreich! Auch inFrankreich kann man Freiheitsstrafen zur Bewährungaussetzen, kurze Freiheitsstrafen überhaupt nicht antre-ten müssen und in Freigang kommen. All diese Rechts-institute sind in Frankreich, in Italien und in Österreichgenauso wie in Deutschland zu Hause.Sie wehren sich gegen unseren Versuch, eine Diskus-sion über ein vergessenes Rechtsinstitut, das es auch inder Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, in Gangzu bringen. In einer Rundfunksendung haben Sie diesesRechtsinstitut mit der Aussage diffamiert, wir wolltendie Schwerverbrecher auf die Bevölkerung loslassen.In Wirklichkeit sind Sie völlig neben dem Text, denwir vorgelegt haben. Wir wollen diejenigen Menschen,die kurze Freiheitsstrafen oder kurze Reststrafen zu ver-büßen haben, zum 1. Januar 2000 amnestieren. HerrWerthebach, ich hätte von Ihnen als Landespolitiker er-wartet, daß Sie uns einmal sagen, wie viele Menschenwegen Freiheitsstrafen zur Zeit in Berlin im Gefängnissitzen. Herr Geis, es ist nicht so, wie Sie behauptet ha-ben, daß in Deutschland Menschen immer nur wegenschwerer Gewalttaten im Gefängnis sitzen.
Wenn das der Fall ist, dann müssen sie schon sehr vielausgefressen haben. Es gibt Menschen, die wegen Ver-letzung der Unterhaltspflicht im Gefängnis sitzen.
Es nützt weder den Opfern noch den Familien, daßMenschen wegen Straftaten wie Verkehrsdelikten, Ver-letzung der Unterhaltspflicht oder weil sie ihre Geldstra-fen nicht bezahlen konnten im Gefängnis sitzen.
Dr. Eckart Werthebach
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In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Strafgefangenenin den letzten Jahren von 16 000 auf 19 000 gestiegen.Man beabsichtigt eine neue Haftanstalt zu bauen.
Ein Drittel dieser neu zu verbüßenden Strafen sindGeldstrafen, die nicht bezahlt werden können und diejetzt im Gefängnis abgesessen werden müssen. Das ist injeder Hinsicht Unsinn. Wir wollen umsteuern und ver-suchen, etwas anderes zu machen.
Das hier vorgetragene Argument, man müsse bei je-dem Gefangenen eine unzumutbare Prüfung vornehmen,die einen ungeheuren bürokratischen Aufwand nach sichziehe, zeigt, daß Sie offenbar schon lange nicht mehr inGerichtssälen und schon gar nicht in Gefängnissen wa-ren. Ich sage Ihnen, liebe Kollegen Rechtsanwälte undJuristen: Schon heute ist es so, daß bei jedem Gefange-nen jedes Jahr eine solche Prüfung vorgenommen wird,nämlich dann, wenn die Frage geklärt wird, ob er in Ur-laub gehen darf, ob er Besucher empfangen darf oder ober vorzeitig aus der Haft entlassen wird. Solche Progno-seentscheidungen werden sowieso gefällt, und sie sindalle gerichtlich überprüfbar. Das ist überhaupt nichtsNeues. Alles, was wir wollen, ist, neue Folgerungen andiese Prognoseentscheidungen zu knüpfen.Es war das vornehmste Recht der Könige in früherenGesellschaften und auch noch in manchen heutigen Ge-sellschaften, Gnade zu üben.
Dieses Recht, individuell Gnade zu gewähren, hat inDeutschland der Bundespräsident.
Das vornehmste Recht des Souveräns der Bundesrepu-blik Deutschland, der Bevölkerung, vertreten durch ihrParlament, ist es, Gnade auch für viele zu gewähren, wiees früher nur Könige konnten. Wenn das Parlament jetzteinen Gnadenerlaß beschließt, mit dem man ein Zeichensetzt, dann wäre das nicht nur für die Verurteilten undihre Familien gut, sondern auch für die Gesellschaft,weil es zeigt, daß wir großmütig liberale Signale setzenkönnen. Es wäre auch gut für den Staat, weil er dadurchsehr viel Geld spart und, jedenfalls im Augenblick, kei-ne neuen Haftanstalten bauen muß, und es wäre gut fürdie Opfer – Sie vergessen das immer wieder –, weilviele von den dann Entlassenen in die Lage versetztwerden, ein bißchen von dem Schaden, den sie ange-richtet haben, durch eigene Arbeit, durch Zahlungen imTäter-Opfer-Ausgleich wiedergutzumachen.
Deshalb wollen wir einen solchen Gnadenakt.Wir diskutieren über diesen Gnadenakt mit der Evan-gelischen Akademie Loccum. Sie hat ein Seminar fürNovember angekündigt. Wir kämpfen zusammen mitder Humanistischen Union, mit der Rechtsanwaltsverei-nigung und mit vielen anderen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strö-
bele, Sie müssen zum Schluß kommen.
diese Debatte, die wir heute im Deutschen Bundestag
geführt haben, in der Gesellschaft fortsetzen, um eine
Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen! Lassen Sie
uns nicht mit Horrorgemälden polemisieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Der Amnestie-Aufrufder Grünen offenbart, wie ich finde, ein höchst erstaun-liches Staatsverständnis, und Sie müssen sich schon ge-fallen lassen, daß wir das hier im Parlament zur Sprachebringen. Ich habe ohnehin den Eindruck, Sie sind sich inder Koalition – es ist ja doch ein Koalitionsthema –nicht ganz einig über die Strategie, wie Sie sich zu die-sem peinlichen Vorfall stellen sollen. Auf der einenSeite höre ich, man müsse das alles ganz tiefhalten, undes wird gefragt, wie die böse F.D.P. dazu komme, solcheine Lächerlichkeit hier im Parlament auch nur zurSprache zu bringen. Auf der anderen Seite höre ich, daßSie überzeugt zu diesem Vorschlag stehen und darüberin der Tat eine Diskussion anstoßen wollen. Offenbarkommt Ihnen diese Debatte also gelegen. Dann ist esauch gut, daß wir das Staatsverständnis analysieren, dasdahintersteht.Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, sindnicht mehr irgend jemand, der für sich relativ unver-bindlich Vorschläge formulieren kann, sondern Sie sindeine Regierungsfraktion. Wenn zwar nicht Ihre Fraktionals solche, aber führende Vertreter Ihrer Fraktion dieseVorschläge machen, ist das ein Thema für dieses Parla-ment. Ich wüßte nicht, was das Parlament sonst zu tunhätte, als die Regierung zu beobachten, zu kritisieren, zukontrollieren und die Dinge, die dem Parlament eini-germaßen komisch vorkommen, auch zur Sprache zubringen. Soviel vorweg.
Wenn ich es richtig sehe, beweist die Amnestie-Initiative mindestens in dreierlei Hinsicht – ich möchteversuchen, mich darüber ein wenig zu vergewissern undes ein wenig deutlich zu machen – ein doch recht be-Hans-Christian Ströbele
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denkliches Verhältnis zu unserem Staat, man könnteauch erschreckendes Verhältnis sagen; auf alle Fälle je-denfalls ein fragwürdiges Verhältnis.Zum einen finde ich es schon bemerkenswert, daß dieGrünen ganz offensichtlich die rechtlichen Reaktionen,die deutsche Gerichte auf Straftaten gefunden haben – esgeht nicht um einzelne Urteile, über die man rechtenkönnte, sondern ganz pauschal –, aus Gerechtigkeits-gründen für korrigierungsbedürftig halten. Ohne einesolche inhaltliche Differenz würde ja nicht einmal derschon zitierte „Gutsherr“ daherkommen und einmal ge-troffene Entscheidungen aufheben. Man muß dafür alsoGründe haben. So weit wird man mir ja wohl folgenkönnen. Wenn diese Gründe nicht ausreichen, um vomRechtsstaatsverständnis her eine Amnestie zu rechtferti-gen, also etwa Vorbereitung einer Befriedung der Ge-sellschaft, Bewältigung einer abgeschlossenen Zeit oderwie auch immer, dann frage ich mich, welche Gründewirklich dahinterstehen. Nur daß jetzt der Kalender zu-fällig umspringt, kann jedenfalls kein Grund sein, denich den Grünen, wenn ich sie ernst zu nehmen versuche,abnehmen könnte.
– Nein, ich lasse Sie jetzt nicht nach Frankreich oderÖsterreich ausweichen. Wir sind hier in Deutschlandund haben uns mit unserem deutschen System auseinan-derzusetzen. Nur darum geht es.
Es geht nur um Deutschland unter dem Grundgesetz. Ichwürde Sie gerne fragen: Mißtrauen Sie denn den deut-schen Gerichten? Halten Sie das, was und wie dort judi-ziert wird, im Grunde für falsch und ungerecht? Ich fandes dabei ganz erhellend – das hat meine Frage zu diesemPunkt eigentlich schon beantwortet –, daß der KollegeBeck deutlich gesagt hat, daß man eigentlich etwas ganzanderes wolle, nämlich die alte Diskussion über die Ent-kriminalisierungspolitik wieder aufwärmen, nach derStrafen durch etwas anderes ersetzt werden sollen. Dassoll jetzt durch das etwas dekorativere Gewand einerJahrhundertamnestie wieder auf die Tagesordnung ge-setzt werden.
Zum zweiten bedrückt mich schon, wie bedenkenloseine Regierungsfraktion oder wenigstens wesentlicheMitglieder derselben einen Eingriff in die Abläufe derJustiz inszenieren wollen. Eine Intervention der Politikin den gerichtlichen Rechtsvollzug aus Opportunitäts-gründen – wie gesagt, andere Gründe liegen ja wohlnicht vor – wollten die Deutschen nicht wiederhaben.Deswegen enthält das Grundgesetz in Art. 97 die be-kannte eherne Garantie der Unabhängigkeit der Gerichteals Eckpunkt und Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit.
Ich hoffe doch nicht, daß Sie diesen Eckpfeiler einreißenwollen. Wenn doch, dann wüßte ich gerne, ob das nuraus reiner Feiertagslaune, aus Millenniums-Erwartun-gen, oder vielleicht aus tiefergehenden grundsätzlichenErwägungen stattfinden soll.
Schließlich zum dritten: Lieber Herr Kollege Ströbe-le, bei Ihrem Vorschlag spielen – ich glaube, daß Sie daserkennen, wenn Sie es einmal ganz nüchtern betrachten;Sie werden das mit Verve abstreiten – vordemokratischeVorstellungen mit. Die Initianten verstehen unserenStaat, die Bundesrepublik Deutschland unter demGrundgesetz – nicht irgendeinen Nachbarstaat –, offen-bar als eine von Natur aus übermächtige, absolutistischeHoheitsinstanz, die bei selbstgewählten Anlässen ebensofrank Huld und Wohltaten verteilen kann, wie sie zuvorStrafen und Lasten verhängt hat.Was sind denn das für Vorstellungen? Der Staat sinddoch wir. Alle Regierungsmacht geht vom Volke ausund nicht von irgendwelchen politischen Opportunitäts-erwägungen zu bestimmten Anlässen mit sehr partikulä-ren Interessen. Ich frage also die Grünen ganz konkret:Sind Sie sich eigentlich über diese Hintergründe – fasthätte ich gesagt: Untergründe – Ihrer Initiative im kla-ren? Wenn nicht Staatssekretär Pick schon mit ruhigerStimme, aber in der Sache sehr deutlich Stellung bezo-gen hätte, hätte ich zum Abschluß nachgefragt: HaltenSie, lieber Herr Pick oder verehrte Frau Ministerin, hältalso die Bundesregierung solche Strömungen und Pro-venienzen für die Regierung eines Rechtsstaates für an-gängig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt-Jortzig, Sie müssen leider zum Schluß kom-
men.
Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Hans-Joachim Hacker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Abgesehen vonder allgemeinen Frage, ob anläßlich der Jahrtausend-wende eine Amnestie für bestimmte Straftaten verkün-det werden sollte, drängt sich für mich zwangsläufig dieFrage auf, ob nicht wegen der jüngsten deutschen Ver-gangenheit und zur Überwindung der immer noch beste-henden Gräben in unserem Volk eine Amnestie für poli-tische Straftäter aus dem DDR-Apparat angezeigt ist.Ich spreche das auch deswegen an, weil Herr KollegeGehrcke diese Frage hier heute erneut thematisiert hat.Die PDS als Anwalt dieser Gruppe hat diese Frage öf-Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
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fentlich und auch im parlamentarischen Raum in derzurückliegenden Zeit mehr als einmal aufgeworfen, zu-letzt anläßlich des 50. Jahrestages des Grundgesetzes.Meine Damen und Herren, eine Amnestie ist jedochvon der überwältigenden Mehrheit des Deutschen Bun-destages und von der deutschen Öffentlichkeit – zuRecht, meine ich – als ungeeigneter Beitrag zum Rechts-frieden und zur inneren Einheit Deutschlands abgelehntworden. Denn worum geht es bei dieser Thematik?In der DDR wurden aus politischen und ideologi-schen Gründen und in nicht wenigen Fällen aus reinemMachtkalkül Rechtsverletzungen staatlicherseits began-gen bzw. zugelassen, die wegen des zugrunde liegendenMotivs von der SED-hörigen Justiz nicht verfolgt wur-den – und dies, obwohl in fast allen Fällen auch gegenDDR-Recht verstoßen wurde. Erst nach dem politischenUmbruch, nach der deutschen Einheit und dem Aufbaueiner rechtsstaatlichen Justiz in den neuen Ländernkonnte mit der Aufarbeitung dieses Relikts der DDR-Geschichte begonnen werden. Daß die erreichten Ergebnisse – das ist hier schonvermerkt worden – bei den Bürgerinnen und Bürgernund vor allen Dingen bei den Opfern nicht generell aufZustimmung gestoßen sind und nicht befriedigen konn-ten, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber bedenkenwir: Auch darin unterscheiden sich rechtsstaatliche Ver-fahren in Deutschland von politischen Strafprozessen,ob in Waldheim oder in anderen Strafprozessen bis indie letzten Monate der DDR unter der SED-Herrschaft.Meine Damen und Herren, von den Rechtfertigernder Unrechtstaten im DDR-System wird für die juristi-sche Aufarbeitung von DDR-Unrecht der in der Nach-kriegszeit aufgekommene Begriff der Siegerjustiz ver-wendet. Schon der geschichtliche Bezug ist mehr alsfragwürdig. Dazu kommt, daß die Ergebnisse der Straf-verfahren zum DDR-Unrecht einen, so meine ich, über-zeugenden Beweis dafür liefern, daß die Rechte der An-geklagten gewahrt und daß rechtsstaatliche Prozessedurchgeführt wurden.Die strafrechtliche Auseinandersetzung mit den Un-rechtstaten während der DDR-Zeit, die schlechthin alsRegierungskriminalität bezeichnet werden, war und istunabdingbar. Der Rechtsstaat war dazu nicht nur gegen-über den Opfern verpflichtet; vielmehr hat er damit aucheine geschichtliche Lehre umgesetzt, die darin besteht,daß es sich nicht lohnen darf, politisches Unrecht zu be-gehen, weil am Ende Gerechtigkeit siegt und Täter zurVerantwortung gezogen werden. Wer Demokratieschützen und verhindern will, daß sich ähnliche Ent-wicklungen wiederholen, muß nach dem Zusammen-bruch der DDR auch die Auseinandersetzung mit demUnrecht dieses Regimes suchen. Die Bundesregierungund die sie tragende Koalition sind dabei nicht auf ei-nem Rachefeldzug, sondern sie überlassen diesen Prozeßder unabhängigen Justiz.Gleichzeitig sagen wir, daß wir für die Opfer derDiktatur in der SBZ und in der DDR endlich Gerechtig-keit schaffen müssen und die offensichtlichen Defizite inden Rehabilitierungsgesetzen, die an dieser Stelle mehr-fach erwähnt worden sind, endlich beseitigen müssen.Dazu hat die Bundesregierung Initiativen ergriffen. Ichhoffe, daß wir noch in diesem Jahre das Gesetzgebungs-verfahren abschließen können.Um es auf den Punkt zu bringen: In Deutschland, ins-besondere in den neuen Ländern, gibt es weder einensachlichen noch einen zeitlichen Ansatzpunkt dafür, eineAmnestie für politische Straftäter zu erlassen. Eine Am-nestie würde einen nicht zu verantwortenden Schluß-strich unter die Aufarbeitung der DDR- und der SED-Geschichte bedeuten. Dieses wäre ein falsches Signalund würde erneut Risse in der Gesellschaft vertiefen.Insofern ist die allgemeine Debatte über eine Amne-stie für bestimmte Straftaten genauso überflüssig wie dieDiskussion über einen Straferlaß für Täter des DDR-Systems. Eine Amnestie oder eine Teilamnestie fürSED-Straftäter wäre eine Verhöhnung der Opfer. UnserAugenmerk muß sich darauf richten, für die Entschädi-gung der Opfer einzutreten und endlich die notwendigengesetzlichen Regelungen zu schaffen. Wir dürfen abernicht Entlastung und Wohl der Straftäter in den Blicknehmen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Volker Kauder.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Die Amnestie ist demdeutschen Rechtswesen nicht fremd. Aber sie ist in ei-nem Rechtsstaat an enge Voraussetzungen gebunden.Der Vorschlag aus der Fraktion der Grünen mißachtet,daß man über dieses Instrument, das nur sehr spärlicheingesetzt werden darf, nicht täglich frei verfügen kann.Wie wenig man in der Fraktion der Grünen über die-ses Thema nachgedacht hat, ist mir durch Zwischenrufeund Äußerungen gerade in dieser Debatte deutlich ge-worden. Auch Sie, sehr geschätzte Frau Kollegin Voll-mer, verwenden in der Diskussion über die Amnestieständig den Begriff der Gnade. Dabei sind Amnestieund Gnade zwei unterschiedliche Begriffe, die nichtsmiteinander zu tun haben und von unserem Rechts-system klar unterschieden werden. Das sollten Sie ei-gentlich wissen.
Das Gnadenrecht, das wir in der BundesrepublikDeutschland haben, ist eine ganz systematische und lo-gische Fortsetzung der Einzelfallgerechtigkeit durch dieRechtsprechung. Hier wird in einem Einzelfall geprüft,ob sich vielleicht noch Gründe ergeben, die außerhalbdes eigentlichen Rechtssystems liegen, um im Ausnah-mefall Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Es wird ebennicht das Recht außer Kraft gesetzt. Es heißt nämlichausdrücklich: Gnade vor Recht. Das Entscheidende beimGnadenrecht ist – ganz im Gegensatz zur Amnestie –,daß wie bei einem Gerichtsurteil einer die Verantwor-tung für eine solche Entscheidung übernimmt.Hans-Joachim Hacker
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Ich bin einigermaßen zufrieden, daß sich die Bundes-regierung klar erklärt hat. Ihr Koalitionspartner hat abergesagt – dieser Punkt schmerzt Sie etwas, Herr Staatsse-kretär Professor Pick –, er befinde sich mit seinen Vor-schlägen in guter Gesellschaft. Er hat Sie aber heutedamit nicht gemeint, was Sie angesichts der Tatsache,daß Ihre Haltung in der Sache richtig ist, verkraftenkönnen.Richtig ist auch: Wenn wir über Amnestie reden, darfkeine falsche Botschaft ins Land gehen. Genau diese fal-sche Botschaft geht aber von Ihrem Vorschlag aus, HerrBeck und Herr Ströbele. Ihre Botschaft, die bei denMenschen ankommt, heißt doch: Aus Anlaß eines gro-ßen Festes machen wir ausgerechnet denjenigen ein Ge-schenk, die dem Volk und dem einzelnen geschadet ha-ben. Aber mit keinem Satz wird gesagt, daß wir den Op-fern dieser Straftaten ein Geschenk machen müßten.
Dies ist die Verschiebung in der ganzen Diskussion.Damit haben Sie dem Thema Opferschutz und Opfer-Täter-Ausgleich keinen guten Dienst erwiesen.Der zweite Punkt: Sie sind es gewesen, die, zusam-men mit uns allen, gesagt haben: Es gibt Bereiche derKriminalität, in denen wir mehr machen müssen; Stich-wort: Jugendkriminalität und Sexualkriminalität. In die-sem Zusammenhang muß die Botschaft, daß eine Amne-stie erfolgen soll, bei den Menschen falsch ankommen.Ich halte es auch für völlig überzogen, daß der Deut-sche Bundestag aus Anlaß eines solchen Festes eineGruppe herausgreift und ihr ein Geschenk macht. Wennwir ein Geschenk machen wollen, müssen wir uns über-legen, ob wir ein Geschenk an die Bevölkerung insge-samt machen. Aber wir dürfen nicht eine Gruppe he-rausgreifen, die auch noch besonders problematisch ist.
Wir lehnen die Amnestie deshalb ab.Von der Amnestie, wie Sie sie vorgeschlagen habenbzw. wie ich sie verstanden habe, geht auch keinerleiGerechtigkeit aus. Wieso soll gerade derjenige amne-stiert werden, der eine Freiheitsstrafe bekommen hat,während derjenige, der mit einer Geldstrafe belegt wor-den ist, nicht berücksichtigt wird. Aus welchem Grundwollen Sie das so machen? Ich habe manchmal den Ein-druck – dieser eine, vielleicht etwas ironisierende Punktsoll in dieser ansonsten ernsthaften Debatte doch ange-sprochen werden –, daß Sie bei der Amnestie der Straf-täter so verfahren wie bei der Ökosteuer: Wer am mei-sten hat, dem wird am meisten erlassen, und derjenige,der weniger hat, kommt nicht davon.Wir können nur sagen: Es ist eine falsche Verbin-dung, die Sie zu knüpfen versuchen. Sie haben damitdem Gedanken einer rechtsstaatlich begründeten Amne-stie keinen guten Dienst erwiesen. Sie haben im übrigender Bevölkerung wieder einmal gezeigt: Das ThemaRechtsstaat, der Schutz vor Verbrechen ist bei Ihnen amwenigsten gut aufgehoben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Aufden Kern reduziert, lautet die zur Diskussion stehendeFrage: Ist es angemessen, den Beginn des dritten Jahr-tausends mit der Forderung nach übergesetzlicher Ge-rechtigkeit zu verbinden?Die erste Jahrtausendwende nach Christi Geburt wur-de damals in ein hochdramatisches Verhältnis zu demWunsch nach höherer Gerechtigkeit gesetzt. Man er-wartete die Wiederkunft Christi und damit nicht wenigerals den Endpunkt der Geschichte, das Ende der Welt.Man erhoffte oder befürchtete – je nach Länge des Sün-denregisters – den Beginn der göttlichen Herrschaft unddamit ein Zeitalter himmlischer Gerechtigkeit.Der Glaube an die Magie der Zahl gehört heute derVergangenheit an. Aber auch die vergleichsweise be-scheidene Verknüpfung des anstehenden Übergangs indas nächste Jahrtausend mit der Frage eines Amnestie-gesetzes erscheint aus unserer Sicht nicht angemessen.Um die Anwort der großen Regierungsfraktion gleichvorwegzunehmen: Wir sind der Meinung, daß wir keinAmnestiegesetz brauchen.Wir haben dafür gute Gründe: Erstens. Es bedarf kei-nes Amnestiegesetzes, um dem Gesichtspunkt der Reso-zialisierung oder der Möglichkeit der Schadenswieder-gutmachung Rechnung zu tragen. Das Sanktionensystemdes geltenden Strafrechts dient nicht der blinden Ver-geltung. Es ist bereits so weitgehend differenziert, daßalle Gesichtspunkte Berücksichtigung finden. Im übri-gen ist die Regierungskoalition dabei, das Sanktionensy-stem noch effektiver zu gestalten.
In der Bundesrepublik Deutschland wird eine unbe-dingte Freiheitsstrafe nur als Ultima ratio ausgespro-chen. Unsere Rechtsprechung gibt keinen Anlaß, dasErgebnis einer individuellen gerichtlichen Überprüfungvon Schuld und adäquater Sanktion im nachhinein durchein allgemeines Gesetz aufzuheben.Unser Recht kennt als zweites die Möglichkeit derBegnadigung im Einzelfall. Dieses Gnadenrecht stehtdem Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten derLänder zu. Es ergänzt unser ausgefeiltes Rechtssystem,
um dem Gedanken materieller Gerechtigkeit auch in den– seltenen – Fällen Rechnung zu tragen, in denen dieVollstreckung einer rechtskräftigen Verurteilung unbil-lig erscheint. Eine derartige Entscheidung dient der Ein-zelfallgerechtigkeit. Hier findet eine genaue Überprü-fung der Umstände statt. Nur diese besonderen Gnaden-gründe rechtfertigen die Durchbrechung der Rechtskrafteines Urteils und die Ungleichbehandlung im Vergleichzu anderen Tätern, deren Urteile vollstreckt werden. EinVolker Kauder
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Amnestiegesetz aus Anlaß der runden Zahl nimmt hier-auf keine Rücksicht und erscheint willkürlich.
Drittens. Ich möchte nicht generell ausschließen, daßein Amnestiegesetz einen kriminalpolitischen oder ge-sellschaftlichen Sinn haben kann. Dies kann zum Bei-spiel der Fall sein – das ist heute einige Male angespro-chen worden –, wenn sich die gesellschaftlichen Ver-hältnisse geändert haben oder wenn Delikte betroffensind, die im Hinblick auf die Umstände ihrer Begehungeiner vergangenen Epoche angehören, so daß zugunstendes inneren Friedens ein Schlußstrich gezogen werdensoll und kann.Eine Amnestie kann den Sinn haben, gesetzlichscheinbar legitimiertes Unrecht mit dem Ziel der Reha-bilitierung der Opfer nun auch gesetzlich als Unrecht zubezeichnen. Ich denke an die Rehabilitierung der Opferdes Naziregimes, aber auch an die Rehabilitierung derOpfer der politischen Verfolgung in der ehemaligenDDR.Der schlichte Wechsel in das Jahr 2000 markiert je-doch weder den Übergang in eine neue geschichtlicheEpoche, noch bedeutet er eine Zäsur im Sinne einesWertewechsels. Nach dem Silvesterjubel wird nur eineNeuerung übrigbleiben: das neue Datum.Viertens. Eine Jahresjubelfeier ist nur für Diktaturenund Unrechtsstaaten ein willkommener Anlaß für eineAmnestie. Gerade die innere Grundlosigkeit derartigerAmnestien ist hier die eigentliche, versteckte Botschaft.Diese Botschaft richtet sich an Menschen, die der purenGewalt unterworfen sind. Sie heißt: Die Machthaberverhaften zwar willkürlich, bei guter Laune und einemschönen Fest kommt man aber auch wieder frei. DieBotschaft heißt: Ertragt das willkürliche Unrecht desheutigen Tages; eines späteren Tages werdet ihr genausowillkürlich wieder freikommen.
Eine derartige Amnestie ist vordemokratisch. Ich denke,daß wir uns insoweit alle einig sind: Diese Art der Am-nestie ist der Bundesrepublik nicht würdig.Es ist gängige Praxis in unserem Land, daß zu einembestimmten Fest, nämlich dem Weihnachtsfest, denjeni-gen, die nur noch wenige Tage zu verbüßen haben, exaktzu diesem Zeitpunkt die Strafe erlassen wird. Es sindAusnahmen. Wir sollten es bei diesen Ausnahmen be-lassen.Ich glaube, daß Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der F.D.P., mit der Beantragung dieser AktuellenStunde heute weder dem Rechtsstaat noch der Demo-kratie noch sich persönlich einen Gefallen getan haben.
Ich darf Ihnen sagen, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen auf dieser Seite des Hauses: Die Koalition werdenSie mit dieser Aktuellen Stunde nicht in Bedrängnisbringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Dr. Susanne Tiemann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuerst ha-be auch ich gedacht, daß diese Aktuelle Stunde nichtnötig sei. Aber die Debatte hat mir gezeigt, daß sie dochsehr nützlich ist. Zum einen hat mich sehr gefreut, daßder Herr Staatssekretär die Konturen unseres Rechts-staates so gut und präzise herausgearbeitet und dargelegthat, warum eine Amnestie in der vorgeschlagenen Formeben nicht möglich ist. Zum anderen ist es meiner Mei-nung nach sehr gut, daß wir uns einmal allgemein aufdie Konturen eines Rechtsstaates besinnen. Die AktuelleStunde gibt uns Anlaß, dies zu tun.Es wurde häufig gesagt, in anderen Ländern gehe dasmit der Amnestie doch auch, dort mache man es dochauch. Ich glaube, gerade der Herr Staatssekretär hatklargemacht, daß es um die Konturen unseres deutschenRechtsstaates geht, um den wir hier ringen. Wir könnenauf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit sagen,daß unser Rechtsstaat in vielfacher Hinsicht besondersscharf konturiert ist. Nehmen Sie nur das Prinzip derGewaltenteilung.Es wurde heute oftmals gesagt: Könige haben dochauch schon Amnestie gewährt. Bereits im Alten Testa-ment gab es das. – Wissen Sie, ich möchte eigentlichnicht so gerne wieder in die Zeiten des Feudalismus zu-rück. Ich dachte, das hätten wir überwunden.
Ich fühle mich eigentlich recht wohl angesichts derÜberwindung solcher Strukturen und freue mich, daßMontesquieu sich bei uns wirklich durchgesetzt hat.
– In Frankreich hat sich Montesquieu längst nicht so klardurchgesetzt wie bei uns; aber nichts gegen unsere fran-zösischen Freunde. – Unsere Gewaltenteilung erfordert,daß der Gesetzgeber Zurückhaltung übt, wenn es darumgeht, in Entscheidungen der anderen Gewalt einzugrei-fen. Dieses Eingreifen ist eben nur bei einem triftigenGrund möglich. Es ist vom Staatssekretär sehr ein-drucksvoll dargelegt worden, wann ein solcher Grundvorliegen kann; das Jahr 2000 ist kein solcher triftigerGrund.Zweitens. Die Rechtsprechung ringt um Gerechtigkeitim Einzelfall, um Individualgerechtigkeit, um die indi-viduell gerechte Strafe. Durch eine Amnestie wird aberStraffreiheit für einen großen Kreis von Straftaten be-wirkt. Das ist gerade das Gegenteil von Einzelfallge-rechtigkeit, auf die es uns im Rechtsstaat ankommt.Alfred Hartenbach
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Herr Beck, Sie haben so nett gesagt: Da schauen wirja dann auf die Gesinnung des jeweiligen Täters, deramnestiert werden soll.
Wenn er verspricht, zukünftig nicht mehr straffällig zuwerden, und wenn die Prognose das in seinem Fallstützt, dann wird er amnestiert, sonst nicht. –Es ist gerade das Kennzeichen der Amnestie, daßman nicht auf den einzelnen Täter schaut, sondern aufeine Vielzahl von Straftaten – so das Bundesverfas-sungsgericht, das eine Amnestie nur in Form eines all-gemeinen Gesetzes für verfassungsrechtlich möglichgehalten hat. Also auch hier geht das nicht, ein triftigerGrund liegt nicht vor.Meine Damen und Herren, ein nächster Punkt: DerRechtsstaat hat es an sich, daß er das Gewaltmonopol ansich zieht. Ich glaube, es ist ein großer Vorteil unseresRechtsstaates, daß nur der Staat Recht mit Gewaltdurchsetzen kann und nicht der einzelne Bürger. Das ist,glaube ich, ein großer Nutzen unseres Rechtsstaates,über den ich wachen möchte, gerade wenn ich hier indiesem Hause meine Tätigkeit ausüben darf. Wenn aberder Rechtsstaat das Gewaltmonopol an sich zieht, dannmuß er auch den Strafanspruch, den dieses Gewaltmo-nopol enthält, durchsetzen, dann haben die Bürger An-spruch darauf, daß dieser Strafanspruch durchgesetztwird. Dann haben die Bürger das Vertrauen, daß derStaat entsprechend handelt. Dieses Vertrauen darf ernicht aus Gründen enttäuschen, die nicht unbedingtzwingend und mit diesem Rechtsstaat nicht in Einklangzu bringen sind.Meine Damen und Herren, auch das Argument, nach50 Jahren sei unsere Demokratie so gefestigt, daß wir esuns leisten könnten, eine Amnestie zu erlassen, trägtnicht; denn gerade wenn Rechtsstaat und Demokratie sogefestigt sind, verdanken sie es einer konsequentenDurchsetzung des Strafanspruches.
Wir würden diese Festigkeit von Demokratie undRechtsstaat gefährden, wenn wir anders verfahren wür-den. Wir alle in diesem Hause wissen: Um Demokratieund Rechtsstaat muß man täglich kämpfen. Man mußtäglich wachsam sein, damit man sie erhält. Man darfsich nicht auf einer gefestigten Demokratie und aufeinem gefestigten Rechtsstaat, gewissermaßen auf einemAmnestiekissen, ausruhen wollen.Meine Damen und Herren, eine Erwägung, die Siebei Ihrem Vorschlag anstellen, hat mich natürlich be-sonders verwundert, nämlich die Kostenerwägung: DieGefängnisse sind voll, das kostet so viel. – Ja wollen wirdenn Strafverwirklichung nach Kassenlage machen?
Wollen wir denn, wenn die Kassen leer sind, kurz maldie Gefängnisse öffnen, damit wir wieder entlastet sind?Ist das der rechtsstaatliche Strafanspruch? Fördert diesdas Vertrauen, das die Bürger in den Staat setzen? – Ichwehre mich entschieden gegen eine solche Vorstellung.Einen weiteren Aspekt möchte ich auch nicht unbe-antwortet lassen: Es wurde gefragt, ob es nicht christlichsei, eine solche Amnestie durchzuführen, gerade im Jahr2000,
in dem wir uns an die Geburt Christi erinnern. MeineDamen und Herren, ich frage Sie: Ist Strafe im Rechts-staat unchristlich?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Tie-
mann, Sie müßten an Ihre Redezeit denken.
Sie wäre es
unter Umständen, wenn es Rache wäre. Aber Rache ist
das nicht, sondern es ist der Schutz der Bevölkerung, es
ist das Bemühen, den einzelnen wieder in die Gesell-
schaft einzugliedern. Genau das wollen wir in unserem
Rechtsstaat tun. Der Rechtsstaat hat es verdient, bewahrt
zu werden. Für solche Überlegungen, wie Sie sie ange-
stellt haben, ist er zu schade.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Mar-
got von Renesse, Sie haben jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wenn man als vierter Redneraus der betreffenden Arbeitsgruppe spricht, bleibt nichtmehr viel zu sagen. Aber, Frau Kollegin Tiemann, derletzte Punkt, den Sie angesprochen haben, veranlaßtmich dazu, einige Bemerkungen zu machen. Vorhinhörte ich den Zuruf von Frau Vollmer, in dem sie an dasjüdische, alttestamentliche Halljahr erinnerte. FrauVollmer, gerade Sie als gelernte Theologin wissen, daßdiese Einrichtung, die auch ich für sehr spannend halte,zwar in einen religiös verfaßten, theokratischen Staatpaßt, in dem Versöhnung und Vergebung Rechtspflich-ten sind. Wir aber können dies nicht verwirklichen.Denn trotz der Bezugnahme auf Gott im Grundgesetz –dies war heiß umkämpft, wie wir uns gut erinnern – istunser Staat eben nicht ein religiös verfaßter. Versöhnungund Vergebung sind hochpersönliche Angelegenheiten,die der Staat weder verwaltet noch verausgabt. Gleich-wohl gibt es Gnade. Ich denke, daß wir uns darüber imklaren sein müßten, daß trotz des Popanzes, der hier indieser Debatte – soweit ich ihr folgen konnte – aufge-baut wurde, die Profile der Parteien in dieser Frage nichtso scharf voneinander abgegrenzt sind.Herr Westerwelle, Sie haben Ihre Rede mit einer ge-radezu apokalyptischen Vision des Zerfalls des gesam-ten Rechtsstaats, ausgelöst durch den Vorschlag derGrünen, begonnen. Lassen Sie uns die Dinge auf ihrenDr. Susanne Tiemann
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eigentlichen Kern zurückführen. Alle hier im RaumAnwesenden wissen: Wer grundsätzlich für Amnestienist und sie als möglich betrachtet, ist deswegen keinFeind des Rechtsstaates. Einverstanden? – Mit Sicher-heit.
– Ich erwarte weitere Zustimmung. Sie wird mir nichtzuteil. Ich glaube dennoch, daß wir uns darin einig seinkönnen.Ein weiterer Punkt: Wer den Sinn, insbesondere denspezial- und generalpräventiven Sinn, kurzer Freiheits-strafen anzweifelt, ist, ganz generell, nicht jemand, derkleine Straftaten – die Wörter „kleine Straftaten“ müßteman in Anführungszeichen setzen, da sie demjenigen,dem sie widerfahren, alles andere als klein erscheinen –verharmlost und die Bevölkerung solchen Straftatenmassenhaft aussetzen will. Auch das scheint mir zu-nächst einmal unstreitig zu sein.
Die Frage ist, was an deren Stelle tritt, wenn man Ge-neral- und Spezialprävention – das tun wir alle; das be-tone ich – nach wie vor hochhält. In bezug auf den Sinnkurzer Freiheitsstrafen kann man wirklich Fragezeichensetzen, ohne deswegen die Gerichte zu beschimpfen, diesie verhängen. Denn im Augenblick haben die Gerichtenicht so viele andere Möglichkeiten, vor allem bei derErsatzfreiheitsstrafe.
Umgekehrt wird man es bei den Grünen bestimmtnicht, so hoffe und erwarte ich, für ausgeschlossen hal-ten, daß man den Vorschlag, den einige von Ihnen ge-macht haben, an sehr strengen Kriterien mißt. Sie wer-den sicherlich einsehen, daß das Beispiel Frankreich füruns nicht maßgeblich sein muß, ja nicht einmal seinkann. Denn die Beziehung der Franzosen zu ihrem Staatist eine weitaus emotionalere und vertrauensvollere alsdie Beziehung eines jeden Bundesbürgers bzw. einer je-den Bundesbürgerin zu seinem Staat.Die Sensibilität, mit der hier auf Gleichbehandlunggeachtet wird – dies ist ein entscheidendes Stück derVerwirklichung von Recht und Legitimation desStaates –, ist bei uns angesichts des berechtigten Miß-trauens, das wir gegen staatliche Willkür jeder Arthaben, historisch verankert. Würde die Gleichbehand-lung mißachtet, würde das den Rechtsfrieden massiverschüttern. Das ist ein Problem, das wir bei jeder Am-nestie bedenken müssen.
Natürlich habe ich – ähnlich wie der Kollege Stün-ker – große Bedenken dagegen, daß Sie eine Amnestiemit Einzelfallentscheidungen vermischen wollen. Dennder Unterschied zwischen Amnestie und Einzelgnade ist,daß bei der Amnestie die Rechtsgrundlage der Verur-teilung selbst in Zweifel geraten ist und die Frage derPrognose dabei unerheblich ist.Frau Vollmer, als ich das erste Mal einen Blick in dieGnadenordnung Nordrhein-Westfalens warf, habe ichgedacht: Was ist denn das für ein komisches Ding? Dasist eine Gnadenordnung mit einem korrekten, bis inseinzelne durchgefeilten System von Vorschriften: Gnadevor Recht, Recht der Gnade. Wir brauchen das Recht derGnade und eine sehr sensible Handhabung des Rechtsder Gnade, weil die Bevölkerung von uns erwartet, daßwir eben nicht den Abglanz von Gottes Gnade verwal-ten. Auch wenn Richter eine schwarze Robe anhabenund damit Distanz markieren, sind sie deswegen in ihrerPerson keine charismatischen Führer des Volkes. Siesind vielmehr Diener des Rechts.Gerade auf Grund unserer Geschichte müssen wirwissen: Jedes Vorhaben einer Amnestie ist mit Vorbe-halt zu genießen und sehr sorgfältig zu prüfen. Darauskann man ebensowenig eine Suppe kochen wie aus ei-nem Gewürz. Es würzt die Suppe; aber es ist nicht ihrInhalt.
Gestatten Sie mir ein letztes Wort zu dem von mirsehr geschätzten Kommentator in der „SüddeutschenZeitung“, Herrn Prantl: Es stellt sich nicht die Alternati-ve „Gnade oder Recht“; denn die Gnade ist im Rechtverankert, nicht nur bis zur Verurteilung, sondern auchnoch danach als korrigierende Gnade in vielen Stagen.Die Verweigerung einer Amnestie ist keine Gnadenlo-sigkeit; die Gnade wird dahin verwiesen, wohin sie beiuns gehört, nämlich in das Recht.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! In dieser Debatte ist erfreuli-cherweise vielfach betont worden, daß unser Rechtsstaatnicht nach Fürstenlaune funktioniert, sondern daß insbe-sondere rechtsstaatliches Strafen auf Rationalität, Be-stimmtheit und Berechenbarkeit gründet. Nach dem vielenVernünftigen und Klugen, das heute gesagt worden ist,verdient der Vorschlag der Grünen meiner Meinung nachnicht viel mehr an kommentierender Zurückweisung.Ich war übrigens schon vor der Debatte der Auffas-sung, daß es angesichts der intellektuellen Qualität desVorschlages ein bißchen zuviel der Ehre ist, daß wirheute breit darüber diskutieren; denn bei diesem Vor-schlag handelt es sich weniger um einen Anschlag aufden Rechtsstaat als vielmehr um eine Schnapsidee. Dasist meine Meinung.
Margot von Renesse
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Vor der Debatte war ich „amnestiegeneigt“. Ich habemich wirklich gefragt, warum man, wenn jemand einensolch blöden Vorschlag macht, darüber groß reden muß.Das Bemerkenswerte und ein bißchen auch Überra-schende an dieser Debatte ist aber für mich, wie er-kenntnisresistent sich die Grünen heute gezeigt haben.Sie haben diesen Vorschlag hier so engagiert vertretenund vorgetragen – zumindest der rechtspolitische Spre-cher, immerhin das zweite Mitglied im Rechtsausschußfür die Grünen im Bundestag –, daß man wirklich denEindruck haben muß, sie meinten es ernst.
Insofern muß ich entgegen meiner Einschätzung vorder Debatte der F.D.P. zugeben: Die Debatte hat sichgelohnt; denn es sind zwei Dinge herausgekommen:Erstens. Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit IhremVorschlag – und das nehme ich an, weil sie ihn hier soengagiert vertreten haben –,
dann ist das meines Erachtens – ich glaube, auch anderesind dieser Meinung – ein Indiz für die mangelnderechtsstaatliche Reife der Grünen. Wenn man dem klei-neren Koalitionspartner in der aktuellen Bundesregie-rung auf Grund seiner Argumentation und dieser rechts-politischen Schnapsidee, die zudem noch ernst gemeintist, mangelnde rechtsstaatliche Reife attestieren muß,dann ist das ein unerfreuliches Testat.Zweitens. Erfreulich an dieser Debatte ist, daß alleanderen Fraktionen, wenn ich von der PDS absehe – esist eine besondere Koalition, die sich in dieser rechts-staatlichen Frage abzeichnet –, auch der Herr Par-lamentarische Staatssekretär, in dieser Frage über-einstimmen. Insofern hat sich diese Debatte doch ge-lohnt.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages ein auf morgen, Donnerstag, den 30. September
1999, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.